ARCHIV FÜR
SOZIALE
GESETZGEBUNG
UND STATISTIK
m
Digitized by Google
Digitized by Google
LIBRAECToFTHE
OHIO • STATE-
UNI VE R-SITY-
I r M- ■ K^i^^ I
Digitized by Google
ARCHIV
FÜR
80ZULE 6£8EiZ(iEBÜN(i UND 8TA.TISTIK.
Digitized by Google
ARCHIV
FÜR
SOZIALE GESETZGEBUNG
UND STATISTIK.
ZEITSCHRIFT
ZUR ERFORSCHUNG DER GESELLSCHAFTUCHEN
ZUSTÄNDE ALLER LÄNDER
IN VKKKIMU M; Mll
E1N£R R£LHE NAMHAbTER FACHMÄNNER DES,
IN- UND AUSLANDES
HJiKAUSGtGliiJEN VON
Dr. HEINRICH BRAUN.
FÜNFZEHNTER BAND.
t • . - ......
" rm I M t^m. i - -* • " "* *
CARL KEYMANks'VfeRLAG.
1900.
BRUXELLES: librairik kubop^bnne c. MU«jUAUDT. — BUDAPEST: kbroina.nd
PTBTFRR — CHKIST/AiVIA : H. Asi HKiiOL'(j .Sc CO. — J/AAG: i.iiuiairib bblinpantr
WUMmms. — KOPENHAGEN: andr. fukü. uost son. — LONDON: davio nütt. —
NEW^YORKiQMVtks b.8tbchbrt. — PARIS: u.lu mysvaa^^ST^PBTBRSBORG:
K. L. iionB. — ROM: LonoHBB & 00. » STOCKHOLM: •amm« wauai. —
WIBN: lUnSOHB K. X. HOVVML&oa- OMD ORIVlMnllSBOOHBAirOUniO. — ZÜRICH:
Digitized by Google
Nachdruck und lVbpr5«t7iing vorbehalten
• ♦
Digitized by Google
INHALT DES FÜNFZEHNTEN BANDES.
ABHANDLUNGEN.
<>eiie
Bernstein, Eduard, in London, Der gegenwärtige Stand der
Wohnungsfrage in England 6i6
Cohn, Dr. Heinrich, Rechtsanwalt in Berlin, Das preufsische
Gesetz betreffend die Warenhausstcuer 529
L o t m a r , Prof. Dr. Philipp, in Bern, Die Tarifverträge zwischen
Arbeitgebern und Arbeitnehmern.
L Einleitung i
II. .Abgrenzung 5
TIT. Tnh.ilt ■ u
IV, Abschliefsung 29
V. Vermittlung 42
VI. Koalition 48
VII. Vertretung
VIII. Rechtswirkung M
IX. Zur Gesetzgebung 1 16
M ischler, Prof. Dr. Ernst, in Graz, (irundzüge einer allge-
meinen staatlichen Arbeitsvermittlung für Oesterreich.
L Die Vorgeschichte des Gesetzentwurfs 2Ä1
II. Die Vorfrage der legi.slativen Kompetenz. — Das lokal-
kommunale und das territoriale (»estaltungsmoment . . 285;
in. Der Gedanke einer allgemeinen staatlichen .Arbeitsver-
mittlung im Systeme der Vem'altung . . . . . . 290
IV. Die Grundziige des Gesetzentwurfs 300
V. Die .Aussichten der Verwirklichung des Gesetzentwurfs . 318
Pringsheim, Dr. Otto, in Breslau, Landwirtschaftliche Manu-
faktur und elektrische Landwirtschaft 406
Rauchberg, Prof. Dr. Heinrich, in Prag, Die Berufs- und
Gewerbezählung im Deutschen Reich vom 14. Juni 1895.
Zweiter Teil. Berufsgliederung und soziale Schichtung.
IX. Die häuslichen Dienstboten 123
X. Die Familienangehörigen ohne eigenen Hauptberuf. . 129
XI. Ueberblick über die soziale Schichtung der gesamten
Bevölkerung 1 38
d by Google
VI liil..ih.
Ml Dir Nt'l)rncnvcrl) . . , , .... 147
XHI. Die StcUuDL; tlci l-iavu-n im Krwfibsleltcii .... ^32
>il\*. .\lter und l'amilicii-tand der Krwcihtli.itiuen .... 373
X\". I >as ( daii)icii>lK.-kriintnis der t'.rwL-rljtii.ttiL:!.-!! . . . . 402
Rauch berg, Prof. Dr. Heinricli, in Pra^. Die l.andwirtsc haft
im Delitz« hcn Rci«'h. Nacli der laiiduirls( lial"tli( hon lU-triclis-
Zahlung im Deutst hcn Reich vom 14. Juni 1895.
I. /..ihl und l'^lai he der landwirtst haftlii lu-n ]>otric!'e . . ; 5 4
II. Die Herul^\ erlialtnisse der Bctriel «-inhalier und <iie land-
wirtsf lialtlichen Nebenuewerhe 570
III ])ie l'>csit/\iTh:i1lnisse 578
I )ie Podenbenul/ung 585
V. Die Nut/viehha!iung . 5S9
VI. Verwendung von landwirtschaftlichen Maschinen . . . 505
Sehul/., M. V'in. (ie\ver]>erirhter un(i \"orsit/ender de^ ( iewerbc-
■,^erichts i^erlin. l'eber Srhied>\ ertrai^e der ArbeitL'eber und
Arbeitnehmer nach dem deutschen (»cwerbc^'erielnsi^e^et/ und
der Reirh>ci viliiro/efsordnung ^mS
Vand er Velde, Prof. Dr. Emil, Mitglied der Deputiertenkammer,
in Brüssel, Das Grundeigentum in Helgien in dem /.eitraum
von 1834 — 1899 419
GESETZGEBUNG.
Dänemark. Das Gesetz über das Recht zu Zeugenvernchimmgen
für gewerbliche St hietlsgerichte. Von Adolph Jensen^ Sekretär
des statistischen .Xmtes in Kopenlia^en 677
Deutsches R e i c h. Das deutsche Invalidenvcrsichcruiigsgesetz
vom 13. Juli iSug. ^ on Dr. £rnst Lauge, in Berhn . . . 170
Wortlaut des Invalidenversicherungsgesetzes vom 13. Juli iSg») . 188
Die Novelle zur Gewerbeordnung vom 30. Juni 1900. tangeleitei
von Hermann Molkenbuhr, Mitglied des Reichtags, in Ottensen Ö53
Wortlaut des (leset/es betr. die Abänderung iler Gewerbeordnung
vom 30. Juni 1900 666
Grofsbritanuien. Die La;:e der Dadengehilfen in Knuland
und das Gesetz über die Hesch.itlüng von Sitzgelegenheit für
weibliche 1 .adengeliilfen. \'on Eduard Bernstein, m London 247
Wortlaut des Gesetzes betr. die liesi haffung von Sitzen lur den (Ge-
brauch \on Ladenangestellten vom 9. August 1S99 .... 256
Preufsen. Die Erweiterung der Zwangserziehung. Von I*rof.
Dr. Ferdinand Tönnies, in Altona 45 S
Wortlaut des l'jitwurfs eines Ge.setzes über Zwangserziehung Minder-
jähriger. Dem preufsischen Herrenhaus am 8. Januar 1899
vorgelegt 485
d by Google
Inhalt vn
Seit«
Hofmann, Dr. Emil, Nationalrat in Frauenfeld, Die Ergebnisse
der schweizerischen Wohnungsenquiten 684
Lange, Dr. Ernst, in Berlin, Die Statistik der Unfall*, Atters-
nnd Invaliditätsversichcning im Deutschen Reich filr das
Jahr 1897 490
Misch I er, Prof. Dr. Kr n st, in Graz, Üie Gewerbeinspektion in
()esterrei( h im Jahre iSgS , 25 j
Paszkowski. Di. Wilhelm. Hilfsbibliothekar der Kgl. liibliothek
in ßeriiu, Die Hugo Heiuiaim.sche öffentliche Bibliothek und
Lesehalle in Berlin 267
Winter, Dr. Fri.tz, in Wien, Die Heimarbeit in der öster-
reichnchen Konfektionsindustrie 725
LITTBRATUR.
Asch r Ott, Dr. 1'. K., Die Zwangserziehung Minderjährijj;cr und
der zur Zeit vorliegende Gesetzentwurf. Besprochen von Prof.
Dr. Ferdinand Töttnies, in Altona 510
Bericht des Vorstandes tlet AkticiilKuigcsellschaft fiir kleine
Wohnungen in I raukturt a. M. über die Thatigkeit der Gesell-
schaft seit ihrer Begründung. Besprochen von Dr. Heinrich
Bmn, in Berlin 761
Karpeles, Dr. Benno, Die englischen Fabrikgesetze. Besprochen
v(m Eduard Bmuieith in London 758
Kulemann, W., T.andgerichtsrat, Die Gewerkschaftsbewegung.
Besprochen von Eduard Bernstein, in London 740
Lage der Holzarbeiter. Ergebnis statistischer Erhebungen fiir das
Jahr 180.5 veranstaltet vom Deutschen Hol/arlieitervcrband. —
Die Lage der Hol/.arbeiler. Nach statistischen Erhebungen für
das Jahr 1897, herausgegeben vom Vorstand des Deutschen
Holzarbeiterverbands. — Die Arbeitsverhältnisse in der Gerberei
und L«derfilrberel Dargestellt auf Grund statistischer Erhebungen
des internationalen Sekretariats der Lederarbeiter und auf Grund
anderer Materialien. Besprochen von Dr. Omens ffe^Sy in
Berlin 271
Liebenam, W., Städteverwaltung im römischen K.nserreich. Be-
sprochen von Dr. Robert Ifallj^arten, in München .... 747
L i e t z , Dr. H., Das erste Jahr des deutschen Landerziehungsheims
bei Ilsenbur«: i H.
— — , Das zweite Jahr etc. Besprochen von Prof. Dr. Ferdinand
Tönnies j in -\ltona 756
Tugan-Baranowsky, M., Geschichte der russischen Fabrik.
Besprochen von Prof. Dr. B^rh MinüSf in Sofia 515
Digltized by Google
Verzeichnis derjenigen Autoren, die zum XV. Bande Beiträge
lieferten.
Bernstein, £., in London, 247, 616,
740, 758-
Braun, H., ia Berlin, 761.
Cohn, H., in Berlin, 539.
Hallgarten, IL, in München, 747.
Heifs, C, in Berlin, 271.
Hofmann, K, in Frauenfeld, 684.
Jensen, A., in Kopenhagen, 677.
Lange, E., in Berlin 170, 490.
Lotmar, Ph., in Bern, i.
Minzds, B., in Sofia 515.
Mischler, E., in Graz 257, 281.
' Molkenbuhr, H.^ in Ottensen, 653.
|Paszkowski, W., in Berlin, ^6^,
l Pringsheim, O., fai Breslau, 406.
I Rauchberg, H., in Prag 123^ 332,
' 554.
I Schulz, M. von, in Berlin, 598.
Tönnies, F., in Altona, 458, 510,
756.
Vandervelde, E., in Rüssel, 419.
Winter, F., in Wien, 735.
Digitized by Google
Die Tarifverträge zwischen Arbeitgebern und
Arbeitnehmern.
Von
PHILIPP LOTMAR.
Profc>sor in Bern.
I. Einleitung.
Die Tarifverträge, Tarifvereinbarun<:(en oder Tarifj^cmcinschafteo
zwischen Arbeitgebern und Arbeitneliinern bilden einen Gegenstand,
der aus mehr als einem Grunde einer juristisclien Behandlung
würdig und bedürftig ist.
Die Erscheinung auf dem Arbeitsniarkt, um die es sicli dabei
handelt» verdient die Aufhicrksamkeit, welche ihr hier gewonnen
werden soll, schon wegen der Häufigkeit ihres Vorkommens. Sie
ist in England bereits im vorigen Jahrhundert x ereinzelt aufgetreten,^)
während des neunzehnten in immer anwachsender Zahl in allen
Industrieländern wahrzunehmen j^^^nvescn, und namentlich inDeut-rli
land haben sich in den letzten Jahrzehnten die Abschlüsse wie die
Versuche zu Abschlüssen von Tarifverträgen in fast allen Gewerben
dermafsen gehäuft, dals sie alltä{,'liche Vorkommnisse auf dem
Arbeitsmarkt geworden sind. Diesen Kindruck muüs jeder gewinnen,
der in den Jahresberichten der Fabrikinspektoren, in dei^ Zeit-
schriften und Zeitun;^en, die über flie Arbeiterbewegung belehren,
die Angaben beachtet, die über laufende und abgelaufene Lohn-
bewegungen gemacht werden. Aus anderen Quellen mag zur Be-
stätigung beispielsweise angeführt werden , dals allein die Stein-
arbeiter Deutschlands während eines Jahres in 23 Orten Tarif-
') Brentano, Arbcilcrgildcu II. 267.
Archiv für m». CeMtf gebung u. Sutitiik. XV. 1
Digitized by Google
3
rhllipp Lotmar.
vertragsverhandlungen geführt haben ; die deutschen Maurer haben
im Jahre 1S97 an 124 Orten und im Jahre 1898 an 189 Orten mit
ihren Arbeitgebern solche Vertragsvcrhandlungen untemomm*en und
grofsenteils zu pasitivem Abschlufs gebracht.*)
Es ist natürlich nicht die Frequenz an sich seines Vorkommens»
was den Tarifvertrag einer litterarischen Betrachtung wert macht,
sondern die praktische Bedeutung, die sich mit jedem solchen Her-
gang verknüpft. Und zwar handelt es sich dabei nicht nur um
zerstreute Wirkungen, um den Einflufs auf das persönliche und be-
rufliche Wohl und Wehe von mehr oder weniger zahlreichen
Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Vielmehr verbinden sich mit
dem Tarifvertragswesen konzentrierte Massenerscheinungen, die ge-
wöhnlich als Störungen des sozialen Friedens angesehen werden
und jedenfalls Verkehrsunterbrechungen auf dem Arbeits- und dem
Warenmarkt bilden oder hervorrufen können. Denn zwar nicht in
allen, aber doch in den meisten Fällen giebt ein Tarifvertrag den
Ausgangspunkt und den Endpunkt von Ausständen, Aussperrungen
und Sperren ab und damit den Anlafs zu den mannigfaltigen Hülfe-
mafsregeln, die zur Unterstützung jener Kamplaktionen gebraucht
werden. Sehr oft z. B. kommt es darum zu einer Arbeitsnieder-
I^ung, weil der Arbeitgeber die Einlassung auf eine Tarifvertrags-
verhandlung verweigert, oder weil er eine ihm gemachte Tarif-
vertragsproposition ablehnt, oder weil er einem geschlossenen Tarif-
vertrag nicht beitritt, oder weil er einen für ihn verhiiKlIichen Tarif-
vertra«^' nicht einhält, und andererseits bcifeutct der Abschlufs eines
Tarifvertrags in vielen Fällen die Wiederaufnahme der Arbeit und
die Wiederanstellung entlassener oder ausgesperrter Arbeitnehmer.
Der ferner stehende Rcol^achter läfst sich durch die crwälinten
Massenerscheinungen blenden und verleiten, bei den aufTallenden
Kämpfen das weniger auffallende Kampfobjekt zu übersehen,
welches meistens ein zu schliefsender oder geschlossener Tarif-
vertrag ist.
Endlich lehrt die Erfahrung, dafs ein zum Abschlufs kommen*
der Tarifvertrag nicht blofs unmittelbar, nämlich auf die Teilnehmer
^) Auszug aus den statistischen ErbebttsgCD über Lohn- uixl Arbeitsverhältnisse
der Steinarbeiter Deutschlands vom 1. Oktober 1896 bis y). September 1897 (Beriia»
Pos«k*-l) S. i ;,.
-' Protokoll des 5. > inientlichen Verbanclst.iges des Zentrah crbandcs der MaoiW
und verwandter Berufsgeouäseo Deutschlands (Hamburg 1S99J Ö. 41 — 65.
Digitized by Google
Die TarifvertrSce swiscfaen Arbeitgebem und Arbeitnehmern.
3
und die nächste Zukuiifl wirkt, sondern dafs er auch das Prinzip
solcher kollektiver V c r t r a s c h 1 i e fsu n kräftigt, indem
er einen Fräccdcn/fall, ein X'orbild schafft und die Leistuni^sfähigkeit
flieses Wrfahrens demonstriert : hierdurch x crmai^ er weit über sich
selbst hinaus/uwirken und der Ausbildung des Tarifvertrags als
.einer Institution X'orschub /u leisten.
Flin Gegenstand von solcher I hiufigkeit und IVagweite v erdient
gcwils eine wissenscliatiliclie Bcliandlung. Allein eine juristische
d. h. zu den Zwecken und mit tlcn Mitteln der Jurisprudenz er-
folgende sclieint bisher nicht hervorgetreten zu sein. Die theoreti-
schen Oller praktischen Nationalökononien und Sozialjjulitiker haben
sich mit dem l arifvertrag in Rücksicht auf die Vorteile beschäftigt,
tlie er innerhalb einer Volkswirtschaft mit freier Konkurren/ tlen
Urhebern der Arbeitsverträge und namentlich den Arbeitern zu
l)ieten vermag. Auf diese Seite der Sache hat vor bald dreifsig
Jahren Brentano ]lingewie^en ') und seitdem mit unablässigem iüfer
das Prinzip der Tarifverträge verfochten und seine Verwirklichung
empfohlen. Neuerdings haben S. und B. VVebb sich ausführlicher
mit der Sache befafst, die Wirksamkeit der von ihnen so genannten
kollektiven Vertragschliefsung und den Hergang anschaulich dargelegt.*)
Bei Brentano wie bei Webb erscheinen die Tarifverträge nur im Zu-
sammenhang mit dem Walten von Gewerkvereinen und von Arbeits-
oder Einigungskammern. Und die Thatsachen, die sie anführen, im
Auge haben und zur Grrundlage ihrer Schlüsse und Urteile nehmen,
sind den von den deutschen verschiedenen grofebritannischen Verhält-
nissen entnommen. Die fragliche kollektive Vertragschliefsung wird
uns als ein Hauptstück in der Politik der englischen Gewerkvereine
geschildert. Diesen Gewerkvereineo läfet sich nach Reichtum, Er-
probtheit und Handlungsfähigkeit auf deutschem Boden einstweilen
nur etwa der deutsche Buchdruckerverband an die Seite stellen.
Wo daher von Brentano oder unter seinem Einflufs der Tarifvertrag
im Hinblick auf Deutschland erörtert worden ist, haben die Vor-
gänge im deutschen Buchdruckgewerbe den Stoff abgegeben.*)
*) Arbeitergilden II, 33—3$.
*) Theorie un4 Praxis der englischen Gewerkvereine (Industrial Deinocracy)
deutsch von Hugo: I, 154—198. II, 74—77.
Siebe besonders Zahn, Die Organisation der Priasipale «ad Gehilfen im
l3aits.c|ien Bnchdruekgewerbe (Schriften dea VerefaM .fdr Soxinlpolhik 1890 Bd. 45,
& 339—470). . .
1*
Digitized by Google
4
Philipp Lotmar.
Wo ohne diese berufliche Schranke in Deutschland geschlossene
Tarifverträge eine Ittterarische Behandlung gefunden haben, kam
doch nur ein engerer lokaler Bezirk in Frage, und trat der Tarif-
vertrag hinter dem Strikc, der durch ihn veranlafst wurde, zurück-^)
Ks ist nur natürlich, tl.iK wem; (»kononiisrhc S<'hriftstoller. oder
in der Arbciterhexw^^uiiL; stehende Praktiker^) sich über Tarifver-
träge \eriiehnieii lassen, ihre AeuKerungen, so wertvoll sie sind,
juristische Anspi^iiche nicht zu erfüllen vermögen. Da> Beduiini^
präciscr Bcgriffsbcstiinniung gegenüber einem Objekte, welches,
wie von Natur, auf das Recht angewiesen /u sein scheint, ohne
freilich darin aufzugehen, ist ein Bedürfnis, das oft erst der Jurist
empfindet und allein zu befriedigen vermag. Ihm liegt es ob, seinen
Gegenstand aus Zusammenhängen zu lösen, die demselben nicht
wesentlich sind, d. h. den Tarifx'ertrag nicht blols als Aeufserung
des Gewerkvereins, als Produkt der Einigungskammer, als Anlafs
oder Abschluß einer Arbeitsniederlegung zu behandeln. Indem
hierdurch der Tarifvertrag in den Vordergrund gestellt wird, treten
auch die Seiten desselben deutlicher hervor, die ihn dem juristischen
Betrachter merkwürdig machen und zugleich seine sozialpolitische
Bedeutung begründen: sein Inhalt, sein Zustandekommen, seine
Wirkung. Da die einlaisliche Erörterung dieser Seiten nur unter
Bezugnahme auf ein positi\'es Recht ausfuhrbar ist, so ist auch
hierdurch die juristische Methode gefordert, indem ohne diese die
Rechtsregeln nicht zu gemnnen und anzuwenden sind. Die Rechts-
r^ln werden dem deutschen bürgerlichen Recht, die Thatsachen
der deutschen Arbeiterbe%vegung entnommen werden.
Bei tliesem ersten WtsucIi nner civilistischen Behandlung de>
Tarifv'ertrags werden die Schranken solcher Behandlungsweise
kcineswcg«> verkannt. L)a^ geltende Recht hat sich des Tarifver-
trags trotz seiner oben erwälmten eminenten Bedeutung fast gar
nicht besonders angenommen, und auch die gewerl>egenchtlichc
Rechtsprechung hat ihm in den seltenen Fällen, wo sie ihn anzu-
erkennen hatte, nicht das Gewicht beigelegt, das ihm zukommt.
Wenn es daher auch gelingen sollte, die für den TarifV-ertrag mafs-
z B. Bflrger, Die Hambttrger Gewerkschaften und dereu Kämpfe voa
1865— 1S90 (Hamburg 1899).
Protokoll der VerhudluiigeD des 3. Kongresies der Gewerkschaften Deutsch-
lands (1899, Hanbarg) S. tyf'^ttt. Protokoll des 5. ordeotlichea Verbaodstages
des ZentralTerbasdes der &laarer S. 143—147.
Digitized by Google
Die IVifveitiigc swiiche» Avbeitfebein «td Arbeitnehmern. ^
fjebende Rechtsordnung aufzuzeigen, so wird doch die Unzuläng-
lichkeit, die dem Privatrecht gegenüber dem gewerblichen Arbeits-
verhältnis natürlicherweise anhaftet , beim Tarifvertrag besonders
empfindlich bleiben. Man wird bei seiner Hingehung und seiner
Erneuerung, bei Festsetzung seines Inhalts und bei Durchfuhrung
seiner Satzungen noch weniger als anderwärts auf die Mittel der
Selbsthülfc vcrziciiten, mit denen in cHeser Sphäre bald auf die
Gegenpartei, bald auf die Genossen der eigenen Partei eingewirkt
werden kann. In einer DarslelliuiL; des ganzen I arifxertrags-
wesens müfstcn auch diese Prcssionsmittcl \oIIauf berücksichtigt
werden. I'ür eine auf die |) r i \' a t r er h 1 1 i c Ii c Seite beschränkte
Behandlung besteht dieses hrfoiflcrnis nicht. Sie kann sieh ihrem
Gegenstand so liinL(ehen, wie wenn die j^rivatrechtliche Ordnun^^
von erschöj)iendcr und nie versagender Wirksamkeit wäre. Und
indem sie sich innerhalb ihrer Grenzen und ihrer Mittel hält, darf
sie hoffen das Bild ihres Gegenstandes so scharf zu zeichnen, dafs
auch die Lücken deutlich werden, die zu gesetzgeberischer Hülfe
auffordern.
n. Abgrenzung.
Die vorstehende, unsere juristische Untersuchung der bewufsten
Tarifxerträge rechtfertigende Einleitung durfte eine Kenntnis des
Gegen^iandes voraussetzen, die ihn im allgemeinen er-
faisi. Die nun folgende Untersuchung selbst kann sich mit dieser
Allgemeinheit nicht l)egnügen, muls vielmehr damit beginnen die
Merkmale ihres ( regenstandcs im einzelnen zu betrachten und ihn
von ahnlichen Gebilden abzugrenzen.
Dafs unsere Tarifverträge es mit Tarifen zu thun haben, sagt
schon der Xame. Allein zu unserem Thema gehört nicht jeder
Tarif, nämlich nicht ohne Rücksicht auf sein Objekt, auf seinen
Urheber, und auf die Art seines Zustandekommens. In
diesen drei ilinsichten zusammen ist der vorliegende Thatbestand
ausgezeichnet.
Die Objekte anlangeml gab und giebt es Tarife für sehr ver-
schiedene und sehr viele, man kann sagen für alle möglichen Ob-
jelÄe. An das Kdikt des Kaisers Diocletian, de pretiis reiuin. vom
Jahre ^Ol, sei nur im Vorbeigehen erinnert. In unser Jahrhundert
ragen liinein oder gehören gar der Gegenwart und absehbarer
Zukunft an z. H. die Tarife der Bäcker für Brot, der Metzger für
Fleisch, der Apotheker für .Medikamente, die Gebührenordnungen iur
Digitized by Google
6
Philipp L^otnar
Aer/tc und Zahnär/te uikI dir * icbuhmionh im'^' lur Kr<"ht>an\\\»llc,
die I'.isciibahntarilc für ilic Hcl< »Klcrun;^ Vcr-^owcn uikI (iutcr:i,
die Zolltarife und die \c)ii Kartellen \ crsr!n« dt rn [ Art für ihre
Mitj^licdcr gegebenen FebtseUungen der \ erkautspreisc der Pro-
dukte.
\"<)ii all (liocii iiiid anderen liiM^ist inannii,'falti;4en larifen <^c--
hören nicht hierher dieieiii;^H n, welclie .h iuh lle l'r i :sb«-stininiun'^en
lür Sachen und Sai-hmit/unL;en darstellen, sotidein nur die, welche
G e ^ e n 1 e i s t u i; i4 e II tw; Atbeiten te-tsrl/Aii. Damit >cheideii
nicht bK)ls tlic Zolltai ile au>, sondern alle l ai ite, itl^()fer^ sie Kaiif-
oder Mielpreise statuieren, sieh aut Kauf- oder Mi( t\t i;i i • be-
ziehen.') Wir haben es ausschlielslich mit solchen Linien /u thun,
die fiir A r be i t s ve r t r äj^c ;^elten. Auch \on dieser Gattuuij von
Tarifen finden sich zahlreiche An\vendun-.,'en. Die laxen für
Medizinalpersoneu, die Gebührenordnunj^ für Rechtsanwälte uii<J ilic
Eisenbahntarife sind schon angeführt worden; es lälst sich weiter
verweisen auf die Tarife von Strafsenbahnen, Droschken. I.ohn-
dienem , Schornsteinfegern , Feldmessern , Auktionatoren u. s. w.
Tausende und Tausende von Arbeitsverträgen werden tagtäglich
mit Hülfe solcher Tarife geschlossen.
Indessen ist keineswegs jeder auf Arbeitsverträge bezügliche
Tarif ein Tarif der hierhergehörigen Art, es kommt vielmehr, we
bemerkt, auch auf den Urheber an. Unsere Tarifveruäge der
Arbeitgeber und der Arbeitnehmer enthalten Tarife, die von den
Parteien des Arbeitsvertrags ausgehen. Von den auf .Arbeits-
verträge bezüglichen Tarifen scheiden daher hier alle aus, die weder
von den Arbeitgebern noch von den Arbeitnehmern, den Parteien
der Arbeitsverträge ausgehen, sondern von Dritten. Solche Dritte
sind entweder Behörden, d. h. Personen, die staatsrechtlich denen
übergeordnet sind, für welche die Tarife gelten sollen, oder es sind
gleich diesen blofse Privatpersonen. Da beiderlei Tarife aufserhalb
des Themas liegen, so werden nur zur Erläuterung hier einige
Beispiele angeführt werden.
Die behördlichen Tarife sind eine in alter wie in neuer
Zeit bekannte Erscheinung, Schon das erwähnte diocletianische
Preisedikt widmet ein Kapitel den Arbeitslöhnen. Der Dritte, von
dem dieser Lohntarif ausgeht; ist ein Kaiser. Im Mittelalter und in
der Neuzeit sind es bald unmittelbar die Gesetzgeber, bald
M Z. B. Ton Gastwirten (Gew.O. § 75). von indostrieUeD VeritavfcsyQdikaten.
Digitized by Google
Die Tarifverträge swischen Arbeitgebern 'und Arbeitnehmem.
f
durch (iesetz oder Herkommen dazu ermächtigte Richter, Stadt-
magistrate und andere Verwaltungs- namentlich rohzeibehörden,
(fie den Ent^^clt für diese und jene Arbeit sei es schlechthin sei
es für den Fall des Fehlens einer Ueb^rcinkunft der Beteiligten
festsetzen und die Einhaltung ihrer Regeln durch Strafen sicher
stellen. Wenn wir in frew.O. § 105 lesen: „Die Festsetzung
der Verhältnisse zwischen den selbständigen Gewerbetreibenden
und den gewerblichen Arbeitern ist , vorbehaltlich der durch
Reichsgesetz begründeten Beschränkungen, Gegenstand freier
Uebereinkunft" ; so wird mit der hier gewährleisteten hVciheit
auch das Nichteingreifen behördlicher l'ariherung zuge-
sichert.
Von Behörden oder behördenartigen Autoritäten ausgehende
Tarife werden mitunter nicht einseitig von ihnen erlassen, sondern
mit der einen Partei des Arbeitsvertrags zu gunsten der anderen
vereinbart. So der Tarif, zu dem die Direktion eines Schlacht-
hauses die Lohnsrhlächtcr für deren Verhältnis zu den Kunden ver-
pflichtet;') oder der Tarif, den die königliche Eisenbahndirektion
in Berlin mit der Packetfahrtgesellschaft für die Beförderung des Ge-
päckes der Reisenden vereinbart ; oder der Tarif, zu dem ein Ge*
meinderat bei Vergebung städtisciicr Unternehmungen die Unter-
nehmer verbindet als einen bei der Herstellung oder beim Betrieb
des Werkes gegenüber ihren Arbeitnehmern einzuhaltenden. ■)
Blofse Privatpersonen als Dritte sehen wir Tarife fiir
fremde Arbeitsverträge einseitig oder zweiseitig festsetzen, wenn
Theaterdirektoren den Theatera^nten oder Engagementsmäklern
einen Tarif auferl^en, nach welchem sich die Mäklerlöhne be-
stimmen, die die Schauspieler jenen Ai^er^ten (iir die Arbeit der
Engagementsvennittlung zu entrichten haben; oder wenn Fabrikanten
sich zu Gunsten ihrer Arbeiter von einem Arzte ausbedingen, daCs
dieser seine ärztliche Hülfe jenen Arbeitern für gewisse Honorar-
satze angedeihen lasse; oder wenn eine freie Innui^ — den
Zwangsinnungen ist dies durch Gew.O. § lOOq versagt — ihren
Mitgliedern die Preise für die Arbeitsleistungen an das Publikum
vorschreibt Die juristische Person der Innung ist an den Arbeits-
*) Lage des Handwerks VI, lOl. (Schriften des Vereins für Sozialpolitik
Bd. 67.)
Vgl. .Soziale Praxis VIII, 10023 l'>cdienstcteii Linen gcwi^,ien Minimal-
lohn zu gewähren, eine gewisse Arbeit>.-cit nicht zu uberschretien u. s. w.).
Digitized by Google
8
i'hilipp Lottnar,
vertragen ihrer Mitglieder tiii In l>cicili^;t, der Tarif tjcht von einem
Dritten. Privaten (eben der Innung' aus.
Damit ein auf .Arbeilsx erträi^e sich hezielu'nder Tarif hierher
LU'horii,' sei. kommt es aiilstr auf den l rheber auch noch auf die
A r t » < i II e > Z u t a ii d r k o m ni e n s a n (oben S. 5}. Ks j^enügt
nuht. dais er imlil \<>n einer Heliorfle stamme, sondern durch
f'ri\ at<lis|)Osili<in foiL^rsct/.l ^ri. \ s j^enii<^t auch niclit, dafs er über«
hau})l nicht \(»n DritltM heiiuhrt- d. h. von solclien, die weder als
Arbeittfelier noch al> Arbeitnehmer an <kii Arl)citsvcrträ^en be-
teiligt ^m<l. lur uelclie der 1 arif bestimmt ist. Aber auch das ist
nicht hitircicliend, dal> er von den kunlliv^c a Arhtit^Hbern, oder
von den künftigen Arbeitnelmiern ausgehe. Kin solcher einseitig
von einem oder mehreren Arbeilgebern erlassener 1 arif ist kein
Vertragstarif, seine l*>lassung nicht Abschluls eines Tarifvertrages;
ebensowenig der einseilig durch Arbeitnehmer erlassene I'arif.
Ein solcher ein.seitiger oder oktroyierter Tarif (beider Arten) hat
mit dem zweiseitigen, mit dem Tarifvertrag eine privatrechllichc
Wirkung gemein. Er kommt ihm aber an juristischem Interesse
und sozialpolitischer Bedeutung entfernt nicht gleich. Aufserhalb
unserer Aufgabe liegend wird er hier nur als erläuterndes Gegen-
stück erwähnt. Dafs sein Vorkommen keineswegs selten ist, mögen
einige Hinweise in Erinnerung bringen.
Einseitige Tarife von Arbeitnehmern haben wir z.B. an den
von privaten Belordenuigsanstalten, von Barbieren und Friseuren,')
von Theatenintemehmem erlassenen. Das Publikum, dem hier die
Arbeitgeber (für die Arbeiten des Transports, der Rasur, Frisur,
TbeateraufiÜhrung) angehören, wird bd AufeteUung dieser Tarife
nicht nach seinem Willen gefragt, nicht um seine Zustimmung an-
gegangen. Derartige einseitige Tarife kommen beispiebweise noch
vor bei den Uhrmachern für Reparaturarbeiten, -) bei den Kürschnern
für Aufbewahrung von Pelzsachen,*) bei den Architekten fiir ihre
verschiedenen beruflichen Arbeiten, wie Planzeichnung, Bauftihrung.^)
Auch einseitig von Arbeitgebern erlassene Tarife sind keine
Seltenheit
Stellen sich — wie hier nicht begründet werden soll — die
') Sanders. Die Lage des IJarbifr- und Fr i'^cur gewer bes ,;S9*>) S. 2^ ff.
*t Lage des Handwerks, V, S7 tT, vgl. IX, 44b.
*; Lage des Handwerks II, 333.
*) Lage des Handweriu DC, 573.
Digitized by Google
L>ic Tarifveitriisc xwisciaen Arbcitc;eberD und Arbeitnehneni.
9
Werkstatt-, I-abrik- und ArljeilsonliuingcMi selten als Arbeit<:jel)er-
tarife flar, so ki)mincn solche tloch als Beilagen oder Zugaben der
Arbeitsordnung vor, die neben dieser für den ganzen Betrieb oder
für einzelne Abteilungen gelten und öfter als die Arbeitsordnung
revidiert werden.') Auiserdeni sind selbständige von Arbeit-
gebern oklro\ lei te 1 arile oft genug anzutretl'en, -)
Die angeführten einseitigen Arbeitnehmer- oder Arbeit-
gfebertarife gehören nicht hierher, weil sie niciil l ai it \ t- r t rä ge
d. ii.UKht \eieinbart sind. \ereinl)ait naiulich /wischen den künftigen
Arbeitgebern und Arbeiinehmern, dc-n Parteien der Arbeitsverträge,
für welche die Tarife bestimmt sind.
Kein iarifxertrag ist aber auch die Tarifvcreinbai ung der
Arl)eitgeber unter einander, oder der Arbeitnehmer unter
einander. Solche Vereinbarungen sind von zweierlei Art.
Kntwedcr nämlich erfolgen sie behufs .Aufstellung eine.s ein-
seitigen Tarifs: es vereinigen sich z. B. die Lohnkutscher,
die Barbiere, die (lärtner einer Stadt über die Lohn.sätze und die
Arbeitszeit, nach welchen sie künftig die Arbeitgeber, ihre Kunden,
die Besitzer von Privatgärten, bedienen wollen und machen den
Tarif, der fiir ihre künftigen Arbeitsverträge mafsgebend sein soll,
öffentlich oder ihren Kunden bekannt Hier haben wir zwar eine
') So bcstimint die von der ^1. BergiDspektioo VI, aameiis des preuftischen
Fiskus als Arbeitsgebers, für das Steinkohlenbergwerk Reden erlassene .\rbt-its-
Ordnung (vom 3. Dezember 1892) in ^ 25: ..Die Schichtlöhne werden für die ein-
zelnen Arbeiterklassen und Betriebszweige durch den k::!, H ergwerk sdirek-
tor fcitgeset/t und in eine SchichtlohntaVirlle ein^'ctragcn .. . Die Snt/e dir^rr
Tabelle finden in allen Fallen Anwendung, wo nicht ein Gedinge ahgeschli)s.<;eti
oder mit Rucksicht auf besondere Schwierigkeit der Arbeit ein anderer Schicbtlohn
vercinbArt ist."
*} Z. B. war den BodidradlMigehOfen ascb dem Miberfolf ihrci AoHüuides
von i89i;3 durch die Priasipnle, stfmlich den dentichen Bochdrackenreffeb, ein Tarif
oktroyiert worden. Der ».Lohntarif des Vmins der Importenre englischer Kohlen
Toro Dezember 1896 f^r EntlAwhunf von Kohlen aus Dampf- und. Scgelscbiflfen**,
und die „Bekanntmachung fder Hambttfg>Amenka-Linie) betreffend Heuergebühren
und Gagen für die Mannschaften unserer Schiffe" sind einseitig vom Arbeitgeber
festgesetzt. 'Protokolle der .Senatskommission für die Prüfung der Arbeitsverhält-
nisse im Hamburger Hafen, 1898, S. 114, 3*V2, 306'. Die Ankündigung der Krt-
felder Sammetfabrikantcn, dafs die „Normallohnliste", auf die sie sieb geeinigt
« hatten, zwischen 1. und 15. Januar 1899 , »eingeführt" werden solle, hatte aar Folge,
daft alle Arbeitnehmer kfindigten. Jahresbericht der Handeitkannner tn Krefeld
für 189S S. 15.
Digitized by Google
10
Philipp Lotmar,
I arifverciiiljaruntj , eine Tarifi^'^emciiischaft , aber keine zwischen
Arbcit^'cbcni und Arbeitnehmern.
Oder che fr.iL^hchen Vereinbn un^ci, erfoli,'cn nicht als al>-
schHefscnde . sitiulern al> den Ab^rhhil» eines Taril\ erlra> ein-
leitende, indem die Partei eiiie-> larifv erlra^> , wo sie aus
mehreren Personen l)e>leht, zviiiach>t sich einigt über die
ProitoNilion /.u einem l ariK ertrag', die sie der anderen Partei stellen
will. Der Tarifs crtra^j der ArbeitfTcl)er und der Arbeitnehmer, mit
dem wir uns zu beschäfti*;en haben , wird von ent^'e-^^engt-setzten
Parteien ^aschlossen. Wenn eine seiner Parteien aus einer Mehr-
licit besteht — und dies ist, wie noch zu sa^^en, immer der Pal! — so
kann der Vertrag nicht zustande kommen, es habe sich denn die
Mehrheit geeinigt über einen ihr gemachten, oder einen von ihr zu
machenden Vorschlag. Solche Arbeitgeber-, oder Arbeitnehmer-
Vereinbarungen behufe Aufstellung der Proposition zu einem
Tarifvertrag sind in der Arbeiterbewegung eine alltägliche Er-
scheinung. Sie gehören zu den von der Gew.O. 152 fiir zu-
lässig und unsträflich erklärten „Verabredungen und Vereinigungen
zum Behufe der Erlangung günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen".
Nur sollen in unserem Fall diese günstigen Lohn- und Arbeits*
bedingungcn nicht „insbesondere mittelst Einstellung der Arbeit
oder Entlassung der Arbeiter" erlangt werden, sondern «unächst
mittelst Abschlusses eines Tarifvertrags.
Es kommen endlich auch Einigungen von Arbeitgebern oder
von Arbeitnehmern vor, die gar nicht für die Gegenpartei bestimmt
sind, mit denen weder die Herstellung eines der Gegen^Kinei zu
oktroy ierenden einseitigen Tarifs, noch die Beschliefsung eines der
Gegenpartei zu machenden Vorschlags zu einem Tarifvertrag be-
zweckt wird. Vielmehr beabsichtigen die Teilnehmer blofs, sich
einander zu verpflichten, die künftigen mit Dritten einzugehenden
Arbeitsverträge nur zu den Bedingungen abzuschlielsen, über die
sie sich jetzt geeinigt haben, Bedingungen, die vom Einzelnen je-
weilen beim'Abschlufs eines Arbeitsvertrags zur Geltung zu bringen
sind. Einen dei^estalt internen wird man besser gar nicht Tarif
nennen, indem seine Positionen nicht zu genereller Mitteilung und
Nachachtung für die Gegenpartei bestimmt sind. Ein interessantes
Beispiel findet sich in der Schilderung der „Verhältnisse der Tand-
arbeiter in Deutschland",*) wo es III, 334 heifst: „Die freien Tage-
*) Schriften des Vereiiu fitr Sozialpolitik (1892) Bd. 53—55.
Digitized by Google
Die TarifvertiSge zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern.
II
löhncr im Kreise Kaniiniii (3) haben ^irh vereiiiij^t und \crahrc<let,
dafs jede Frau, welche unter i Mk. Lohn bei zehnstündiger Arbeits-
zeit auf Arbeit gehe. 25 Pf. .Strafe zahlen solle." ' )
Die vorstehende Retrachtutii^ iiianni^^aciier larifi^'^eliilde hat
uns Krsrheinun'^cn -^'czeii^^t, die \on unserem 1 arif\ertrni_f verschieden
und ihm doch nicht unähnlich sind. Die>e Betrachtung; war nicht
blols da/u bestimmt, die berrrift'lichen (irenzen unseres Gegenstandes
zu \ erdeutlicheii und ihn damit von anderen abzusondern. Fs sollte
die X'ergleichung auch darauf hinweisen, dafs der Tarifvertrag^
zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern bei aller Rij^entvimlich-
keit an den Gattun^smerkmalen der Tarifgebilde teil ninunt. Da-
durch erscheint die \orliegende Art in einem groiseren wirtschaft-
lichen Zusammenhang.
\''on den äulseren Grenzen unseres Tarifvertrags wenden wir
uns nun seinem Inhalt zu.
ni. Inhalt
I. Unter dem Inhalt des Tarifvertrags versteht man die Gegen-
stände, die der Einigung und Bindung unterstellt werden. Bis-
weilen ist tiur ein einziger Gegenstand, lülmlich die Lohnhöhe,
derjenige Inhalt, von dem der Vertrag den Namen „Tarifvertrag"
empfangen zu haben scheint* Die meisten Tarifv erträge haben, wie
die Erfahrung lehrt, einen weit reicheren Inhalt. Rechtlich ist er
nur insofern boohränkt, als er nicht wider die guten Sitten ver-
stolsen und sich nicht über zwingende Gesetze hinwegsetzen kann.
Im allgemeinen wird der Inhalt, d. h. was in den \'ertrag
aufgenommen und wie es darin festgesetzt wird, durch die Inter-
essen der Kontrahenten bestimmt, die als gegenwärtige oder
künftige Teilnehmer eines A r b e i t s \ e r Ii ä 1 1 n i s s e > den
Tarifvertrag mit einander abschlielVen (hirrh die Interessen natür-
lirh nur soweit dieselben sich im Parteikampf durchzusetzen vcr*
mögen.
Nach Brentano hingegen sollte man meinen, dals es einen aus
dt r Unternehmer- und tier Arbeiterstellung ableitbaren und damit
von vornherein feststehenden Inhalt der Tarifverträge gebe.')
'! M. Weber Ixmcrkt liitTzu: ,, einer der seltenen Fälle von f •r^ani>ati.>ncn
unter den Landarbeitern, der alicr um sn erfreulicher ist. als, wie die Ta!»elle cr-
giebt, Ueberstundcn-, Ehefrauen- und Kiuderarbeii gleichniäfsig vermindert worden ise*.
*) Sociale Pr»Kis VUl,
'335' '33**- Rwüction oder Refonn? S. 47. 4S.
Digitized by Google
12
l'hilipp l.otmar,
Die Aufgaben der Betriebsleitung sind nach ihm von dreierlei Art
„I. Bestimmung, was produziert werden, d. h. des Guts, welches
dem Konsumenten geboten werden soll; 2. Bestimmungen, wie pro-
duziert werden soll d. h. aus welchen Materialien, mit Hilfe welcher
technischen Prozesse und welcher Arbeitskräfte das herzustellende
Gut iRigcstellt werden soll; 3. Bestimmung über die Bedingungen,
unter denen diese menschlichen Produktionselemente Verwendung
finden sollen, wie über Temperatur, Atmosphäre, h>'gienische Ein-
richtungen der Werkstätte, über Intensität und Dauer der Arbeit,
über den Lohn, der als Entgelt gegeben wird."
Gegenüber dieser Dreiheit wird nun behauptet, daTs „wo der
Arbeiter frei ist und der Betriebsuntemehmer die Verfügung über
die benötigten Arbeitskräfte im freien Arbeitsvertrage mit Freien
erlangt", d. h. eben in der heutigen Arbeitsverfassung, „die Bestim-
mungen, die der Arbeitgeber allein zu treffen hat, von denen, bei
welchen die Arbeiter berechtigter Weise mitzureden haben, unter- *
schieden werden müssen"
Allein von einer „Berechtigung mitzureden" lälst sich darum
nicht sprechen, weil das Recht hierüber schweigt; es begni^ sich,
dem Arbeitnehmer das Mitreden nicht zu verbieten, ihm die Mög-
lichkeit nicht zu verschlie(sen, die ihm zusagenden Vertragsbedingungen
zu proponieren. Das Gleichgewicht der Kontrahenten eines Arbeits»
Vertrags, oder das Uebergewicht des einen ist lediglich die Folge
f a'k t i s c h e r Umstände. Wenn die unter l) angeführten Bestimmungen
iiir „ausschliefslich Sache des Betriebsuntemehmers" erklärt werden,
so sind sie dies doch nicht von Rechtswegen, sondern nur that-
sächlich in den meisten Fällen. Und der Betriebsuntemehmer würde
noch nicht aufhören dies zu sein, wenn er auf Grund einer mit den
Arbeitern getroffenen Uebereinkunft andere Waren als bisher (z. B.
Herrenkleider statt Damenmäntel) produzieren Heise und zum Ver-
kauf brächte. Der Unternehmergewinn würde nach wie vor ihm
zufallen, und er hätte das Risiko zu tragen.
Die in Rede stehende Deduktion bestimmt den Inhalt des Tarif-
vertrags nicht Uofis n^ativ, indem sie sagt, was in einen solchen
nicht gehört, sondern auch positiv, indem sie sagt, was Aufnahme
zu finden hat Aber gemäfs dem apriorischen Ausgangspunkt sieht
sich Brentano alsbald zu dem Bekenntnis genötigt, dals von den
Bestimmungen unter 2), die er zunächst vom Tarifvertrag ausschlieist,
„ein unmerklicher Uebergang" zu denen unter 3) stattfindet Er
gründet dies darauf, dals die ersteren „die Existenzbedingungen der
Digitized by Google
Die Tarifverträge xwiscben Arbettgebero ttnd Arbeitnehmern.
13
in Frape korftmcndcn Arbeiter ebenso ernstlicli zu beeinflussen"
vcrmoi^^cn, wie die letzeren. Das Mals des Kinflusses auf die Existenz-
bedingungen läl'st die Mitwirkung derjenigen, um deren Existenz es
sich handelt, dem Unbeteiligten gewils als zwecktnäfsig und billig
erscheinen, nur mit dem bestehenden Reclit hat dies nicht zu thun.
Das Einteilungsprinzip, das Nr. 2 und Nr. 3 nicht scharf zu
scheiden vermag, hält wohl auch gegenüber Nr. i iHciit Stich : denn
Icönnen die Existenzbedingungen der Arbeiter nicht auch von dem
bceinflulst werden , „was produziert werden soll", falls für dieses
Produkt keine Konsumenten zu finden sind, was zur Einstellung der
Produktion führen wird? oder falls der Ruclulruekergehille für den
Inhalt des Produktes prefsgesetzlich \ erantwortlich gemacht winl,
oder die von ihm gesetzte Zeitung seine Ecbensbedingungen be-
kämpft, so dafs er die Watten schmieden hilft, die gegen ihn ge-
braucht werden .sollen ? .Also wären die Arbeiter auch bei Nr. 1
nicht immer auszuschliefsen.
Das kritisierte Einteilungsprinzijj hat auch den Mangel, den .Xn-
schein zu erwecken, als ob es sich beim Tarifvertrag nur um die
Wahrung von Individualinteressen der Arbeitgeber oder der Arbeit-
nehmer handle, um die nämlichen, die den Inhalt individueller
Verträge bilden können, da doch — wie wir sehen werden — der
Tarilvertrag Bestimmungen enthalten kann, die allererst /.um Inhalt
von Tarifverträgen werden können, Bestimmungen, die die Existenz-
bedingungen der Einzelnen nicht oder nicht in erster Linie zu be*
einihissen vermögen.
Brentanos Dreiteilung gründet sich nicht sowohl auf das, was ist,
ab auf das» was nach seinem Gerechtigkeitsgefühl sein sollte,
und mündet daher in Postulate» deren Gutheifsung nicht durch
Argumente erlangt werden kann.') Unsererseits wollen wir nicht
weiter fragen, was ein Tarifvertrag enthalten sollte oder könnte,
nach Recht oder Billigkeit, sondern was er in Wirklichkeit zu ent-
halten pflegt. Auch an die Wiedeigabe dieses Befundes lassen sich
Betrachtungen knüpfen, die solche Wiedergabe lohnen.
n. Die im Folgenden angeführten, den Inhalt ausmachenden Be-
■) Die Bestimmung des l'mfangs der Produktion wurde Breotano wohl
unter Nr. 3 („Intensität und Dauer der Arheit'-i stellcu. Hingegen erblickt Hueok
im BeschJufs eines englischen (icwerlcvereins, die l'rcjduktion auf 5 \\'ochenta^,'e zu
beschranken, „einen ganz entschiedenen UebergrifT der Gewcrkvercine ; denn die
Produktioo lu bcmcHsen ist Sache des Arbeitgebers-: Schriften des Vereins
Ar Sodalpotitik Bd. 47. S. 142 vgl. 1S9, 196.
Digitized by Google
rhili} }) Loimar,
Stimmungen sind nur Verträgen entnommen: wollte man auch
die Vertragspropositionen heranziehen, oft wietlerholte Forde-
rungen, wie die der Errichtung von Betricbswerkstätten fiir heim-
arbeitende Schneider, Schuhmacher usw^ die nie oder fast nie An«
nähme finden,') so würden noch weitere Bestimmungen anzuführen
sein. Auch ohnedies wird nicht nach VoUstiimligkeit getrachtet, da
solche durch die Aufgabe nicht geboten ist, und selbstverständlich
treten nicht alle Iiier und sonst vorkommenden Vertragsbestim-
mungen in allen Tarifverträgen auf. Die meistens festgesetzten
lassen sich in folgende Gruppen zusammenfassen:
I. auf den Lohn bezügliche. Diese l)etrefren
a) seinen Betrag. Hier findet sich bald allgemein der bis-
herige zugesichert, bald werden die bisher gültigen Sätze ab fort-
geltende einzeln angegeben. In den meisten Fällen gewährt der
Tarif\*ertrag eine Erhöhung, die in Prozenten des bisherigen Betrages,
oder mit Anfuhrung der neuen Lohnsätze ausgedrückt wird. Da-
neben wird bestimmt, von wann ab die neuen Ix>hnsätze gelten
sollen, auf dafs sich der Arbeitgeber bei Annahme vx>n Bestellungen
einrichten könne, und bis wann die alten oder neuen in Geltung
bleiben sollen. Der Betrag des lx>hnes ist meist nicht einheitlich,
sondern verschieden nach der Zeit, während welcher die Arbeit
geleistet wird, indem iur Arbeit in der Ueberzeit, in der Nacht, an
Sonn- oder Feiertagen ein Zuschlag ausgeworfen ist. Zu Unter-
schieden fuhrt ferner der Ort, an dem gearbeitet wird, sei es dafs
der Lohnbetrag verschieden ist für verschiedene Städte, was der
Buchdruckertarif durch Gewährung von verschiedenen Lokalzu-
schlagen für 85 verschiedene Städte und durch die Möglichkeit der
Herabsetzung des Minimums des gewissen Geldes für kleine Druck-
orte ausfuhrt,*) >ei es dafs unterschieden wird, t.b die Arbeit in der
Stadt, oder auf dem Land („Landgeld"), in der W ei kstättc, oder auf
dem Bau vor sich ^'cht. Differenzen er'^'cbcn sich femer aus der
Person des Arbeitnehmers, nach den l'ntcrschifden von Geschlecht,
Alter, Personenstand (Verheiratete, Ledige) und I^istungsfähigkeit
>) „Auch die Einrichtung Ton BetriebswerkstMuen ist in den geweikschrnftlicfaeB
Venaminlungen in vielen Fällen i,'t-fur(iert worden. Da und dort wurde dieser
Forderong auch entsprochen**. Jahresbericht der badiscbeo Fabrikiospcktion fAr
1896 S. 88.
*) Deutscher Huclulruckcrwrif vom 1. Juli iSo6 !; 37. 33. Siehe auch Webb,
Theorie und Praxis der Gewerkvereine 1, 2S7, 2bb.
Digitized by Google
Die l'arilvvrtragc zwischen Arbnlgcbcni und Arbeitnehmern.
15
-Weitaus- die meisten Verschiedenheiten im Lohnbetrag knüpfen sich
an die Art der Arbeit an. An die mit den BeniCsunterschieden
gegebenen Arten der Arbeit ist hier nicht gedacht, indem ein Tarif-
vertrag sich ja nur auf einen Beruf bezieht Aber innerhalb einer
Berufsarbeit sind zahllose Artunterschiede möglich, denen sich die
Lohnbeträge anpassen können. Das gilt in (geringerem Mafse;
wo die Arbeit nach der Zeit bezahlt wird, indem z. B. die Wasser?
arbeit bei Zimmerern und Maurern einen höheren Lohnsatz für die
Zeiteinheit hat, als die Arbeit auf dem Lande, bei Dachdeckern die
Turmarbeit einen höheren als die übrige. Wo dagegen die Ar*
beit nach dem Ergebnis bezahlt wird d. h. Akkordlöhnung statt*
findet, bieten manche Gewerbe eine Mannigfaltigkeit der Lohnsatze,
die jede Vorstellung übersteigt Brentano hatte einen Tarifvertr^
von Londoner Kunsttischlern aus dem Jahre 1824 in Händen, der
vermöge der detallierten Preisliste 474 Quartseiten umfafst.') Der
Buchdruckertarif fiir die Berechnung des Satzes d. h. für die Akkord*
arbeit ist freilich bedeutend kürzer, man kann sich jedoch denken,
welcher Menge von einzelnen Möglichkeiten und Kombinationen er
Rechnung tragen mu(s, wenn man die Unterschiede der Schriftarten
nach Form und Kegel, die Unterschiede der Sprache, des Formates,
des Satzes (z. R gespaltener, gemischter, mathematischer, tabella*
rischer) veranschlagt*) Die hieraus und aus ähnlichen Besonder«
heiten erwachsenden Schwierigkeiten der Tarifierui^ und Tarif-
anwendung soll ein kürzlich erschienener Tarif kommentar erleichtern,
dessen Schaffung und Fortführung eine tarifvertragsmäfsige Aufgabe
des Tarifamtes der Buchdrucker bildet*) Verglichen mit der mannig*
^tigen Arbeit des Setzers möchte die des Schuhmachers als ein*
fach erscheinen ; und doch enthält z. B. der im April 1898 für Köln
und dessen Vororte für das Schuhnnacher band werk geschlossene
Tarifvertrag nicht weniger als $9 Lohnsätze, die sich, da zwei Klassen
von Arbeit unterschieden werden, auf die doppelte Zahl erhöhen.
Wenn man an zahlreichen Tarifverträgen sieht, in welches fast
nicht übersehbare Detail bei der Distinktion der Lohnsatze nach den
Arbeiten gegangen werden kann,^) so begreift man schwer, dafs
\) Arbeitergilden II, 267.
') Die durch den GebrMch der Setunaschine eintretende KompUkatton wird
durch den am 1. Januar 1900 in Kraft tretenden Setsmaachinentarif geregelt
*) Denticher Bochdnickcrtarif § 45 Nr. 6.
*) Vgl. Mundella bei Brentano, Arbeitergilden II, 284: „Wir haben 6000
verBchicdene Artikel auf unserer Tabelle, und wir vereinbaren einen Preis für jeden,
Digitized by Google
I6
Philipp 1^ Otmar.
für fJas Konfektion^ewerbe dem Berliner Etntgrungsatnt „eine
Tarifierung nicht möglich erschien", „da sowohl die Ausstattung
der einzelnen Arfoeitsgegenstände, wie die Ansprüche, welche an die
Ausführung der Arbeit gestellt werden, so verschiedenartige sind".
Das Einigungsamt hat darum keinen „allgemeinen Ijohntarif*. sondern
nur „die niedrigsten Lohnsatze für die geringsten in Berlin herzu-
stellenden Qualitäten" aufgestellt.')
Zu den Bestimmungen über den Lohnbetrag gehören endlich
auch die, die seine Schmälerung durch Abzüge, oder durch vom
Arbeiter zu machende Auslagen regeln, also z. B. über Abzüge wegen
einfallender Feiertage, wegen früheren Feierabends an Samstagen
und Vortagen von Festen, wegen Ausschusses oder in der Arbeit
vorgekommener Fehler, über Erstattung von Fahrgeldern, Reise*
Spesen, über Beistellung von Werkzeugen, Zuthaten, Foumituren,
Schleif« und Foliermaterial u. dgl., über Bestreitung von Werkzeug*
reparatur, durch den Arbeitgeber, oder den Arbeitnehmer.
b) auf die Form des Lohnes, nämlich auf den Unterschied
von Zeitlohn und Akkordlohn, namentlich Stücklohn beziehen sich
nicht wenige Bestimmungen, vor allem diejenige, welche den Akkord-
lohn ausschliefst Eine solche Bestimmung wird von der Arbeit-
nehmerseite unzählige Male vorgeschlagen, aber nur selten ange*
nommen.*) Der Tarifvertrag der Maurer \on Frankfurt a. M.
(August 1898) hat die Bestimmung^: „Akkordarbeit findet nur auf
Wunsch der Arbeitnehmer statt".*) Andere TariK'erträge begnügen
sich mit Bestimmungen, die innerhalb des Akkordsystems das Inter-
esse der Arbeitnehmer sichern sollen. So dicjeni^^e, welche den
Akkordlohn zu seiner Fixierung in einen Akkord/.ettel oder ein
Akkordbuch aufnehmen läfst, oder diejenige, welche dem Arbeit*
die Arbeitgeber setzen ihren Naroea «n den Fufs dieser Li.«t ^ jn i ilk* Arbeiter den
ihren." Dazu eine solche Tabelle für die Struiupfwirkerei im ..Anhang ' 342. 343).
') .I)a=; Gewerbegeriiht" I, 79. — Nach dem was erfahrungsgemäN in Spe-
zialisierung der lAihnsatze nacli der Art der Arlieit j,'elei>tet werden kann, wird man
es n teilt für unausführbar halten, dafs den ortliolien \ erschiedenheiten vollstait'itg
Rechnung getragen werde. Hingegen äufserte beim 5. V^erbandstagc des Zentralver-
bftades der Bfauirer ein Teilnehmer: „Einen Tnrif für das gan^e Reich wie bei den
Bttcfadnickem können wir nicht nbtchliefsen, weil wir es mit zu verschiedenartigen
Veihiltnlsten xu tfann haben." Protokoll S. 143.
*) s. B. Verwnltuttgsbericht des Magistrats su Berlin (Bericht ftber das Ge*
Werbegericht $. 4 unten) 1897 S.
*) „Das Gewerbegericht*« IV. s8.
•
4
\
Digitized by Co|)gIe
Die Tarifrettiige swiicheii ArtKitgebem und Aibciftaehnieni.
17
nchmcr für einen <^'c\visscn Zeitabschnitt einen gewissen Mininial-
verdicnst aus der Akkordarbeit trarantiert, auf dafs er bei der Akkord-
löhnung nicht schlechter stehe, als bei der Zeitlöhnun^ der Fall sein
würde. Dahin gehört ferner die Restimmunj^^ welche Akkord bei
Arbeiten geringeren Umfangcs um desselben willen ausschliefst '),
und endlich die häufig auftretenden Bestimmungen, welche den
Wert beriicksirhtigend, den die Zeit für den Akkordarbeiter hat,
ihm Entschädigungen für unfreiwillige Pausen zusichern, oder die
Herbeischaffung des Arlieitsmaterials von der Vorratsstättc zur
Arbeitsstätte auf die Rechnung des Arbeitgebers «letzen, (mIcv ^ic
als Zeitlohnarbeit durch die sonst iiii Akkord stehenden Arbeiter
ausführen lassen.
c) auf das Objekt des Lohnes, nämlich den Unterschied von
Geldlohn und Naturallohn bezieht sich die öfter als Forderung ge-
stellte, denn in \' ertrage aufgenommene Bestimmung, dafs Gewährung
von Kost und Logis durch den Arbeitgeber aufgehoben sein soll.
Der Vertrag der Brauerciarbeiter in Stuttgart (vom März 1S981 ent-
hält die Position: „Das Schlafen in der Brauerei ist aufgehoben;
seine Kost ninin\t der Brauer nach freier Wahl." *)
d) auf den Ort des I^ohnes d. h. den Ort seiner Auszahlung
beziehen sich iBestimmungen wie die, dafs die .Auszahlung auf der
Arbeitsstelle zu erfolgen habe, damit dem \ on der Arbeit ermüdeten
Gläubiger Zeit und Mühe der Abholung des Geldes an einem ent-
fernten Orte erspart werden.
e) auf die Zeit des I^hnes d. h. die Zeit seiner Auszahlung
beziehen sich die Bestimmungen, welche eine gewisse Lohnperiode
festsetzen, einen gewissen Zahltag, eine gewisse Zahbtunde, eine ge-
wisse Zeit, mit deren Ablauf die Zahlung beendigt sein mufs, deren
Ende bisweilen auf das Ende der Arbeitszeit am Zahltag gesetzt
>) I. B. Tarifvertrag der Berliner PoMmentiere : „Bei mllen StvMarbeiten be-
ginnt der Akkord ent von 7 m «nfwSrts. Reste bis na 7 m werden in Stundenlohn
von 50 Pf. «isgefttbrt.** Sosldc Pmis IX, lot.
*) Siebe ferner den Bericht Aber den im April 1897 von den Schuhmachern
in Bremen geschlossenen Tarifvertrag (Gewerbcgericht [I. 75 : „Es wurde «.-ine
Einigung dahin erzielt, dafs die Meister sich zu verpflichten haben, falls s;ie Gehilfen
Wohnung f^ewähren ein heizbar«'s Zimmer von, nani'Niilich wenn es für mehrere
beistimmt ist. L;< iiLi^.j'Mider Grufse, mit dem notwendigen Mobiliar, als Tisch, Stuhle,
Kleiderbchälter, VVascbgelegenheit, und für jeden ein besonderes ausreichendes Bett
SU liefern."
ArcUv fiir tM». Gticagebunf a. Sutistik. XV. 2
Digitized by Google
i8
I'hilipp Lot mar.
wird» auf dais die freie Zeit nicht durch das Warten auf den Knipfan^
der Zahlung geschmälert werde.')
2. auf die Arbeitszeit bezügliche. Die hierhergehörigen
Bestimmungen betreffen die Dauer der Arbeitszeit, ihren Anfang,
ihr Ende» die Zahlt die Länge und die I^e der Pausen inneriialb
einer Arbeitsperiode.*) Alle diese Punkte können verschieden ge-
regelt sein för verschiedene Jahreiueiten, für die Normal' und für
die Ueberarbeit, für die Arbeit bei Tag oder bei Nacht, an Werk-
tagen, an Sonn> und Feiert^^n und an den Vortagen solcher, für
verschiedene Arbeitsprozesse und verschiedene Arbeitnehmer. Auch
gehören hierher mancherlei Bestimmungen über Fernhaltung von
Ueberzeit, über Gewährung von arbeitsfreien Tagen, Freinächten
(z. B. bei Bäckei^ehilfen) und Ferien.
3. auf den Arbeitsprozefs im ganzen einschließlich der
Pausen bezügliche, als: Bestimmungen über Anwendung und Aus-
schliefsung gewisser Maschinen, Stoffe, Methoden Einrichtung von
Ankleideräumen, Baubuden, überhaupt hygienischer Vorkehrungen;
die Bestimmung, welche humane Behandlung zusichert, wozu auch
die Abschaffung des Duzens (natürlich gegenüber den Arbeitern)
gehört.
4. auf Eingehung, Einhaltung und Aufhebung des
Arbeitsvertrages bezügliche. Es gehören hierher Bestimmungen
über die Benutzung eines gewissen Arbeitsnachweises, über Wieder»
aufnähme der Arbeit, über Einstellung, oder Entlassung gewisser
Arbeiter, z. B. auch dafs die Gehilfen nach Bedarf angestellt werden,
auch wenn sie aus Strikegebieten kommen.^) Femer Bestimmungen
*) Der Tarifvertrag dtr Btuschlosser Mannheims (BCai 1897) besHiniiit hier:
„längeres zU Tiertelstfindiges Warten wird ab Ueberstunde betrachtet**.
*1 S. z. B. den einigttngsanitlichen Schiedsftpnich für die Berliner Steinsetcer
(Pflasteren in Soziale Praxis V'IH, I035.
•■•) r. B. he«;timmt der Tarifvertrag einer b^hiuischen Baumwollspinnerei und
-weherei «las Zweistuhls) stcm, statt der I i 1' nnjniy von drei und vier Stählen durch
eineu Weiu r .A'urwarts" vom 19. .September iSgu .
*i Siehe auch z. H. Nr. 3 u. 4 des Tarifvertrags für Textilfnhriken in Kotlbus
vom 19. April 1S96 tSo£. l'raxis V, S551; „E> ist uichl lu uiugchen, dafs eine
Ansahl der fräheren Arbeiter in den einzelnen Fabriken von der Wiederattf*
nähme aufgeschlossen bleibt, jedoch soll eine sogen, schwarte leiste nicht verbreitet
werden, fiills die Arbeit in der nächsten Zeit aufgenommen wird. — So lange sich
hierorts ein Mangel an Arbeitskriften nicht föhlbar macht, werden wir auswärtige
Arbeiter nicht heranziehen." — Aehnlich Nr. 3 des Tarifvertrags der Former in
Berlin (Oktober 1897; „Das Gewerbegericht'' III, 4).
Digitized by Google
Die TarifvcTtiige xwiadien Arbeitgebern und ArbeitoduBern.
19
über die Zahl der in einem Betrieb zulässigen Lehrlinge („Lehr-
linj^^sskala'" I. Bestimmungen über Kündigungsfrist {ihren Ausschlufs,
ihre Dauer), Kündigungstag und Kündigungsgründe, über Bildung
eines Arbcitcrausschusses, über den Inhalt einer neuen Arbeits-
ordnung.über Hebung vnv. Streitigkeiten, die bei Vollziehung
dt-r \rbcits\c'rträge entstehen, durch ein Schiedsgericht; im Tarif-
vertrag tler Maurer in Berlin vom Juni 1899 ist für .Streitigkeiten
zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern auf einer Arbeitsstätte"
ein Instanzenzug von drei Instanzen vorgesehen.-)
5. auf das a u fs e r d i en s 1 1 i c h e Verhalten der Arbeit-
nehmer bezügliche, als: Bestimmungen, durch welche die Orga-
nisation der Arbeiter vom Arbeitgeber anerkannt oder \'ersprochen
wird, die Zugehörigkeit zur Organisation nicht zu beeinträchtigen,")
ferner Zusage der Arbeitnehmer, solche Mitarbeiter, die sich dem
dem larifveilrag vorangehenden Strike nicht angeschlossen haben,
nicht zu verunglim{)fen, Bestimmungen über die Wrwendung von
Strafgeldern, über die l unktion von VV'ohlfahrtseinrichtungen, über
die Wahl der Versicherung.skassc.
6. auf den Tarifvertrag selbst bezügliche, niimlich Be-
stimmungen über Anfang und Ende seiner ( ieltung — dahin gehört
z. B. das \'ersi>rechen der Arbeitnehmer „in den nächsten zwei
Jahren keine Lohnforderungen zu stellen" - über seine Kündigung
und Erneuerung, über Organe (z. B. Kontrolkoimnissjon, Tarifaus-
schuls. l arifamt, I*jnigung>amt j und Methoden seiner Auslegung, Aus-
breitung, Durchführung und Verbesserung.^) Im einzelnen gehören dahin
M Bericht ftber das Gewerbec«richt ta Berlin (1897/8) S. 9. Im Turifvertrag
der Stuttgarter Klempner vom 11. Angnst 1899 (Sos. Praxis VHI, 1254) lantet Nr. 7:
„Es wird gemoosciiafUieh eine f&r slmtlicbe hiesigen Flaschner» nnd Instattatiom-
gcschäffle gflitigt Werkstattordnong angestellt**
*) Wenigstens nach der Fassung in Soz. Praxis Vm, 1071, Nr. 'V. Sich«
ferner den deutschen Badtdruckeitarif § 47.
') Tarifvertrag der Stut^arter Brauereiarbeiter („Vorwirts vom «3. Hirz 1898):
„Beiden 'IVilcn wird volbtändig freies Koalitionsrecht zagestanden". — In einem
im Juli i8qo für das Baugewerbe von Vorkshirc geschlossenen Tarifvertrag ver-
pfliohfn sich <lie Frinzipalc. Arbeiter, von denen der Gewerkverein nachweist. <laf?
sie ihm lieitrn^e •^ihulden, zur Zahlung dieser Beitrage aniuhalten und im Fall der
Weig«:ruug /u entlassen !
*) ^ ' B. Zahn in den Sc hriften <lt-^ \ creiii^ für Sozialpolitik Bd. 45, 40I
bis 403. Deutscher Buchdruckertarif §§ 39 — 53. Tarifvertrag Berliner VVeifsgerber
(Okt 1896) Nr. 4 (Soz. Praxis DC, 130).
2»
Dlgitized by Google
30
r h 1 1 1 p i> L Ol ma r ,
z. B. die Bestimmung, dafs der Tarifvertrag über die ihm ursprüng-
lich gesetzte Geltungsfrist ein Jahr in Geltung bleibt, wenn er nicht
rechtzeitig gekündigt wird, oder dals zur Vermeidung der Tarif-
losigkcit bei Differenzen über die Fortsetzung des Vertragsv'erhalt-
nisses beiderseits das Gewerbegericht als Einigungsamt zur Bei-
legung angerufen werde, oder eine wie Satz MB des Tarifvertrags
der Berliner Maurer (vom 24. Juni 1899): „Sowohl die centrale wie
die lokale Organisation der Maurer, sowie die Grewerkschafts-
kommission verpflichten sich, ihren ganzen Einflufs für Aufrecht-
erhaltung dieser Bedingungen einzusetzen und im Widerspruch mit
denselben ausbrechende Strikes nicht zu unterstützen/'
in. Die im Vorstehenden gegebene, durch die Gruppirung er-
Idchterte Uebersicht über den Inhalt des Tarifvertrages lehrt die
Marmigfoltigkeit dieses Inhalts kennen. Diese Mannigfaltigkeit rührt
von der Vielheit der Interessen her, die durch den Tarifvertrag
wahrgenommen werden sollen. Nun ergibt sich aber aus der Er-
&hrung, dafs nicht alle Tarifvertrage den gleichen Inhalt haben.
Man könnte daher die Tarifvertrage verschiedenen Inhalts mit ein-
ander vergleichen und die Frage zu beantworten suchen, worauf
diese inhaltliche Verschiedenheit zurückgeht d. h. warum jene Ver-
trage mit verschiedenem Inhalt versehen sind. Man wurde darauf
verweisen, dafs ungleiche Gewerbe, z. B. der Bergbau und die
Hafenarbeit, die Töpferei und die Buchdruckerei ungleiche Bedürf-
nisse haben, und dafs daher die zur Befriedigung der Bedürfnisse
verschiedener Gewerbe bestimmten Tarifverträge notwendig \'er-
schiedenen Inhalt haben. Eis würde sich femer zeigen, dafs die Be-
dürfiiisse auch des nämlichen Arbeitszweiges nach den Umständen,
unter denen es zur Schliefsung von Tarif\'erträgen kommt, ver-
schieden sind — indem z. B. kein Anlafs zu Bestimmungen über
die Akkordarbeit, den Naturallohn, die Wiederaufnahme der Arbeit,
oder die Wiederanstellung von Arbeitern gegeben zu sein braucht
— was eine zweite Ursache inhaltlicher Verschiedenheit bilden kann.
Auch konnte sich ergeben, dafs die fiir ein Gewerbe in Frage
kommende Arbeiterschaft oder Unternehmerschaft an dem Orte oder
zu der Zeit der VertragschUefsun;^ nicht so fest und zahlreich ge-
eint ist, als die eines anderen Gewerbes, oder die des nämliclien
anderwärts, und dals sie darum die Aufnahme von Vertragsbestim-
mungen nicht zu erwirken oder zu verhindern vermag, die für ein
anderes Gewerbe oder für das nämliche an anderem Ort getroffen
oder hintangehalten werden können — was eine dritte Quelle
Digitized by Google
Dir Twrifvertiftge zwischrn Arbntgebeni und Arbeitncbmeni.
21
<lcr X'cr'^rhiedciiheit im Inhalt der l arifvcrträj^c sein würde. Allein
diese, liier nur an^^edrutetc Untersuch utv^r wurde uns zu sehr von
unserem Thema entlernen und /um l-.iti^^rciK n aui tlie Natur und
Lage einzelner Gewerbe und liirer An^ehori^^en nötigen.
Statt dessen am Tarifvertrag^ überhaupt (unserem Thema) fcst-
h.iltcnd und die seinen Inhalt bildenden Gegenstände mit einander
-vergleichend haben wir zur Krläuterving seines Wesens die folgenden
Unterschiede liervor/ulicbcn, vnn drnrn inanche, wie sich spater
zeigen wird, auch iuristisch folgciucicli sind. ')
1. You den stets die Mehrzahl 1 »ildciidcti Hcstinmningen, die
sicli unmittelbar auf tlas gegenwärtige uder kuiittige .Arbeits-
verhältnis beziehen, hcl)en sich /lu örtlersl diejeiügen ab, die den
Tarifvertrag .selbst, mler eine andere >olche g e n e r e 1 1 c T e b e r-
einkunft zum Objekt habeti. Ks sind das Bestimmungen von der
unter Nr. 6 erwähnten .\rt, nebsi solchen, welche die künftige
Vereinbarung eines in mehreres Detail gehenden I.ohntarifs, oder
einer Werkstattordnung Icstsctzen.-) Derartige liestinnnungen des
Farifvertrags beeinflussen nicht unmittelbar die Rechte und Pflichten
des Arbeitgebers und des .\rbeitnehmers aus dem Arbeitsvertrag,
.sie regulieren das Tarifvertrag.sverhältnis selbst, und sind für .Arbeit-
nehmer wie Arbeilgel)er wertvoll nur sofern der Tarifx ertrag im
übrigen für sie wert\nlle Bestimmungen enthält, oder -solche den
durch den Tarifvertrag in Aussicht gestellten .Spcziaitarifen, Werk-
stattordnungen u. dergl. einverleibt werden sollten.
2. Von den l arifvertragsbestniHiumgen sind ilie meisten von
bleibender, manche aber nur \ oii vorübergehender Be-
deutung. Die letzteren, l r a n s i t o r i sc h e n werden durch die I in-
stände veranlaist, die zur Zeit der Abschlielsung des Tarifverlrai^es
Da die fulgcnden Distinktionen aus mehrereo €re«icht8pankten gemacht siod,
•o kuB di« nXniliche Alt von Bestuunrangeii bei mdir ab «iner UDtendieidiiiig
vorkonnen.
") z. B. oben oater Nr. 4 S. 19 Anm. i und TarfArcrtiag der' Bcrltncr Manier
(Jmi 1S99): „AUjibrlicli im Herbit hat die unter Nr. III bezeidmete Komminion
satamnensatreten imd die Arbeits- and Lohnverhältnisse für die Baupertode dei
Düchstrn Tahrrs festzusetzen.*' Tarifvertrag der Tischler in Kiel („Das Oewerbc-
gerich;" II. 1261 Es wird alsbald ein gemeinsamer Ausschufs gebildet, bestchcjid
au< [c i \'crtr«-trrn der Arbeitgeher und Arbeitnehmer at zur Beratung und Auf-
stellung von Akkordtarifen, b) zur Feststellung drr Wr^'utung für .Auf^-tnaj bcit,
c) zur Regelung der Arbeitszeit, d) als dauernde Einrichtung zur Schlichtung von
Streitigkeiteii".
Digitized by Google
22
Philipp L u i tu a I ,
obwalten, aber nicht andauern, oder nicht andauern sollen. Diese
Umstände bestehen in Bewc^un^cn, Kämpfen und Kani}li> »Mtionen,
die vor den Vcrtragsverhandlungen und während derselben unter-
nommen oder eingenommen worden sind und durch den Vertrags-
schluls gründlich au%ehoben und gegenstandslos werden sollen. Es
gehören dahin Bestimmungen über die Wiederaufnahme der Arbeit,
soweit eine Arbeitsniederl^ung geschehen ist, über die Aufhebung
einer Sperre, eines Boykotts, einer Arbeiteraussperrung, Uber Rück-
nahme von Kündigungen, Wiedereinstellung von Arbeitnehmern,
bisher verweigerte Entlassung milsliebiger Mitarbeiter, Vorarbeiter,
Werkföhrer u. dergl. Eine oft wiederkehrende, obwohl nicht pracb
gefalste, transitorische Bestimmung, ist die, da(s „Mafsregelungen'*
nicht stattfinden dürfen.')
3. Unter den nicht transitorischen, sondern auf die Dauer be-
rechneten Bestimmungen gibt es einerseits solche, die ein von
der allgemeinen Regelung, nämlich von der Gesetzgebung
völlig unberührt gelassenes Feld der vertragsmäfsigen Rege-
lung unterstellen, wie z. B. den Arbeitsnachweis, den Schutz der
Koalitionsfreiheit, und besonders die Lohne nach ihrer Gröfse und
nach der Einheit, für die der Lohnsau bestimmt ist; denn das
Gesetz überlalst es gänzlich der Privatdisposition, ob die I Ahnung
nach der Zeit oder nach dem Stück erfolgen und in beiden Fällen,
wie hoch, oder wie niedrig der Lohnsatz ftir den malsgebenden
Zeitabschnitt, oder für das maßgebende Stück sein, endlich ob fiir
Ueberzeitarbeit ein Zuschlag und von welcher Gröfse eintreten soll.
Die einzige gesetzliche Schranke für Höhe oder Niedrigkeit des
Ix>hnes besteht in der Abweisung wucherischer Ausbeutung der
Notlage, des Leichtsinns, oder der Uner&hrenheit Und selbst diese
Schranke scheint bis zur Unsichtbarkeit fem gerückt zu sein, indem
die Hungerlöhne in vielen Hausindustrien unangefochten bestehen,
obwohl es hier an der gewerbs' oder gewohnheitsmäfsigen
Ausbeutung, die zur Strafbarkeit gehört, nicht fehlt
Diesen Bestimmungen, die ein von den Gesetzen gar nicht be-
') Transitorisch ist auch folgende Bestimmung; .sie i»t /war durch Lm»lande
veranlafüt, die bei der Vertragschliefsuag ubwaltcn, aber uicht unter den Paciscenteu,
•ondern unter ihren Beniiicenonen. Sie erscheint im Tarifvertrag, durch den der
Scrike der Zimmerer in Barmen (im Aogttst 1899) geendigt wurde und lautet:
„Die Meister Tersprechen, so lange der Elber felder Zimmererausttand andauert,
keine Arbeit von den dortigen Meistern zu übernehmen, sowie auch während dieser
Zeit keine Gesellen nach Elberfeld zu verleihen*'. „Vorwärts" vom 24. Aug. 1899.
Digitized by Google
Die TarifTerträge «wischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. 23
strichcncs I cKl /w ir einer i^encrcUen, aber tloch nur \'erlra'^>,märsi5^en
Re^cluiij^' iinlcrwci ten. stehen diejeni*(en gegenüber, die in tlen
Bereich der (i e s e i e b u n g ein<]jreifen. Das ist entweder so
der Fall, dals sie sich an die Stelle einer d i s p o s i t i v c n V'er-
fuj^un«^ des Geselz;4ebers setzen, /. H. iiuleni sie du- Kundii^uni^ ab-
weichend vom Gesetze regeln ; oder so, dafs sie, wo das (lesetz nur
den Grundsatz aufgestellt, oder einer Autorität von geringerer
Kompetenz, etwa der Gemeinde, dem Bundesrat, der LandeszeiilLil-
behörde, der Handwerkskammer, oder der Innung die Ordnung an-
hcimgestellt hat, den noch freigelassenen Raum selber aus-
ftUlen: z. B. die Bestimmungen über die Zeit der Lohnzahlung, über
die Beschränkung der Lehrlingszahl, über Dauer, Beginn, Ende und
Zwischenpausen der täglichen Arbeitszeit erwachsener Arbeiter.*)
Viele der hierhergehörigen Vertragsbestimmungen liegen in der
Richtung der Gesetzgebung, sind Ausführungen gesetzlicher
Voischriften oder ersetzen Vorschriften von Behörden: man ver-
gleiche z. B. den § 51 des deutschen Buchdruckertari^ der die neun-
stündige Arbeitszeit festsetzt, mit der bundesratlichen Bekannt*
machung betretend den Betrieb von Backereien und Konditoreien,
der die Arbeitsschicht der Gehilfen auf zwölf Stunden normiert.
4. Man kann den Inhßlt des Tarifvertrags nicht blols (wie eben
unter Nr. 3 geschehen) mit dem Inhalt gesetzlicher Vor*
Schriften oder ähnlicher, von einer über den Parteien stehenden
Autorität erlassener Vorschriften vergleichen, man kann ihn auch
mit dem Inhalt der individuellen Uebereinkünfte veigleichen.
Im individuellen Vertrag, im Arbeitsvertrag, sucht jeder Kontrahent
sein Einzelinteresse zur Geltung zu bringen, nämlich das Arbeits*
Verhältnis so zu gestalten, wie es ihm als Arbeitgeber, oder als
Arbeitnehmer am vorteilhaftesten erscheint z. B. in Ansehung des
Lohnbetrags, der Arbeitszeit, der Vertragszeit Die nämlichen
Punkte können auch durch kollektive Vertragschlielsung geregelt
werden d. h. den Inhalt eines Tarifvertrags bilden, und solche ge-
meinsame Regelung hat bestimmte Bedeutungen, namentlich auch die,
die Wahrnehmung des Einzelinteresses, die dem isolierten Kontra-
henten nicht erreichbar ist, zur gemeinen Sache Seinesgleichen zu
machen.
Dieser generelle .Vertrag bietet aber Raum nicht blols für die
Punkte, die der individuellen Regelung unterstehen können, sondern
<) Vgl. Gcw.O. §§ iiga Ab«. 2 Kr. i, laS Abs. 3, 130, i2oe Abs. 3.
Digitized by Google
24
Philipp Lotmar,
auch für solche, die dem individuellen Uebereinkommen fern stehen,
und deren kollektive Regelung gerade dadurch veranlagst wird, da£s
die summierten Interessen einer Mehrheit und die Interessen, die
sie als (dieder dieser Mehrheit haben, um Ausdruck und Wahrung
rin-^en. Der TarifvcrtraL; tiimmt Interessen in seinen Inhalt auf, die,
weil sie über das des Individuunis hinausziehen, weil sie in den
Bereich di- ]'■' rufs-, Standes- oder Kla-sseninteresses hineinragen,
der individuellen Regelung durch den einzelnen Arbeits\'ertrag mehr
oder weniger völlig entrückt sind.
Auch vermöge des (iewichts, das auf der Seite der Arln-it-
nehmer und manchmal auch auf der der Arbeitgeber bei der kollek-
tiven im GeL^^ensatz zur individuellen Vertragsschliefsung durch die
Mehrheit der l eilnehnier ins Si>iel kominl, können im Tarifvertrag
Festsetzung6n Platz hnden, die durch Arbeitsverträi^e nicht erlang-
bar sind. Das < it wi« lit der Mehrheit beruht nicht blofs auf dem
unmittelbaren Eindruck, den jede einmütige Mehrheit machen kann,
sondern auch auf der durch sie geweckten Erwägung, dafs andere
Arbeitgeber oder Arbeitnehmer, mit denen sich zu genehmeren Be-
dingungen Arbeits vertrage schliefsen lassen (ouUuders), schwerer zu
finden sein werden.
Im ganzen ist es nur natürlich, dafs drr I n ifvertrag, der in
der Mehrheil der Kontrahenten seine eigentümliche Form hat. auch
eine dieser Form entsprechende Eigentümlichkeit des Inhalts habe.
Diese auf den z.uletzt erwähnten Gründen — ( iesanit interesse und
(iewicht der Mehrheit — beruhende Eigentümlichkeit lal^t sich an
folgenden Beispielen erläutern:
Alle Bestimmungen über den Tarifvertrag selbst —
die Dauer seiner Wirksamkeit , seine Erneuerung oder Aenderung,
die Mittel seiner Aufrechterhaltung und dgl. — eignen sich nur
für den Tarifvertrag und nicht für den individuellen \'ertrag, den
Arbeitsvertrag. Das Interesse am Bestand des Tarifvertrags ist
augenscheinlich eines, das über das Interesse des einzelnen Arbeit-
nehmers und. falls mehrere .Arbeitgeber am l ariKerlrag beteiligt
sind, über das Interes.>c des einzelnen Arl)eitgebers liinausiTclu. Fs
wäre widersinnig, nachdem ein Taritverlrag zustande gekonnnen ist,
z. B. die Dauer seiner Wirksamkeit im einzelnen .Arbeitsvertrag für
den an diesem beteili<7tcn einzelnen Arbeitnehmer und Arbeit^jeber
festzusetzen. Uebcrdem würde dies dahin führen können, dals jene
Wirksamkeit im X'erhältnis eines .ArbeitL^ebers zu verschiedenen .Arbeit-
nehmern oder im Verhältnis verschiedener Arbeitgeber zu verschiedenen
Digitized by Google
Die Tarifverträge zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern.
Arbeitnehmern zu verschiedenen Zeiten zu Ende ginge, ob-
wohl der Tarifvertrag von allen diesen Personen geschlossen worden
ist. Und was von der Dauer der Wirksamkeit i,ts.igt wurde, ist auch
für die übrigen dem Tarifvertrag selbst geltenden Bestimmungen so
einleuchtend, dafe mgn derartige Bestimmungen nur zu lesen braucht,
um einzusehen, dafs soldier Inhalt die Form kc^ektiver Vertrags
schliefsung ebenso erheischt, als er der individuellen widetstrebt ')
Die Anerkennung einer Arbeiterorganisation —
demgemäfs die Zusicherung, die Teilnahme daran nicht zu hindern,
ihretwegen nicht zu entlassen, und wohl auch gegebenenüalls mit
den Leitern der Organisation zu verhandeln — geht über das Indi-
vidualtntei^esse des Arbeitnehmers hinaus. Der Arbeiter, der bei
Abschlufs des Arbeitsvertrags sich jene Anerkennung ausbedingen
und sich damit als Organisierten bekennen würde und doch einen
Arbeitgeber hat, der ihn, den Organisierten, anzustellen bereit ist,
würde für seine Person oder als Arbeitnehmer kein Interesse an
jener Vertragsbestimmung haben : ihre Aufnahme in seinen Arbeits-
vertrag hätte mit seinem Arbeitsverhältnis nichts zu thun. Das
Interesse einer Mehrheit, das hier in Frage steht, eignet sich daher
nur zu einer Vertragsdiliefsung durch eine Mehrheit d. h. zum In*
halt eines Vertn^, den mehrere kollektiv schliefsen. Wollte man,
an eine Mehrzahl von Arbeitgebern denkend, ein individuelles
Interesse des Arbeiters darum annehmen, weil er bei Endigung seines
gegenwärtigen Arbeitsverhältnisses an der Erlangung eines neuen bd
einem anderen Arbeitgeber durch dessen Widerstreben gegen die
Oi^anisation gehindert sein kann, so ist wiederum ersichtlich, dass
er dieses Interesse nicht durch seinen jetzigen Arbeitsvertrag ver-
folgen kann, dals es vielmehr, als über denselben hinausragend, nur
durch einen kollektiven Vertrag wahlgenommen werden kann, den
eine Mehrheit von Arbeitnehmern mit einer Mehrheit von Arbdt-
gebem abschliefst
Ob ein bestimmter Arbeitsnachweis, dn von den Arbeit-
') Siehe obeu S. 19 Nr. 6 und z. Ii. im Tarifvt-rtrag der Berlii»er VVcifsgerber
den Passus: ..F<^ loll cl«rn I'artcicn freistehen innerhalb 3 Monaten vor Ablauf des
Vertrags über Aenderungen der Arbcit.«l>cdiDgwngfn in Verhandlung zu treten.
Arbeitgeber sowohl wie Arbeitnehmer verptlichten sich hiermit ausdrücklich, falls
Iceine arae Vcniobaning bis tarn AbUaf des Vcrti«fi tastande koom^ bcidMadIt
«ngdwiMl da» Einigungsamt de* Gewerbagcricbtt tat Beilegung der Diflere&sen an*
carafcn. Bit rar Eatacbcidiiiig dct EinigQD(Huntc« darf weder eine Aasqiemmg
noch da AaiBtand ■tattfiadea."
Digitized by Google
20
l'UHipp Lotmar.
t
gebcm oder ein von den Arbeitnehntcrn geleiteter, ein g^emuicliter
oder ein neutraler benutzt werden soll, kann dem einzelnen Arbeit*
geber oder Arbeitnehmer, die zusammen einen Arbeitsvertrag ein*
gehen, bei solchem Kontrakt gleichgültig sein, so dals sie eine He-
Stimmung über Arbeitsnachweis in ihren Arbeitsvertrag aufeu-
nehmen, kein Interesse haben. Weil es sich beim Arbeitsnachweis
um kein Individualinteresse der Kontrahenten eines Arbeitsvertrags
handelt, ist eine ihn angehende Bestimmung zur Aufnahme in
solchen Vertrag nicht geeignet Wohl aber palst sie in einen
Tarifvertrag, der die den einzelnen Arbeitsvertrag überschreitenden
Interessen jeder Partei zur Geltung bringen kann.
Auch die Beschränkung der Lehrlingszahl ist ein
Gegenstand, der sich nur zur Aufnahme in einen Tarifi'ertrag eignet \)
Dem Gesellen oder Gehilfen, der als solcher in ein Arbeitsverhält-
nis tritt oder sich in einem Arbeitsx'erhaltnis befindet, konnte ei,
sollte man meinen, gleichgültig^ sein, wie Wele Lehrlinge sein
Arbeitgeber oder fremde Arbeitgeber zu beschäftigen fiir gut
finden. Die im Arbeitsvertrag ausbedungenen Leistungen werden
davon nicht berührt. Und doch wird auch das indinduelle Inter-
esse des Gesellen hierdurch Unterbietung bedroht: er kann durch
die billigere Arbeitskraft eines älteren (d. h. bald ausgelemten) Lehr
lings aus seiner Stelle verdrängt werden und findet einen Ematz
bei einem neuen Arbeitgeber möglicherweise darum nicht weil die
nämlichen billigeren Arbeitskräfte die Gesellenplätzc einnehmen.
Gegen die erstere Ge&hr könnte der Arbeitsvertrag Schutz bieten,
ohne doch die Lehrlingszahl zu beschränken.^ Wenn aber der
Geselle aus irgend einem Grunde das so geschützte Arbeitsverhält«
nis geendigt hat, so gewährt ihm sein früherer .Arbeitsvertrag keine
Hilfe wider die zweite Gefahr. Diesem Interesse des Arbeiters,
das er nicht blofs gegenüber seinem, also einem bestimmten
Arbeitgeber, sondern gegenüber allen Unternehmern seines Faches
hat vermag sein individueller Vertrag nicht Rechnung zu tragen:
es kann nur durch einen d i e Arbeitgeber umspannenden Kollektiv»
') Was hier too den Geselleo und den Lehrliu^^cii gesagt wird, gilt «uch in
niMcheo Gewerben, t, B. der Brauerei, von den fachlich ausgebildeten und den
..Hilftarbettem*'.
*) Tiedemann, Die neuere Entwicklung der Arbeitsverhältnisse und die ge-
'gewerkachaftl. Organisation im Buchdnickgewerbe (S.>A. aus Z. f. d. ges. Staats*
wissemch. 1897) S. 49.
Digitized by Google
Die Tariü-erträge xwbcben Arbeitgeb«ni und Arbeitnchmero. 2/
x crira^' wahrgeiioiniiu n wcnicn. Und j^ar für das Berufs-, Staiides-
odcr KlasseninUi ('s>c an der Nic<lcrhallunpf der Lehrliiigszahl erweist
sich der individuelle X'ertra- .iLs ottenbar iiuzulänj^lich. Die üe-
Äaintlaj^^e kann nicht durch Kinzel\ ertra«^, wohl aber die Eiii/ellaore
durch ( icsanuverlra^^ l^^eschirnit werden, und eben dieser kolk ktive
Vertrag' vermag im Gcsamtiiiteresäc das Angebot von Arbeitskraiten
niederzuhalten, ' i
5. Unter den Bestimmun^ren. die uns im Tarifvertra{^' bege;4neii,
wallen auch juristische Unterschiede ob, d. h. solche, die die
an den Tarifvertrag^ sicii anknüpfende Recluswirkung beeinflu>.>en,
wie sich bei der späteren Betrachtung dieser Rechtswirkung zeigen
soll. Man kann
a) unterscheiden Bestimmungen, die ihren (iegenstaiut einfacli,
fest und erschöi)tend regeln, und solche, die einen gewis>en S|>iel-
räum lassen, nur eine Norm angeben, eine obere oder untere
Grenze ziehen. '-| Die erstcrcn können nur einhciilu h befolgt oder
übertreten wertlen, während bei den letzteren ilie Minhailung eine
gewisse Mannigfaltigkeit nicht ausschliefst, wenn nur von gewissen
Grundlinien nicht abgewichen wird. Zu den ersleren gehören auch
die Fälle, in denen der l arilv ertrag für verschiedene .-\i beiteii einer
Gattung, oder für Arbeitnehmer verschiedenen Lebens- oder Dienst-
alters, oder für verschiedene Orte eines Landes \erschiedene aber
feste Lohnsätze aulstclll, da iiier überall tler individuellen Regelung
kein Raum gelassen ist. Wohl aber ist dies der hall und haben
wir elastische Bestinunungen vor uns. wenn der Lohn nur als
D u r c h s c h n i 1 1 s 1 o h n , ) oder als M i n i m a 1 1 o h n oder mit
Minimum und Maximum bestimmt ist,*) oder wenn zweierlei Tarif
*) Vgl. TiedenaDD ■.«.(). $0. 51 und Zahn 10 Scbriftcn des Vereins flu*
Sosialpolitfc Bd. 45 S. 344.
*} Zu keiner der beiden Arten gehören Sttse, die eine Enthnltnng von
kollditiver R^dnng nnstprcdwn wie s. B. „die Akkordlohne bleiben der freien
Vereinbarung übe^la5seB*^ |j>er Lohnsatz für durch Unfall, Alter, Invaliditfit minder
leistnngsfähige Gesellen unterliegt der freien Vereiobarung.** , .Hebräischer und
sonstiger orientalischer äatz, sowie MusikniHensnU werden nach besonderer l'eber-
einkunft berechnet."
'j Tarifvertrag für das Ziiumerergcwcrbe in lireiaeii (August 1899 : ..Der
Durchschnittslohn betragt 46 Pf. pro Stunde, je nach der Leistung wird mehr «xler
weniger bcnhlt."
*) „Stnndenlohn vom l. August ao je nach Leistung des Arbeitnehmers 2$ bis
36 Pf.** Tarifvertrag der Zimmerer in Pforzheim („Gcwerbegericht" II, 126). „¥lu
Digitized by Google
28
Phil pp I, Otmar,
für das nämliche Gewerbe aufgestellt, ') oder gesa^^ ist, dafs Nacht-
und Sonntagsarbeit „nur in ganz dringenden I*'ällen" stattfinden
sollen.
b) Bestimmungen, die die eine «ulcr die andere Tartei unmittel-
bar d. h. allein aus dem Tarifvertrag zu einer Leistung, einem Thun
oder lassen, verpflichten . un{l solche, von denen dies nicht gilt.
Zu den ersteren gehören die über Wiederaufnahme der Arbeit,
Wiederanstellung Cicmafsregelter oder Ausgesi>errter, Unterlassung
von Mafsregclungen, Entlassung gewisser Arbeiter oder Werkmeister,
Anbringung des auf l'Jakate gedruckten Tarifs in den Arbeitsräumen,
Einrichtung von bestimmC'^n Haubuden, Einhaltung einer gewissen
Lchrlingszahl d. h. Nichlübersc.'jreitung ilieser Zahl, Benutzung eines
gewissen Arbeitsnachweises, Bereitwilligkeit zur Begründung eines
gewissen Arbeitsnachweises, zur Ausarbeitung gewisser Spezialtarife.
Bestimmungen dagegen, die nicht unmr.Uclbar zu einer Leistung
verpflichten, sind z. B. solche über Anfang u.'^d lini\c tler W'irksam-
keit des Tarifvertrags, und die unter cl zuerst j/enanntcn.
c) Einerseits Bestimmungen, die die künfti<'ei^ Arbeitsverträge
regeln, nämlich Bestandteile solcher ArbeitsverträgeXwt^rden sollen,
also nur unter der X'oraussetzung des Abschlusses sok^'i^'" Arbeits-
verträge wirken, und andererseits alle übrigen Bestimmi^"JJ^"- ^^'^
ersteren — man kann sie Lohn- und Arbeitsbedingungen^ *• ^- ^•
nennen-) — bilden den (irundstock des Tarifvertrags, jpiachen
seinen wesentlichen Inhalt aus; sie betreffen die aus den AV''^'^'
vertragen zu gewährenden Leistungen und GegenleistungeiiJ'
ziehen sich also auf den Lohn nach allen seinen früher erört**^^"
Seiten und ebenso auf die Arbeit. Sie bestimmen namen»'*^^^
Gröise, Form, Objekt, Ort und Zeit des Lohnes, und bei der Arl^^*^
die Arbeitszeit. Ferner gehören hierher die Bestimmungen über!
Vertrags/.eit, namentlich über Kündigung. Dieser viel umfassencW^"
Gruppe stehen diejenigen Bestimmungen gegenüber, die nicht (4'^
Salpeter, Guano, loses Getreide . . . wird ein Tagelohn zwischen 4,20 und 5 MI
be/ahll." Lohntarif der Hamburger Schauericute (Protokolle der Senatskommis'iioiJ
1S08 S. 3491.
Vi Im Tarifvertrag der Schneider in Königsberg i.März. 18Q9) ist bestimmt,
dafs über die Zuteilung dor einzelnen (ieschäfte an den ersten oder zweiten Tarif
in strittigen Fällen das (jewerbegericht entscheidet.
*) Im weiteren Sinn umfafst der Ausdruck ,.Lohn- und Arbeitsbedingungen"
den ganzen Inhalt des Tarifvertrags. — Eigentlich zählt der Lohn, den sich jemand
far seine Arbeit ausbedingt, auch zu den Arbeitsbedingungen.
Ii
Google
Die TsuifvertrSge swiscben Arbeitgebern and Arbeitnehmern.
29
einzelnen .Xrhcil^vcrträ^c, auch nicht niiitelhat, re;^ehi, sondern fiur
auf andere Weise die Beziehungen der Kontralienten des Tarifver-
trags zu einander beeintlussen, sei es, dals sie einem oder dem
anderen eine Leistung an den Gegner auferlegen (S. 28, b\ sei es
dafs sie sich mit dem Tarifvertrag selbst befassen (S. 21, i).
IV. A b s c h l i c f s u n g.
L Aus dem Vorausgehenden ergiebt sich, dafs die uns l)eschäftigen-
den Tarifvertrage der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer X'erträge sind,
welche fiir unter den Kontrahenten k ü n ftig abzuschliefsende Arbeits-
vertrage die Lohn- und Arbeitsbedingungen i. e. S. (S. 28, c) fest-
setzen und autserdem noch anderen Inhalt haben können.
Ein solcher Vertrag setzt eine Mehrheit auf selten der
Arbeitnehmerpartei voraus, d. h. derjenigen Partei, welche in den
künftig abzuschließenden Arbeitsverträgen die Stellung des Arbeit-
nehmers hat Ein von einer Mehrheit von Arbeitern mit einem
Unternehmer abgeschlossener, die Lohn- und Arbeitsbedingungen
festsetzender Vertrag ist kein Tarii\'ertrag, wenn er diese Be-
dingungen ftir ihren g e g e n w ä r t i g e n Vertrag festsetzt Der*\''er-
trag z. B. eines Bauunternehmers mit fiin&ig italienischen Maurern,
eines Gutsbesitzers mit hundert litauischen Schnittern, eines Rüben-
zucker&brikanten mit fünfisig polnischen Arbeitern ist kein Tarif-
vertrag, indem er nicht die Bedingungen für kü nfti g abzuschliefsende
Arbeitsverträge enthalt, vielmehr haben wir hier gegenwärtige
Arbeitsverträge vor uns und zwar so viele, als Arbeitnehmer
vorhanden sind Der Mehrheit von Arbeitnehmern entspricht die
Mehrheit von Arbeitsverträgen. Nur der Kürze halber sind diese
mehreren Arbeitsverträge in einen Akt oder in eine Urkunde zu«
sammengezogen; in extenso hätte auch mit jedem einzelnen
Arbeiter ein besonderer Vertrag geschlossen werden können.
Dagegen der Tarifvertrag ist nur ein Vertrag, trotzdem er
von einer Mehrheit von Arbeitern geschlossen wird. Und diese
Einheit ist nicht eine äulserliche d. h. nicht Folge einer Zusammen-
ziehung mehrere Vertrage, sondern sie beruht auf dem wesentlichen
Inhalt und damit auf dem inneren Wesen des Tarifvertrags. Er
setzt nämlich die Bedingungen fiir die Arbeitsverträge einer Mehr-
heit von Arbeitern: ein solcher Vertrag kann nicht mit einem
1) Vgl. s. B. L«ndarbeit«r in Devtichlmd II, 577, 583, 5S5.
Digitized by Google
30
Philipp 1. otniiir.
einzelnen Arbeiter /UNtantle j^eljrachi werden, sondern nur nul
einer Melirheit solcher.
Für den Tarifverirai; ist die Mehrheit nur auf seilen der
Arbeitnehmer, nicht auch auf seilen der Arbellj^eber erforderlich :
denn er selzt nicht notwendij^ die Bedinfjun^'en für die Arbeits-
vcrträf^c einer Mehrheit von Arbeit e b e rn. Ein Tarifvertrag^
kann — und dies findet sich nicht selten verwirklicht ') — auch
nur von einem Fabrikanten, einem Bauunternehmer, einem
Ber^verksbesitzer abgeschlossen werden. Atier ein mit einer
Mehrheit von Arbeitgebern abgeschlossener Tarifvertrag hat
natürlich eine grofsere Wirksamkeit, als der nur mit einem abge-
schlossene. Wie die Mehrheit der Arbeitnehmer, die dem Tarif-
vertrag wesentlich ist, die Einheit des Tarifvertrags nicht hindert,
so erhalten wir auch nicht dadurch eine Mehrheit von Tarifverträgen,
dafs eine Mehrheit von Arbeitsgebern kontrahiert.
Wird die Proposition zu einem Tarifvertrag' von der Arbeit-
nehmenseite -e macht, so mufs auf dieser Seite eine Mehrheit ge-
geben sein, die der gemeinsame Urheber der Proposition ist —
weil ein Tarifvertrag nur durch eine Mehrheit von Arbeitnehmern
zustande gebracht werden kann. Wird die Proposition \'on der
Arbeitgeberseite gemacht, so kann sie ebensowohl nur von einem
Arbeitgeber aus^^ehen, als von mehreren, da auch ein einziger
Arbeitgeber einen Tarifvertrag abschliefsen kann.
Wird die Proposition zu einem Tarifvertrag der Arbeit n e h m e r-
seite gemacht, so mufs sie an eine Mehrheit adressiert, för eine
Mehrheit bestimmt sein und erfahrungsmässig findet sie auch eine
solche Mehrheit von Arbeitnehmern vor. Es ist aber denkbar, dafe
sie eine solche nicht vorfindet, und dafs die erforderliche Mehrheit
ach erst nach und nach bildet, indem in Zwischenräumen ein
Arbeiter nach dem anderen die Proposition annimmt. Erst wenn
sich solchergestalt eine Mehrheit gebildet hätte, wäre der Tarif-
vertrag zustande gebracht, da ihm die Mehrheit auf der Arbeit-
nehmerseite unentbehrlich ist.
Wird hingegen die Proposition zu einem Tarifvertrag der
Arbeitgeber Seite gemacht, so braucht sie nicht an eine Mehrheit
adressiert, nicht för eine Mehrheit bestimmt zu sein, indem der
Tarifvertrag auch nur mit einem .Arbeitgeber geschlossen werden
kann. .Aber auch wo die Arbeitnehmer mit einer Mehrheit von
Arbeitgebern einen Tarifvertrag schliel'sen wollen und sich, statt an
^) Z B. Soziale Praxis V. 34; VI. 105. Gewerbcgericht II, ^4,
Digitized by Google
Die Tarifvertrige switefacn Arbeitgebem und Arbeitnehmcni.
31
alle auf einmal, an einen nach dem anderen wenden,') kommt
schon durch die von einem erklärte Annahme der Tarifvertrag zu-
stande. Die Annahme der Anderen ist nicht für das Dasein»
sondern nur für den Umfang der Wirksamkeit des Tarifvertrags
bedeutungsvoll. Sie treten einem bereits geschlossenen Tarif-
vertrag bei. Kin solcher Beitritt kann, wie wir später sehen werden,
auch auf der Arbeitnehmerseite vorkotinncn, wodurch die ur-
sprüngliche Mehrheit vergröfsert wird. Der nachträgliche Hei-
tritt auf der einen oder der anderen Seite ändert für das Recht
nichts an der Identität des Tarifvertrags.
Dals der Tarifvertra^r in Einem die Bedingungen für die Arbeits-
verträge einer Melirheit von Arbeitnehmern, nicht von Arbeitgebern
setzt — weswegen zwar jene, niciit aber diese Mehrheit erforder-
lich ist — und dals es beim Abscliiuls eines Tarifvertrags an der
erfonlcrlichen Mehrlieit der .Arbeitnehmer nicht zu fclileii pflc^ft.
erklärt sich aus der geltenden Arbeilsvcrfassung, nach welcher in
den meisten Betneben — ab/üglicli der Alleinbetriebe, wie >-elbst-
verständlich — einem Arbeitgeber mehrere Arbeitnehmer gegen-
überstehen, also dals die .Melirheit der Arbeitsverträge — deren
Abschluls durch den Tarifvertrag vereinfacht wird — von der Mehr-
heit der .Xrljeitnelimcr, und nicht der Arbeiti^fcber lierrührt.
Für die nach ( reltungsumfaiig untersten Stufen de-; Tarifver-
trags, nämlich für die Tarifx erträi^e, die einen Werkstatt- oder einen
Fabriktarif ins Leben rufen, reicht die .Mehrheit von .Arbeitnehmern
hin, die in der einen W'erkstatt oder in der einen I'alirik natur-
gemäls vorhanden ist. Soll es dagegen zu einem I.okaltarif, zu
einem Verbandstarif, oder zu einem Branchentarif kommen, so be-
darf es einer Mehrheit auch auf der Arl)citgeberseite, und diese
Mehrheit ist nicht mit einer Werkstatt, oder einer I'abrik ge-
geben, sondern ist etwas Zusammengesetztes, wie es bei
diesen umlassendcren Tarifverträgen die Mehrlieit auch auf der
Arbeitnehmerseite ist.
Mit der Kinheit des Inhalt^, <lie den Tarifvertrag indi\ idualisieit,
hängt zusammen. d.tiN die Mehrheit, die InMin Tarifserlrag auf enu r
oder auf beiden Seiten steht, eine Melirheit von Berufsgenossen
So sandten im Jnoi 1898 die Bicicergesellen in Leipzig eine Tnrifpropoaition
jedem Badcenneister eiocelQ zn, nsf dmfs dieser durch Erteiloog seiner Unterschrift
die Annahme erkl&re. f,. Vorwärts" vom 39. Juni 1898). S. ferner Bfickerstrike und
Brothoykott in Hamburg, Altona und Wamisbcck i. J. i8»iH herau^j^f^jchen von den
Vorstanden der BäckeriDoungen von Ii. A. und VV. (Hamb. 1899) .S. 30.
Digitized by Google
32
Philipp Lotmar.
ist. Nur Arhritiiohmrr, welche beruflich -^Iricharti^e Arbeitsverträge
ciniLjchiMi. k»»niuMi Kontrahenten eines dax- Ai 1 mm(-^\ erirä;^^' rc^^eln-
dvn larifv crtra^s sein: Maurer untl MuUcr köniini iiiclit an i n e rn
Tarih ertra^^ teilnehmen, wenn sie -^Heich durch ;;emoinsaine wirt-
schaliHchc Interessen \erkinipft etwa in einem ( iewerksrhaftskai teil
stehen können, utid eine < ii uji[je die andere für den Ab^chluls eines
Tarif\ ertrai^s uiiti i -tutzen ma^j. Hbenso können nur Arlieiti^eber,
die beruflich ^leieliartii^e Arbeitsvertra.;e eini^'ehen. Koalrahenien
eines und desselben 1 arif\ erlra<^s sein Ai beitL;eber nu">L,a ti sich al>
solciie, \vc;^en dieser \virts< haftliehen I'osition zu einem Arbeit;4el)et -
verband zusauunenihun und einander bei Wahrnehmuni; ihrer
Arbeit^eberinten'>>ei: unter die Arme »^reiten, abei es könnet; dorh
nur gc\verl)Uclie H e r u f s e n o s s e n unter ihnen an einem (he
Ari)cits\ erträt^fe ihres Berufs regelnden 1 arif\ertrai; als Taciscenten
teilnehmen. ' )
II. Der bisher betrachtete Iliatbestand des TarifvertraL^M bir^^t
eine Quelle von .Schwierigkeiten , die nicht bei allen Vertrag-
schliefsunj^en zu finden ist. r)eiin es handelt sich beim Tarifvertrag
nicht blofs um die Eini^^ung zweier Paciscenten, deren Vertrags-
interessen nicht zusammenfallen, sondern es nuifs auch, weil auf der
Arbeitnehmerseite immer und oft auch auf der Arbeitgeberseite
eine Mehrheit steht, eine interne Einigung jedenfalls für die eine
Partei gewonnen werden. Nur wenn sich auf der Arl^eitnehmer-
Seite eine Mehrheit auf eine Proposition geeinigt hat, kann eine
solche von ihr ausgehen oder angenommen werden. Die Bildung
eines einheitlichen Paciscenten aus einer Vielheit von Berufsgenossen
ist natürlich um so schwerer je gröfser ihre Zahl überhaupt und je
kleiner die Zahl derjenigen ist, die schon vor dem Projekt einer
Tarifx'ertragschlieüsung gemeinsam der Pflege ihrer Berufsinteressen
obgelegen haben. Jene Bildung des einheitlichen Paciscenten voll-
zieht sich zuweilen mit elementarer Gewalt und in kürzester Frist,
wenn das Gefühl der Unerträglichkeit der bisherigen Lohn- und
Arbeitsbedingungen angesichts einer neuen Zumutung in der Menge
^) Verwandte Gewerbe können immerhin eine uud die andere B<'>timmuii^
gemeinsam festsetzen. So haben im M;ir/ :S<)?n in («-na die veieinigtcn lx)hn-
kümmissionen der Zimmerer, NTaurer. Hau-. I ni- I iilfsar beitcr mit den
tretern der entsprechenden ArbeiigcbL-r die Arln-it-ZL-it genioinschaftüch ^iT'-iit-lt
(Vorwärts vom 30. Marz 1S9S,. Siehe ferner die Verhandlungen einer Maurer- uud
Zimmererkonmissiob mit eiaer auf den entsprechenden Arbeitgeben bestdMuk»
zu Leipzig im Märt 1897 (Soziale Praxis VI, 6ty,.
Digitized by Google
Die Tahtvcrträge «wischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern.
erwacht, meistens aber bcdail c:> einer laiiy^wierigcn Beratun«:^ kleiner
Gruppen, z. B. in cin/cliicii Werkstätten, die dann durch \'ci trauens-
männer in Verbindung treten, bis die I'orderungen, in einer oder in
wiederholter öffentlicher Versammlung erwogen, die Gotalt einer
Vertragsproposition erhalten können, die als von einer X'ertrags-
partei ausgehend gelten darf. *) Der Erlangung dieses vorläufi^a^n
aber vorbedingenden Ergebnisses ist es hinderlich, dafs gerade die-
jenigea Arbeiter, die wegen der Ungunst ihrer Lage auf deren \'er-
besserung mittelst Tarifvertrags bedacht sein sollten, durch jene
Ungunst einer Indolenz zu verfallen pflegen, die sie von Lohnbe-
wegungen fem halt -)
Einer internen Einigung auf der Arbeitgeberseite bedarf es
nur, wenn mit mehreren Arbeitgebern und mit diesen gleichzeitig
ein Tari^ertrag geschlossen werden soll Diese Einigung ist darum
leichter erreichbar, weil es sich um eine bedeutend geringere Zahl
von Teilnehmern handelt, und weil deren Kommunikation mit ge-
ringerer Mühe zu bewirken ist. Andererseit haben se als Unter»
nehmer oft divergierende Interessen und kann ihre Solidarität durch
grolsere Unterschiede in der ökonomischen Lage bedroht sein.*)
Ist die materielle Schwierigkeit uberwunden, die Mehrheit von
Arbeitnehmern oder auch von Arbeitgebern je zu einem Pacis*
centen zu einigen, so ist mitunter noch die formale Schwierigkeit
zu beseitigen, die für die Verhandlung unter den Paciscenten da
vorhanden ist, wo der eine oder beide aus einer Mehrzahl von In>
dtviduen besteht und vielleicht auch aus solchen, die sich zur
Negotiation nicht eignen.
Dazu tritt weiterhin die Gefehr, dafs die im Innern erlangte
Eintracht beim Kontakt mit der Gegenpartei wieder verloren geht,
^Is hierbei auf Widerstand gestolsen wird. Denn ftir den Ab*
schluis eines Tarifvertrags ist es nicht genügend, dals die Arbeit*
nehmerpartei ihre Vertragsproposition einheitlich mache, sie mufs
auch diese Eintracht in gewissem Ma(s behalten oder erneuem,
wenn die Gegenpartei die Ptoposition nur teilweise annimmt Eine
solche Annahme bedeutet die Stellung einer neuen Proposition
*) Vgl* Tö Ulli es in Brannt Archiv f. sos. Getet^ebang X, 6S5 C
^ Die gleiche Wiifaing kann auch entgegengesetcter Umcb«^ nimlich bevor»
xogter Stdlung, dem ROdchtlt «n einem kleinen Gmndbetitz eotspringen: Jähret-
betidit der bediscliett PabrikinspekHon für 1896 S. 86.
*) Vgl. Zehn in den Schrifleo des Vereint ftr Sosinlpol. 45, 398.
kt&m für SM. Gcicafebiuif u. Sututik. XV. 3
Digitized by Google
34
Philipp Lotmar,
durch die Gci^ci4>aiteL Ob diese nun vfm der Arbeitnehmerseite
acceptiert, oder mit der Wiederholung der ursprünj^lichen Propo-
sTtifm, oder mit der Stellung einer neuen beantwortet wird —
immer bedarf es för den Tarifvertrag einer einigen Mehrheit auf
d^r Arbeitnehmerseite, und deren anfängliche Bildung, Aufrecht-
erhaltung, oder Neubildung ist, weil selber schwierig, etwas das den
Abschlufs eines Tarifvertrags erschwert
IIL Zu den bisher besprochenen Schivierigkeiten, die auf der
Vielheit der beteiligten Personen beruhen, tritt eine weitere, die in
der Verschiedenheit der Gesellschaftsklassen wurzelt,
der die Parteien angehören. Die Partei der Arbeitnehmer beim
Tarifvertrag besteht aus Angehörigen der Arbeiterklasse, während
die Arbeitgeberpartei aus Gliedern der Untemehmerklasse, eines
Teils der besitzenden Klasse, besteht
Das erstere läfst sich ohne Einschränkung sagen, indem die bei
einem Tarifvertrag als Arbeitnehmerpartei Auftretenden alle nicht
im Besitz der hauptsächlichen *) Produktionsmittel und auf den Erwerb
unter Verwendung fremder Produktionsmittel angewiesen sind. Sehr
wohl könnten allerdings auch Unternehmer im ökonomischen Sinne,
die ihrerseits Arbeitnehmer ^nd, wie die Spediteure gegenüber
Kaufleuten, die Stauer gegenüber Rhedern,'') Tarifverträge ab-
schliefsen. Allein solche Tarifverträge treten nicht leicht an die
Oeffentltchkeit und erwecken ein geringeres allgemeines Interesse,
weil die Teilnehmerzahl nicht grofs, die Intervention eines Eini-
gungsamtes ausgeschlossen ist, und die Konvention leichter zu-
stande kommt, als der Tarifvertrag mit Klassengegensatz.
Dafs hing^en die Arbeigeberpartei aus Angehörigen der Unter-
nehmerklasse, eines Teils der besitzenden Klasse, bestehe, muls mit
einem Vorbehalt gesagt werden. Zwar auf die Unterschiede der
Betriebsgröfse und der wirtschaftlichen Stärke kommt es hier nicht
an, indem z. B. der Kleinbrauer neben dem Grofsbrauer, der
Schreinermeister neben dem Möbelfabrikanten, der persönliche
Unternehmer neben der Aktiengesellschaft oder neben dem Fiskus ')
stehen kann ~ diese Unterschiede stören nicht die Einheit der
') Im Gegensau zum Bc$tu gewisser Werkxeiige and Zuthatea.
*) ^Sl- Töaoies in Brauns Archiv fär scaiale Gesetzgebung X, tSS'
ia Sociale Praxis VI, 25a
*) Siehe den Magistrat von Berlin vor dem dortigen Gevrerbegericht als
Einigongsamt: Gewerbegericht II, 16. Soziale Praxis VI, 105, 106.
Digitized by Google
Die Tarifvertlüge twischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern.
35
ökonomischen Stellung gegenüber der Arbeitnehmerpartei.') AUein
der Arbdtgeberpartei beim Tarifvertrag können auch Arbeitgeber
angehören, die nicht im Besitz der hauptsächlichen Produktions"
mittel sind, sondern mit fremden arbeiten lassen, nämlich mit den
Produktionsmitteln ihrer Arbeitgeber. In der Kleider- und Wäsche-
konfektion, Schuhwarenproduktion, Bauschreinerei, Ziegelei und iri
einigen anderen Gewerben kommen derartige Arbeitgeber vor unter
den Namen von Meistern, Zwischenmeistern, Ziegelmeistem u.s.w.
An der Abschlielsung des Tarifvertrags fiir die Berliner Herren-
Ideiderkonfektion im Jahre 1896 haben sogen. Zwischenmeister als
Arbeitgeber und als Arbeitnehmer teilgenommen.*) Es braucht kaum
gesagt zu werden, dafs es hier Uebergänge giebt, und daGs ein
Zwischenmeister, der vermöge Kapitalbesitzes in der Lage ist,
eine Werkstatt zu halten, in der er arbeiten lafst, oder seine Arbeit-
nehmer aus eigenen Mitteln zu entlohnen, als Arbeitgeber zur Unter-
nehmer- und damit zur besitzenden Klasse zu zahlen ist.
Der ökonomische Unterschied der Gresellschaftsklassen, der mit
dem privatrechtlichen Parteigegensatz von Arbeitnehmern und Arbeit-
gebern bei Eingehung eines Tarifvertrags zusammenzufallen pflegt,'
erzeugt erfohrungsgemafs viererlei Hindemisse dieser Eingehung.
1. Zuvorderst erschwert er die Verständigung, indem einerseits
bei den Unternehmern die Einsicht in die Bedürfiusse der Arbeiter
minder Idar und ihre Würdigung der von den Arbeitern gestellten
Postulate keine unbefangene ist,^) und andererseits den Arbeitern ein
geringerer Ueberblick über die Absatzverhältnisse und die Betriebs-
bedingungen, sowie weniger Verständnis für die Profitansprüche der
Unternehmer gegeben sein mag.*)
2, Zweitens giebt es nicht wenige Arbeitgeber, die ihrer Unter-
Es sei denn der Betrieb zwerghaft, und derUntemehmerfeirimiTendiwindtiid.
VgL Francke, Schuhmacherei in Bayern ( 1 5493) S. 1 76.
'i Weigert in Soziale Praxis V. 626 630 und Gewerbcigericht I, 85. Sieh«
MCh daselbst I, 44 Zwischenmeister der Korbtnachrrei .
^) AnderenfuUs wäre es kaum erklärbar, dafs für den deutschen Kulturmenschen
so selbstverständliche Forderungen, wie z. l'-. die %*on zweckeatsprechenden baubudeo
nnd Abtritten, immer wieder ia TarifvertrmgspropositiMen der Maurer »u^noiDBicn
werden mÜMea.
*) Vgl. Zahn in den Schriften des Vereins fdr SotialpolitOc 45t 43*' Weigert
ia Soaiale Pnucis VHI, 1072 giebt aalifslich des vofjMhrigca AbseUflsscs eines Turif
ve^tfagK lltr das Berliner Maareigewerbe den beteiligten Arbeitern das Zaognii^ ndafs
sie ein Ventindnis anch fOr die Lage der Arbei^ber besitsen<*.
3
Digitized by Google
36
Philipp Lotnar.
nehmerstellung etwas zu vergeben überzeugt sind, wenn sie mit Ar*
heitern über einen Tarifvertrag verhandeln oder einen Tarif\'ertrag
abschliefsen.') Da nun aber diese nämlichen Unternehmer gleich
allen anderen jahraus jahrein mit Arbeitern Arbeitsvertr^e ab>
schlieGsen, sich hierdurch mit den Arbeitern auf den gleichen Boden
des Privatrechts begeben, wo sie als koordinierte Rechtssubjekte
gelten und vor denselben Gerichten ihr Recht aus jenen Arbeits-
verträgen zu suchen haben, vor denen sie den Arbeitern zu Recht
stehen müssen*) — ohne da(s durch all dies die Würde der Unter-
nehmerstellung beeinträchtigt wird, so mufs die Abneigung xneler
Unternehmer gegen Tarifverträge in etwas anderem wurzeln, als der
allgemeinen Scheu sich privatrechtlich zu binden und kontraktlich
den Arbeitern zu koordinieren. Und es läGit sich wirklich auf zwei
Momente hinweisen, die jenem Widern'illen Nahrung zufuhren, näm-
lich ein Nachklang einer entschwundenen Arbeitsverfassung, und ein
modemer Trugschlufs.
Dieser Nachklang ist das Recht auf Arbeit Als Recht auf
eigene Arbeit (des Berechtigten) hat bekanntlich dieses Recht stets
nur ein bescheidenes Dasein gefuhrt Sein Eintritt ins Leben war
immerdar nur sporadisch und transitorisch, während seine theore-
tische Befürwortung auf eine lange, nie unterbrochene und nicht un-
rühmliche Geschichte venveisen kann. Dahingegen das Recht auf
Arbeit als Recht auf fremde Arbeit — wovon hier die Rede ist —
*) Vgl. Brcntauo. Arbeitsvcrluiltnis S. 2S0 uud ArbeitergiKicn II, 25.
Francke, Schuhmacherei in Bayern 202. Gevvcrbcgericht II, 9 wahrend er [der
AfbeitgeberJ sich jetzt oft etwas zu Teigeben glaubt, wenn er seine Zusdnunong
aar Einleitung von Vergleicbtverliandlungen gicbt")* Tiedemann, Neuere Ent-
wicklang der Arbeitsverhiltnisfle ia Bnchdnickgewerbe S. 57, 67 (nStandesTororteile").
Jahresbericht der bayer. Fabrikinspektion für 1898 S. XX (pUach den bisherigen
Brfidifttngen ist dieser Friede [zwischen Arbeitgebern und Arbeitern] um so ge-
sicherter, je weniger cf? die Arbeit)j:<^brr gruih'.sützliL-li ablehnen mit den Vertretungen
di r Arbeiterschaft in einen geordueteii \ erkehr zu treten"!. Dieser .AblelTriung he-
gei^iH t man vornchmb'ch dann, wenn die .\rbciter, mit denen zu verhandeln ist,
sich im Ausstand bctinden. aU<> unter Umständen, die eine \ frhaü'Hun;^ be«i»nd<TS
wünschenswert maclicn. Der ruchiibrikantcnvercn lur Aachen und Burtscheid hat
im Fefannr 1895 beschlo^en: „Die Vereinsmit^lieder verpflichten sich, mit aus-
ständigen Arbeitern nicht au unterhandeln*' ^Legien, Das Koalitionsrecht S. laj).
Loewenfeld ia diesem Archiv XIV% 50:.
*) Siehe jedoch auch M. v. Schulz in Soziale Pmxis IX, 215: „Diese Arbeit«
geber dflnken sidi au Tornehm, vor einem Gericht, welches auch mit Arbeitern be>
•etit ut, Recht zu nehmen . .
Digitized by Google
Die Tarilverträgc zwischen Arbfitgebern und Arbritnehmem.
37
hat in der patriarchalischen Arbeitsverfassung jahrhundertelang eine
gewaltige praktische Geltung besessen. Das Recht auf (frenode)
Arbeit kann sich im heutigen positiven Recht nur auf einen
Kontrakt mit dem Arbeitnehmer gründen, d. i. auf ein vorüber«
gehendes Faktum, nicht auf eine bleibende Eigenschaft der beteiligten
Personen, den Stand. Und doch gilt daneben als unpositives, d. h.
nicht von der Staatsgewalt anerkanntes') und daher vor ihren Ge-
'lichten nicht verfolgbares Recht, dals der im Besitz der Produktions*
mittel befindliche Unternehmer als solcher einen Anspruch auf
die Arbeit des besitzlosen Arbeiters habe.*)
Diese unpositive Rechtsordnung tritt hervor in der Auflassung,
die die Unternehmer und ihre Gesinnungsgenossen von einem Aus-
stand bekunden, der wie ein Rechtsbruch geächtet und behandelt
wird'), auch wenn er nicht mit Kontraktbruch einhergeht; solcher
Vertragf^ruch ist för das Strikeunrecht, das nadi unpositivem
Recht bangen wird, völlig gleichgültig.^) Da der Arbeiter nach
positivem Recht nur kraft Arbeitsvertrags arbeitspflichtig ist, so kann
seine Arbeitsniederlegung, die nach Ablauf der Vertragszeit statt-
findet, nur von dem als Unbotmälsigkeit und als Unrecht betrachtet
werden, der ein vom Vertrag unabhängiges Recht auf die Arbeit
des Arbeiters voraussetzt.^ Ohne diese Voraussetzung kann auch die
von mehreren zugleich und im Einverständnis geschehene Arbeits-
niederlegung nicht als Zivilunrecht angesprochen werden. Aus dieser
Voraussetzung erklären sich das Bestreben, den Strike durch recht-
liche Eingriffe zu erschweren, die Verschärfung der Strafen für Ver-
') Knapp, Rechtsphilosophie § 140.
^) Vgl. dieses Archiv VIII, 70 Amn. a. E. and Engels, Lage te* «rbthnid«!»
Klane in England («. Aufl.) S. 8a: „Da er (der Arbeiter) ja nicht der Sklave eines
Eimelaea, sondern der gaasen besitsenden KlaM« ist"
*) Vgl. Loewenfeld in dleaem Atciiiv XPf, 494 Ann. I, 537 Anro. 1,
569 Ann. 2, 573 nnten.
*) So bestimmt § 40 der Statuten des Vereins deutscher Tapeten fabrikantea:
„Erfolgt bei einen Mitglied des Vereins ein Strike der Arbeiter, wozu eine komplett-
mäfsige, wenn auch sonst o rd n un gsm a fs i p<? Kündigung rur Erzwingung höherer
Lohnt oder Abstellung niifsliebigcr Einrichtun'^'en mitgerechnet wird, sn d.irf kein
dem Verein angchorigcr Kollege . . . einem Strikcnden innerlialb der ersten 3 Monate
Beschäftigung geben". Weigert, Arbeitsnachweise S. 12.
') Die Arbeitgeber der Berliner Steinsetzer haben Ihre Weigerung, mit den
aontändigen Arbeitern Tor Wicderaalaahme der Arbeit i« Terlnndeln, danit be-
grttndet, „dafs eine Nwderlcgnng der Arbeit, wenn aach rechtUcb ndinig, so doch
■ich ab eine Gehorsamsverweigerung dantelle*. Sociale Praxis VID, 1034.
Digitized by Google
38
Philipp Lotmar,
gehen, die anläfslich des Strikes begangen werden, sowie die fak-
tischen und rechtlichen X'orzüge, die man den so^^enaniiteh Arbeits*
willigen zu teil werden lälst, weil oder damit sie ihre dem Recht
auf Arbeit entsprechende Pflicht erfüllen. Und aus jener X'oraus-
Setzung erklärt sich endlich, daiis der Untenuhmcr, der ein Recht
auf Arbeit zu haben überzeugt ist, sich als Austluls desselben die
Befugnis beimitst, ihren Entgelt, ihre Dauer und ihtc übrigen Be*
dingungen vonsich aus zu besti m m c ti , d. h. selber die Grenzen
eu bezeichnen, innerhalb deren er sein Reclit ausüben will.
Wer aber seiner Meinung nach befugt ist, die Arbeits-
bedingungen zu diktieren, der wird nicht geneigt sein, sie zu ver-
einbaren und sich damit in vermeintliches Reclit schmälern zu
lassen. Nufi werden im Arbeitsvertrag, den der Unternehmer mit
dem einzelnen Arbeiter srhliefst — \ on aufeerordentlichen Umständen
abgesehen, die den Arbeitgeber auf gewisse Arbeiter anweisen —
die Vertragsbedingungen in der Hau|>tsachc faktisch nicht vereinbart;
sondern es muis thatsächlich der Arbeiter diejenigen acceptieren,
die ihm der Arbeitgeber gewährt *J Selbstverständlich sind diese
vom Arbeitgeber gebotenen und vom Arbeiter nur hinzunehmenden
Bedingungen nicht beliebige, oder blols tlurch das gute Herz des
Arbeitgebers bestimmte, sondern durch ökonomische Kräfte limi-
tierte und veränderliche. Der Arbeitgeber liingegen , der einen
Tarifvertrag eingeht, begiebt sich, soweit dessen Bestimmungen
reichen, der Position, in welcher er die Bedingungen für den einzelnen
Arbeitsvertrag diktieren kann, und setzt in wirklicher V e r e i n -
barung die Bedingungen aller künftigen Arbeitsverträge fest. Arbeit-
geber, die sicli /um X'crzicht auf jene Machtstellung und zu dieser
\'ereinbarung nicht herbeilassen wollen, vielmehr „sich die Dispo-
sition über die Arbeitsverhältnisse vorbehalten"-), machen damit ihr
'l Üas ist in der wissenschaftlichen Littcratur so oti ausgesprochen worden,
dafs es hier keines Beleges bedarf. Id einem Urteil des Berliner Gewerbegerichts
(Vnger, EntBcheidungen S 169,70) wird es BDerlouiiit mit den Worten: „Ci ift
aber dem Umstand Rechnuag fetngen, dafs der Arbeiter Im allgemeinen nidit ia
der Lage Ist, dem Arbeitgeber die Bediagaogent zu denen er arbeiten will, vorxu«
schreiben, er bat insbesondere ia dem einheitliche Ordnung und Leitung erfordernden
Grofsbetrieb nur die Wahl, ob er zu den vom Arbeitgeber festgesetcten Be*
dingungen, «»der überhaupt nicht in Arbeit treten will."
-) Lauderer, Der Standpunkt der Unternehmer im Hamborger Hafeustrike:
Soziale Praxis VI, 277. Die B«ckenn]lttngen von Hamburg, Altona und \Van'j<.betk
bezeichnen die Bestimmung eines ihnen proponiertcn Tarifvertrags, welche Kost und
Digitized by Google
Die TarifrertrSge svischen Arbeitgebern imd Arbeitnebmem.
39
SelbstbestiinniuniiTsrccht 'geltend und brinjjen, ohne dafs sie sich des-
selben bcwufst zu seit! brauchen, ihr „Recht auf Arbeit" r.um Ausdruck,
So bcg^reiflich dieser Standpunkt, da er nur einen Anachronis-
mus darstellt, so unerklärlich ist der vorhin erwähnte moderne Trucf
schlufs. Es giebt Unternehmer, die sich darum nicht auf die Ver-
handhuig eines Tarifvertrags einlassen, weil sie, wie sie erklären,
„Herren im eigenen Hause" bleiben wollen. Eigentlich würde dieses
Argument nur auf solche ünternehmer j)a.sseri, die in eigenen
Räumen — Häusern, Werkstätten, Bergwerken, Hofen, Schiffen —
arbeiten lassen. Für Unternehmer, die auf fremdem Grund fremde
Häuser bauen lassen, oder welche Heimarbeiter beschäftigen, würde
es unverwendbar sein. Es ist aber überhaupt diese sachen-
rechtliche Vorstellungs- und Ausdrucksweise verfehlt und kann
auch nicht beans|)ruchen als Folge dos i(Mnischen Eigentumsbegrifis
betrachtet zu werden.') Alle Welt weils, dals kein Herr im eigenen
Hause eine Strafthat oder sonst ein Unrecht begehen darf, und dals
er dies unbeschadet seines Herrentums nicht darf. [)cv „Herr im
eigenen Hause" ist darin von der Beobachtung der Arbeitersrhutz-
gesetze nicht entbunden: er darf, obwohl ihm die I""abrik gehurt,
dennoch darin keine Kinder unter dreizehn Jahren, und erwachsene
Arbeiterinnen nicht länger als elf Stunden täglich beschäftigen.
Dann ist .aber entfernt nicht einzusehen, was es mit der Herrschaft
über das Haus zu thun hat, und wie dieselbe davon beeinträchtigt
werden soll, wenn sich durch Vertrag der Hausherr verptiichtet,
erwachsene männliche Arbeiter nicht länger als elf Stunden täijlich
7A1 beschäftigen, oder die Arbeit mit 30 .statt mit 25 Vi pro Stunde
zu belohnen. Zu alle dem enthüllt das .Argument von der Herr-
schaft im Hause seitie wahre Natur noch damit, dafs es nicht folge-
richtig gebraucht wird. Denn bei konsequenter Anwendung nach
jeder Seite könnten sich die Unternehmer nicht durch \'ci träge mit
Ihresgleichen vorschreiben lassen, an welche I ländler und zu welchen
Freisen sie ihre Waren absetzen, oder welche Arbeiter sie einstellen
oder aussperren sollen. Und ferner, wer den Arbeitern gegenüber
Logb beim Meiiter abiebaffen soll, als „eiafrehea Gewaltakt", ak „gevaltnftfsige
IHudlfiihrung" : Rackerstrike «od ßrotboykott S. 14, 23.
^) ..Das Sclbstbestimmungsrecht dtf- Fabrikeigentümers, also der Eig^entums-
begriff überhaupt, wurde durch solche Mafsnahmen. wie oblij^Mtori'^che .Schieds-
gerichte oder Einigungsamlcr, Arbcilsnachu i-i^f u. d^\. crhol)!ich l>f ciiitrachti}»t
werden": s.agt in einer Eingabe art das keich.^amt dc> Innern der Verein deutscher
Werkxeuginaschinenfikriken. Suziale Praxis VUI, 934.
Digitized by Google
40
Philipp Lotmar,
<las HciTMin im tii^cntn Hause betont und zur Richtschnur seines
X'crlialtens ;4e;^^en (iiesclhen nimmt, der mülstc diese Hcrrhchafts-
greti/e auch seiiier>cil> einhalten und sich dabei nicht aimiafsen zu
bestimmen, wo seine Aulsenarbeiter ihren Arbeitsi -latz nehmen, und
wie seine Arbeitnehmer in ihren Bereiclien ihre hitercssen wahr-
nehmen sollen. Solche und ähnliche Kin^iitte >iiui mit ilem l'rin/ip
von der Herrschaft im eigenen Hause nicht vereinbar.
3. Das dritte der oben erwähnten Hindernisse, die aus dein
Klassenunter>chiede der Kontrahenten entsprin^^end den Abschluß
von Tarifverträgen erschweren, besteht darin, dals oftmals Arbeit-
geber zwar zur Verhandlung bereit sind, sich aber weigern gerade
mit den Personen zu verhandeln, die die Arbeilnehmerpartei mit
der Führung der Verhandlung betraut hat.') Diese Weigerung
bildet insofern ein Hindernis des Abschlusses, als die mit der
Führung der Verhandlung betrauten Personen vorzüglich dazu
geeignet sind oder von den Arbeitern dafiir gehalten werden, die
Weigerung zur Auswahl anderer Vertrauenspersonen nät^ und,
wenn an den gewählten festgehalten wird, den Abschluis vortiuifig
oder völlig vereitelt. Die Weigerung gründet sich niemals darauf,
dafs die Arbeitgeber den von ihnen abgelehnten Personen die erforder*
liehe Geschicklichkeit absprechen : dieser Mangel konnte ja den Arbeit*
gebem nur zum Vorteil gereichen. Die Weigerung giündet sich auch
nicht darauf, dafs die Arbeitgeberpartei jenen Vertrauenspersonen
die Legitimation zur Vertretung der Arbeitnehmerpartei bestreitet,
denn die Bevollmächtigung pflegt offenkundig zu sein. Vielmehr
hat die besagte Weigerung ihren Grund gewöhnlich in dem Ver-
hältnis der gedachten Vertrauenspersonen zu den Arbeitgebern.
Wenn nämlich diese Personen nicht zu den bisherigen Arbeit-
nehmern der Arbeitgeberpartei gehören, so wird von dieser be-
hauptet, sie „drängten" sich zwischen die Arbeitgeber und ihre Ar*
beiter, ihre Intenrention wird fiir eine Einmischung in eine ihnen
fremde, in eine interne Angelegenheit der Arbeitgeberbetriebe er-
klärt und darum zurückgewiesen.^) Damit werden freilich gerade
solche Unterhändler abgelehnt, die, weil sie von den Arbeitgebern
') Bucck in ilen Verhandlurgen des Vereins für -Sozialpolitik 1890 I Schriften
47. 151 vgl. 238). Zahl) a. a. O S. 3S1 al. 3. Brentano. S<>r7nl.- Praxis VIII,
'3*^3- Jahresticricht der badisi hen h abrikin?pf-kti<iii für 1896 S. 73. Das Koalitions»
recht vor Gericht Wien iSoSi S :;S. I'.äckerstrlk' und Brotboykott S. 18.
*) Zur Kritik dieses VerhaiiciiS s. den llncf von Sir E. J. Kccd bei Brentano
Iii Schriften de» Vereins fOr SoiialpoUtik Bd. 45 S. LXXIU.
Digitized by Google
Die Tarifverträge £wt»chen Arbeitgebern und Arbeitnehmern.
41
nichts zu furchten oder zu erwarten haben, den aus dem Klassen*
unterschied hervorgehenden Vor.si>rung der Arbeitgeber einiger-
ipalsen kompensieren könnten. Das GefUh] dieser Möglichkeit wird
wohl zur Ablehnung mitwirken. Welche Bedeutung der Fernhaltung
fremder Vertrauenspersonen durch die Arbeitgeber beigelegt wird,
zeigt sich darin, dafs diese mitunter sich darauf verpflichten.^) Die
hierdurch gezogene Schranke ist darum besonders bemerkenswert,
weil sie geeignet ist den Abschluß eines f&r mehrere Betriebe
gültigen Tarifvertrags zu verhindern.^
Ein anderer Grund der Weigerung, mit den Delegierten der
Arbeitnehmer über einen Tarifvertrag in Verhandlung zu treten,
wird von den Arbeitgebern folgender Thatsache entnommen. Die
Delegierten haben zwar zu den Arbeitnehmern der Arbeitgeber-
partei gehört — so dals der vorige Rekusationsgrund nicht an-
wendbar ist — sind aber unter Umständen aus dem Arbeitsverhältnis
geschieden, die sie als standhafte Gegner der bisherigen Arbeits-
bedingungen erscheinen lassen. Aus solchem Grund wird die Ver-
handlung mit Arbeitern verweigert, die die Arbeitsniederlegung
inspiriert haben, in deren Gefolge es nun zu einer Verhandlung
kommen soll. Dafs der Strike seine Urheber den Arbeitgebern
anrüchig macht, ergiebt sich aus der bei diesen herrschenden Auf-
fassung dieses Vorganges, die, wie wir sahen, mit dem Klassenunter-
schied zusammenhängt Kommt es doch nicht selten vor, dals
Arbeitgeber die Tarifverhandlung überhaupt ablehnen, weil und so-
lange ihre Arbeitnehmer sich im Ausstand und damit auch im
Aufstand befinden.*)
*) Der 1899 in Stuttgart gegründete Verband südwcsldeutscher Mobclfabrikanten
bat tich ein Statut mit folgendem g 22 gegeben: „In allen das Verhlltnis ««ritchen
Arbciigeber and ArbettnehiBcr betrefieodea Angelegenhdteo liabca sich die Mh-
gVMkt des Verbandes nadi dem Grundsats sn richten, dafs jedes dasclne Mitglied
des Verbandes stets nur mit seinen eigenen Arbeltern oder mit einem von
diesen selbst ans ihrer Mitte gewählten Ansschnfs sn vcrhanddn hat, dafs dagegen
Vcrhandlnngen mit irgend welchen nicht zu der eigenen Arbeltersdiafl gehörenden
Mittelspersonen abzulehnen sind . . ." Vgl. Soziale Praxis VTII, I081,
* S(i hat i. Ii. die ( )rf;ani"-ati'in der Schuhwarenfabrikanten von < 'ffenbach die
Virhat^ ilr.Tig mit der Gesaimhcit der Arbeiter abgclehnl, imlcin in der Antwort der
7 I irnien erklärt wurde, „dafs über alle Traisen, die das (ieschäfl betrcltcn . . . nur
von jeder einzelnen Finna für sich mtt deren eigenen Arbeitern ohne Zuziehung einer
nnfserbalb des Geschäfts stehenden Persönlichkeit verhandelt werden kann". Sodaltf
Praxis VI, 613 (18. Mirs 1897). Stehe andererseits die Beispiele auf S. 51 Anmcrkong.
*) Vgl. Zahn a. a. O. S. 384 «1. 2.
Digitized by Google
42
l'bili|>)> Lot mar.
4. Ein letztes, aber nicht das schwächste von den Hindernissen
der TarifvertragschHefäuii^, die dem Klassenunterschied der Kon-
trahenten entspringen, kann sich daraus ergeben, da(s der Unter-
nehmer zwei Personen oder Funktionen in sich vereinigt, die des
Arbeitgebers und die des Warenverldlufers (vgl. u. S. 57). Während
die Arbeiter durch die Rücksicht auf die Konkurrenz zum Abschluts
eines Tarifvertrags bewogen werden, wird der Arbeitgeber durch
die Rücksicht auf die Konkurrenz von solchem Abschlufs mo^Micher»
weise zurückgehalten. Solchenfiills wird er sich auf einen Tarif-
vertrag nur einlassen, wenn er darauf rechnen kann, dafs seine
Konkurrenten in die gleiche Laj^c bracht werden.*) So fuhrt, wie
wir sehen werden, der Tarifvertrag die Arbeitgeber zur Koalition«
V. Vermittlung.
Mit den SchwicrigkcitcJi <lor SchliiM-iii :^ x on Tat if\ crträ^en,
die im xorigen Aljsclinitt bchaiulclt wurden, >iiul aurh >chon die
Mittel ariL^^edeutet , die sich /Air Milderung odrr Hchuni,' jener
Sch\vierii;keitcn eignen un<1 daher seit dem Aufkuminen von Tarif-
verträgen geliraucht worden --ind.
Als solche Hilfsmittel -^lellen sich dar l. die Vermittlung
und 2. die Organisation, insbesondere die Koalition und die
Vertretung.
Unter Vermittlung ist zu verstehen die Thätigkeit eines
Mittelsmannes oder einer Mittelsperson, d. h. einerPerson, die wische n
•j Vgl. Brcutano, Arbcilcrgildcu ü, 24. bei deu trhcbungcn des Berliner
EiniguDgsaiatc« Aber die Herren- and KnfthenkonfdUiOD in Bcrtin (1S96/ erklarte
ein Unternehmer, er wfirde „lofoirt jedem Vergleiche ohne Unterschied der Preis»
erhöhong beitreten, wenn du Einigungtamt dnfSr sorgen wolle» dnfs diesem Ver-
gleiche Mich ohne Aasnnhne die KonfektionSre anderer Städte, wie Breslau, Stettin,
Asebaffenbnrg n.s.w. beitritea** (Gewerbegericht I, 85). Bei einer Lohnbewegmg
der Klempner in BreiUu erklirte sich die Innuag bereit mit der Lohnkomml'.sioa
in Verbindung zu treten, machte aber mr Bedingung, dafs sich die Kommi5>i>>n
aucli mit den auf^erhalb der Innung stehenden N!'n<:tern und mit den I"al)rik.inteii
die Klempnergescllen beschäftigen, in Verhindant; scUl- Vorwärts. 0 Fehruar
1897). Pei einer Lohnbewegung der Iliesenlegcr iu Lk-rlin wurde cniplohlcn,
darauf zu dringen, dals zunächst die grufseren Firmen bewilligeu. weil davon die
Sbrigen ihre SCastimmung abhangig machen (Vorwärts. 6. Juli 1899). Bei Absehlnfs
eines Tarifvertrags der Schneider in Königsberg erklärten steh die Meister für so
lange an den Tarif gebunden, als die Arbeiter in keinem Geschäft unter dem Tarif
arbeiten (Vorwärts, 22. März 18991.
Digitized by Google
Die Tarifvcititge iwiscben Arbeitgebern und Arbeitnehmern.
43
beiden Kontrahenten steht, nicht der einen oder der anderen von den
kontrahierenden Parteien angehört, auch nicht als deren Vertreter
angehört Mc^en daher die Parteien in Person, oder mögen sie durch
Vertreter verhandeln, so kann eine Wrmittlung stattfinden, nämlich die
Intervention eines Dritten, der kein Parteiinteresse hat und vertritt,
weder das der Arbeitgeber noch das der Arbeitnehmer, sondern
nur das Interesse hat, dals der Vertrag unter den Parteien zustande
konnme. Dieses Interesse hat er darum, weil er den Zustand des
Einvernclimens und des Vertragsvcriiältnisses (d. h. des Bestehens
eines Tarifvertrags) unter den Arbeitgebern und Arbeitnehmern fiir
vorzügliclier hält, als den gegenwärtigen des Zwiespaltes und der
Vcrtragsl osi g k c i t .
Der P-rfolg der Vermittierthätigkeit ist daher dadurch bedingt,
dafs dir Parteien von der Unparteilichkeit des Vermittlers überzeugt
sind. Darum eignen sich zur Funktion von Wruiittlern vornehm-
lich solche Personen, denen man schon ihrer Lebensstellung nach
die für jene Funktion erforderliche Unparteilichkeit beimi&t.*) Amt,
Bildung, namentlich gründliche Sachkenntnis und ökonomische Un-
abhängigkeit können ihre Qualifikation erhöhen. So finden wir
denn als Mittelspersonen in Unternehmer- und zugleicii in Arbeiter-
kreisen angesehene Privatpersonen,*) oder einzelne Staats- oder
Qetneiodebeamte, namentlich Gewerbeaitüsichtsbeamte oder Mandels-
kammem, oder endlich die gerade zur Vermittlung bestimmten
Einigungsämter.
Durch (Irn dritten Absciniitt des Gewerbegerichtsgesetzes vom
29. Juli 1890 ist den deutschen Gewerbegerichten die Thätigkeit
von £inigungsämtem zugewiesen worden.') Nach § 61 dieses
') Der TuchfabrikaDtenvereia von Aacheo und Burtscheid fobcn S. 36 Anm.) hat
iSo' beschlossen, (iafs im Fall eines .Ausstandcs bei einem Mitj^licd die Veteius-
vcrsammlung eine Kommission von 15 \ crtraucnsmnnnern wählen soll, welcher der
vom Ausütaud belrofTene l abrikanl eine Trufungs- udcr L iitersuchung-skommissioii
TOD „drei Herren" zu eauiehmen hat. Allein von den Fabrikanten gewählte Ver-
tnmoHnfiuwr kö&nai den Atbaitem aidit ■]• unputeiich erscheinen. Daher kann
der Fall, dab die Arbeiter ,4olme triftigen Grand einen Sehiedasprncb der Unter-
■UfhimgikommiHioa annerkennen verweigern**, sehr leicht eintreten. Fttr diesea
Fell werden sie mit „weiterea. tlafsr^ela" bedroht
*) W« vomehmli^ ia Englaad vorkommt: Gewerbegericht II, 35, 1 16 ; III,
9/10. Dort vennittela nicht selten Redakteure einflufsrcicher Zeitungen.
•) Aasgenotnnien sind hiervon die (iewerbegerichte in EUafs.Lothriogen und
in Lübeck; M. v. Schuis in Brauns Archiv f. >oz. Ge&etzgeb. XIV, 1 79. Andererseits
Digitized by Google
44
Philipp Lotmar,
Gesetzes kann das Gewerbegericht ,,in Fällen von Streitigkeiten»
Welche zwischen Arbeitgebern und Arbeitern über die Bedingungen
der Fortsetzung oder Wiederaufnahme des Arbeitsverhältnisses ent»
stehen, als Einigungsamt angerufen werden". Eine solche Streitig-
keit liegt vor, wenn eine von einer Partei fiir künftige Arbeitsver*
träge vorgeschlagene Vertraf^bedin^ung von der anderen Päutel
abgelehnt wird; zu einer Arbeitsniederlegung braucht es nicht ge-
kommen zu sein. Nach den angeführten Worten des Gesetzes
ist die einigungsamtliche Thätigkeit der Gewerbegerichte zwar nicht
beschränkt auf die Vermittlung von Tarifverträgen, sondern kann
auch Platz greifen, wenn die Bedingungen der Fortsetzung oder
Wiederaufnahme des Arbeitsverhaltiiis^ics , über welche rrestritten
wird, z. B. nur in der Kntlassung eines Werkfuhrers, der Wiederanstd»
lung eines Arbeiters, dem Austritt aus einer Arbeiterorganisation,
bestehen. Indessen hat doch in Wirklichkeit die weit überwiejTfende
Mehrzahl der „Fälle von Streitigkeiten", in denen es zur einigungs-
amtlichen Thäiij^^keit von Gewerbegerichten gekommen ist, aus
Fällen bestanden, in tlenen es sich um Vereinbarung eines rarif-
vertrags, also um Vermittlung solcher Vereinbarung i^ehandelt hat
Die von Brentano wiederholt geschilderten und eindringlicli zur
Nachbildung empfohlenen Schieds- und Einigungskammern Englands
scheitten Einrichtungen, die ausschliefslich zur Vermittlung von
Tarifverträgen bestimmt sind und den Bestand von Gewerkvercinctt
wie die englischen zui Voraussetzung haben.*)
Indem das deutsche Gesetz den Gewerbegerichten eine einigungs-
amtliche Thätigkeit zugewiesen und dieselbe im einzelnen geregelt
hat (§§61—69), hat es wahrscheinlich die Abschliefsung von Tarif-
verträgen beabsichtigt und -tTördert. Dies ist — wie man sonst
über die Zweckmäfsigkeit des durch jenes Gesetz geregelten Mittels
haben nach ^ 4 des kgl. sächsischen Gesetzes, die n( r>^"-rhie<l>;t;rr!cbf"- lictreffend,
dir<;e (lerichte auch als Einlfninpsamter geniafs dem Kcichsgcs. über die Gewerbe-
gcrichtc zu wirkt n : Gewcrhrgericht III. I05.
*) Gewerbcgericht II, 48; III. 107. Soziale Praxis IX, 128. Gewerbegericht
n, 136 berichtet VDicr der Rubrik „Einigungnnit im PforaheuBcr ZiiBiiMr«rstrikc"
TOD einen Fall, in dem die Arbeiter ^inr Vermeidnng des Strikes" dn Einiguogsunt
anriefen, die Arbci^eber sieb einliefsen and fSn Tarifrertrag xostande kam.
*) Brentano, ArbeitivcrhKltnis genMfs dem beutigen Reckt S. 146—160^
365— 2S4. Soziale Praxis Vin, 1365, 13G6, Reaktion oder Reform? S. S4*-*57*
*) „Die deutschen Gewerbegerichte tratrn iSn; in 5, 1894 in 16. 189; in 191,
1896 in 44 Fällen als Eiaignogsimter in WirliMunkeit." Gewerbegericbt III, 96.
Digitized by Google
Die Tali^rcftrlce nriscben Arbeitgebern und Arbeitaehmem.
45
urteile '} — auch aus dem folgenden Grunde beinerken.swert. Nach
§ 62 setzt die eiriij^uni^samthclie ThäliL^keit eines ( lewerbegerichts
voraus, dafs die beteih^tcn Arbeiter und, falls es ihrer mehr als
drei sind, auch die beteili;4^len Arbeitgeber „X'ertreter bestellen,
welche mit der Verhandlung^ vor dem Einij:^ungsamt beauftraget
werden". Solche Vertreter sind Teile oder (ilieder einer Orj^^ani-
sation der Arbeiter bezvv. Arbeilt:jeber. Solche Vertreter setzen
eine Koalition voraus und handeln als deren Delei^Merte im
Interesse der Koalition vor einer staatlich zur Wrhandluni::^ mit
ihnen bestimmten Behörde. Der Gesetzi^a^ber, der, wie noch er-
örtert werden soll, sich anderwärts ablehnend gegen si)lche Koali-
tionen verhält, zeigt sich hier ihrer bediirftig. Er anerkernU die
Koalitionen insoweit, als er das Erscheinen von ,A ertretern" der-
selben /.ulälst und für das Einigungsverfahren verlangt, -j sowie auch
den „\'ertretern" die Aufgabe zuweist, unter Umständen „Vertrauens-
männer" /.u wählen zur Besetzung der Reisitzerstellen (§ 63 Abs, 3).
Andererseits unterläfst der Gesetzgeber sich darüber zu äufsern, wie
die Vertretung zustande kommen soll, und lälst das EinigunL;samt
„nach freiem Ermessen" entscheiden, „ob die Vertreter für genügend
legitimiert zu erachten sind".
Die Vermittlung von Tarifverträgen durch das Gewerbegerit ht
i.st die einzige Vermittlung von Tarifverträgen, die gesetzlicii ge-
regelt ist. Man kann hier schon durch Betrachtung dieser Regeln
das Wesen der V'ermittlung und ihren Unterschied von der uiner-
mittcltcn Abschlielsung von Tarifverträgen erkennen. Während bei
der letzteren die Parteien unmittelbar einander gegenüberstehen, sei
es in Person, sei es in Gestalt von Vertretern, giebt es beim \'or-
gang der Vermittlung noch eine dritte Rolle, die im gesetzlich .ge-
regelten Falle dem Einigungsamt zukonnnt. Die Unparteilichkeit
des Vermittlers wird hier dadurch erstrebt, dals die Beisitzer und
die Vertrauensmärmer in gleicher Zahl aus der Reihe der Arbeit-
geber und der Arbeiter genommen sverden.
Die Thätigkeit des Vermittlers — er bestehe aus einer oder
aus mehreren Personen, sie sei gesetzlich geregelt oder nicht —
') Siehe besonders die Kritik von Brentano in Schriften des Verein» für
Sozialpolitik Bd 4; S. XL — L und wfpfn der Frage, oh der (iegner dessen. d«*r
das Einigungsamt anruft, einlassungspflichtig sein sollte ( lew erbegericht III, 22 uod
M. V. .Schulz in Brauns Archiv f. soz. r,c«etro;cbung XIV. 171 — 178.
') So auch J. JastroK' in Conrads Jahrbüchern III. Folge Bd. iS, 81—84.
Digitized by Google
40
Philipp Lotmar,
ist, im Gcj^a^nsatz zu der eines \'crtreters, eine \>\<>is faktische.
Er hat verm«>>;<.- setius pers« >ii!i« lieii oder anitliclien Ansehens und
des \()n den Tarteien L;ehe'^'^len X'ertrauens in seine l*nj)arteilichkeit
die Parteien einander luiher und so nahe /u hriiv^'en, dals es unter
ihnen /.um Kinvernehinen und zur l-.iiuvillii^uni,' kommt. Kntfernt
können the l'arteien von einander sein nicht l)lots In dem, worüber
sie uneins sind, sotidern auch darin, dals sie sich nicht eini;^^en
Wüllen, indem eine oder lu'ide die Wrhandliiiif; al)lehncn iV^].
ol)cn S. 36 f.). Fs L^i< l)t Kontralienten. die die unmittelbare \'er-
traL;sclilie[sun^' xcn/ichcn, :;iebt alu r au<d» solciir, die sich NveniL^er
zu \erL,'el)en i^dauben, f>d(*r die X'erliandlun^ für ers] irif Islicher er-
a( Ilten, wenn dieselbe von einem Unparlciischcn und über der
Dittercnz StehcJi 1- n i;clcitet wird.')
Kben diese I.eitunf^ ist ein weiterer X'orzui:,' der Vermittlung.
Sie besieht nicht lilois in der Sori^e für die äufsere Ordnung der
Vcrhandluni^. wodurch diese abgekürzt werden kann, sondern auch
in einer Erleichterung der Verständigung. Bei der Vermittlung
streben die Parteien ebenso, einander wenn nicht zu überzeugen,
so doch klar zu maclicn, worauf sie l)estehen müssen, als auch den
V^ermittler für die Richti^^keit ihres Standpunktis einzunehmen, um
seinen IkMStand zu ^'ewinnen. Bei diesem letzteren Bestreben wird
der Sachverhalt geklärt und die Leidenschaft i^'emäfsi^.-)
Kommt c-, mit oder ohne Einflufs des X'ermittlers, zum Ver-
tragsschlufs, so hat die Teilnahme eines Vermittlers die fernere Be-
deutung eines Zen ^en der Uebereinkunft. Nach dem (rewcrbe-
gerichtsgesetz ist der Inhalt der Vereinbarung öffentlich bekannt zu
machen und diese Bekanntmachung auch von allen Mitgliedern des
Einigungsamtes zu unterzeichnen.
Endlich bietet die Mitwirkung eines Vermittlers auch noch den
Vorteil, dafs durch sie die V e r e i t e 1 u n g der \'erhandlung hintan-
ge halten werden kann.^) Wenn von den Forderungen der einen
Partei auch nur einzelne durch die andere angenommen und einzdne
abgelehnt, aber die letzteren fallen gelassen werden, so kommt
immerhin eine X'ereinbarun^ zustande, obwohl sie nicht die ganze
Proposition umfafst.^) Wenn aber die abgelehnten Forderungen nichC •
^) Vj,'l. V. Schulz in Soziale Praxis VIII, 1325
•j \ gl. Hlcnderraann in Sjriale Praxis VI, 279 — 2b2.
') Vgl. V. Schuh' iii diesem .\rchiv 173.
') Da solchenfalls ein gegenseitiges Nachgeben Statt findet, so hat darin der
Dlgitized by Google
Die Tarifvertikgc cwücben Arbeitgebern und Arbeitnehmern.
47
fallen gelassen, sondern aufrecht erhallen werden, so erreicht die
X'ertra^sverhandlun«::; zunächst ein Fndc. Hier kann nun der \'cr-
rnittler, der durc h dir \'erhandlun^en, d. h. durch die Aussa^^cn der
Parteien und zugezogener Auskunftsjsersonen sich über die Wunsche,
Zwecke, Möglichkeiten informiert und ein Urteil über den ange-
nie-^senen Inhalt einer Verein! )arung gebildet hat, seinerseits den
Parteien einen Vorschlag dafür machen. Dieser Vorschlag heifst im
( lewcrbegerichtsgesetz 67 — 69) „Schiedsspruch"; derselbe
hat „sich auf alle zwischen den Parteien streitigen Fragen zu er-
strecken" und ist immer abzugeben, wenn die Parteien niclit von
sich aus eine X'ereinbarung zustande gebracht haben.')
Der sogenannte Schiedsspruch ist nach dem Gesetz fiir keine
Partei \crbindlich. Kr kann für beide Parteien verbindlich sein,
wenn sie schon vor seiner Fällung einander versprochen haben,
ihn für sich verloindlich sein zu lassen. Hat dies nur eine Partei
unter sich beschlos>en, '•) so i>t ein solcher J^'-^ciiiuls ohne Rechts-
folge. Hat eine Partei dem Kinigung^amt gegenüber im voraus er-
klärt, den Schictls.>j)rurh für sich gelten zu lassen, so hat die>» keine
andere Bedeutung, als wenn ^ie es nach der Fällung gethan hätte.
Der Schiedsspruch des Gewerbegerichts als I^inigungsamts ist
eine V e r t r a gs p r o p o s i t i o n , die der X'ennittler jeder Partei
namens der anderen macht. Wird dieser \'orschlag von den Parteien
angenommen — sie „unterwerfen sich dem Schiedsspruch", wie das
(iesetz in 68 sagt — so liegt eliensowohl eine Vereinbarung
vor. wie wenn die Parteien sich auf einen ursprünglich von einer
Partei ausgegangenen Vorschlag geeinigt hätten. Man hat nämlich
die Partei, welche sich zuerst dem Schiedsspruch unterwirft, als
diejenige anzusehen, ilie den in tlemselben liegenden \'orschlag der
anderen macht. Insofern ist auch hier die Vermittlerthätigkeit eine
blols faktische, er liefert mit .seinem Schiedssprucli jeder Partei eine
Vorgang Aebnlichkcit mit einem Vergleich. Der Xaritvertrag ist aber kein Ver-
gleich.
'j .Au!5y;entniiii)rn wenn .Stimmengleichheit besteht unter den Itcisiizcrii und
Vcrlraucn.<maiinerii, liic für die Arbeitgeber, und denen, die für die Arbcitiicluncr
zugezogen worden sind: in diesem Falle kann sich der Vorsitzende der Abstimmung
«■dwiten, damit bleibt der Schiedstpnich ans.
-) Im Juli 1899 beschlossen die .Arbeiter einer Textilfabrik in Charluttenburg^
„das hiesige G«werbcgericht als j^nigungsamt aanmifai nikd aidi. denen Schicds*
ipfvch n lagen'*. Vonrirts rom 6. Juli 1899.
Digitized by Google
I'hilipp i. Ol mar.
durch diese der anderen zu machende Proposition, die die Autorität
des Gewerbegerichts fiir sich hat
Die auf die Proposition des Eini^^un^^samtes getroficne Verein-
barung wird der nur auf Parteiproposition getroffenen formell in-
sofern gleich behandelt, als auch die erstere öffentlich bekannt ge-
macht wird.') Der Vermittler tritt damit als Zeuge dieser Ueberein-
kunft auf. Für die unten zu behandelnde Rechtswirkung des Tarif-
vertrags ist es gleich^ültiii, ob er durch blolse Vereinbarung oder
durch Vereinbarung auf Grund eines „Schiedsspruchs" zu stände
gekommen ist.
VL Koalition.
I. Das zweite Hilfsmittel zur Hebung von Schwierigkeiten, die
sich dem Abschluls von Tarifverträgen entgegensetzen, ist die
Organisation, und zwar die Koalition und die Vertretung.
Wir sprechen zuerst von der Koalition. Koalition ist nicht
jede Versammlung oder Verabredung, nicht jeder Verein oder Ver-
band ohne Unterschied des Zweckes, sondern nur diejenige Ver-
bindung, welche zur Erlangung günstiger Lohn- und Ar-
beitsbedingungen (Koalitionszweck) bestimmt ist
Eine Verabredung oder Vereinigung, oder wie sonst die Ueber-
einkunlt oder Association sich nenne oder genannt werde, welche
als Zweck verfolgt die Erlangung günstiger Absatzbedingungen, oder
günstiger Produktionsbedingungen,-) die berufliche Ausbildung, den
Arbeitsnachweis, die Berufsstatistik, — derartige Vereinigungen sind
ebensowenig Koalitionen, als Vereinigungen, welche Krankenlmter-
stützuf^, Belehrung, oder Unterhaltung zum Zweck haben.
Koalitionen sind Verbindungen von Arbeitgebern, oder Ver-
bindungen von Arbeitnehmern, hingegen regelmäfsi^' nicht auch
Verbindungen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Da nämlich
ArbeitL^ebcr und Arbeitnehmer beim Arbeitsvertrag, der ja aus Lohn-
und Arbeitsbedingungen besteht, Parteien bilden, d. h. grofsen-
teils entgegengesetzte Interessen haben, so kann eine Ver-
bindung vor. .Xrbeit^'ebern und Arbeitnehmern zur Erlangung günst^^er
Lohn- und Arbeitsbedingungen in der Regel nicht vorkommen.
Namentlich sind Tarifverträge keine Koalitionen: nicht blofs weil
Nach § 68 werden sowuhl der Schiedsspruch als die annehmendeu oder
abldmendcD Erklärungen der Purteieii r«röflieDtlicht.
*) Absfiglidi der Lohn- und ArbeitsbediDguoKen, die Mch su den Produktion»-
bedingttngen gehören.
Digitized by Google
Die Tarifverträge zwischen Arbeitgebern und Arbeitn>*lmuTn.
49
sie von Arbeitgebern und Arbeitnehmern als Parteien geschlossen
werden, sondern auch weil sie nicht die Erlangung günstiger
Lohn- und Arbeitsbedingungen bezwecken, sondern diese Bedingungen
festsetzen.')
Eine blo& scheinbare Ausnahme der Regel liegt da vor, wo
Arbeitgeber auch Arbeitnehmer sind und sich mit solchen Arbeit-
nehmern verbinden, die nur dies sind, oder wo Arbeitnehmer auch
Arbeitgeber sind und sich mit solchen Arbeitgebern verbinden, die
nur <fies sind: man denke z. B. an Zwischenmeister in der Kon-
fektion.*) Auch den Fall wird man kaum als wirkliche Ausnahme
gelten lassen, da(s ein Unternehmer seine Arbeiter behuis Verur-
sachung einer Lohnbewegung bei einem Konkurrenten mit Geld
unterstützt, indem er die Bewilligung höherer lx>hne an seine Ar-
beiter von einer Erhöhung bei dem Konkurrenten abhangig macht.
Dafs die Koalition entweder Arbeitgeber- oder Arbeitnehmer-
koalition, also eine Pautdverbindung bt, nämlich die Angehörigen
nur der einen, oder nur der anderen Partei des Arbeitsvertrags um-
iaist, wird durch nichts deutlicher gemacht, als durch das Bestehen
von Koalitionen, die von Personen gebildet werden, die in der Art
der Arbeit ganz verschiedene Arbeitsverträge abschliefsen, was
dann weiter zur Möglichkeit potenzierter Koalitionen, d. h. Koali-
tionen von Koalitionen föhrt. Indem nämlich Arbeitgeber ver-
schiedener Branchen sich koalieren — z. B. der Unternehmer
einer Glashütte, eines Baugewerbes, einer Giefserei, eines Hütten-
und Walzwerkes, einer Kattundruckerei, einer Zucker&brik u. s. w. —
oder eine Koalition von Arbeitgebern derselben Branche sich mit
Arbei^bern oder Arbeitgeberkoalitionen anderer Branchen koa-
liert,*) so wird damit zum Ausdruck gebracht, dafs es dem einzelnen
Mitglied nicht sowohl um sein Fach, d. h. um Erlangung günstiger
') Darum kann auch eine von Arbeitern ausgehende Verrufserkl&rung eines
Unternehmers, der einem ijeschlosscncn Tarifvertrag nicht beigetreten ist. nicht
als eine nach Gew.* >. >j I^J^ 'itrafhare Bcrtinnnunt^ rur Teilnahme an einer Koali-
tion gelten — wie ein H.imlmr^er Richter angenomnuMi l>at
^) Ferner die Koalition der Hamburger Rheder mit iiireu Arbeitnehmern, den
Stauern, als den Arbeitgebern der Schanerleute, beim Hafenarbeiterstrike 1896/97 :
Töanies in Biaiia» Archiv für soz. Gesft.:gebung X, 690.
*) t. B. Zeotnlverband deutscher lodostiidler, Bond der laditttriellea, Arbeit-
gefaerverband tob Hanbwg'Altoa« a. s. w. Es braucht kaum getagt tu werdea,
daft derlei Verbände nicht bloft Koalitionen aind, da sie noch andere alt den Ko»-
litlonweck Tcrfolgen.
ArdUv fiir toc G«Mt«gcbiws u. Scatiaik. XV. 4
Digitized by Google
rhtlipp Lotnar,
ArbeitsbeclinL;un;^cn fvir Ale Ai ht ils\ crträ-^^'c meines Faches, als um
die Position tlcs Arbeitsgebers als solclicn ohne Kucksicht auf das
Facii /II thun ist. Ebenso erstrebt ein (ievverksiiiaftskarteU, d. i.
eine Koalitio' ' Koalitionen von Arbeitnehmern vcrschictiencr
Branchen nicht die Erlangung günsti^^er Arbt it^bedin^ungcn fiir die
Schreiner, oder fiir die Maurer, (xlcr für die .^iluilunacher u. s. w.,
sondern für die Arbeitnehmer .iK Partei im Arl>eit«^\ ertra^^ Wenn
sich Personen koalieren, die kein Interesse an der iiestaltun;^^ der
besonderen Arbeits! »edinj^unj^^en haben können — denn drm Schuh-
macher nnifs es als Schuhmacher einerlei sein, ob die Maurer 50
<»der 70 IM, Stiindtiilohn bekommen, ebenso wie es <lem Schuh-
fabrikanten -Ici« h. uhiu,' sein niuls, ol) der „I3au<^anverksmeister" 70
oder 50 Pf. Stundenlohn zu entrichten hat — und wenn sie dennoch
zu gegenseitiger rnterstützun;^ bei «ier E^rlangung günstiger Be-
dingungen sich verbinden und damit auf diese Erlanirun^' aus^'ehen,
d. h. sich koalieren, <o mufs es ihnen bei solcher Koalition um
Stärkung der Arbeiti;el)er ji o s i t i < » n , oiler der .\rbeitnelimer-
posilion, d. h. der i*.u"teistelluiiL; ini .-\rbcit.>\ertr,i;.4 /u thun sein.
Die I'.rl.m'^ut.L,' ;.;unstit^cr Lehn- vmd .\rbeitsbediii;;uii;^aii, die als
Zweck einer .Arbeitj^ebcr- oder eine r Arbeitnelnucrx t i I lindun^ diese
X'erbindunj^^ zu <•■• er Koalition maclit, scheint tuir mittels offen-
siver 1 hati'^^keil 1h wirkt werden zu können, da, wer ;^nnisti^e Ik--
din^'uiiL^en /u erl.in^eü tr.ichtet, sich dalur rcL^en, aiv^'^reifen muls.
.'XUein aul-cr der auf \ crl)e>s( ru;i;^^ der \'orh.iiu!ent ii Bedingungen
gerichteten rhäti;.,"keit i^t .luch eine auf 1 lintanhaltun^^ ihrer \'er-
sclilechterun;^^ ^'erichtete nn'>^li( h und als detensivc Koalitions-
thätii,'keit anzuerkennen, f .iiie .M( liilu it von Arbeitgebern oder von
Arl>eitern nilmlich, die <hc Auhechic! haltun:^' der vorhandenen He-
diri^'un;4en erstrebt, ist insofern auch auf die Erlan^^un^ günstiger
Lohn- und Arbeitsbedin^'un^'en bedacht. ,\U sie die !)isheri;^en
günstigen nach Resieguii^^ von Hinderni.ssen, also jcnscils dieser
Hindernisse, ,'u erlanc^en trachtet.')
Die ( Tunstii^keit der I ohn- und .Arbeitsbedini^uiiLjen wird zwar
vom Standpunkt einer jeden Partei entschieden und nicht vom
neutralen der Volks- oder Weltwirtschaft, der Produktivität, oder
der Hygiene, .-\llein (hidurch wird nicht au.s^a'schlos>en. dals eine
Bedingung, die für die eine Partei gunstig ist, auch für die andere
'i Für (lirsf Ent<;chei<lung auch <ias ErkcDouiis des Reichsgerichts vom II. M&ra
1^99 in .Seufferts Archiv Bd. 54, S. 443.
Digitized by Google
J
Die Tarifvertrige xwisdiea Arbeitgebern md ArbeitneliBieni.
Partei günstit^ sei: man denke an die Beseitigung der Akkordarbeit,')
oder an die X'erkurzung der Arheif^/eit.-) Die Günstigkeit der Lohn-
und Arbeitsl)edirigungen wird nach dem Interesse der Koalierten
und nicht eines Einzelnen bestimmt. Die Abschaffung der Akkord-
arbeit kann für einen besonders leistungsfähigen Arbeiter ungünstig
sein und doch einen Koalitionszweck seiner Fachgenossen bilden.'')
Die Lohn- und Arbeitsbedingungen, auf die die Koalition ge-
riclitct ist, sind Lohn- und Arbeitsbedingungen i. w. S. (S. 28 Anm. 2),
nämlich alle, wciclic für das A r b e i t s v e r Ii ä 1 1 n i s bedeutend sind,
daher den Inhalt eines I arif\ crirags und nicht blofs eines Arbeits-
\'ertrags bildt ri kennen.') Ks kommt aber nicht selten \<>r. dals
sich Unteriiclinicr zur Kinlialtung eines Miniinallohncs verabreden
und denjenigen \crfulgcn, der seinen Arbeitnehmern weniger als
diesen Minimallohn gewährt, indem er >ich jener Abrede nicht an-
.schl:el>l, oder die vor) ihm mitgelroffcnc nicht einhält.'^) Ein
solches Bündnis ist aii^rnsrheinlich flaraiif gerichtet, die Unter-
bietung auf dem Warenmarkt aviszuschliclsen, die chuch die ( it-
währung des kleineren Lohnes ermöglicht wird. Wenn jene Unter-
nehmer sich dawider verbünden, so ist ihr Hündnis nicht auf Er-
langung günstiger Bedingungen für ihr Arbeitsverhältnis ge-
richtet, da sie vielmehr die für sie als Arbeitgeber ungünstigere
Bedingung wahren wollen. EiiK* Arbeit g e b e rkoalition, die auf
Erlangung für die Arbeitnehmer günstiger Bedingungen gerichtet
ist, wird man nicht annelinicn wollen. .Sollen Bündrnssc wie die
erwähnten als Koalitionen gelten und den ijij 152, 153 dew.O. unter-
teilen, so mufs man einräumen, ilals die „Verabredungen und Ver-
einigungen zum Belnife der I\rlangung günstiger I ohn- und .'\rbcits-
bedingungen" auch diejenigen umlassen, die aut -un^iige Profit-
bedingungcn ausj^ehen, soweit der Profit von den Bedingutigen
des Arbeitsverhältnisses abhängt. Das Arbeitnehmer- und da:^ Arbcit-
*) wodurch die Schommg der Geraadheit der Arbater und die Schonuiig von
Werkzeugen und Stoflen bewirkt werden knnn.
*) S. Brentano, Ueber dM VerhUtnb von Arbeitalohn nnd Arbeitueit mr
Arbcitsleiitang (1893).
*) Vgl. Jahresberichte der Gewerbenufttchubeamten in WOrttcmberg für 189^
S. 13$.
*) 7. Ii. Lehrlingshaltung, Arhritsnachucis, Zugehörigkeit xnr Orgaaisatimi,
Geltungsdauer des Tarifvertrays. vgl. S. 24—27.
Grwcrhcjjericht I, 88. „Handschuhmacher'*, Organ für die Interessen der
i landschuhfabrikatiou Deutschlands, 9. Juli 1897, S. IJ4.
4»
Digitized by Google
5«
rbilipp Lotuar,
gcbcrintcrcs-se falirri hier aulserlii'h /u^ainmoii. Die Arbeitgeber
haben nicht da^ Interesse, daK den Arlieitcrn ^un.>tii^a" Lohn- u\u\
Arbeite! »fdinj^un^en zu teil werden, xüidein es kominl ihnen darauf
an, dais iiicht einer der Ihrigen i^ünsli^ere Produküuubbedinj^utigcn
habe als sie selber.
II. Indem (Jieser letzte Kall eine Koal tion von Arbeitgebern ^-«-''^f
die sich zur I-!rrcieluin>^ de-^ K 'iüi.jnszweeke.*» nicht wider die
Arbeiter kehrt, werden wir auf die in.V^dichen Richtungen der
K o a Ii t i o n s t h ä t i k e i t aufmerksam.
Da die Gewerbeordnung in i? 152 alli^'emcin von ,.Veraf>-
redungcn und X'er'-iniL^ung^en zum Behule der trlangun^ günstij^er
Lohn> und Arbeitsbedingungen" spricht, lälst sie unentschieden
und frei, welche Personen zur Erreichung dieses Zieles in Be-
wegung gesetzt, oder welche zur (^ewährun^^ jener Bethngungeii
bestimmt werden sollen. Insbesondere folgt aus dem UmstaiKle, dais
die Arbeitseinstellung und die Arbciterentlassun^ , die das Gesetz
als Mittel für den Koalitionszweck her\'orhebt, wi Irr den ( iei^tHT
gerichtete Aktionen sind, noch keineswegs, dais diese Richtung der
Koalitionsthätigkeit wesentlich ist.
Ebenso läfst das Gesetz u ne ntsch i e d i- 11 und frei, welche
Mittel die Koalition zur Erreichung des Koalitionszweckes an-
wenden will. Indem es nur „insbesondere" die .starken .Mittel der
Arbeitseinstellung und der Arbeiterentlas.sung her\'orhebt, hat es gleich
starke und schwächere zur Anwendung freigelassen.
Aus diesem Verhalten des Gesetzes ergiebt sich:
I. Der Koalitionszweck kann verfo^t werden gegenüber einem
Dritten d. h. einem, der weder Arbeitgeber noch Arbeitnehmer
ist und doch einen Einflufs auf die Gestaltung der Ijohn- und
Arbeitsbedif^ungen ausüben kann. Ein solcher Dritter ist vornehm-
lich der Gesetzgeber, der Gesetzgeber im w*eiteren Sinne, d. \x, nicht
blols die gesetzgebenden und verordnenden Körperschaften und
ihre einzelnen Mitglieder, sondern auch die deren Thätigkeit vor*
berettenden und ausfuhrenden Beamten. Diesen Dritten gegenüber
kann der Koalitionszweck verfolgt werden, indem ihnen Gutachten,
Beschlüsse oder Petitionen der Koalitionen vorgelegt werden, da-
mit der Einflufs der Dritten auf die Gestaltung der Lohn- und
Arbeitsbedingungen der Koalierten entfaltet werde. Diese Ent-
fettung kann eine direkte sein, indem z. B. die Arbeitszeit im Sinne
der Arbeiterkoalition verkürzt wird, oder ein indirekter, indem der
Digitized by Google
Die TarifvertrSge zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmcn.
<TCgenpartci die Koalitionsthätigkeit erschwert und damit der einen
Partei die \>rfolt:,ning ihre: Koalitionszweckes erleichtert wird.')
Es ist freilich wiederholt behauptet worden,-) dals die Koali-
tionen nach Gew.O. § 152 ihren Zweck nicht gegenüber Dritten»
namentlich dem Staat, und dals sie ihn nicht mit allen reidis-
geselzlich straflosen Mitteln, namentlich den erwähnten Einwirkungen
auf den Staat, verfolgen dürfen : allein diese Behauptung ist gegen-
über den klaren Worten des $5 152, der die Adresse und die Mittel
der Koalitionsthätigkeit völlig frei läfst, gänzlich unhaltbar.
Die jene Behauptung unterstützenden oberstrichterlichen Entschei-
dungen ^) haben darum wissenschaftlich weniger Gewicht , weil
sie nur Koalitionen von Arbeitnehmern, nicht von Arbeitgebern
betreffen. *) Dafs die Ver\valtungsbehörden beiderlei Koalitionen
verschieden behantleln, ist zwar im Leben verhängnisvoll, aber wissen-
schaftlich belanglos. Ihre Behandlung der Arbeit g e b e r koalitionen
ist nach unserer Meinung rechtmäfsig.
2. Der Koalitions/weck kann ferner \ crfolgt werden durch eine
Aktion, die ^ich im Kreise der einen Partei hält, sich also \'oii
Arbeitgebern an .Arbeitgeber, oder von Arbeitnehmern an .\rbeit-
nchmer weniiet. .Auch diese, als Koalitionsthätigkeit interne
Thätigkeil kann, statt unmittelbar auf die Arbeit^l)edingungen, auf
Schwächung der gegneriselien Koalition gerichtet sein. Zu dieser
internen Koalitionsthätigkeit geiiorcn /.. B. Beschlüsse der Arbeit-
nehmer, dals keiner weniger als einen gewis«^en Lohn sich ausbe-
diiige, Oller der Arbeitgeber, dals keiner mehr oder weniger als
einen gewissen Lohn zusage; Beschlüsse der Arl xiti^eljcr, keinen
einer .-Xrbeiterkoalition angehörigen oder sie leitenden, oder an einem
btrike beteiligten Arbeiter zu beschäftigen, Beschlüsse, die durch
') So h.w \\cT Ir)iiunf;sv< rhand der Baugcwcrksmci-^tor im Jahre 1S07 in -int'T
an den Buiule«-rat und un dus Keichsjustizanu gerichteten Kingabe diese Behörden
fiir eine Gesetzgebung zu gewinnen gesucht, durch welche „die Verhinderung des
Zuzuges dtr Aibciter dwdi Besettcii der Bahnhöfe und Verkdwsitnfoett 1« den
Kreis der strafwürdigen Handlangen hineingezogen «rcrden". Legien, Koalttiont*
fcdit S* 1 15*
*) z. B. Ton Landmann, Koramentar zur Gewerbeordmmg; Loening,
Sdiriften des Vereins f. SozUlpolitik Bd. 76 S. 265.
Namentlich des Reichsgerichts: Entsch. in Strafsachen XVI, 383. Jedoch
sagt d.-is üben S. 50 Anm. 1 zitierte Erkeiiiitni= (Ici SeufTert Bd. 54, S. 444): „In
bcxug auf die anruwenf'.cnderi Mitte! aber ruthält das Ge<f.' keine Einschränkong.**
*) Vgl. Locwenfcld in diesem Archiv XIV, 48Ö uateo.
Digitized by Google
54
Philipp Lotmar,
Verbreitung^ srluvar/cr Listen intierlialh der Arl>citi:^eherkoaIit ;< )f i
i'cltond gemacht werden; Strikounterstutzun^ cuier Arheitnehrner-
ki).iiiti()n dun h eine andere mit < leld oder mit I'crnhallunL; des Zu-
zii'^s, und andererseits Kin\virkun.j einer Arbeit;^el>crkoalition auf
Arbeitgeber, um deren l ahi^kiit oder \ei.;unL; /um \Vider>tan<l
's't'^^en ArbeiterknalitK iiRn zu stärken . ( lelduntt i -stul/unLj oder (für
den l'all der Nachgiebigkeit) Kinzu^ xon (ieldlmlM-n u. >. w ')
Da tiew.O. ^ 152 hinsichtlirli der PeiMUH ii, -ei^a-nuber weichen,
und der Mittel, mit welchen der Koalitionsz\\ eck \'erfol'^t werden
darf, keine Schranken aulstellt, so läl^t er die l)ei>j »ielswclse auj^e-
führten Koalitionsthäti^keiten zu. Trotzdem ist behauptet werdet.,
tlals nur die ,, unmittelbare lünwiikuni^ auf tlen anderen 1 eil" zu-
lässig sei. Wissenschaftlich begründen läüt sich das nicht.'-)
3. Der Koalitionszweck kann endlich auch verfolgt werden
durch eine Tliätigkeit, die sich nicht im Kreise der Koalitions-
partei hält, sondern an den (ie^ner wendet. Hierher gehört «Ue
Verhandlung iibcr einen Tarifvertrags seine Proj)Osition, Modi-
fikation, Acceptation, oder X'erwerfun^, sowie die verschiedenen von
Koalitionswegen gemeinsam wider den < iciMier unternommenen
Schritte, tlie seinen Widerstand brechen, ihn zur Annainne oder
zum i' allenlassen des Tarifvorschlags bewegen sollen: Arbeitsnieder-
legung, Aussjierrung, Boykott.
III. Die Koalition ist für den Tarifvertrag in niehr als einer Hin-
sicht bedeutungsvoll. Die Koalition ist eine Verbindung von Arbeit»
gebem, oder von Arbeitnehmern zur Erlangung günstiger Lohn-
und Arbeitsbedingungen, der Tarif\crtrag ein Vertrag, der solche
Bedingungen für künftige Arbeitsverträge festsetzt Die gemeinsame
Aktion einer Mehrheit von Arbeitgebern oder von Arbeitnehmern zur
Abschliefsung eines Tarif\ ertrags ist daher eine Lcbensäufserung
der Koalition. Der Tarifvertrag ist ein hen orragendes Mittel zur
Realisierung des Koalitionszweckes und die Koalition ein hervor-
') „In diesem Frühjahr beschlofs eine Vcrs.iiuniiuiij^ tier Zchdeuicker Maurer-
UDd Zimmenneister, die Fordeniag der Arbeiter: lOictubdige Arbeitszeit und 35 Pf.
Stimdeolobn abht «1 bewilligen. Glddueitig setzte die Versamnlting fest, dafs
jeder, der gegen diesen Beschlufs verstofse, eine vom Innongsischiedsgericht festta-
setzende Strafe von 300 — 500 Mk. zu erl^en habe.** Soziale Praxis IX, 149.
Dagegen auch das reichsgerichttiche Erkenntnis vom II. Märs 1899 in
Seufferts Archiv 54 S. 445.
Die Tarifveitrice sirbchen Arbei^ebem und Arbeitnehmern.
l-a^cndcs Mittel, den Tarifvertrag ins Leben zu rufen und lebendig
zu erhalten.')
Die Koalition ist für denjeni^i^cn Kontrahenten eines Tarifver-
trags ein unum^änf:^liches Frfordernis, welcher aus einer Mehrheit von
Personen besteht, die auf ein Mal kontrahiert. Denn diese Mehr-
heil kann mit einem Willen nur auftreten, wenn sich die Mehreren
koaliert haben: oben S. 30 — 33.
Auch wo der Ahschluls eines Tarifvertra^f^ ohne Koalition
möglich, ist der Mangel der Koalition solchem Abschluh leicht
hinderlich, indem ein Arbeit;^'eber der vertraglichen Bindnnij
widerstrebt, weil er die Konkurrenz der nicht mit ihm koalierten
ungebunden bleibenden Fachgenossen fürchtet: oheti S. 42. Und
umgekehrt hat die von der Arbeiterkoalition ausgeliemle Tarif-
proposition leicht die Folge, dafs sich auch die Arbeitgeber koa-
lieren.-)
Die Koalition kann sich dem .Absrhluls eines Tarifvertrags
ferner dadurch förderlich erweisen, dais sie der den Abschlui^ er-
strebenden Partei Pressionsmittel zu gewähren vermag, deren sie
ohne Koalition entralen würde. Solchen Nachdruck köntien der
TarifjiroposilK )ii die Arbeitsniederlegung und der Boykott, die Kiit-
lassung und die .Aussperrung \crleihen. .Andererseits freilich kann
die Koalition dem Zustandekommen eines Tarifvertrags auch hinder-
lich sein, indem sie die dem Al^schluls zuneigenden Parteigenossen
durch Androhung oder \'erliiingung eines Nachteils zurückhält, ')
') Vgl. Jahresberichte der Gewerboaufsichtsbeamteo von Württemberg für 1S9S
8. 25 und z. B. die Aeufserung eines Teilaebmers einer Maurenrersammiung in Berlin:
Die Grandlitcen sn «ücr Ventindigung mit den Untnndunern und die Gnrmntie,
daft die Abmachungen durclifefltllirt werdeni tei jetst dadnidi gegeben» dais min-
deatena sieben Achtel der Maarer Berlins und der Un^^end organisiert sind und
luram tauaead der Orgnnisntiaii fernstehen. (VorwErts 14. Olrtober 1898). In
einer Zimmeferrendhunlnng in Berlin &afserte ein Redner, die Verhandlungen mit
den Arbeitgehern verspriGlien jetzt Erfolg, da die Arbcitgelxr ^nt organisiert seien
«nd sich daher keiner vott den Verainbarangen anisclüiefsea könne. (Vonrirta
18. Januar 1899.)
*) „Ganz ähnlich, wie es im Vorjahr bei ilcni Metallarbeiterstrike '^rwf ^fn %v.-»r.
Hatte das /usamiurn^^chcn der Arbeiter oin Za>ammi-fi2;ehcii der Arbeitgeber zur Fol^jc,
und es bildete sich der Verband der su-ldc Jtschrn Haugcwcrksmeister, mit dessen
Vertretern die Lohnkommtssioa der .Xusstandi^en die neuen Arbeitsbedingungen . . .
festsetzte Jahresberichte a. a. (>. S. 34.
*j i. B. Materialspcrrc . Linzichuu^ einer Koaveutionalstrafe. Wegen der
Digitized by Google
1
^6 r* h I ) I p p I. o t m a r ,
die den Abschlufs weigernde Partei in ihrem Widerstand untere
stützt, oder för die ihr aus dem Widerstand erwachsenden Nachteile
schadlos hält.^)
Die Koalition ist nicht blofs fiir das Zustandekommen eines
Tarifvertrags, sondern auch für seinen Bestand bedeutungsvoll
Durch den Zusammenhang der Koalition ist die Haltbarkeit des
Tarifvertrags bedingt Denn der Tarifvertrag wurzelt nicht blols
gleich anderen Verträgen in der Vertragstreue der Parteien gegen-
einander, sondern auch in der Vertragstreue, die die Glieder einer
Partei unter sich bewähren. Der Tarifvertragsbruch eines Kontra-
benten kann dem Gegner zum Vorteil und dem Genossen zum
Nachteil gereichen, indem diesem hierdurch die Konkurrenz er-
schwert wird.
Die Koalition kann behufs Abschliefsung eines bestimmten
Tarifvertrags gegründet werden, oder nur im allgemeinen zur Er-
langung günstiger Lohn* und Arbeitsbedingungen, ohne dafs ein be-
stimmter Tarifvertrag geplant wird, und ohne dafs durch den Ab-
schluGs eines solchen der ganze Zweck der Koalition erfüllt wird.
Es ist möglich, aber nicht erweislich, daGt Gew.O. § 152 mit den
Worten „Verabredungen und Vereinigungen" spezielle, transttorische
Koalitionen und allgemeine, bleibende unterschieden hat
In jedem der vielen Fälle, in denen die Koalition fiir den Ab-
schluß und Bestand des Tarifvertrags wichtig ist, hat der Umfang
der Koalition die gröfste Bedeutung. Mit der Zunahme der Mit-
gliederzahl kann zwar der Zusammenhalt ihrer Mitglieder abnehmen.
Hiervon at^sehen ist aber die Koalition um so wirksamer, je mehr
sie einer Zusammenfassung aller Genossen eines Berufszweiges nah«
kommt. Jeder ihr nicht Angehörige bringt sie in Gefahr von seiner
enteren i. Legien, KoftlitioasTecht S. tao. I3i. Weigert io Sotialc Fruit VIII,
1069. LoewenTrld in diesem Archiv XIV, 494, 517; wegen der letxtereo ». B.
Sociale Praxi.« IX, 149 toben S. $4 Anm. i). ^
'1 Per „Ausstandsvtriicherungsverband des Obcrberpamtsbcirkrs Dortmund"
hat im lahrr 1891 Mk. 230CMX> uü KiUsrhädi^ungen ge/alilt und h;il. weil eine Ije«
tciligte Zcciie die l ordcrungen itirer Arbicitcr bewilligte, iu d.is Statut die fol^jende
Bestimwuiig aufgcuommen : „Der Anspruch auf Schadensersatz der von einem Aus-
stand betroffenen Zeche wird hinfallig, wenn die Beendigung des Au&standes d»>
dttreh herbeigeführt wurde, dafs die von demselben betroffene Zeche die too der
Belegschaft erhoben gewesenen Forderungen, deren Ablehnung den Antttand vcnn-
lafste, nachtrftgUch volktändig oder tm wesentlichen anerkannt hat . . Soaialpolit
Zentialblalt I, 18.
Die Tarifrertflge iwiichen Aibdtgebcni und ArbatDehmeni.
Konkurren/' /u leiden, denn jeder ihr nicht Angehörige ist in der
I^e sie /u unterbieten. Auf sciten der Arbeitnehmer ist diese
l'nterbietunj» einfach: sie besteht nur darin, mit wenii^^er tainstigen
BediiiL^ungcn vorheb v.w nehmen, als die Koaliertet! tlum.M Auf
seilen der Arbeitgeber i<;t zweierlei Untcrbictun- möglidi cnt-
sj)rechend der Dopi)elst(. llunt; , tlie der Unternehmer eitininiint.
Bietet der Aulscnstehende den Arbeitnehmern ungünstigere Bc-
dingimgen als die Koalierten ihun , so könnte solches ihnen als
Arbeilgebern gleicligültig sein, da sie mit ihren günstigeren Be-
dingungen im Wettbewerb um die Arbeiter nicht den Kürzeren
ziehen würden. Da sie aber als l'nl er nehmer die Arl)eiispro-
duktc abzusetzen haben, so ist ihre Stellung beim Wettbewerb um
den Absatz schlechter, wenn sie infolge der dem Arbeiter günsti-
geren Bedingungen, die sie als Arl)eilgeber gewährt haben, nur mit
weniger Waren oder mit teureren Waren auf dem Absatzmarkt
auftreten können. Bietet der Aufsenstehendc den Arbeitnehmern
günstigere Bedingungen als die Koalierten, so bringt er <liese
in Gefahr weniger Arbeitnehmer zu bekommen als sie wünschen,-)
oder minder geschickte, und Arbeitnehmer, die Nichts eifriger er-
streben , als von den Koalicrlcn die günstigeren Bedingungen zu
erlangen, deren Gewährbarkcit durch den Aulsenstehenden er-
wiesen ist.
Jede Koalition mufs hiernach die Tendenz haben, sich auszu-
breiten. Mit jedem Mitglied, das sie gewinnt, befreit sie sich von
einem sie möglicherweise unterbietenden und dadurch zersetzenden
Konkurrenten, nimmt sie an Stärke zu, auch wenn ihre Kohäsion
nicht Schritt hält. Je umfassender die Koalition, um .so unwider-
stehlicher ist sie beim Abschlufs eines Tarifvertrags und um so wirk-
samer ist der von ihr abgeschlossene.
IV. Die Koalition irgend welcher Arbeitgeber, oder irgend welcher
>) Das kaan nach dem S. 50/51 Gcngtea — «Miiiahiniweiic eine aadi dem
Unterbieteadcii ^sügere Bediagnag tein.
') Wie bei der Konkomiu des indmtsieUeB Westens nad des agmisdiea
Ostens in PMnfsea. — In der Generalversammlung des Arbeitgeberbandes des Bau»
gpwerbes in Berlin (am 21. Juli 1899* kL-igtc ein T-aumeistcr darüber, dafs mehrere
Bnndcsmitglirder den Maurern höheren Lohn z.-ihk-n, als der Tarifvertrag bestimmt,
und hierdurch ihn-n Kollegen die Arbeiter entziehen. Fs wurde sogar .mge-
rtgt, dic.te .Nlebrzahler in Strafe iw nehmen, obwohl doch <icr Tarifvertraor vom
24. Juni 1S99 (äoz. Praxis VIU, 1070; unter 11 den Lohnsatz nicht als maximalen
bestimmt.
Digitized by Google
58
Philipp Lotmftr,
Aibcilnohmer ist im heutigen Recht weder verboten noch strafbar,
hisbcsondcrc sind die Kt)alitioncn von GewcrbetrcibeiKlen, <^f*\vor!)-
lichcn Gehilfen, Gesellen und I'abrikarbcitcrn durcU Gew.O. !j 152
von „allen Verboten und Strafbcstimmun^en" befreit worden.*)
Diesem nej^ativen Verhalten des Rechts gc^^'cnüber. dafs es
nämlich die Koalitionen nicht vcrl)ietet und nicht bestraft, darf man
von Koalitionsfreiheit retlen, indem man an den früheren Zustand
der Verfol^un^' der Koalitionen durch das Recht, an ihre ehemalige
Bestrafung denkt.
Hingegen kann von einem Koalitions recht (im subjektiven
Sinne) nur da die Rede sein, wo das Recht sich gegen die Koalitionen
auch positiv verhält, nämlich ihnen seinen Schutz angedeihen läfst.
Legt man diesen al^mein geltenden Malsstab an, so ist zu sagen,
dafs die in Gew.O. § 152 genannten Arbeitgeber und Arbeitnehmer
ein Koalitionsrecht nicht haben.
Dieses Nichthaben eines Koalitionsrechts beruht nicht darauf,
dafe die Bündnisse der gedachten Arbeitgeber oder Arbeitnehmer
zur Erlangung gunstiger Lohn* und Arbeitsbedingungen es in der
bisherigen Rechtsgeschichtc noch zu keiner gesetzlichen oder ge>
wohnheitsrechtlicben Anerkennung gebracht haben. Sondern der
Mangel des Koalitionsrechts rührt nur daher, dafs im Spezialrecht
jener Personen ihren Koalitionen durch Gesetz der gemeine Rechts*
zwang und damit die Rechtswirkung oder die rechtliche Existenz
a b g e s r o c h e n ist Und zwar ist ihnen diese abgo] > rochen ohne
Ansehen der persönlichen Richtung ihrer Koalitionsthätigkeit
und ohne Ansehen der Mittel zur Erreichung des Koalitionszweckes
(S. 52 — 54). Es ist daher der Koalittonszweck selbst oder
das, was ein Bündnis zur Koalition macht (S, 48), weswegen die
Koalitionen der genannten Personen durch die Gewerbeordnung
aufserhalb des Rechts und einem Stammtisch oder einem Thee-
kranzchen gleich gestellt werden.
Das Koalitionsrecht ist nicht allen Arbeitgebern und nicht allen
Arbeitnehmern abgesprochen, sondern nur den Gewerbetreibenden,
gewerblichen Gehilfen, Gesellen und Fabrikarbeitern, auf die sich
') „Alle Verbote und StrafbcsttminuDgc-n ^^cgcn Gc\verl)etr'-il)L-nr!e, g«werbltche
Gehilfen, üeselleii und Ka])rikarbeiter wegen Vcral>rcdiJtijjen und Vereinigungen zam
ßehuTe der Eflanguug günstiger Lohn- uod Arbeitsbedingungen . . . werden »ufge-
hoben."
Digitized by Google
Die TuifvetUiSge zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern.
der CS ahsprcclicndc sj 152 (ii\v.( ). l)c/ieht.') Hin^a^^cn haben es
— wie im Gcf^'cnsatz zur herkömmlichen Meinung betont werden
nnifs — alle anderen, namentlich die landwirtschaftlichen, die forst-
wirtschaftlichen und die seemännischen Arbeitgeber und Arbeit-
nehmer. Eine Koalition von Landarbeitern, bei Meiduiig einer
Konventionalstrafe nicht unter einem gewissen Lohn einen Arbeits-
vertrag einzugehen (oben S. 10 il ). ist rechtsgültig, während c'w.c '
solche Koalition unter gewerbliclien Gehilfen als KechtsgebilUc un-
möglich ist.
Das den land- und den forstwirtsrhaftlirheti Arbeil n c h m e r n zu-
stehende Koalitionsrecht i.^t in Preulsen dadurch sehr beeinträchtigt,
dafs ihre Verfolgung des Koalitionszweckes <lurrh gewisse Mittel,
«amentlich Verabredung der Arljeitseiiisteliung oder der Arbeits-
verhinderung mit FreiheiläStrafe bedroht ist. Die .\rbeitseinstellung
selbst, ohne V'erabredung, indem einer sie dem anderen nach-
macht, ist ebensowenig mit Strafe bedroht. al> die .\ u f f o r d e r u n g
zur Arbeitseinstellung.-) Die angegebene Beeinträchtigung <les
Koalitionsrechts wird nicht seilen als Koalitionsverbot bezeichnet,
womit Koalition und Strike\ erabredung fälschlich identiti/ieri werden.
Die Aufhebung jener Beeinträchtigung d. h. tier Strafdrohuiig wurde
die davon betroffenen Arbeitnehmer denen der (iew.(). 1; 152 nieht
gleichstellen, weil den letzteren das Ko.ililionsreeht fehlt. Das
Koalitionsrecht der Landarbeiter un Preulsen) wird milder Zunahme
der Wanderarbeiter an Bedeutung gewinnen.
'1 Dif 152. 133 „finden auf die Besitzer und .\rheiter von Bergwerken,
Salinen, Aufl>ereitnnnsaii?t.»ltcn und unterirdisch betriebenen Brücheo oder Gruliea
entsprechende Anwfndung** : Gew.O. J; 154a.
*) Prcufsischcs (Jisetz betr. die Vcrietzurfjoii der Dienstpflichten de«! Gesindes
und der landlichen Arbeiter (vom 24. April 1854; ^ „Ge&inde, Schifl'üknechte,
DicBMfoutc «»der Hudafbeiter der § 2n«>d beseidiDeten Art, weldie die Arbeit-
geber, oder die Obrigkeit su gewissen HendluDgen oder Zngestiadnissen dadurch
M bestinmen soeben, dafi sie die Einstellung der Arbeit oder die Verhindemng
derselben bei einseinen oder mehreren Arbeitgebern vembreden. oder tu einer
solchen Vembredung andere aafibrdem, haben Gefängnisstrafe bis zu einem Jahre
Terwirkt." L'ntcr Schiffsknechten versteht das Gctets auf Stromschiffen im Dienst
•teheode. Nach dem deutschen Binncnschiffahrtsge-.etz § 21 unterstehen jedoch
diese Schiffsknechtc der Gewerbeordnung. al> > .lUvli dem Jj 132 Gew.< ». Wogen «ifs
räumlichen Geltungsgebietes jenes preuf-.iÄchea Gesetzes siehe Zürn. Haiidi) de-,
preufs Gesinderechts (1^95) S. 65. Für aufg'-h<>l>en orkl.irt es dun'.i dxi keichs-
ütrafgesetxbuch Stadthagen in Neue Zeil Will. Jahrgang 1, 392, 393.
Digitized by Google
6o Philipp Lotmmr«
Koalit;(»nsrcc!il wird \ oii der ( lewcrboordniiiiL: den Personen,
denen < c < s ah<| »rieht, tladurrli abi^csprochen, dals sie jede Klage
und Kinrcde aus litr Koalition \'ersar^ :
i; 152 Abs. 2: ..Jedcni reilnehnier <telit der Rucktritt von solchen
W rchiiLTuriL^eti un<l \'t ; aln < «hm-en frei, und es findet aus letzteren
weder Kla;^c norli Kiiutde slatl."
Die Freiheit des Rücktritts wäre mit der RechiN.;ulti'^'kcit der
Koalition vereinbar, da man auch von einer rechlst;ulti^cn Gesell-
sciiaft jeder/eil /urücktrelcn katin. ^)
Dat^'e^^en \<{ die \'( rs.!,4vin^ \ «»n Kla^'e und Kiiufdc ,.aus let/.lercn"
d. h. au> den Verabredun^^en uiul \'< reiniiaui^'en als Staluierun«^' der
V n ^ u 1 1 i k e i t der fraglichen Ki MÜlitjnen zu betrachten. An
dlesci l n..;iiltit,^keit .indert auch iiicht-> die S. 45 erwähnte mittel-
bare p.triielK Anerkennung tler Koalitionen durch das Cicwerbe-
gcrichts^esetz.
Die rn-^nilti<^keit der in Rede stehemlen Koalition i.Nl juristisch
darum bcmcrkenNW < rt. w eil diese Koalition alle I'Jemente eines obli-
gatorischen X ertraLj-» darbietet, nämlich dvu Kftnsens einander haft-
bar zu machen, (K i Ixotisens über den v ic^cnstaiid der Haltung
(die I.eisluiiL;) und das < ik( »nomische Interesse an die->em (iegenstand.
Dieser X'ertraL^ ist nicht aul eine unmögliche Leistung gericinel, er
versttHst nicht gegen ein gesetzliches X'erbot — da vielmehr in
Abs. 1 alle Koalitionsx erböte aufgehoben werden — und er verstölst
endlich nicht gegen die guten Sitten. Sonst wäre es aucli nicht
denkbar, dals die Koalitionen der nicht unter i; 152 fallenden Arbeit-
geber und Arbeitnehmer. /.. R. der Rhe<lcr, der I^andwirtc. der
Matru^eii, der Landarljciti r, dc i hisenbahnar bv :tei . der Heimai bciter,
der I )ieiistboten, der liureaugehilfen von Rechtsanwälten, Notaren
u. s. w. (leltung haben.
Die l. nguklgkeil der Koalitionen der in ( iew.O. i; 152 ge-
nannten Personen ist danach etwas Exzeptionelles, wit^ HreiUano
sagt, eine „juristi.sche .Anomalie". Nach ihm enthält (iew.O. v? 152
Abs. 2 „das n^Cotov (/'frdoc, die ( irundlage aller auf dem Crebictc
des Koalitionswesens bestehenden l'ebclständc. Solange er besteht,
wird an ihr völliges Verschwinden niemals gedacht werden können".*)
') B.G.B. i: 723: die Gesellschafr ni. h? für ( in. ^estillUDtc Zeit clngcgM^COt
80 kann jeder Gesellschafter .sie iccUrrcit kündigen.'* Nach § 737 kann im Gesell-
fchaft&vertrag -a irk<:atn l>c.^timmt sein. cJafs, wenn ein Gevellschafter kündigt« die Ge-
sellschaft unter den ul>rigen fortbrsteheii soll.
*) Brcuianti, Reaktion oder Reform r S. 30.
Digitized by Google
Die Tanlverträge zwiachen Arbeitecbem und Arbcitnehmeni.
Ol
Indessen ist die ira^^liclie Bestimmun«T wiederum in dem am 22. No-
vember 1899 veröffentlichten „sozialdemokratischen Gesetzentwurf
zum Schutze des Koalitionsrechts'* enthalten, was auch darum merk-
würdig ist, weil sie gerade von sozialdemokratischer Seite „lebhaft"
und als eine „schreiende Ungerechtigkeit" bekämpft worden sein
soll.*) Was da und dort in der Litteratur zur Rechtferii-uiig der
fraglichen Bestimmung angeführt worden \si,'-) kann hier unerwähnt
bleiben.
Wohl aber mochten wir noch darauf i'erweisen, dafe nach allen
Anzeichen und unbeschadet der mit dem Klassengegensatz gcgel)enen
Moralverschiedenheit, die auf der Arbeitgebersdte herrschende Moral
& Nichterfiillung der durch die Arbeitgeberkoalition übernommenen
Pflichten ebenso mifebUIigt, als die Arbdtermoral den Bruch einer
Arbeiterkoalition verwirft*) Gegenüber dieser Entschiedenheit des
Moralurteils kann man nicht umhin von einer durch die Koalition
begründeten sittlichen? flicht zu koalitionsgemäfsem Verhalten
sprechen. Fehlt es doch nicht an Beispielen, dafe sich die Genossen
des Pflicbtverletzers nicht darauf beschränken, ihn der Regung seines
Gewissens zu überlasseOp die ausgeblieben, oder anderen stärkeren
Regungen unterlegen ist, sondern dafs sie ihn ihre Mifsbilltgung
fiihlen lassen.*)
Handelt es sich nun bei Erfüllung einer Koalitionspflicht um die
einer sittlichen Pflicht entsprechende Leistung, so kann nach EG.B.
9 814 das Greleistete nicht zurücl^efordert werden ') und es gilt auch
■) Nach dem Bericht von Loeiiing in Schriften des Vereins für äo2i«lpolitik
Bd. 47t 272, 274.
') von Loenin^ a. a. T». S. 273, von S t o i i> b a ( Ii , Die Moral ais Schranke
des Rechtserwerbs und der Rechtüauüubung ( ibyS 49, 54. 53.
') ^ gl* Lotroar, Unmonüischer Vertrag (1S96) S. 96 und siehe z. 8. das
Urteil des SchtfUimgerichu toh Zdidentck in Soziale Piraxis IX, I49«'50, wo es mit
Beuf auf die Kll^r, abtrflanige Arbeitgeber, keifst: „Bei der Strafnimessung bt
berflcksiditigt worden, dafs dar Vorwurf vaehrenhaften Handelns sachlich b^grftndet
war, iaaofem die Privatkllger den Vertrag und damit ihr Ehrenwort gebrochen
haben. Hieran ändert natürlich auch der ^ 1 52 der Gew.O. nichts, da die zivil-
rechtHche Zulässi^keit eines solchen Vertragsbmchs seine moralische Verwerflichkeit
anberührt lafst."
*) Wegcti jener stärkeren Kcgung^n die ihrerseits an und für sich moralisch
lobenswert sein können, s. Jahresbericht der badischen Fabrikinspektion für 1896
S. 12.
^) „Das zum Zwecke der Erfüllung einer Verbindlichkeit Geleistete kann nicht
arfldcgcfocdert werden . . . wenn die Leistung einer sittlichen Pflicht . . . entsprach.**
Digitized by Google
62 rhilipp Lotmar.
flicht als geschenkt. Die von der Gew.O. 152 statuierte Uii^ulti«,'-
keit gewisser Koalitionen steht demnach dem Aufkommen einer
sogenannten natürlichen Verbindlichkeit aus der Koalition nicht im
Wege : diese Annahme steht im Einklang mit der gesetzlichen Ver-
sagun<; von Kla^e und Einrede aus der Koalition. Das Bestehen
einer Naturalobli^^ation bleibt aber ohne Einflufs auf die Unwirksam-
keit einer Konventionalstrafe, die zur Sicherung einer Koalition aus-
gemacht worden ist Es kommt bekanntlich nicht selten vor, vorzüg-
lich auf der Untemehmerseite, dafs die Koalierten (ur den Bruch
der Koalition einander Geldbufsen versprechen.') Ein solches Ver-
sprechen ist nach B.G.B. § 344 ungültig.*) Hierin stehen Arbeit-
geber und Arbeitnehmer gleich. Ob die Leistung der Geldbufse
nicht ihrerseits einer selbständigen sittlichen Pflicht entspricht»
möchten wir nicht entscheiden.*)
Die gesetzliche Bestimmung der Ungültigkeit einer auf den
Bruch der Koalition gesetzten Konventionalstrafe könnte nur da-
durch umgangen werden, dafs das Geldversprechen in Wechsel-
form gegeben, und dieser Wechsel zur Vermeidung der Einrede aus
Wechselordnung Art 82 an einen nicht zur Koalition Gehörigen
indossiert wird.^) Dagegen die Hinterlegung von Wertpapieren als
Kaution (ur die Befolgung von Koalitionsbeschlüssen würde nicht
gültig sein, die Papiere würden jederzeit vom Besteller der Sicher»
heit zurückgefordert werden können, denn die Abrede der Kautions-
leistung bildet einen Teil der Koalitionsabrede, welcher nach Gew.O.
§ 152 Abs. 2 eine Einrede nicht entnommen werden kann.
Die Gewerbeordnung begnügt sich nicht, die Koalitionen, die
sie ablehnt, zivilrechtlich unhaltbar zu machen, indem sie ihnen
Klage und Einrede versagt, sie macht ihrer Ablehnung in § 153
auch die Mittel des Strafrechts dienstbar. Sie stellt nämlich ge-
wisse Handlungen, die jemanden zur Teilnahme an jenen Koalitionen,
zur Erfüllung seiner Koalitionspflichten und zum Verbleiben in der
Koalition bewegen sollen, unter Strafen, und zwar unter Strafen,
') /. H. Cicwerb- Kcrirht I, 85. II, 7S
-) ..Erkl.Tt «las (iesct/ das Versprechen einer Lcistutij^ für unwirksam, so ist
auch die für den Kall der Nichterfüllung des Ver».prechens gctrotVene Vereinbarung
einer Strafe UDwirk<;am, selbst wenn die Parteien die l owirksamkeit des Versprechens
gekannt hnben.^ \ g'^. Heine in Sosinle Praxis VI, 954—956.
^) Loewenfeld in diesem Archiv XIV, 477/S hilt dagegen die Festsetnnc>
der Konventionalstrafe fär salässig und ihre Zahlung nicht für Schenkung.
*) Vgl. Legten, Koalitionsrecht S. 135, 133.
DIgitized by Google
Die Tarifverträge zwischen Arbeitgebern unkl Arbeitnehraera.
63
die nicht oder nur in geringerem Mafs verhängt würden, wenn jene
Handlungen nicht im Interesse der Koalition — ihres Zustande-
kommens, ihrer Ausdehnung, Vollziehung, oder Erhaltung — vor-
genommen würden.
Von den nach Entzug des Rechtszwangs übrig bleibenden
Mitteln, jemanden zum Mitthun, oder Worthalten zu bringen, bleibt
nur der freundliche Zuspruch straffrei. Selbst die oben erwähnte
Umgehung des § 152, die mit Hilfe des Wechselrechts erfolgt, ver-
langt sich, als Drohung einen Wechsel zu b^ben, in den Schlingen
des § 153.
Hat die Koalition der Gewerbeordnung nach § 152 nicht die
Festigkeit eines Rechtsbandes, so wird sie durch § 153 auch noch
faktisch gelockert und leicht löslich gemacht Die zivilrechtliche
Reprobation der Koalition durch § 152 wird vom Strafrecht der
Gewerbeordnung dadurch unterstützt, dafs dieses auch den Surrogaten
des Rechtszwanges den Weg verlegt.
Die solchergestalt von ihrem Spezialrecht preisgegebenen Koa-
litionen finden auch beim allgemeinen Strafrecht keine tfilfe.
Denn wer einen anderen durch körperiichen Zwang, Drohung, Ehr-
verletzung oder Verrufserklärung an der Koalition hindert oder von
der Erfüllung einer Koalitionspflicht abhält, wird wegen solcher
Angriffe auf die Koalition nicht bestraft. Die Koalition, und zwar
hier jede Koalition, ist für das allgemeine Strafrecht kein schutz-
würdiges Rechtsgut
Da nun die Koalitionen der unter Gew.O. § 152 lallenden
Arbeitgeber und Ari>eiter nach Zivilrecht nicht zu Recht bestehen
und vom Strafrecht nicht beschirmt werden, so ist nicht einzusehen,
wie nuin jenen Arbeitgebern und Arbeitern ein Koalitions recht zu-
schreiben kann. Und doch ist unzählige Male von einem „gcsetz-
Hell gewährleisteten Koalitionsrechte", oder von „Mifsbrauch des
Koalitionsrechts" zu lesen, als ob etwas Nichtexistentes mifsbraucht
werden könnte. Giebt es kein Koalitionsrecht für die gedaclUen
Personen, so kann es auch keinen „Angriff auf das Koalitionsrecht",
keine „Zerstörung" eines solchen geben. Weder die Arbeiter, die
einander oder die Arbeitgeber an der Koalition hindern, noch die
Arhci^jeber, die einander oder die Arbeiter an der Koalition hindern,
begehen mit solcher Hindcnmi; (nach positivem Recht) ein Un-
recht Die gesetzliche Koalitionsfreiheit ist nur Unvcrbotenheit
und Straflosigkeit. Die Koalition ist frei, nämlich vogelfrei, und ein
Koalitionsrecht ist erst noch zu schaffen.
Digitized by Google
^ Fhilipp Lotmar,
V. Verabredungen und Vereini^run^^cn der in Gcw.O. § 1 $2 ^c-
nannten Arbeitgeber oder Arbeiter sind nur insoweit ungültig, als
sie die Erlangung günstiger Lohn* und Arbeitsbedingungen bezwecken.
Soweit sie andere Zwecke verfolgen und damit nicht Koalitionen
sind, unterstehen sie dem allgemeinen Rechte der Geselbchaft:
BXj3. §§ 705—740. aCB. § 705 bestimmt: J>urch den Gesell-
schaftsvertrag v'erpflichten sich die Gesellschafter gegenseitig, die
ErreiGhung eines gemeinsamen Zweckes in der durch den
Vertrag bestimmten Weise zu fördern, insbesondere die %'ereinbarten
Beiträge zu leisten/' Wenn der gemeinsame Zweck der Koalitions-
zweck ist, so] entsteht keine Verpflichtung der (unter Gew.O.
§152 fallenden) Kontrahenten. Ein Gesellschaftsvertrag kann zu
mehreren gemeinsamen Zwecken eingegangen werden. Befinden
sich unter denselben neben dem Koalitionszweck andere Zwecke,
wie Krankenunterstützung, Belehrung, Subvention einer Fachzeitung,
litterarische Vertretung der zollpolitischen Interessen der Mitglieder
u. s. w., so ist der Gesellschaftsvertrag gültig. Der Koalitionszweck
steht dem nicht im Wege, er wird vielmehr gewissermafsen durch
die übrigen gedeckt. Indessen sind die Beiträge der Mi^lieder,
soweit sie dem Koalitionszweck dienen und als für diesen Zweck
bestimmt erkennbar sind, nicht einklagbar. Das gilt sowohl
von Geldleistungen als von anderen Leistungen. Ein MittrUccl eines
Art)eitgebcr\ crbandes, das die ihm nach dem Gesellscliaftsvertrag
obliegende Pflicht, seinen Betrieb eiii/.ustellen, seine Arbeiter auszu>
sperren, sobald bei irgend einem Mitglied ein Stnke ausbriciit. nicht
erfüllt, würde deswcfjeii nicht verklagt werden können. Wenn ein
Mitglied einer Gewerkschaft von dieser die Reise- oder Kranken-
unterstützung in Anspruch nimmt, so kann ^^cl^cii diese Iurderung
nicht mit einer Forderung des Beitrat:- /um Strikcfonds aufgerechnet
werden, da die letztere Forderung nicht kla«;h.u i^t. iinnlich mit
einer auf den Koalitions/weck gegründeten Einrede behaftet ist.*)
• Vau \'crl>and von Arbeitgebern oder \ nn \rbeitnehmern. der
es nicht auf einmalige, sondern auf bleilicnde X'erfolgung des Koa»
litionszweckes abf^cschen hat, kann als \ en in bezeichnet werden.
Ein \'ercin, der allein den Koalitionszweck oder auch noch andere
nicht auf einen wirtsch.iftli hen (icNchäft-Iici' t h i^crichtetc Zwecke
verfolgt — z. B. der Zentralverband deutsclier Industrieller, oder
*> B.G.B. § 390: „Eioe Fordenmg, der eiae Eiorede entgegensteht, kmna oidit
att%erechaet werden.**
Digitized by Google
Die Tarifvertriige zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. 6$
der deutsche Buchdnicken-erband, oder die Schreinergewerkschaft,
oder das Gewerkschaftskartell einer Stadt — erlangt Rechts-
fähigkeit durch Eintragung in das Verdnsregtster des zuständigen
Amtsgerichts: § 21. Es braucht kaum gesagt zu werden,
von welcher Bedeutung fiir den Verein der Besitz der Rechtsfähig-
keit ist: er kann seinen Koalitionszweck nachdrücklicher, leichter,
geregelter verfolgen, namentlich mittels Abschlusses von Tarifver-
trägen. „Auf Vereine, die nicht reclitsföhig sinrl, finden die Vor-
schriften über die Gesellschaft Anwcüdun;^." (B.ri.B. § 54.)
Die Eintragung, von der der Erwerb der Rechtsfähigkeit be-
dingt ist, wird damit eingeleitet, dals der Vorstand den Verein zur
Eintragung anmeldet Wird die Anmeldung, weil sie ohne formeile
Mängel ist, zugelassen, so liat sie das Amtsgericht der zuständigen
Verwaltungsbehörde niit/uteilen. Aber bei tlieser kann die Ein-
tragung wegen des K o a Ii t i > > n - z w e c k e s scheitern. Denn nach
B.G.B. § 61 kann die Verwaliungsbehördc ,.L;egen die Eintragung
Einspruch erheben, wenn der Verein nach dem öffentlichen Ver-
einsrecht unerlaubt ist oder \erbotcn werden kann oder wenn er
einen politischen, sozialpolitischen oder religiösen Zweck verfolgt".
Der Sprai h:4c!)raiirh von „sozialpolitisch" steht niohi fest, er
ist so schwankend, dals leicht ' jemand den Koalitionszweck für
einen SOZialpolitisciien erklären wird. Eigentlich ist politisch und
daher auch sozial[)olitisch nur der Zweck, tl- * -n einer .Xcnderung
der Rechtsordnung besteht. Wer günstige Lolm- und .Arbritsbe-
dingungen erstrebt, braucht damit — u ie wir früher gesehen haben
— nicht auf eine Aenderung der Rechtsordnung bedacht zu sein,
es kann ihm auch nur um einen Vertrag zu thun sein.
Den Einspruch zu erheben, oder nicht zu erheben, steht im
Ermessen der zuständigen Verwaltungsbehörde. Sie kann daher,
wenn ein Verein mit Koalition-:/ weck sich zur Eintragung anmeldet,
unterscheiden, ob es ein Arbeitgeber- oder ein .•\rbeiter\'crein ist.
Bei solch difterenticller Be'iandlung würde die N'erwaltun^^sbehorde
insofern im (ieiste der Gesetzgebung handeln, als diese sich der
beruflichen L'nternehmerorganisationen mit grölsier Hingebung und
Sorgfalt anninmit, während man von ihrem Verhältnis zu den
beruflichen Arbeiterorganisationen das (iegentcil sagen kann. Es
braucht hier nur, aulser an Handels- und ( iewerbekanimern, erinnert
zu werden an die freien Innungen, die Zwangsinnungen, die Innungs-
ausschüsse, die Hafidwcrkskanuiicrn und die lnnungs\ erbände (( iew.O.
Tit. \'I), die alle entweder mit juristischer Persönlichkeit ohne weiteres
Archiv für %tji. GeseUgebuag u St»ti>tik. XN , 5
Digitized by Google
66
rhilipp Lotmar,
versehen sind oder sie vom Bundesrat erlaiij^cn können.*) Da die
Innungen nach Gew.O. § 8i b befu^'t sind, ihre Wirksamkeit über
die ihnen durch § 8ia gestellte Aufgabe hinaus ,^uf andere den
Ini)uii;^mitglicdern gemeinsame L^ewerbliche Interessen auszudehnen*',
so können sie auch auf die hrkiti^^uni: ;^ninsti<^'er Lohn- und Arbeits*
l)C(Hngungen bctiacht sein d. h. den Ko.ilitionszweck verfolgen,
Koalitionen \-on Ailicii^tl)ern sein. Als solche sehen wir sie denn
auch vielfach bei Abx liluis von Tarifverträgen licrvortrctcn. —
Im Interesse des T 1 1 i fvcrtrags, dem sie die '^röüten Dienste
leisten, ist im Vorsteliemicii da> X'eihältiiis der Koalitionen zum
Privatrecht erörtert und dabei geflissentlich ab^'e>elu'n wordeti \on
ihren oft behatuleUen He/.iehunj^fcn ZU den partikulären ölTentlichen
V^ereins- und Versammlungsrechten wie zu der Praxis der Ver-
waltuuL^en.-) Da ganz gewöhnlich, wiewohl fälschhch, die Straf-
losigkeit der Koalition oder gar die reirhsrechtliche Straflosigkeit
der Arlx iterausstände mit Koalitionsrcclit identifiziert wird, so schien
es nützlich, der geltenden Kr» hts i dming an der Hand der Reichs-
gesetze nachzugehen. Dies( Ki ' htsordnung besteht für die durch
Gew.O. § 152 betroffenen KuaHtionen in gesetzlicher Hemmung
und .\l)lchnnn'^^ Daher werden diese Koalitionen zusammengehalten
nur durcli den Gewissenszwang, der in den I{inzehien wirkt, und
durch den Zwang des unpositiven Rechts, den die Koaherten i^e^j^en«
einander üben, wobei wir absehen von der Unterkunft, die der
Koalitionszweck in auch zu anderen Zwecken gegründeten Gesell-
Schäften und Vereinen finden mag.
Der niorahsche Zwang ist /war so stark, aber nicht so zuver-
Inssjfr, wie iler Rechtszwani^, und die straflosen Mittel des unpositiven
Rechts sind sehr spärlich, indem schon das nächstlicj^'ende und
br uichbarste, die Drohung, verpönt isl. Da andererseits die
Hinderung der Koalition, wenn sie nur das all^a'mcine Strafgesetz
respektiert, sich völli«; frei entfalten darf, so ist das anhaltende Da-
sein der faktischen Koalitionen nur erklärlich aus einem starken,
durch die gegenwärtige Arbeitsverfassung begründeten und genälirten
Gew.O. §§ 86, looc, 101 Abs. 3, 1030 Abs. i, 104g. Im obigen Text
durfte daToa «bgeseheo werden, dafs den Innungen auch gewisse Arbeitnduner, wie
im Gfofsbetrieb beschxftigte Werluneister, angehören können. Die bei den Innonga*
mitgUedem bescbüftigten Gesellen können swar nicht InniingtmitgUeder sein, nehmen
aber nachGeu o 95 an der Erfüllung der Aufgaben der Innung and ao ihrer Ver^
waltung Teü. sdweit dies durch Gesetz, oder Statut bestiinint ist.
^) S. z. B. Loewenfeld in diesem Archiv XIV, 482 ff.
Digitized by Google
Die Tarifvertiige swiscben Arbeitgebern and Arbeitnebmenu
67
wirtschaftlichen Bedürfnis. Nur eine aus den Tiefen unserer politi«
sehen Ockonomie hervorgehende Triebkraft vermag die legislative
Vernachlässigung und die administrative Behinderung zu übermannen.
Es ist daher keine gewagte X'^crmutung, dafs die Anerkennung,
Regelung und Beschirmung aller Koalitionen durch das positive
Privat- und Strafrecht ihre Häufigkeit, ihre Haltbarkeit und ihre
Wirksamkeit sehr vergröfsern würde; dies mülste folgeweise den
noch andere Zwecke als den Koalitionszweck verfolgenden Arbeiter-
vereinen zugute kommen unfl müfste endlich der Koalitionsthätig-
keit den vornehmen Charakter der Ausübung tinrs Rechts ver-
leihen, während sie sich nun als unsträfliches Unrecht betrachten
lassen mufs.
Vergegenwärtigt man sich zum Abschlufs dieser Erörterung noch
einmal die vielen und ungemein innigen Beziehungen, die zwischen
Koalition und Tarifvertr^ obwalten — oben S. 54 — 57 — so mufs
man einsehen, daCs das ganze Tarifvertragswesen, nämlich Hie Leichtig-
keit der Abschlüsse, der personliche Umiang der Geltung und die
Dauerhaftigkeit der Tarift^erträge, durch jene rechtliche Anerkennung
Regelung und Beschirmung aller Koalitionen eine noch nicht abschätz-
bare Förderung erfahren würden.*)
Man denkt häufig, wenn man von den Koalitionen spricht, zu-
erst an die Zwangsmittel, die die Koalierten wider einander, wider
die sich Ausscbliefsenden und wider die Angehörigen der Gegen-
partei anwenden: allein diese Mittel zum Zweck, die nicht den
Zweck bilden, müssen um so wirksamer sein, und es braucht
darum, indem sie als wirksamere bereit stehen, ihre Anwendung um
so seltener realisiert zu werden, je fester und umfassender die Koa-
litionen, und je geebneter und sicherer damit die Wege sind, auf
denen die koalierten Parteien in ein Vertragsverhältnis zu einander
gelangen können.
^) Vgl. Zabn, Schriften des Vereins ftr Sosblpolitik 45, 3ftl: ,«Die Vonos-
letgung ttr eine alle Intereisen berQdciichtigeBde Ordanng des Bochdruckgewerbes
ist, dafs beide Interesienten gldehmäTsig organittert sind und, am auf der ßerflck-
sichfigung ihrer Interessen Seiten«! der Gegenpartei bestehen zu können, der ver-
eintfn Aktinn ihrer Genossen sicher sind." SipIic auch Soziale Praxis VIIT, 947-
„F.in derart ige-- ^;e(lt-ihlichcs Zusammenwirken v-u Arbeitgebern und Arbeitern ist
nur muglich, wenn beide sich einer guten Urgaui!»alion erfreuen." M. v. Schuir
ebenda Sp. 1325 al. 2.
5*
Digitized by Google
68
Philipp Lotmar.
\1T. Vertrctunj^.
I. Die X'orlrclun.' i-!, \\ ii" <lic KoalitiDii und div \'c! niittlutv_j,
ein I lUf'^mitlcl zur AI »M lili(\r.uiiL; vom I .iril\ crlrä^cii, ii 'lcin sie einige
von <ii'ii früher hclr.u liiclcii S<-hwirri^^kciten djcscr Ab^>chliel6uu«;
vcrniiiithTt otlcr aii> tlrm \\*c<^'e räumt.
\\'ar> tl.is \'crh.ihiu> der X'eilret uiiu; zur Koalition anlangt.
So gilt \on beiden, dals >ie I'.r;>cheinun^'i-n nder Teile der Or;^ani-
sation sind. Die .Vrheitj^eber wie die Arlieiter j^ellen als organisiert,
wenn sie koalieit ^ind, ovler wenn sie eine X'ertretuni; halben.
Die Ko.ililion ihrerseits luhrt re^^ehnäKi- zur \\ rtretun^. indem
zwar flieht der Koalitionszweck eini' X'erlretun^^ erhei:-eht. aber
manche Ki »alitiniislhätiirkeit nielit (»hne X ertretmiLJ \ or-/enoninie[i
werden katni. hl der Re^el I)ildet liie Koalition aueh die (Tru!.d-
l.i-e der W i tret lln'^^ Der Koalitif»n bedart e,«> stets wo die eine
kroutraliierende Partei aus einer .\Kluiieit \'>n Personen besteht,
und die Koalition ist bei der Partei anN-r,.^oIdossen, die nur aus
einet Per>on besteht. DaL^^ei^en die Xettretini;^^ kann auch im
letzteren l'.ill Platz -^Meilen, h» im eii;en .Xrbeit^ebei-. L'nd ilie
Vertretunj^ wird noeh nicht lia« Kirch et t» >rderlich. dals eine Partei
aus einer Mehrheit liesteht: die Mehreren können auch ei;, jeder
in Person handeln. Ks kann z. B. eine Arbeiterkoalition ihre Tarif-
vcrtraj^sproposition jedem fijr sie inbetracht kommenden Arbeili;eber
einzeln machen (S. 31 Anm.), und die Proposition kann von jedem
Arbeitgeber in Person angenommen oder ab;^elehnt werden : hier
findet auf der Arbcitgcberseite trotz der Mehrheit keine Vertre-
tung statt. Ebenso kann eine Mehrheit koaUerter Arbeiter ihre
Vertra^^iu oposition in einem von allen ausgehenden und unterzeich-
neten Schreiben ihrem Arbeitgeber zustellen: auch hier findet trotz
der Mehrheit auf der Arbeiterseite keine Vertretung statt. Wenn
hingegen eine Arbeiterversammlung sich auf einen Tarifvorschlag
einigt und beschliefst, denselben den Arbeitgebern einzeln zu
machen als einen von der Koalition ausgehenden, den die Arbeit*
nehmer jedes Betriebes ihrem Arbeitgeber zu unterbreiten haben,
so findet insofern Vertretung statt, als jede Arbeitnelimergruppe
die ganze Koalition d. h. alle ihre Mitglieder vertritt.
Was das Verhältnis der Vertretung zur Vermittlung be-
trifft, so gilt von beiden im allgemeinen, dafs sie Cakultativ sind;
d. h. der Abschluß eines Tarifvertrags kann ohne Vermittlung
und kann ohne Vertretung stattfinden. Kur wenn die Vermittlung
Die Tarifverträge /wischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern.
69
durch das Gewerbegericht als Einigungsamt erfolgen soll, ist eine
Vertretung der (stets vorhandenen Mehrheit der) Arbeitnehmer
unerlälslich, und eine Vertretung der Arfoei^eber dann geboten, wenn
deren Zahl mehr als drei betr^igt (oben S. 45). Die Vermittlung
femer ist nur von faktischer Bedeutung, indem sie, selber neutral,
<brauf beschränkt ist, die zwei Parteien einander nahe und zur
Einigung zu bringen; der Vermittler kontrahiert nicht Die Ver-
tretung hingegen ist auch von rechtlicher Bedeutung, indem der
Vertreter nicht neutral ist, sondern einer Partei angehört, selber
kontrahiert.
n. Die Vertretung ist entweder eine stehende, oder eine ad hoc
ins Leben gerufene Einrichtung; ersteres ist dann der Fall, wenn
der Vertreter nicht erst för diesen vorhabenden Tarifvertrag, sondern
überhaupt för den Abschlufs von Tarifverträgen da ist Es kann
z. B. eine Koalition, oder Gewerkschaft, ein Verband, oder Verein,
mit einem Vorstand, einer Agitationskommission, einem Tarifaus-
schufs u. dergl. versehen sein, die jede Koalitionsthätigkeit und
etwa auch noch andere gemeinsame Angelegenheiten zu besorgen
und die Koalition bei Eingehung eines Tarifvertrages ohne weiteres
zu vertreten hat') Ks kann aber auch im gegebenen Fall för einen
nun abzuschliefsenden solchen Vertrag eigens eine Vertretung be*
stellt werden.^ Ob der Vertreter ständig ist, oder nicht, ist ohne
Einflufs auf den Bestand des durch ihn geschlossenen Tarifvertrags.
Auch die hinterher erfolgende Auflösung der ständigen Vertretung
(z. B. der Innung), die ihn geschlossen hat, tastet seinen Bestand
nicht an.
Die Vertretung kann beruhen entweder auf der Aktion allein
des einen Kontrahenten des Tarifvertrags, also auf einseitiger
Bestimmung: so schaffen sich gewöhnlich die Koalitionen eine Ver-
') Der nTariCiusflchiifs der deatichcn Bachdrocker" ist nach % 4I dei Boch-
^rsckertarifs ein ständiges „Organ zur Fettietzung des Twifs" und seine Thätigkeit
erstreckt sich nach J; 43 ( vgl. § 49) n. «. „auf die Beratung und Fcstsetzunfj des
Tarif«". Der Tarifvertrag für dns Maurergewrrbc in Berlin vom 24. Juni iSf>o sirht
die Bildung einer stäiidi^'i» Komniis>iion aus 9 Arheitgehen« und 9 Arbeitnehmern
vor. welche .. Acht/ehnerkommis-.ii>n" j;ihrlich im Herbst zusamraenzutretcn und ^dic
Arbeits- und Lohnvcrhaltnisse für die Bauperiode des nächi>ten Jahres fcsUuseUen"
bat. Eine ständige Vertretung ist auch die looung. Wenn sie nicht ila solcli« eim
Gewerbe betreibt und Ar dieses kontrahiert, ist die Innung, die einen Tuifvertrag
schliefst, nur Vertreterin ihrer Mitglieder (der Arbeitgeber).
*) Meistens „Lohnkonmission" genannt.
Digitized by Google
1
I
I
•jO Philipp Lotmar,
tretung. Oder die Vertretung ist eine auf der Vereinbarung
der Kontrahenten beruhende Einrichtung, indem die Kontrahenten
übereingekommen sind, dals einer- oder beiderseits eine Vertretung
statt finden, wie sie beschaflen sein und wie sie zustande kommen
solle. Eine solche Uebereinkunft kann die Tarifvertragsverhand-
tung eröffnen, oder sie kann einen Bestandteil des geschlossenen
Tariivertrags bilden, indem sie letzterenfallü für die Eventualität
sorgt, da(s neue V^crhandlunji^cn erforderlich werden. \'on dieser
letzteren Art sind z. H. <lic Bestimmungen des deutschen Buch»
druckertarifs vom i. Juli 1896 über den „Tarif-.\us>cluifs der
deutschen Buchdrucker".' der eine Wrtretun^^ der Prinzipale und
eine Vertretun;^ der Gehilfen darstelU als der Kontrahenten des
Tarifvertrags. Diese durch den Tarifvertrag^ seihst ^ere-^^elten Ver-
tretungen seiner Kontrahenten haben die Auffalle der Beratung
und Festsetzung tles Tarifs, eine Aufgabe, di( d.idurch gestellt wird,
dafs ein Antrag auf Aenderung des bestehenden Vertrags einkommt,
wodurch eine neue VertragsvcrhandhuiL: angeregt wird.-)
Die einseitig bestimmte und die \ereinbarte Vertretung
unterscheiden sich hauptsächlich dadurch, dafs die erstere, wenn
sie in Funktion tritt, möglicherweise von der Gegenjwrtci als Ver-
tretung nicht anerkannt wird, was die Abschliefsung des Wrtrags
verhindert,-') während bei der vereinbarten Vertretung die Anfech-
tung der Legitimation sich nur auf die Nichteinhaltung der Regeln «
gründen könnte, die man über die Vertretung, z. B. über die Art
ihrer Bestellung vereinbart hat.
Gesetzlich bestimmte Vertretung für den Abschluls von
') Deutscher Buchdruckertarif §§ 40 — ^43, 49 — 53.
Siehe auch oben .S. 21 Anm. 2.
') Oben S. 40. In Petitionen an das fireufsischc Abijenr hictenhaus und an
den deutschen Reichstag vom 2S Mhrr iSuj mai lUfn 6000 kuhrl)i'r;^lt»ut'* <:;'*Itend.
eine Eingabe des Vorstandes des Cn'werkvcrein-. christlicht-r l5. rgarhci''T im ' 'Ijer-
bcrgamtsbczirk Dortmund, welche eine Lohnerhöhung betraf, sei von» \'i'rstan(i des
bergbauUchea Vereins im Ruhrrevier zurückgewiesen worden „mit der Begründung,
d«ft der Geweikverein als «rnichtigt siir Erörlenuig der Lohofnige nicht «agefehea
werden känne". i,Wie in diesem Falle der Gewerkverein, so ist in den Jahren
1890—94 mehrfach der Vorstand des deutsehen Beig* und Htttienarheitenrerbandes
in der gleichen Weise als aicfatbereciitigter Vertreter von den Arbeitgebern turäck-
gewiesen worden." I>aher wird „die gesetzliche Anerkennung der Vertrauensleute
der Arbeiter als zu Unterhandlungen mit den Arbeitgebern In rechtigte Vertretungen"
gefordert. Gluckauf, Deutsche Bergarbeiterzeitung 15. Mai 1897.
Digitized by Google
Die TarifvertrSKe swiscben Arbeitgebern und Arbettnebmem.
Tarifvcrträ^^-n giebt «.> üirht. Die von der Gcw.Ö. 134 Ii als
„ständige Arbcitcraussciiussc" anerkannten Vertrctuii^'on der Arbeit-
nehmer sind vom Gesetz nicht mit der Abschüclsutii^f von Tarifver-
träj^en, sondern mit viel }i;erin^eren Aufjjaben betraut wiidtii:
Gew.O. § 134 b Abs. 3 Satz 2, I34d Abs. 2. Was das t towcrbe-
j^erichtsgesetz § 62 über Zahl und Qualifikation der X'ertreter be-
stimmt, bezieht sich nicht auf jede KinjTehuii;4 eines l arifvertraii^s.
sondern nur auf vuiter Vermittlunj;^ des ( icwerbej^erichts als Knii-
gunjjsamtes erfolgende. Wenn das Gesetz die Formen für d i e e
Art der Eingehung regelt, so mag es dabei auch bestimmen, wie
viele, wie wenige und welcherlei Vertreter das Kirngungsamt zu-
lassen soll oder kann. Wenn es aber bestimmt: „Ob die V^ertreter
für genügend legitimiert zu erachten sind, entscheidet das
Einigungsamt nach freiem Ermes>,en," so kann dies, wo es sich um
Abschlufs eines Tarifvertrags handelt, mehr nicht heilsen als; das
Kinigungsamt entscheuiel narh freiem F.rmes.>en, ob es selber die
Vertreter für genügend legitimiert erachte. Dagegen kann das
Dasein der Legitimation \om Einigungsamt nicht in verbind-
licher Weise bejaht werden. Der Konlraiient, der die Legitima-
tion der X'crtreter des Gegners bestreitet, kann trotz ihrer „ent-
scheidenden" Bejahung durch das Linignngsamt von der h.in-
lassung mit dem in seinen .Augen nicht iei^^itimierten Vertreter
abstehen und so die X'erhandlung vor dein auch \on ihm selbst
angerufenen Einigung>amt vereitehi. Lär>l er sich auf die Verhand-
lung ein und kommt die Einigung zustande, so kann er diese nicht
wegen Mangels der Legitimation der Vertreler anfechten. Anderer-
seits hat das Entscheidungsrecht des Einigungsamtes die Bedeutung,
dafs dieses seine amtliche Thätigkeit versagen kann und mufs, wenn
es die Vertreter nicht für genügend legitimiert erachtet, also die
Legitimation verneint, selbst wenn die davon betroffenen Ver-
treter vom Gegner als legitimiert anerkannt werden.
ni. Die Legitimation der Vertreter ist der Besitz der Vertreter»
eigenschaft. Der Vertreter kann entweder nur diese besitzen d. h.
nur als Vertreter an der Vertragschlielsung Teil nehmen, oder er
besitzt au&er der Vertreterqualitat auch noch die des Selbstkontra-
henten d. h. er gehört dem Kreis der Arbeitgeber oder der Arbeit-
nehmer an, die von der Rechtswirkung des zu schtiefsenden Tarif-
vertrags betroflen werden. Den Besitzer dieser letzteren Eigenschaft
nennt das Gewerfoegerichtsgesetz 62) „Beteiligten" und es be-
stimmt, dafs als Vertreter nur Beteiligte bestellt werden können.
Digitized by Google
Philipp Lotmar,
Man darf \ orauN>t t/t ri. Jais v<tl( lu: ,,Beleili-U-" als unmittelbar am
Aii^ranj <k r Wi liaiulliiiiL: iiUt rrv^irrt. ilifsrll>r mit di !ii <jrol"steni
hifcr tuhrt-n, und auch nicht im L cbercifcr das /u fr/iclciidc Kin-
vcrnchmen k icht preislichen werden. ' i Khenso Iäl>t sich ataichmen,
dals sie als Arbeitnehmer, oiler ArlHitj^'ilicr <o \icl Ke:ntnis des
Betriebes uiul der Braut lie erwürben haben, um die Beiieutun^ der
in den 1 arif\ ertra.' aul/unehrnenden Lcjhn- und Arbeitsbedin./un>'en,
wurdi;,'en zu können, suwolil an sich als in ilircm VerhtUtnis im
einander.
Allein andererseits kann der „beteiligte" X'ertrcler, jedenfalls
der. der Arbeitnehmer ist, in foli;enden Hinsichten un7.ulän;4lich sein.')
bachmann i>t t'r als Arbeiter, nicht al> l nterhändler; <las zu
einem solchen ert« u dt rliche deschit k besitzt er nur /ulallit^, und
schwerlich in ilem Malsr wie ein l)erulsmalsij_;cr \'erlrcter, der
dieses (icschick bei m.uiclici X'crhandluiiL; erwoil)en und erj^robl
hat. Die Bedeutun;^ dit si i ( i.ibe und b.rtahrun^' wird man n<ich
mehr wurdi^^en, wenn man su ii den .Arbeitnehmer in X'erliandlunL^
mit dem Arbeitgeber denkt. Denn diese strhen einander nicht blols
als Parteien eines zu >chlielsenden Kontrakts i;e',^'enübcr, sondern
.*-;nd auch durch eine Kluft getrennt, nuUin BiKlun^s^'an}^ und
W « ihüiabenheit dem Arbeitgeber inrlit seilen ein L ebergewichl an
Form^ewandtheit und .Ansehen verleihen.
hitic zweite Quelle der relativen Schwäche eines Vertreters,
der als Arbeitnehmer bet( ilit^l ist, ist die hiermit leicht v erlrnndene
Abhän<;iLikcit vom Gei^enkontrahenlen. Der .Arbeitnehmer, ma«^ er
noch im Arbeitsverhältnis stehen otler wieder in ein solches zum
(.lej^enkoiUi ahenten oder dessen (icnossen treten sollen, tnuls
fürchten für den Wirteil l)iifsen zu miissen, den er bei der V^er-
haiulluni^r gewonnen hat. Selbst wenn eigentliche „Malsregelung"
unterbleibt, und der Wrtreter ohne weiteres oder gemäfs einer
\'erlraL:sklau>el toben S. 22) seinen .Arbeitnehmerposien behält
oder wiedererhält, fehlt es dem Arbeitgeber nicht an Mitteln und
Cielegenheiten, den .Arbeitnehmer den hrfolg entgelten zu lassen,
den dieser als X'ertretcr über seinen < ie<^nri- c ; rnngen li.ii.
In dritter Hinsicht i.st zu sagen, dals es nicht weinge Betriebe
'1 Siclu' it ili ch (icwerbegeritht III, I32 S und iie bti \V e i ge r t , Arbcits-
Diii hwrisc S. 13 angeführte bteile aus einem Jahresbericht des tabrikinspektors für
VTittTlraiiken.
•) z. B. Gewerbegericht II, 77.
Digitized by Google
Die TarifVertrSge zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern.
73
und Branchen giebt von solcher Koniplizierihtit der l'roduktion,
dais der nur mit einem Teilprozefs vertraute Arbeiter aulser Stande
ist, das Ganze zu übersehen, namentlich nicht alle die Faktoren
und diese flink in Rechnung; zu bringen vermag, die für die Ge-
staltung eines weitverzweigten Akkordlohntarifes malsgebend sind.
Auf diesen Umstand und auf den cr>tangeführteii i^nindet sich die
von den britischen ( iewerkvereinen gemachte Kriahrung, dals der
Vertreter, der als Vertreter Dilettant ist. die hiteressen seiner Partei
weitaus nicht so gut wahrzuneliincD vcimag, als ein bcrufsmäfsiger
Vertreter.') l'^in solrhcr ist vermöge seines im X'ertreterberuf er-
worbenen <lijtlomatischcn Geschicks und ^ei^er umfassenden Kenntnis
aller maisgebendcn Thatsachen den ihm gegenülu rstehenden Hetriebs-
leitern gewa< hsen. Manclu- englische Gewerkvcrcine haben es mit
dem KrfcnU Ulis vollkommenei \'orbereitung auf die schwicriLic Auf-
gäbe eine-> X'erlreters von Arbeitern bei Kingehung \ <>n I arit\ erträgeri
so ertist genonunen, dals sjt^ sich nicht auf die behebi''e IVaxis im
Hetriei) und in der l-'uhrung \ on rnterhandlungen verlassen, sondern
die \'urbereiiung>\\ ege vorschreiben und tlen Besitz der X'^ertrcter-
qualifikation durch ein formliclie^ Examen nachweisen las>en. Das
Buch des Ehepaares W'ebb giebt hierviljer sehr interessante Auf-
schlüsse."") Hin solches Witahren entsj)richt dem laiisi xon farif-
vertragsverhandlungen und der Befleutung, die einem W(»hluber-
legten Tarifvertrag zukommt. i-.iiu deiartige Behandlung dieser
Angelegenheit gewährt aueli einige Sicherheit, dals von der Ver-
tragschlieisung unsachliche Eintlu>se auf beiden Seiteti lerngchalien
Wtulen. .Sie scheint jedoch imr unter der \'oran-set/ung nuiglirh
zu sein, dafs die Arbeitgeber auf die ( ieliendmacluing solcher Kin-
fiü.-se \erzichten und den Standpunkt verlassen haben, der oben
S. 3^>^39 besjirochen worden ist. Hin wohlgeordnete^ Wi tretungs-
wesen kann >ich aber auch nur auf der (irundlage starker, d. h.
begüterter, haltbarer und umf.rssender Koalitionen bilden, und lU reii
Stärke ist an ihre rechtliche .Anerkennung geknüpft. Wie viel auf
die Koalitionen als Grundlage der Vertretung ^^S. 68} ankommt,
') „Bcsondeis in den Gewerben, in denen Stücklohn vorhemcht, bat der Ammteur-
anterhündler aufs Klarste seine Unfahijikcit bewic-^en- -. Wt t>h, Tlieoric und Praxis
der englischen Gewerkvereine I, i6l, ,ln i'.cr H u.] ■•>acl»c hatten die (jrwerhe, in
denen Stuckarl)eit herrscht, notj^nlrungen die Wiclittgkeit crkiiimt. uhcr die Uieu^te
besoldeter Benifssa. hvrrst;indi|icr bei den Verhandlungen über kompluicrtc Preis-
listen Verfugen zu kiitiiien" .1. a. O S. 1S2.
*) Theorie und Praxis der engl. Gewcrkvcreinc I, 174 — 177, 161, ibl, iS2.
Digitized by Google
74
r h i 1 1 {) p L o t ra a r ,
kann den folgenden auf die Praxis des Berliner Gewerbegerichts
als Einigungsamtes gestützten Sätzen entnommen werden, die sich
doch nur auf die gegenwärtigen, rechtlich nicht anerkannten Koa*
Utionen beziehen : „Auf Seiten der Arbeiter bot sich keine Schwierig«
kcit. In allen Fällen war eine anerkannte \''crtrctung der Arbeiter
in Form von Agitations-, Lohn-, Strike-Kommissionen v orhanden,
an die man sich wenden konnte. Hier zeigt sich der Nutzen der
Kampfor^anisationcn der Arbeiter als wesentliches Hilfsmittel für
AufrechterhaltunfT des sozialen Friedens. Da/«- :< i fehlte es, wenn
es sich um gfrössere, ein «ganzes Gewerbe Ix iuhrende Differenzen
handelt, oft an einer anerkannten X'ertretunu,' der \rl)eit e b c r.'" ')
Kine innere Stärkutii^ der .\rbeitnehnier\ ertretuii;^^ kann schon
dadurch l)ewirkt werden, dah den ..Heteili^ften" ein X'ertretcr \on
Beruf zur Seite tritt. Das in solchem Rerufsvet treter licL^endc
SachversländiL,'enelement kann bei der X'ertra^schlieisuni; \ i )r dt !n
Einij^un^samt dadurch zur deltutii,^ ^M-hrarht werden, dai> sirh
Amt durch Zu/iehun;_; von \'ertraucn>iuännern <ier Arbeit^^eljcr und
der Arbeitnehmer ,,erL;;ln/t" ; diese X'crtraucnsmänner liuricn nicht
zu den „Beteiligten " ;4ehören.')
Iicrufs\ erlrctcr wie überhaupt X'ertreter, die nicht zu den Ai -
beitgebern oder Arbeitnehmern der Branche zählen, fiir welche der
Tarifvertrag bestimmt ist, werden von seiner Rechtswirkung nicht
berührt Das ist eine Folge der Vertretereigenschaft. Vertreter
hingegen, die zu den Arbeitgebern oder Arbeitnehmern ^eliören,
iiir welche der Tarifvertrag bestimmt ist (S. 71, III.), werden von seiner
Rechtswirkung betrofTen, trotzdem sie Vertreter sind, weil sie über-
dies Glieder der kontrahierenden Partei sind. Nur in dieser Eigen-
schaft werden sie betroffen. Aber die Rechtswirkung des Tarif-
vertrag ergreift sie doch nur, wenn von derselben die von ihnen
Vertretenen ei^ffen werden. Denn sie kontrahieren nicht für
sich und daneben für die von ihnen Vertretenen, sondern sie kon-
trahieren für die Arbeitsgeber-, oder fiir die Arbeitnehmerpartei und
damit auch für sich selbst, die sie dn rincn oder der anderen
Partei angehören. Soweit dalRi keine RcchLswirkuiiL; für die Partei
entsteht, — wegen Fehlens der Vollmacht und Ausbleibet > der Ge-
nehmigung — werden auch sie von keiner Rechts Wirkung be-
trolfen.
*i Cuno In S i/iale Praxis \' 6;;, (1^4 Wei^i^rt onMi ia (126 a'. 4.
'} GewerbegerichtsgeseU § 03. Gewerbegericht II, 75 unten, 76 al. 3.
Digitized by Google
Die TmrifreitrSge swischen Arbeitgebern und Arbeitadunem.
75
Durch die Vertretung; wird nicht nur das Negative bewirkt,
da(s der Vertreter von den Rechtsfolgen des vertretungsweise vor-
genommenen Geschäfts nicht betroffen wird, sondern auch das
Positive, dafs jene Rechtsfolgen zu Gunsten und zu Lasten des Ver-
tretenen eintreten (B.G.B. § 164), Diese positive Wirksamkeit setzt
aber voraus, dafs der X'ertretene durch eine von ihm abgegebene
Erklärung das (leschäft mit seinen Wirkungen auf sich bcziclio und
damit am vertretungsweise vorzunehmenden oder vorgenommenen
Geschäfte Anteil nehme. Diese seine Teilnahme ist entweder \'oll-
macht (d. h. Bevollmächtigung), oder Genehmigung (B.G.B. § I77)-
Die V^ollmacht geht der Vertretung d. h. der V'ertreterthäligkcit
voraus, die (icnchmigung folgt derselben nach. Die X'ollmacht ist
Hinwirkung auf die V^ertreter t h ä t i g k c i t , l eilnalinu' an der Her-
stellung des T h a t b c s t a n d e s. Der Bevollmächtigende verhilft
dem vcrtrcturjgswcise vorzunehmenden Geschäft /.u einem gewissen
Inhalt^) Der Genehmigende übt keinen Einflufs auf die Herstellung
des Thatiiestandes, er läfet sich das ohne sein Zuthun vorgenommene
Gesdiäft ge&lleni übernimmt nur die ihm durch dasselbe zuge-
dachten Rechtswirkungen, hierin besteht seine Anteilnahme. Voll-
macht und Genehmigung können sich auf dasselbe Geschäft be-
ziehen, d. h. bei dem nämlichen Geschäfte vorkommen. Denn die
Genehmigung kann nicht nur die ganze Vollmacht (wo sie fehlt)
ersetzen, sondern auch sie erganzen, d. h. es kann Vollmacht da
sein und soweit sie nicht reicht, Genehmigung dafiir eintreten.
Hier gründen sich Recht und Pflicht des Vertretenen aus dem Ge*
Schaft teils auf seine Vollmacht teils auf seine Genehmigung.
Soweit der X'ertreter nicht bevollmächtigt ist, ist er nicht im-
stande, die Rechtsfolgen des von ihm vorgenommenen Geschäfts
in der Person des \'ertretenen eintreten zu lassen. Er kann ent-
weder trotz des Mangels oder der Mängel dgt Vollmacht und im
Bewufstscin des Fehlenden auf die Genehmigung des X'ertrcteneti
abstellen. Oder er kann, weil er seine X'ollmacht unzulänglich
findet, die Vertretung einstellen. giin/Hi h oder einstweilen, bis er
die fehlende Vollmacht sich v om \'crtr( u lu-n verschafft hat.
Bei der Abschiieisung von I arifvertragen durch Vertreter hndcn
Es ist rechtlich gleichgültig, dafs hei Tarifvertrigea die von den Arhcitcrn
XU bevollmächtigenden Vertreter (z. B. die I^ihnkornroissinn i oft selber den \V)!!macht-
gebem rlic zu stellende Vertragsproposition und damit die deo Vertrcteru zu er-
teilende \olimacht formulieren und vorlegen.
Diqiti?ed by Google
7^'
rhtlipp Lotmar,
wir diese mitunter mit vollständiger Vollniacht ausgestattet« so
dafs die Rechtsfolgen des Tarifvertrags alsbald eintreten.') Die
solchenfalls nach den Abschlüssen ^cw < >linlicli stattfindenden Ver-
sammlungen der bcteilii;leii Arbeiter, tlie sirh uhcr die Erfolj^'e ihrer
Vertreter aussj^rec licn , liefern mit der Billi^un^ oder Gutlieilsunj^
tles Vertrajjs nichts, das fiir seine Rechtswirksamkeil erforderlich
wäre.') Im (uL^insat/ dazu werdm X'ertreter für den Abschlufs
eines Tarifvertrags luswcilen nur ila/u Ik \<'llinacliti;^'t. einen in alle
Einzelheiten gehetuk ;i W rtra;^^s e n t w u r f mit »1er ( iCL,'cn[)artei zu
\'e''ci'ili.ir(.ii . der erst durch ii,ir!it< -l-rinle AnnaliTne (mittel>t Ah-
stiinnuiiiL,' ) seitens drr \\rtrett t:c-ii /um bindemlen X ertra-^^ erhi'ln ri,
ticunlich _:* n» !imi;4t wird, 'i Nii lit seltt-n kommt es ferner \ur, dai>
die X'olliiia» !it, die den X'ertrtttrn erteilt worden ist, sich l)ei der
N'erhaiulluri'^^ al> uii/ureu liend erwei-<t. Nicht dals <ie nicht alle tlie
I'unkte lictrifft, auf die >ich der l arih ertrag' be/ieheii m>11. aber in-
dem sie der iMitscheidun^^ der \ erireter keinen Si-ichauni Lust,
oder l inen /u enj;i'n Sj>ielraum j^ie!»!. setzt >ie tlic X'ertroter aulser
Stand, nach Ablehnung; ihrer VorschUij^e vom (ie^ner gemachte
VorsohUij;c in bindender Weise zu akzeptieren. Sic vermögen dies
nur unter dem Vorbehalt der Genehmigung; ihrer Partei zu thun,
oder sie können jene Vorschläge blofs ad referendum nehmen, um
sich zur Annahme oder Ablehnung; l>evonmächtigen zu lassen.*)
Beim Tarifvertrag kann zweierlei Genehmigung vor-
kommen, was mit der ihm eigenen Natur des Kollektivvertrags
zusammenhängt. Folgender Unterschied ist bedeutungsvoll.
Der Vertreter, der' keine Vollmacht des Vertretenen besitzt,
kann keinen Tarifvertrag zustande bringen. Der \'on ihm ge-
schlossene Vertrag wird zum wirksamen Tarifvertrag erst durch die
Genehmigung des Vertretenen. Diese Genehmigung ^^cwährt dem
geschlossenen Vertrag Wirkung in der Person des Genehmigenden,
und olme diese würde er kein i arifvertrag scin. \'on dieser
anfänglichen, nämlich den Vertrag erst zum Tarifvertrag
') biehe z. Ii. Soziale l'raxi* IX, IJü al. 8. 9.
Es kann inch votkommen, dafs V«rt*«t«r vo» ihrer Vollmacht keinen Ge-
bmuch machen nnd die entscheidende Ztt»timmun(;serki&rung den Vertretenen Bber-
lassen wolleo, z. B. Soziale Praxis VI, 2S2 al. X
'i S. z. B. Zahn in Schriften des Vereins fUr Sozialpol. Bd. 45, S. 415 al. 2,
418 al. 5, vgl. ricwrr'ir-cri^h*. III. I07.
^ GeLjcrt sulilir BeiM:hräQkuo|{ der VuUmacht Weigert in Gewerbegericht
«
Ul, 5 al. 1, 62 al. 2
Dlgitized by Google
Die TarifTertr&ge nrUch«n Arbeitgebern und Arbeitaebmeni.
77
machenden Genehmigung ist die Genehmigung zu unterscheiden,
die dem schon gültigen Tarifvertrag zu teil wird, nämlich durch
Personen zu teil wird, die zwar beim Abschlufs vertreten waren,
die aber weder zum Abschluls be\'ollmächtiL:t . noch den ohne ihr
Zuthun ah;^a'schlossenen X'ertra;^' durch ihre antän^hche ( ienelmiigunjT
zur (.iüitigkeil geliraclu linben . sondern blols die Rechiswirkuni:;et\
des gültigen Tarifvertrages auf ihre Person beziehen, m. a. \V. ihm
beitreten (S. 31». Dieser lieiuitl x.u einem auch der Kecht^wirkunt:,'
nach ferli^^-n Tarifv crtraif ist eine ^Ienehmi;_fun!^^ deni^ sie verleiht dem
im Namen aber oline Zuthui, dc> Lienehmi^cnden \orgenommenen
Wrlr.ij^r Rechtswirkung für den ( ienehmigendcn. Weil ab<. r dir^c
Genehmigung zu einer Zeil erfolgi , da der l .u ifx ertrag Rcchts-
wirkung schon besitzt, so mag man sie im (iegensatz zu der aa-
länglichen als nachträgliche Genehmigung bezeichnen. Da
jede Genehmigung nachträglich ist im Verhältnis zur Vornahme des
genehmigten Geschäfts, so ist diese „nachträgliche Genehmigung"
etwas Besonderes, dem Tarifvertrag Kigentfimliches.
V. Die Vollmachtserteilung zur Abschliefsung von Tarifverträgen,
sO¥ne deren anfangliche Genehmigung weisen auf Seiten der Ver*
tretenen eine Eigentümlichkeit auf, nicht bei der Arbeitgeber-, wohl
aber bei der Arbeitnehmerpartei.') Die erstere nämlich, wenn sie
nicht blofs aus einer Person besteht, setzt sich doch immer aus
einer kleinen, wenigstens im Verhältnis zur Zahl der Arbeitnehmer
kleinen Zahl von Personen zusammen (S. 33), von Personen, die
einander kennen oder leicht kennen lernen und mit einander ver-
kehren können, so dafs wir hier bestimmte Vollmachtgeber halben:
die Vertreter der Arbeitgeber vertreten bestimmte X'ollmachi-
geben Dies wird durch zahlreiche X'orkommnissc belegt. Wo
immer ein Tarifvertrag vertretungsweise (mit oder ohne X'ermitt-
huv^) abgochlossen wird, finden wir als \'oIlmaehti,'eber auf der
Arbeitgeberseite eine hestinnnte Firma oder I>eslimmle Mrmen,
oder gewisse Arbeitgeberx eriiände (z. B. Deutscher Buchdrucker-
NxTcin), Innungen. Innungs\ erbände n. s. w., die Verzeichnisse ihrer
Mitglieder führen, deren Milghed>.oljaften ctw:i,s namentlich Be-
kanntes, Begrenztes und Stetiges darstellen. Daher läfst sich für
die Arbeitgeberseite auf bestimmte Vollmachtgeber hinweisei;.
Was 7,ur Darlff^ung liiesor Eigentuialii hk<'it im r.ilc;cn>lL-n von der Vull-
marht gesagt wird und der Einfachheit halber nur von ihr gesagt wird, gilt mutati'«
luutaadis ebeuiio von der anfänglichen Genehmigung, ist daher auch auf dic^e zu
beziehen.
78
1' h 1 1 1 }> p L u t m a r ,
Nicht .so auf der Arbeitnehmer.seite. Iiier ist vor allem und
natui^emäls (S. 31) die Zahl der zu Vertretenden unvergleich-
lieh gröfser ; schon wenn nur die Arbeitnehmer eines Betriebes
zur Tarifvertragsverhandlung schreiten, um so mehr wenn es die
Arbeitnehmer mehrerer gleichartiger Betriebe oder aller gleich*
artigen Betriebe eines Bezirkes oder eines lindes thun z. B. die
Böttcher Dresdens, die Klempner Stuttgart«?, die Maurer Berlins
uml scirur l^inj^ehiirij^f . "»Irr die Ruchrlrurker Deutschlands. Hier
liaben wir es aber nicln blols mit einer f^rölseren Zahl zu thun,
deren Glieder darum einander nicht alle kennen, schwerer einander
kennen lernen und mit einander verkehren können, sr.rdern es ist
auch diese ;^^ro|Ve Zahl von unl>estitnintesu in liesiand. Zwar giebt
es für die Arbeitneiitricr der nu-isten Hernie ir,.^'eiul eine Zusanimen-
tassun;^' und bestände diese auch nur in der ^e^'enwärti^en Zuge-
li(>riL;keit /.u einem bestimmten Betriei), Ihäti^'kcit an detii näm-
lichen Hau. in der ;^deichen \\'erk>>t.ilte, (irube u.s. \v. In den darüber
hinau-iH-henden Zusammciil.i^vuii^en, als ( lew erkvcreinen, ( lewerk-
scluiüen , W rbändeti n. d. i.. i>t meist i.ur ein kleiner Teil aller
Rcrufs!^fenc)>sen Nereinii't. .\ber wiiren es auch mehr, so sind es
lUxh nicht alk- und uberdiis bleibt das Schwanken der Zahl be-
stehen. Wie die Arbciinehmerschaft eines Betriebes wechselt durch
Eintritt und Austritt, so und noch mehr ist die Mitgliedschaft von
Arbeitnehmerverbanden beständigen Schwankungen unterworfen;
aufserdem sind von den Mitgliedern die kranken und die wandern»
den verhindert, sich an einer Lohnbewegung zu beteiligen. Und
nun bedenke man , wie es auf selten der Arbeitnehmerpartei zur
Erteilung der Vollmachten an ihre Vertreter für den Abschlufs von
Tarifverträgen zu kommen pflegt.
In den meisten Fällen werden die Vollmachten in öffentlichen
Versammlungen erteilt, indem hier die Vertreter gewählt und ihnen
die Weisungen g^eben werden, ') letzteres nicht selten unter dem
Einflufe der zu Bevollmächtigenden (S. 75 Anm.). Die Vorstände
des Arbeitnehmerverbandes oder seines lokalen Zweiges, für dessen
Ein mnderes Verfahren ward« bei der Wahl der Vertreter der Bochdrocker*
Sehilfea flir die Aafttellang des deatscbeo Bucbdmckertarib von 1. JuU 1896 beob-
achtet. Die Arbeitnehmer wihlteo ibi« Vertreter durch Wählte tteL Die Wahl
wurde durch das Leipziger Gewerbegericht ab Einigungsamt geleitet. El gingoi
über 23000 Wahlzettel ein. Siehe Gewerbqeericht I, 17, 18. Sociale Fmth V,
855. 856-
Digitized by Google
Die larilverträgc zwiitcben Arbeitgebern und ArbeiinebnicrD.
Beruf der Tarifvertrag geschlossen werden soll, gelten nicht ohne
weiteres als bevoUnaachtigt, da sie doch nur die Mitglieder dieses
Verbandes oder seines Zweiges vertreten können, und die Zahl
dieser Mitglieder die Zahl derer, fiir die der Tarifvertrag gelten
soll, nicht erschöpft. Es werden darum Vertreter gewählt, d^e die
Organisierten und die Xlrlitorganisierten zu vertreten haben.
Die Wahl und Bevollmächtigung des Vertreters in ötTciitlicher
Versatiimlung hat den Vorteil, seine Legitimation und Vollmacht
öffentlich bekannt und notorisch zu machen. Ist die Zahl derer,
die am Abschlufs des Tarif\ ertrags durch Bestellung von Vertretern
teilnehmen wollen, grofs, so genügt möglicherweise nicht eine
\\r>arntnlung , es müssen deren mehrere gleichzeitig oder nach
einander abgehallen werden. In diesen und \on dic•^{'tl \'cr>aiiim-
lungen wird die X'ollniacht erteilt. Aber aus welchen Pers(<nen
bestehen diese V^er^animlungen r Sie sind öfienllich, jedermann zu-
gänglich und bieten keine ( iewähr, dals nur Personen an ihnen und
an den Abstinunungen teihiehmen . die zu den beteiligten Berufs-
genoNsen gehören. Die persönliche und die sachliche I'rage wird
bisweilen nicht in tler nämlichen \'ersammlung entschieden, indem
man .sich etwa zunächst über die Vertragsproposition einigt, die
man stellen will, und in einer folgenden Versammlung die Vertreter
wählt, die jene Firoposition zur Annahme bringen sollen. Wer an
der zweiten Abstimmung teilnimmt, eignet sich auch den Beschlufs
der ersten Versammlung an, da die Instruktion für die zu wählen-
den Vertreter hier vor deren Wahl festgestellt ist Es kann aber
einer an der ersten Abstimmung teilnehmen, bei der zweiten fehlen
und umgekehrt Fluktuierend wie der Bestand der Vollmachtgeber
bei der ersten Vollmachtserteilung kann er auch bei einer folgenden
sein. Den Vertretern sei es nicht gelungen die Vertragspropositionen
alle durchzusetzen. Sie holen neue Vollmachten iiir die Annahme
der neuen Vorschläge der Gegenpartei ein. Es besteht aber keinerlei
Gewißheit, dafs die Versammlung oder die Versammlungen, die
die neuen Vollmachten erteilen, aus ebenso vielen und den näm-
lichen Personen bestehen, die die früheren Beschlüsse gefallt liaben.
Vergegenwärtigt man sich, dafs die 1 ahfverhandlung in zahlreichen
Fällen während eines Arbeiterausstandes oder einer .\rbeiteraus-
sperrung gepflogen WMrd, so mufs man nocli deutlicher die l'n be-
st i m ni t Ii e i t d e s \' o 1 1 m a c h t g e b e r s a u f s e i t e n d e r .\ r b e i t -
n e Ii m e r em>ehen: denn derlei Unterbrechungen der Be>chäftigung
mit ihren Folgen venschaffen nicht blofs vielen Arbeitnehmern die
So
Philipp Lotmar.
Zeit, sich als K« »lUiahcincti c'\nv< r.'ii ih tr:i:;s an den \'cr>ati)m-
liin;4eti zu bcioili-'fn , in d-Tit ii die \'« ''trett r L^cwalilt und mit
WcisuniH ii \crschrn werden, MHidein >ie lullten auch zu Abwande-
rungen und Zuwanilerun^'en X 'n Hei uf-^^en^NNcn.
]*"erner katni man niclit .umehimn — au> leiclu denkbaren
Gi unden - dals an den \'er>ammKniL;eii , die ilie X'erUelunj^ l^e-
stellen d. Ii. die X'eitreter wählen ui;d ihnen die X'dllmai'ht erteilen,
alle die Arl ti itnehmer teihiehnieM , die e-> anseht. Aber wären >ic
auch alle da, die M,uner, die Put/er, die l i-clilei. die Former, die
Schneider u. s. w., ilie ir. dem Bezirk arbeiten, lur den der ab/.u-
schlicfscnde Tarifvertrag — I^kaltarif für eine Branche — .>,c lteii
soll, so tn'aucht die Bestellung der Vertretung doch nicht einstimmig
zu geschehen. Freilich die Vertreter, die nicht von allen Berufs-
genossen, und nicht von allen Teilnehmern der sie bestellenden
Versammlungen bevollmächtigt worden sind, haben Vollmacht
nur von denen erhalten, die (tir sie gestimmt d. h. sie gewählt
und ihre Instruktion beschlossen haben. Diese bilden zwar die
Majorität, aber ihr Beschlufs kann rechtlich nicht als BeschluCs aller
gelten: das wäre nur möglich, wenn sie alle Repräsentanten eine.s
von ihnen verschiedenen Ganzen wären, dann könnte der
Beschlufs iler Mehrheit als Wille de> ("i.uizen, dei juristischen Pcrjion
gelten, der für alle Mitglieder, auch die der Minorität an-ehörigen
verbindlich wäre. So etwas trefTen wir auf der Arbeit- eberseite an,
wenn 7. R eine Innun<^, sei es für „einen gemein^ haftlicheii (te-
soliäftsbetriel)" fGew.O. § 81 b Nr. 5), sei es fui die ( ie>.diäftsbe-
triebe ihrer MitL;liodcr einen 1 arif\ ei tra;4 ab>chliclsen ' » und dafür
ihren X'orstand als X'ertreter l)e\ ollniächti-'en will. Hin^^i i^en lu-i
den Arbeitnehmern, deren X'ersammlunL; nicht Mit^liei ler\ ersamm-
lun;^' einer jui iNtischen Persor; ist"'i, k^innte di i M ii<iritätsbesidiluls,
der ilie \ ollmaeht erteilt . bindend tür alle 1 i ilnehmer der \'er-
sammluni; nur sein, wenn man sich im \orau> hierüber ;^a-einij^t
hätte. I'.ine solche EiniL^uuL; pfl^'u;! nii ht \ <»r/ukr)nnnen. \'on *ier
Minderheit ist daher keine X'ollmacht erteilt. '/ Allein wie auf
' i. n .Sij/ial<- Praxi» VIII. 1053 (Berliner Steifiset/eriniiung-.
*) Eiuc Arbeitnehmerori^anisation ist kein-- -uristische Person. Ein Tarlf-
vcrtrai^ kanti d.ilicr juristlsvli iiiclit al* von •;olclier < >r^^.U)i«n(!':>n gf-chloss^n au^^'f
sehen u ertlon - wie i1<t Sc!iii- i>^jinicli <'.<-> Kerliucr Liuigungsatutcs vom (4. Üc-
zember iScji) annimmt (^.Soziale i'raxis iX, 332).
*} Zwei wo vielen Beispielen solclier Majoritätsbeschlüsse bei der uiftas*
licheo Geoehmigung. die der Vollro»chtertetlong für die Wirksamkeit des Vertrags
Digitized by Google
Die Tarifverträge zwischen Arbeitgebern und Arbeitnelimern.
8t
Seiten der Arbeitnehmer und um so mehr je gröfser ihre Zahl ist,
bei der Kontrahierung des Tarifvertrags, bei der Wahl der Ver-'
treter und bei der B^hlufsfassung üt>er deren Uistniktion incertae
peraonae stehen, nämlich die Genossen eines bestimmten Berufs
innerhalb eines gewissen Bezirks, so wird auch bei der Scheidung
in Mehrheit und Minderheit der Individualitat gar nicht nachgefragt
Die Majorität bringt den Tarifvertrag zu stände.
Immerhin ist davon auszugehen, daTs die Angehörigen der
Minderheit, die die Erteilung der Vollmacht oder der anfänglichen
Genehm^ui^ venagt hat, darum vom Tarifvertrag nicht be>
troffen werden, selbst wenn die Vertreter nicht blofs im Namen
der Majorität, sondern schlechthin im Namen aller interessier-
ten Arbeitnehmer kontrahiert haben. Und dieses Nichtbetroffen-
werden gilt auch von denjenigen Berufsgenossen, die in der bevoll-
mächtigenden oder genehmigenden X'ersammlung sich der Ab-
stimmung enthalten , oder an ihr nicht teilgenommen haben , oder
gar nicht teilnehmen konnten, weil sie noch nicht zur Zeit lier Ab-
haltving jener Versammlung, sondern erst später dem Bezirk und
dem Beruf angehört haben, für welchen der Tarifvertrag abgeschlossen
werden sollte.
Aber alle diese unbestimmten Pcr«;onen, von denen keine Voll-
macht oder anfängliche GenclmTigung ausging, werden dennooh von
den Reehtsfolgen des Tarif\ crtrags betrotl'en , w e n u dieser a u c h
in ihrem Namen abgeschlossen und ferner von i h n e i\
genehmigt wurde, nämlich nachträglich genehmigt wurde
(S. 77). Betrachten wir diese zwei Bedingungen nach einander.
VI. Die ganze kollektive \'ertrag>chlicrsung, als welche die Kon-
trahierung einch l anhertiags erscheint, beruht auf der .Möglichkeit
gleicher Lohn- und .Arbeitsbedingungen, einer Gleichheit, welche
generelle Abstufungen (/.. B. in Lohn, Arbeitszeit) nicht ausschlieist.
Dies gilt für Arbeitgeber wie fijr Arbeitnehnu i. hur beide Parteien
bedeutet es eine vorlciliiafie Regelung der Konkurrenz, wenn die
Bedingungen, zu denen jeder Parteiangehörige als Arbeitgeber, oder
glddikoiaait (S. jOrj-j,: Gewerbegericfat III, 107 al. 3 (hier «och der lelteoe Fatl
dms Bcschlmiefl, daft sich die MiaoritKt den Votum der MftjoriUt usterwerfe).
Eine Venaminlai^ der Mannor* und Gnuiiturbeiter b Berlin nimmt nach Inoger
Debatte mit 49 gegen 36 Stimmen eine Resolutinn an, welche besagt: „Die Ver-
sammlung heifst die swischen den Vertretern der Arbeiter und Unternehmer verein-
barten Abmachungen gut " Vorwärts lo. September tS99.
Archiv für Mi. CcMtxgebung u. Sutiuik. XV. 6
Digitized by Google
82
Pbnip|> Lotmiir,
als Arbeitnehmer einen Arbeitsvertrag eingeht, die nämlidien sind,
* wie sie sein Parteigenosse annimmt oder bewilligt Auf diesen
sachlichen Erfolg der Aequalistening jener Bedingungen ist das
Interesse der Kontrahenten elne>; Tarifvertrags gerichtet. Daher ist
die individuelle Hestiinintheit der Personen, der Arbeitgeber wie
der Arbeitnehmer, bei der Eingehung von Tarifvertrii^'en von unter«
geordneter Bedeutung, mehr natürlich noch bei den Arbeitnehmern,
als bei dt !i Arbeitgebern.
V\o die Arbeitnehmer ge\vis>e X'crtreter bevollmächtigen,
oder deren X'erliandliing anfänglich genehnii^en , vertreten doch
die^e nirln ituii\iduell Ix -tininite Tcrsonen und nicht nur jene
X'oIhnaiMitgeber oder Ratihabinten. Sie kontrahieren vielmehr
namens \ on Arbeitnciniiern einer bestimmten K a t «.■ g < > r i e , einer
Kategorie, die tlurch die Zugehf>rigkeit /u beNtininitcn Betrieben,
zu einem bestimmten Beruf, /u einem bestinunten Bezirke gebildet
wird, einer Kategorie deren An';,'r}iörige wechseln. Selbst der für
die .Arbeiter einer bestinunUii I .ibrik geschlossene lant\ertrag soll
nicht blols die geger)v\ artigen d. h. zur Zeit seines .Abschlusses vor-
handenen, sondern auch künftige d. h. später eintretende Arbeiter
betreffen.
Aber auch wenn die Arbeitnehmer direkt d. h. nicht durch
Vertreter kontrahieren, kontrahieren sie nicht blofs (Ur sidi, in
eigenem Namen, sondern auch im \amen von Berufegenossen, die
einmal an ihre Stelle treten, oder neben sie treten, kurz der Kate-
gorie von Arbeitnehmern angehören werden, fiir welche der Tarif»
vertrag bestimmt ist'); und ebenso wenn die Arbeitnehmer über
eine ihnen direkt gemachte Tarifproposition der Arbei^ber ab-
stimmen, und eine Majorität sie annimmt, mufs man sagen, dafs
diese mit ihrem Votum das Interesse aller Beteiligten wahrnehmen
und damit nicht blofs in eigenem Namen, sondern auch als Ver*
tretcrin der Minderheit acceptieren will.
Es sind nach alle dem auf der .Arbeitnehmerseite — von
denkbarer ausdrücklicher Beschränkung abgesehen — noch a n rl e re
Personen als Vertretene in den Tarifvertrag einbezogen als die,
die als Vollmachtgeber, Ratihabenten oder Selbstkontrahenten her>
Wenn Mf Beschlufs der BraDchenversammlung die TarifveitragsproposilioB
von den Arbeitern jfder Werkstatt ihfem Arbeitgeber gemacht wird, so handeln
diese damit nicht b!<.f= in eigenem N'amrn, sondern trertreten auch ihre Kollern,
W02U sie aber bevollmnchtigt worden .sind.
Digitizecfby Google
Dk Tarifvcrtrlge «friMfacs Arbdtgebem vnd Arbcttnchmeni.
«3
\urireten, und diese anderen haben an der Herstellung des That-
bestandes gar nicht ieil{,'enomnien.
Das Nämliche kann auf der Arbeitgeberscite vorkununen.
Freilich wenn die Tarifproposition nur von einem Arbeitgeber aus-
geht, oder nur einem Arbeitgeber gemacht wird, so ist nicht an-
zunehmen, dals dieser eine anders kontrahiere, als blofs für seine
Person. Ebenso wenn die Tarifproposition mehreren Arbeitgebern
einzeln, nicht der Arbettgeberschaft gemacht, und von diesem oder
jenem abgelehnt worden ist : auch hier können nicht die acceptierenden
Arbeitgeber als Vertreter der ablehnenden betrachtet werden.')
Anders dagegen wenn die koalierten Arbeitgeber alle, oder in
ihrer Mehrheit, sei es in Person, sei es durch Vertreter, den ihnen
zusammen gemachten Tarifvorschlag angenommen haben. Hier
sehen wir zwar verhältnismäßig wenige individuell bestimmte Voll-
machtgeber, Ratihabenten , oder Selbstkontrahenten vor uns, und
doch werden diese, im Hinblick auf die zu erzielende Gleichheit
der Lohn- und Arbeitsbedingungen, den Tarifvertrag nicht blofs für
sich selbst, sondern auch namens Ihresgleichen, ihrer Konkurrenten,
geschlossen wissen wollen. Daher fungieren ihre W-rtrctcr wie sie
als Selbstkontrahenten zugleich als Vertreter von Arbeitgebern der
gleichen Kategorie. Diese möglicherweise nicht individuell be-
kannten, oder noch nicht vorhandenen, an der Herstellung des Ver-
tragsthatbestandes nicht beteiligten Arbeitgeber sollen wenigstens
dabei v ertreten sein, auf dafs sie doch naciiträglich den Kontra-
henten des Tarifvertrags gleichgestellt werden können. 'j
') iJic Etuisarbeiter von (imunri haVien nach dem Vorw:Tts vom 8 Oktober
1899 ihren Arbeitgebern gewisse Vorschläge zu eioem Tarifvertrag gemacht Ihre
Hauptforderungen wurden von allen Fabrikanten lurflckgewiesen. Die Arbeiter
littd hlcfwif in einen Strike eingetreten. „NachtrigUcli bat ein Fatarikaat be-
wUligL*' Er kwiB damit mr in eigencni KaoMO fduuidelt liebea. — Von einer
Lohnbewegqng der Bveslaiier Seiler, die gcgenflber allen Hebten aiattftuid, wird
berichtet (Jahresbericht des Gewerlucbaftskartells fOr Bretlaa f. 1S98 S. 18): „Die
meisten Arbeitgeber verpflichteten sich zur Zahlung des geforderten Minimallohnes,
einer derselben auch zur '^'<-rorderien ' Einfuhrung der zehnstündigen Arbeitsscit.*'
lAtSc Arbcitj^rbcr koritr;ihii rtcn nur für ihre Person.
'•) Bei einer Vertragsverhandlung unter den Schuhmachern in Bremen f Aj>ril 1S97)
erklarten die Vertreter der Arbeitgeber, „sie vcrtratcü nur die Innung mit etwa 126
lleistem, die aber nicht sümtlidi Gdailfes beschäftigten-' ^Gewerbegericht II, 75).
Diese letaleren Meister von Alleinbetrieben werden fnr den Fall vertreten» dafs
sie eiaasal Gehilfen bcschSftigen.
6*
Philipp Lotm^r,
Die erörterte Erstreckung des persönlichen Geltungsumfangs
eines Tarif\*ertrags, die auf der Arbeitnehmer- wie auf der Arbeit-
geberseite in der Regel intendiert wird, auch wenn sich der Ver-
treter oder der Selbstkontrahent der Erstreckungsabsicht bei der
Kontiahierung nicht bewulst sein sollte, ist um ihrer Selbstver-
ständlichkeit willen etwas, worauf der Mit kontrahent eingeht,
wenn er ihr nicht widerspricht und sie damit ablehnt*) Allein
durch diesen faktischen HcpTani^' wird die persönliche Aus-
dehnung: des Tarifvertraj/s noch nichi rechtlich vollbracht. Es
ist dazu ein Weiteres erforderlich: die Krfiilluii'^ der zweiten der
S. 8i al. 3 genannten Bedingungen. Denn: MSchiiel'st jemand ohne
VertrctunL^smacht ini N'amen eines atideren einen Vertra<T. so hängt
die Wirksamkeit des \'ertra<,^s für und gcL^en den Vertretenen von
dessen Gene h n\ i u n ab" ( R.( i.B. 1 77
Im Vorstehenden liaben wir i^'csehcn , dais (mit den vorbc-
haltenen Ausnahmen) ein Tarifvertrag; natur .jemals auci» im
Namen von Arbeitsgeber- und \()n Arbeitiiehmer[)t r>onfn abj^ochlossen
wird, die keine \'« jlhiiarht erteilt utid auch nicht antan|^hch genehmigt
haben. Die W irksamkeit des I arif\ ertrags für und gc^cn ihese
Vcrsoncn hängt daher \nn deren (ienehmigung ab, und /.war ihrer
n ac h t r cä g 1 i c h e n t jcnehmigung ; denn es handelt sich um einen
bereits gehenden X'erlrag (oben S. 77).
Diese nachträgliche Genehmigung kann ausdrücklich, fxler still-
schweigend erfolgen. Die ausdrückliche besteht in der Erklärung,
dem Tarifvertrag beitreten zu wollen.^) Die stillschweigende ge-
schieht entweder durch Anschluß an die Koalition von Arbeitgebern,
oder Arbeitnehmern, die den Tarifvertrag i>ro|)onierend, oder accep-
tierend zustande gebracht hat Oder es wird die Genehmigung
stillschweigend dadurch erteilt dals der vertretene Arbei^eber oder
Arbeitnehmer einen Arbeitsvertrs^ eingeht, ohne besondere, von
denen des Tarifvertrags abweichende Bedingungen zu %'ereinbaren.
Wer als solcher Arbeitgeber oder Arbeitnehmer einen Arbeitsvertrag
') Die Selhstverständüchkfit ln-ruht li.ir.iuf. ilaf-i, wie im \ ^)r.l.l^^<•heIu^etl H^'^'^'ß^
wurde, ^dic Imstande ergeben", dats im .Nimca der Beteiligten kontrahiert wird.
Vgl. aCB. § 164 Abs. I.
*) Den deutschen Bncbdruckerterif von 18941 ist ein kuries Formular ftr diese
ErklSraag beigegebeo. — Die PrioxipaU- wie die Gehilfeamilglieder des Tariliuis-
schusses erliefsen wiederholt an die Prinüpale AaCTordeningen som Beitritt zum
deutschen BuchJruckcrtarif. Vgl. deutscher Bucbdruckeriarif nebst Kommentar (i 899}
S. 20 ä. Soziale Praxis IX, 93.
Digitized by Google
Die Taril'vertrigc zwiwbfn Arbeitgebern und Arbeitnehmern,
«5
eingeht, ohne über die Punkte, die das Recht der Privatdisposition
überlassen hat, eigene Abmachungen zu treffen, erklärt damit den
Willen, nach der gemeinen Regel d. h. gleich seinen Berufegenossen
behandelt zu werden. Die gemeine Regel kann durch dispositives
Recht, oder durch einen Tarifvertrag gegeben sein. Wer daher ohne
individuelle Abmachung einen Arbeitsvertrag eingeht, wird seinem
Willen genuUis gleich seinen Berufsgenossen nach dem dispositiven
Recht, oder nach dem auch nuf ihn berechneten Tarifvertrag be-
handelt. Auf seine Kenntnis des dispositiven Rechts kommt es
hierbei anerkanntermalsen nicht an; aber auch nicht auf seine
Kenntnis des Tarifvertrags, denn Dasein und Inhalt desselben stehen
der Kenntnisnahme der Berufsgeno<vsen offen.') Der unter Ver-
mittlung des Gewerbegerichts geschlossene Tarifvertrag wird vom
( icwerl)cgericht öttentlirli bckrinnt gemacht (S. 46). Den 894 Textil-
arbeitern in Kottbus, tlic bei der Abstimmung über die von den
Fabrikanten gemachte Proposition unterlagen, indem diese von 171 1
Kameraden angenommen wurde, was zur Aufhebung des Sirikes
fiihrte, konnte Dasein und Inhalt des Tarifvertrags nicht unV)ckannt
sein. Dieser ist namens der Kottbuser Textilarbeiter geschlossen
wortlen, und wenn die rcht r>iiunnten vorbehaltlos neue Arbeits-
verträge mit den Fabrikanten schliefsen , so genehmigen sie damit
den auch in ihrem Namen geschlossenen Tarifvertrag.'-) Der Setzer,
der vorbehaltlos zum erstenmal in eine tariftreue Buchdruckerei ein-
tritt, d. i. eine solche, die fiir seine dort beschäftigten Berulsgenossen
den deutschen Buchdruckertarif gelten läfst, genehmigt damit still-
schweigend diesen Tarifvertrag.^)
Durch nachträgliche Genehmigung des Tarifvertrags wird der
Genehmigende inbezug auf den Tarifvertrag demjenigen gleich-
gestellt, der zu seinem Abschluls bevollmächtigt oder ihn anfanglich
genehmigt hat Die stillschweigende Genehmigung durch Ein>
^ehung eines Arbeitsvertrags ist wie jede andere Genehmigung frei-
willig. Der Vertretene braucht nicht den Arbeitsvertrag zu den
Bedingungen des Tarifvertrags abzuschlieÜsen. Hierin unterscheidet
er sich von dem Vertretenen, der sich durch Bevollmächtigung,
') wie für dco Absender bei der Güterbeförderung tlurch Eüenbdm die tob
dcreelbcn pnblixieiten Befftidcnuigsbedingnogeo.
«) Vgl. Sodate Pnxi* V, 855.
*) In einem TArifrertng der Zinanerlcate fai Ben vom Sommer 1899 findet
sirh der Satz: ^Die UebcKiDkaBft wird al» Or t8gebr«iic1i erkICrt und bleibt bis
Ende 1903 in Kraft*".
Digitized by Google
86 Philipp Lotmar.
oder anfan<:jliche Genehini|rung am Abüchlul's des Tarilx'crtrags be-
teiligt hat. Dieser ist — wie später zu erörtern — '^\e\ch dem
Selbstkontrahenten an den Tarifvertrag gebunden, kann keinen %'on
demselben abweichenden Arbcilsx'ertra;.; eingehen.
Angesichts dieses Unterschieds ist es wichlifj^ ob einer ^ich
am Abschlufs eines Tarifverlra^rs beleiU^'t hat, oder nur ohnedies
dabei vertreten worden ist. Hei den Arbeit},'ef)ern ist dic^ '^'ewohn-
hch leicht zu entscheiden, weil hier die \'nI]machtL;Ll)er Ii du iduell
hervorzutreten ptlcj^'cn. IVberdies ist l)ei den Arl)eit;4eberf die
ausdrückliche Cicfu-hini nin^ durch Beitritt das (iewöliiiliciie.M
.Anders bei den Arbeitnehmern: ihre Zahl ist viel grölscr und die
Stcllunj; des einzelnen zum ah/uschlietsenden Tarifvertra-^^ wenitjcr
deutlicli erkennbar. Allein die .Arbeitnchtner sind au(^li weni^-er
geneigt, bei Schliefsung ihrer Arbeitsverträge von einem larifvei -
trag abzuweichen. Wenn ihnen ein Tarifvertrag milsbchagt , so
trachten sie ihn aufiuheben, oder abzuändern. —
Unsere Annahme voUmachtloser Vertretung beim AbschluCs
des Tarüvertrags mit der komplementären nachträglichen Genehmi-
gung fulst auf den wirklichen Vorgängen und setzt diese mit der
privatrechtlichen Theorie in Einklang.^) VertragsofTerten in incertam
personam sind, z. E von den öfTentlichen Versteigerungen her, dem
Juristen geläufig. Aber hier bei den Tarifverträgen handelt es sich
nicht um Offerten, sondern um Vereinbarungen, die sich auf in-
') Aber auch die stillbchwcijjcmJc Geaehmigung durch V .;i,ug o.--. Tarifver-
tngs ist hier nichts Seltenes, natueotlich in Druckereien. Km anderes Beispiel ia
Gewerb^ricbt n, 14. Dm Gerieht bemerkt richtig, dafs die Putetea des Ariieit»»
▼ertragt beim Abtcfalafii de« TarifTcrinigs „veder als pektieraade Teile hervor-
getreiea siad, aoch dea verhaadeladea lateresseateo besoadere Volbaadit erteilt
habca". Das ritricht irrt aber, weaa es die I.oss.i^d^ de» Arbeitgeben vom Tarif-
Vettiaf damit rcchtfertigea tn können meint, daf> icr .\rbeitßchcr sich beim Tarif»
vertraj^sächlufs „nicht i>ersönlich verptiicbtet. soodero lediglich da» VOB aadetea
vereinbarte I*rovi.sorium befolgt hat."
') Wenn die Achtzehnerkommission, welche im laritvcrtrag lar da^ Berliner
Baageverbe vom 24. Juni 1899 eingesetzt worden ist, das riamUdie Geltuug:>gebiet
dieses TWifvertmgs bestimmt, iadem sie die Orte aeaat. ianerbalb dcrea er zur
Aaweadaag konunt, so wird damit als feststehend voraasgesetct, dafs jeder Arbeiter
oder Arbeitgel)er, der ia jeaem Bezirk eiaea Banarbeitsverttag abschliebt, iha za d«a
Bedingungen des Tarifvertrags abschlicr<it. auch wenn er für seine Person an der
Eingehung des Tarifvertnij'S nicht Teil genommen hat — Die suhiektive .Aus-
dehnung eines Tarifvertrags andrrt nicfus an seiner Identität tur das Recht (oheu
6. 31 j, ebenso wie ein Verein trutz Eintrittes neuer Mitglieder der nämliche bleibt.
Digitized by Google
Die Taritvcrträgc xwiM:hcn Arbeitgebern und Arbeitnehmern.
87
ccrtae personae erstrecken sollen. Dieses Sei ist, wenn man nicht
vom privatrechtlichen auf das Gebiet des öffentlichen Rechts über-
treten» den Tarifvertrag als lex publica behandeln will, nur erreich-
bar mit der Annahme vc^machtloser Vertretui^ und nachträglicher
Genehmigung.*) Die Erstreckui^ des Tarifvertrags auf Solche, die
ihn nicht kontrahiert haben, ist in England, dem Vaterland des
Tarifvertrags, gebrauchlich. Dieser Gebrauch befriedigt ein prakti-
sches Bedürfnis, ohne sich um die theoretische Begründung zu be-
mühen. „Wenn die vereinigten Unternelimer eines Gewerbes einen
Vertn^ mit einem Gewerkverein abschlielsen, so wird die ^gemein-
same Satzung von den UnternehTncrn gewöhnlich als selbstver-
ständlich auf alle Arbeiter ihrer Fabriken ausgedehnt, einerlei ob
dieselben Mitglieder eines Gewericvereins sind oder nicht." Und
dieser Gcbraurh ist durch den ständi*;cn Sekretär des Handels-
miiii-stcriunis amtlich bcstäti}.^t worden , indem dieser den Schieds-
spruch al);^fab, „dafs die Knt.>cheidungen der lokalen Einigungs-
kammerii, wenn nicht mit einer ausdrücklichen Bescliränkung er-
lassen, in gleicher Weise auf ( ie\s erkvereinler und Xichtgcwerk-
vereinler anzuwenden wären, wenn auch die letzteren keine vertrag-
schiiefsende Taru 1 seien." *)
Unsere Annahme ist aber nicht blols in tlen Thatsachen ge-
gründet, so dals die Erstreckung ohne Rücksicht auf ihre Krsj)riets-
Uchkcit hingenonnner. werden müfste. Vielmehr wird da.^ larit-
vertragswesen durch jene Ordnunc^ in niclit geringem Mafse gefördert.
Wie schon bei der Koalition betont wortlen ist, werden die Halt-
barkeit und die Wirksamkeit des Tarifvertrags durch den persön-
lichen Um£äng seiner Geltung bestimmt Indem nun die vollmacht-
lose Vertretung mit nachträglicher Genehmigung durch die Berufe-
genossen , die es angeht, dem Tarifvertrag auf leichte Weise neue
*) Leber diese ]»rivatrcchtlirhfn Gebote setzt sich der Schiedsspruch df^ Ht-
lincr Kinipungsauitcs hinweg fSozialc Praxis IX, 330 — 334), wenn er den Tarifver-
trag fUr das Mnurcrgewerbe vom 24. Juni 1S99 als voa „allea Axbeitgebcm des
MMirafMrcrbtt in Barlb und dtn Vorortea, gleichviel ob sl« iem Arbditgcfaccbaad*
Mg^hdftn oder akkC . . . gescUfluen** aaiieltt. Alle Amt Aibtilfeber, toweit sie
nicht adbit kontmUeit haben, «raren aUerdiap bei der KoMrabienuff vwtreteo.
Nidu Tcrtratcse Arbeitfeber koDoten ainiiienDehr durch Beitritt Tarlfvertragspartel
gegenüber den Arbeitern werden, und wenn alle Arbeitgeber den Tarifvertrag ab-
gochlosscn hätten, so könote nicht vun Beitritt des einen oder andern die Rede sein.
^) Wcbb, Theorie und Praxis der eagiischen Gewerkvereta« 1, 186.
Digitized by Google
88
Philipp Lotmmr,
Interessenten zufuhrt, wird sein persönlicher Geltungsumiang vcr>
gröfsert.
VIll. Rechtswirkung.
I. Die rechtliche Natur und Wirkung des Tarifvertrags konnten
schon in der bisherigen Erörterung desselben, namentlich seines
Inhalts und seines Abschlusses nicht unberührt bleiben, und ins-
besondere bei der Vertretung war daraufhinzuweisen, dafs von den
Rechtsfolgen des Tarifvertr^s Personen betrofTen werden können,
die an seinem Abschlufs nicht teil genommen haben: damit wurde
der Eintritt von Rechtsfolgen voraus^'csetzt Die nun anzustellende
eigene Untersuchung der rechtlichen Natur und Wirkung des Tarif-
vertrags bildet den Kern einer juristischen Diskussion desselben,
indem alle Kr(»rterung seines Wesens und seines Zustandekommens
nur auf dem Grunde einer ihm zukommenden Rechtswirkung von
juristischem Interesse ist. Hätte man ihm solche Rechtswirkung
iiht^rh.iupt ab/usprechen, so würden die H'L:r<'n/inii^ des Thal-
besiandes inid die Methoden seiner Vcrw irklu liutig zwar nicht
wertlose ( u L^a^nstände litterarischer HchandluriL,' <c\u, aber sie wurden
nicht auf dem IVlde der Jurisprudt ' / lieL;cn, sondern auf dem der
NationalokoiH »nue oder dem der l'f liiik.
Auf diesen Standpunkt hat >icli wiederholt Brentano .^c-tellt,
4ndem er die heutitye Unverhindlichkeit der Tarifverträge anueluiiend
zur Beseitigung jener L nvcrbiadlichkeit und zur Legalisierung dieser
Verträge folgende gesetzgeberische Vorschläge macht. ' ) Vorab
befürwortet er die Aufhebung von Gew.O. >i 152 Abs. 2, weil diese
Bestimmung „eine vertragsmäfsige Verpflichtung zur Beachtung der
von Organisationen von Arbeitgebern und Arbeitern für ihre Mit-
glieder vereinbarten Arbeitsbedingungen unmöglich macht" Allein
die durch Gew.O. § 152 Abs. 2 zivilrechtlich reprobierten Koali-
tionen sind Verträge der Arbeiter mit einander und der Arbeit-
geber mit einander, während die Tarifverträge Verträge von Ar-
beitern mit Arbeitgebern sind. Die Unklagbarkeit der Koalitionen,
aus denen Tarifverträge hervorgehen, hindert zwar die Klage der
Koalierten gegen den Parteigenossen, der den Tarifvertrag ge-
brochen hat, nicht aber auch eine Aktion von Seiten des Gegners.
Und gerade die Rechtswirkui^ unter den Parteien des Tarif-
'( Srhriften .les Vereins lur i.:iiilpaUük Bd. 47, S. I29. äouale Pnxis VIII,
130b und ReaKiiuu ouer Kcfortu.- ^. 60.
Digitized by Google
Die TMifVcmige «wischen Aibdigebem und Arbdtnelimcni.
Vertrags hat man im Auge, wenn man die juristische Frage nach
seiner Wirksamkeit stellt Diese Rechtswirkung ist möglich,
auch wenn die Mehrheit, aus der ein Kontrahent besteht, d. h. die
aus einer Mchrlult von Kontrahenten bestehende Vertragspartei
nicht durch ein Rechtsband zusammengehalten wird Und noch
weniger ist es erforderlich, dais die Mehreren ein einziges Rechts-
subjekt bilden.
Weiler verlangt Brentano, dafs Gew.O. § 105 folgenden zweiten
Absatz erhalte : „Eine solche Utbereinkunft kann nicht blofs zwischen
einzelnen ( iewerbetrcibcndcn inul einzelnen Arbeitern, sondern auch
zwischen einzelnen (gewerbetreibenden oder Korporationen von Ge-
werbetreibenden und Korporationen von Arbeitern rechtsverbindlich
abgeschlossen werden." Allein schon durch den gelletuien § 105
der (lew.O. wird die Rechtswirkung des Tarifxertrags nicht aus-
geschlossen, und es könnte eine Beschränkung der ihm bereits heute
zukommenden Wirksamkeit bedeuten, wenn man eigens die \\ irk-
.samkeit derjenigen Tarifverträge festsetzen würde, an denen eine
Korporation mitgewirkt hat. Aehnliches ist einzuwenden auch
gegen den weiteren Vorschlag, dem § 105 folgenden dritten Absatz
anzulügen: „Wo immer eine Korporation von Arbei^ebem oder
Arbeitern die Arbeitsbedingungen für ihre Mitglieder vereinbart,
haftet das Korporationsvermögen fiir die Erfüllung dieser Arbeits-
bedingungen seitens ihrer einzelnen Mitglieder.^ Die Haftung des
Korporationsvermögens ist nicht brauchbar, wo gar keine Korpoca-
tion kontrahiert hat, und die Kontrahierung durch eine Korporation
ist dem Tarifvertrag nicht wesentlich. Auch giebt es wichtige Be-
Stimmungen von Tarifverträgen, deren Einhaltung durch Haftung
eines Korporationsvermögens schwerlich garantiert wird, namentlich
die Bestimmungen über die Arbeitszeit; es sei denn, dafs bei jener
Haftung an die Sicherung einer Konventionalstrafe gedacht ist.
II. Die rechtliche Natur des Tarifvertrags wird zweifellos durch
die rechtliche Wirkung bestimmt, die sich an ihn knüpft. Indessen
seine rechtliche Natur im allgemeinen und sein V^erhältnis zu anderen
juristischen Thatbeständcn lassen sich schon vor näherem Eingehen
auf die ihm positiv zukommende Rechtswirkung darlegen, teils an
der Hand der f.iktischen X'orgäiige, ilie das Leben bietet, teils durch
X'ergleichunt: niit juristischen Thatbeständcn, deren rechtliche Natur
feststeht, ancrkanrU ist.
Im allgemeis ea besteht die rechtliche Natur des Tarifvertrages
darin, dais er ein privatrechtlicher Vertrag ist. Er unlcrtuilt der
Diqitized by Gc)
90
Philipp Lotmsr,
Veitragsdefinition, die der -angesehenste Zivilist des neunzehnten
Jahrhunderts» Savigny» mit den folgenden Worten gegeben hat:^)
„Vertrag ist die Vereinigung mehrerer zu einer übereinstinunenden
Willenserklärung, wodurch ihre Rechtsi'erhältnisse bestimmt werden.*
Dafs der Tarifvertrag; eine Vereinigung mehrerer zu einer überein-
stimmenden Willenserklärung ist, lehren die bisher vorgeführten
Fälle von Tarifverträ,;M ii zur Genüge. l'nd dals jene Willens-
erldarung die Rechtsveri)ällnis>e ihrer Urheber bestimmen soll, geht
aus dem im III. Abschnitt betrachteten Inh.ill der Tarifverträge her\'or.
Ob und wie es wirklich der Fall ist, wird in der holge näher zu zeigen
sein. Hier mochten wir tiarauf liinwe iM n, dals die Heteiligtei: -selber
ihrem larifvertrag Recht^wirkuiiL: 1 »iMine>>cii, dals sie ihn unter den
Schutz dcN Rechts zu stellen überzeugt und gewillt -) inul keuu-Nw egs
gemeint situl, nur eine moralisch verpflichtende L ebcreinkunft ins
Leben zu rufen. Der Tarif\ertrag untersteht daher den im B.O.B.
§§ 145 — 155, 157 über X'erträge gegebenen Regeln.
Das Obwalten jener Reclit^üborzcugung lälst sich au.> dem Zu»
sanuncntrcffen folgender Kr>cheinungen entnehmen.
Wo Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf den AbschluCs eines
Tarifvertrags ausgehen, finden wir ne auf die Legitimation des
Mijtkontrahenten bedacht Es soll der Beteiligte selbst oder sein
Vertreter sein, dem der Kontrahent sich verpflichtet» oder den der
Kontrahent obligiert Wäre es nur auf B^rründung einer Gewissens-
pflicht abgesehen, deren EHuUung von der Gewissenhaftigkeit allein
abhangt, so brauchte auf die Legitimation weniger Gewicht gelegt
zu werden.*)
*) System des beuliffeii ratschen Rechu III« 309.
^ Abgeseheo dSMrlidl von Mentalreservation, die nach der Ueberxeugung des
Berliner Gewerhegrriclits ..einer grofsen .N!<-lir-':ihl d<-r Konfektionärp^. die den Tarif-
vertrag vom 10 1-fhniar iSt>0 fjehrochon liiib'Mi, zti/u:schrr ib.'n ist. itidftii es ihnen
bei ihren ^.den Arbeitnehmern gemachten Zugctandnissen nur um eine Bcileguag
des ihnen in der Hochsaison schadenbriDgenden Strikes tu tbun gewesen ist. dafs
sie aber nicht beabsichtigtea. an diesen Vereiabaraogen aacb nach der Saison
festmliattea . . Gewcrbegericht I, 78.
*) Bei einer Lohnbewegung der Berliner Puuer wurden die Forderaagcn der
Arbeiter durch den Bund der Bau». Maurer* und SSnunenneister abgelehnt. Knige
seiner Mitglieder tibeigaben die Arbeit einem sogen. Putiermeister (S. 351 mit der
Weisung, jene Ford.Tunjen zu bewilligen. Die Putzer verweigerten aber gleichwuh.
die Arbeit, weil m<- b.schlossen hatten, nur die Unterschrift (]<-< B.»u Herrn oier
Maurermeisters anzuerkennen. Nur mit diesen Arbeitgebern wollten sie den
Digitized by Google
Die Tarifverträge zwiaclK-ii Arbeitgebern und ArbcitnchuR-rn
9^
Ferner wird der Beurkundung de$ Tarifvertrages die Sorg-
< gewidmet, die rechtlich bindenden Verträgen gewidmet zu
werden pflegt, indem namentlich fiir schriftliche Fixierung, Ertei*
lung der Unterschrift u. deigL gesorgt wird*) Hierbei handelt es
ach keineswegs nur um ein historisches Interesse, um Unterstützung
des Gedächtnisses, sondern um nachhalt^c Xxq^fandung des Wortes,
auf dessen Einlösung der Empfänger unter Hinweis auf dio Urkunde
und Handschrift soll dringen können.-) Dem gleichen Zweck dient
mitunter die Aushängung des in Plakatform gebrachten Tarifver-
trages in den Werkstätten der Arbeitgeber, die ihn gochlossen
haben oder ihm beigetreten sind, welche Aushängung bisweilen
durch den Tarifvertrag selbst verabredet wird. Auel» dieses Plakat
nj)pellicrt nicht etwa an das moralische Gefühl, sondern soll seinen
It liali als rechtlich mafsgcbendcn innerhalb der W'erkstatte er-
scheinen lassen, ebenso wie dies bei der in Fabriken ausgehängten
obligatorischen Arbeitsordnung der Fall ist (^Gew.Ü. ^ 134a Abs. I,
134 c Abs. I, I34e Abs. 2).
Ferner entspricht es der in Rede stellenden .^uffassunLJ der
Paciscentcn, dafs sie ihrem durch den Tarifvertrag bei,aüi.deteu
Verhältnis in /ahllosen Fallen im Tarifvertrag selber eine Z e i t -
Tarifrertng abMihlierseii, um sich dcsieD Gdtaog ftr die kAnfkigeo FftUe xu sichern.
(Vorwirtf aa September 1899.)
') ^Vegen des onter Vennittlnog des Einigungsamtes vereinharten Tarifvertragt
(Gewerbeger ich tsgcsetr 66, 68) s. oben S. 46, 48. Kommisstonen der Berliner
Töpfermeister und ihrer Gesellen erscheinen heim Gewerl)e'.;ericht . ^um dort den
von ihnen vereinbartet) Tarif vor dem V'oniuendcn protokollarücb festtuicgea** :
M. V. Schulz, Soziale Praxis IX, 214.
*) Daher wird io Arbeiter TcrMnunlongen darflber bcriditet, daft Arbeitgeber
wu Bewill^iwig der Fordenuig bcrdl aeiea» aber llure Untertchrift venreigeni, be-
•ehloMco, daft auf der Abgabe detaelbea m bertehen »el, nad die Meinung belülmpft,
dalä protblioUarische Fettsetzuagen beider Kommissionen grdlMre GaiMttie bieten,
ab die Unterschriften der einzelnen Unternehtner. (Vorwärts vom 7. u 13. .September
1899. ^ Auch von den Arbeitgebern wird auf die Unterschrift der Arbeitnehmer
Gewicht gelegt. In den TarifvcrliaiKHuußon zwischen dein Verein der Importeure
englischer Kohlen und den Schauerleutcn in Hamburg wurde vert-ml art, dafs die
Arbeiter eiaea R«v«n oaleneichaen. Zar B^rtednag des Verliiugcn^ nach dem
Raveite hatte der Vcftietcr der Aibaitgeber geltend gemacht: ^Eiae Verstiadigung
aiit einer btUeblgea LohakoauBtssioa köaae ihnen die gleiche Sicherheit nicht ge-
wihrea, da «ch die Arbeiter aa die Bcschlflsae dieser Kommisaion auf die Daaer
doch nicht gebundea halten wftrdett.* Protokolle der Hnmbargcr Senatslcommtssioa
(Hamborg 1898) S. 114— iiS^
Digitized by Google
9«
rhHipp Lotnar,
grenze setzen fobm S. iq). Diese W-rtragstlaucr bildet einen
wichtigen Punkt der V'erhandlui^, eiiu-n PuTikt, bei dem eine Kon-
zession zur Erlangung einer besseren I.olinhedinf^unfj, ein bleibender
Dissens zur Vereitelung der Vertra^^^vschliorsuri^' fuhren känn.') Mit
der zeitlichen BcL^^cn/unL^ hängen detaillierte Bestimmungen über
die Kündi<^'un<^ des Tarifvertrags, über seine Revision und
Krneucruiii^ /usammen, wie vie nicht selten in Tarifverträgen anzu-
treffen sind. Alle die>c uikI ähnliche Abreden über die Dauer des
V'ertragsv erhilltinsscs würden wenig Sinn halben, werni die Urheber
dieses X'erhälinis nicht als unter dem Kecht»/\vaiig ^teilend be-
trachten würtlen. Liul auf diesem Stantlpunki -stehen auch die
Ciegner \on Tarifverträjfcii unter den Arbeitern, wenn >ie (he lang-
wierige bindung als I liiiderms bei der Ausnutzung der Konjunktur
\ei klagen.
Der vorstehende Komplex von Erscheinungen ist vollkommen
erklärlich, wenn die Parteien des Tarifvertrags einander rechtlich
verpflichtet zu sein überzeugt sind, während er schwer zu deuten
ist, falls nur auf die beiderseitige Gewissenhaftigkeit gerechnet sein
sollte. Jener Rechtsüberzeugung der Parteien steht nun weder
Form noch Inhalt des Tarifvertrags entgegen, und seine Anerkennung
durch das Recht ist mit der Auflassung der VertragschlteGüenden
im Einklang. Wenn selbst die Annahme, dafs dem Tarifvertrag
Rechtswirkung zukomme, ursprünglich ung^rründet gewesen sein
sollte, so ist sie doch seit dem Aufkommen von Tarifvertragen so
unzahlige Male gemacht und realisiert worden, d. h. es sind so
zahllose Arbeitsvertrage auf Grund von Tarifverträgen, in als unver-
meidlich gedachter X'oU/.ichung derselben geschlossen worden, dais
die Rechtswirksamkeit des Tarifvertrags mindestens als Schöpfung
des Gewohnheitsrechts betrachtet werden mülste. Gewifs sind
auch nicht wenige Fälle xorgekommen, in denen man si(^h über
einen geschlossenen Tarifvertrag hinweggesetzt, ihn auf die eine
oder andere Weise gebrochen hat, ohne dals eine (icgenwirkung
des positiven Rechts eingetreten wäre.-) Aber einmal können diese
Ernerei c B. b« der Tarifverbandlnog der Berliner Weifsgeibcr (Vorwirft
29. Oktober 1899), Letiterei i. B. bei der der Elberfelder und Bemer Ziminerer
(Vorwärt« 11. Juli 1899). Siehe auch Soziale Praxis VlII, 736 und Freese, Fa^
hrik.mtf-n sorgen S. 24 iniit Bezug auf WerksUtttarife) : „Ihre Dauer ist immer 2
Jährt. \\ :i!ir< ii(l tlicser Zeit ^ii tl ^ir keiner willkürlichen Acndcruog OOtcrworfeD.
L>er Ari>eiler kann deshalb SLint- Kraft uii^chind'Tt rutfaltcn."
z. H. B»ckcr.str)kc uiid I'-rüCbu)kuU iu iiiiUii>urg iiu Jahre S. 46, 6S.
Digitized by Google
Die Tarifverträge twi:>chen Arbeitgebern und Arbeitnehmern.
93
Fälle, so zahlreich sie sein mögen, doch verhältnismälslg nur eine
kleine Zahl ausmachen, da es sonst nicht geschehen kSnnte, dafs
immer neue Tarifverträge geschlossen oder Versuche zu ihrem Ab*
schlufs gemacht werden. Und femer g:iebt es genug Belege dafür,
dals der Bruch eines Tarifvertrags von der dadurch benachteiligten
Partei als ein Rechtsbruch, als ein Unrecht empfunden wird.
m. Um nun aber die Behauptung, dals der Tarifv'ertrag ein rechts-
wirksamer Vertrag ist, nicht blofs mit dem objektiven und subjek-
tiven Hergang, sondern auch mit der juristischen Natur seines
Effekts zu begründen, müssen wir seine Rechtswirkung im einzel-
nen aufzeigen. Zu diesem Ende wollen wir ihn, nicht bei der
Gattung Vertrag stehen bleibend, mit gewissen anerkannten
Arten vergleichen und dadurch seine Eigenartigkeit hervortreten
lassen.
Vorab ist leicht einzusehen, dais der Tarifvertrag kein
Arbeitsvertrag ist, so of^ auch beide zusammengeworfen
werden. Unter einem Arbeitsvertrag versteht man allgemein')
einen Vertrag, in dem der eine Kontrahent eine von ihm zu
leistende Arbeit dem anderen Kontrahenten, und dieser dem ersten
einen Entgelt fiir die Arbeit zusagt. Nun kann es freilich vor-
kommen und konrnit nicht selten dann vor, wenn ausständige
Arbeiter Kontrahenten eines Tarifvertrags sind, dafs der Tarifvertrag
unter anderen die Bestimmung enthält, dafs die Ausständigen an
gewissem Tage die Arbeit wieder aufzunehmen haben, dafs sie also
im Tarifvertrag sich zu einer Arbeit anheischig machen. Allein
eine solche Bestimmung ist dem Tarifvertrag nicht wesentlich,
kann ihm fehlen, fehlt ihm oftmals, fehlt ihm immer dann, wenn
die kontrahierenden Arbeiter nirht ausständig sind; und - was
die Hauptsache — eine solche Bestimmung ist transitorisi-h, sie
bezieht sich blofs auf die Gegenwart, auf die obwaltenden Um-
stände und auf bestimmte I'ersonen von Arbeitern. Der Tarifver
trag nach seinem gewöhnlichen, bleibenden und wesentlichen Inhalt,
nach welchem er zu charakterisieren ist, ist kein Arbeitsv ertrag und
zwar darum, weil tlurch ihn niemaiul zur .\rl)cii und niemantl zur
Lohnzahlung verpflichtet wird. Kein Arbeiter, der ihn abschlielst,
*) Der Andrack Arbeitsvertiag ist wicli den GetetMo nicht fremd, wie Gew.O.
i tS3 Abs. 1 Kr. i, Nr. 3, § 124 Kr. 5, § 134 b Abi. t Nr. S» $ (34« Abs. 3. In*
TiIidenTeisichcningsgcaett $113 Abs. i Mr. 3 zeigen. — Hier luuin nicht näher anf
die Definition eingegsngcn werden.
Digitized by Google
94
Philipp l.otmmr.
geschweifte denn einer» der ohne Vollmacht dabei vertreten wird,
ist aus dem Tarifvertrag zur Arbeitsleistung verbunden, so
wenig wie ein Arbeitgeber aus dem Tarifvertrag zur Lohn-
zahlung verbunden ist.*) Tarifverträ^^e werden sehr oft von einer
Mehrheit von Arbeitern mit einer Mehrheit \on Arbeitgebern ge-
schlossen : wenn nun damit für den einzelnen Arbeiter bezw. Arbeit-
geber ein Arbeitsvertrag geschlossen sein sollte, so inüf-te ersicht-
lich sein, welchem Arbeitgeber denn ein bestimmter Arbeiter zur
Arbeit verpflichtet luul an welcher Stätte er die Arbeit /u leisten
habe, ebenso wie ersichtlich sein niüNtc, welcher -\rl)citgeber von
diesem oder jenem Arbeiter eine Arbeitsleistung zu fordern habe.
Man braurlit nur einen beliebigen Tarifvertrag zu betrachten,
um sofort em/usehen. ilats man tlaran keinen Arbeils\ertrag habe.
Durch den Tarifvertrag z. B., der im August 1898 \or dem
Kinigungsamt in l'Vankfurt a. M. für das Maurergewerl)e /ir^tanvic
kam, finden wir \ereinbart die nurinale Arbeitszeit, die Höhe des
Stundenlohnes, die Kinschrinikung der 1 elierarbeil, die Löhfmng der
Ueberstunden , die Abschaffung der Akkordarl)eit, die nicht vom
Arbeitnehmer gewünscht wird, die Lieferung gewisser Werkzeuge
durch den Arbeitgeber, die Lohnzahlungszeit, das Ende der Aibeit
vor Sonn* und Feiertagen, die Ktindigung, den Ausschlufs von Ma(s>
regelungen und die künftige Verhandlung über einen Arbeits-
nachweis. Man sieht ohne weiteres, dafs eine solche Vereinbarung
kein Arbeitsvertrag ist, dafs durch dieselbe nicht wie durch einen
Arbeitsvertrag der Arbeiter A verbunden ist, sich an einem be-
stimmten Tage zu gewisser Stunde beim Arbeitgeber B auf dessen
Bauplatz N zu stellen, um Maurerarbeit zu leisten.
Der Tarifvertrag, der kein Arbeitsvertrag ist, ist auch kein
') Der Tarifvertrag ist kein Arheitivertrag und hat auch niclu dir Hcdcatung
eine« "lolchrn. weiJcr ü1>erh:uipt, uitch im einrrlncn Fall. Unrichtit; ist die pfijen-
Icilijji- I>hau]jtui»g eines siuldcutPchrn ( ;t-\\erl)f.;.Ti<'hf<5 . „Kur jedfr, Kinzfllall hat
aber der Tarif (sc. der Buctidruckcr} lediglich die Bedeutung cinc^ Ark>citsver-
trages..." (Gew«ri>egerie!it IV, 50./ Ei iit «»begreiflich, wie etwas, das Inia
Arbeitsvertrag ist, die Bedeatnog eines soldien haben kann. — Mit Bezug anf Tarif»
Verträge fordert Brentano, Sociale Pnuis VIII, 1367, das Recht »olle anerfcennan,
»was thatsSdilidi ist. ninlich dnfi es die OrganisationeB beider Inttwssenten amd,
welche fÖr ihre Mitglieder den Arbeittrertrag abschlicfscn." Allein den Arbeits-
vertrag. aii<; dem der Kontrahent arbeits- resp. löhnvngspäichtig wirdt schliefst
jedes Mitj^Iifil für sich ab.
*) Gcwerbcgericht IV, 28.
Digitized by Google
Die Tarifverträge zwischen Arbeitgebern und Arbeiinchiurra.
95
»korporativer" oder „kollektiver Arbeitsvertrag", obwohl er mit*
unter so genannt wird.') Mit „kollektivem Arbeitsvertrag" könnte
man bezeichnen die Mehrheit von Arbeitsverträgen, die gleichzeitig
von mehreren Arbeitnehmern mit einem Arbeitgeber,*) oder von
mehreren Arbeitgebern mit einem Arbeitnehmer abgeschlossen
werden.*) Was aber, wie der Tarifvertrag, kein Arbeitsvertrag ist,
kann nicht mit einem auf eine Mehrheit von Arbeitsverträgen
passenden Xamen bezeichnet werden.
Der Tarifvertrag ist ferner kein Vorvertrag zu einem
Arbeitsvertrag oder zu Arbeitsverträ<::en, überhaupt kein Vorvertrag
im rezipierten Sinne des Wortes. Durch den Vorvertrag wird ein
Kontrahent oder werden beide Kontrahenten zum Abschluls des
HauptvertraLrs verbunden, hier eines Arbeitsvertrags. Xun kann es
zwar vorkoiTimen. dals im Zusammenhang mit rarifvertragsvcrliatid-
Uui^'cn Arbeiter entlassen werilcn — indem z. R. solche Entlassung
.■\nlais einer Arbeitsniederlegung wurde, oder im Gefolge der
letzteren stattfand — und <laraufhin in den Tarifvertrag eine Be-
.stimmung aufgenommen wird , ilafs die Kntlasscncn wieder anzu-
stellen sind, welche Bcstimnuing einen X'urvertrag zu Arbeitsv erträgen
mit tlen Entlassenen bildet. Allein eine solche Be>linnnung ist
nur transitorischcr Natur 8.212), betriftt nur individuell bestinnnte
Arbeiter, die entlassenen, hat nichts mit dem wesentlichen Inhalt
des Tarifvertrags zu thun, regelt nicht die Bedingungen künftiger
Arbeitsverträge. Abgesehen von solcher acddenteller Bestimmung
wird durdi den Tarifvertrag iiir keine Partei desselben eine Ver-
bindlichkeit zur Eingehung von Arbeitsverträgen begründet Der
am Tarifvertrag teil nehmende Arbeitgeber ist hierin rechtlich
völlig frei, er braucht weder die mit ihm kontrahierenden noch
andere vom Tarift^ertrag betroffene Arbeiter anzustellen, und er hat
dazu auch keinen Anlafs, lalls es ihm an Gelegenheit zur Beschäf-
tigung fehlt Und andererseits sind die am Tarifvertrag teilnehmen-
den Arbeiter rechtlich völlig frei, ihre Arbeitskraft ihrem Mitkontra-
henten oder einem Dritten oder niemanden zur VeHUgung ZU stellen.
Es hat keine Partei mit dem Tarifvertrag einen Vorvertrag zu Arbeits-
*) t, B. von Cree fo Wold Zeitschrift fftr SocialwisseniclMft II, 356, 357.
/.. B. ein Landwirt dingt aaf einmal 50 Schnitter, ein Gastwirt Mitigiert
30 Mosiker. die ein Orchester bilden.
^) z. B. 6 junge Kauflcute engagieren einen Lehrer der Bnchhaltang oder der
italienischen Sprache, zehn Mädchen einen Tanxlchrer.
Digitized by Google
96
Philipp Lotmar,
vertragen geschlossen: das Ob der Eingehung von Arbeitsverträgen
bleibt den in Betracht kommenden Personen nach wie vor anheim-
gestellt. Eine Aehnlichkeit zwischen dem Tarifvertrag und einem
solchen \'orvertrafj l)fstelit nur darin, dafs sich beide auf künftige
Arbeitsverträge beziehen.*)
Der Tarifvertrag ist endlich kein Vergleich» obwohl er
nicht selten so genannt wird, besonders dann so genannt wird,
wenn er unter Vermittlung fies Kinigungsamtes geschlossen \v<irilen
ist. Da er kein V^ergteich ist , kann es irre fuhren , ihn fälsrhlich
Vergleich zu nennen. Was ein Wrgleich ist, und was danach allein
Veigleich heifsen sollte, ist durch LeL^alii' !!! ition fc-^t .gesetzt. Denn
CS sagt B.Ci.B. § 779: ,Jiin Vertrag,', durch den iler Streit oder die
Unpewifsheit der Parteien über ein Rechtsverhältnis im We^e ^jejj;en-
seitigen NachL,fchcn< beseitij^t wird (\'er<^leich) . . Der \'er<^lcich hat
danarh mit dem I arifvertrag gemein, dafs er wie dit-ser ein Wrtra^ i^t.
Ferner dals das „geij«'nsfiti*^e Naclv^eben ' der Parteien, das dem \'er-
gleich wesentlich ist, auch beim Tarifvertrag vorkommen kann
(oben S. 46 Anm. 4). Aber es ist dem Tarifvertrag nicht wcst ntlich.
h.in l arifx ertrai^ kann ohne «^etTenseitiges Nachgeben abgeschlossen
werden, indem die \on l inor Partei der anderen gemachte \'ertrag>-
proposition \'on der letzteren ohne weiieio a!i;;enommen. oder in-
dem auch von der letzteren eine oder die andere Bestimmung pro-
poniert und von der ersteren angenommen wird, ohne dafs man
von Nachgiebigkeit der ersteren reden könnte. Femer bildet das
gegenseitige Nachgeben einen Bestandteil des Vergleichs, es
wird im Vergleich nachgegeben, die Parteien vergleichen sich, in-
dem sie einander nachgeben, inrährend ein beim Tarifk'ertrag etwa
vorkommendes Nachgeben nicht einen Bestandteil desselben,
sondern nur eine fektische Voraussetzung seines Zustande-
kommens ausmacht; ebenso wie beim Kauf oder bei der Miete ein
gegenseitiges Nachgeben vorkommen kann, ohne dafs darum ein
Vergleich gegeben ist Der Tarif\'ertrag unterscheidet sich vom
Vergleich weiter noch dadurch, dals der Vergleich den ,3treit oder
') Weit abwegiger ist e«. wenn das Berliner Geverbegericht in einem Tarif»
vertrag erbticlct „lediglich eine Offerte der Arbeitgeber ao die Arbeitaehmer, aaf
Gnindlage der darin aufgenommenen Be<itimmungi*n fernerhin und bis auf weiteres
Arbeitsverträge SChliefsen zu wollen." So «pricllt sicli ! i> r.erii-ht ulier einen Tarif-
vertrag aus. der vor dem F.inipiins«3mt „von einer Anzahl Vertreter der .A!-H<MtgL'l>er.
Arbeitnehmer und Zwischeomcister vereinbart worden" ist. Gewerbegericht Ii, I4.
Digitized by Google
Ok Tarifverträge zwischen Arbeitgebern udU Arbcitnchatem.
97
die Ungewißheit der Farteien über ein Rechtsverhältnis beseitigt",
was vom TarifV'ertrag nicht gesagt werden kann. Ein Streit oder
eine Ungewifsheit, die sollen beseitigt werden können, müssen vor-
handen sein. Ein Tarifvertrag aber kann geschlossen werden,
ohne dafs ein Streit oder eine Ungewifsheit vorhanden ist; er kann
im tiefeten Frieden und bei voller Gewifsheit geschlossen werden.
Femer beziehen ach der Streit der Parteien über ein Rechtsver-
hältnis wie die Ungewifeheit der Parteien über ein Rechtsverhältnis
auf ein bestehendes oder von den Parteien als bestehend vorge*
Stentes Rechtsverhältnis, indem dessen Dasein, Ursprunp^, Umfeng,
Dauer, Kr«j^icbigk«t U. S. w, streiti|^ oder ungewifs sind. Davon ist
beim Tarifvertrag nicht die Rede, jedenfalls wenn wir von transi-
torischen, accidentellen Bestimmungen ah>ehcn und, wie natürlich,
den i^lcibcnden, regelmärsigen, wesentlichen Inhalt im Auge haben,
fiicr haben es die Kontrahenten nicht mit einem bestehenden
Rechtsverhältnis, sondern mit künftigen zu thun. nämlich mit den-
jenigen, die durch künftig al)/.usrhlicrsendc Arbcit>vcrträi;r begründet
werden. Durch den X'erglcich wie durch den lariherirag wird
zwischen den Paeisceiiteti ein Rerhls\ erhältnis i^cschalVcn : wäiireiid
dieses aber bei dem X'ergleich eines ist , das an die Stelle eines
bisher bestrittenen oder unj^ewis^en tritt, ist es beim Tanfvertrn;:;
ein neues, dem weder ein bestrittenes, nocii ein ungewisses voraus-
gegangen zu sein braucht.
IV, Wir haben bisher das Xegative gesehen, dafs der Tarifvertrag
weder für einen Arbeitsvertrag, noch für einen X'orvertrag zu einem
solchen, noch für einen \'ergleich gehalten werden kann. Welche
rechtliche Natur er positiv besitzt, wäre leichter zu sagen, wenn
nicht die mebten Tarifverträge von kompliziertem Inhalt wären.
Indessen lassen sich die hieraus folgenden Schwierigkeiten mit Hilfe
eines Unterschiedes in den Bestimmungen des Tarifvertrags über-
winden, den wir oben wahrgenommen haben. Es hat sich (unter
,Jnhalt* S. 38/29) gezeigt, dafs die meisten und die für Arbeitgeber
und Arbeiter wichtigsten Bestimmungen die Lohn- und Arbeits-
bedingungen im engeren Sinn sind. Nach einigen von ihnen
führt er den Namen Tarifvertrag, sie alle und sie allein machen
seinen wesentlichen Inhalt aus. Ihnen stehen diejenigen gegen-
über, die /war oft in larifv ertragen vorkommen, aber dem Farif-
vertra;^ fehlen können, während sie sich nur zur Aufnahme in einen
solchen und nicht in einen Arbeitsvertrag eignen. Da sie nur in
diesem Negativen übereinkommen und einer gemeinsamen Rechts-
ArduT fiir ans. GcMtigcbwog n. Suti»iik. XV. 7
Digitized by Google
^ Philipp (.Otmar,
Wirkung entraten, so können sie fiir die rechtliche Chatakterbierung
des Tarifvertrags nicht marsgebend sein, wenn auch ihre Wirkung
nicht über«^'aii«,'en worden darf.
Dil? rechtliche Natur iK s Tarifvertrags besteht nun darin, dais
die dem Tarifvertrag wie dem Arbeitsvertrag wesentlichen Lohn- und
Arbcitsbedinguni^'en (i. e. S.) im Tarif\ ertrag generell vereinbart
werden. Sie könnten von jedem Arl)eii*^ober untl Arbeitnehmer,
der am Abschlms des I arifvertraj^s teil ;^'enoininen oder den Tarif-
vertrag^ «^enehniij^'t hat, im A r l) e i t s \ ertra;^ (al>o sj^e/iell) fest^a-^rt/t
werdet! . wie die:> in T-rman^a-lun,.' eines Tarifvertrai^s '^'emMiehen
müfste. Allein ihre Testset/nn^ im 1 a r i f \ erira;^' hat die lol^e —
und d'es ist eine R e c Ii t s \v i r k u n des Tarifvertrages —
dats sie auch nliiu ^"est^et/.l^l^ im Arbeits\ ertra»; dennoch als Be-
standteile des-elbeii liir das Arl>eits\ erhaltnis L^elten, tlals sie von
den I'aciscenteii tks Arbeitsv ertra^'s in diesen nicht erst auf^a'nommcn
zu werden brauchen, weil sie kraft des für ilie r.icisccnten \erbind-
lichen Tarifvertrags ohne weiteres Bestandteile ihres Arbeits-
vertrages sind. Bei Ein^ahun^^ des Arbeitsvertrags stehen der
Arbeitgeber und der Arbeitnehmer sich einzeln oder als Ein*
zelne ^agenüber, sie haben aber nicht erst das zwischen ihnen zu
begründende Arbeitsverhältnis in Ansehung der Ix>hn- und Arbeits*
bedingungen zu regeln, \nelmehr empfangt ohne ihr Zuthun dieses
Arbeitsverhältnis eine durch den Tarifvertrag gegebene R^lung,
also eine R^elung, die von einer Mehrheit von Arbeitnehmern
oder auch von Arbeitgebern bereits getroffen worden ist
Der Tarifvertrag erweist sich insoweit erstens als ein Mittel,
den Abschlufs von Arbeitsverträgen zu erleichtern oder ab-
zukürzen, indem er den Urhebern des Arbeitsvertra-^s eine Rege-
lung erspart, die ein iiir allemal im voraus (ur die Arbeitsverträge
der Beteiligten getroffen worden ist; zweitens als ein Mittel die
Arbeitsverträge einander gleich zu machen, indem er auch ohne
hierauf gerichtete Bemühung der Urheber von Arbeitsverträgen
diesen Arbeitsverträgen die gleichen Lohn- und Arbeitsbedingungen
einverleibt; und drittens als ein Mittel, dem Arl>eitsvertrag zweier
Individuen auch ohne ihr Zuthun diejenige Regelung /u geben,
über welche sich ihre 1' e r u f s g e n o s s e n geeinigt haben, also dals
ilie Kunlrahenten > Ariicilsvertrags sicher sein können, bei ihrem
individuellen Vertrag mit den Interessen in Einklang geblieben zu
sein, ilie von den am Tarifvertrag beteiligten Mehrheiten ver-
Digitized by Google
«
Die Tarifvertrige zwischen ArbeHgebern und Arbeitnebfncm.
99
treten w iir(U t) - Interessen ilcr einen Partei gegenüber der anderen
und *,fcmciiisainc Interessen «1er P.'irteiL;enosscn.
Die erste, im \'orstehenderi bespruohcne Rechtswirkuii^f des •
Tarifvertrags ist all|^cmein anerkannt. Was die Lohnbedin^uni^ im
engsten Sinn anlangt, nämlich die Hohe des Lohnes oder der
Vergütung, so verfugt für Dienstverträge, Wericverträge und Mäkler-
verträge das B,G3, in §§ 612, 633, 653: Jst die Höhe der Ver-
gütung nicht bestimmt, so ist bei dem Bestehen einer Taxe die
taxmäfsige Vergütung (der taxmäfsige Lohn) . ; . als vereinbart
anzusehen". Die Worte „ist nicht bestimmt'' besagen, dafe von den
Parteien im Vertrag nicht bestimmt worden ist Das ,3cstehen
einer Taxe" kann auch von Privatpersonen und von ihrer Verein-
barung herrühren d. h. ein Tari^ertrag von Arbeitgebern und
Arbeitern sein.
Die ang^ebene Rechtswirkung des Tarifvertrags läfst ihn
als einen Vertrag sui generis erscheinen. Aber nicht darin
ist er liinsichtlich jener Wirkung eigenartig, daCs er die Personen,
für die er gilt, nicht zu Leistungen einander verbindhch macht,
da derartiges auch bei anderen X'erträgen vorkommt (z. R. bei
manchem Vergleich, der Kigentumsübertragung, dem Erlafsvertrag) ;
wolil aber darin, dafs er jene Wirkung nicht ohne weiteres, sondern
nur unter der VoraussetzuiiL: des Absclilusses eines anderen Ver-
trags, nämlich eines Arbeitsvertrags zu aulseru vermag.
V. Indessen konmil dem Tarifvertrag nuch eine zw e i t e K e c h t s -
wirk Ving zu, tlic ilui anderen X'erträgen annähert. Mit dem Ab-
;>chlui,s (»der der Genelunigung eines Tarifvertrags sagen die hier-
durch von ihm betroffenen Arbeiter und Arbeitgeber (die Parteien)
einander zu, im Geltungsbereich des Tarifvertrags
keinen Arbeitsvertrag a b z u s c h 1 i e 1 s e n zu anderen Be-
dingungen als den im Tarifvertrag festgesetzten. Aus
dieser Zusage werden die Parteien gegen einander berechtigt und
verpflichtet, in jenem Bezirk nur tarifmäfsige Arbeitsverträge abzu-
schliefsen. Dies kann jedoch unbedingt nur gelten, wenn ein vom
Tariivertr^ betroffener Arbeitgeber mit ebensolchem Arbdter kon*
trabiert. Gegenüber dem aufsen stehenden Arbeitgeber hat der dem
Tarifvertrag unterworfene Arbeiter kein Recht auf Einhaltung des
Tarifvertrags. Er kann daher auch nicht aus dem Tarifvertrag ver-
pflichtet sein, mit dem aulsenstehenden Arbeitgeber nur zu den
tariimätsigen Bedingungen zu kontrahieren und sich jeden ab-
* weichenden Arbeitskontrakts mit demselben zu enthalten, sondern
7*
uiyiii^od by Google
lOO
i' h 1 1 1 p p L u l m a r ,
blo(s dazu, einen solchen Kontrakt nur dann zu schUe(sen, wenn er
die tarifmafsigen Bedingungen nicht zu erlangen vermag. Das Näm-
liche gilt vom Arbeitgeber, der dem Tarifvertrag unterworfen ist,
gegenüber einem aulsenstehenden Arbeiter.
An der Erfüllung jener Zusage oder an der Einhaltung des
Tarifvertrags d. h. daran, dafs nur tarifmäfsige Arbeitsverträge ge-
schlössen werden, ist nicht blols eine Partei des Tarifvertrag:!
^c^^enübcr der anderen interessiert — sonst würden sie den
Tarifvertrag nicht mit einander abge^^-hIo^^en haben — , sondern
auch jeder Partci^ren osse gegenüber cJem anderen —
sonst würden sie sich nicht zu gemeinsimer N'ertr.ii^vrlilielVun;^ auf
die gleichen Bedinf(un^en ziisammcn^elhan haben. Die l'anei-
j^enossen haben an der Krfülluii;^ der Zu>^aL,'e durrli ihre .\n;^ehöri;j^eii
darum ein Iiitere-'>e, weil dir Nichlerkilluii'' ihre eiL'ene I'ositioti
vcrschleciitern katm.') Man kann danach sa.4<, r!, dals ilas \'er>j)rec!iei:,
welche> im Farifx ertra<^' eiiu* Partei der anderen giebl, aucli im
Hinbhck auf the I*arteiL.'enf>Nsen j^^-^^eben werde.
Indem eine Partei des I arit\ ertra^s der anderen /u>,«L;t. beim
Abschlufs von .Arbeils\ erträi;en nirht /.um Nachteil der ( le^ei.partei
oder der ei^a-nen Partei'^eno'^seii ander e al> tarifmiilsi^re liedini^vni'jen
festzusetzen, wird durch den 1 aritvei Ir.i^ die linitanh.dtunL^ >olcher
Benachteiligungen erstrebt. Es fragt sich nun, durch welche Mittel
des Rechts dieses Streben unterstützt, wie die aus der Zusage
entspringende Berechtigung und Verpflichtung; vom Recht anerkannt,
und das zweiseitige Interesse an der Zusage sanktioniert wird.
VL Wir kommen hiermit zu dem wichtigsten Punkt einer juris-
tischen Untersuchung des Tarifvertrags: dem Bruch des Tarife
Vertrags und der vom Recht gewährten Reaktion gegen
denselben. Dabei haben wir uns nicht mit denjenigen Vorkehrungen
zu befassen, die von den Parteien selber für den Fall der Verletzung
des Tarifvertrags vereinbart werden, so wichtig sie für die Aufrecht*
erhaltung des Tarifvertrags sein mögen.*) Wohl aber hat di«
'i Man denke /. B. an den .\rl>eii^cher . der unter dem Tariic /ah!' mtd da-
durch beim Absatz die anderen Arbeitgeber lioukurreruunfahig wacht, uder an Ar-
b«itaebiiier,*dte sich anf längere als die ttfifmüfsige Arbeitssett cidImscd. und hier»
durch andere Arbeiter ftberflüssig madien.
*) 2. B. Intenrentifm einer Kommission, oder des Einiguogsamtes, Koaventionat*
strafen, Endigung des Arl>eitsverhältiiisses. Der beim Eade des Kiefelder Weber-
ttrikcs (1898) geschlossene TarifVertnK bestimmt: ,,Sollte diese Vereinbarung von
einer Seite nicht volbtändig gehaltea werden, so ist auch die andere i>eite nicht
Digitized by Google
Die 'l'arifverträg«" zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. iQi
folgende Betrachtung seiner Verletzung auch auf diejenigen Be-
stimmungen des Tarifvertrags Rucksicht zu nehmen, die nicht Lohn-
und Arbeitsbedingungen i. e. S. sind.
Von einem TariArertragsbruch kann nur dann die Rede sein,
wenn eine Handlung oder Unterlassung begangen wird, die mit
einer Bestimmung des Tarifvertrags in Widerspruch steht Hier
wird die S. 27/28 et^ähnte Verschiedenheit seiner Bestimmungen
bedeutend. Soweit nämlicli der Tarifvertrag Spielraum ^'cwährt»
kann ein innerhalb dieses Spielraumes sich bewegendes Verhalten
nicht vertragsbrüchig sein, so wenig wie eines, über das der Tarif-
Vertr^ gar nichts bestimmt, oder das er besonderem Abkommen
überlassen hat. ') Inbezug auf l' eberarbeit z. B. l^cgnügi n sich
Tarifverträge bisweilen mit (Irr Bestimmung, sie sei möglichst zu
vermeiden. Der drut'^clu' Huchdruckertarif 34 verbietet einen
Lohnabzug für bt in ta:_;r, die durch Landesge.setz, die Behörde oder
tlen Prinzijml angcorchict sind, behält aber die Feststellung der so
als Feiertage geltenden Tagt ..im Zwoifcisfalle der Allgemeinheit
der l'riiizipale und der Gehilfen . bzw. einer von beiden Teilen
niederzu-^t tzenden Kommission eines jeden Druckortes vor." Die Be-
stimmung der Lohngrölse ist in vielen rarifverträgcn nicht eine abso-
lute, sondern in gewissen Grenzen eingeschlossen, namentlich durch
Angabe eines Minimums getroffen. Wo letzteres der Fall ist, kann
dieses Minimum im Arbeitsvertrag nach oben beliebig überschritten
werden.*) Der deutsche Buchdrudcertarif bestinmit im § 33 „das
mdir dmn gebnndea.*' Jatwedbcricht der HamdeUaanmer in Kiefeld flir 1898
S. 13. — AbecMhen wird hier mach von den nicht vereinhuten Renictioncn wider
den Tbrifbnicb, welche von einer Partei gegen die andere, oder gegen die eigenen
PteteigenOHCD geübt werden, wie Androhung von Kundigong. femer Arbeiuniedcr^
Iqptng. Sperre, Versagung der Strikeunterstützung tt. dg].
') z. B Sem der „Kohntarif der Kohlenarbeiter von Hamborg utii Ahona"
vom 15. Juli 1896 il'rotokoUe «ler Senatskommission [iSoS] S. ^So, 3S11 am Eii<le
fest: _Bei unvorhergesehenen hälleu, als Trimmen, Bunkcriiühlcngebeu aus dt-m
SchitTsraum, verschiedene Sorten Kohlen im Kaum, schlechte Abmaltung derselben,
Wuser im Rum de. etc. hnt der Aibdter aid» mit dem Arbeitgeber m einigen."
, ") Die «niadie Angabe des Lohnntus ist im Zweifel als Minimum m ht-
trachten. Xach dem Tarif vertn^ der Berliner Manrer Tom 24. Jnni 1899 bctilgt
der StnndenliAn bis 31. Desembcr 1899 60 Pf . In einem Schreiben des Aibeit-
geberbondes an die Lohnkommission der Manrer (Vorwirts 8. Dezember 1899) wird
Beschwerde daru))er geführt, dafs ^1725 Maurer höheren als den im Vertrage mit
den Arbeitgebern festgesetzten LiOhn bekommen". Die Beschwerde wire g^rtndet»
102
Philipp i.utiuAt,
Minimum des gewissen Geldes", sieht aber Fälle vor, in denen
unter dieses Minimum herabgegangen werden kann. Durch die
Gewährung eines Spielraumes für individuelle Festsetzung wird die
Gelegenheit zur .Verletzung des Tarifvertr^s verringert, kann aber
auch der Vorteil der kollekti\'en \^ertragschlie(sung beeinträchtigt
werden.')
Für die rechtliche Reaktion gCi^cn die \'erlctzung eines Tarif-
vertrags kommt es niclu hlols auf das Dasein, sondern auch auf
die Art des Tarifvertraj^sbruclis an. Flu- wir auf diesen Artunter-
schied eii^ehen, möchten w ir auf eine Reihe von \'ertrags\'erletzun{;en
verweisen, die nur scheinbar Verletzun^^en eines Tarifvertratj»
sind. Es kommt nicht selten vor, dals der tarif^emäls e s c h 1 o - ^ • n c
Arl)eils vertrag nicht tarif|^emäls vollzn^Ten wird. Dies kam m i
vorkommen bei den Lohn- und Arbeil.sbedin*;un^en i. e. .S.. welche
ipso jure den .Arbeits\ ei tiä;^eii der \om Tarifvertrag betroftenen
Kontrahenten an;:^ehören. liier hat es nun den Anschein, al> ob
die Niclilrnih.iitunt; dieser Lohn- und Arl)eit^!)edint^uni[cii, die elr;eii
Bruch de> Arbeit svertrai;^ bildet, indiicki /.u>;leirh ein liruch des
1" a r i f vertra<:s Wtu c. l iul e> wurden dann tlie mamiiciilaltiijcn
Rechtsmittel, welche i;cj^cn .•^olchc \'erlct/ungen des Arbeits\'ertrags
zu Gebote stehen^ ebenso viele Rechtsmittel zum Schutz des Tarif-
vertrags sein. Allein die juristische Betrachtung kann das Zusammen-
fallen von Arbeitsvertragsbruch und Tarifx'ertragsbruch nicht aner-
kennen, und wenngleich der Laie unterschiedslos von einem Arbeit-
geber sagen mag, dafs dieser „den Tarif nicht zahle", so mufs sie
unterscheiden zwischen der Weigerung, den tarifmäßigen Lohn zu»
zusagen und dann auch zu gewähren, und der Weigerung, den
tarifmäfsigen Lohn aus dem tarifmäfsigen Arbeitsvertrag zu zahlen. *)
wcaa jener Lohnwtr alt Bfaxinnim getneiat gewtatu wire. S. wich Sotuile Praxis
IX, 333: Schiedsspnich Nr. 4. — Kommcu. wie in der Konfektion. Stucke rer-
schiedener Qualität vor. und werden nur die Stucke ßcrin^-.tcr Qualität tnriTit-rt. so
ist ilaini! rcclitlich der t'rfolg nicht ausgo^chl-i^^'^:. iaf«. der Lohn für die besseren
Qualltaten üich nicht oder nur wenig über das Miotmum erbebt; Oewcrbegericht II,
16. 1. 78, 79.
*) Jahccsberichte der Gewerbe -Aa&ichubeamten in Württemberg für 1898
S. I85, ia6.
*) I. B. betrigt nach dem Tnrifvertrag (tir das Berlioer Maurergewerbc (vom
24. Juni 1899), Toa Ausaalmien nbgeseheo, der Stundenlohn in der Zeit vom
1. Janunr bis 30. September 1900 6a'.f T'f. F.u. .\rbei^ber stellt einen (nicht zu
den Ausnahmen gehurigen) Maurer an mit der Erklärung, er werde ihm 60 Pf. per
Digiii.iüu by Google
Die Tarifverträge £wi>chen Arbeitgebern und Arbettnehmem.
Sobald ein Arbeits^'srtra^' /.u den durch den TarUvertrag ge^^ctzten
Lohn* und Arbeitsbedingungen abgeschlossen worden ist, was auch
ohne Besugnahme auf den Tarifvertrag geschehen kann und überall
der Fall ist, wo vom Tarifvertrag nicht abgewichen wird, alsobald
ist der Tari^rertn^ vollzogen. Seine Vollziehung, soweit er
Lohn- und Arbeitsbedingungen enthalt, besteht in nichts Anderem
als in Abschlüssen von Arbeitsvertragen, denen er einen gewissen
Inhalt erteilt Ein vollzogener Tarifvertrag kann aber nicht mehr
gebrochen werden.
Bei der Festsetzung der Lohn- und Arbeitsbedingungen im
Tarifvertrag haben freilich seine Teilnehmer auch die Realisierung
dieser Bedingungen im Auge. Aber diese Realisierung soll auf
Grund von Arbeitsverträgen erfolgen, denen sich jene Bedingungen
als Bestandteile einführen. Die Versagung ihrer Realisierung, nach»
dem sie einmal i^dingungen eines Arbeitsvertrags geworden sind,
kann nur von einer Partei des gesrHlo<-senen Arbeitsvcrlrar^s aus-
gehen und Bruch nur eines Arbeitsvertrags sein, nur als solcher
mit Klagen bekämpft werden. ')
Man kann zugeben, dafs derartige Arbeitsvertragsbrüche, wenn
sie sich fiäufen, den Bestand des Tarifvcrtrai;s bedrohen — denn
ein Tarifv ertrag, dessen Lohn- und Arbcitsbcthiuj^uiv^^en zwar in einen
Arbeitsvertrag eingclicn, aber dann nicht ein;^'clialleii werden, führt
nur noch eine theoretische Existenz ~ dies darf aber die l'heorie
nicht abhalten, die V^orstellung eines indirekten Bruchs de^ Tarif-
vertrags als irrig abzulciinen.
VTI. Der wirkliche, nicht blofs scheinbare Bruch eines Tarif-
vertrags, dem wir uns nun zuwenden, ist von dreierlei Art.
Die erste besteht darin, da(s eine von den Bestimmungen
des Tarifvertr^rs nicht befolgt wird, die gar nicht in den Arbeits-
vertrag eingehen, die daher nur im weiteren Sinn zu den Lohn- und
Arbeitsbedinguf^en gezahlt werden können und den Tarifvertrag
nicht rechtlich charakterisieren (oben S. 28/29). Wenn z. B. Arbeiter
im Tarifvertrag die Wiederaufnahme der Arbeit zusagen (S. 93)
Stunde geUcD und nUt ihm mach nicht mehr. Oder aber er stellt einen tokhen
Mrarer an ohne ErfcUrang Uber den Lohn und nhlt ihm wir 60 Pf. per Stande.
*) Daher giebt e» hier auch keine Klage der Geooisco des Vertragsbrüchigen,
die ja nar am Tarifvertrag, nicht am Arbeitsvertrag beteiligt sind. Kar wenn die
Koalition klagbar ist, kunaen die Koalierten den Bruch des Aifaettsveitrags als
Brach der Koalititw verfolgen (unten S. 117 Nr. a).
Digitized by Google
Philipp Lotmar«
und ohne gültigen Grund ihr Wort nicht halten, so brechen sie
damit den Tarifvertrag. Sie können aus ihrer Zusage vom Arbeitgeber
verklagt wertlen, wie wenn sie dir X'ollziehung eines Arbfits\ertrags
vcnvcij^'crn : B.G.B. § 286, §326. VWnn uniL^rki lirt ein Arbeitgeber
im l arifvcrtrag zugesagt hat, die Arbeitnehmer tnler gewisse, z. B.
durch hntla>^'!M/ «^'emafsre^ahc, anzustellen, utul er ImIt o'me gültigen
Grund sein Wort nicht, so bricht er danüt den lanfvertrag. Er
kann auf Kiniosung seines Wortes verkla-^^t werden, indem seine im
1 ai it\ ei trai; ;.:c;4el)ene und angenommene Zusage als V orvertrag zu
eiiu rii Arbeitsx erltag betrachtet wird 1 S. 05). Dals al>er in beiden
angetuiirlen 1' allen ein Ikuch de> I aril Vertrags vorliegt und
nicht blols der Bruch eines Arbeilsv ertrag oder eines \'or\ ertrag?»
zu einem solchen, gründet sich darauf, d.ils im eisten Fall alle
Mitglieder der Arbeitnehmer|»artei die Zusa^i" i^egchen haben, dals
tlie Arbeit ut idc wu-der aufgerioinnu ti wi ivien. und el)i'nM» im
zweiten l'all .1 1 1 e ^blglieder iler Arbc itnehnierj>artci die Zusage
der Wiederanstellung enjpfangen haben. Durch die erstere Zusage
haben sich alle Tanfkontrahenten der Arbeiterpartei verbindlich ge-
macht, die Wiederaufnahme der Arbeit herbeizuführen, oder zu-
sammen, jeder teilweise, für den Schaden atifzukommen, den die
ungerechtfertigte Nichterfüllung jener Zusage dem anderen Kontra-
henten zuftigt. Durch die zweite Zusage hat sich der Arbeitgeber
als Tarifkontrahent allen Arbeitern, mit denen der Tarifvertrag ge-
schlossen ward, verbindlich gemacht, die Wiederanstellung vorzu-
nehmen, oder den aus seiner ungerechtfertigten Weigerung ent-
standenen Schaden zu ersetzen. Demgemäfs kann im ersten Fall
nicht blofs der ausbleibende, sondern jeder Arbeiter, der den Tarif-
vertrag geschlossen hat, aus dem Tarifvertragsbruch des Ausbleiben-
den verhältnismäfsig in Anspruch genommen werden, und ebenso
kann wegen Verweigerung der W'icdci-anstellung nicht blofs der
davon betroffene Arbeiter di n Arl)eitgel>er verantwortlich machen,
sondern an seinem Teil hk h jeder andere Arbeiter, der als Kon-
trahent im Tarifvertrag die Zusage der Wiederanstellung emp&ngen
hat. Diese Ausdehnung und Verteilung der Haftung wie der For-
derung cntspriclu dem ( icineinschaftsgefühl , aus dem die Arbeiter
durch den Tarifvertrag Recht und Pflicht des einzelnen unter die
Obhut und Verantwortung aller Teilnehmer gestellt haben. Wo
eine .Mehrheit von Arbeitgebern v(.rhanden ist, die ihre Arbeit-
geherinteres-en durch Teilnahme an ei nein Tarifvertrag gemein-
sam wahrnehmen, findet jene Ausdehnung und \'erteilung der 1 laf-
Digitized by Google
Die Tarifverträge zwischen Arbeitgebern nnd Arbeitnehmern
105
tung wie der Fordernis' auch bei der Arbeitgeberfartd des Tarif-
vertrags statt Sie ist beidemal unabhängig von der Klagbarkeit
der Koalition, die durch Gew.O. § 152 versagt ist, wird durch diese
Unklagbarkeit nicht behindert Sie beruht allein auf dem durch
den Tarifi^ertrag begründeten Verhältnis zur GegenparteL
Gleich den zwei angeführten sind die übrigen Fälle von Bruch
des Tarifvertrags, soweit sie der ersten Art angehören, zu behandeln.
Wenn z. B. ein Arbeitgeber wider die im Tarifvertrag gegebene
Zusage ach der Benutzung eines gewissen Arbeitsnachweises ent-
hält, oder mehr Lehrlinge anstellt, als nach der Gehilfenzahl zu-
lässig wäre, S(i würde er auf Einhaltung der einschlagenden Be-
stimmungen des 7 arifvertrags verklagt werden können. Zu dieser
Klage wäre jeder Arbeitnehmer !>crerhtigt, der der Arbeitnehmer-
partei des Tarifvertrags angehört. Dafs für ihn gesorgt ist, dafs er
in einem Arbeitsverhältnis steht, also nicht persönlich darunter
leidet, dafs der Arbeitgeber nicht die den Arbeitnehmern zusagende
Bezugsquelle von Arbeitskräften bcnut/.t , oder die Arbeitsgelegen-
heit durch einen Lehrling als billigere Kraft benutzen lälst und sie
damit einem Aus^'elcrnten verschliefst — dies hiiulert jenen Arbeit-
nehmer nicht, das durch den Abschlufs des Tarif\ crtra-^s wahr-
genommene Interesse aller daran Beteiligten in Schutz zu nehmen.
Befindet sich auf der Arbeitgeberseite eine Mehrheit , so hat
auch hier jeder tlas Recht einen Bruch des Tarifvertrags unserer
ersten An zu verfolgen, der auf seilen der anderen Partei begangen
worden ist, mag dies gleich nicht in seiner Arbeitgebersphäre d* h«
in seinem Betriebe geschehen sein. Hingegen könnte nicht auch
umgekehrt wider einen Arbeitgeber, der selber die Schranke der
Lehrlingszahl beobachtet, wegen ihrer Ueberschreitung durch einen
anderen Arbeitgeber auf Entlassung überzähliger Lehrlinge geklagt
werden.
Ueberhanpt kann weder ein Arbeiter noch ein Arbeitgeber
einer Klage auf eine Leistung aus dem Tarifvertrag ausgesetzt sein,
die für ihn aufser dem Bereich der Möglichkeit liegt, im Gegensatz
zur Schadeosersatzleistung, die der eine Kontrahent für seinen
Teil so gut wie der andere machen kann.')
') Siehe die Fttlle «af S. 103 nttten, 104. Soll ans dem dort crwihaten Vorvertng
Bichl Ulf SchedensenaU (B.G.B. §§^86, 326). sondern «afVollxag d.h. «vf Wieder-
fliistcUung geklagt werden, so kann nur der Arbeitgeber Beklagter «ein. der nach
dem Tarifverliag wieder ansteileD loU.
Digitized by Google
lOO
Philipp Lotmar,
Vni. Die zweite Art von Bruch des Tarifvertrags besteht darin.
da& ein von den Bestimmunt^cn des Tarifvertrags abweichender Ar-
beitsvertraj^ al)^eschlosscn wird. Kint- derartige Verletzung des Tarif-
vertrags ist häufiger und wichtij^cr, als die zuvor bc>|>r(»chciu' erste
Art. Sic verletzt ihn in seinem Wesen, indem sie sich über die
ihm wesentlichen Bestimmungen» die Lohn- und Arbeitsbedin^un^^en
i, e. S. hinwegsetzt. Diese sollen nach der hitcntion derer, die den
Tarifvertrarj zustande gebracht oder nachträglich genehmigt haben,
ohne weiteres in die .\rl)cits\ crträge der vom Tarifvertrag Betrofifenen
eingehen. Der damit intendierten Wirkung nämlich die indivi-
duelle Fotsetzung jener Lohn- und Arl)eitshediti.^Min^en uberflüssig
zu machen, alle .Arbeitsverträge in diesem wesentlichen i'unkt gleich
und dabei so zu gestalten, wie e> den Intere-^sen der am Tarif-
vertrai4 beteiligten Mehrheiten \on iierufsgenn^cn enl>j>rit-ht 'S. 98' —
dieser Wirkung wird durch den .M)>chluls xoii .\rbeils\ei tragen zu
larifw itirigeti Bedingungen entgegengeliaiHielt. l 'nd ferner wud
durch solchen Abschluls tlem Versprechen entgegengehaiuiell , da>
die Parteien eines Tarifvertrags einander gegeben haben , nämlich
dem Versprechen, beim Abschlufs von Arbeitsverträgen nicht zum
Nachteil der Gegenpartei oder der eigenen Parteigenossen andere
als tarifmafage Arbeitsbedingungen festzusetzen (S. 991.
Durch Abschluls eines Arbeitsvertrags zu tarifwidrigen Be-
dingungen wird der Tarifvertrag nur verletzt, wenn Personen jenen
Arbeitsvertrag schlie&en, die vom Tarifvertrag betroffen werden,
und wenn die Lohn- und Arbeitsbedingungen des Arbeitsvertrags
sich aulserhalb des Spielraums bewegen» den dessen Urheber bei
Festsetzung der Lohn* und Arbeitsbedingungen im Tarifvertrag der
individuellen VertragschlieCning gelassen haben (S. loi). Die Ver>
letzung kann hiernach bestehen z. B. in der Ausbedingung eines
höheren, oder niedrigeren Stück- oder Zeitlohnes, einer längeren, oder
kürzeren Arbeitszeit, einer längeren, oder kürzeren Kündigungsfrist,
denn als Maximum oder Minimum im Tarifi'ertrag festgesetzt
worden ist.
Die rechtliche Reaktion gegen den larifv ertragsbruch, der mit
dem Abschlufs eines .Arbeitsvertrags zu tarifwidrigen Lohn- und
Arl)eitsl)edingungen begangen wird, ist ebenso einfach al> j'iivat-
rechtlirh ctm höpicnd und dem Sinn der kollektiv en X'ertragschliei^un
entsi)recliei.il : der .-M^^chlurs eines solchen .-\rbeils\ ertrag> ist unzu-
Ulssig, ein solcher .-\rl)eits\ ertrag ist ungültig. Der Kollektiv-
vertrag ist für den Individualverlrag nicht derogierbar.
Digitized by Goot^le
Uic Tarifverträge Awisdien Arbeitgebern und Arbeitnehmern.
107
Dies hat indessen nicht die Bedeutung, dals bei Ungültigkeit
des tarifwidrigen Arbeitsvertrags ein Nichts vorhanden ist, und der
etwaige faktische Vollzug des ungültigen Arbeitsvertrags gar nicht
nach Vertragsrecht zu behandeln wäre. Vielmehr werden R^ht
und Pflicht der Teilnehmer eines Tarifvertrags auf und zur Ein-
haltung des Tarifvertrags beim Abschluls von Arbeitsvertragen da*
durch geschützt und realisiert, dafs die Aibeitsvertrage tarifmäfsig
zustande kommen, auch wenn eine tarifwidrige Ab-
weichung unternommen worden ist. Die durch den
Kollektivvertrag für alle einschlagenden Arbeitsverträge gesetzten
Lohn- und Arbeitsbedingungen können von den Kotitrahcntcn der
Arbeitsverträge nicht ausgeschlossen werden. Jede Partei eines
Arbeits\ ertrags, der im sachlichen und [^)ersönlichen Geltungsbereich
des Tarifvertrags geschlossen wird, kann daher, /. B. was Lohn,
Arbeitszeit und Küiuli'^ning anlangt, auf Vollzug nach den Be-
dingungen des Tarifvertrags iKsfchrn und klagen, auch wenn sie
selbst an einer \on diesen Bedingungen al)u eichenden und darum
ungültigen L'ebereinkunft itn Arbeitsvertrag teiigenonniien hat.
Die \urstchen(le .-Xuftassung wird von den Gewcrbegerichleii,
wie es scheint, nicht geteilt, ohne dals die entgegengesetzte von
ihnen begründet wird. Das Stuttgarter (iewerbegericht begnügt
sich in einem Falle zu sagen, der Tarif sei „nicht in dein Sinne
bintleiul, dalV das Ciericht aiulcrwciiigc Abmachungen einfach igno-
rieren dürfe" ^ er müsse „so lange angewendet werden, als nicht
klar und deutlich seine Geltung ausgeschlossen bt"J) Die Möglich-
keit dieser Ausschliefsung wird dabei gar nicht in Frage gestellt Ihre
Bejahung durch ein süddeutsches Gewerbegericht beruht auf einer
oben S. 94 Anm. i angeführten unhaltbaren Ansicht vom Tarif\'er-
f rag. -) Unbegreiflich ist die oben S. 96 Anm. berichtete Ansicht
des Berliner Gewerbegerichts, wonach der Tarifvertrag kein Vertrag,
sondern nur eine Offerte ist, also dals es zur Ausschließung ihrer
Bestimmungen für den Arbeitsvertrag nicht einmal einer Ueberein-
kunft bedarf, sondern die Offerte mit ihren Lohn- und Arbeits-
bedingimgen einseitig zurückgezc^en werden kann.
Dals die Lohn- und Arbeitdiedii^ngen des Tarifvertrags un-
*) Geweriwgericht I, 36.
*) Gcwerbegeridit IV, 50: „FOr jeden EnxtlftU hat aber der Tarif lediglich
die Bedeutimg eines Arbeitsvertrages, so liafs er zwai nicht einseitig, wohl aber
darch* gegenseitiges Uebereiokoanen aufgehoben werden kann . .
io8
Philipp Lotmsr,
abdingbar sind und trotz abweichender Uebcreinkunft in den Arbeits-
vertrag eingehen» läfst sich ferner nicht durch den Hinweis auf
B.G.B. § 612 bestreiten. Nach diesem Gesetz ist (wie wir
.99 gesehen haben), falls die Höhe der X'crgütunpj nicht
bestimmt worden ist, htim Bestehen einer Taxe die tax-
mafsige Vergütung als vereinbart anzusehen. Indem das Gesett
den taxmäisigen Lohn t intreten läisi, für den Fall die Parteien des
Arbc itsvcrtrat^s den Lohn nicht hestinnnt iiaben, verfügt es gewifs
für den Fall des Maiit,els einer Lohnhcstiinmun«^' ; aber es \ erfügt
daruit doch nicht, dals der laxinäl>-i^c Loini nur in diesem Fall
eintieie, also nie eintreten könne, wo eine abwcichencle I.ohn-
bc^tiniiminL: \ i>ti <!< ri F.irteien '^u trotTen worden ist. So kann nach
der ( lebuhteiKiKlmin^ fiir Rechlianw.ilte i* 93 „der Hetrai; der \*er-
gutun^; durch \\ rt1aj4 abweichend \on ilen \'or>chriften die>e> ' »e-
.set/es fe>t^n"sel/.t werden", aber nur ,,M)lerii der Kr« htsanwalt nicht
einer Partei zur W'.ihi nehinuni]f ihrer iite l)ei;4e()rdnet oder als
Verteidiger besteilt ist". Ist solches der l-.ill und setzen Klient
und Rechtsanwalt durch Vertrag ilie Vergütung abweichend vom
Gesetz fest, so greift trotz entj^e^enstehcndcr Parteibestimmung,
trotzdem eine Parteibestimmung vorhanden ist, die Taxe
Platz. Was hier von einem gesetzlichen Tarif gilt, kann auch von
einem Vertragstarif gelten, ohne dafs ein Widerspruch zu B.G3w
§612 entsteht
Den Tarifvertrag in seinen wesentlichen Bestimmungen für
nicht derogierbar erklaren heifst ihm eine Ordnung zuschreiben, die
vom Gesetz ausgehend als zwingend bezeichnet wird. Indessen
braucht diese Parallele von jener Annahme nicht abzuschrecken,
kann doch auch in zwei anderen Hinsichten die im Tarifvertrag
liegende Regelung der gesetzlichen an die Seite gestellt werden.
Denn wie diese so kommt auch jene zur Wirksamkeit nur unter
der Voraussetzung, dafs ein konkreter Vertrag geschlossen
wird, d. h. nur wenn der .\ mit dem H in gegebener Zeit an ge-
gebenem Ort einen Arbeitsvertrag -clil!« fst, kai ii der Tarifvertrag
wie das (iesciz wirksam werden. Und wie das (lesclz für indi-
viduell unbestimmte Per>onen erlassen ist , ebenso wird durch den
larilx ertrag, wenigstens fiir die Arbeitnehmerseite, das Arbeitsver-
hältnis individuell unljestimniter Personen geregelt (oben S. 82). M
Wenn der Tarifvertrag, wie wir annehmen, den abweichenden
Vgl. auch oben S. K7 zu Aoiu. I.
Digitized by Google
Die Tarifvertrife twiäcbcn Arbettgebern und Arbcitnehmeni.
Arbeitsvertrag verbietet und so verbietet, daGs die Abweichung
nichtig ist, so hat er damit eine Kraft« die, einem Verbotsgesetz
einwohnend, dieses zur lex perfecta macht Indesst ti i^t eine solche
Kraft des Vertrages nicht unerhört. Das römische Recht i«nnt
solche Verträge: wer z. B. durch X'ertrag der Veräufserung einer
Forderung entsagt hat und sie dennoch vornimmt, hat damit, wie
meistens gelehrt wird , einen nichtigen V^eräufserungs vertrag ge-
schlossen. Man wird vielleicht einwenden, dafs hier der Veräufserer
mit einem Dritten pacisciere, in un-^eieni I'alle aber nicht, und
dafs es doch den Kontrahenten das Tarifv ertra^i-s unl)ononinien sein '
müsse, von ihrem selbstge^cbenen Gesetz zurückzutreten und es im
Arbeitsx ertrag abzuruulcrn. Allein gerade dies, dals die Urheber
des I arifvertrags umi die l 'rheber des .Xrbeit^vertrags identisch
seien, müssen wir verneinen und nachlier \\ iderle<.Ten.
Im Bisherigen (S. 107—109) sind denkli.ire iMiuvände zurück-
gewiesen worden; im Folgenden wollen wir begründen, dals der
Tarifvertrag für die ihm unterstehenden Personen in dem Sinne
bindend ist, dafs sie ihre Arbdtsverträge nur zu den Lohn> und
Arbeitsbedingungen i. e. S. schHe(sen können, die im Tarifvertrag
festgesetzt sind.
Diese Lohn- und Arbeitsbedingui^n werden im Tarifvertrag
nicht blofs aushilfsweise bestimmt und nur zu dem Zwecke,
den Kontrahenten des Arbeitsvertrags die individuelle Regelung zu
ersparen. Vielmehr wollen die Urheber des Tarifvertrags mit
den Lohn- und Arbeitsbedingungen die wichtigsten Bestandteile
des Arbeitsvertrags generell fixieren, sie wollen damit der indi-
viduellen Festsetzung den Raum, auf dem sie sich entfolten kann,
schmälern, diese soll die Lohn- und Arbeitsbedingungen als g e g eben e
Bestandteile des Arbeitsvertrags vorfinden und damit die Möglich-
keit verschlossen finden, nach ihrem individuellen Bedürfnis mehr
oder weniger zu verlangen oder zu bewilligen, als die Urheber des
Tarifvertrags und diejenigen, die ihn genehmigten, im Interesse des
Ciewerbes für gut befunden habef.
Dazu kommt ferner, xl a I s der eine Tarifvertrag k e i 11 e .s -
W e g s d i c n ä ni 1 i c h e n K o fi t r a h e n t e n h a t w i e d i e A r b e i t s -
Verträge, die in seinem Gefolge e s c h 1 (1 •> s e n werden;
namentlich sind die Lohn- und Arbeitsbeduigungen für deri jetzt
vom Arbeiter B mit dem Arbeitgeber A abzuschlielsenden Arbeits-
vertrag im Tarifvertrag keineswegs nur zwischen A und B, sonrlern
auch mit C, D, E u. s. w. vereinbart worden , so dals man nicht
Digitized by Google
HO
Philipp i.otmtr,
sagen kann : wenn A und B nun ander« Bedingungen festsetzen, so
treten sie blofs von ilirer ci^^cncn un<l nur sie an<,'e!icnden Fest-
setzung zurück; vielmehr greifen sie damit in «lie scituT/eit von A
auch mit C, I), K u. s. w. \ ereinharte ein, die sich auf die von A
mit B 7.U <dilit fseiuleii Arbeitsverträge mithezo^'en hat.
Kin Vertraj^f mit mehreren eingej^angen ' ), an dessen Einhaltung
<,'ej^oiiüher allen die^e allr interessiert sind, kann nicht durch Sej)arat-
abkomnien mit einen» l'-inzflnen dirscm Kin/elnen und damit
allen i,'c-^enühcr aiifser Krall u:csitzi werden. Dies würde aber
• bei (lultij^keit eines abwciclu ndcn Arbcitsvertra^'^s der I*all sein. Hin
.solcher Arbeitsvcrtra-^ wunlc, olnvohl ein V'ertra:;. dennoch — iin
Verhältnis vcine^ einen K<inlrahenteti {/.. B. des Arbeit^ebersy zu den
(ieii<«>->rn des ^^tknntrahentcn 'z. IV d« n anderen Arbeitern) —
ein einseitii^er Rücktritt vom i arifvertraj; sein, der nicht
freistehen kann.
Mit der Kingehun»,^ eines Tarifvertrags haben die raciscenten
nicht Wofs (wie S. 99 ausgeführt wurde) versprochen, keine
tarilwidrigen Arbeitsverträge abzuschliefsen ; vielmehr haben sie
auch die rechtliche Möglichkeit solcher Kontrahierung aus*-
schliefsen, die Dispositionsfreiheit insoweit beschränken wollen.
Dafe sie (als Arbeitgeber oder Arbeiter) nach diesem Ziele trachten,
geht daraus hervor, dafs sie nach Kräften darauf bedacht sind, die
möglichen Konkurrenten und Unterbieter in den Farifvertrag hinein-
zuziehen, indem sie hierin das einzige Mittel erblicken, tarifwidrige
Arbeitsverträge nicht aufkommen zu lassen. Wenn sie es nun auf
den Ausschlufs jener rechtlichen Möglichkeit abgesehen haben, wenn
derselbe im Sinne der Tarifkontrahenten liegt, so hiefse es in ihrem
Sinne den Tarifvertrag für ungültig erklären, wenn man die von
ihm abweichenden Arbeitsverträge für gültig erklärt
Die im Vorstehenden vertretene Auffassung vom \'erhältni.s des
Tarifvertrags zu den Arbeitsverträgen findet ein sie bestätigendes
Scitcnstück am Verhcältnis der .-\ r b e i t s o r d n u n zu den Arbeits
verträc^eii , wenic^stens zu «gewissen. Die Arbeitsordnung und zwar
die obligatorische der ( iewerbeordnung (iii; 134a— -I34f, 154 Abs. 2)
kommt in mehreren I iauptpunkten mit dem 1 arifvertrac^ überein.
Heide Nind t(cnerelle Re»;elun^en des Arl)eitsvertrags, denn sie liefern
Liihii- und Arbeitsbedingungen für eine unbestimmte Mehrheil von
'1 D<r Tarifvertrat; i^t trdt.- .Ur Mehrheit [hei einer Paitci oder bei beiden)
nur ein Vertrag: .S. 29 al. 3, .S. 30 al. l.
Digitized by Google
Die TuifvertrHj!« zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmcni. i i [
Arbeitsverträgen. Sie können dies mehr oder weniger absolut, d. h.
mit gröfserem oder kleinerem Spielraum iur die individuelle Rege*
lung thun. Der Inhalt, tlcn die Arbeitsordnung n.icli § 134b haben
inuls, hx auch in \icUn rarilverträgen zu finden; ferner gilt die
Arbeitsordnung wie der Tarifvertrag lur individuell unbestimmte Ar-
beitnehmer; und riidlich kommt «ie wie der Tarifvertrag für den
einzelnen Arbeiter dadurch zur (icltung, dafs dieser einen Arbeits-
vertra«; abschlicfsi, indem solchenfalls die Bestimmun-^fcn der Ar-
beitsordnunf; ebenso wie die des Tarifvertra<;s für das Rechtsver-
hältnis von Arl)eit'^a'l>er und Arbeittielitner niarsml)eiid sind, auch
ohne da!s jtne Bt siiniiminLa-n ausdrücklich in den Arbeitsvertrag
aufgenommen worden suici. Ks verfi!<:^t nun
al 134c Abs. 2 Satz i: „Andere als die in der Arbeits-
ortlnung oder in den §i; 123, 124 \ < ir^e-^ehenen (iründe der Ent-
lassung und des Austritts aus der Aibtit ihiiti ii im Arbeitsvertrage
nicht vereinbart werden," Das bedeutet, dals eine solche von
der Arbeitsordnung abweichende V ereinbarung ungültig ist und un-
geachtet derselben die in der Arbeitsordnung vorgesehene Regelung
Flau greift
b) § 134c Abs. 2 Satz 2: „Andere als die in der Arbeitsord-
nung vorgesehenen Strafen dürfen über den Arbeiter nicht ver-
hängt werden." Die „in der Arbeitsordnung vorgesehenen Strafen"
müssen in ihr nach Mafsgabe von § 134b Nr. 4 bestimmt sein.
Jede von dieser Bestimmung abweichende Strafe ist eine „andere"
Strafe. Wenn nun eine andere Strafe als die in der Arbeitsordnung
vorgesehene über den Arbeiter nicht verhängt werden darf, so kann
sie auch nicht gültig im Arbeitsvertrag vereinbart werden. Der
Arbeits\ erlrag ist, soweit er in seinen Strafbestimmungen von der
Arbeitsordnung abweicht, ungültig, und ungeachtet dieser l>esonderen
greift die in der Arbeitsordnung vorgesehene allgemeine Regelung
Platz.
Man nimmt gewöhnlich an, ' 1 ilals, was hiernach in Ansehung
der Kündigungsgründe und der Strafen vom \'erhältnis des Arbeits-
vertrags zur .Arbeitsordnung gilt, \on anderen Bestimmutii^en der
.Arbeitsverträge nicht .^elte. dals vielmehr ohne Rücksicht auf den
Spielraum der Bestimmungen der Arbeitsordnung diese durch Ar-
beitsverträge auiser Kraft gesetzt werden könne. Wir müssen diesen
' ■. H I .1 ii ti rn ;i II 1) . Kuiminntar , j Gcvv.O. 5; 134c .Nr. 2. U n g c r . Eol-
8cheitluü^;f n Gcwcrbcgerkhts /.u Berlin Nr. 152. Oewerbegericht V, 25.
Digitized bv Google
112
Fliilipp I.Otmar.
Punkt hier dahin gesteUt sein lassen : fiir die Bejahung würde nicht
sprechen» dafs in Gew.O. § 134c Abs. 2 zwei Abweichungen aus*
geschlossen werden, und für die Verneinung würde sprechen, dafs
bei Gültigkeit jeder Abweichung von der Arbeitsordnung ihr Inhalt
durch Arbeitsverträge, die mit allen Arbeitern geschlossen werden,
abgeändert werden könnte, während doch § 1543 Abs. $ einen
solchen Weg zu Abänderuti^en ihres Inhalts ausschliefst, und diese
Bestiniiuun;^ /.\vin<:^cn(l ist.')
Die ( iou oi heordnung lehrt, dals wenigstens in gewissen Fällen
der individuelle Arbeitsvertrag gegenüber der generellen Arbeite
Ordnung nicht aufkonimen kann. Ist .solches nun schon bei der
Arbeitsordnung nmi^üch, so kann es um so eher und in weiterem
Umfan<^ fiu dt ii Tarif\ertra^' n!.;^MMinmmci^. werden. Der Tarifvertrag;
ist ein X ertra ', die Arbeit^ordnuni«, wie \on vielen und mit uuteii
Gründen <;;elchi t wir«!, eine e i n s e i t i e \'erlu;^ui.L;. Kann der l 'r-
hcbcr einer soliMu n xnn ihren Be>linnnuii^'eii l ii ht inuiier in Ar-
bcitsvcrträt,'ef • abweu licn, so ist eine solche l ii>iatthatt i^keit .,'tx'en-
iiber einer zweiseitigen Ke^elun-^^f nocii eiiileuchtcntlei . l nd
sell)st wenn man die Arbeitsori^lnun^ fijr etwa> Zwei>eili:.;e>, d. h.
als tlurrh X'ereinbarun,^' j^elteiid ansieht, no ist sie doch weit davon
entfernt, ein Kollektivvertrag zu sein, wie der I'arifv ertra>^ es ist.
Und von dieser seiner ihn auszeichnenden Natur rührt es her, dafs
der Arbeits%'ertrag, den ein Teilnehmer des Tarifvertrags abschliefst.
nicht über den Tarifv'crtrag die Oberhand gewinnen kann, den eine
Mehrheit zustande gebracht, dem eine Mehrheit ihr gemeinsames
Interesse anvertraut hat. —
CC. Der Tarifi'ertrag ist endlu:h noch einer dritten Art des
Vertragsbruchs ausgesetzt: er kann nämlich durch eine Arbeits-
ordnung gebrochen werden, indem deren Inhalt in Wider-
streit zu dem des Tarifvertrags tritt. Dieser Bruch des Tarifvertrags
kann natürlich nur von einem Arbeitgeber bej^an^en werden, da
nur ein solcher eine Arbeitsordnung erlassen kann. Es ist daher
hier an einen Arbeitgeber zu denken, der, sei es allein, sei es neben
anderen Arbeitgebern seiner Branche einen Tarifvertrag geschlossen
^) S Ab«, 3: „AbäoderttDgeD ikrts Inbalts können nur durch dcttErlafs
von Nachu^tgeD oder in der Weise erfo^en. daf« an Stelle der bestehenden eine
neue Arbritsordnong erlassen wird." Siehe auch Cnger, Entscheidongen Nr. 154:
in der Konsequenr dicker Entscheidung liegt die Ungültigkeit des der Arbmtiordnnng
widersprechenden Arbeitsvertrags.
Digitized by Google
Die Tahfvcrtrüge swischcn Arbeitgebern und Arbeitncbmen.
und darin gewisse Besiiunnun^en über Anfang:; und Kmk der rcgel-
mäfsigen täglichen Arbeitszeit, über Zeit und Art der Abrechnung
und der Lohnzahlung und über die unbefristete Kündigung verein-
bart hat und gleichwohl eine von dieser Vereinbarung abweichende
Arbeitsordnung erläTst (Gew.O. § 1 34 b).
Fragt man nun nach den rechtlichen Reaktionen, die es gegen
solchen Bruch des Tarifvertrags gebe, so läTst sich zunächst auf die
Möglichkeit verweisen, daTs der Arbeitgeber von seinen Vertrags-
^^em auf Abänderung des Inhalts der Arbeitsordnung verklagt
werde, welche Abänderung durch Erlals einer neuen tarifgemälsen
Arbeitsordnung zu geschehen hätte. Bei diesem Idagerischen Ver-
langen wird vorausgesetzt, dafs die tarifwidrige Arbeitsordnung trotz
der Tarifwidrigkeit gültig sei, also dem Tarifvertrag vorgehe. Diese
Subordination des Tarifvertrags wird auch in einem Urteil des
Berliner Gewerbegerichts angenommen, aber aus einem, wie uns
scheint, nicht stichhaltigen Grunde.') Der Tarifvertrag, wird hier
gesagt, würde „immer nur die Bedeutung einer privatrechtlichen
Vereinbarung haben und neben entgegenstehenden öffentlich recht-
lichen Bestimmungen nicht in Betracht kommen." Allein dafs die
(rew.O. zwingende Bestimmungen über den Krlafs von Arbeitsord-
nungen und die Kategorien ilins Inhalts gicbt. ist doch walirlich
kein (irund, die Bestimmungen selb>l einer gegebenen Arl)eitsoi(l'
nung für öffentlich reclitliche zu halten. l^nd mit dieser un-
schlüssigen Argumentation dürften gewifs .tiu h diejenigen Tarifver-
träge als öffentlich rechtliche angesehen zu werden verlangen, die
in Anweridang des Gewerl)egerichtsgesetzes unter Vermittlung des
lanigungNamtes zustande kommen.
Die Frage nach dem Rangverhältnis von Tarifvertrag und
Arbeitsordnung ist auch aus der GewO. nicht mit Sicherheit zu
entscheiden. In § 134c Abs. 1 sagt sie: „Der Inhalt einer Arbeits»
Ordnung ist, soweit er den Gesetzen nicht zuwiderlauft, (lir die
Arbeitgeber und Arbeiter rechtsverbindlich." Die Folgerung e con-
trario würde in diesem Falle lauten : Wenn der Inhalt der Arbeits-
ordnung, soweit er den Gesetzen nicht zuwiderlauft, rechtsver-
bindlich ist, so genügt es fiir seine Rechtsverbindlichkeit, dals er
nicht gesetzwidrig sei, mag er immer einem Tarifvertrag zuwider-
laufen. Indessen lafst sich diese Folgerung auch ablehnen. Der
Einklang mit den Gesetzen brauchte dem Gesetzgeber nicht er-
^) Unger, Eotschcidangen Nr. iS3>
Archiv für loi. GcMUgebunc u. Statittik. XV. S
Digitized by Google
rb 1 1 1 p p Lu t nia I ,
schöpfende Bedingung; der Rechtsverbindlichkett zu sein, er
konnte sie als eine, als die ihm wichtigste hen-orheben, und es
könnte die Rechtsx'erbindlichkeit auch durch den Einklang mit
Tarifverträgen bedingt sein. Allein was hiemach gegenüber dem
Wortlaut logisch angeht, nämlich dafs eine Arbeitsordnung zwar
nicht den Gesetzen zuwiderläuft, aber doch nicht rechtsverbindlich
ist, können wir historisch nicht für wahrscheinlich halten. Als die
fragliche Bestimmung gegeben wurck-, die einen ßestandteil des
sog. Arbeitersrhutz^csctzes vom i. Juni 1891 bildet, waren Tarif-
verträge nodi nicht so häufige Vorkommnisse in Deutschland, wie
sie es neuerdings geworden sind, und jedenialls hatten sie noch nicht
die allgemeine Beachtung und die Schätzunjij «gefunden, die ihnen
seitdem zu teil j^ewordcn ist. Die Annahme, dafs die in GcwO.
§ 134c «gesetzte Bedin<^iiiv^f der Rerht>\erl)itidli'-!ikeii Arbeits-
ordnungen niefit exklusiv gemeint sei und der hiiikl.iUL; mit Tarif-
verträgen, auch nur unbeuufst. vorbehalten -ei. ist hiernach so wenig
nahe liegend, dafs man sich ihr nicht hinj^ebeii darf.
Dann aber stehen wir vor dem Krgebnis, dals der 1 ariU ertrag,
den ein .Arbeitgelier für sieh allein oder an der .^eitc seiner Be-
rn fs-renossen mit den Arbeitein seiner Btanrhi- ■ a'^<■|ll( )s>en li.it, un-
mittelbar darauf von ihm beliebig wieder umge>lolsen und zum
Nachteil seiner Genossen wie der Arbeiter vereitelt werden kann
durch denErlafs einer Arbeitsordnung. Im Verhältnis zu dieser ist der
Tarifvertrag danach etwas Prekäres und seine Unterordnung unter
die Arbeitsordnung wäre nur durch den Gesetzgeber zu beseitigen.
Die Arbeiter, denen der Tarifvertrag durch die Arbeitsordnung ge-
brochen worden ist, konnten auch ohne dies auf ihre Zurückziehung
klagen (oben S. 1 1 3). Aber eingreifender würde dem Tarii^'ertrag ge-
dient sein, wenn er aus seiner untergeordneten Stellung durch das
Gesetz hervorgezogen würde. Hat es die Arbeitsordnung zu einer ge-
setzlichen Regelung gebracht, so kann der Tarifvertrag noch viel ge-
wichtigere Ansprüche auf legislative Pflege erheben. Denn er kann
im Gegensatz zur Arbeitsordnung eine Regelung nicht blofs fiir
einen Betriel), sondern für viele, ja für alle Betriebe eines Bezirkes
herbeiführen. Sein Inhalt entspricht im grofsen Ganzen den bei der
\ erhaadlufi^ von den beiden Parteien selbst geltend gemachten
Interessen, soweit nicht das X'erlangen nach gröfeeren X'orteilen im
Inhalt um den Gewinn des X'ertragsabschlusses selber hingegeben
wurde. Die .Arbeitsordnung hingegen empfängt ihren Inhalt alleiii
vom Arbeitgeber, denn dab die grolsjährigen Arbeiter Gelegenheit
Die TuifvertcSge zwuchen Arbettgebem md Arbritaehmern. 1 1 j
erhalten müssen, sich ül)ci diesen hihalt zu äuijäern (liewÜ. § i34dj,
ist keine X'crbür^un^ eines Kinflusses. —
Bei der L'ntcrsuchunjj; der Keciuswirkun;^ des larih ertrai;s,
dem Schwerpunkt einer juristischen I">r<)rterun|^ dessell)en, sind wir
freilich zulel/t auf eine Unzuläno;liclikeit des heutij^en Rechts ^c-
stofsen. Allein wenn wir uns beim Abschluls noch einmal den
Befund vep^a^<4^eiuvärtif^en , so dürfte sich das Ucberp^ewicht recht-
licher Wirkungskraft über die erwähnte Schwäche als sehr be-
trächtlich herausstellen. Denn Folgendes hat sich ergeben :
Der Tarifvertrag, soweit er die Parteien einander zu Leistungen
verbindet — was auf Bestimmungen beruht, die ihm nicht wesent-
lich sind — ist so wirksam und klagbar wie ein anderer Vertrag,
und er ist es in gewissem Mafs noch mehr, da die auf der Arbeit-
nehmerseite immer, auf der Arbeitgeberseite möglicherweise vor-
handene Mehrheit von Kontrahenten zu einer Vervielfältigung der
Klage aus dem einen Vertrage fähren kann.
Der Tarifvertrag, soweit er die Lohn- und Arbeitsbedingungen
L e. S. generell festsetzt — was seine wesentlichen Bestimmungen
sind — bewirkt, dafs jene Bedingungen ohne weiteres in die Arbeits-
verträge der \ om Tarifvertr^e betroffenen Personen eingehen. Diese
Wirkung hat der Tarif\ ertrag mit anderen Generalfestsetzungen von
Vertragsbedingungen z. B. mit behördlichen Taxen gemein.
Die eigentümliche Natur des Tarifvertrags macht sich dann
geltend, wenn von ihm abweichende Arbeitsverträge abgeschlossen
werden, indem das Kollektivversprechen, das die Mehrheit ^'egcben,
oder empfaii;^fen hat, sich gegen den X'ersuch iiidi\ iduellcr Ab-
weichung dert^estalt <hirchsctzt. dals dieser X'ersuch milslingt, und
die kollektiv vereinbarten Lohn- und Arbeitsbedingungen sich jedem
Arbeitsvertrag mitteilen.
Diese Präponderanz des l aritvertrags über den Arl)cit->\ ertrai^.
die den Haupttitel seines pri\ atrechtlichen W eites au>macht, steht
mit allgemeinen (irundsatzen nicht im Widerspruch und findet ihr
Seitenstuck am Verhältnis der dem Tarifvertrag ähiihchen Arbeits-
ordnung zu allen oder doch zu gewissen Arbeitsverträgen.
Die vorstehenden Ergebnisse rechtfertigen den eingang.> dieses
Abschnitts erhobenen Widerspruch gegen die Annahme rechtlicher
Unverbindlichkeit des Tarifvertrags und sollten dessen Befürwortern
willkommen sein, indem sie zeigen, dafs er schon jeut, bevor ihn
die Sonne des Gesetzes beschienen hat^ nicht so schwach und
rechtsverlassen ist, wie selbst seine Anhänger meinen.
8*
ii6
i'hiltpp Lot mar,
iX. Zur Gesetzgebung.
Im vorigen Abschnitt hat sich gezeigt, dafs die rechtlichen Be-
dürfnisse des Tarifvertrags durch das geltende Recht, wenn es
richtig angewandt wird, gedeckt werden, ausgenommen den Punkt,
dafs der Arbeitsordnung der Vortritt vor dem Tarifvertrag eii^^eraumt
ist. Ist letzteres ein oflfenbarer Mangel, so kann doch auch jene
Bedürfnisdeckung nur als eine notdiirftit;(" angeschen werden. Die
iiuKUriic Gewerbegcscizi,'cl)unj^ beschäftigt sich ausdrücklich mit
dem I anf\ ertrng nicht, wohl weil sie aus einer Zeit herrührt, in
der diese Erscheinung weniger beaclitet wurde. Die Gewerbe-
ordnung ^^edenkt seiner nicht Ix -ondcrs , ihr ij 105 ist nur eben
weit genug gefalst, um auch auf den i arif\ ertrag l)ezo^en werden zu
können 'S. 80I ; irgendwelcht- Rcgehnig des Tarifvertrags ist in
der ( rt werheordnung nicht eiithaht n. I )icsrs ( ic>>ct/. das sich iiber
die .\rl>ritS(>r(Unnig der gntrscren Hctricbf \ t rl »reitet, entliält keinerlei
X'erfuguiig ül)er den niifidestens gleich uichiigcn Tarifvertrag. .Aur!)
das ( 1 c w c r l) e g e r i c h t s g c s e t /. kommt *lem Tarifs ertrag mir
impiicitc zugute, l^s .steht, wie wir gesehen hal)cn, einige Normen
für die Wrinitllung des \1 »schhis-st s xon 'Tarif\ertriigen auf. Aber
dabei wird der grün* lU -1 i\deii, jMtHhiktix en, aul die Zukunft ge-
richteten, tür zahllose Arbeitsverträge malsgebenden Bedeutung des
Tarifvertrags keine Rechnung getragen , sondern die einigungsamt-
liche Thäti^'kcit des Gewerbegerichts wird als eine hingestellt, die
„in Fällen von Streitigkeiten, welche zwischen Arbeitgebern und
Arbeitern über die Bedingungen der Fortsetzung oder Wiederauf-
nahme des Arbeitsverhältnisses entstehen", einzutreten hat, also dafs
das Gesetz nur die voi^relallenen und noch bestehenden Differenzen
im .Auge hat und deren gegenwärtige Begleichung durch die
Intervention des Amtes herbeiluhren will. Das Gesetz zeigt sich
för die Herstellung, nicht auch für die Erhaltung des Friedens be-
sorgt Dafs die „Vereinbarung", um deren Zustandekommen das
ßnigungsamt sich bemühen soll, in den meisten Fällen ein Tarif-
vertrag ist und als solcher die gröfste Tragweite hat, kann sich der
Leser de> i iewerbegcrichtsgesetzes nicht vorstellen, und ist erst bei
der Handhabung des ( iesetzes fiir weitere Kreise offenbar geworden.
Wenn nun der 1 arifvertrag, obwohl kein Gesetz ihn ex professo
behandelt , sich naturwüchsig seit einem halben Jahrhundert ent-
wickelt , in den letzten Jahrzehnten an Frequenz beständig zu-
genommen und in seinem Musterexemplar, dem Buchdruckertarif,
Digitized by Google
iJic Tarifverträge zwiikcben Arbeitgebern und Arbciuichmeni. nj
wie in den von den Gewerbegerichten perficierten Exemplaren
immer gröfsere Würdigung gefunden hat: so darf man mit Sicher-
heit erwarten, dafs eine ihm eigens zugewandte Gesetzgebung seine
LeistungsßUiigkeit ungemein stetem würde. Unter der besonderen
Obhut des Gesetzes würden seine Vorzüge sich deutlicher entfalten
und seine Schwächen zurücktreten, es wäre ein stärkerer Antrieb
zur Benutzung dieses Mittels gegeben, und ausgedehnte £r£üirung
würde die Mängel vermeiden lehren, die ihm da und dort zum
Vorwurf gemacht werden.
Die Gcsctzgebui^ über den Tarifvertrag hat zu bestehen, teils
in der Abschaffung von Bestimmungen, die der Wirksamlceit
des Tarifvertrags hinderHch sind, teils in der Hinführung von
Restimmungen . die dem Tarifvertrag X'orschub leisten, oder be-
stehende Ik'stimmun;^cn in diesem Sinne reformieren. A u f z u h t- h e n
ist V o r a 11 e ni ( i e w. O. i; i 5 2 A b s. 2 , w e 1 c h e r d e r K o a 1 1 1 i t ni
die Xatur eines gültigen \' er trag es versagt, indem er
Klage und Einrede unter den Koalierten ausschliefst fS. 60). hür
einen wirkungskräftigen Tarifvertrag ist es keineswegs erforderlich,
dals die Mehrheit der Arbeitnehmer oder der Arbeitgeber Glieder
einer (Tcscllschatt. oder gar einer Korporalion seien, und letzteren-
falls eine jurisii>chc IVrson kontraiiicre. l ikI doch ist es von grofser
Bedeutung, dafs unter den Parteigenossen ein klagbares Rechtsver-
hältnis bestehe. Es ist von Bedeutung hauptsächlich darum, weil
anderen&Ik das Interesse, das die Genossen einer Partei daran haben,
4afs der Tarifvertrag von den Ihrigen eingehalten werde, schütz-
los ist, und daher auch von der Gegenpartei auf dieses Interesse
rechtlich nicht gerechnet werden lann. In den folgenden vier
Punkten äu&ert sich die Wicht^keit der Aufhebung von § 152
Abs. 2 für den Tarifvertrag:
1. ist damit gegeben die rechtliche Möglichkeit einer Kon-
ventionalstrafe unter den Parteigenossen ftir den Fall einer Tarif-
widrigkeit (vgl. S. 62),
2. ist damit auch ohne Konventionalstrafe den Parteigenossen
die Möglichkeit gewährt, g^en einen der Ihrigen zu klagen auf
Einhaltung des Tarifvertrags und des tarifmäfsigen Arbeitsvertrags,
während heute die Parteigenossen schutzlos sind, z. Bw wenn einer
der Ihrigen mehr Lehrlinge hält, als der Tarifvertrag gestattet, oder
die Arbeitszeit über den tarifmäfsigen Umfang ausdehnt. Das im
Tarifv ertrag dem Gegner gegebene X'ersprechen hat heutzutage Rechts-
wirkung nur im X'erhäitnis zu diesem d. h. der Taritkontrahenten zu
Digitized by Google
ii8
Philipp Lotmar,
einander (S. lOO). Erzeu^n aber die Koalition ein Rechtsverhältnis
<U I Koalierten, so hat jenes Versprechen Rcchtswirkunj^ auch unter
den Genossen jeder Partei; denn mit der Zusai^'C an den Cie'^nier
übemiinnn jeder t(e<:,'enüber seinen (icnovsen die Pflicht sich aller
Tarifwidri^^keit zu enthalten. Sein«- Partei- enosscn sind an der Kr-
fullunt^^ dieser Pflicht intereNskrt und durch die Kla^harkeit in
den Stand i^esetzt, dieses Interesse ihm tiei;enuber zur Geltung zu
brin^'en.
3. Wenn lieute ein luiter einen» 1 arit\ ertrai; stehender Arbeit-
^rel)er oder Arbeiter mit einem Fremden, iL h. nicht von tliesem
Tarifvertrag^ Hetrottenen einen tarifwidrii^^en Arbeitsvertrag schlielst,
so ist dieser \'enr;i^ ^"hi^ . i^»'»»^' i'<irtei^'en(»sen jenes Arbeit-
j^'ebers oder Arbeiters steht keine Reaktion da^^e^en zu. Nach Auf-
hebung von Gcw.O. § 152 Abs. 2 können sie sich durch Kon»
ventionalstrafe daj^^cf^'en sichern und auch ohne dies ^e^en ihren
Parti i^cnossen klagen, der sich durch den Tarifvertrag auch ihnen
gegenüber verpflichtet hat» an demselben schlechthin festzuhalten.
4. Nach Aufhebung^ von § 152 Abs. 2 Gew.O. kann eine
Koalition als ein nicht rechtsfähiger V^erein aufbieten, und die
Mehreren, die in seinem Namen einen Tarifvertrag schliefsen» haften
dem Gegner als Gesamtschuldner: B.G3. § 54.
Abzuschaffen wäre ferner die Bestimmung der Gew.O. § 1 34 c
Abs. I, insofern ihr, wie im \origen Abschnitt angenommen wurde
(S. 1 14), der Sinn zukommt, dals der Inhalt der Arbeitsordnung auch
dann verbindlich ist, wenn er einem Tarifvertrag zuwiderläuft, von
dem ihr Urheber betroffen wird. Der citierte AbsaC« müfste daher
etwa lauten : „Der Inhalt der Arbeitsordnung ist, ^ow« it er den Ge-
setzen oder einem für den Arbeitgeber geltenden iarifvertrag nicht
zuwiderläuft, für den Arbeitgeber und die Arbeitnehmer recfftsver-
bintllich."
Die Kiniuiirung von i:,'^c<etzlichen Bestinuiiungen über cfcn
Tarifvertrag miilste teils in der ( lewerbeordnung, teils im Ciewerbo-
geru htsgesrt/ i^eschehen. Die (iewerl>eordnung hätte sich mit dem
n arif\ ertrag .zu befassen in ihrem \'ll. l itel, aber nicht, wie mit fler
Arbeitsordnung geschieht, im Abschnitt IV, iler die Verhältnisse der \
Fabrikarbeiter regelt, si.iuiern cntwetler im Abschnitt I ,, Allgemeine *
\'er lialtiiisse", oder besser noch in einem eigenen Abschnitt ,, 1 arif-
verträge": denn Tarifverträge kommen >chon heute nicht blofs bei S
Fabrikarbeitern und denjenigen anderen gewerblichen Arbeitern vor, \
für welche die Bestimmungen über die Arbeitsordnung nach Gew.O. \
Digitized by Google
Die Tarifverträge zwisdicn Arbe-itg<-b«rn und Arbeitnelinicm. 1 19
§ 154 Abs. 2 gleichialk gelten, und es soll den TariivertfSgen die
Geltung erhalten werden fiir jede Art gewerblicher Arbeiter im
Grofe- wie im Kleinbetrieb, im Handwerk und in der Hausindustrie,
auf Bauten und in Häfen, in der Seeschiffahrt und im Bergwerk.
Ueber die Personen der Tarifkontrahenten liätte die (rewerbe-
ordnung zunäcl^st /u I)e«>ttmmen und sodann über Fmm, Inhalt und
Wirkung des Tarifvertrags.
Was die Form anlangt, so sollte, was bisher schon meistens
freiwillig ^^cschehen ist, durch das (lesetz vorgeschrieben werden,
nanilirh dnl's der Tarifvertrag schriftlich geschlossen werde. Kbenso
mulstc itxler Beitritt (die nachtriiLdiche Genehmigung) schriftlich er-
klärt werden. Die Urkunde des larifvertrags wäre • wie tlie Ar-
beitsordnung nach (lew.O. l V|c Abs. 2) vom Arbeitgeber „an ge-
eigneter, allen beteiüt^'tcu Arbeitern zut^änglicher Stelle auszuhängen"
und es müiste ,,der .\ushang .stets in lesbarem Zustande erhalten
werden". .\uf diese rrkuntie wäre jeder anzustellende Arbeiter /.u
verweisen, und es dürfte kein Arbeitsvertrag mit ihm abgeschlossen
werilen, er habe denn den ihm bekannten Tarifvertrag als für ihn
geltend erklärt. Es würde sich aber sehr empfehlen im Form-
erfordernis noch einen Schritt weiterzugehen. Kein Tarifvertrag
sollte gültig sein, wenn er nicht vor dem Einigungsamt verlautbart,
oder durch dessen Vermittlung abgeschlossen worden ist. Auch
der nur verlautbarte müfste der Prüfung des Einigungsamtes in
Hinsicht auf Klarheit und Gesetzmäfsigkeit unterliegen, und die Be-
seitigung solcher Mangel wäre den Parteien aufeugeben. Als
Einigungsamt hätte in Ermangelung eines Gewerbegerichts u. dgl.
der Gemeindevorsteher zu fungieren; für das Handels- und Schiff-
fahrtsgewerbe wären andere Mittebpersonen zu bestimmen. Den
Abschluis vor dem Einigungsamt u. dgl. obligatorisch zu machen,
falls er nicht aufsei^erichtlich erfolgt, böte den Vorteil, dafs so die
Arbeitgeber, die sonst die V^erhandlung mit den Arbeitern ablehnen,
leichter zum Aufgeben dieses Standjiunktes gebracht werden können :
vorausgesetzt nämlich, wovon noch die Rede sein wird, dafs da-s
von einer Partei angerufene Einigungsamt die andere verbindlich
vorladen kann. Der vor dem Fünigungsamt verlautbarte, oder <^e-
schlo.ssene Tarifvertrag ist nnrli (Tewerbegericht.sgesetz 66 zu l)c-
handcln. Die oben geforderte schriftliche Beitrittserklärung wäre
vom Hntr(U-nden an den Vertreter seiner i^artei zu richten und
von diesem <leni I'üni^uri'^samt mitzuteilen.
Was sodann den Inhalt des Tarifvertrags anlangt, so kann der-
Digitized by Google
I20
Fhilipp Lotm«r.
selbe — wie der der Arbeitsordnung; (Gcw.O. § 134b) — aus obliga*
torischen und aus fakultativen Ik-stinimungcn bestehen. Zu den
obli^'atorischen ä^a'horen die über den Lolin in den verschiedenen
Hinsichten, nach denen er in den bisheri^an Tarifverträ-^en bestimmt
wurde (S. 14 -18) und jcdcrif.ilK >cin Hetra^;. h'erner niüfstc der 1 arif-
vertrat; enthalten eine Hestimniun,; liber ^ciI1e ei,4cnc' ( liilti^keits-
dauer, seine Kündii^unt; und I-.nunicrun^', ebeusu die Hezeichnui i;
einer I'erscjn, Kommission, Behörde u. s. \v., der die Auslei^un.; de^
Tarif\ ortrai,^-« und die Beurteihuii^ \'on Beschwerden über seine \'er-
letzun;4 /ukonunen soll. P'ndlicli hätte jeder larifv ertrag' eine Be-
stimmung zu (lunsten der Koalition zu enthalten — weni'^sten>
solange als nicht strafrechtlich die Ko.ilitiun>h eihcit ^^arantie^t ist.
Nach der früher besprochenen Bedeutun^^ der Koalition für das
Tarif\ crtragswesen (S. 67) ist das Gedeihen desselben an die Koali-
tionsfreiheit geknüpft Es genügt aber nicht die S. I17 in erster
Linie geforderte privatrechtliche Anerkennung der Koalitionen» und
ebensowenig die privatrechtliche Ungültigkeit von Vertragsbe-
stimmungen, in denen ein Kontrahent dem anderen verspricht, sich
der Koalition zu enthalten. So lange eine Hinderung an der
Koalition straflos möglich ist, mufs wenigstens durch den Tarif-
vertrag die Ausübung des Koalitionsrechts garantiert werden, damit,
folls hierin der Tarifvertrag gebrochen wird, auf Unterlassung ge-
klagt werden könne (vgl. CP.O. § 890).
Ueber dieWirkun^^ des larifvertrai^js brauchte die Gewerbe-
ordnung; sich nur m einem l'unkt zu äufsern, nämlich nur inbezug
auf die Lohn- und Arbeitsbedingungen i. e. S. Und blofe um jeden
Zweifel an ihr auszuschliefsen, nicht um diese Wirkung allererst
einzuführen, hätte sie zu erklären, dafs jeder Arbeitsvertrag, den
Personen für ihr (lewerbe abschliefsen, die von einem für dieses
Gewerbe {Geltenden Tarif\ ertrag betroffen wen k 11, nur mit den
Lohn- und Arbeit sbedin;^uiiL,'en zustande kommt, die der Tarif-
vertrag vorschreibt. I\inc .\bwcichun;;, d. h. eine l eberschreitunt;
des vom Tarifvertrag der individuellen Kc,.;clung belassenen Spiel-
raums Wtäre damit für ungültig erklärt. —
Kin anderer Teil der neuen Normen für den Tarifvertrag wurde
durch .Aenderung des (i e w e r be g e r i c h t sg e se t ze s zustande
konnnen. Es mülste so umgestaltet werden, dals die einigungs-
amtliche Thätigkeit des tiewerbegerichts, und zwar seine Ver-
mittlung von Tarifvertragsschlüsi>en leichter und wirksamer sich
entfalten kann. Derartige Vorschläge sind von anderen Seiten
Digitized by Google
Die TarifvertrSge zwüchen Arbeitgebern und Arbeitnehmera.
I2i
Wiederholt und mit guten Gründen {gemacht worden, so dafs hier
ein näheres Eingehen unterbleiben kaum (y^l S. 45 Anm. i).
Hauptsachlich — und zumal wenn man jeden Tarifvertragschluts,
der nicht aufsergerichtlich gelingen .will, vor das Einigungsamt ver-
weist kommt es darauf an, das Einigut^samt schon auf einseitige
Anrufung in Thätigkeit zu setzen, indem man ihm die Ladung der
anderen Partei möglich und zur Pflicht macht. Dies schliefst nicht
ans, was wiederholt \'orkani, tlafs das I^inigungsamt im Kcdürfiiisi.ill
sich Ireiwiliig um die Herheiführung jener Anrufung bemühe, herner
sollte das einmal angerufene Einigungsamt hrsciicinungs/wang und
\'erhandlungsz\vang üben können, sowie über die Legitimation
etwaiger X'ertreter endgültig zu entscheiden haben (vergl. S. 71).
Wenn aber eine Koalition, die durch Aufiiebung von (iew.O. § 152
Abs. 2 zu einem Rechtsgebilde, mindestens zu einer Gescllsehatt,
geworden i>t, mit ihrer X'ertretung bestimmte Personen betraut hat,
so darf es niclu mehr, wie zur Stunde, im „freien hrmes.->en" des
Einigungsamtes li^en, jenen Personen die Legitimation abzuerkennen.
Im ganzen verdient die Vermittlui^ von Tarifverträge durch das
Gewerbegericht darum jegliche Förderung, weil sich erwarten lädst,
dafs je mehr, je umfassendere und klarere Tarifverträge auf diesem
W'ege zustande kommen, um so eher Streitigketten aus den auf
Grund solcher Tarifverträge abgeschlossenen Arbeitsxxrträgen hint-
angehalten werden.
Denkt man sich die hier nur angedeuteten Grundziige zu einer
Reform des Rechts vom Tarifvertrag näher ausgeführt, ergänzt und
legislativ verwertet, so darf man sich von der gesetzlichen Pflege
dieser Einrichtung Früchte versprechen, welche die staatliche Gesetz-
gebung über das Arbeitsverhältnis dessen Teilnehmern in absehbarer
Zeit nicht zu bieten imstande wäre. Demi kommt die tariKrertrag-
liehe Bestimmung der Lohn- und Arbeitsbedingungen mit der gesetz-
lichen darin überein, dafe sie für eine unbestimmte Reihe von Ar-
beitsverträgen gilt, so ist sie doch in diesem Hauptpunkt dem (lesetz
nach zweierlei Hinsicht überlegen. Hin mal nämlich geht die
erstere stets und unmittelbar \on interessierten Sachverständigen
aus: es sind die als Arbeiter und Arl)eitgel)er am ( lewerbe Be-
teiligten, die ohne anderes Ziel als ihre Lage zu verbessern und auf
Grund von selb.sterworbener Kenntnis die Kegeln aul^lelien, für sicii
und Ihresgleichen eine Ordnung srhaft'en, während der heutige
Gesetzgeber den zu regelnden Stoff blofs mittelbar emi)fängt und
die Stimme der Arl>eiter, unter fremden Einflüssen, nur schwächer
Digitized by Google
122 Philipp Lotmar, IMeTarifvertric*nroebeD Aiteitgebem«. ArbdtnehiiMfn.
und minder rtin vernehTncn kann. I crner «rhält die autonome
Odnun^, eben weil sie durch Heteihj^le j^c^chatlen wird, teils einen
Inhalt, teils einen ( ira<l der Ausbildim^f, wie er auf dem VVei,'e der
staatlichen ( iesetzi^t 1)Uiil;, wt nn jemals, dt)cli nur in ^rofser und Un-
gewisser Ferne erlatiL^'t werden könnte. Denn die Beslirnmunjr
eines Minimallohnes mit den hier niöj^lichen Abstufunj:jen, einer ins
einzelne gehenden Stueklohnliste, einer maximalen Arbeitszeit für
die erwachsenen männlichen Arbeitnehmer jn den verbreiteten Ge-
werben — eine Festsetzung dieser und vieler anderer Lohn- und
Arbeitsbedingungen wird man von der Gesetzgebung^ in absehbarer
Zeit nicht erwarten dürfen. Dafs dergleichen aber durch den Tarif*
vertrag geleistet werden kann, wird durch die Er&hning bewiesen.
Um wie viel müfste daher seine Leistungsfähigkeit durch eine ihm
gewidmete Gesetzgebung gefördert werden. Dann würde noch mehr
zum Vorschein kommen, dafs der Tarifvertrag die Fortbildung des
Privatrechts für den .Arbeitsvertrag grofsenteils zu ersetzen und Bahn
(ur dasselbe zu brechen vermag. Die künftige Geset^;ebung über
den Arbeitsvertrag wird aus den Tarifvertr%en zu schöpfen haben.
Un<l jene Fortbildung' auf dem gesetzlich geschützten indirekten
Wege des I arifvertrags ist der Aufstellung objektiven Rechtes vot^
zuziehen. Denn nicht nur ist dieses Verfahren schwerfälliger, CS
vermag sich aucli den örtlich und zeitlich wandelbaren Hedürfnisscn
der Arbeiter und Arbeitureber nicht in dem gleichem Mal'se anzu*
passen» wie der Tarifvertrag.
Digitized by Google
Die BerufiB> und Qewerbezähhmg im Deutschen Reich
vom 14. Juni 2895.
Von
Prof. Dr. H. RAUCHBERG
in Prag.
Zweiter Teil.
Berufsgliederong und soziale Schichtung.
FoftMinng.;
IX. Die häuslichen Dienstboten.
Die hauslichen Dienstboten nehmen eine Mittelstellung ein
zwischen den Erwerbthätigen, mit welchen die bisherige Darstellung
sich beschäftigt hat, und den Familienangehörigen ohne eigenen
Hauptberuf, denen der nächste Abschnitt gewidmet ist. Gleich
diesen letzteren werden sie nicht zu den Berufsthätigen im eigent«
liehen Sinne gerechnet, denn ihre Wirksamkeit ist in erster Linie
eine hauswirtsrhaftliche, keine volkswirtschaftliche. Daher wurden
sie bei der Berufsgliederung der gesamten Bevölkerung dem Be-
rufszweige des Dienstgeber«; zugezählt. Andererseits ist ihre Thätig-
keit vom privatwirtschaftlichcn Standpunkte aus offenbar als Erwerb
anzusehen. Dem ist iladurch Rechnung getragen worden, dar> man
den häuslichen Dienst als eine besondere Kategorie der Heruf-
stellung gelten lälst. Je nachdem volks- oder j)riv'atwirtschaftlichc
(iesicht'^puiikte .stärker hrtntit werden sollen, können also die Die-
nenden /u den F.rhalteiuM oder lu <.len Krwerbendcn geschlageti
werden. Auch hinsiclitlich ihrer Ik-deutung für die soziale Schich-
tung können zwei (iesichtspunkte i^eltend gemacht werden. .An
und für ^ich belrachtct, gehören die liäuslichen Dienstboten zweifels-
ohne der unbemittelten Klasse an; sie können in dieser Hinsicht
Digitized by Google
124 Rauchberg,
im allgemeinen den Arbeitern gleichgestellt werden. Andrerseits
darf die Gesiitdehaltung bis zu einem gewissen < it adc al> ein Sym-
ptom des Wohlstandes der Dictist*,'el)er "gelten. Unter dieser Voraus-
setzung^ sind die Verhaltnis/ahlen ül)er die Häuh;:^kcit der Dimst»
boten ein Gradmesser für die \vinschaftli('hc und soziale L^e der
einzelnen Berufe, sozialen Schichten und Ciebietsabschnitie.
Wie bereits früher erwähnt V) ist die Zahl der häuslichen Dienst-
boten seit 1882 nur um ein ( leriiiL^es -^e^tiegen, weniger als die
Gesamtbevölkerung, so dafs ihr Anteil daran etwas abgenommen
hat Es wurden häusliche Dieni>tboten gezählt
im Jahre 1895 im Jihiv 188a
absolut auf 100 Einwohner absolut auf 100 Einwohner
minnlidi
weiblich .
• . • • 25 ;>-;f)
0,10
42 5>o
0,19
. . . . I3i;q>7
4,08
1 382414
5.56
zusamna-n t339jit>
2.59
1 3249^4
2.9J
Rechnet man die Dienstboten mit zu den Erwerbthatigen. üo waren
von je 100 Erwerbthatigen Dienende
1805 1SS2
männlich .... 0,16 0,32
weiblich .... 19.97 23.14
im ganzen 6,06 6.99
Nach dieser Bererhniiiigswcise beträgt der relative Rückga fast
ein Prozent. Der Prozentsatz der Diener ist auf die Hälfte des
Standes von 1882 gesunken, jener der weiblichei Dienstboten von
fast ein Viertel auf nur ein t üaftel aller weiblichen En^'erbthätigen
zurückgegangen.
Bei der Beurteilung dieser Bewegung ist vor allem daran fest
zuhalten, daüs — wenigstens für das Deutsche Reich im ganzen — ►
nicht von einer absoluten Abnahme die Rede sein kann, sondern nur
von einem Zurückbleiben hinter der raschen Zunahme der Krwerh-
thätigen. Nur eine Keilt xw irkung da\on i-^t e>^, dal's dit- Prozent-
sätze der Dienenden nuuniehr kleiner austallcn. D.il- !u- kia>>^e
der Dieiieiuien- mir so langsam zugcnoninien hat. ist »iwohl aus
formalen als auch aus materiellen Ursachen zu erklären. Ich bin
') Vgl. ikn . HJ. dirses .\rchi\> S. 2üy.
Digitized by Google
Die Berufs« und Gewcrbrxäbluug im Dcutüchcn Reich vom 14. Juni 1895. 125
geneigt, den formalen Ursachen sehr grolsen Einflufe einzuräumen.
Die Grenzen zwischen persönlichen Dienstleistungen und cigcntHcher
Berufearbdt sind nämlich fliefsend, insbesondere in einem landlichen
Haushalte. Die gleichen Momente, welche dazu geföhrt haben,
dafs 1895 die Familienangehörigen in höherem Ma(se als erwerbend
eingetragen wurden wie 1882 *), waren zweifellos auch iiir die Regis-
trierung der Dienstboten von Einfluß: eine gröfsere Zahl von
zweifelhaften Fällen ist nunmehr im Sinn der Erwerbthätigkeit ent-
schieden worden. So ist insbesondere der auffällig starke Ausfall
bei den männlichen Dienern zu erklaren. Auch durch die nach-
folgende Untersuchung nach Herufsabteilungen wird diese Annahme
bestätigt werden. .\us der üebersicht auf S. 127 ist zu ent-
nehmen, daiis die Zunahme im fjanzen hauptsächlich deswe^ren
so i^crinj^'rügig und gefallen ist, weil die Dienenden in der Berufs-
abteilung Landwirtschaft um 5021O abgenommen haben. Nun ist
ihre Berufsstellung in der l ;uid Wirtschaft besonders zweifelhaft.
Erinnern wir uns, dafs die landwirtschaftlichen Knechte und
Mägde eine Vermehrung um 129707 aufweisen, -) so liegt die
Vermutung nahe, dafs jener Ausfall hier in geänderter (ie^^talt
wieilcr auftauclit. Aehnlich verhält es sich mit der Bcrufs-
al'ii iluiig Handel und Verkehr, wo 1895 1474 Dienstboten weniger
als I^^.S2 angegeben worden siiul. Der Ausfall ist /war ganz un-
bedeutend, im Hinblick auf die kräftige Hntwirklung diesrr Hrrufs-
iltteilung aber höchst auffallig. Offenbar ist eine Anzahl \(mi Per-
sonen in sciicher Stellung, welche 1SS2 noch als [)crsünlicher Dien^^l
galt, 1895 bereits zu den (iehilfen im (rewerbc gerechnet worilen;
ich erinnere nur an die zahlreichen Kutscher, Hausknechte, Laden-
mädchen U.8.W., die sich auch in der Wirtschaft nützlich machen.
Es ist das mehr eine — an sich ja ganz erfreuliche — Aenderung
in der Beurteilung der Dienstleistungen, welche die Zahlen der
Dienstbotenhaltung aber herabdruckt. Auf geminderten Wohlstand
kann daraus keinesfalls ge9chlos.sen werden.
Neben diesen formalen Veranlassungen dürften allerdings auch
materielle Momente auf die Dtenstbotenhaltung gedrückt haben.
Zunächst die allgemeine Tendenz zur Verkleinerung der Haus*
haltungen, welche der modernen Entwicklung eigen ist. Familien-
glieder mit eigenem Erwerb verlassen früher als sonst das elterliche
Vgl. die Ausfiiluniiiscii Bd. XIV dieses Archivs 368.
>) Vgl. im XIV. Bd. dieses Archivs.
Digitized by Google
126
H. Kauchberg,
Haus um Lin/olr.liau>iiaiiun^cn zu. fuhicü.') Die 1mi.;c der städtischen
VVohnverhälinis>e erschwert die Dicnstbotenhaltunj^, mancherlei tech-
nische Einriclitun^cn, Gas- und Wasserleitungen, Aufzüge, Gasherde
u. dergl. machen sie entbehrlich. Denn allmählich dringt der technische
Fortschritt selbst in die konserx'ativen Innenräume des Hauses, in
Küche und Speisekammer ein. Und seine Wirkung ist auch hier die
gleiche wie sonst, er erspart menschliche Arbeit: man kommt mit
weniger Dienstboten aus. Auch ist der Geschäftskreis der Haus*
haltung dadurch eingeschränkt, dafs immer mehr Arbeitsprozesse
ausgeschaltet und von arbeitsteiligen Betrieben besorgt werden.
Dann ist der Hausfrau auf dem Arbeitsmarkte eine gewaltige Kon*
Icurrenz in der Arbeitsnachfirage der Industrie erwachsen, die
nicht nur mit höherem Geldlohn, sondern auch durch gröfsere
persönliche Unp^cbundcnhcit lockt. Endlich sind die gebesserten
Heiratschancen der Dienstmädclicn mit /u l»oi ürk-^i. lnii;cn. Dienst-
boten müssen ledig sein. 99 Prozent dcr>elben sind es. Mit der
Vcrehelichunj^ treten sie aus dem Dienst. So kommt es, dnfs sie
nicht allzulang dal)ei bleiben. 44 Prozent der Dienstmädchen sind
unter 20, 39 Prozent 20 — 30 Jahre, somit S3 Prozent unter 30 Jahre
alt. Die anderen .Altersstufen sind so schwach bcsct/.t, weil die
Mädchen schon vorher wc^L^chcir.itci halien. So kommt dat
die Dicn>tlioiLMihaltun|4 luchl im gleichen Mal>e zu'^enonunen hat
wie die Hc\ olkcrun;^. In zahlreichen Fällen wenicn für Arhcits-
x'errichlun^en, die sonst den Dienstboten zufallen, haii->haliiniL,'sii cmde
Hilfskräfte heranp^ezf)i;en, wie denn auch thatsachlich die Zahl der
Personen, die \ on häuslichen Diensten leben, ohne jedoch der 1 laus-
haltung der Diensigcber anzugehören, von 162076 auf 231 572 ge-
stiegen ist. Es besteht kein Zweifel, dals diese Tendenzen in Zu-
kunft immer stärker her\'ortreten werden. Die Frauen der wohl*
habenden Klasse werden »ch darein finden müssen, mit weniger
Dienstboten auszukommen. Und die Fortschritte der Technik und
der Arbeitsteilung werden ihnen das leicht machen, wenn sich die
Hausfrauen nur dazu verstehen, einen guten Teil ihrer Geschäfte
der volkswirtschaftlichen Produktion zu überweisen. Ich befürchte
nicht, dafs das Leben der Frauen dadurch ärmer wird. Im Gegen-
teil: sie werden erst Freiheit erlangen zur Pflege geistiger Inter-
Dafs die BenifstShlung «6 unterlassen hat, die Daten über die Zusammen-
setzong der HanshaUungcn zu verwerten, habe ich schon früher bedauernd erwihnt.
Aber (Iber jene Tendenx werden wir auch durch die Volksxahlitngen naterriditet.
Digitized by Google
Die Berufs- aad' Gewerbedthlang im Iieatsdicii Reich vom 14. Juni 1895. 12J
essen und zur Teiinalime an den Angelegenheiten des öffentlichen
Lebens.
Da die Dienst botenhaltu 11;^^ bis zu einem ^^ewissen Grad durch
den Wohlstand bedingt ist, so bestehen ^rölsere Unterschiede in
dieser Richtung zwischen den sozialen Klassen als zwischen den
einzelnen Kerufeii. Es führt zu nichts, die Dienstbotenhaltung nach
Bcriifszweigen zu untersuchen, wenn man dabei nicht auch auf die
sozialen Unterscheidungen der Berufsstellung eingeht. Darum werden
in der nachstehenden Uebersicht der Berufeabteilungen A— C weiter-
hin nach den Kategorien der Beru&stellung zerlegt.
Berafsabteiluii^ u BerafuteUuag
A. Laadwiftschafi
B. Indintrie
Selbständige
.Vngestellte
Arbeiter
I SellMtliidige
Angestellte
Arbeiter
ziuammen
Selhstiin<1i}jf
Angeslellte
Arbeiter
C. Handel ikVerkehr'
D. Himl. Dienste etc.
E. Oeffentl. Dienst etc.
F. BemfskMe SelbstMncfiKe
im gansen
Auf je ioo l:.rwerb-
thitife jeder Beruft-
bittsl. Dienstboten abteilm^ und »oktalen
1SS2
1895
1S82
349693
394 773
13.6«
I7.«S
1275«
13290
I3,a6
»9.94
16850
0,29
374697
434913
4fS«
268255
266110
13,01
12,09
27 267
«4157
10,34
14.29
24612
22 294
0,41
0.54
320 1 34
302 561
3,87
4.73
24499a
266656
29,04
38,«'
19504
20571
1 1.27
H,53
94B1
8224
0,77
i.»3
283977
39S4SI
13,15
18,81
1270
2 189
C^29
0.55
191 122
164570
«3^
"5,96
168 t 16
»3$^_
7^5
9,98
1 339316
1324924
5.«4
6,9«
Die drei Berufsabteilungen A — C zusammen i^cnomnion, entt^illcn
auf je IOO Selbständige 15.76, auf 100 AnGf^^strlhc Ii,i8 und auf
IOO Arbeiter 0,36, durchschiuttlirh aber auf h>o Krwcrbthäti^e 5,17
häusliche Dienstboten. ' j In sämtlichen Berufsabteilungen und Berufs-
') Richtiger wäre es freilich, luna» li-;t lih'jrni^jon l'rwi-rhth:iti>;«-*n auswusch eidim,
welche keine OieoÄtboten halten, und deren Vcrhältni> lu jenen mit Diea^tboten
fwtiMtellen, die Dienstboten aber lediglich in den Dieostgebera in Beuehong ai
AUein an den bierfilr erfocderlicben Unterscfaeidangen fehlt es in den iMUmg^
128
}I. Küuchberg,
stellung^en ist die Dienstbotenhaitun ^ gtk'tn zurückgegangen;
nur bei den Selbständigen der Industrie hat sie, wenn auch unerbeb*
lieh zugenommen. Auch bei der Untersuchung nach Berufsgr u p p e n ,
und berufsarten kommt es vor allem auf deren soziale Struktur an. Je
stärker die Arbeiter darin vertreten sind, desto geringer bleibt verhält-
nismäfsig die Dienstbotenhaltung. Innerhalb der Arbeiterklasse bleibt
sie durchaus gering. In keinem Beruf erreicht sie hier 2 Prozent,
nur in 18 Berufszweigen übersteigt sie t Prozent. Erhebliche
Unterschiede zwischen den Arbeitern der versclüedenen Berufsarten
sind in dieser Hinsicht ausgeschlossen. Wohl aber treten solche
schon auf bei den .\tigesteilt( n. Obenan stehen die Angrstclhcn
(Irr ( iru|>]>e For-^tw irtschaft un*l hischerei mit 36,07, der chemisriun
Industrie mit 16,08 und des Bergbaues und liuttcnwcsetis mit 15. SS
Dienstboten auf la) Er\verl)tliätiL,'c. Atn tiefsten steht der Prozentsatz
mit 5,6s bei den AngestelUi-fi der künslleris( hen H<'triel>(Mi mit
6,43 Ixi den Ant;e«;ti'Utcn der Heklei<lunL:sin(histrie. Atn gr<»rsten
sind die Abstimde bei den SelbstTindi j;en. weil die '-elb^tändige
StelhiriL; in den eiii/ehicn Berufen eine >ehr \ er»rhie<l« n« w irt-
^rli.iftliehe vMid so/iale Hc-deulunj^ hat. WO \ iele Alleitinu i^ter CKler
^MMi^tiL^c Isleine Leute <la/u gerechnet werden, bleibt da> \ erhältiiis
sehr un;;ünstig. "^o kuinnien in der Hekiei(hnigsindustrie nur 3.4 ^.
in der Holzindustrie 7,35- der I e\tilir)dustrie 8,23 l)ien>lboten
auf 100 Selbstaiuli;:c. Anders in Ikrukii. welche einen f^rölsercn
Hetricbsumfang bedingen und woselbst verhalt nismäfsig wenig Selb-
ständigen zahlreiche Abhängige gegenüber stehen. In solchen Berufen
können die Selbständigen auch zahh'eiche Dienstberten halten ; so ent-
fallen deren im Bei^bau und Hüttenwesen 85,94 und in der chemischen
Industrie 94,03 auf je 100 Selbständige. Unter den einzelnen Be*
rufsarten stehen obenan Geld- und Kredithandel (130,56
Apotheker (118,48 Forstwürtschaft (105,57 *»). Brauerei (88,90*0)
etc.; die Reihe schliefst ab die Wäscherei und Plätterei mit 1,90
Dienstboten auf je 100 selbständige Erwerbthätige.
Die Entwicklung seit 1882 hat im allgemeinen die Abstände
erweitert. Bei der Mehrzahl der Berufe und Berufsstellungen haben
die schoti früher erw.Uuiten , ziemlich allgemein wirksamen \'eran-
lassungen die Dienstbotenhaitung herabgemindert, besonders in der
Gruppe der Angestellten. Andrerseits h it die Diensbotenhaltung der
Selbständigen insbesondere in jenen Berufen zugenommen, in welchen
sie ohnedies schon sehr stark war; so ist sie in der (iruppe Bergbau und
Hüttenwesen von 72,49 auf 85,94, in der chemischen Industrie von
Die lieruf»- und Gewcrbeiäblung im iJeuuchen Reich vom 14. Juni 1895. 129
von 91,96 auf 94,05 Prozent der Erwerbthätigen gestic^jen. Hier
hat der gesteigerte Wohlstand den Einflufs jener Gegentendenzen
überwunden.
Da sich der Wohlstand in den grö(seren Wohnplätzen kon-
zentriert» so wächst die Dienstbotenhattung mit den Einwohner-
zahlen. Unter je loo Einwohnern waren liäusliche Dienstboten
Differetu
1895
i88s
189$ gegen 1882
in den Grofsstildten . . .
S.ö
- t,5
„ „ MitteUtfdtcn . . .
3,64
4.5
— 0,9
„ „ Kldutidten . . .
a.«i
3.7
-0,9
„ Lftndsttdten . .
s^
«,9
— M
mif dem Iladien Lude . .
1,9a
— 0,3
Im Vergleich zu 1882 hat der Anteil der Dienst boten in sämt-
lichen Grölsenkategoricn abgenommen, und /war umso mehr, je
volkreicher die Städte sind, ein Beweis dafür, dals es hauptsächlich
die gesteigerten Schwierigkeiten des städtischen Lebens sind, welche
die Dienstbotenhaltung herabmindern. Im übrigen hängt die geo-
graphische Verteilung der Dienstboten in erster Linie von der ört-
lichen Grestaltung der Beniüsgliederung ab. Zahlreiche grofsbäuerlichc
Betriebe bringen auch starke Diensbotenhaltung mit sich, Parzellen-
betrieb drückt sie herab. Umgekehrt in der Industrie: die Gegenden
mit tiberwiegendem Großbetrieb haben wenig Dienstboten, auch
wegen den verlockenden Arbeitsgelegenheiten fUr Frauen in den
Fabriken. Andrerseits wächst die Zahl der Dienstboten, je aus-
geprägter der städtische Charakter der einzelnen Landesteile ist.
je nachdem die einzelnen Bestimmungsgründe zusammentreffen,
■sich gegenseitig verstärken oder einander hemmen, schwankt auch
die Dtenstbotenhaltung von Gegend zu Gegend.
X. Die Familienangehörigen ohne eigenen
1-Iauptberuf.
Schon im IL Abschnitte cUeses Hauptteiles unserer Unter-
suchungen hat sich herausgestellt, dals die nicht erwerbend thätigen
Familienangehörigen ebenso wie die Dienenden seit 1882 langsamer
zugenonunen haben, als die Erwerbsthatigen. ^) Waren damals noch
>) VgL den XIV. Bttad dieses Archivs, S. aiglK.
Archiv Sir ms. G«flctig«b«ii| u. Statistik. XV.
9
130
H. Raochbcrg^
55,08 Prozent der Bevölkerung Angehörige ohne eigenen Hauptbenif,
^o sind es 1895 nur mehr 53,15 Prozent; noch immer aber gehört
die gröfsere Hälfte der Bevölkerung dieser Kategorie an.
Behufs genauerer Untersuchung müssen die Familienangehörigen
zunächst weiter fje^'lietlcrt werden nach dem Geschlechte und
nach dem Alter 'der Erwerbfähigkeit. Denn hiervon hängt ja die
Beteiligung an dem Erwerblebcn und damit auch der l'ebertritt
aus der Kategorie der l*"amilienangehörigen in jene der Berufs»
thätigen in erster Linie ab. £s wurden gezählt
Farn ilicnaog« hörige
mSnnlich weiblich zusammen
unter 14 Jahr .... 8159817 831944a 16379259
14 Jahr und darüber . . 690244 10447782 11 138026
zusummcn SS50061 186O7224 27517285
Um die Häufigkeit der Familienangehör^en ohne eigenen Haupt-
beruf richtig zu beurteilen, müssen sie zu jenen Personen in Beziehung
gesetzt werden, von denen sie erhalten werden, also nicht zur Ge-
samtbevölkerung, sondern zu den Erwerbthätigen. Und zwar wäre es
methodisch richtig, die Erwerbthätigen zu diesem Zwecke vorerst
darnach zu gruppieren, je nach dem sie (ür Angehörige zu sorgen
haben oder nicht, und die Familienhäupter weiterhin nach der An-
zahl der Angehörigen. Hierauf wären diese letzteren zu ihren Er-
nährern, nicht auch zu den alleinstehenden Erwerbthätigen in Be-
ziehung zu setzen. Bei der Bearbeitung der Materialien sind jedoch
diese, der Haushaltungs- oder F'amilienstatistik angchörigen Gesichts-
punkte nicht berücksichtigt worden, so dafs wir darauf angewiesen
bleiben, unseren Verhältnisberechruni^cn die Gesamtzahl der Lr-
weri^thätigcn zu Grunde zu legen. Darnach entfallen auf je loo
Erwcrbthätige
A n ^' c h t. r i g e
unter 1 4 Jahr über 1 4 Jahr Überhaupt
1895 1882 189s 1882 189s 1882
männlicli. n Geschlechts 35,61 39,72 3.01 2.85 38,62 42.57
weiblichen „ . . . . . 35i^7 3»89 45,60 48,74 81,47 »8,63
tiberhaupt JiA^ 79,6i 48,61 51,59 190,09 I3«!»
Je 100 Frwerbthätige hatten darnach 1805 für II AhlhIh iri,.^e
weniger zu sorgen als 1882. Die Abnahme betrifft hauptsächlich
Digiii^icu L
Die Berufs- und GewerbeziUilung im Deutschen Reich vom 14. Juni 1895. 13 1
die Kindel unicr 14 Jahren und erscheint, soweit dies der Fall ist,
hauptsächlich als eine Rcf lexwirkun;^^ der Zunahme der Erwerb-
thälij^en. Allerdings ist auch der Umstand mit zu berücksichtigen,
daTs die Erwerbthätigkeit nunmehr schon in zarterem Alter be-
ginnt. Viel kann das jedoch nicht ausmachen» weil im ganzen nur
181 453 Erwerbthätige im Alter bis zu 14 Jahren gezahlt worden
sind. Auf dieser unteren Altersstufe besteht auch kaum ein Untere
schied in den Zahlen iur die beiden Geschlechter. Wohl aber auf
der oberen Altersstufe: sie ist ganz überwiegend von Personen
weiblichen Geschlechts besetzt, von Ehefrauen, die von ihren
Männern versorgt werden — 73*39 Prozent jener Gruppe sind ver-
heiratet — , von Töchtern, die bis zu ihrer Verehelichung oder
doch über das schulpflichtige Alter hinaus erwerbslos im Elternhaus
verbleiben, während das beim männlichen Geschlecht selten der
Fall ist. Die Abnahme der Angehörigen über I4 Jahre ist also aus-
schlierslich den Frauen zuzuschreiten; sie ist die Folge erhöhter
Frauenarbeit.
Wie ist das Zahlcnverhiiltnis zwischen Erwerbthätigen und
Fainilienangehörigen, zwischen Ernährern und Ernährten zu deuten?
Es wurde in dem Zählungswerke von 1882, wohl im Anschlüsse an
die Auffassung K n gel "i,') die Bei ast u ngsziffer genannt. Damit
verbantl sich die X'orstellung, als ob die ernährten Angehörigen
gleichsam einen Druck avisübten auf den wirtschaftlichen Auftrieb,
un{l als ob diejenigen Berufe und sozialen Klassen, die für mehr
Angehörige /.u sorgen haben, ühler daran wären und eine gröfsere
I^st zu tragen hätten. Das tiittt nun gewifs privatwirtschaftlich in
zahlreichen l allen zu. X'olkswirtschaftlich und gesellschaftlich be-
trachtet, erscheint jedoch .sowohl die Familienentfaltung als auch
die Stellung der Familienangehörigen im Erwerfoleben nicht so-
sehr als die Ursache wie vielmehr als die Folge der wirtschaftlichen
Lage. Mächtigste Naturtriebe drängen zur Familiengründung und
•Entfaltung; Kulturtriebe sind es, die den Wunsch erwecken, die
Frau von harter Berufeaibeit zu befreien, die Kinder durch ausr
giebigere Vorbildung hierzu befähigen. Je günstiger die wirtschaft-
liche und soziale Lage, desto besser wird dies gelingen, desto
leichter können die damit verbundenen Lasten von dem Familien-
haupte ertragen wreden. Ich erblicke daher in dem Verhältnisse
zwischen Ernährern und Ernährten ein Anzeichen für die Leistungs-
>) Engel, der Wert des Menichen. Berlfai,. J883. .
9»
^ ij ...Lo i.y Google
1^ H. Kaachberg,
iahigkeit dieser letzteren und ihres Benifsstandes, nicht den Aus-
druck ihrer Belastung, sondern ihrer Tra^faiii^kcit, 'j und ich freue
jnich zu sehen, da(s das Zählungswerk von 1895 meiner Auffiosung
und der ihr entsprechenden Terminol<^ie beigetreten ist
Die Richtigkeit dieser Aui&ssung wird erwiesen durch die
Gestaltung des besprochenen Verhältnisses nach sozialen Schiditen,
welche zu verfolgen die Berufezahlung von 1895 zum ersten Male
Gelegenheit bietet In den 3 entscheidenden Berufeabteilungen
Landwirtschaft, Industrie, Handel und Verkehr treffen
Angehorig»"
auf je too unter 14 Jahr 14 Jahr u. darttb. ttberhaapt
Selbständige . . . 133.68 94,7> S28.40
AnffMtellte. . . . 81,9a 67,41 149,33
Arbeite) 56,87 3S.07 88,94
Das Verhältnis der Ernährten zu den Ernähren hebt sich also
mit der Lebenslage der einzelnen sozialen Klassen. Das fr[\i sowolil
fiir die unter als auch für die viber 14 Jahr alten Angehörigen. .\uf
dt r iK^heren Altersstufe sind die L'ntcrschiede sogar noch beträeht-
lieher und sozial von gröfserer Bedeutung als auf der unterer . Hier
sind sie hauptsachlich bedingt durch den Altersaufbau und die
Eamilienstandsverhältnisse der ein/ehien sozialen Klassen, \vo\on
ihre Fannlienentfaltung ja abhängt. Hingegen ist auf der höheren
Altersstufe der Zeitpunkt des Eintritts in das Erwerbsleben >o\\ ic des
Austritts aus demselben entscheidend. Ein Blick auf die nach-
folgende tabellarische Darstellung lehrt, dafs die Unterschiede haupt-
sächlich in der Lage des weiblichen Geschlechts begründet sind.
Auf 100 Erwerbthätige treffen weibliche Familienangehörige über
14 Jahr: bei den Selbständigen 87,86, bei den Angestellten 63,59,
bei den Arbeitern nur 30,56. Hier treten die Klassenunterschiede
also grell zu Tage. Denn die Differenzen hängen hauptsachlich
davon ab, in welchem Malse die Frauen der einzelnen socialen
Klassen an dem Erwerbleben teilnehmen.
Da die Klassenunterschiede in erster Linie entscheiden, mufs
auch fär die Untersuchung nach Berufezweigen die Kombination
mit der Berufsstellung durchgefühlt werden. Das geschieht för die
grofsen Berufsabteilungen in der nachfolgenden Uebersicht
') Rauchberg, Die Bevölkerung; Oesterreichs Mf Gnmd der Ei^febottse
der Volkiii&hlnng vom 31. Deiember 1890, S. J50 f.
Digitized by Google
Die Bcruls- und Gewcrbczäblung im DeuUchen Reich vom 14. Juni 1895.
2
ja
< *
I
I
O
: 9
•2 .-2
I
8 :
1 1
c
c
&
3
9
eo
S
>M
»r.
ce"
3
"Z
so*
männl.
l
1
o «r
O N O
>0 00
« «#»
5 ^' ^ ^
>o 00 00
♦ *o
*r> c '*5
8
o
>0 \0
5 ^
00
I
to r»
00 r»-i tri
00 «* O«
^ N_
vo" ■<? 00*
1-^ t —
<0 ro 00
O f« 00
rO
cn er
vr> ^
8
10
N
0
M
-r
3:
00
0
N
00
vo
t
-r
N
vO
N
«
ao — 1^ «-r,
' £ s" ^ :? 2. ' sT
^ 00 *•> o -« ^ ♦ w
00
w* -* ,
♦ 00 1^ O»
* ^ o
ä w
!
Cr- o —
♦ ^
«9
■000 S> »ni*.N\A)
3. %
00 r-» 00 vr,
3- t-- «1
q
00
1^
£ 5: Sil«. S-^ai*^
t'» - I ▼ « «
>2 =§
2^^
«5 t*l «0 w)
^ »*»
»A — ■
»o to »o
00
- Q
O \r>
•n fo
0^ 00
M « 00
•O * 00
q o
— 00*
0
<0 0
02 '«l
90
9^ >0 0' 00' I 0>
CO « ^ « I m
- q q. >o VO
eö tC o" P* QO*
00 t-» »O
ro vO
tf rf if
00 -
«A> Ov
o
d
« O ^ ^ I 1»
uo fj >0_^ 00_
fO
ro
- ro -
rö «6 00' 1
«*»
•0
O
0
u
I*
CO
5 ** »)
< <
- c-S
U H h
jn < <
5ll
•r C -t
X < <
<
'S
■A
c
c
o
i
s
I
o
II
Q U
90*
r<
Digitized by Google
134
H. Kauchbetg,
Betrachten wir die Berufsabteilungen im ganzen, so stehen
obenan Handel und Verkehr mit 143,01, der öffentliche Dienst mit
Ausschluß von Armee und Marine mit 142,11 und die Industrie
mit 140,70 Angehörigen auf je lOO Erwerbthätige. Den absoluten
Zahlen nach liegt das Hauptgewicht bereits auf den Schultern der
Industrie. Werden die einzelnen Kategorien der Herufsstellung
mit berücksichtigt, so ernähren die selbständigen l^ndwirte ver-
hältnismärsig die meisten Angehörigen 255 auf je 100 — ,
während die landwirtschaftlichen Arbeiter die geringste Familien-
entfaltung haben. Hinsichtlich der absoluten Zahl der Angehörigen
werden die selbständigen Landwirte jedoch von den Arbeitern der
Industrie entschieden übertroffen, inshcsi »lulerc hinsichtlich der Kinder
zahl.') Angehörige unter 14 Jahren ernaiirt die Landwirlsrhait rund
6 Millionen, die Industrie über 7 Millionen; auf die sen)Stätuligci\
l aiifhvirte koMinien da\ on nicht ganz 4 Millie)r;eii, auf die indu>trlellen
Aibeiiei aber h>l 4,5 Millionen. Je it>j l-.rw erl)thälige /ichcii in
der Landwirtsehaft 73.4«^. tltr Industrie aber 86,27 familien-
angehörigc Kinder unter 14 J.ihrcn auf. Wir sehen also, die Land-
wirtschaft vermag ihr altes Renomiticc . die zahlreichste Nach-
konunenschaft zu stellen, der Industrie ^eL;(-nüber nicht zu behaupten.
Wenn die Zahl der Gestellungspflichtigen, die ein Berufestand liefert,
ihm besondere Geltung im Staate zu verschaffen geeignet ist —
und das ist doch ein beliebtes agrarisches Ai^ument — so haben
die industriellen Arbeiter jedenfalls besseren Anspruch daraut
Auf das Verhältnis zwischen den Erwerbthätigen und den
Familienangehörigen nach einzelnen Beru&gruppen und -Arten ein-
zugehen, würde zu weit fuhren. Wohl aber ist hier der Ort, die
milienent<ung der der einzelnen sozialen Klassen der Selbständigen
zu untersuchen. Ihre Gliederung nach Merkmalen des Betriebs*
umfiinges ist schon im V. Abschnitte dieses Haupttciles erörtert
worden, ebendaselbst unter N'r. 3 auch die Mitwirkung der Familien-
angehörigen an den Betrieben des Haushaltungsvorstandes- *) Es
erübrigt nunmefu" noch die X'erteilung der Angehörigen ohne eigenen
Hauptberuf auf jene sozialen Klassen zu untersuchen. Das geschieht
in den ersten 3 Reihen der nachstehenden Uebersicht In den
letzten beiden Reihen werden die selbständigen, die mittliätigen
' i Das hiin^'t wie im Xr\'. Abschnitte dargeUian wird — mit der Gestoltunf
der Fftnülicnstantl>verhültnisse- uufs eiij,'>t»' zujammm.
*) Vgl. den XIV. band diencä Archive S. 620, O25 u. 62Ü tf. sowie S. 635 (T.
Digitized by Google
Die Berofa» und Gewerbec&Uong im Deutschen Reich vom I4. Juni 1895. I35
und die nicht erwerbenden Familicü.uijrehörigen zusammen«^'C7.0i^etj,
um SO die Gesamtstärke der einzelnen sozialen Klassen der Selb-
ständigen darzustellen. Damit wollen wir uns im nächsten Ab»,
schnitte beschäftigen. Ich habe die Zahlen, nur um Raum zu
sparei^ hier angefügt.
Fmntlictungcbunge Sdbitiiidige und
Somle ohne eigenen Hniptbentf *) Familienftngehörife
Klassen: auf je 100 zusammen
Betriebe mit
absolut
in Proz.
Selbständ. »)
absolut
in Pros.
I. Landwirtschaft. '1
l. unter 2 ha.
873426
14.94
166,27
1 6^2 q;6
IT. m— e
I 54845»
26,48
328,01
* i°6 44 J
TfT e— 10
1360256
23,27
251,18
s^i6a VII
IV 10— CO
1 802 371
30,83
266,06
Ittl 818
a'»'4
V. 50—100 „
189 066
3-23
281,76
325 26S
3.06
VI. 100 u. mehr ,.
72 S92
1,25
235.98
I 18430
1,11
zusammen
5846463
ICX3,üO
231,87
lob)6 626
100,00
2. Industrie für eigene Rechnung.
f I Pitt«
1671468
47.76
161,40
3 7 W 04*^
421,55
u. a— 5 „
1495015
4>,49
«47.77
2301 143
41.30
176 276
5.04
259.32
374200
4»93
83 886
2,40
268.S6
• *4 «73
2,23
V. 21— 100 „
91 640
2,62
274.67
131 763
2.36
VI. Aber ZOO „
24015
0,69
270,53
34009
0,61
niMunmen
34<»93«>
100,00
I9«»4»
5573343
100,00
3. HausindiMtrie.
1. 1 Peis.
958232
70.72
111,39
490265
70,36
n. 2- 5 „
97 307
194.47
190560
27.34
lU. 6—10
6916
I,yo
247.17
•«793
1,69
IV. über io „
2672
0.73
252.07
4261
0.6 t
susunnicn
3(^5 »27
100,00
127,70
696879
100,00
Hiiadet und Verkebr«)
I. 1 Pen.
791 37a
5».64
174.39
1245177
4».»3
n. a- 5 t,
6 1 3 00 ]
40,00
194.73
» 13253';
43.87
m. 6—10 „
80 loS
5. »3
232.48
131 i<r-
?.oH ■
IV. 11—20 „
31 73»
2.07
245,20
48693
1,89
V.liberflo „ _
16205
...
a4«t39
34104
0,93
1532507
100^
186,31
.3581704
100,00
') Die Gliederung der mitthäti(;en Familienangehörigen nach den socialen
Klassen der Srlb>tandif;rn auf S. 635 de«; XIV. Pnn'I<->^.
') Die absoluten Zahlen und die Gliederung der .Selbständigen nach r^o^ialea
KJaaaen «of S. 620, 625 ti. 628 des XIV. Bandes.
*} Ohne Glrtneiei, Tienoeht und Fischerei.
*) Obne Post-, Telegraphen- und Eisenbahnbetrieb,
Digitized by Google
136
il. KauchberK,
Die Familienangehörigen ohne eigenen Hauptberuf sind darnach
ganz anders nach socialen Klassen gegliedert als die Selbständigen
und auch anders als die mitth&tigen Familienangehörigen. Wie die
Vergleichung mit den im XIV. Bande auf S. 635 hierüber mitgeteilten
Verhältniszahlen zeigt, überragen infolge der reicheren Familienent«
ialtung der höheren Klassen die Prozentsätze der erwerislosen Ange-
hörigen hterselbst jene der Selbständigen, während sich das bei den
unteren Klassen umgekehrt verhält. Die mitthätigen Familienange-
hori*^en treten ganz überwiegend auf der untersten Stufe auf so dafs
das Schwergewicht der Angehörigen ohne eigenen Erweii> nach oben
hin verschoben erscheint. Eine Ausnahme hiervon machen nur die
untcr-t( n beiden Klassen der Land^virt^chaft, in dem der Parzellen-
bctricl) <iic l'amilienentfaltung nicht behindert, aber nicht genügende
Gelegenheit zur vollen Beschäftigung der I'\unilic'nt,dic(Ur bietet.
.•\n interessantesten ist die 3. Zahlenreihe unserer Lebersiclit.
Tn Verbindung mit der damit korrcs|)ondierenden 3. Zahlenreihe
der L'ebersicht auf S. 635 des XIV, Handes zeigt sie, wie die Fa-
niilienentfaitung /usamuienliängt mit dem rmfait<:a' des Betriebes
und mit der sozialen Stellung des FamilienhaujiU >. Falsi man näm-
lich ilic mitthätigen und die sonstigen I'amilienangohorigen zusammen,
so entfallen deren im ganzen auf je 1000 Selbständige
in den sozialen
in i!rr
in licr Industrie
in der
im Handel
Klassen 'j
l^adwirtscbait
lür eigen« Kcclinung
Hausindustrie
und Verkehr
L
210,86
161,40
111,39
»74,39
II.
291,67
280^83
»59*7«
m.
303t38
3ai,47
280^74
IV.
388,88
«97,99
3«>«,97
276,27
V.
384,74
«94,93
:}
VI.
283,40
283,11
259,47
Ganz dieselbe Erscheinung wiederholt sich in allen drei Benils>
abteilungen: die Familienent<ung ist auf der untersten Stufe der
sozialen Schichtung, bei den Unbemittelten, am geringsten. Sie
wächst dann an, um beim Mittelstande — der IV. Stufe in der Land-
wirtschaft, der HL Stufe bei den anderen Berufen — ihren Hohe-
punkt zu erreichen. Auf den höheren Stufen des Wohlstandes
nimmt sie wieder ab. Auf den unteren Stufen ist es der Druck
der Not, der sich feindlich und hemmend entgegenstellt; in den
oberen Schichten wirken wirtschaftliche Erwägungen* und sonstige
') Die Abstafangen sind die gleichen wie in der Tabelle auf S. 135.
Digitized by Google
Die Berufs- and Gewerbexäblung im Deuttcben Reich vom 14. Juni 1895. i^j
egoistische Motive in der gleichen Richtung. Die Tragweite dieser
Konstatierung kann nicht leicht überschätzt werden. Zwei Vor-
urteile entgegengesetzter Art werden dadurch widerlegt Zunächst
die Befürchtung als ob die proletarische Volksvermehrung relativ
die stärkste wäre. Dann die Annahme, dais jede Veibesserung der
wirtschafdichen La^e auch zu einer rascheren und möglicherweise
bedrohlichen Volksvermehrung führe. Die Wahrheit li^ gerade in
der Mitte. Notlage hindert die Familienent<ung, höherer Wohl-
stand hemmt sie; der Mittelstand ist es, der in allen Berufen die
stärksten Familien aufzuweisen hat Vor drohender Uebervölkerung
brauchen wir uns nicht zu fürchten, seitdem wir das Gegenmittel
kennen, das sich in den drei Hauptzweigen der Volkswirtschaft
gleichmäfsig bewährt hat: es i>t der Wohlstand, der retardierend
wirkt So vermag unsere Kultur von selbst ihr inneres Gleich-
gewicht wieder herzustellen, wenn es nämlich durch allzurasches
Anwachsen der Bevölkerung ernstlich bedroht sein sollte. Allein
davon kann ja ernstlich garnicht die Rede sein.
Der Prozentsatz der Familienangehörigen ohne eigenen Haupt-
~l)eruf — 5, Spalte der Ucbcrsicht auf S. 135 — zeigt die gleichen
Abstufungen, aber mit gewissen Abweichungen. Er bleibt auf den
unteren sozialen Stufen erheblich zurück, weil hier die Familien-
angehörigen, insbesondere die Khefrauen, in höherem Mafsr im Be-
triebe des Faniilienoberhauples niitlhätlg sind. Es verbleiben hier
also verhältnismärsig weniger Angehörige in der Kategorie der Er-
werblosen. Aus der gleichen L'rsache erscheint die hainilienent-
faltung der oberen sozialen Schichten verstärkt, so dals die that-
sächliche .Abnahme der Kinderzahl in der Tabelle auf S. 135 erst
auf der obersten Stufe bemerkbar wird, in der Hausindustrie, sowie
im Handel uml X'erkehr überhauj>i nicht.
W'u köimen also zu.sammenfassend sagen : Die Familienentfaltung
ist am stärksten im Mittelstande, die Familienarbeit in den unteren
sozialen Schichten der Selbständigen, erwerbloses Leben im Scholsc
der Familie, wie nicht anders zu erwarten, in den höheren Klassen.
') Es ist hier nicht drr Ort zu £cij;cn, dafs tu einer Z^-it, die den allrn Kultur-
völkern die Produktion des ganzen Erdballs zur Verfüguu^ stellt, und in welcher
der tecbaücbe Fortidirbt zn dner ongealiiitcn Bebemcfanag der Infäeren Natur Ittr
ncnschlicbe Zwecke gefUhrt bftt, Uebenrölkenmg blofs solchen Stimtm droben kam,
welcbe die Teilung der Erde oder den Eintritt in die tccbniicb'Boaale Evobition ver»
dornt bnbcn.
Digitized by Google
Ij8 il- Rauch her ß.
XI. L c l > c r h I i c k über die ^ o / i a 1 e S r Iii c Ii t u n g
il c r IM' N a m t e n Ii i \ «"» I k c r u ii ^.
In (Jen \ oi 1k ri^a'hcnden 6 .\h>chniUen habe ich die Elemente
der sozialen Sclnchtung des Deutschen Volks vorgeführt. Es soll
nunmehr der Versuch gemacht werden, die wichtigsten Zahlen zu
einem (iesamtbild zusnninH'n/ufa>seii. Eine dcrartii{c l ebprsiclu
liat die Hearl)t itui)i^^ der Ik-rufs/ahlung von 1.SS2 ':;;i-Hrf<.Tt ' , ntr!it
al)cr jene von Ich ;4iui*|)ierc nunmclir die Zitürii v^>u i.St>5
in ähnlicher Weise und stille sie jeru ii \on 1Ö1S2 gegenüber. So
gelangen wir zu der umstehenden I al)elle.
(Siehe die Lcbcr^icht aut S. 139. 1
Die VerhSItniszahlen unserer Tabelle sind berechnet i) (ur die
Erwerbthätigen allein und 2) fiir die Summe der Erwerbthätigen
und der von ihnen erhaltenen Angehörigen, also für die Gesamtzahl
der Klassenzugehörigen. Die häuslichen Dienstboten werden dabei
als eigene erwerbthätige Klasse behandelt und zur Berufsabteilung
D gezahlt. Die Berufsabteilungen E öflTentlicher Dienst und F be-
rufslose Selbständige werden, da ja die Gesichtspunkte der sozialen
Klassenbildung hier nicht in der gleichen Weise zutrefTen, wie bei
den anderen Beru&abteilungen, nicht weiter zerlegt, sondern in
Gänze in Rechnung gestellt. Es ist schon früher darauf hingewiesen
worden*), dafs es hauptsädilich formale Momente sind, welche 1S95
zu einer aufserordentliclK n Erweiterun|T; der letzterwälititen Beruf'<-
abteilung geführt haben. Infolp^edesscn ist der Promilleanteil der Bcrufs-
abteilungen A— C, für welche die soziale Klassifizierung^ durchgeführt
wird, entsprechend zurückgegangen, und damit auch der Anteil der
sozialen Klassen, in welche sie zerfallen; nur die .Angestellten machen
hierin eine Ausnahme. I Vüher enltielen auf die Selbständigen der
Berufsabtciluiigen A — C 26.0 l'ro/ctit <lcr (jesamlbevolkerufig. jetzt
nur 22,6 Prozent, auf die .Arbeiter früher 53.6, jetzt 52.8 Prozent,
wogegen der .Anteil der Angestellten \ on i,; auf 2,6 Pro/t-iit ge-
stiegen ist. Rechnet man noch die Lohnarbeit und die havisli< hen
Dienste 7ur .Arbeiterklasse, so beträgt ihr .Anteil an der (lesamt-
be\ olkci uiig 59,0 Prozent gegen 02,2 Prozent im Jahre 1SH2. Wie
sich das X'erhakiiis innerhalb der einzelnen Rerutsabtcilungen naeh
F^inbczichung der Familienangehörigen gestaltet, wolle aus der Tabelle
selbst entnommen werden. Es erhellt daraus auch, dafs es lediglich
>) Statistik dr> Deiil-i-hi n Reichs, N\-u • |- 15d. 2 S. 69*.
Vgl. den 11. AbschniU S. 269 dc:> Xl\ . iliiudeü.
Digitized by Google
Die Beruf»- und Gcwerbeiählung im i>eut»cbcn Reich vom (4. Juni I&95. i
n
2
C
-5 *
5 s
1)
S °
V
S
3
<
8
a f e
4 £
_r -T
t*^'
i# W> fr» «o
- 00
9'
« Q
*5 Ä rC
et Cl^
« fO ^
« -
« f» — ^
(IC*
a o o N
c o' er — '
^ ' a>
Ov - 90
O M
8
fl
!
ff ir, o ao*
^ «n «
1^ —
— W — fO sO
CK ««. O ae
M tr et fo 00
c
^5
o
o
M
I I
■O V _
« <
c o»
o :
"f" 0^
C' r» — o\
m I ^0
SO >e rt r*
! - < ^
• i
g- 30
0
r--
» '
0 -t-
:^ /:
0
f«
1^
1/%
0
N
00
f
0
f
y:
0
m
n
^«0
IS
ir.
CO
u%
M
%n
0
«•
1
0 00
M
«1
0
0
vO
f
0
f
00
PI
X
00 f
00
- VC
90
«/-.
QO
s
00
IT)
1
VS
!/->
1—
O
o
9>
oc
** 'S
M ^ •/•. ri o
00 PI N « y;
»/% O' X f1 'f-
r- * - ?v -f
♦ »O PO
5 =0
PO
»/■.
0
fO
•r
f~
^1
in
©.
w>
S
Ov
?
r«
«0
M
PO
f
0
•9-
1
8
«
0
00
00
p*
<flQÜ
• • • V ■
= ^ - ' ^
Digitized by Google
140
H. Rauchberg,
der Ausfall an landwirtschaftlichen Arbeitern ist, welcher den Pro-
zentanteil der Arbeiterklasse dnigermafsen herabgedrückt hat Durch
die Zunahme der Arbeiter in der Industrie, sowie im Handel und
Verkehr ist dieser Auslall absolut reichlich, im Verhältnis zu den
anderen sozialen Klassen doch nahezu wett gemacht worden. Inner-
halb der Arbeiterklasse aber hatten 1 882 noch die landwirtschaftlichen
Arbeiter tlas Uelicrgcwirht, 1 895 haben es bereits die gewerblichen.
Uncl ijoch viel kräftiger tritt das zu Tage, wenn man anstatt der Er-
werbthätigen aliein die Summe der Klassenzugehörigen ins Auge iaist.
Dals die nach der Unterscheidung des Arbeitsranges — Selb*
standige, Angestellte, Arbeiter — gebildeten sozialen Klassen keines-
v.t - einlieitlich sind, sondern Personen von mitunter sehr ver-
schiedenartiger Lebensstellung umfassen, ist früher schon mehrmals
hervorgehoben worden. Insbesondere gilt dies von der Klasse iler
formal Selbständigen. Wir haben sie daher im VI. Abschnitte
dieser Untersuchungen nach den l'mfang ihrer Betriebe weiterhin
in «»ziale Kategorien eingeteilt. Jene (irup|)ierung l)c/.t»g sich
aber nur auf die ErwerbthätiL[cn . niclit auch auf die l ainilien-
angchörigcn. Soweit dieselben im Betriebe iiiitili.itii; ^ind, haben
wir >ic in der Uebcrsicht auf S. 635 des XI\". l^aiidcs, suwcil sie
FamilienaiiL,a'hi>rige sind, auf S. 135 des laufenden Bandes nach den
sozialen Klassen der betreft'enticii Selbständigen geglie<lert. Ks er-
übrigt tuii in« !)r noch die dcsamtstäi kc jcnei Klassen zu berechnen.
Das ist tiic Aufgabe der letzten beiden Spalten der oben ci u ahnten
Uebcrsicht auf S. 135.
Das Zählungswerk benutzt diese Materialien dazu, um sämtliche
in jene Uebersichten einbezogenen Mitglieder der Selbstandigenklasse,
die Selbständigen sowohl wie ihre Angehörigen, weiterhin zusammen-
zufassen nach den 3 uns bereits bekannten Abstufungen: unbemittelte
Klasse, Mittelklasse und vermögende Klasse. Das Ergebnis ist das
folgende :
anbemittelte Klasse
Berofsabtcilungeii: absoliit */«
Luidwirtschaft . . 1 717 873 15,87
Industrie 3197313 5i|00
HMidd and Verkehr*) 1 34$ 177 48,33
zosamtnen 6155363 31,34
llittelkluM
absolat *'«
8959869 83,03
3906 136 46,36
I3«a4a3 5°^
13178438 67,09
vennögende Klaaie
absolut %
119344 t.ii
165773 3,64
34IO» 0.93
309330
».57
V fthnc 1- orstwirtsthaft.
Obnc Post-, Tel<-,graphen> und Eüscnbahnbcuieb.
Digitized by Google
Die Ucrufs- und Gewcrbexählung im DeuUcben Reich vom 14. Juni 1895.
Werden auch noch die Abhängigen der hier in Betracht ge-
.sogenen Berufe mit ihren Angehörigen in Rechnung gestellt, so
entfiülen von je loo Erwerbthätigen samt Angehörigen
in der in der im Handel
Landwiitochaft Indnitric nnd Vcricdir im gancen
4wf die Sdiidit der Selb-
tt. Kwar
auf die
•tftndigen . .
vermögende
Mittelklasse . .
unbemittelte Kkvsc
auf die Schicht der Ab
hängigen
60,67
31.45
59.3 i
46,69
«•67
o.«3
0.5S
9*74
50.37
14.58
3«M5
9,63
l6,04
18,61
14.63
68,35
40.69
54.3»
Diese Gliederung um£ai(st jedoch nur 42 Millionen Personen
oder 81,27 % ^^i* Bevölkerung des Deutschen Reichs. £s fehlen
daraus, von der Forstwirtschaft und den Post-, Telegraphen- und
Eisenl)ahiibetrieben abgesehen, die Berufeabteilungen D, E und F,
sowie die Dienenden. Die hierher gehörigen Erwerbthätigen
werden im Zählungswerke, zum Teil schätzungsweise, auf die oben
unterschiedenen sozialen Schichten aufgeteilt. Damach kommt man
zu folgender Besetzung derselben:
Sdiicht der SelbstiBdigen
a. vermögende IQuse . . .
b. Mittelklasse ....
c. unbemittelte Klasse . . .
im ganzen
Schicht der Abhängigen . . .
zusammen
«bsolnt
646 242
15874 600
6492384
23013 226
28 757058
51 770284
in Prosenten
30.66
ia.54
44.45
55.55
100,00
Damach würde rund der dritte Teil der Bevölkerung des Deut-
schen Reichs der vermögenden und der Mittelklasse zuzuzahlen sein,
wogegen zwei Drittel auf die unbemittelte Klasse der Selbständigen,
sowie auf die Abhangigen ent&llen.
Ich habe schon im VL Abschnitte dieser Untersuchungen dar-
gethan, da(s jede derartige Abgrenzung der einzelnen sozialen Klassen
mehr oder weniger willkürlich ist, und die Gründe angeführt, welche
insbesondere die Annahme rechtfertigen, dafs die im Zählungswerke
gezogenen Grenzlinien die Mittelklasse der Selbständigen zu staric,
die unbemittelte Klasse zu schwach besetzt erscheinen lassen.
Die gleichen Bcfienken bestehen auch gegenüber der Aufteilung
der Angehörigen unter jene sozialen Klassen und insbesondere
Digitized by Google
1^2 H. kauclibrrg,
gegenüber dem Schlüssel, wonach die Ergänzung bis zur Hohe der
Gesamtbevölkening erfolgt ist Auch hierbei scheint nnir das statis-
tische Reichsamt all zu optimistisch vorgegangen zu sein und
insbesondere die Grenzen zwischen der unbemittelten und der
Mittelklasse zu nieder gezogen zu haben.
Ich habe im Abschnitte einige Korrekturen an der Dar^
Stellung des statistischen Amts anj^cbracht und an der Hand derselben
berechnet, da(s in den 3 Berufsabicilungen A — C *) 1,5 Prozent der
Enverbsthätigen auf die vernu"»geiidc Klasse, rund 42 Prozent auf die
Mittelklasse und 57 Prozent auf die unbemittelte Klasse entfallen.
Die ^Irirhrn Berechnungen auch für die .\nL;clu*)ri^'cn und sodann für
die (ioannhcit der Klasscn/ugehöriLTcn (liin h/uführen, bin ich aulser
stand, wt il die <iliederung der Angehörigen nach ilen von mir ge-
wählten Abslufungcti nicht nachgc\vie-.en und k(Mn SchUissel \ur-
'i itidrn ist, um die I'anulieiiajvgehörigi 11 auch nur scliät/ung^weise
liarnacli aut/uteilen. \\ enn ich nachstehend nieineiseits eine Schätzung
tlcs gegenseitigen \'erhältnisses der einzrhien sozialen Klassen v«'r-
suclie, so kann dies nicht für die gesamte lk-\ > ilkerung, sondern nur
für tiic Lrwerbthatigen im I laujitberuf geschehen. Wollen wir dabei
an der bereits früher eingeführten Dreiteilung — vermögende Klasse,
Mittelklasse und unbemittelte Klasse — festhalten, so kann, um auch
die Abhängigen in die Uebersicht einzubeziehen, angenommen wer-
den, dafs die Angestellen im grofsen und ganzen der Mittelklasse, die
Arbeiter und Dienenden der unbemittelten Klasse angehören. In
der früher vorgenommenen Klassifikation der Selbständigen in A — C
fehlen aus den auf S. 630 des XIV. Bandes angedeuteten Ursachen
39 5^3 Personen, welche ich nach dem für alle übrigen gefundenen
Verhältnisse auf die 3 sozialen Schichten aufteile. Damach ist ihre
Besetzung die folgende:
Berttfsabteilnngen A— C Selbstiadige Abhiagige zasammcii
Venniigcnde Klasse 80481 — 804S1
Mittelklasse. AiiKcstflltc .... 2291181 621825 2913006
Unbemittelte Klasse^ Arbeiter . . 3103384 12816553 15 918936
im ganzen A-C 5474046 »343*377 i89ia4aj
*
Demnach entfallen von je loo Berufsthätigen der Landwirtschaft»
der Industrie, sowie des Handels und Verkehrs auf die vermögende
Klasse 043, auf die Mittelklasse 154 und auf die unbemittelte
.Klasse 84,2. Was die anderen Berufsabteilungen anbelangt, so ge-
'j Ohne Korslwirlschaft, Post-, Telegraphen- und Eisenbahnbetrieb.
Digitized by Google
Die BcruU- und Gt-werbciählung im Deutschen Reich vom 14. Juni 1895.
hören die Berufsabteilung F häusliche Dienste und Lohnarbeit
wechselnder Art, sowie die hauslichen Dienstboten, die im Haus-
halte des Diens^ebers leben, durchaus der unbemittelten Klasse
an. Schwierig ist die Aufteilung der Berufeabteilungen E und F.
Wir bleiben dabei auf recht willkürliche Schätzungen angewiesen.
Von den a-Personen der Berufsabteilung E öffentlicher Dienst, mit
Ausnahme des Lehrpersonals, rechne ich ein Drittel zur \'er-
mc^enden, zwei Drittel und das gesamte I .elirpersonal zur Mittel-
klasse. Die Unteroffiziere und Gemeinen der Armee und Kriegs-
flotic werden in dem gleichen Verhältnis zwischen der Mittelklasse
und der unbemittelten Klasse aufgeteilt, alle anderen c-Pcrsonen zur
unbemittelten Klasse geschlagen. Darnach entfallen in der Berufs-
abicilun^ E auf die vermfi<rende Klasse So 688 Personen, auf die
Mittelklasse 776455 und auf die unbeniiUcite Klasse 568818.
In der HcruN.ibtcilun;^^ I*" wollen wir von den Rentnern un<l
den Studiereni ein Zeiiniel als vermö^'cnd Lrelu n lassen und den
Rest zu ^deichen I cilcn zwischen der Mittelklasse und den l 'n-
beinittelten aufteilen. .Alle anderen Personen dieser Berufsabteilunj,'.
können unl)edenklieh zu der unbemittelten Klasse <jeschla^en werden.
Dann f^ehciren in dieser Rerufsabteihui!^ zur unbemittelten Kia.s.se
[ 205920 i'ersoncn, zur .Miiiclklasse 7O6544, zur vermögenden Kla.sse
170344.
Alles in allem verteilen sich darnach die Erwerbthatigen und
berufslosen Selbständigen folgendermalisen auf die be^rochenen drei
socialen Schichten:
absolut ia PnMcnteii
Vermtigcnde Klasse . . . 331513 M
Mittelklasse 4456005 18.4
Unbemittelte Klasse . . . 1946548 t So,2
zoummen 34352999 100,0
Kund \icr l'unftcl iler Personen mit einem naii]id)rruf und der
berufiu>.en Selbständigen gehören demnach zur unbemittelten Klasse;
ein l ünftel ragt darüber hinaus. Die vermögende Kla.sse macht 1,4
Prozent, die Mittelklasse 18,4 i'rozcnt aus.')
') XMcse Bcreduinng stimmt im groften voA gaaxcn mit den SchltsmigcB
Schmollers auf dem evaageliscb-sotialeQ KonKKfs von 1897 n Leipag ttbania»
Verhandlongcn «tc, GüCtiaf^n 1897, S. Iiaff. Auf Grund einer Kombination der
Ergebni^s^ der Einltommrnsteueneranlapunc. sowie der Berufs- nn<l Grwcrbrzählung
Kelangt ScbmoUer ta dem Ergebnis, dafs im Deutschen Reich von je 100 Familien
Digitized by Google
»44
H. Rauch berg.
Nochmals möchte ich nachdrücklich davor warnen» die Be-
deutung der von mir oder im Zahlungswerk angestellten Berech-
nungen über die Starke der einzelnen sozialen Klassen zu über«
schätzen. Sie sind vielmehr unter folgenden Gesichtspunkten zu
beurteilen :
Die Berufszählun^ hat uns über die Berufsstcllun^ oder den
Arbeitsrang der Erwerbthätigen unterrichtet Die Betriebszählung
hat ferner Gelegenheit gegeben, diejenigen Personen, die ihren Haupt-
beruf formell wenigstens in selbständi<7er Stelluf^ ausüben, nach
den verschiedenen Abstufungen des Betriclisumfanj^es zu gruppieren.
Es l.iL,' rmn nahe anzunehmen, dals den rntersrhie<len der Berufs-
Stellung und des Retriel)sumfanges auch solche der ^'»/ialon Stellung
überhaupt cntsj>rer!nMi, ><> dafs aus jcfien Abstufungen auf lic Hfsetzung
der einzchien sozialen Klassen ges<^'hlos^cn werden könne. So riciUig
das auch im allgemeinen ist. so schw er sIikI jedoch die < ii enxlinien
zu ziehen. Denn die ein/.ehien --o/ialen Schichten gehen unmerklich
in einander ül)er. W cder begrift licli . noch in ihrem Personen-
bestande können sie scharf von einander geschieden werden. Nur
auf Grund eines ganzen Komplexes voi\ Merkmalen kann <lie
Klassenzugehörigkeit der einzelnen hidividuen oder Familien be-
stimmt werden. Nur ein Teil dieser Merkmale kann überhaupt
statistisch erfafst werden, und die Berufszählung hat hiervon btofs
zwei heraushoben: Berufestellung und Betriebsumf^ir g. Es liegt
auf der Hand, da(s sie nicht ausreichen zur Abgrenzung der so-
zialen Klassen. Sie lassen blofs erkennen, welcher Art die soziale
Schichtung sein müfste, wenn die Betriebsoi^ganisation allein hierfür
in der That ma&gebend wäre. Aber sie ist es nicht Wie auch immer
man die Ziffern gruppieren mag, sie liefern nur ein Bikl der Be-
triebsorganisation des Deutschen Volks, betrachtet unter sozial-
2,oS ;:ur oherstm Klasse. 22,92 zum oberen Mittelstand. 31,25 zum untcn-n Mittel-
Stand und 43.75 zu den untrr- n Kla>':en i;>-horrn Der ..unt' r.- Milt •I<t.in<! " \iu>l 'li<-
,, unteren KLi«---'!!'" zusammen wur'ien l»--!!;!!;!!;^ .ier \m T- vt-' !>■ /irt- rt'-ti .,i;ti!>'-iiiitt«"lt<*ii
Klasse'' enlaprechen . der „obere Mittel>und" s< iini' II dei kt su h beiläutig mit
der Mittelklasse in meiner Darstellung. Alle deraitigen Scbätzaii((en und Berech-
mmeen könncD nur als ganz bctliuflge angesehen werden. Wenn trotxden svct «of-
tßax verschiedene Weise angestiellte Berechnioigen einander so nahe kommen, so
.kum mgenoomeii werden, dnfs sie wenigstens dieQnmdzilge der socialen ScUchtnng
richtig wiedeT|;eben. Dafs Schmollers Schätzung ein etwas v.'^>"^t>geK9 Bild liefert,
stimmt (^anz gut damit zusammen, dafs seine Einheiten die Familien^ meine die bc*
rufitbätigen lodividueo sind.
Digitized by Google
Die Berufs- und Gewerbexählung im Deutschen Reich vom 14. Juni 1895.
politischen Gesichtspunkten, aber nicht ein Bild der wirklichen sozialen
Schichtung. Mag man die Grenzlinien bei diesem oder jenem Be*
triebsumfan^ ziehen, sie werden gewifs überwiegend Gleichartiges
zusammenfassen, mitunter aber auch Verschiedenartiges. Unser
Bestreben kann nur daraufgerichtet sein, die Scheidung möglichst
reinlich zu bewirken, d. h. die Linien nach der Berufsstellung und
dem Betriebsumfang so zu ziehen, daüs sie mit der Abgrenzung
nach anderen Gesichtspunkten m^Hchst übereinstimmen.
Auch ist dabei zu berücksichtigen, da(s die zur Bezeichnung
der sozialen Klassen gewählten Ausdrücke — in unserem Falle
vermögende Klasse, Mittelklasse und unbemittelte Klasse hier
nicht dasselbe bedeuten, wie im allgemeinen Sprachgebraucli. Hier
werden sie dur« h die statistischen Grenzlinien enger umschrieben,
und nur in dieser Beschränkung wollen sie gelten. Zur vermögenden
Klasse f^^ehoren also in den Beruüsabteilungen A — C grundsätzlich
nur Selbständige mit Betrieben von einem gewissen Umfange,
wenngleich sicherlich die X'ermögenslagc und sonstige soziale
Stellung vieler Angestellter, ja s(jgar manches Arbeiter- eine be^^sere
sein ma}^^ Besonders schwierig i-l die Ab^renzini;^^ der Sell)>>tan<li;^a"n
der Mittelkla>:se und der unbeinittellen Klasse nach dem Betrielxs-
umfang; ich \ erweise in tlie^er Richtung im einzelnen norlmials
auf meine Aii>fulirLinu'en im Abschnitte unter Nr. 1. i-.s trifft
aber w^ohl anch nicht in allen hallen zu, wenn die Angestellten
durchaus zur Mittclklas>e, die Arbeiter zur unbenuiielten Klasse
gerechnet werden. Die Angestellten greifen nach oben und unten
hin über, und auch von den Arbeitern mögen viele eine Stellung
errungen haben, die sich dem Typus der Mittelklasse annähert
Dais endlich die Aufteilung der Berufsabteilungen E und F eine
ziemlich willkürliche ist und sich nur als ein Notbehelf rechtfertigen
lä&t, um zu einer Gesamtübersicht über die soziale Schichtung zu
gelangen, habe ich schon früher nachdrücklich betont.
Bei dieser Sachkige wäre es vielleicht richtiger, von sozialer
Betriebsoiganisation anstatt von sozialer Schichtung oder Gliederung
sdüechtweg zu sprechen. Aber dieser Ausdruck ist nun einnnal
üblich geworden zur Bezeichnung des hiermit erörterten Komplexes
von statistischen Ergebnissen, und SO mag er denn beibehalten
werden. .Allein, nochmals sei es hervorgehoben: es ist nicht die
soziale Schichtung selbst, die uns hier vorgeführt wird, sondern nur
die Betriebsorganisation, die ihr zwar zu Grunde liegt, aber doch
nicht ausschlielslich für sie mafsgebend ist. Und andrerseits ist die
Archiv für tos. Gcscugebuoc u. Suti«ik. XIV. lO
Digitized by Google
146
Ii. Kauchbe rg,
soziale Schichtung; auch nicht der einzige Gesichtspunkt, worunter
jene Betriebsorganisation zu beurteilen ist
Die sozialen Schichten werden von zwei gewaltigen G^en-
bewegungen durchzogen, seitdem das Kastenwesen des Feudalstaats
der staatsbürgerlichen Gesellschaftsordnung weichen mufste. Mit jeder
durchgreifenden Aendcrutig der Wirtschaftsverfassung in Technik und
Betrieb, in Besitz und Kinkommen, schwindet ein Teil der alten
Aristokratie und neue F.lcmcnte steigen in die oberste Scliichtc
empor, l'nd dir ichc He\ve<^ung pflanzt sich fort von Schicht zu
Schiebt.' Zu;^leieli mit ihrer Zusammensetzung ändert sich dabei
auch das .Niveau ihrer Lehcnshahun<^'. ihrer Ansprüche und Krrungen-
selmften und üir j^M-t:,'ens(.'iti^es N'erhältni';. l nd in (hesein '„'rolVen
rnil)il(hir!<;>j>r(»/eis ist die Hedtutun;^^ der Herul^stellun,,' alhn.ihhrh
eine andere ^^eworden. i )u .lufsteii^t nde Kla>scnl)r\ve'^un^; äulsert
sich iiielit tun' in dem Autliicb, th^r die ein/ehien hiduiducn aus
ihrer Kla<>e ui t inc Ix ihcre nnporträ^t, «sondern aueh in der Hebung
fies Nixeaus der xt/.i.iUii Sehiehten im L;an/.en. Dieser Hewet^untJ
veriUdL^en die starren Katej.uiricn des Arbritsran;:^es — Sclbstcindigc,
An^estelUe. .\rbeiter — , uoraul the berulsst.tlistik lieschränkt bleibt,
nicht zu fol^^en. Sie ^deichen einem festen l'e^cl, und wir brauchen
eine schwimmende Skala, die mit dem Gesamtniveau steigt und
fällt Formal selbständige Stellung bietet lange nicht mehr in dem
gleichen Mafse wie früher die Gewähr eines «^ewissen Wohlstandes,
Ansehens und Einflusses, und umgekehrt bedeutet die Stellung als
Arbeiter lange nicht mehr so streng und unbedingt wie früher den
Verzicht darauf. Mit einem Worte: die Berufsstellung ist für die
Lebenshaltung und damit bis zu einem gewissen Grade für die
soziale Stellung nicht mehr von gleicher Wichtigkeit wie früher.
Sollen wir deswegen die sozialpolitische Bedeutung unseres
statistischen Materials geringer veranschlagen? Ja und nein. Sie
ist ^^erint^er zu veranschlagen insofern» als der Schlufs aus der Bc-
rufs>tehung auf die Lebens- und Wohlstandsverhältnisse immer un-
sicherer wird, ."^o sehr auch <lie !^j»it/en sieh erliebcn mögen, im
allgemeinen findet in dieser Hinsicht eine Annäherung zwisdien
den vergeh ieflcnen Katcf^oricn des Arbeitsranges statt. Ihre Grenzen
bedeuten nicht in gleichem Malse wie fKiher scharfe Unterschiede
der Lebenshaltung. Darum darf das starke Hervortreten der Ab*
'i .•\us{;>vi-irhnett r historisrlu-r l"rb<-rl>li(k hieriibt r in iN-m M'hon frülu-r er«
'wähatrn Vortrage Scbmollers auf dem cvaDgcliM:b<sozialen Kongrefs von
Digitized by Goo<?Ie
Die Berufs» and Gewerbez&hlung im Dealschen Reich vom 14. Jooi 1895. I47
liän<^'i<^en, inhe';« Hulcre der Arbeiter j];egenüber den Selbständigen,
wie icli früher dargetban habe '). keineswegs als Proletarisicrung im
Sinne von Verelendung gedeutet werden.
Hat die Berufsstellung au privatwirtschaftliclicr Bedeutung ge-
wonnen, so ist ihr so/ialpolitischer Kiiifluls dafür im Wachsen. Je
mächtiger das Klassenbewufstsein nicht blofs der Arbeiter, sondern
auch der Angestellten und Unteraehmer wächst, desto stärker stützt
es sich auf die formale Stellung im Berufe, welche nunmehr inner-
halb jeder dieser Kategorien Personen von den verschiedensten
Einkommen- und Vermögensverhältnissen zu einer einheitlichen
Kksse verbindet Die Bildung und Abgrenzung dieser Klassen be-
ruht in der That hauptsächlich auf der Berufestellung im Sinne der
Benifsstatistik und insofern ist die sozialpolitische Wichtigkeit ihrer
Ergebnisse eher hoher als germger einzuschätzen.
XII. Der Nebenerwerb.
Schon im m. Abschnitte dieses Hauptteiles habe ich erwähnt *),
dafe die Berufsgliederung nach dem Hauptberuf allein nicht richtig
beurteilt werden kann. Noch ist die volkswirtschaftliche Arbeits*
teilung nicht soweit vorgeschritten, dafs sie jeden Erwerbenden in
den Dienst einer einzigen Berufsbethätigung gestellt hätte. Der
Prozels der Berufibildung ist noch im Zuge: fortwährend werden
Personen aus der in sich abgeschlossenen Hauswirtschaft au^elöst
und in die volkswirtschaftliche Produktion einbezogen, insbesondere
von (kr Basis der Landwirtschaft aus. Aber sie treten nicht -ofort
und ganzlich aus der Haus- oder i^iul Wirtschaft in die xolkswirt-
schaftiichc Berufsarbeit über. Bei den Einen bleibt die bisherige
ökonomische Ba.sis unverändert und die neue Bethätigung erscheint
nur als Nebenerwerb. Bei den Anderen ist sie schon entscheidend
geworden für die [ chensstellung und wird aU Hauptberuf eingetragen,
wübreiul das frühere ökonomische Milieu iin Xeljenerwerfj nach-
wirkt, (rleich einem jaiiuskoi)f l)lirkt also der Nebenerwerb /uglcich
vorwärts und rückwärts auf dem Wege unserer wirtschaftlichen Ent-
wicklung. Das ist der i laupt^esjrht'^jtunkt für die Beurteilung der
Nebenerwerbserhebung. L>anel)en laufen noch andere Strömungen
mit, insbesondere der Uebergang von klcnigewerblicher Produktion.
1) Vgl. den XIV. Bd. S. 613 f.
*) Vgl. S. 284 dejt XIV. Budes.
Digitized by Google
148
II. Raucht) erg.
zum Handel mit einschlägigen, von der Grofsindustrie hergestellten
Waren, die Verbindung vcrschiedenartit^er gewerblicher Verrich-
tungen zu einheitlichen Produktioaszwecken oder doch in einem
und demselben Geschäftsbetrieb, die Ergänzung des Einkommens
aus Berufen, die ihren Mann nicht ausreichend ernähren, aber auch
nicht völlig in Anspruch nehmen durch anderweitige Erwerbthätig-
keit, der allmähliche Uebergang von Familtenangehörigen ins Er-
werbleben und ähnliche Veranlassungen mehr zu nebensächlicher
Erwerbthätigkeit
Sichere Gieii/.eii lassen sich dabei nicht ziehe;., weder dem
Hauptberufe noch der er\verl)I<>sen Steihmg als I^'.imilieiian^'ehörige
gegenüber. Die Kriterien des Nebenerwerbs waren bei der Erhebung
von 1895 die gleichen wie 1882: es mufs eine Krwerbthätigkeit
stattfinden — arbeitsloses Kinkommen '^^iU nicht als Neljenerwerb —
und sie mufs einen we-^enllichen Teil des ( n.•■^anUeinko^llne^s bringen.
Dabei ist es j^leich^ülti^, ob sie neben dem I Iauj)tberuf oder von
Personen dhne Hauptberuf, ob sie zur Zeit der ZähluriLj oder /u
einer atidcren Jalnc-^/cit aus^a'übt \v ;d.'i Kriterien sind aber
nur in^otcrn wirksam, als sie in da^ ik rulsbew uistsein der Be\olke-
rung Lin^anfj gefunden haben.' Das ist nun beim Nebenerwerb iti
viel geringerem Malse tler l all wie beim Hauj)tbcrul. \ iele Be-
schättigungen, welche nach der Absicht de: hiliebung als Neben-
erwerb hatten angegeben werden sollen, siiul von den Befragten
als zum Hauptberuf gehörig angesehen und deslialb nicht besonders
eingetragen werden, Koch schlimmer bt es mit solchen Erwerbs-
arten bestellt, welche man überhaupt nicht als Berufsthätigkeit zu
bezeichnen gewohnt ist, wie z. R das Austragen von Zeitungen etc.,
oder welche doch gewisse Gesellschaftskreise fiir sich nicht als
solche gelten lassen wollen, wie z.B. zahlreiche Frauen des Mittel-
stands die Anfertigung weiblicher Handarbeiten. Von grö&tem Ein-
flüsse war dabei, dafs nach der Anleitung zur Ausfüllung der Haus-
haltungsliste die Spalten fiir den Hauptberuf bei jeder Person unbe-
dingt einen Eintr^ enthalten mufsten, nicht auch die Spalten fiir
den Nebenerwerb. Es bestand demnach nicht die gleiche zwingende
*) 1883 sollte war die rcgelmäi^ig aiugeUbte Erwerbthittgkeit ftk Nelien-
«nrerb gelten. 1895 hat man an dem ErforderoU der RegelmüfsigkeU nicht fest-
gehalten. Praktisch besteht kaum ein Unterschied, da auch 189$ nur eine solche
Th&tigkeit als ^'eh<-n<;t^\v^l• ^ih. dir einen wespntUchen Teil d<-$ Gesamteinkommens
bringt, somit in der Regel auch einen wesentlichen Teil der Arbeitsseit in An-
spruch nimmt.
Digitized by Google
Die Hfrufh- und Gcwcrbcziililuug im Deutschen Reich vom 14. Juni 1895. j
Veranlassung für den Befragten» sich selbst und der Erhebung gegen-
über Rechenschaft abzulegen über die Nebenerwerbsverhältnisse, wie
über die Hauptberufsverhaltnisse. Man konnte sich beim Nebenerwerb
um die Antwort drücken, indem man die betreffenden Spalten des
Fragebogens leer liefs, beim Hauptberuf nicht Und so mulste denn
die Erhebung des Nebenerwerbs ungletchmäfsig und lückenhaft aus-
fallen. Wir haben zwar keine Anhaltspunkte dafür, um das Mals
der Auslassungen exakt- zu bestimmen, allein die Durchmusterung
der sachlichen und örtlichen Details läfst keinen Zweifel darüber,
dafs notorisch wichtige Xebenerwerbszweige viel zu schwach besetzt
erscheinen, also in weitein l'mfant^^e nicht eingetragen worden sind.
Auch mögen sich gewisse Schwankungen dadurch rrc^cbcn, dafs die
(irenze zwischen Haui)t- und Nebenberuf nicht gleichinälsig ein-
gehalten worden i^t. Das sind eben die un\ ermeidlic hcn Schwierig-
keiten der Neljetierwerbsaufnalnne : sie wird tkn Ncl)cncT\verb nie
ganz erfassen sondern immer nur Xälieruiigswcrte liekrri. weil hier
die •'Ul)iektiven Momente eine noch grölsere Rolle spielen wir beim
Hauptberuf. Was im Zweifel Hauj>tl)cruf und wa> lU Neben-
erwerb zu gelten habe, muls (henso tlcr Kntscheidung der Be-
fragten ulierlasseii bliibcn, wie die I rage, ob eine Thätigkeit ein-
traglich giMug ist, um überhaupt als N'ebencrwetb angesehen zu
werden. Die Bearbeitung kann und soll daran nichts nachbessern.
Sie war 1895 im Rechte, wenn sie es vermied, die Berufsangaben
ex post nach den Materialien der landwirtschaftlichen und gewerb-
lichen Betriebsaufnahme zu berichtigen, was 1882 geschehen ist
Das hat allerdings die Anzahl der Nebenerwerbfalle, insbesondere
auf dem Gebiete der Landwirtschaft, herabgemindert, kommt aber
der Wahrheit jedenfalls naher.') Anlafs zu einer Berichtigung lag
') Die landwirt«cbafiliche BetriebwnfiMlnne hat 555S367 LandwirtscbkAs-
betriebe ergeben, die Benifsxahlanf aber a 5sa 539 selbstündige Landwirte im Hanpt-
beruf tmd 3159606 im Xfbcnbemf, zusammen 46S3145, mithin am S76 172
wrnij,'rr als landwirt-chafdiche Betriebe. Der L•adwir(^fllaftsb«nd drs Zählung»-,
wrrks erklärt dies daniil. (i ifs von der Bctriebszählang auch zahl roiclic Zwergbetriebe
erfal'.t worden ».ind. «Irren Frtrh^ni* zu Pöring hlt-iht. um drn !?csit/er zur Ein-
tragung; f'.m ^ l.iiulw irt M (i.iltlu lifii .\rb»-ncrw<"rbs zu v<-ran1.is>«ii. (Irorf; von
Mayr iialt in ilem Aui^atze „Die I>eut*ihe Landwirtschalt und die Bcrulsstutihtik
TO« 1S95", Beilage zur Allgemeinen Zeitung vom 19. April 1899, and noch nach-
drtldtlicher in der No. 160 der Allgemeinen Zeitung vom 17. Juli 1899, ^Die Be-
deutung des Nebenberufs für die allgemeine Berufutatistik'', sowie in seiner Be-
sprechung der Berufszfihlung im Allgem. ütati^tis« h< n Archiv V. Bd. S. 709fr. diese Er-
Itllrung fär nicht ausreichend und meint, dafs die landwirtschaftliche Bethätigung in den
Digitized by Google
il. Raachberg,
nur vor, wenn ein- und dieselbe BeschäfliL^unti, und zwar in der
gleichen Beniüsstellung, sowohl als Haupt- als auch als Nebenberuf
Berufsaaswciscn nicht in ibrem ToUen Umfang wiedergegeben werde. Die Einwendaag
de* ZibliingBwerks. dafs der landwirtschaftliche Nebenerwerb ein nicht zu über>
«eheadcs iufneret Merkmal eben am Grandbetits habe and daher bei der Erhebung
«cbiwierig<*r übergangen werden konnte als soastiger Nebenerwerb, will von Mayr
nicht gelten lassen. Rs sei im Gegenteil eher üblu li, dafa auch l.amlwirti* <-u h nach
ilir«T sonstigen Berulsbcthäligung benennen und «-intrafii-n, so dais ii» r lamiwirtv haft-
Ih lic }{.iuplbrruf mitunter mir als NVbencrwiTb ang<-g«'l)fn wcrdr, in aiid«rrr-n Kiillcn
aber dieser leUterc ^.lU/.lu li unter den Tisch falle. Leber die HauptberuUverbaltm.vte
der bhaber landwirtschaftlicher Betriebe werden wir durch den Landwiitichaft«band
genügend aufgeUirt (S. 46* ff.). Es ist richtig, 46,14 Prozent aller jener Eetriebs-
iiihaber, ja selbst In der Klasse des Grofsgrandbesitaes von 100 ha und darüber
noch inuner 5,34 Prozent gehören anderen Hauptberufen als der Landwirtschaft an.
Wenn nun ein erheblicher Teil davon es unter1a>^rn hat, Landwirtschaft au>-l\ nur
als Nebenerwerb anzugegeben. so muf» daraiu lux [1 kcin<-swegs auf dt'* l.ürkfn-
haftigkeit jontT Frhcbun^ geschlossen werden. L'enn es gehört, wie wir bereits
wissen, zu den Kriturien des Nebenerwerbs, dals eine e r w e r b e n <1 e 1ha-
tigkeit vorliege und daf» i»ie einen wesentlichen Teil des Kinkotnmens
bringe. Nun ist Grundbesitz an sich eine Besitzthatsache, nicht notwendig eine He»
rulsthatsache. Es entspricht völlig den Intentionen der Zihlnng, wenn diese beiden
Dinge nicht miteinander verwechselt werden. Grundbesitzer, die ihren Besitz weder
selbst bearbeiten noch unter Uirer persönlichen L<-ituiig bearb«-iten lassen, sond-rn
nur als Quelle arbeit-'lo>en Rentcneinkonimc!i< l ' »rächten, sind daher v.dlig im
Rechte, wenn sie unterhis'icn. sich als Landwirt- im Nebenberuf einzutragen,
ebenso jene, denen ihr Grundbrsii/ — und mag er auch über loo ha umfa^>'-ti —
eben nicht einen wesentlichen l'cil ihres Einkommen!» bringt. Denn nur in dicAcra
Falle durften sie nach den Ihnen gewordenen tiErliutermigett** einen Nebenberuf al*
vorhanden aanehmen. Hitt man sidi das vor Augen, so wird man die Thatsachc,
dafs die Inhaber von 876 t6a landwirtschaftlichen Betrieben, denen — nebenbei bo*
merkt — durchaus nicht ebensoviel Besitzer entsprechen, weder im Haupt- noch im
Nebenberuf als Landwirte sich eingetragen haben, nicht als ein Gebrechen der Er*
hebung auffassen, sondi-m virlm»-hr als ein wiihtir;r', Svn)',iti»m fiir die geminderte
Bedeutung lies (»rundbesilzcs \'urn .*>tand|iunkte des -.unjektu eii lieruf'>b<-wu(sts'"ins
und Bcrufsintercsses aus. Der Vorwurf, als ob die berufs»lati»tik die agransclicu
Interessen in sn schwacher Besetzung zeigte, ist nicht gerechtfertigt. Das mag
bei der Darstellung nach dem Hauptberuf allein zutreffen; durch die Nebenberufs«
daten wird jedoch die richtige Beurteilung angebahnt. Jene viel umstrittene
DifTerenz von 876 1 72 Betrieben ohne die entsprechenden Berufssubjekte erteilt uns
vi. tn .'lir einen Wink, d.ifs man die agrarischen I^teres^en nicht schlechtweg nach
der Zahl uder der Kliu lie lier Hi triebe, suiidern nai h deri-n ökonomischer und beruf-
licher Wichtigkeit fr.r d -n Inlialter zu h tne-sen habe. Und wer vermochte eiu
kompetcntcrea L'rtcil darüber abzugeben als dieser selbst in seiner Berufsdeklaration r
Die Berufs- und GewerbexäUuiig im DeuUcihen Reich vom 14. Juni 1895. i^i
eingetragen war. Darin liegt ein Widerspruch; nur der Hauptberuf
wurde gezätUt Anders, wenn jene doppelt verzeichnete Beschäf-
tigung im Haupt- und N'chcnberuf in verschiedener Stellung; be-
trieben wird, z. B. landwirLscliaftiiche TaL:^löhncrei verbunden mit
selbständigem Landwirtschaftsbetrieb. Das ist ganz wohl vereinbar
und kommt häutig vor. Ein Anlal^ zu Aenderungen ist hier nicht
g^cben.
Wohl aber crgiebt sich gerade in dioeni beisjiiclsweise an-
gegebenen Falle eine «^^ewisse Schwicrii^'kcit für die \'ci\deiohutig
mit den P>gcbni.sscu von 1882. Wie ich schon bei anderer Ue-
Icj^cnlieit erwähnt habe ist nämlich für die landwirtschaftlichen
Taglühncr mit selbständi'jijcm Landwirtschaflsbelriel) 1882 eine eigene
Kategorie der Kerufsstelhnig vorgesehen gewesen. 1895 ist sie auf-
gchissen; Personen in solcher L.'ige gellen entweder als selbständige
Landwirte oder als landwirtschaftliche Taglöhner. In beiden Fällea
war die andere Beschäftigung als Nebenberuf einzutragen. Folge-
richt^ müiste demnach iiir die Vergleich ung der Ergebnisse von
1882 und 1895 jene kombinierte Kategwie der BerufssteUung vor
1882 als aus Haupt- und Nebenberuf zusammengesetzt angesehen
werden, und es wäre die 1882 ermittelte Zahl der Personen mit
Nebenerwerb um 838 766, jene der NebenerwerbsfiUIe um 875 887 zu
erhöhen. Bei diesem Verfahren eigiebt sich jedoch, wie die Auf>
Stellungen auf S 153 erkennen lassen, ein so betrachtlicher Ausfall,
dafs er nur zum Teil aus materiellen Veränderungen erklärt werden
kann. Offenbar hat die geänderte formale Behandlung der Verbindung
von selbständigem Landwirtschaftsbetrieb und landwirtschaftlicher
Taglöhnerei 1895 so wie auf die Zahl der landwirtschaftlichen Tage-
löhner, -j auch auf die Ergebnisse über den Nebenberuf, zunächst
innerhalb der Landwirtschaft und dann überhaupt gedrückt. Das
wird für die Folge mit zu berücksichtigen .sein.
Maupt- und Nebenberuf müssen aKo in ihren \\'echselbcziehun _;eri
untersucht werden durch sorgfältige Kombination der iiieruiier
gemachten Angaben. So erfahren wir, wie die Haupt- und Neben-
berufe und die dadurch gekennzcu hiicten Interessengruppen in-
einander iiheri^reifen und erlangen einen Einblick in die mannig-
fachen Verwicklungen des Erwerblebens.
Diese Kombinationen finden in zweifacher Kiclitung statt, mj-
') Vgl. die Berne rkunjjcu auf .S Oio Uc!> .\IV. B^itiUcN.
*) Vgl. ebendaselbst S. bjS.
Digitized by Google
152
H. Raucbberg,
wohl vom Hauptberuf als auch vom Nebenerwerb ausgehend. Von
den einzcltjen Positionen des Hauptberufs au^-^^ehend, indem für die Per-
sonen mit Hauptberuf anf;e<,H]>rn wird, (»b sie einen Nebenerwerb
haben, ob spe/it ll in der Landwirtschaft oder in anderen Krwerb-
ZWeigen, ob in sell)Ständiger oder in unstlbständiLcer Stellung.') Voo
tler Seite des Nebenerwerbs aus findet eine Koml)ination mit dem
I lauj>tl)erul insofern statt, als zunächst die einzelnen Nebcnbcrufs-
fälle nach dem vollen Detail des Ikrufsscheinas auft)ereitet worden
sind und dann /u jeder Position nn^cL^eben wird, ob die dahin gc-
liöri^'cn l'cr^diu p dem Haujitbcrut r.ach erwerbend >md oder nicht,
ferner für den l all <k r I j u crlolluiti^^keit ob >ie selbständig oder unselb-
5;tän<lij4 aus^^tübt w ird, und zwar auch hier wieder <ib in der I.andwirt-
schatt oder in anderen Ikrulen. Da eine und die>elbe Person mehrfachen
Nt br t rwerb haben kann, bedmicn die Sunmien jener Posten nicht
mi hi Personen nut Nebenerwerb, sondern Nebenerw erbs I a 11 c. Ihre
Zahl ubertrifft beträchtlich jene der Personen mit Nebenerwerb.
Aus der Zusammenfassung der Hauptberufs und Nebenerwerbs-
daten wird sich schliefsUch die Gesamtzahl der Berufetälle für jeden
einzelnen Berufszweig ergeben.
Bei unseren Untersuchungen wollen wir zunächst vom Haupt-
beruf ausgehen und sehen, wie viele Benifsthätige (bezw. berufelose
Selbständige) in den einzelnen Berufsabteilungen einen Nebenerwerb
ausüben. Dann ist die Gliederung der Nebenerwerbsfalle und ihre
Verteilung auf die Berufsstellungen des Hauptberufs zu erörtern,
und schliefslich der Einflufs des Nebenerwerbs auf die Berufeglie*
derung überhaupt.
Die Personen mit Nebenerwerb, die im Hauptberuf er-
werbthätig sind, verteilen sich foigendermafsen auf die einzelnen
Berufsabteilungen ;
(Siehe die iifhen -(r}irii<Jr Lebersicht auf S. I5.v)
Der Nebenerwerb nimmt ab. 1895 wurden 505829 Berufs-
tliätiLic wt iiii^er mit Nebenerwerb ermittelt wie 1882; das sind 12,72%
des Standes von 1882. Von je 100 hauptsächlich Heruf.>.lhäti^'en
hatten 1882 noch 20,90 einen Nebenerwerb, 1895 nur mehr 14,29. -)
>) Hingegen fehlt dieM Angabe für die Familieoangehörigen und Dienenden.
Wir erfahren nrar, wie viele Nebenerwerbs f&Ue auf diese Kategorien entfallen,
nicht aber wie viele PerMwe« daran beteiligt sind, und welchen Bcmfsxwcigen «ie
hauptberuflich an}:rboreB.
* liber c!ni Kürkj^ang uml die Zahl der Nebenerwerbs t alle vgl. weiter
nnten die Auslühruni^en uut S. 15^.
Digitized by Google
Die Berufs- und Gewerbezahlung im iJcut-schcn Reich vom 14. Juni 1895. i
: SS2
Aimtii
Proxeatc der
ABSalU
Prozente der
QCT
hauptb«
•ruflich
Amr
bnnptbemflicb
BernfabteUnngen
T*rT»vOTlf*TI
Erwcrbthütieen
Env-erbthätieen
mil
jeder
mil
mit
jetler
mit
Neben-
Berufs-
:il>tei-
lung
Neben-
beruf
Neben-
' Benifil-
Neben-
beruf
erwerb
über-
haupt
erwerb
ahaei.
Itmg
iiber-
haupt
A LandwirtsctMA . .
1049542
12,66
3»*o6
1510 170
»8,34
37.95
B Indnstrie ....
1491 865
18,02
45.58
1 6933*»
«6,47
WS
C Handel und Verkehr
384105
16,43
n.73
3979*7
l) Häusllichc Dienste .
31 333
7.24
0,96
55960
14,08
Ml
E Ocffrntlicber Dienst
1 15 260
8,08
3.52
142 218
13.79
3.57
F Benifslo^^e ....
20 \ 33 ;
6,15
170679
'3.27
4.S2
zusammen
3373446
14,29
itx>,oo
3979275
20,96
Der Rück^^ang betrifft beide Geschlechter und kehrt in den meisten
Berufstellungen wieder. Was zunächst die beiden Geschlechter
betrifft, so hatten einen Nebenerwerb
vun je 100 bvruf&thätigen 1895 1S82
MSnnem 17,82 2Si46
Frauen 5,12 8,22
Die Beteiligung der Frauen am Nebenerwerb erscheint weit
geringer als am Hauptberuf: hier 25,35. duri q,^)",, der betreffenden
Erwcrbthätigen. Ks ist jrdoch zu herüfksirhti-cn . dafs es sich
hier nur um <«>Ic!u' Frauen handelt, welche auch einen Hau|>tberuf
au^ulicn. W'escnthch anders würde sich das Verliältnis gestalten,
wenn \vn auch den Nebenerwerb der Familienangehörigen mil in
Rechnung stellen könnten. ^)
Nach Berufsstellungen und Berufsabteilungen sind die Neben-
erwerbsverhältni.s.se die folgenden :
Es haben Nebenerwerb
von je 100 hauptsächlich ErwcrbthStigen
Benifsstellnni;
der Land-
des Handels
Uberhaupt
in A, B u. C
wirtschaft
der Indnatnc
und Verkehrs
1895 1882
1895
188a
1895 i88a
1895 1882
SelbstSadige . . .
ao.39 «7,92
34.3t
41,84
»8,90 39.79
26,95 5«^
Angestellte. . . .
«6,71 37,35
11,84
»7.79
■3.50 6,a7
9,08 16,72
9,06 18,28
ia,65
18.42
10,64 15. i>
10,88 18,12
'1 Vp,]. (iif .\n^.it»-n über dm AxxuW drr Familienaiifehörigen und speziell der
Frauen an den Nebenerwerbs fällen auf S. 159.
Digitized by Google
H. Rancbberg,
Dafs die Selbständigen verhältntscnäfsig am häufigsten einen
Nebenerwerb ausüben, erklärt sich daraus, dais er durch BesitZ'
Verhältnisse b^ünstigt wird. Insbesondere von der Industrie, von
der die meisten N'ebenerwerbsfälle abz\vci;^en, f^ilt dies, dann auch
vom Handel und Verkehr: Grundbesitz kommt hier als landwirt-
schaftlicher Nebenerwerb zum Ausdruck. Kr ist das Residuum des
früheren landwirtschaftlichen Berufs, von dem entweder der (ie-
/ähltc oder sein Vorfahr zu gewerblicher oder Handelsbelhätij^ung
übergelaufen ist. Zutj^leich wirkt er al> \'< >i sj »ann, um hier zur
besseren Bcrufs>tclluiig zu gelangen. Damit stimmi auch ubercin,
dals der Nebenerwerb ganz überwiegend in selbstandiLMn- Stellung
ausgeübt wird imd zwar verluiltnisinalsig am häutigsten \un ><>lchen,
die auch im 1 lau['ll)eruf selbständig sind. Im ganzen sind von je
\Ol) lkrul>iliatigoii mit Nebenerwerb «^1,93 im Nebenerwerb selb-
ständig. In den 3 Berufsabteilungcn I^ndwirlschafi, Industrie, I landel
und Verkehr sind
voo je 100 im Hauptberuf
im Nebenenrerb
selbstSndig «bbängii;
SelbftKndigen 85,84 14,16
AnpcsteUten 90.30 9.70
Arbeitern 7^16 21,84
xusamnieii 82,40 i7f6o
•
Dafs aber auch sonst die selbständige Stellung^ beim Neben-
erwerb so sehr überwiegt, erklärt sich aus dem geringen Um-
fange seiner Betriebe. Gehilfen wirken dabei nur in selteneren
Fällen mit, und andrerseits wird dem Nebenerwerb nur jene Zeit
gewidmet, die der Hauptberuf frei läfst. Damit nimmt ein Arbeil-
geber nur schwer vorlieb. Nur auf eigene Rechnung kann solche
freie Zeit verwertet werden.
Die Abnahme des Nebenberufs i>t — von den formalen Ver-
schiedenheiten der Bearbeitung der Materialien im Jahre 1882 und
1895 abgesehen — nach meinen einleitenden Bemerkungen zu er-
klären aus den Fortschritten der volkswirtschaftlichen Arbeitsteilung. ')
') Dftfs der Nebenenrerb nur oavoUatlndig erfafst worden itH^ habe ich schon
nof S. 148 n. 149 anvKefllliit. Die Vergleichnag der Ergebnisse von 1895 lak jener von
1882 wird iladuroh kuuni becinträclitigt, weil beide Erhebungen die gleichen Schwi«?rig«
keiten /u iiiir-rwindfn hatten und demnach wohl auch so xir-mli-h die gleichon Lücken
aufweisen. Aus d< r V••r^ohiedenheit der Ergebnis>e von 1SS2 iSa^ darf d<'mnaeh
fUglich »uf die allgememea Entwickclungstendenzen de^ Näbeaerwerb» zuriickge-
!>chloa»cn werden.
Digltized by Google
Die bcruta- und Gewcrbc^ählunj; im Deut^>clicn Reich vum 14. juni 1S95. 1
Wenigstens io der Industrie sowie im Handel und Verkehr trifft
das zu. Der Hauptberuf nimmt hier die Menschen immer strenger
in Anspruch; er beherrscht immer starker ihr Beni^efiihl, so dafs
die Rudimente der früheren Wirtschaftsstnfe absterben oder doch
bei der Eintragung in die Haushaltungsliste nicht mehr mitspielen.
Der überraschende Ausfall im Nebenerwerb der landwirtschaftlichen
Arbeiter — 509728 im Jahre 1895 gegen 1075245 im Jahre 1882—
ist in erster Linie jedenfalls aus den bereits früher erwähnten for-
malen Aenderungen in der Registrierung der landwirtschaftlichen
Taglöhner mit Land zu erklären.
Eine bemerkenswerte Ausnahme bilden die selbständigen I-and-
wirte. Sic sind die einzige Grupf)c, in welclicii der N'ebencrwerli
häufi'^er t^rwordcn ist. früher 410034 selbständige I-andwirte mit
Nebenerwerb oder 17,92",,, jetzt 495 90S oder 20,39 "/o- r)a-; jiaUt
aber völlig zu meiner Theorie. Hier haben wir das vorausblickende
Antlitz ties Januskopts vor uns: der N'eljeneruerb ist der Vorlxjte
der Industrialisierung, des l'ebergatigs von der I^md Wirtschaft zu
Gewerbe, Handel und Wrkelir. Noch werfen sie ihren Schatten
nur erst in der l urrn des Nebenerwerbs voraus; bei einer späteren
Zählung ist das Verhältnis in manchen Fällen vielleicht schon das
umgekehrte.
Drei Momente sind dafUc malsgebcnd, von weichen Haupt-
berufen aus der Nebenerwerb am häufigsten ausgeübt wird: ihre
Verbreitung auf dem Lande, das Verhältnis der Selbständigen zu
den Abhängigen, die Beteiligung der Frauen. Am häufigsten ist
der Nebenerwerb mit solchen Berufen verbunden, die von der ge-
schlossenen ländlichen Hauswirtschaft abzweigen und daher ihren
Sitz auf dem flachen Lande haben. Da bei den Selbständigen der
Nebenerwerb mehr als zweimal so häufig auftritt als bei den Ab-
hängigen, bei den Männern mehr als dreimal so häufig wie bei
den Frauen, so entwickelt er sich kräftiger von solchen Berufen aus,
welche verhältnismäfs^ wenig abhängige Personen und wenig Frauen-
arbeit verwenden.
Durch häufige Ausübung eines Nebenerwerbs, insbesondere
seitens der Selbständigen, ragen folgende Berufsgruppen hervor:
Ei haben einen Nebenerwerb von 100
in den Beroftgnippen
Fontwirtschaft u. Fischerei .
Bergbau. Hüttf nwi-st-n <*tL. .
Induslrie d^r .Steine u. trdeo
48,63 46.35
42,42 20.20
55.59 21. 4i
Digitized by Google
156
II. Kauchbrrg,
M> t;illv< r.i.'t'< itiai;^ ....... ;o,2; 16.06
.\aiiruiij:s- u. ( jrnui&mutcl .... ;2,')4 21,47
Paupf w«rhf 4<'.57 22,84
in den Beraf^cnlppeft
Beruts^nij'jK n mit geringstem .Nebenerwerb sind tla^^e^'en
r.ckU-iilimi,' u. Rfmi),'unp . , » , , 22,75 I2.<J7
l'(>lv>:r.i;ihis« In (irurrlx- -S,'^r> 4-49
Kiuislltri>LlHr licirirb 11,07 6,49
lUndeUgewerbe 24,06
Versichenin^sßrwerbe 13.77 6,a3
\'<>lli'^^er I'.iiiljlirk cr^chlielst sich frcilirh < r^t, weiui aurh auf
die AuMibiiii^^ des Nebenci w ii von <Uii ein/einen Berulsarlen aus
einf^t'j^an^'eti wird. Dann wird es klar, wie iiinif^ die gewerbliche
Ikthälit^un^^ iKu h mit der Landwirtschaft zusammenhängt und von
welcher Bedeutun;; diese letztere für alle anderen Berufe ist. L'm nur
einige der wichtigsten Berufszweige herauszuheben, die mehr als
10 000 Krwerbthätige mit Nebenerwerb umfassen, so haben einen
Nebenerwerb
In Solcher \\'ei>e sind ;j;erade die am meisten verbreiteten (ie-
werbe nebenberuflich mit der Landwirtschaft verknüpft. Es giebt
ihrer verhältnismäfxif^ nur wenige, in welchen nicht wenigstens ein
Drittel der Selbständigen einen laiuhvirtschafiiichen Nebenerwerb
hat: 14 Berufsarten glebt es, in welchen dies bei der q^röfscren
Hälfte der I'all ist. Auch für die Hausindustrie sjäclt der land-
wirtschaftliche Nebenerwerb eine wichtige Rolle. So hat von d<"n
selbständigen hausindustriellen Korbmachern, Tischlern und Webern
Selbständige
der ßerafsart
aii^olut icx? Selb >tänd igen
aber- in>beb. m der über- in der Land-
b.(upt Landwirtschaft haupt Wirtschaft
Getreidemühlen
Grol>>iHaf-)Schn)icdc . . .
StcHrnai-hcr n. Wagner . . .
MauriT
/.uuincrfr
BScker
Tischler
Flrivi b< r
H' iif rbrrijung u. Ert|uickung .
.scbul)in;ulicr
36849 35481 87,6 83,t
44181 42984 70,9 68,9
26460 256S6 66,5 64.6
.>^'>53 s«»b ()i.S 37,7
32 loS 2o(.i4 01,5 57,4
403a» 34093 5*.o 44iO
52946 49249 49,8 46,3
;on4 2648; 43. j 38,2
75643 61 (.S3 43,1 35, j
87254 7bOj6 40.4 36.5
Digitized by Google
Die Berufs- und Gewerbcz&hlung im Deubchen Reich vom 14. Juni 1895. i^j
beiläufig der dritte Teil, von den Schuhmachern und Zigarrenmachern
doch rund der fünfte Teil einen landwirtschaftlichen Nebenerwerb.
Die geog 1 a p htscbe Gestaltung der Nebenerwerbs-
Verhältnisse ist bedingt durch die Ausbildung der volkswirtschaft-
lichen Arbeitsteilung in den einzelnen Gebietsabschnitten. Wo sie
kaum erst begonnen hat und ebenso dort, wo der Prozefs der Pro-
duktionsteilung und Beruisbildung schon weit vorgeschritten ist,
tritt der Nebenerwerb verhältnismäßig selten auf; am häufigsten ist er
dort, wo die Umbildung von der hauswirtschaftlichen zur volkswirt-
schaftlichen Produktion eben stattfindet So bleibt er tief unter
dem Reichsdurchschnitte — X4>39% der Erwerbthätigen und be-
rufelosen Selbständigen — in Berlin (1,74 '/o), Hamburg (240 •/J,
Bremen '4,75 **o)> '"^ Königreich Sachsen (7,37 *o), aber auch in Ober-
bayern (8,78 Ostpreufsen (10,55 ''J, Posen (ii,6H"„), West-
preuCsen (ii,86",o)- Maxima werden erreicht in Schaumburg-
Lippe mit 29,90 und Wotfnlcn mit 25.41 " ^, wovon 26,06 bzw.
22,40",, in der I-andwirlschait. l'ebcrhaupt ist für die örtliche
Gestaltung des Ncbciicrwcrl)s der in der I.andwirtsrhaft und der
von der Landwirtschaft aus ausgeübte Nebenerwerb in erster Linie
mals^a-bend. Dieser let/t<re iiängt hiiu\ icflerum etii^e zusammen
mit den ( irun<ibesitz\ crhältiii^sen. Klciiibesit/ und st.irke Vertretung
der selbständigen Landwirte fuhren /u Nebenerwerb in andeien
Berufen, Grolsbetneb und geringe X'ertrctung der Selbständigen
lassen ihn nieht recht auf koninieii. So ist der anderweitige Neben-
erwerb der Personen, die mit ihrem Haui»tberuf der Landwirtscliaft
angehören, am häufigsten in Hohenzollern (18,65 Baden
(il,28";(,) und Württemberg (10,87",,), geringsten in West-
preufsen (246 ^^^X Posen i^2,69 " 0) und Mecklenburg-Streliu (2,75
Bei der entscheidenden Rolle sowohl der Landwirtschaft als auch
der Ausbildung der Arbeitsteilung war von vornherein zu erwarten, dafs
die Nebenerwerbsverhältnisse in Stadt und Land nach Ortsgrolsen-
klassen charakteristisch abgestuft sein würden. Das wird in der That
durch die nachfolgende Aufstellung bestätigt:
Von 100 Erwerbtliatic<"n «-tr j<->J<T
Ortsgiörsenklasseo Pcnonen mit Nebenerwerb Ortsgrössenkl. haben Nebcnorwcrb
in der
in anderen
absolut
Prozent
ttberhanpt Lnndwiitsch.
Berufen
Grofsstädtp . . ,
70991
3.17
3,18
0,58
1,60
Mittelstädte . . .
1 23 007
3.76
1.94
Kleinstädte . . .
11,70
»■«.49
10,07
2,42
Laiuiglldtc . . .
538 «7«
16.44
»9.84
»6.37
3.47
iadiet Land . .
2 158 158
^'593
«8.83
I3J4
5.09
im Ganzen
100
I4t39
10,5»
3,7*
Digitized by Google
I^g H. Kauchberg,
»
Je ^röfscr die Orte, <lesto strenf^cr ist ihre Wirtsrhaftsorf^anisation
iinfl desto \veni>;cr Raum lälst sie für die Ausubiin^^ eines Neben-
berufs. Er nimmt daher ab bei steigender Einwohnerzahl. Auf
dem flachen Land ist er jedoch seltener als in den Landstädten»
weil auf dem Lande die Verhältnisse noch nicht entwickelt genug
sind, und weil daselbst die ganz überwiegende Mehrzahl schon dem
Hauptberuf nach der Landwirtschaft angehört, welche sonst das
Hauptgebiet des Nebenerwerbs bildet
Wesentlich anders stellen sich die Nebenerwerbsverhältnisse
dar, wenn man, die Angaben über den Nebenerwerb summierend»
die Art des Nebenerwert» nach Nebenerwerbsfällen unter-
sucht. Es wurden solche registriert
im Jahre 1895 im Jahre 18S«
Pn».
Pro«, aller
Pros.
Pros, aller
in der
BcrafsabteilnuK
ab!>olut
samdicher
Neben-
Haupt«
absolut
"Etlicher
WTirn-
Haapt-
berufe
Vterufe
brrufe
lirnile
A I.amlwirtschaft
73.7«
4065; 645
70,10
3305
B Industrie
619 jbO
12.51
0,90
527 Ö04
10,28
7.62
darunter Haittiodtntrie S9437
i,ae
I4>79
C Handeln. Verkehr
569877
11,51
»9,59
429609
8,37
91,48
D Häu>lii In- Dienste,
'raj.:cl< i1in
16765
o,u
3.73
17093
0,33
4.12
E tJeffciitli« lit-r I >i<Mivt 0; 4 ;6
« .93
6.27
04 22S
1,83
8.37_
/.ufammcn
4949701
100
19.24
3 « 34 1 79
100
22.55
An den 4949 701 Xcbcnenverbsfiillen der Hrhcbung vofl 1895
sind beteilig 5072111 im Hauptberuf Erwerbthätige mit 3274036
Fällen und 201 335 berufslose Selbständige mit 208626 Fällen.
Mehrfacher Nebenerwerb kommt also verhältnismäfsig selten vor.
Aufserdem treffen 1467039 F'^älle auf Angehörige uhne Hauptberuf
und l )i( n('iide: auf wie \'iel Personen ist allerdin^i^s nicht frstp^estcUt
worden. Im Vergleich zu 1SÖ2 ergeben sich folgende Verschiebungen :
NebcnbernftfEllc somit 1895 mehr (-f-)
1895 1882 bezw. weniger (—) als i88a
Erw<rbth:itip<* im Hauptberuf . 3274036 4073397 — 799 361
B- niMosf S' llivtündigf . , . 208626 1 87 786 -(- 20840
Angchurigc und Dienende . . 1467039 872006 -)- 594043
zu5,amnicn 4949701 5134179 — 1 84 478
Es ist höchst bezeichnend, dafs die Nebenberufe der im Haupte
beruf Erwerbthätigen um 799361 oder 20 ''^^ abgenommen, hin*
Digitized by Google
Die Beruf«- und Gewerbeziblong im Deutschen Reich vom 14. Juni 1895.
{»fffeii jene der berufslosen FaniilienanL^chöri^en und Dienenden ')
um 504043 (»der 68*',, zugenommen haben. Bei diesen ist die
häufi;^'(.'re Beteiligung am Nebfru rwerb das X'orzeiclieii früheren und
zahlreicheren Hintritts in das Hrwcrbleben überhaupt; der Neben-
erwerb ist gkichsam die Vorstufe für die spätere hauptberufliche
Bethätigung. Die Abnahme bei jenen ist, wie schon früher bemerkt,
dahin zu deuten, dafs sie mit ihrem Hauptberuf nunmehr Streiter und
einseitiger in die arbeitsteilige Oi^nisation der Volkswirtschaft
einbezogen sind. Sie haben die Spuren der hauswirtschafUichen
Thatigkeit abgestreift, die ihnen in der Form des Nebenerwerbs'
anhingen.
Die Abnahme betrtflTt nur das männliche Geschlecht ( — 696093),
wohingegen die weiblichen Nebenerwerbsfalle um 511615 zu-
genommen haben, ausschliefslich infolge der stärkeren Beteiligung
der Familienangehörigen und Dienenden. Wir stehen hier vor einer
wichtigen Etappe des Vormarsches der Frauen in das Gebiet des
Erwerbs. Mit dieser Bewegung stimmt es auch äberein, wenn an
den Nebenberufen der Erwcrbthätigcn hauptsächlich Männer, an
den Nebenberufen der I"amilienangehörigen aber ganz überwiegend
Frauen beteiligt sind, und wenn deren l'ebergewicht hier seit 1882 er-
heblich zugenommen hat. Von je 100 NebenberufsfaUen treffen nämlich
im Jahre 1S95 im Jahre 188a
auf Minner anf Frauen avfMSnner anfFrancn
der Enrcrbthiitifen im Hauptberuf
9»,90
8,to
91,57
Ms
der beraflosen SelbstSndigen . .
34,«7
56.64
43.36
der iüigehorigen mid Dienenden
4.00
96,00
9».79
im ganzen
6417a
35.28
75.95
34.05
Fassen wir nunmehr die bereits auf <\rr vorhergehenden Seite
mitgeteilte Gliederung der Nebenberufe nach den ^^rolsen Herufs-
abteiluHLM-ii ins Auge, so sehen wir auf den ersten Blick, um wie-
viel Tiiciir die l.andwirtschaft am Nebenerwerb bctciÜL^t ist wie am
1 lauj)tl)eruf 73.71 aller Nebenbenberufc, aber nur j^'jj^",, aller
I lau])tb<Tufc entfallen auf die Berufsabteiluii;^^ A 1 .andwirt'-chaft. "-)
Ebenso wie als Hauptberuf ist die Landwirtschaft auch als Neben- •
>) Die Dienenden cind an der Gesamtzahl der NebenhenifsAllc jener beiden
Kategorien nüt rond ein Zehntel beteiligt.
') Allerdings ist es wahncheinlich. dafs die Nebenberufe in der Landwirt»
schall vollstKndiger erfafst wurde als alle anderen Berufe, weil hier im Landwirte
Digitized by Google
|5o Kauchberg,
beruf zuröckj^'Cj^an^^cn, denn 1882 betrug ihr Anteil noch 79,19" «;
alle anderen Berufsabteil uiij^cn aber haben verhältnismälsig ge>
Wonnen, am meisten die Industrie. Die Abnahme der landwirt-
schaftlichen Nebenberufe betrifft übrigens nur solche Personen, die im
Hauptberuf erwerbthätig sind, bei allen anderen haben sie zuge-
nommen, insbesondere bei den Familienangehörigen, welche sich
nebenberuflich als landwirtschaftliche Arbeiter bethätigen. Es wurden
deren gezahlt
1895 l8$3
Männer 6S720 60654
trauen 107603t) '>55 3il
l amilieiian^^oliörige Frauen sind demnach in grofser Zahl in
den landwirtschaftlichen Xtbcnerwerh cinf^^ctrelen. Hinj^c^en er-
giebt sich hier ein noch crhchlirhcrer Ausfall an solchen Personen,
welche im Haui)tberuf erwcrblhatijr sind. In dieser rirujjpe hal)en
die Männer um 739 So 5, die Frauen um 90 4 16 al)ujcn< Mumcn.
Das Hi.;el)nis dieser Bewc^un^ ist nicht nur die •^chon früher
konstatierte Abnalunc der landwirtsrhafiheiicn Ncbeiiberule, son-
dern auch eine sehr erhel)lii-he X'erschiebuiig de> i ic>clileclns-
Verhältnisses der daran beteillLMcn Persotjen zu dunsten tles weib-
lichen ( iesohlechts. Ks i>i die ^leu iic Hcw e.,'un,^' wie im Hauptberuf,
nur ^eht sie im Xebenerwerl) noch viel weiter.
Der liintrilt weiblicher Familienangehörij^'er in den Nebenerwerb,
hauptsächlich in abhängiger Stellung, ist es auch, welcher überhaupt
liir die Zunahme der Frauen mit Nebenerwerb in Industrie, Handel
und Verkehr mali^ebend gewesen ist Es wurden Frauen gezahlt
EnrerbUiitige im
mit Nebenerwerb Angehörige Mmuptbenif
iSo; 1SS2 iSq; 1882
in dcT Industrie . . . 120132 58852 32923 314^5
im Handel uad Verkehr 17^307 51307 42 777 28705
Wir sehen also: die 'gesamte FntwicklunL,' des Xebencnverbs
wird beherrscht durch die stärkere Beteiii^un«^ der Frauen an der
Berufsarbeit, wofiir der Nebenerwerb das Durchgangsstadium bildet.
-- - - — *
idMftsbetrieb em nicht zu Übersehende« Surseres Merkmal gegeben war und fiberdies
dnrdi die LandwirtacbaAsfcarte bei der Erhebung noch besonder» darauf hingemesea
worden ist.
*) Vgl. dazu die Bemerkungen auf S. 376 des XIV. Bandes dieses Archivs
Uber das Eintreten von weiblichen Arbeitskräften an Stelle der abwandernden
liehen in den hauptberuflichen Landwirtschaftsbetrieb.
Digitized by Google
Die IWruts- uud ücwcrbciählung im Deutlichen Rcidi vom 14. Juni 1895. i5l
Auch fiir die Benifsstellung im Nebenerwerb ist die Betel li^^ung
der Frauen entscheidend. Die 1895 verzeichneten Nebenberufe
w'urden nämlich ausgeübt
in der SteUmig von dwdi littaner dnich Fnuicn Überhaupt
Selbstliidigen . . 2643471 33094> «974412
Angcstelhen . . 31053 1031 32084
Arbeitern . . . 528851 1 414354 1943205
In erster Liiiii t.illt da^; starke L'cber^'cwiclit der selbständig
auj5^cublen Xcbcnbtrute auf; bic marhen 60 "„ aller Ncbencrwerbs-
fälle aus. woi^a-^'en die Selbständigen im Hauptberuf nur etwa ein
Drittel der hrwerbtluiti^en betraj^en. 'J Allein nur beim männ-
lichen Geschlecht treten die Selbständigen so sehr hervor. V^on
den Frauen wird der Nebenberuf ganz überwiegend in abhängiger
Stellung ausgeübt; ebenso wie im Hauptberuf sind ihrer auch hier-
bei kaum ein Fünftel der Erwerbenden selbständig. Demzufolge
entfallen von je 100 Nebenberufen *)
ausj;cül)t in der Stellung von aul M;inn< r aul 1 r.uien
Selbständigen 8S.S7
Angestellten 9^79 3,21
Arbeitern 27,22 73,78
Das erklärt sich daraus, dals ein innerer Zusammenhang besteht
/wischen der Berufsstellun'jij im Hauptberuf und im N\ bencrwerb.
Die selbständij^'e oder utisclbständii^i- Stellun-^' im IIaupii)cruf ist in
<ler Mciir/.ahl der Fälle aucfi mals^^febcrul fijr die- Stellun^^ im .\'el)en-
erwerb. Da nun schun im Hauptberuf die Stellun;^ der Männer
eine so v iel ;^'ünsti<^ere ist, so kann es nicht Wunder nehmen, werin ihre
l^el)erlef;enheit im Ncbenln 1 uf, wo auch noch tlie Hesitz\ i rhältnissc in
<ler Ke;4el zu (iuusten der Miuiiirr nHtS[)ielen, noch sclKirfer hervor-
tritt. Wozu noch kommt, dals die Anj^chörij^en und Dienenden
mit Nebenerwerb ^anz überwiegend weiblichen Geschlechts sind.
Von 1 467 U39 Nebcnerwerbsfallen, an denen sie teilhaben» treffen nur
58751 auf das männliche Geschlecht, aber 1408288 auf das
weibliche. Die BesiUverhältnisse und die soziale Stellung des
Ernährers im Hauptberuf sind in der Regel nicht danach an-
gethan, den Frauen in ihrem Nebenerwerb zur Selbständigkeit zu ver*
'} Vgl. die verschiedenen 'Bcrecbnnngen hierüber auf S. 616 des XIV. Bandes.
*) l'eIxT dir I' r i!i;^'un;: der beiden Geschlechter an den Brnifsstelhmgen des
Hauptbcruls viTj;K-uhc den XIII. Abschnitt.
Archiv für tot. OcMUgebung u. Statistik. XV. ' '
Digitized by Google
l62
11. Kattchb«rg,
helfen. I >ci Xcbcncrwcrl) hat alx» tur die !>ci<!«-n ( K-x lik-chtcr eine \ < »IÜlT
verschiedene Bcileutun;^^ : «leti Männc i ti briii;^'t er eine lir^'aii/.un;^
des Kiiikominens atis <!( ni I Im] <ll)erul, in der Kei^el ;^^estut/t auf
liesit/ und ;^^e\\X'nnen iii sei! »landij^er Stelluiv^ ; für die I- rauen aber
lietleutet er uiivilf )stäiidi;^e Arl)eil. ilercii Krtr<iL;ni> nicht ausreicht,
um -^ie au> der K.ite.^orie der l'.iin!lienan;^eli< )ri;^^cn in jene der
haujjtberut lieh I'.r\verl>lluiU;^en ubertreten /u la>sen.
Nai h lieruf> l,^ r u p )> e n wird die Wrteikinj^ iler Nebener\verb>talle
in den drei Bcrufsabteiiun^en I^ndwirtschaft, Industrie und Handel
und Verkehr, sowie ihr Verhältnis zu den daselbst ausf^eübten Haupt»
berufen in der umstehenden Tabelle dar^^estellL Zu diesem Zwecke
wird in der 3. und 4. Spalte unserer Uebersicht die Zahl der Haupt-
und der Xebenerwerbsfalle jeder ein2elnen Beruf^pnippe zusammen-
gefaOst, so dafs wir die Summe aller Berufsbethätigungen in jeder
Berufsgruppe erhalten, sowohl der haupt- als auch der nebenberuf-
lich ausgeübten. Die Verhältniszahlen zeigen zunächst den Anteil
jeder Berufsgruppe an der Summe aller Nebenberufsfalle der Berufs-
abteilungen A— C und dann den Anteil des Nebenberufs an der
Gesamtzahl der Berufsfalle in jeder Gruppe.
Si. l,. ' 1 . rsicht auf S. 163.
Die Landwirtschaft dominiert. s.,\vi)hl unter ilen Nel »enberufen,
als auch im X'erhältnisse zutn Hauptberuf. Auf lOO Berufsfalle in
der Landwirtschaft trafen 1SS2 ^^,17. 1S95 noch immer 30,58 land-
wirtschattliche NebenerwerlisHdle. Insbesfinderc in selbständiger
Stellun;^^ riickt der latulwirtschaftliche Nebenltcruf ziemlich nahe an
den I i.iui 1 1 ' ruf heran, deini e-- 1 < itul; die Zahl der selbstän-
dij^^en Laiulw u te im 1 l.iui >tt >e: iit J 522 5 ^9. im Nebenberuf abei-
2 159000. Im ubrii^en lian^'^t die leinere ( diederuti-^^ iler Nebenberufe
ab von ihrer technischen Ari)eit>()r;.4ani'Nati»>n uml der ( ieleu^cnheit.
welche iladurch zur nebensächlichen Ik ilian;.^nMi;.,^ in>bes<ni<lere \ <:in
Personen oiine ei'^enen }LiU|)tberuf L;e;4ebeii ist. l)al)ei In -teht
kein Zu>.innninliaiiu; zwixdien di-r .ibsululen und der reLiti\cn
Häuligkeit der N'-ebcnl)ei ufe. .Nächst der Landwirtschaft treten ab-
solut am meisten hervor das Haiulels<;e\verbe, Beherbergung und
Erquickung, die Industrie der Nahrungs- und Genufsmittel. Relativ, also
im Verhältnis zum Hauptberuf, i-st der Nebenberuf am hau h lösten
in der Landwirtschaft, im Versicherungsgewerbe, in der Beherber^unj^'
und Erquickung, in der Forstwirtschaft u. s. w., im Handcisgewcrbe
und in der Industrie der Nahrungs* und Genufsmittel.
Im Vergleich zu den Ergebnissen von 1882 hat der Neben-
Die Berufs- und GewerbcriLMimg Im Deutschen Reich yom 14. Juni 1895. 16^
c
.0
8
C
CO
00
CO
vD O O "■•
o "T -c ;«
r~ — vo — r~ o ac O »I i*". »i^. -t-
— ^ r«. «r, üC^ LT. M r-~ q_ 1-7 — _^ -r nC CT
rn r<i Ö> ^ iTi 'i' go N »/^ « «' — " cT C>
W N * 00
i/". O O
O 00 M
r/: I — I/-, fi >n — —
"T r*: ^ X 1^ O
O «' — ' cr> O cf>
««
1^
-3 t>
s|
c s
18
fi f* 't
O vO
O" Ö" o ©- O" O'
0-00
M M M M Q
n *ri 9> 00
O 00
o O ^ S CT f»
8
— Migtta^ ^«j"ö'cro'"o>'o"er-"erer-«o«'»^ero'"o*'«o'er'-*
B
3
t- -
e
o
= S V
ta o g
6
0
a.
a
u
BS
c
c/:
ri
00
90
-r
1^
f
■■0
f«
ri
so
1 -
y:
0
ö
ff 4
■■0
0
t
r«
«
<*>
c
■o
f
M
ac
>o
M
W>
>o
r-
0
xn
VO
QO
N
r»
0
f
«t
= :rt
9-
«0
i
«>
a
c
r«
'jC
U3
ri
t
00
0
«f
a
»r.
'O
r«
ro
ri
*o
ro
ro
>/■>
QO
1^
■0
0^
8
N
«1
0
M
»*
M
CA
- NC -
000
O r-, »/■• ro t>
fO « C*i w
-r -r
•f- %r> «r« ö "Ö
■ ' r*l >Ö
ro
0
ro
VI
r*
««
•0
v: o c — 'o >/■. öo c r--.
— ro 'Je 'O -r — ro «/■<•'• O
- o 'o o i>i ee «*> e© t*j o
o o
»r. r>. Q —
>0 On QQ 00
M 00 >0
««
ro
NC
(«
00
rt
8
C. 00 — N O *0 -* ■" 00 ^ "1 t>» ac »O t- 0 — V
tr «r O O O 1^ — 00 M M ^ 0> t» C< CO O O - - T' 1'. ^
<X ^ .. ~ r^, r«) ^ 4* Ok r«) n >0 * O »'
« c^ 2 r o r o « * «n o - *^ ii li '
M*'*s5»g
• 3 • 5 S
5 • ■ ■ 1^ ' ' - 'S
ii - .rill • • -iJ^ ill.s^l
II»
164
H. Rauchberg,
crwerb in der Mehr/;vlil <lor Hcrufs;^rii] •] u ii utul /war zuni Tv\\ n< !i!
crhcblirh /u m-hi )miii<Mi. I)ic \virliti'^>tc uiul für fi.i^ < iCNanu-
er;^cbtiis cnt>cluii Inv !<■ An^iiahnic bildet die bereit^ liiiiläii^licli
crürtcrtc Abnaliiiie der iit beiibenifli' h au>f^eubtcii Landwirtsciiaft.
Daneben ist inuli der Rürk;;aiii; in der rextilindustric hervorzu-
heben, dessen Znsaniinenhan*; mit dem Ruck^^aiif^ der I lauswebcrei
auf der Hand liegt. In der Regel haben die absoluten Zahlen
jedoch zui^u-nommen. Da aber die Hauptbenifsfölle in sämt-
lichen Benifsi;r Uppen, Nahrungs- und Genulsmittel sowie Beldddung
und Reinigung' aufgenommen, noch rascher sich vermehrt haben,
so bleiben die Verhältniszahlen fär 1895 hinter jenen für 1883 mehr
oder minder zurück. So wie im ganzen, tritt auch innerhalb der
einzelnen Benifsgruppen und in der ganz überwiegenden Mehrzahl
der Berufsarten die nebcnberutliche Bethätigung immer mehr in
den I^intergrund gegenüber der hauptberuflichen. In einer ganzen
Reihe von Berufszweigen, woselbst die Hauptberufe seit 1882 ent-
schieden zugenommen haben, sind die Nebenberufe sogar zurück-
gegangen, obwohl sie lS()5 wahrscheinlich \ olIständiger erfafst worden
sind wie |882. Die Arbeitsteilung hat seither eben gew*altige Fort-
sei): ittr gemacht, nicht nur in der Spezialisierung,*) sondern auch
in der F.nergic. womit sie die gesamte Thätigkeit der Menschen
umfafst. Der Sj)ielraum für den Nebenerwerb ist enger geworden.
Mögen die Neljeriberiite in den meisten Herufsgruppen an Zahl
noch gewachsen sein, in ihrer Bedeutung sind sie vom Hauptberuf
entschieden zurückgedi angt worden.
Damit stimmt auch uberein. dafs der Nebenerwerb in ilen
Städten eine geringere Rolle s])ielt wie auf dem flachen I^ande und
desto mehr in den I lintergrund tritt, je höher die Kinwoluier/ahl
der Städte sich erhebt und je ausgebildeter ihre WirtM haftsorgani-
sation wird. Schon früher habe ich ge/eigt, wie die rc lali\ c I läufig-
keit der nebenberuflich thätigcn Personen bei steigernden Gröfsen-
stufen der Wohnplätze abnimmt.') In Ergänzung jener Aufstellung
wird nachstehend berechnet, welchen Anteil die Nebenberufe an
der Gesamtzahl der Berufe, Haupt- und Nebenberuf zusammenge-
nommen haben, die in jeder Ortsgrofsenklasse ausgeübt werden.
Von je 100 derartigen, in jeder Beruüsabteilung ausgeübten Berufen
sind Nebenberufe
*) Vgl. hierBber die Ansnihrangcn auf S. 157.
*) Vgl. oben S. 274 des XIV. Handas.
4
Digitized by Google
Die Bcrofs» und G«werbexähliiiig im Deatsclicn Reich vcm 14. Juni 1895. 1^5
in drn
in den
m d«!n
in d. n
auf dem
Bcrufsabtvilungen
.Mlllol-
N leiti-
I .and-
platten
städten
>tüdti'n
studten
>tüdtcn
1 .andc
Landwirtschüft , .
47, 1 >
Influ>tric ....
3.02
2.37
3>34
5.47
»4,25
Itandel a. Verkehr
7,00
to,io
17,12
»3,4»
37.99
U&usliche Dienste .
»,43
2,92
3.84
5.74
OefTendichcr Diemt
«.37
1.86
3,01
7,29
18,58
ttberhanpt
7,60
16,58
»4,32
23,89
Die ZiflTernreihe (lir die Benifsabteilun^ Landwirtschaft ist
anders gestaltet als die Reihen der übrigen Berufsabteilungen. Bei
diesen wird der Ncl)enl)criif, wie eben bemerkt, mit wachsender
Kinwohnerzahl in der Kegel immer sellener. Hingegen steht der
landwirtschaftliche .Nebenerwerb in den LatKistädten am höchsten
und fällt nach beiden Richtungen hin. Ra>i her g^egen das platte
Land /.u, weil dort das X'orherrsclien der Landwirtschaft als Haupt-
beruf weniger ( iele^'enheit zur nebenberuflichen X^crbindung der
Landwirtschaft mit an<leren b' rulcn l>ielct, l.uv^^ainer nach oben
hin, in iler Richtung l-l^'K'-''^ < »rofsstädte. \\ e:^^en tler gerin^^eren
Wrtretung agrarischer liUeroNcn in den .Städten iil)erhauf>t. Zu-
gleich l)elehren uns diese Ziffern darüber, dals die Laiuiwirt.schaft
für die Land-, Klein- und Mittelstädte l)eiläufig zur Hälfte, für die
( irofsstädte zum dritten I eile nur als Nebenerwerb in Betracht
kommt.
Alle bisher ang("stellten Untersuchiuiu^en stimmen darin überein,
(lafs das .Schwergewicht des Nebenerwerbs in der Landwirtschaft
/u suchen sei. Drei X'iertel aller Nebenberufe sind laiuiwirlschaft-
licijc, und von den h.iuptberuflich i'.rwerbihäiigen die einen .Neben-
erwerb ausüben, gehört rund ein Drittel der Landwirtschaft an.
Wie tief sie in der Form des Nebenerwerbs gerade in die wich-
tigsten Gewerbe eingreift, haben die auf S. 156 mitgeteilten Verhält-
niszahlen gezeigt. Auch habe ich schon in anderem Zusammenhange
darauf hingewiesen, wie sehr die Berufsgliederung des deutschen
Volks zu Gunsten do* Landwirtschaft verschoben erscheint, wenn
man die Haupt- und Nebenberufsialle summiert und die Gesamtheit
aller Berulsbethätigungen der Untersuchung zu Grunde legt.'}
*) Siehe den XIV. Sand dieses .Archivs, S. 284.
Digitized by Google
i66
H. Raucbberg,
Danach er«;cbcn sich nämlich BcruCsfallc
fttr die Berafsftbtrilungrn :
189s
1883
I^andvirtschaft ....
11940919
12303141
8900606
6924069
Handel und Verkehr . .
39oSj88
1 9999317
HSqsI. I> i n t<\ l.obnarb.
414675
Oi-ff'-ntliilicr Dienst , ,
I 521 V17
Berufslose
2 KV 2 V),S
1 354 480
im ganzen
27863384
34124673
In \*frlialliiis/;ilileii uiirl mit den I lauj >ll k rufen un<^l Nchcri
hcrufea für sich allein vcrj;lichcn, ist die (.ilicdcrung die fol-
gende :
I'ls ciufailen auf die nebenbczcichnctcn Berufsabteilungen von
je ICX>
Haupt-
Nrlu-n-
Haupt- u. Nebenberufen
Rerufsabtcilmi^'cn :
berufen
berufen
zusammen
l.andwirt^cli.vU . .
36.19
73.7«
43.86
Industrie ....
36,14
13.51
3»,94
Handel n. Verkehr .
10.21
11.51
10.44
HSttsl. Dienste etc.
1,89
0,34
1,61
(>.'fr, lUlicber Dienst
6,33
1.93
5.46
Berufslose ....
9.35
7.69
TXi im Xelienerwcrb die l ,an<lu ii ts(-li.ift sowie I latidcl und
Verkehr xcrhältni'^niärsi!^' stärker, alle anderen Herufsabteiluni^en dem-
entsprccheiui soluväeher hesct/.t erscheinen als nach der (iliederun'^
im Hauj>iheruf, so bewirkt die Kinrechnimi^ der Nebenberufe, dals
die ersti^enannien l^erufe nunmelir in der liesamtzahl aller Berufs-
nüle stärker hervortreten. Insbesondere j^ilt das von der Land-
wirtsrhaft , deren Prozentanteil sich bei dieser Berechnungsweise
von 36 auf 43 crhüiit.
Es entsteht nun die Fraise, wMcfern danach die auf Grund
der Zahlen über den I Iau|>tl*eruf L;ew' innenen \'orstellunc3^en über
das ge<,'cnseiti£;^e Verhältnis der einzelnen Herufsq^rujipen und ihrer
besonderen lntere>sen, insliesondcre über das \'erhaltnis der Industrie
zur Landwirtschaft zu berichtigen sind. Ein exakter Ausdruck
(lir die Bedeutung des Nebenberufs neben dem Hauptberuf läfst
sich überhaupt nicht gewinnen, v. Mayr hat angeregt, die ge<
samte Berufsthätigkeit jeder Person als Einheit anzunehmen, und
Die Berufs» und GewerbeiShlung im Deubschen Reich vom 14. Juni 1895. 167
im l alle nieluiachcn Bciuts die Zui^ehörii^koit zu dci» ciiizeliicii Be-
rufen in Bruchteilen zahlenmäfsijr 7,11 l)c->iinimen. ') Kr ist sehr
im Rechte, wenn er selbst die Durchfiihruiij:^ jenes \'orschla;^'s einer
statistischer veranliL^tcn Zukunft überlassen will. Ich brauche
daher nicht erst auf die jisycholo«;ischcn und technischen Schwieri«;:^-
kciten hinzuweisen, die sich ihm ent<:;^eprenstellen. Jedenfalls bleiben
wir vorläuli«; darauf anj^ewiescn, die Zahlen, so wie sie sind,
im Lichte der gesamten volkswirtschaftlichen F.ntwicklung zu unter-
suchen. Der leitende Gesichtspunkt dabei ist, wie schon früher
hervorgehoben, die Entwiddung von der ländlichen geschlossenen
Hauswirtschaft zur arbeitsteiligen Volkswirtschaft. Wie dieser Ent-
wickelungsgang auf das Benifsbewufstsein des Volks einwirkt, zeigen
die Angaben über den Hauptberuf; welche Spuren aus früheren Wirt-
Schaftsstufen zurückgeblieben sind, die Angaben über den Neben-
erwerb. Daneben regen sich in den Nebenerwerben, insbesondere
in jenen, die von der Landwirtschaft aus ausgeübt werden, wohl
auch gewisse Ansätze zur Fortbildung in der Richtung nach der In-
dustrie.
An anderer Stelle habe ich bereits hervorgehoben, da(s die
Verschiebung der Beru&gliederung in der Richtung nach der Industrie
zwar eine Verstärkung der industriellen Interessen, keineswegs
aber die Verschärfung ihres Gegensatzes zu den landwirtschaftlichen
Interessen bedeutet.*) Denn jene Erweiterung der ^gewerblichen
und 1 landelsthätigkeit ist ja — cntwicklungsgcschichtlich — /imieist
durch Abzweigung in der Form der Berufsbildung aus der Land-
wirtschaft heraus erfolgt, und sie hat ihren Arbeitsbedarf zum guten
Teile gedeckt aus dem Nachwuchs des flachen Landes. Die länd-
Hchen Grundlac^'cn der deutschen Volkswirtschaft sind de^hnl!) na-
tiirlicli vichi afihandeii gekommen. Die landwirt.schafllichen Betriebe, *
ilire K-ulturtlachen und Krnteertrage haben nicht ab- sondern /.u-
gcnommen. '( .Aber ihre berufliche Bedeutung ist eine iM-ringcre
gcwortlen. \'on je 100 landwirtschaftliclien Betrieben tretten nur
59,65 auf solche Inhaber, die ihrem Hauptberuf nach der Berufs-
abteilung Landwirtschaft angehören, 40,35 konunen auf andere
Berufe. Nach Grölscnkategoricn i>t das Verhältnis das folgende:
1) SUtistik und GeselUchaftalebre IL S. 137.
*) Vgl. den nt Absdinict di»es Hanptteila, S. aSi des XIV. Bandes.
') Vgl. hierüber den dritten Hanptteil dieser Untenucimi^en.
Digitized by Google
l68 Rftuchbcrg,
Von je 100 Inhabern von I^ndwirtschaftsbetrieben der neben
bezeichneten Grofsenklassen gehören ihrem Hauptberuf nach an
Gröfsenklassen der anderen
der landwtrtschaAsbetriebe Landwirtacbaft Berufen
t unter 2 ha 41,10 5Si90
a ba bis 5 „ 76.17 23.83
5 .. 20 „ ql.()S 8.32
20 „ ,, 100 „ g6.4C) 3,51
Joo u. darüber 94-76 5,24
Wir sehen, in welchem Mafsc I rindwiri-i haft von Personen bc»
trieben wird, die mit ihrem Hauptberufe anderen Berufen zu^jehören.
Die Zahl der Krwerbthätigen im Hauptberuf hat seit 18S2 in der
Landwirtschaft imi ein Gerin-^cs zu^enonmien und die Zaiil ihrer
An^ehörit^^en hat siv^h \crrin;^crt; sie sind zu anderen Hcrufen
übcrL^e^Mii^en. ' j ( icL;cnubcr den \ iclfarh«'n Krwcrb^nio^dichkeiteii.
die sich hier cnittiicii, und dei I-.nLr;;ie, wuiiit nii- \crlol<^l wcnicn,
muls die I .andwirt^cliatt zurückstehen. hiwicweit der I andwirt-
schatt>i)Ctrieb von l'ersDUi'n mit anderweiti^fem Hauptberuf wenii;-
stens in den \cbener\verl)sverhiiltni>Ncii nachwirkt, haben wir in
dicsi-m Abschnitte i^esehen. Nicht als Rieht),, --tclhini^', sondern
als l-.r^.mzunj^f des Hildes, das durch die II.ui] »tbcrufNi-laien -ge-
wonnen wurde, sind die Zahlen über den landwirtsch.iftlichen
Nebenberuf aufzufassen. Die oft sehr subtilen Grenzlinien zwischen
Haupt' und Nebenberuf sind schon durch die Fragestellung in
der Hausbaltungsliste angedeutet. So oft Inhaber von Landwirt-
schaftsbetrieben nicht die Landwirtschaft, sondern einen anderen
Hauptberuf angegeben haben, so ist dies ein Bekenntnis darüber,
dafe eben nicht die Landwirtschaft, sondern jener andere Beruf es
ist, „auf dem hauptsächlich die Lebensstellung beruht und von dem
der Erwerb oder dessen grölster Teil herrührt". Denn darüber
sollten sie nach den „Erläuterungen" zur Haushaltungsliste Rechen-
schaft ablegen. Die Angaben über den Nebenerwerb besagen so-
dann, inwieweit die Landwirtschaft „einen wesentlichen Teil des
Gesamteinkommens aus erwerbender Thatlgkeit brin-:jt". Ist dies
nicht der Fall, so dürfen wir nicht erwarten, die Landwirtschaft
auch nur als Nebenerwerb angegeben zu finden. Wir haben es
dann mit einer Bcsilzthatsache, nicht mit einem Falle von Berufs-
bethätigung zu thun. So erklärt es sich, dals — > wie in der An-
_ ^ •
•) Vgl. die Darlei^ngen auf .S. 276 des XIV. Bandes.
Digitized by Google
Die fierufs- und Gewerbetihlung im Deutschen Reich vom 14. Juni 1S95. 169
merkung i auf S. 149%. ausföhrlicher dai^etban wird— die Anzahl der
Beni&lalle in der Landwirtschaft hinter den von der Betriebsauf-
nähme erfafsten Landwirtschaftsbetrieben nicht unerheblich zurück-
blciln. Wir haben also die Zählunf^serfjebnisse streng im Sinne
der Fragestellung zu interpretieren. Geschieht dies, so besteht kein
Anlals anzunehmen, dafs die Ergebnisse nicht im Sinne der Fragen
ausj^efallen seien und dafs die Landwirtschaft dabei verkürzt erscheine.
Wohl aber wäre dies der Fall, wenn man sie nach dem Haupt-
berufe allein beurteilen wollte. Denn erst die Nebenberufsdaten
haben i;c/.eii^t, in welclieni L'inf.m«,' die Landwirtschaft auch von
anderen Berufen aus aus;^euhi wird, in welcher Stelluni; im Neben-
erwerb und von welcher Stellung' im llau[»lbcruf aus, und wie
sich die verschiedenen Wirtsehaftsstufen der einzelnen Ürtsgröfsen-
klassen in ihren Nebenerwerbsveriiallnib>en spiegeln. ') »
Um aber schliefsüch wieder auf die alte Kontroverse, ob Agri-
kulturstaat oder Intlustriestaai, zunick/ukoninicn, so ist es nunmehr
vollends klar geworden, dals kein konlradiklori.schcr Gegensatz
zwischen diesen beiden Begriffen besteht. Die FVage kann nicht
nach dem Majoritätsprinzip entschieden werden» so dafs die Berufs*
Zahlung gleichsam als eine Volksabstimmung hierüber aufisu&^en
wäre. Die agrarischen Grundlagen der deutschen Volkswirtschaft sind
ungeschn^ert erhalten geblieben. Aber der industrielle Ueberbau
ist so gewaltig gefördert worden, dafe er nunmehr einen erheb*
lieh gröfseren Teil des Deutschen Volkes beherbergt als früher.
Und seine Bewohner vermögen es sich darin behaglicher einzurichten
und sich freier darin zu bewegen.
•) Sorfjfaldge Durchführung t]\e^cs Gedankens in Wttrttemberg. Vgl, Her-
mann Losch, Berafskombinationcn, Allgem. Ztg. Nr. 171 v. 29. Joli 189.
(Schlufs des II. Hanptteils folgt.)
Digitized by Google
GESETZGEBUNG.
DSUTSCHBS REICH.
Das neue deutsche Invalidenversicherungsgesetz
vom i^, Juli J899.
Von
Dr. ernst lange
io Berlin.
Der KiUwurl eines Tnvalidenversirlicruii;4s;^H>sct/.cs, den ich auf
S. 4S() — 50) des XIII. Bandes dieses Arcliivs einer Resj)reehun^
unterzogen habe, untl der sich aul S. 5()0 — 650 desselben Bandes
abgedruckt findet, ist nunmehr, nachdem er durch den Rcich.stag
wesentliche Aenderungen er&hren hat, Gesetz geworden. Die fol-
genden Darlegungen, die zur Einfuhrung dienen sollen, bilden natur-
gemafs die Fortsetzung des soeben erwähnten Aufsatzes, und es ist
daher die dort gewählte Einteilung des Stoffs beibehalten.
I . Die Verteilung der Lasten und Einnahmen.
Das im Entwürfe vor£jeschlagene Prinzip des finanziellen Aus-
gleichs zwischen den einzelnen \'ersicherun;:^>anstalten hat die Zu-
s!iinnuino^ des Reichstags gefunden. Im einzelnen sind aber sehr
erhebliche Aenderungen beschlossen worden. Angenommen worden
ist die Schaffung eines Gemeinvemiogcns neben den Sondcn crmögcn
der einzelnen Anstalten. Dagegen soll nicht, wie der Kntwurf vor-
gesehen hatte, eine Teilung des schon vorhandenen \'ermögens der
Anstalten in Geniein- iuk! Sondervcrmögcn vorgenommen werden,
sondern es soll das (.iemein\ crmcV^cn nur aus den künftigen Bei-
trägen gebildet werden. Jede Anstalt bleibt also im Vollbesitze
Digitized by Google
Erust Lange Das neue deutsche Invalidenvcrsicherung>gc:,oU v. 1 3. Juli 1899. iji
ihres bisher angesammelten Vermögens. Von den künftigen Bei-
trägen indefe sollen 40% dem Gemeinvermögen und 60% den
Sondervermdgen der Anstalten zu gut kommen. Dem Gemeinver-
mögen fallen dafUr zur Last drei Viertel sämtlicher Altersrenten
und die Gnindhcträgc aller Invalidenrenten, aufserdem die Renten-
Steuerungen infolge von Krankheitswocheii und die Abrundun;^^cn
der Monatsrenten auf volle 5 Pfennig. Dabei sind, wie wir im
2. Abschnitt des näheren sehen werden, die Orundbcträge der
Invalidenrenten gfer^en den Entwurf bedeutend herabgesetzt.
Gcmeinlast und Cremeinvermög^en sind also vom Reichsta«,' sehr
einj^cschränkt worden. Ahj:jesehcn von der fjänzlichen Ausscheidun}^
der schon vorhandenen Vermögensbestände, sind aus den 60",, der
Re^ierun<^s\orla<:;r in dem (ie-^ctz 40",, L^eworden. T)ie>^e \'er-
srliicbun;^^ ist in erster Linie eine I-DI^h* der andern Norinierunj^ tier
< iruiulbeträ<^e der Invalidenrenten; zum '^^crint^eren Teile wird sie
dadurcii bewirkt, dafs ein Viertel der Altersrenten den Sonderver-
möfren der Versiclierun;4s,\nstalten zur Last fallen soll. Diese
Teilung der .Altersrenten mm bedeutet einen direkten Hruch mit
dem Prinzip, dafs die Renten, soweit sie von der Dauer der Bei-
tragsleistungen unabhängig sind — also geleistet werden müssen,
sobald die Voraussetzungen des Anspructe überhaupt gegeben sind
~ gemeinsam von allen Anstalten getn^en werden sollen. Trotz-
dem hat der Reichstag geglaubt, darauf bestehen zu müssen. Man
meinte, da(s die Gefohr einer leichtfertigen Bewilligung von Alters-
renten vorläge, wenn die bewilligenden Anstalten finanziell an der
Altersrentenlast nicht direkt beteiligt wären. Die namentlich von
Seiten der Regierungs\*ertreter geltend gemachten Gegengründe, in
Sonderheit auch die rechnerisch wohl begründeten Bedenken, ob
nunmehr die finanziell ungünstig' dastehenden Versicherungsanstalten
aus ihrer bedrängten Lage völlig befreit werden würden, schlugen
nicht durch — ich muls hinzufügen : leider! Denn ich bin der
Ueberzeugung, und zwar auf ( irund vieljähriger praktischer Erfah-
rungen auf dem verwandten (iebiet der Unfallversicherung, dafs die
beliebte Teilung der Altcrsrentenlasten kaum irgend welchen Ein-
flufs auf die Rentenfeststellung haben wird; die ganze Architektonik
des (icsetzes aber ist datlurch schon hier — gleichsam im ( irund-
rifs — zerstört. \\ ir werden später sehen, dafs der Reichstag aueli
nach anderen Richtungen iiin mit demselben Erfolg gearbeitet hat.
Diejenigen In\ .iln ienanstalten. die in der Hauptsache landwirt-
schaftliche Bevölkerung umfassen, werden bekanntlich infolge der Alters-
Digitized by Google
172
Grsetzgebuni; : Deutsch«» Reich.
fjruppicrun^ der V^ersichcrten durch die Altersrenten stärker be-
lastet als die Anstalten, in deren Bc/.irken Industrie, Mandel und
Verkehr vorherrschen. Cierade sie sind die schon jetzt finanziell
am iinL^ünsti^'sten dastehenden Anstalten — man denke nur an
Ostprculsen und .\iederba\crn — , sie werden daher dadurch, dals
sie nun auch weiterhin noi h einen 1 < il der AlterM cnlen traLjen
iini^^cii, dnji|)ilt schwer Ljetroll'en \\ei<ien. l ur ilie ^esanite mehr
ireiwillij^H- I hatij^keit, die ihnen d.i-> (Icselz nahe Ic^t, vor allem für
die Krankciijitk m', werden ihnen daher weni«:^ oder -^ar keine Mittel
mehr übriL,^ blnbin. Dazu konunl noch, dals die laiui- und forst-
wirtschatlliclua Arbeiter vielfach, vornehndich im Osten Deutsch-
lands, der Krankenversicherung noch gar nicht unterworfen sind.
Dies hat für die betroffenen V^ersicherungsanstalten den Nachteil,
dafs ertlich der grofsen Masse ihrer Versicherten die Fürsorge der
Krankenkassen überhaupt fehlt, und sodann dafs sie bei Uebemahme
des Heilverfahrens auf ihre eigene Rechnung keinen Anspruch auf
Ersatz des Krankengeldes durch die Krankenkasse (§ 1 8 Abs. 3 des
neuen Gesetzes) geltend machen können. Diese Anstalten haben
also nun das grölste Interesse daran, dafs die fand- und forstwirt-
schaftliche Bevölkerung auch hinsichtlich der Krankenversicherung
recht bald den industriellen Arbeitern gleich gestellt werde, und
das ist vielleicht die einzige gute Seite, die sich an der ganzen be*
sprochenen Bestimmung auffinden lälst.
Das Verhältnis, in dem die Beiträge für das Gemeinvermögen
und für die Sondervermögen (40 : 60) geteilt werden, gilt zunächst für
II Jahre, nämlich vom I.Januar 1900 bis zum 3 t. Dezember X910.
Stellt sich alsdann heraus, dafs das Gemein vermoj;en zur Deckung
der Gemeinlast nicht ausreicht oder nicht erforderlich ist, so hat
der Bundesrat für 10 weitere Jahre über die Höhe des für das Ge-
mein verm<");^en buchmäfsi^ auszuscheidenden Teils der Beiträge ZUr
Ausgleichung der entstandenen I-'ehlbeträc^c oder l'ebcrschüsse ZU
beschliefsen. Dasselbe wiederholt siel» stets nach dem Ablauf eines
weiteren Zeitraums xon c» J. ihren. Ist eine Erhöhung des für das
Uemeinvermögen licstimniten Teils der Heiträge iiötiLT, so ist die
Zustimmung tlr> ^\eichsta:^^ erforderlich. — jedenlalls w ird auf diese
Weise verhütet, dais einzelne Anstalten dauernd mit L'nterbilanz
arbeiten. Der Hauptzweck, den die Regierung mit ihrer Vorlage
verfolgte, ist also erreicht.
Digitized by Google
ErnstLftOge, D»s neue deutsche lovalidcnvenichennigigriids v. 1 3. Juli 1899. ]
2. Die Berechnung der Renten und die Erhebung der
Beiträge.
Der Regierungsvorlage entsprechend, werden durch das Gesetz
folgende fönf Lohnklassen gebildet :
*I. Klasse bis s» einem Jabresarbeitsverdienat von 350 Mk. elnschUerslich
IL „ von einem Jabfesarbcitsverdiemt von mehr ab 350 Mk. bis zu 550 Mk.
IW. „ „ ,1 I, „ 55® w II I» ^5** »•
IV t, it n it »t »» I» 850 ff II II 1 150 II
V. II I, II II II II II 1150 f*
Die Grundsätze, nach denen die Ermittelung des Jahrcsarbeits-
Verdienstes zu geschehen hat, haben in einem Punkte eine wesent-
liche Verbesserung gegen das bisherige Gesetz erfahren : Wenn im
voraus für Wochen oder grössere Zeitraume eine feste bare Ver*
gütung vereinbart und diese höher ist als der Durchschnittsbetrag.
der fiir den Versicherten der Regel nach mafsgebend wäre, so ist
diese Vergütung bei Berechnung des Jahrcsarbeitsverdienstcs zu
Grunde zu legen. Auch kann der Versicherte stets die \'ci»iche-
rung in einer höheren Klasse beanspruchen, sobald er bereit ist,
den sich daraus eingebenden Mehrbetrag der Beiträge selbst zu
trafen.
De: Rct^ierunrjsentwurf schlug nun vor, den Lohnklasscn die
fol^'cnden W'ochcnbciträ'^c, Renlcnffrundbcträ^'c und Stpii^rruriL^^-atzc
entsi)rcchcn zu lassen, flie alle in denselben einfachen ^ k , cr-
hä!tni>scn zu cirMudt r -t' lu 11 i\vf)bei der norh zu icd» r Keutc hiii-
zutreleiulc Reicii>/.u>( hüls von 50 Mk. unberücksichtigt bleibt):
I.olm-
\V<H licri-
K ?nt rn f,'run ' 1 hrt rag,
Stcigemngi'
Veritältni««
kUN>c
bcitrag
lagl. Ah'-r-rcntc
>at/
zahl
Pf.
.Mk.
If.
L
ts
60
S
t
IL
18
99
3
«'t
IIL
«4
ito
4
IV.
30
150
5
«Vt
V.
3^
180
6
3
Vcrhäluii'>uhl 6 3000 I
Diese einfachen Grofsenbeziehungcn waren durchaus geeignet,
das ganze Versicherung.sgeschäft klar, durchsichtig und fiir jeder-
mann verstandlich zu machen. Ist in allen I^hnklassen die Wahr»
schcinlichkcit des Rentenialls ^das Risiko, die gleiche, so Ist es
zweifellos auch rein ver5icberung.nechnisch richtig, dafs Rente und
Digitized by Google
*74
Liv^i'Ugi-Wun^ : l>t'Ut>chc!> Kcich.
Beitr.ig stets in i^lcichem Verhältnis zu einander stehen. Diese
Voraussetzung ist nun zwar offenbar nicht ganz zutreffend; denn in
der landwirtschaftlichen Bevölkerung, die in der Hauptsache den
unteren Lohnklassen angehört, kommen — wie bereits auf S. 491.
bis 493 des Xm. Bandes des Archivs ausführlich dargelegt worden
ist — infolge der besonderen Altersgruppierung durchschnittlich
mehr Renten zur Auszahlung als in den übrigen Berufsarten. Ge-
rade dadurch vor allem war ja der finanzielle Au^leich zwischen
den einzelnen Anstalten notwendig geworden. Aber diese Ungleich-
heit mufs von Jahr zu Jahr an Bedeutung verlieren, da die älteren
Personen später auch ihrem Alter entsprechend längere Zeit hin-
durch ihre lUitrÜLie bezahlt halben werden. Aulserdcm sulltca ja
auch die Invalidenrentengrundbeträge und die Altersrenten, deren
1 lohe unabhängig von <Jcr Dauer der Heitrags/ahlung ist, dem (ic-
niein\ crniögen zur Last fallen, also prinzijticll \ der Gcsimthcit
getragen werden. Die sonstii^;en I.ci^lunge^ der An>lalten - — Bei-
. tragserstattuni^en, Krankenfu; -^mi ^c — k< itiiicn hierbei als tinanzieU
weniger ins Oewicht lalKm! aui.scr Acht bleiben.
jcileiifalls würden soiiut etwai^^e liikoiigruen/en zwischen Bei-
trag un».! Ki--ikt) nicli der Kegierunj^swtrlage de-n schlcehter ;^c-
lohnten \'er>ichei len zu gut gekommen sein, was \<<u\ ^o/uiU
polilisclicn .Sland|)unkl aus gewils nur einen X'urzug bedcuien kann.
Trotzdem hat sich der Reichstag den \'orschlagen der Regie-
rung nicht angeschlossen, sondern die Beiträge und Renten folgender-
mafsen festgesetzt (ohne den Rcichszuschufs von 50 Mk.):
Lohn-
Wutlieu-
Altcrs-
Gruuilhclraj;
.Slolgl•r^nJ;^atz
klasse
beitrag
rcDte
der Invalidenrente
Pf.
.Mk.
Mk.
Pf.
I.
•4
60
60
i
II.
90
70
6
lU.
120
80
8
IV.
;o
150
90
10
V.
160
100
II
Wie man sieht, fehlen die einfachen Gröfscnverhältnisse hier
vollkommen. In den Zahlenreihen scheint mehr oder weniger Will-
kür zu herrschen. Erreicht ist aber zweierlei : erstens, dafs die
unteren Luhnklas.sen jetzt mehr bela>.tet sind, tl.ifüi aber auch im
ganzen höhere Kenten zu erwarten haben, und zweitens, dal- die
I^tcigerung der R( nun jt tzt gcgeniilier dem (irundbetrag viel mehr
ins Gewicht tällt, als der iintwuif beabsichtigte, und somit durch
Digitized by Google
El D8t Laug c , D»ä neue deutsche Iuvalid«:UYcraicheruug!>|ic!>eU v. 13. Juli iSi^ij. ij^
die grölsere ünanzielle Bedeutung der Steigerungssätze das Interesse
an der energischen Fortführung des Markenklebens nach Erreichung
der Anwartschaft auf die Rente überhaupt erhöht wird. Den Unter-
schied zwischen den Renten nach dem Entwurf und dem neuen
Gesetz läfst die folgende Aufstellung erkennen, bei der indels auch
im Entwurf die im letzten Absatz dieses Abschnitts besprochene
Ergänzung der an 500 fehlenden Wochenbeiträge durch solche der
1. Lohnklasse vorgenommen worden ist:
lüTiliitoireiitc (obne RcidMinsdiiifs) in Mark üi <kn Lohnklasscn
ZaU L IL IIL IV. V.
der nach den Bestimmungen des
3titr:»^'--
Fiit-
r,r-
Fm-
Ge-
Eut-
r.<-
l-nt.
(i.--
liit-
( i. -
wocheu
wurü
scUfS
wurls
setzes
wurls
sclzes
wurla
wurls
SclZl'S
aoo
64
66
78
76
92
84
to6
92
I20
lOO
300
66
69
87
84
108
96
129
loS
»50
t20
500
70
7S
105
100
140
120
17?
140
210
160
700
74
Si
III
I 12
IS5
160
222
184
1000
60
120
ItHJ
160
300
190
240
220
1500
90
105
«35
160
180
aoo
225
240
270
2S0
3CXX>
100
120
150
190
240
250
290
300
Die t.i>lc Kla>>c wird also durchweg bc>N( r :^( >tclll, al> der
Ciesctzt ntw Ul f ljcab.siclitij^l hatu-, m liui» die /weile Klas>e aber zu-
nächst schlechter — trotz des erhöhten Hritrn'^'> uud erst nach-
dem fast 700 Wochenbcitril^'e ^elei>lel uordi/u sind. alhnalilicU
besser, bis sclilielshcli allerdin«2^s bedeutend höhere Renten ctklebt
werden. Bei den höheren Klassen werden tlie DitVerenzen zu Tn-
gunsten der jüngeren Invaliden zunehmend grul'ser und tritt der
Vorteil der Gesetzesbestimmungen erst in immer höheren Lebens-
altern ein. Ob bei dieser Sachlage die Gesetz gewordene Ordnung
der Dinge lur die mittleren und namentlich die höheren Lohn-
klassen, im ganzen genommen» einen Gewinn gegen die Vorschläge
des Regierungsentwurfs darstellen, scheint mir mindestens zweifel-
haft. Es ist sicher ein grofser Uebelstand, dafs nun gerade der
Arbeiter, der in jungen Jahren invalide wird, verhältnismäfsig sehr
viel schlechter gestellt sein wird als der ältere. An jenen wird das
Leben in der Regel noch höhere Anforderungen stellen als an
diesen, er wird oft noch eine zahlreiche l'amilie zu versorgen,
Kinder zu erzielien haben u. s. w.. während der alte Mann im all-
gemeinen nur für sich und v ielleicht noch für seine Frau zu sorgen
haben wirtl. \'otn privatrechtlicheii Standpunkt an^ mag es rieliti;:j
sein, dafs mit den Leistungen des X'crsichcrten (Zahl der verwendeten
Digitized by Google
176
G«-*setzgol)ung ; Dculichcs Reich.
Beitragsmarken) die G c^^^enleistung der Versicherun^nstalt (Invaliden-
rente) einigermafsen Schritt halt, vom sozialpolitischen Standpnnkte
aus, wo die Bedürfnisfrage den Ausschlag giebt, ist die Sache
aber wesentlich anders zu beurteilen. Je jünger der In%'a]ide ist, um
so intensiverer Fürsorge bedarf er im allgemeinen. Fafst man die
Arbeiter\'ersicherung mehr als ein Werk sozialer Fürsorge, denn
ab ein auf Leistung und Gegenleistung beruhendes Versicherungs«
geschäft auf, so hat die „Verbesserung", die der Reichstag: dieser
Stelle mit dem Regierungsentwurf \or^enommrn hat, in cicr Thal
ihre sehr grofsen Bednikrn. AbL^esilien von der I. und vielleicht
auch noch vnn der II. Lohnkla>sc , hätte die Regierungsvorlage
sicherlich mehr Elend aus iler Welt i^cschafft, als das (iesetz thun
wird. Dieses Hr-^ebnis ist keinestall.s geeignet, den l)creits be-
.sprorhcncn Wrlu^t der klaren und einlachen Grölsenbeziehungen
vergtNSfii zu ni.ii-hcii.
Im hJiizeÜalle sollen lU r Hcrcchnuii': (k >, ( iruntlbetra<:s der
Invalidenrente die 5(x ) W'ociu iilu itrii^e der höchsten Lohnklassen
zu ( irundc ;4«"h*ijt werden. Konmu it fiu' diese y > Wochen v er-
schiedene I -< ihiikl.i»i ii in Betracht, ><- wirtl tlcr Durchschnitt der
diesen Lohnkla^sen entsprechenden UrundbetrÜL^e in Ansatz gebracht.
Sind noch nicht 5cx) Wochenbeilräge geleistet woiden, s<i werden
für die fehlenden Wochen Heiträge der I.ohnklasse I eingesetzt.
Auf diese Weise wird unmöglich gemacht, dafs der Grundbetrag
durch spätere Beitragszahlungen in einer niedrigeren Lohnklasse
wieder herabgedrückt werden kann — ein Fehler, der den Ursprünge
liehen Regierungsvorschlägen anhaftete, wie auf S. 500 Band Xm
des Archivs auseinandergesetzt worden ist. Diese sehr wesentliche
Verbesserung ist übrigens von den Vertretern der Reichsregiening
selbst, nicht vom Reichstag ausgegangen.
3. Rentenfeststellungsverfahren. Organisation.
Das im Gesetzentwurf voi^eschl^ene Rentenfeststellungsver-
&hren hat auch sehr wesentliche Aenderungen erfahren und zwar
in dem Sinne, dafs die Rentenstellen nahezu beseitigt sind. An
ihre Stelle sind der Regel nach die unteren Verwaltungsbehörden
(I^ndratsämter, Polizeiverwaltungen. Amtshauj>tmannschaflen . Be-
zirksämter u. s. w.) getreten. Das X'erfahren wird sich nach dem
neuen Gesetz im allgemeinen lolgendermalsen gestalten:
Der Antrag auf Reiitenbewilligung oder auf Beitragserstattung
ist an die für den Wohn- oder letzten Beschäftigungsort des \'er-
Digitized by Google
Ernst Lange, Das nene deitttch« InvaUdenverticheroa^Kc^cU v. 13. Juli 1899. i
sidierten zuständige untere X'erwaltungsbehörde zu richten. Diese
prüft den Anspruch und stellt den Sachverhalt nach Möglichkeit
klar. Gewinnt sie die Ueber/.eujjung. ials dem Rentenansprüche
stattzugeben ist, so übersendet sie die X'erhandiungen mit ihrer gut-
achtlichen Aeulserung dem X'orstande der für ihren Bezirk zuständigen
Versicherungsanstalt. SchHelst si('h dieser dem Gutachten der unteren
\'or\valtungsbehöidc an, >o Ntcllt ot den Bcgitin und die f löiie der
Rente sofort fest, erteilt dem Hcrcchiigten darüber schriftHchen Be-
scheid und bringt die Rente wie bisher in monathchen Raten durch
die Post zur Auszahlung. Anträge auf Beitrag^erstatlung hat die
untere \'cr\vallungsijehördc mit den X'erhandlungen ohne (iutachten
an die zuständige X'ersicherungsanstalt weiter zu geben, die dann
daruijer .selbstäntlig betnidet.
Gelangt die untere Verwaltungsbehörde zu der Ansicht, dals
der Anspruch auf Rente nicht gerechtfertigt ist, so hat sie die Saciie
vor Abgabe ihres Grutachtens unter Zuzt^ung je dnes Vertreters
der Arbeitgeber und der Versicherten in mündlicher Verhandlung
zu erörtern. Der Rentenbewerber ist von dem Termin zu benach-
richten und auf seinen Antrag oder auch ohne diesen, wenn es
die Aufklarung des Sachverhalts erfordert, hinzuzuziehen. Aus dem
Gutachten mufs dann' zu ersehen sein, wie jeder der beiden Ver*
treter gestimmt hat. Giebt die untere Verwaltungsbehörde ihr Gut-
achten fär die Gewährung der Rente ab, ohne die Vertreter erst
gehört zuhaben, und glaubt der Vorstand der Versicherungsanstalt dem
Gutachten nicht zustimmen zu können, so ist die Sache zur Anhörung
der Vertreter an die untere X'erwaltungsbehörde zurückzugeben.
Vor der Kntscheidung über die Entziehung von Invalidenrenten
und die Einstellung von Rentenzahlungen hat der \'orstand der
Versicherungsanstalt ebenfalls das Gutachten der für den Wohnort
des Rentenempfängers zuständigen unteren \'erwaltungsbehorde ein-
zuholen. Gelangt die--e zu der Ansirlit, dafs ihr (iutarhten für
die hntzieliung einer In\alitlenrente lauten müs.se, so hat sie die
Sache iti ders^Mben W ei.se zu behandeln wie die von ihr ungünstig
beurteilten Rentenansprüche.
An Stelle der unteren X'erwaltungsbchörden können auf Be-
stimmung dei holicren Wrw altungsbehorde nach .Anhörung oder
auf Antrag de?» \'or>iande-> der zuständigen Versicherung.saastalt
bestimmte ( jL-meindebehordeji treten.
Auch auf Rentenstellen, die im wesentlichen in der früher
(S. 502 — 503 Band XIII des Archivs) bereits dargelegten Art organi-
ArcUv für mc. Oeictcfabimf ». Sutiuik. XV. 12
Digitized by Google
17»
GeMtigrbung : DeuUchn Reich.
siert ^iiid, k(">nncn diese (ieschafte ubertragen werden. Zur Errich-
tung sol( her Keriieiistellen >iiul /ustaiulif;
a). tler \'<>r stand der \'ersiclieruii;^'saiistalt unter Zustitiunung
de> Aussclins>c> uiul je nach Laj^'c der l>in;^'e tlcs Konununal-
ver Landes, der I -ande>-Zemralbcliorde oder -Zentralbehörden
(id«T des Kei^ll^kan/ler^ ;
b; die I an<lr> Zeiitralbeliörde oder nntt r l instimden der Reichs-
kanzlei ini ImIIc- de^ ;4<-scliaUlK licn Ikdurftiisses, insbesondere
in (lebenden niil diclUer Ik\ < >lkerun^, n.ich Anhörung' von
Vorstand und Ausschufs der Versicheruni^sanstalt sowie dcü
zuständigen weiteren Kommunalverbandes.
Die Wahl der Vertreter der Arbeitgeber und der Versicherten
sowohl wie der Beisitzer der Rentenstellen erfolgt durch die Vor*
stände der Krankenkassen u. s. w. in der bereits auf S. 503 des
vorigen Bandes skizzierten Weise. Die Anstrengun^^en, die im Reichs-
tag von einigen Seiten gemacht wurden, dieses Wahlgeschaft auf
eine mehr demokratische Grundlage zu stellen, sind leider voll-
kommen gescheitert.
Wie man sieht, bedeutet das neu geschaffene Rentenfeststellungs»
verfohren im Vergleich zu dem bisher zu Recht bestehenden zwar
einen entschiedenen Forlsehriit, denn der ganze Vorgang spielt sich
jetzt in der Nahe des X'ersicherten ab, dieser selbst kommt zu Wort
und kann seine S.iche vor seinesgleichen \ertret(ri. Gegen den
Regierungsentwurf aber haben wir es an< h hirr nicht mit einer
Verbesserung, sondern niit einer bedeutenden V'erschlechtt-rung zu
Ihun ; denn die Rcntcnslellcn — jene Finrichtung, an die sich so
viel HotlnuM^a-n für die Reform der \rheilcrversicherung überhau|>i
knup»ften — sind bis auf einen Keim ciitfernt. Zu hf»tfen i-vt freiheb,
dais sich dieser Keim dank der ihm innewohnendin Triebkraft mit
der Zeit /u ei:iem j^^rulseren ( )r;^'anismus entwickehi wird. Die
(ie«>ct/, ;4c\V(.»rdene ( )rchnnig der Uiti^e erscheint nandich auch vom
rein ]>raktischen Standj'unkt au> recht bedenkhch. Die Arl)eit-Iast,
che den unteren X'erwallun^sbehürden ziii^einutet wird, i>^t un;^^eheuer
und (litt Iii »ar im Reichsta;,' \on manclien Seiten weit unterschätzt
worden. In vielen I'.illen u erden die Beh«»rden scliwer tlaran zu
traj^'en haben nicht inu äul^erlieh, sondern vor allem auch im
Hinblick auf ihr Verhältnis zur Bevölkerung ilire> Bezirks. Jede
Entscheidung zu l iigunsten der Versicherten wird der zuständigen
unteren Verwaltungsbehörde zur Last geschrieben werden, wahrend
die Rentenbewilligungen als etwas Selbstverständliches, nicht etwa
*
Ernst Langr, Das neue deutsche Invalidenvcrsjcherungsgesctz v. 13. Juli 1 S99. |
als etwas Vertfienstliches hingenommen werden. Das ist das Schicksal
aller derartiger Oigane, namentlich der ersten Instanzen — und alt
solche werden jetzt in der Praxis die unteren Verwaltungsbehörden
dem Publikum gelten. Es ist gut, wenn man sich in dieser Be-
ziehung von vom herein gar keinen Illusionen hingiebt : die Zurück-
weisung eines Anspruchs, die Entziehung einer Rente schafft dem
Fcststellunfjsorgan mehr GeL^ner, als die Bewilligung von hundert
Renten Freunde. Dem Landrat, dem Bürgermeister u. s. vv. — nach
den bestimmten Aeufserunffen, die vom Regierungstische aus im
Reichstag gefallen sind, soll die der Behörde durch das Invaliden-
versicherungsgcset/ übertragenen Gescliäfte der Chef persönlich
leiten — wird dadurch seine sonstige Thätigkcit nicht erleichtert
werden. Schon die Thatsache, dafs er die \'ertretcr /.ur niiindlichen
Verhandlung über einen Rentenantrag einberuft, /.eii^t in den meisten
Fällen, dafs er sell)St Gegner der Bewilligung ist ; er wird damit
sofort zur Partei, das Odium ckr etwaigen Zurückweisung des An-
spruclis bleibt an ilim haften, je gewissenhafter er seine Aufgabe
lümmt, um so unaiigeneiimer wird sich ihm das fühlbar machen.
Fs ist daher zu hotTen, dafs sich in den Kreisen der WrwaUun^^s-
beamtcn selbst bald eine starke Nei^iung geltend machen wird, ihre
F^ntlastung von dieser Hürde zu erstreben, d. h, auf die Errichtung
von Rentenstellcn hinzudrangen. Möchte unser Optimismus in dieser
Beziehung sich nicht als übertrieben erweisen!
Die Landeszentralbehdrde ist befugt, den Rentenstellen statt der
Begutachtung die Beschlufsfassung über die Rentenbewilligung zu über*
tra^n. Für eine materielle Erweiterung der Aulgaben der Rentenstellen
bieten .sonst nur noch die Bestimmungen des § 80 'Raum, wonach der
Vorstand der Versicherungsanstalt unter Zustimmung des Ausschusses
der Rentenstelle die Kontrolle über die Entrichtung der Beitrage
und mit Genehmigung der Landes*Zentnilbehörde auch noch weitere
Obliegenheiten übertragen kann. Das ist alles. Sollte indels, wie
wir hoffen, die Errichtung von Rentenstelksn mit der Zeit in lel>
haften Fluis kommen, so würde zweifellos die Logik der Thatsachen
dafür sorgen, dafs sich ihr Arbeitsgebiet bald hierüber hinaus bedeutend
erweiterte (z. vergl. auch das S. 505 Bd. XIII des Archivs Gesagte).
Durch eine organisatorische Neuerung hat der Reichst«^ das
Gesetz bereichert, die ihrer grundsätzlichen Bedeutung wegen hier
nicht übergangen werden darf. Nach § II kann nämlich durch
Beschluls lies Bundesrats der See-Berufsgennssenschaft ge-
stattet werden, die Invalidenversicherung für die Personen mit zu
üiyiiized by Google
i8o
Gewtzg«bui^: DeutMhet Reicli.
übernehmen, die in den zur Genossenschaft gehörenden Betrieben
oder in einzelnen Arten dieser Betriebe l)eM:Iiafti<j;t werden, sowie für
die Unternehmer, die gleichzeitig der Unfallversicherung und der
Invalidenversirherun'^ unterliegen. Bedingutig ist jedoch, dafs dann
von der See-Bcruüsgcnossenschaft zuL^'Ieich eine Witwen- und
Waisen ver so rgju nj^ fiir die Hinterbliebenen der Versicherten
begründet wird. Werden diese Kinrichtun.jen 'getroffen, so sim! die
Personen, iiir die sie bestimmt sind, kraft des (iesetzes darin ver-
sichert.
Die Scc-Berufsü'enosscnschaft selbst hat Hie N'eranlassun': zu
dieser Hestinmivni.,' ^ci^clien; es ist daher walir-chcinlirli, dals die
Einrichtung ihal.sai hiich ins Leben treten und somit die erste
Witwen- und Wai>en\ersorgung im Rahmen der neueren Arl>citer-
versicherung — freilich nur fvii einen >eiir be>clii<inkten Krei^ \on
Personen — zwangsweise eingeführt werden wir»!. Wie tn.m nun
auch ilicscni besonderen Plan gegenüberstehen in ig. intcrc-^^aiil ist
der V^crsuch auf jeden h all, und es ist sehr wohl denkbar, dals weitere
gesetzgeberische Mafsnahmen hieran spater anknüpfen werden und
«Hnit die Einrichtungen, die hier zu erwarten sind, dazu dienen
werden, die längst als notwendig ericannte allgemeine Witwen- und
Waisenversorgung zur That werden zu lassen. Von diesem Stand-
punkt aus kann man den § Ii des Invalidenversicherungsgesetzes
auch dann mit Freuden begrüfsen, wenn man davon überzeugt ist,
dals gerade die Beru&genossenschaften nicht die fUr die allgemeine
Durchiührung der Witwen^ und Waisenversorgung geeignete organi-
aatorische Grundlage bieten.
Die S. $08 Bd. XIII des Archivs erwähnte \'on der Regierung
gefönte Beschränkung der Selbstverwaltu ag durch die Garantie-
verbände hat der Reichstag, wie zu erwarten war, nicht genehmigt.
Der Vertreter der Garantieverhai k i n Ausschuls der Anstalten ist
ganz geCstllen, und die rnifunj (!l-s X'oranschlags der Versicherungs-
anstalten ist der Aufsichtsbehörde übertragen worden. Diese ist
befugt. Anstände zu erheben, insoweit der Voranschlag etwa den
gesetzlichen oder statutarischen \'orschriften nicht entspricht. Be-
schlüsse des Ausschusses, die solchen .Anstanden nicht gerecht
werden, muls der Vorsitzende des Anstaltsvorstandes aufechten.
4. Sonstige Aenderungen.
Alle übrigen Abafi'Jcrungen des bisherigen Rcchtszustandcs, die
das neue Gesetz bringt, treten gegen die besproclieneii Hauptpunkte
Ernst Lange, Das nrue deutsche Invalsdenvenicberongigcsetz v. 1 3. Juli 1 899. 1 3 1
zwar an Bedeutung zurück; doch sind einige immerhin von so
grofsem Interesse» dafs sie noch eine eingehende Besprechung ver-
dienen, zumal ihnen, soweit ae fiberhaupt schon im Regierungs-
entwurfe enthalten waren, in unserer früheren Arbeit nur wenige
Worte gewidmet waren.
Was zunächst den Kreis der von der Versicherung er-
fafsten Personen anbelangt, so ist es hinsichtlich der zwangs-
weise Versicherten bei dem Regieningsvorschlage geblieben. Es
wird ako die Versicherungspflicht ausgedehnt auf alle Angestellte,
deren dienstliche Beschäftigung ihren Hauptberuf bildet, Werk-
meister, Techniker, Lehrer und Erzieher, sofern sie Lohn oder Ge-
halt beziehen, ihr Jahresarbeitsverdienst aber30CX)Mk. nicht übersteigt.
Die Schiflsführer werden diesen Personen gleichgestellt, sie unter*
liegen also jetzt nur der \^ersiclierungsj>nir]i(. wenn sie einen Jahres-
arbeitsverdienst von nicht mehr als 2000 Mk. erzielen, (iefallen ist da-
gegen die im Entwurf vorgesehene Bestimmung, dals solche Per-
sonen, die Lolinarl)cit nur in bestimmten Jahreszeiten für nicht mehr
als zwölf Wochen übernehmen, im übrigen aber ihren Lebensunter-
halt selbständig erwerben, von der Versicherungspflicht befreit
sein .sollten.
Höchst interessant ;^esialleleii sich die VerhandUnii^a-n über die
X'ersirhf ruti;^^ der ausländischen Arbeiter, <l(TU'n tler .-Xulent-
halt in DeulN< hland nur tur eine bestimmte Dauer ^^ stattet ist und
<lie narli Ablauf tliocr Frist wieder in das Auslanii zurückkehren
niussiii. Der Ikindesrat hat /.war die Befugnis erhalten, zu l)e-
stiinnK ii, da s diese rer<niien der Wrsicherungsj^flicht niclit unter-
liegen, .iber tlie .Xrbcitgcbcr sind in diesem l alle verj>tlirhtel, den
Beitrag an die X'ersiclierungsanstalt zu zahlen, den sie für ihre aus-
ländischen Arbeiter entrichten müfsten, wenn diese versicherungs-
pflichtig wären. Es braucht nicht bescMiders auseinandergesetzt zu
werden, dafe diese letzte Bestimmung vom rein versicherungs-
technischen Sundpunkt aus gar keinen Sinn hat, denn den Bei-
trägen stehen keine auch nur möglichen Leistungen der Versiche-
rungsanstalten gegenüber. Es handelt sich hier vielmehr um eine
Abgäbet die von den Ausländer beschäftigenden Unternehmern zu
dem Zweck gefordert wird, damit bis zu einem gewissen Grade
verhütet werde, dafs sich die Chancen der ausländischen Arbeiter
im Vergleich zu denen der inländischen in der Konkurrenz um
die Arbeitsgelegenheit allzu günstig gestalten. Man hat es hier
mit einer Art von Schutzzoll gegen die auslandische Arbeit zu
Digitized by Google
t82
Gesetzgebung Deutsche.'» Keicii.
thun — mit einem Zoll, den die inländischen Unternehmer, die aus*
ländtsche Arbeiter beschäftigen, zu zahlen haben, und der den
Invalidenkassen zu gut kommt Hiermit ist ein Schritt von gröCster
prinzipieller Bedeutung gethan. Denn es ist klar: so gut wie man
diese eine liir die einheimischen Arbeiter ungünstige Chance hier
durch eine den Unternehmern auferlegte Zahlungsverpflichtung aus-
zugießen sucht» kann man auch andere durch die Gesetzgebung
geschafiene oder durch die Verhältnisse und die Natur gegebene
Chancen /u Gunsten der cinlieiinischen Arl)eiler beeinflussen.
liegt kein Grund \ or, bei diesem einen schüchternen Versuch stehen
zu bleiben. Das Schl^^wort vom „S<^hui/. der nationalen Arbeit"
gewitMit so einen ganz neuen Sinn. Der Schutz \or der ausländi-
schen Konkurrenz erstreckt sich nicht mehr nur nuf die Produkte
der nationalen ArluMt, sondern vor alletn auf den heimischen Arbeitet
selbst. Die ^eschatlenen Dinji^e treten in den ninterj:^r<ind. die
schafiendcn Personen in <ien X'order^rund. X'iele Zeichen, u. a.
auch der immer enjjjere X'erkehr. in den (he euroj)äischeM \'<»lkcr
mit einif^en überseeischen, \\»r allem den mongolischeii Ras-Nen
treten, weisen darauf hin. dals diese Art von „Schutz der nationalen
Arbeit" mehr und inehr das titteiitliciic Interesse in Anspiuch nehmen
wird. Darauf hier weiter einzulochen, müssen wir uns \ cr>a,4cn ; e^
solhe hiii nur der erste \cr>tockte Sciiritt, den die Deutsche Ge-
setzgebung nach dieser Richtung hin gcthan hat, in seinem Wesen
gekennzeichnet werden.
Die Haustndustriellen, sowie Gewerbetreibende, die nicht
r^relmäisig wenigstens einen Lohnarbeiter beschäftigen, bleiben im
wesentlichen so gestellt wie bisher. Sie linterliegen also nicht kraft
des Gesetzes der Versicherung, sondern der Bundesrat hat nur die
Befugnis, die Versicherungspflicht auf sie ftir bestimmte Berufs-
zweige auszudehnen ; er braucht das jetzt aber nicht mehr allgemein
zu thun, sondern kann die Vorschrift auf gewisse Bezirke be-
schränken. Ferner kann der Bundesrat jetzt bestimmen, dafs und
inwieweit solche Unternehmer, die sich Zwischenpersonen (Faktoren,
Zwischenmetster u. s. w.) bedienen, rücksichtlich der von diesen be-
schäftigen Hausindustriellen die durch das Invaliden\ ersicherungs«
gesetz den Arbeitgebern auferlegten Pt^ichten zu erfüllen liaben.
Alle diese Personen sind, soweit sie vom Bundesrat nicht für
versicherungspflichtig erklärt worden sind, wie nach bi>herii,fem
Gesetz, berechtigt, sich selbst zu versichern. Dieses Recht steht
jetzt auch den Arbeitern zu, die der Zwangsversicherung nicht unter-
Ernst Lange, Das neue denUche InvalidenTcnichervngigeseU v. 13. Juli 1899, igj
lir-^M-n, weil ihnen als Kntj^elt für ihre Tliätij^keit keine Rarver-
ji^utuii,;, sondert) nur freier l'nterhalt gewährt wird, sowie den Per-
sonen, die nur vorübergehende, vom Bundesrat als nicht versiche-
rungspflichtige Beschäftigun'.^ erklarte Dienstlcistun^^fcn verrichten.
Alle diese Personen L,'ehoiiii ihrer ganzen sozialen Lage nach
durchaus dem Arijeitcistandc im engeren Sinne an. Aulserdein
ist aber das Recht zur Selbst Versicherung noch auf weite
Schichten des sogenannten Mittelstandes au^edehnt worden und
zwar auf
1. Betriebsbeamte, Werkmeister, Techniker, Handlungsgehilfen
und sonstige Angestellte, deren dienstliche Beschäftigung
ihren Hauptberuf bikiet, sowie Lehrer, Erzieher und Schiffs-
fuhrer, sobald ihr Jahresarbeitsverdienst zwischen 2000 und
5000 Mk. liegt;
2. Gewerbetreibende und alle Betriebsunternehmer, die nicht
regelmafsig mehr als 2 versicherui^pflichtige Lohnarbeiter
beschäftigen.
Als Bedingung ftir den Eintritt in die Selbstversicherung gilt
ganz allgemein, dafs das vierzigste Lebensjahr noch nicht vollendet bt
Endlich sind alle Personen, die aus einem die \''ersicherungs-
pflicht oder die Berechtigung zur Selbstversicherung begründenden
Verhältnisse ausscheiden, berechtigt, die V^ersicherung weiterhin
fortzusetzen oder zu erneuern und zwar in beliebiger Lohnklassc.
Im Reichstage wurden diese Bestimmungen von verschiedenen
Seiten sehr entschieden bekämiift, wobei man von der Ansicht aus-
ging, tlals havi|)tsächlich die , .schlechten Risiken", d. h. Personell, die
voraussichtlu li friür/citi;.;^ zu Renteneniptiingcrn werden, von dei- frei-
wilhgcn \'ersi( iieruiig ( lebrauch machen würden. Die I^>ten der frei-
willigen V ersicherung würtlcn infolgedessen tlurch die Beiträ;.'e der frei-
willig Versicherten niclit gedeckt werden, was dann nicht> anderes
bedeutete, als dals die>e im ganzen genommen günstiger gestellten
PJenu-nte direkten Nutzen vr)ti den Beiträgen der zwangsweise vi-r
sicherten Arbeiter zögen. Ich bin der Meinung, dals in die>en
Argumenten die praktisclie Bedeutung der freiwilligen Versicherung
völlig verkannt wird. Thatsächlich wird, wenn nicht in irgend
einer Form eine Art Zwang eintritt, wenig von dem Rechte der
Selbstversiehening Gebrauch gemacht werden: wer sich gesund
fiihlt, wird glauben, die Versicherung nicht nötig zu haben, und
wer sich schwach und krank fühlt, wird meinen, das Kleben habe
für ihn doch keinen Zweck mehr. Dagegen ist die freiwillige Ver-
Gesrtzgrbung : Dculsrhcs Knch.
Sicherung von unschätzbarem Wert für die Einrichtung von Pensioos-
und ähnlichen Kassen aller Art. Jeder gewerbliche oder kaufinännische
Unternehmer, jeder Unterstützungsverein u. s. w. kann jetzt seine An*
gestellten oder hilfsbedürftigen Mitglieder auf Grund des § 14 des In-
\-alidcn versicheningsgesetzes leicht einigermafsen vor Not und Elend im
Alter und ht i F.r\vf rl)sunfalii^^keii schützen, indem er sie veranlagt, sich
selbst /u \ crsirli( I II odtr die X'ersicherimg freiwillig fortzusetzen, nach-
dem die Ff1i( ht dazu aufgehört hat. Der rDicrnehiner, der Verein etc.
kann dann die Beiträge ganz oder teil \\ (i-i si ]l>>i ijiRrnehnicn . auch
noch eine Ziisrhiiisk is'^e '^TÜnden u.s.W. Jedenfalls werden durch diese
Maisrej^ein Vorteile tur die An^^^telltcn ftder Miti,liedcr fjcschafTen,
wie sie keine andere Hlinrichtun^ [»it-ien kann. Wird doch vor allem
auf diese Weise das Reich j^e/wuii^^en, in (icstalt des Zuschusses
von 50 Mk. /.u jeder Jahresrente tlirekt zu der \'ersor;.nin<^ bei/u-
tra;^'rii ! I haisächlich herrscht jetzt überall das HestrclH ii. die Zu-
kunli (kr v<.>n ihrer Arbeit lebenden Personen, aucli soweit >ie der
gesci/lichen Zwani^^sx ci >i( lu run^' nicht unterlie<^^en, — alr-o in erster
Linie ilei ,,l'ri\ alltcaniteii" im weitesten Sinne des Worts — mög-
lichst sirlier zu stellen. Der Wun>ch scheitert aber vielfach an der
.•^^chwu I :^ki it, die nötigen ( leKKuninu ii h( i bci/UM j)allen. Hier ist
nun ein Mittel gegel)en, das au!■^cru^^lentlich zu erleichtern. Ich bin
überzeugt, dafs man in ausgedehntem Malse davon Gebrauch machen
wird, sobald es erst allgemein in seiner praktischen Bedeutung er-
kannt sein wird. Damit schwinden aber dann die Besorgnisse der
Gegner der freiwilligen Versicherung zu nichts, denn von einem
vorwiegenden Zuströmen der ungünstigen Risiken kann unter diesen
Verhältnissen natürlich gar nicht mehr die Rede sein.
Uebrigens ist auch die Wartezeit bei der Invalidenrente für
die freiwillig Versicherten bedeutend verlängert worden. Sie be- -
trägt nämlich, wenn nicht mindestens 100 Beiträge auf Grund der
Versicherungspflicht geleistet worden sind, 500 Beitragswochen,
anderenfalls nur 20a Dabei kommen die für freiwillige Versicherung
geleisteten Beiträge überhaupt nur auf die Wartezeit in Anrechnung,
wenn mindestens icx> Beitrage auf Grund eines die Versicherungs>
pflicht oder die Bereclitigung zur Selbstversichcrung begründenden
Verhältnisses gezahlt worden sind (§ 29). Aul'serdem ist die Ge-
fahr des fcrlöschens der sich aus der X'ersicherung ergebenden An-
wartschaft bei der Selbstver-i« lirruni,' bedeutend gröfser als bei der
Zwangsversichenmg; denn bei der Selbstversicherung und ihrer Fort-
setzung müssen zur Aufrechterhaltung der Anwartschaft innerhalb
Digitized by Google
Era&t LanK^i Das neue deutiicbr Invalidcnvcrsichcruog»gcü«tz v. 13. Juli 1S99.
zwekr Jahre nach dem auf der Qtiittungskarte vermerkten Aus«
stellun^'stage mindestens 40 Beiträge entrichtet werden, bei der
Zwangsversicherung und ihrer freiwilligen Fortsetzung aber geniigen
20 Beitragswochen. Dem Mifsbrauch der freiwilligen Versicherung,
besonders der Selbstversicherung, sind also starke Riegel vorgeschoben.
Die Wartezeit bei der Invalidenrente ist, wie wir soeben ge-
sehen haben, für die zwangsweise Versicherten gegen das ake Gesetz
verringert : von 335 auf 200 Wochen ; ebenso ist sie bei der Alters«
rente liir alle Versicherten von 1410 auf 1200 Wochen herabgesetzt
Auch sonst sind die Voraussetzungen fiir die Erlangui^ der Renten
durchaus erleichtert: der Begriff der PJrwerbsunfahigkeit ist der
Rcj,ncriingsvorlaj:je entsprechend vereinfacht und erweitert (s. S. $OJ
Bd. XIII des Archivs», die Wartefrist für die vorübergehend Er-
werbsunfähigen auf ' , Jahr hc t abgesetzt Da indefs den Kranken-
kassen die Fürsorge für die Kranken nur '/^ Jahr lang zwai^sweise
obliegt, so klafft hier in der Gesetzgebung immer noch eine grofse
Lücke. ' , Jalir lang bleiben die Kranken sich seli)si ül)erla.ssen,
entbehren sie jeder gesetzlichen hiirsorge. Was etwa Krankenkassen
und b nalidenanstalten in dicker Zeil für die Kranken thiin, l;» '^chicht
irciwilltL; und l)cruht nicht auf gesetzlichem Zwang. Der Rcich:>tag
hat daher eine Resolution ang<*n(MTimcn , worin die \ erbündeten
Regierungen ersucht wrifU n, dcniniu li^t eine Nnvclle zimi Kranken-
versicherungsgesetz vorzulegen, durch die die Mindestfursorgc der
Krankenkassen von 13 auf 26 Wochen erhöht wird.
Kine recht bedenkliche Hestnnimnig hat der Reichstag mit dem
§ 43 in das (jresetz eingefugt. Nach ij 15 begründet die Erwerbs-
unfähigkeit, wenn sie durch einen Unfall herbeigeführt ist, den
Anspruch auf Invalidenrente nur insoweit als die Invalidenrente die
Unfallrente übersteigt Kommt es nun auf diese Weise überhaupt
nicht zur Auszahlung einer Invalidenrente und ist der Versicherte
durch den Unfell dauernd erwerbsunfähig im Sinne des Invaliden-
versicherungsgesetzes geworden, so ist ihm auf seinen Antrag die
Hälfte der für ihn entrichteten Beiträge zu erstatten, wogegen dann
die durch das bisherige Versicherungsverhältnis begründete Anwart-
schaft auf Invaliden- uod Altersrente erlischt Es ist also fiir die
Unfallinvaliden hier ein Recht geschaffen, dafs dem der weiblichen
Personen bei Eingehung einer Ehe und der Hinterbliebenen ver-
storbener Versicherter gleicht Wenig licfsc sich auch dagegen sagen,
wenn die ßerufsgena^nschaft oder die Behörde, die über die l'nfallrentc
zu befinden hat, gezwungen wäre, nun auch ihrerseits, dem Urteil
i86
( ifsrUjjcbum; U'-ul*ch<"» kcifh.
der Versicherungsanstalt cntsi)rechend, die Rente als dauernd tu be-
trachten. Thatsachlich sind aber beide Feststellui)^sor<;ane \ öUig un-
abhängig von einander. Die Benifsgenossenschaft oder die an ihre
Stelle tretende Ausföhnuigsbehorde kann noch nach Jahren auf
Grund der Bestimmungen der Unlallversicherungsgesetze die Rente
herabsetzen, ja, unter Umstanden ganz einstellen, und der von dieser
Malsregel BetroflTene ist dann in der üblen I^age, g^en die Rück-
Zahlung einer verhältnismäßig recht kleinen Summe die Anwart-
schaft auf die Invaliden« und Altersrente \'erloren zu haben. Hätte
er den verhängnisvollen Antr^ nicht gestellt, so wäre ihm die An- .
wartüchaft voll erhalten geblieben, denn nach § 46 Abs. 2 Z. 2 des
hualidcnversicherungsgesetzes wäre die Zeit, in der er die Unfall-
fallrcntc bezog, so betrachtet worden, als hatte er \n versicherungs-
pflichtiger Beschäftigung gestanden. Selbst bei der grölsteti \^or-
sicht und (U ni weitesten Wohlwollen auf beiden Seiten Werden der-
artige bedauerliche Fälle in der Zukunft kaum ganz vermieden
werden können. Aueli hier macht <\ch der Mangel an Zusammen-
hang zwischen den einzelnen Zwei^^en der Arbeiterversicherung auf
das ein|ifiiidlirhste bemerkbar — ein neuer Fingerzeig für di«' Rich-
tung, die weitcrlnii die furtschreitende Fntwickeluiv^ nehmen muls.
Die Rc^timminigcn über die K r a n k e n p f 1 e 14 e durcli die \'er-
sicheruni;>an,stahcn waren schon in dem Regierun^>cntwurf gegen
das bisherige (lesetz wesentlich verbessert; der Reichstag ist nach
die^e^ Richtung hin noch ciniL^e Schritte weiter gegangen. \^or
allem ist bei der 1 \*bi i iuhnu des Heil\ crlahren^ durch die \'er-
sicherungsanstalten den hamilienangehörigen der erkrankten Ver-
sicherten für alle Fälle ein Recht auf Unterstützung gewährt. Ferner
ist das Wrhältnis der Versicherungsanstalten zu den Krankenkassen
und Berufsgenossenschaften genau geregelt
Als Mittel zur Vorbeugung der Invalidität ist eine
intensive Krankenpflege zweifellos von grofser Bedeutung. Die
Reichstagskommission war auf diesem Wege noch weiter vorwärts
geschritten und hatte dem Gesetzentwurf Bestimmungen eingefi^
wonach die Versicherungsanstalten das Recht haben sollten, für ihre
Bezirke oder fUr bestimmte Beru&zweige oder Betriebsarten ihrer
Bezirke Vonschriften zu erlassen, durch die die Arbeitgeber verpflichtet
wurden, bestimmte Hinrichtungen zum Schutz der Versicherten gegen
gesundheitsschädliche Einflüsse zu treflfen. Auch sollten die Anstalten be-
fugtsein, durch Beauftragte die Befolgung der X'orschriften überwachen
zu lassen. Im Plenum des Reichstags wurden indel's diese Vorschläge, die
ErnstL&nge, Das neue deutsche Invalidenventicherunesg)r»etz v. 1 3. J uli i S99. ]
im woetiill« iu ii den ResliminuniTcii des UntalK crsichcruiii^si^rsetze!»
über die l rilalKeiliütuiig nachj^cbildcl waren, vcrworten — wie ich
glaube, iTiit Recht. Die Unfall- und Erkrankungs- oder Invaliditäts-
verhütung ist meines Erachtens eine Aufgabe so umfassender und
zugleich so heikler Natur, da& sie lücht nebenher in den Arbeiter*
Versicherungsgesetzen mit erledigt werden kann. Dieses gan/.e Ge-
biet sozialer Fürsorge bedarf einer besonderen gesetzlichen Regelung,
die allein mindestens ebenso umiassend und schwierig sein wird,
wie die ganze Versicherungsgesetzgebung zusammen genommen.
Schon die Leistungen der Berufsgenossenschaften auf dem Gebtete
der Unfallverhütung werden viel&ch auCserordentlich überschätzt.
Thatsachlich ist nur für einzelne Industriezwdge, besonders für den
industriellen Grofsbetrieb, nach dieser Richtung von den Berufe-
genossenschaften etwas — in dieser Beschränkung ja an sich höchst
Anerkennenswertes — geleistet worden. Für die grofse Menge der
Kleinbetriebe versagt hier die Thätigkeit der Berufsgenossenschaften
fast vollständig. Noch übler würde es aus vielen nahe Uzenden
Gründen den \'ersicherungsanstalten bei ihren Bemühungen um die
Erkrankungsverhütung ergehen, obgleich zugegeben werden mufs,
dafs sie wegen der stärkeren Beteili^unf; der N'ersichertcn an der
Verwaltung und der gröfsercn Dezentralisation ihrer Kinriciitung den
Berufsgenossenschaften auf diesem Arbcitsfelde immerhin in mancher
Beziehum^f überlegen sein würden. Jedenfalls wäre das, wa> sie
hätten leisten können, inuner nur klägliciics Stückwerk gebliebetj,
und — was das schlimmste dabei i-<t — die /.u erstrebende einheit-
liche gesetzliche Regelung die.>es ganzen Zweige^ s<»/.ialer Fürsorge,
in deren Mittel[)unkt voraussichtlich ein \\ ()hnuni.;sgeselz stehen
wird, wäre dadurch sicherlich >eiu erschwert und aufgehalten worden.
Dafs die Sorge für die l'nfalKerhütung den Berufsgenossenschaften
übertragen ist, wird sich schon mehr und meiir aL> I lenminis geltend
machen. Man thut daher gut. nicht noch weitere ähnliche Hinder-
nisse zu schaffen, selbst auf die Gefahr hin, die jetzigen Zustände
noch einige Jahre länger zu erhalten, als sonst nötig wäre.
Aus der Uebersicht, die wir im Vorstehenden über die wich*
tigsten Aendeningen gegeben haben, die der bisherige Rechtszustand
durch das neue Gesetz erlitten hat, 'wird der Leser entnommen
haben, dais es sich hier zwar um viele kleine Verbesserungen des
Bestehenden handelt, dafs aber wenig oder nichts eigentlich Neues
Digltlzed by Google
i88
Ge^t-tzgrbuiif; : Deulschrs Reich.
geschaflen ist. Hieraus erklärt es sich, dafe bei der Schluis^Mdm-
mung im Reichstag das neue Gesetz nahezu einstimmig angenommen
worden ist: niemand hatte in der That Veranlassung, gegen das
Gesetz mit seinen vielen offenbaren, gleichsam harmlosen Vorzügen
zu stimmen. Grofse Fortschritte, epochemachende Wendungen der
Gesetzgebung pflegen sich nicht so ruhig zu vollziehen. Sie haben
stets ihre grundsätzlichen Gegner, und ihre fast einstimmige An-
nahme In den gesetzgebenden Körperschaften ist so gut wie aus-
gt-^( blossen. So sicln r wie es ein trauriges Zeichen für den im
Reichstage herrschenden (n ivt . cwescn wär^ wenn dieses Gesetz
«lort i^rolseii Widerstand getumlen hatte, so sicher ist es auch, dals
die Thalsache, dals solcher Widerstand nirlit da war, die prinzipielle
Unbedeutcndheil des gesrhaffeiien Werks bezeugt. Um nicht mifs-
versianden zu wcrdoi. wollen wir jedoch hier noch ausdrückHch
hervorheben, dal> dir Kleinarbeit, die bei der \'« Tbereiluni^^ und der
Beratung des neuen (i(set/ts — in erster Lüne auf Sritdi der
Reirhsregierung — - gek isicl worden ist, »|uantitati\' sehr bedeutend
und vielfach auch (jualitaliv vor/iiglieh gewoeii ist.
Dals die Sprache drs ( n-it/etit wurl.s \ iel /u wünschen übri^
lieis. i>t liereits auf S. — ;'«» di-.s vorigen Haniles des Archivs
erörtert wonlen. Das aunnu hrige (ieset/. unlei >cheidel sich in
dieser Be/iehung wenig \on dem laiiwurf .So sehr das auch zu
bedauern i>t, kaiui doch den Reichstag kaum ein X'orwurl l reifen,
denn die Aufgabe, den Entwurf nach dieser Richtung hin gründlich
zu verbessern, war ftir ihn praktisch wohl gar nicht zu losen. Eine
bessere Sprache unserer Gesetze zu schaffen, ist ein in der Zukunft
liegendes Ziel, das nur erreicht werden kann, wenn von anderer
Seite her — von der Schule — energische Mitwirkung erfolgt Darauf
näher einzugehen, ist jedoch hier nicht der Ort.
Wir lassen nunmeiir den Wortlaut des Gesetzes folgen:
Inv«lid«iiv6rsicherangsK«Bets vom 13. Juli itM.
Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden Üfut-thcr Kais<r. K aiig von Preufscn etc.
▼crordnni im Xamen des Reichs, nacti criolt^tcr Zustimmung da Btmdesrats und de»
Reichstags, was folgt:
An die Stelle des Gesetzes, betreffend die Invaliditits- und Ahersversicberniig,
vom 23. Juni 1889 tReichs-Gcsetsbl. S. 97) und des Gesetze«, betreffend die Ab>
indenmg d« 157 drs Invaliditäts- und Alter-vpr^irhcrunp'.gesetaea vom 8b Jni
189t (Reicbs-GeseUbl. S. 337) treten die nachstehenden Bestimmnogett.
^ ij . .-Lo Ly Google
Invaluli-nversichcrungsgeseU vom 13. Juli
189
I. Umfang und Gegenstand der Versicherung.
§ 1. (Vfrsichcningspflicht.^ Narh Mafsgabc der Bestimmungen dieses Geaetses
Veidrn vom von<«nd»-ti«n scclizc hnti-u l.cbrnijahr ab versichert
1. Fer^ncu, welche aU Arbeiter, Gekilfeu, Gestellen, Lehrlinge oder Dienst-
boten gegen Lohn oder Gehalt betchEftiKt werdea;
a. BetricbtbcMDte, Werknciiter and Tcdmiker, HaadlnagagcliUfen «ad •Lehr»
Imge (MsscUiefsUch der in Apothckeii bcscbifticteii Gehilfen und Lehr-
Uage), sonstige Angestellte, deren diemtlicbe Seiehiftigang ihren Haupt-
beruf bildet, :u)wie Lehrer und E^rneher. tfaitlich sofern sie Lohn oder
Gehalt beziehen ihr regelmäfsiger JahreMTbeitsverdientt «her «weitetnend
Mark nicht uhfr>tci}jt, sowie
3. die gegen Lohn o<ier Gehalt be»chiUtigten Personen der Schitl>i»esaLzung
deutscher Seefahrzeuge 2 desGesetxes vom rj. Juli 1887, Reicbs-Gesetsbl.
S. 399) und von Fahnwugen der BinuenschiftÜMt, SeblAOl^"^ jedoch nnr
dnan, wenn ihr regelmifsiser Jahreaarbcltsverdientt «a Lohn oder Gehalt
iweitavaeod Mark nicht ttbenteigL Die Ftthranf der Keichaflacge anf
Grund der gemafs Artikel II § 7 Abs. I des Gesetzes vom 15. Mär/. 18S8
iReichs-Ge^etzbl. S. 711 erteilten Ermächtigung macht das ScbtiT nicht in
einem deutschen Seelahrzeug im Sinne dieses Gesetzes.
<5 2 Durch Besrhlufs «Ics Pundrsrati kann <ii'- \<>rs-hnM <1«-^ 1: i für be»
stimmte Herufszweige all;," mcui oder rnit Beschränkung aut gewi>»o Bezirke auch
t. auf Gewerbetreibendt: und sonstige Betriebsuntemehmer , welche nicht
regelmäfsig wenigstens einen Lobnarbeiter beschäftigen, sowie
a. ohne Rlcksicht anf die Zahl der von ihnen beichiftigten Lohnarbeiter
anf solche selbitindige Geweibetrribende , welche in eigenen Betriebs»
Rtitten im Aofimg md Hb' Rechnn^ anderer Gewerbetreibenden mit der
Herstellung oder ßearbeitang fewcrblicher ErseogniMe bescbiftict werden
( I f.iusgewerbetreibende I,
erstreckt werden, und zwar auf letztere auch dann, wenn sie die Roh- und Hilfs-
stoffe selbst be,rli.itTen, und auch für die Zeit, während welcher sie vorübergebend
fttr eigene Rechnung arbeiten.
Dnrch Beichlnfs det Bnndesiats kann bestimmt werden,
1. dafs nnd inwieweit Geweibetrribende. in deren Auftrag und filr deren
Rechauag von Hansgeweibetreibenden (Abt. i Ziffer a) gearbeitet wird,
gehalten sein sollen, rttdcsichtlich der Hausgewerbetreibenden und ihrer
Gehilfen, Gesellen und Lehrlinge die in diesem Gesetze den Arbeitgebern
auferle;jten Verp(li< lit>inf;en zu erftillrn.
3. dji\\ UH'I inwieweit ( iewerlietreibende, in deren Auftrage Zwi^.rhenpTsnnen
(Ausgeber, Faktoren, Zwischenmeister etc.; gewerbliche Erzeugnisse her-
lteilen oder bcariieiten lassen, gehalten sein sollen, rflcksidatlich der von
den Zwiachenpenonen hierbei beichlfligtcn Hanigewerbelreibenden (Abs. 1
Zi0ier a) and deren Gehilfen, Geaellcn nnd Lehrlinge die in diesem G«>
leiae den Axbeitgebem auferlegten VerpSiehtnafen in erfllllen.
190
Gnctzgebung: Deutsches Reich.
3. I .'hn ixlrr ("»riuill ^^rlim aui h Tantiim- ri m l Naturalbezüge. Für
dir>rlli<ii wi ll iIt 1 »ur. h^i liiiifTswi rt in An^aU gebracht, th»—er Wert wird Ton der
aittercn V'cr\valtuiijjsb< li<irilt fr^tjjoclzl. •
Eine Beschiftigun];, für velche «Is Ent|;elt nur freier Unterhalt gewährt wiri
gilt im Sianc dieses GeseCses nicht als eine die VenichcnafiBplIkht bcgtttuknde
Bescbiftignng.
j$ 4. Durch Beschluis des Bundesrats wird bestimmt^ inwieweit Torttber-
gcbende Dienstletstongen als versicherungspflichtige Bescbiftigwig in Sinne dieses
GeselZ' s nicht anzuselif-n >iiKi.
1 >t r Ituiulosrat i»{ hrliij^!. /u hrstminien, (ial> Auslatulrr, wrUhen der Aufent-
halt im Inlüiulr nur l'iir «-in<- l>c-tiinn)tc l>auer behördlich gestattet ist und die nach
Ablauf dieser Zeit in das Ausland zurückkehren müssen, der Ven>icberuQgspflicht
nicht unterliegen. Sofern eine solche Bestimmung getiofTen wird, haben Arbeitgeber,
welche solche Ansiinder beschiftigen, nach niherer Bestimmung des Reiclis-Ver>
sicherungiamts denjenigen Betrag an die Versicherungsanstalt zu zahlen, den sie fllr
die Verstchentng der Ausländer aus eigenen Mitteln wUrden entrichten mBssen (§ ij
Abs. 31, wenn dert-n \'ersii hfrunf^spflicht bestände.
sj >. I'.i-iinite lies kru'lis, der Huntlesstaaten und iler Koniniun.ilvi rbände sowie
Leluf-r und l-.r/.iolu r an lUentlu hcn .Vhulen oder .\nstalten unt< fliegen der Wr-
:>icherung>pfUchl nicht, !>olange sie lediglich zur Au.sbildung lur ihren zukunlttgen
Beruf beschiftigt werden oder sofern ihnen eine Anwartschaft auf Pension im
Mindestbetrage der Invalidenrente nach den Sätxen der ersten Lohnklasse gewShir-
leistct ist
Beamte der Versicherungsanstalten und zugelassenen besonderen Kasseneinrich«
tungcn unterliegen der Versicherunj,'s]>flii'ht nicht, sfif^-m ihnen eine Anwartschaft auf
Pension in der im Abs. i Jx 't-ichnrtfn \] <}\r 1 evvalirl'-i-t.-t i..t.
Der VersicluTungspdi« tit tintt rli'-p- n Irrii'-r nii ht IVr-oiK n, wejrlic l ntrrricht
gegen Entgelt erteilen, sulern dies während ihrer wiüscni>cliattlicheu Ausbildung für
ihren zukünftigen Lebensberuf geschieht, Personen des Soldatenstandes, welche dienst»
lieh als Arbeiter beschäftigt werden, sowie Personen, welchen auf Grund der reichar
gesetzlichen Bestimmungen eine Invalidenrente bewÜUgt ist
Der Versicherangspflicht unterliegen endlich nicht diejenigen Personal, derep
Erwerb&rähigkeit info1;:e von Alter, Krankheit oder anderen Gebrechen dauernd auf
wenij:cr als ein Drittel herabjjesetrt ist. Dies ist dann anzunehmen, wenn sie nicht
nuhr imstande sind, durch rin- iliren Kräften und Fähigkeiten entsprechende 1 hälig-
keit, die ihnen unter billiger IkrucksKlitiguni^ ihrer Ausbildung und ihres bisherigen
Berufs zugemutet werden kaiui, ein Drittel desjenigen zu erwerben, was körperlich
und geistig ge^nnde Persmien derselben Art mit Ihnlicher Ausbildung in dersdbea
Gegend durch Arbeit su verdienen pflegen.
§ 6. Auf ihren Antrag sind von der Versicherangspflicht zu befreien Per«
s<^>nen, welchen vom Reiche, von einem Bundesstaat, einem Kommunalverband,
einer Versicherungsanstalt oder zugelassenen besonderen Kassencinrichttinj; oder
Welchen aul ( irund trüberer P> «^chaltigung als Lehrer cnler ! r/ieher an otientlichen
Schulen oder Anstalten i'cusioncn, Wartcgcldcr oder ähnliche ISezügc im Mindest-
^ ij . .-Lo Ly Google
Invalidenvcnicheiuiigsgrscti vom 13. Jnli 1899.
»9.«
betrage der iDvalidrnrrntr nacb den Sätzen (Irr rntcn Lohnklasso bewilligt sind,
o<lcr welchen aut <jruncl clrr reiohsjjesctzlichen Brstinimungfn über riilAllv< rsichcnmg
der Bezug einer ährlichen Rente von mindestens «lemsclbi 11 I'.rtragf zusteht. I>asse1be
gilt von solchen Personen, welche das siebcn/.igstr l,t:l)cns.jahr vollendet haben,
l'rber deo Antrag entscheidet die untere Verwaltungnbcburde des Beschäftigungsorts.
Gegen den Bescheid derselben ist die Beschwerde an die zonftdiit ▼orgesetate Be-
hörde anllssig, welche endgültig cnbcheidet. Bei Zurftcknalune des Antrags tritt die
Vertichemngspflicht wieder in Kraft.
In der gleichen Weise sind auf ihren Antrag von der VerüchemngspAicht au
befreien Personen, weldic Lohnarbeit im Laufe eines Kalenderjahres nnr in be*
stimmten Jahreszeiten fUr nicht mehr als zwölf Wochen oder überhaupt fiir nicht
mehr als fünf/i^ Tag«- iibernehnicii, im iibri},'«-n ab»-r ihrm I rbt-nsuntcrhalt als Bc-
triebsuTitcni' Inner 'nler anderw^-ii 5tll»»tantiig i-rwi-rben, cnler uhii'- 1 .ohn oder Gehalt
thiitig sumI, so lange für dieselben nicht bereits einhundert VVmhen lang Beiträge
entrichtet worden sind. Der Bundesrat ist befugt, hierftber nähere Bestimmungen ux
erlassen.
7. Durch Bescblufs des Bimdesnits kann auf Antrag bestimmt werden,
dafs und inwieweit die Be^mmungen des § 5 Abs. I bis 3 und des § 6 Abs. i
auf Beamte, welche von anderen öfTentliehen Verbfinden oder von Körperschaften
ai^estellt sind, sowie auf Lehrer und Enieher an nicht öfientüchen Schulen oder
Anstalten, sofern diesen Prr«,onen eine Anwartschaft auf Pension im Mindest betrage
der Invalidenrente nach den Sätzen der ersten I.ohnkhisvr fjewiihrlejKfrt ist, und auf
Personen Anwendvinj^ finden sollen, welche!» auf Grutul Irviherer Aii'-Ielluii^ l>ei solcheji
\ c rbaiuUii ndcr kurperschaftcn, .N, hulen »xlcr .Anstalten Pensionen, Warlegelder oder
ähnliche ßczu^e in dem genannten Mindestbctra;:' der Invalidenrente bewilligt sind.
i5 S. I Bcsiintit r> Kas-eii' iTiru litiiugeti.) V'ersK herungsptla hligc Personen, welche
in Betrieben des Reichs, eine?. Bundesstaats oder eines Kummunalvcrbandes bescbäf»
tigt werden, genügen der geseulidiett VeniAerungspflicht durch Beteiligung an einer
für den betreffenden Betrieb bestehenden oder zu errichtenden besonderen Kassen-
rinrichtung, durch welche ihnen eine den reichsgesetdidi vorgesdiencn Leistaagen
gleichwertige Fdrsorge gesichert ist, sofern bei der betreffenden .Kaaseneinrichtnag
folgende VonnsMtningcn zutreffen:
I. Die fieitriige der Versicherten dürfen, soweit sie nir die Invalidenversiche-
nmg in Hohe des reirhsgesetzlichcn .\ns|)ruchs entrichtet werden , die
lliilfte des für den letzteren nach J; ;2 r.n erhebenden Beitrags nicht über-
steigen. Diese Bestimmung tindet keine Auwcuilung, sofern in iler bc-
treffenden Kasseneinrichtung die Beiträge nach einem von der Berechnungs»
weise der 32, 33 abweichenden Verfahren aufgebracht und infolge-
dessen höhere Beitiige erforderlich werden, tun die der Kassenetnricbtung
ans Invaliden- und Altersrenten in Hähe des reichsgesetzliehen Ansprachs
obli^enden Leistungen zu decken. Sofeni hiernach höhere Beiträge m
erheben sind, dürfen die Beiträge der Ver»tcberten diejenigen der Ariieit*
geber nicht ubersteigen.
192
G««eUg<buiig : 0«at«ch«s Reich.
2. B<i der Verwaltung der KasN^n miissrn die VersichertcB mindesten* Qadl
Malsf^a!)»' I?'"-. \'<-rli:iltni>M-^ ilir- r Hriträgr zu d»"n Britnigea der Arbeitgeber
durch in grluMinfr Wahl grwähhr \>rtr«*t<T br^t'-ili<^t s«-in
3. Bei Berechnung drr Wart^-z'-it und drr R<-ntr ist drn b^i solch»-n Ka»sen-
einrichtungen beteilij^tcn Per^oucn, soweit a tticb um das Maü des reichs-
gcsetzUchen Anspruch« handelt, nnbeschmdet der Besthnmong des § 46 die
bei VersichenmgMnstaltcn (§ 65) sorttckgelegte Beitragsieit in Anrectomg
in bringen.
4. Ueber den Anspruch der einzelnen ßr?t(?ili|,;ten auf G<*währung von bivft-
liden- und Altersrente muls ein st-hied>t;ericbtlich<*s X'erüshrea unter Mit»
wirkunjj von Vertretern drr \'<"r.%icherten /.ufjclassen sein
5. WVnn liir die Gewährung der reiolisgi-srtzlirhrn Lfutunj^rn L>.^<md>Tc
Beitrage von den Versicherten erhoben werden oder eine iLrhobun|j der
Beitrtge derselben Angetreten ist oder eintritt, so dflrfdi die leichs»
gesctslichen Renten «nf die sonstigen KMsenleistnngen aar intoveü
gerechnet werden, dnfs der nur Aussshlnng gelangende Teil der letsteicn
fUr die einzelnen Mitgliederklassen im Dniebschnitte mindestens den Reich»»
snschnfs erreicht.
Der Bundesrat bestimmt auf Antrag der zuständigen Reichs-, Staat»- oder
Komraunalbehord«- wrl.'h<- Kassenrinrichtungen 1 Pcniion!.-, Alters , InvalidenkasM-n)
den vorstehenden Anlordcrungen entsprechen. Den vom Hund^'sr.it an^-rkannten
Kassencinrichtungen dieser An wird zu den von ihnen zu lei5teud<n Invali l-Mi- und
Alterkrcnleu der Kcicb»£u^huU ^§ 35/ gewiUtrt. Metern ein Anspruch aut solche
Renten anch nach den reich sge$etslichen Bestimmungen bestehen würde.
§ 9. Vom I. Januar 1891 ab wird die Beteiligung bei solchen wm Bundes-
tale angelassenen Kasseneinricbtungen der Versieberang in einer Versicherungsanstalt
gleich geachtet
Wenn bei «ner solchen Kasseneinrichtung die Beiträge nicht in der nach
§§ 130 ff. vorgeschriebenen Form erhoben werden, hat der Vorstand der Kassen»
einrichtung den aus der letzteren ausscheidendrn Personen di^ Dauer ihrer Be-
teiligung und l\ r 'li'-sen Zeitraum tii'- Hohe ilcs bezogenen Lohnes, die Zugehorig-
kfit zu einer Kruiikciikass«' sowie die l>aufr etwaiger Krankheiten 55 30 1 zu be-
scheinigen. Der Bundesrat ist belügt, über Form und lohalt der Bescheinigung Vor-
schriften zu erlassen.
$ 10. Durch Bt -»chluls des Hund- srat^ kann auf Antrag bestimmt werden, dals
die Bestimmungen der §§ 5, 6 aut Mitglieder anderer Kaiiscneinrichtungeu, welche
die FOnofge flir den Fall der Invaliditit und des Alten snm Gegenstand haben,
Anwendung finden soll.
§ 11. Durd) Beschlttfs des Bundesrats kann der auf Grund des Gesetses vom
13. Juli 1887 (Reichs-Gesetzbl. S. 339) errichteten See-Berafsgenossenschaft gestattet
werden, unter ihrer Haftung eine besondere Einrichtung zu dem Zwedte sn be»
grflnden, die Invalidenversicherung nach Mafsgabc dieses Gesetzes für diejenigen
Personen zn flbemehmcn, welche in den cor Genossenschaft gehörenden Betrieben
invalidcnvcr3ich<Tui)g<>ge»cU vom 13. Juli 1899.
193
oder einselnea Atten dieser Betriebe beach&fUgt werden, sowie fOr diejenigen Unter«
nebner, welche gleidixeitig der Un&Uversicherung und der .InTmlidettversichenuig
untf rliffjen. Eine iolclir Einrichtunf: <! irf jcdocb nor gestattet werden, w^nn für die
Hintcrbli'-lu non «Icr darin ^'t-rsichcrien P rs'>n«*n von d-r r,rn,)v>i?nschaft zugleioh
eino Witwen- und Waisr-nvt'rsorgunc hi-gruii l'-t wird. \\>rd>'n soliln« Finrirhtimgen
gctrofTen, so sind in denselben diejenigen rcr»onen, lür weiclie sie bestimmt sind,
krail Gcsrtics versichert.
Werden die Versidierten zu Beiträgen herangezogen, so sind dieselben in
gleicher Weise wie die Arbeitgeber bei der Verwaltung m beteiligen.
Der Teil der Beitrige, weldier auf die Arbeitgeber entfElU, darf im Dvrdi*
schnitte nicht niedriger sein ab die Hälfte der BeitrSge, welche anf Gmnd dieses
Gesetaes (§ 3») ra zahlen sind. Di« Beiträge der Venieheiten dürfen nidit höher
sein ab die der Arbeitgeber.
Werden die Beiträg.- der Versicherten ahpfsluft, SO sind auch die Renten fllr
die ninlcrblii-l«-nen im jjleicli.-n \^•rh.Hltni^ abjEU^tufcn.
r)ie Wartezeit darf werier für di ■ Inv.ilidenversirherung noch für die Witwen»
und W.itsrnversnr^junij hoher bemessen w- rd 'ii ;iK im i; 2n vnrgesclien ist.
Den Versicherten imifs. wenn r^ie xeitwcilii; aut ausl.-mdiNchen Schiffen Be-
!>chäitigung nehmen, ihre Familien aber in Deulächlsind verbleiben, oder wenn sie
aus andwen Grftiden aus der versidiemngspflichtigen Beschäftigung ausscheiden, die
Weberventdierung gcn&fs den Bestimmungen dieses Gesetses nicht nur hinsichtlich
der liivalidenTersichening, sondern auch in Bezug auf die Witwen» und Waisen-
venoffgung gestattet sein.
§ 13. Auf die hn 9 11 beieichneten Einrichtungen finden die Bestimmungen
der $} 8, 9 entsprechende Anwendung; sie unterliegen der Beaufsiditigvng durch
das Rcichs-Versichemn^amt nach Mafsgabe der §g 108 bis 1 10 dieses f'.esetzes.
Die für die UnfiUlversicherung errichteten Schiedsgerichte sind auch für die
von der See-Berufsgenassensrhaft iihemommen- Invaliden\ ersichening, sowie für die
von ihr eingerichtete Witw- n- und Waisenver>or^ung zustandig.
§ 13. Beschlü^-'- der Geno>senschaft durch welche die im ?j 1 I h'V..>i -hnct -n
Finrichtunf;en getrolTeii werden, die hierfür erlassenen M.ituten un<i d.-r.n Abände-
rungen bedürfen der ( jeiiehmigung des Bundesrats. Der Bundesrat bcschlielst, nach-
dem zuvor die im § 91 des Gesetzes vom ij. Juli 1SS7 beseichneten, fttr die Ver-
ridieiten berufenen Beisitxer der Schiedsgerichte gehört worden sind.
Der Bundesrat bestimmt den Zeitpunkt, mit welchem die Einrichtung in Wirk>
mmkeit tritt.
9 14. (Freiwillige Versicherung.) Folgende Personen sind befugt, freiwillig in
die Versicherung einautreten, so lange sie das viersigste Lebensjahr nicht vollendet
haben (Sclbstversicherung) t
I. Betriebsbeamte, Werkmeister, Techniker, Handlung' ^^ehilt n und sonstige
Angestellte, deren dienstliche Beschäftigung ihren Hauptberuf bild -t, ferner
Lehrer und Erzieher sowie Schiffsfltlirer. sämtlich sofern ihr regelmäfsigcr
Archiv für v». (iMUgebmg u. Siatiftik. XV. <3
L.ivjM^L,j L,y Google
J«)irrsarl>rits%-cr<lif nM an l.uhii iMjrr (irlalt ni<-hr twritans^nd Mark,
!it :i'- r «!i<-:t.u>.cn<l Mi'rk hrtrayt;
2- ( i. -A ■ -1 ■ i! - i,.;.- iiml iii-'i'^'.- r.'-tr'- !''.mit<-rn' Innrr. u. :\\r\,t r<<'.-l.
u .,■ --'j -iriir 7'.v--i "■■r-i I: ' r'iTi^- -■. I' I »I iti . r 1 >■ i t--r I i'-m-Ii.i tti;^''-ri,
>i '\\ ii I i.u.-t;> \v. rli. tr- ili'Hii.', ■•iiniliu ii mav- it iitrhl <Iur« h Brx hluN des
l'.iiinlt'-r..t» 5; j At>*. I ilie Wr^tHierunfj'piljrht auf Mir »•r'.tr«'ckl wurden ist;
,V lVr*i>n<-n. wich«* aut iirand «Irs ^ j Al*s. 2 uml $ 4 Ab*. 1 der Wr»
skh«-rui)):v|itlK-|)t nicht untcrlir;:fn.
l>i«-sr IVrMjncn sind trmrr bt-m-laißi. lirim Au<>s<'hci«lrn au'« drm di« Hrrrrbti^jung
wr >«'ll»*t\«*r'»irlii'runj; t>c};Tun«lcsidcn Vi'rhältni-»!»* die S<'ll««.t%'rrMt'h«»runjj fi>rt«ao<i/«rn
und nach di>n Hr<>itn)mun;;i'n «Iv« ^ 4(1 zu «rnfucrti.
IVrMtn'ii, w. li h<' :iii> «'in^-m ili<- N'- r-i. }iriim^v|,;Ih lit ln'},'ri;ni)> init n \ . tlulTtiix
ai "! In iilrii. >iinl !h iu;;t. «Ii«' Wf-icli« run^ lr>'i\villij; fiiruuM-t£<-n «wK-r la cm< urrii
(\\ ■ u> rv. r»ii hi-rui;^; >.
I>ie in IMri»'lirn, Olr wrlclu» eint lM>!.*Hitlrr»' Ka«-»<rncinrirl»ti.:i^ S, 10. il,
<>rnr|itvt ist. lif-rhällijrtrn IVr^mcn tler im Alx. i /itTrr 1 bis 3 Ix'tviclinrtm Art
>ind h«'r«'cliti;»t, -»ich bi'i tlcr Kaü'w'nfinricbtun;; lr«'iwilli}» «u v«"r>ich«"m (Al»8. I ».
l)ie in stdch<*n Mctrirlirn bc>>cliälti):l«'n vrrsicbvrunysiitbi'htij»rn IVrsunon sind f«rrni*r
b«-im Aus^ch'•il!< II ,(u> «lern tlic \Vr!«ir|n'run;;<-jilliclit b« ;:rünilfnd«*n Arbeits» odrr
I •! • , . ' li. tu^t. -iih l"'i der bf-omlcron Ka'.>«"n< iiiru litim^' 'Vfitor r.u v.t-
Mi Im ni A'i-, -I. M> li'u:'- vj.- >\iclil «liucli «-in u ArhcitN- o<l- r ! • rli.iltn
l>. I 1 iii> r .iiiil- rrii b> • • n K.i'-^i-ni iiiru liUiti:; uilcr vm.-T \ rr-i' !i' ruii^-..iii»lalt
vor>u hl ruii^-j':!u htij; \vortl< ii. >i) l.in^< du- Vorau<>ftzun^»'n liir di«' (rfiwiUij;e \Vr-
sichcrung bei einer btf»ondtTrn Ka»M'ntrinnrti1un;; };f;:<-lten »imi. findet die freiwillige
VerMchcrunu b«'i ein«*r Ver>irhcrunij'.an>taU nicht statt.
§ 15. KfC^T'-nätand der Ver>icherung. I (le^en^ttund der V<-rMrb(*nmg ist der An*
Spruch auf GfWährung einer Rente fllr den Fall )ler £r\ivrbsunlalii{;keit oder des
Mut-
iirt ".t- . rli'ilt islu'c- IC';. .i'.:t -I.is I .t-bon5;ilttT <Jfrii'ni\''^ Vt'r^irhfrt<\
W'-l'l.c! Uli Mfnic >1< > ji ; AI - 4 'l,ii;.-ti;.l i w r r 1 «^iinfähijj i-t. l-iii-' <;'ir> !i t iin'ii
L iuall luTli< ;j;rluJiil<- l.rwt rbsuiii.diijiki u ix jjiuiiui i unlH:j«ch ub-t d«"r V«)r.M lirilt» » des
{$113 den .\ns)>ruch auf Invalidenrente nur insoweit, als die zu }!ewährende Inv-aliilen»
rillte die gewährte L'nfallrente äber.»tri|;t.
Altersrente erhält ohne Kücksidit auf da» Vorhandensein von Erwerbsunfähig«
keit derM-ni];e Ver^icherte, welcher da« 5ieben/.i};vte Lebcn-'iahr vollendet hat.
16. Invalideurrnf. \].-a\: .iuch dervnipe nicht dauennl «"ruc-rWinfähiije
\'. rvu !;■:!'■ . '.v.-li h<T -i i Ii -uiul/\v.vn,"L: \N' n )u-n »iiuintftlir' »rlu-n erwerbs«
unlaliii; iji-u i-scTi ist. liu a . tti r>- I».i',i<i i:i.r l.r w t-rb^ui:1 u'
^ 17. 1 ><-m V»T»i« it. rt. !i vtclit cm Aii^j lu. Ii ;iul Itiv.ili'i' lU'-titc iiiilit /u. « . nn
er die Erwerbsunl;ibij:kfit vor-ui/lx Ji ht-rbt if^i lührt bat. I>ir I irnähraiig der Rente
kann gan^ oder tcilwei>e vi'r-.agt werden, wenn der \'er>icherte <lie Erwerbsunfähig*
keit bei Itegehung eines durch strafgerichlliches Urteil fe<.tße«,tellten Verbrechens
Oller vorsät/lichen Vergehen* «ich /ugeiogen hat. In Fällen der let£teren Art kann
die Rente, sofern der Vcr>icherte eine im Inlaiide wuhm-nde Familie besitzt, deren
Invaliden vrrsichcnitigsKcsetz vom 15. Juli 1899.
I vit' ' h < r hi>h<fr ans seinpm Arbeitsverdienstr bestritten hat, ganz oder teilweise
der F.iiiiilic überwiesen werden.
^ iS. Ist flH Vi-rsifherter «lorfjotalt erkrankt, dafs als Vo]^c ikr Kranklicit
Fr\v.-rli^inir:ili--^-k«'i; r,i b.--iir}^.-n ist. w. Ii h-* «-iiKTi Anspnjrh auf" 1 ■ i Itsj^.-v, '/liclic Iii-
v.ili'!'-::"li'.'- l"-^'r ;inl' t. -o r~t i]i<- \'i r 'i. ri >Mlt b< tilLjt. /,Ut Aliwcnduii},' dio-fs
.N;uhtfil> ein Heilvcrlalircii m cUin ilir grcij^tKt tT>chciucmlcn Unilang ciotretcn tu
lassen.
Die Versiclicning.>«an>talt kann das Heilverfahren dnrch Unterbringung dei Er-
krankten in einem Krankenhaus oder in einer Anstalt fUr Genesende gewähren*. Ist
der Erkrankte verheiratet oder hat er ein« eigene llaushaltung oder ist er Mitglied
der llaushültung seiner Familie, >u bolart <-s hierzu .v.-tncr Zustimmung.
I.ä;'>t (Hl- ViT-ii h' ruit^'-.ui'Lili .-in 1 1. ih - rl.iljn ;i cimrft<-ti. -a lu-ii hv'x V<t-
sii-Iit-rti-ti, \vi ] Ii' «1. r r- u h-,- in\< : l.inil'^L,'' -'''.'li> li' H krank' tu ur^ .r^i- iiTitcrlicfjeii,
vi>m r>'';,"''i'' - I b iK . ri.iiir. it^ an bi;- zu closcn !'.< . thI];^!;:»^ <!:'• \'' i ]/'iii liUi!i};i-ii
<lt-r Krankt iiK.i-"-.- j;i j;- 11 tifn \ « reicherten auf die \Vr.sic}ii-rnn^san.>ialt ul'i r. Dicker
hat die Krankenkasse Ersatz za leisten in H(»he desjenigen Krankengeldes, welches
der Vcn>ichcrte von der Krankenka«>se für sich beanspruchen konnte.
Während des Heilverfahren» i$t ftir solche Angehürigen des Versicherten, deren
Unterhalt dieser bisher aus seinem Arbeitsverdienste bestritten liut, eine Unterstützung
auch dann /»i aIi! n. wenn d'-r N - rvit li.-rtc (1er reiclis- oder lan(l<"ij;esH/.Iirlii-n Kranken-
v.-r<.( >r^\ni<; iii ht uiit'-rü' f:t. I 'i. -c .\!i;^'cln -rii:' nr,Tit<'r-.t!it/.iinj^ l.clr:!;^'!. sofern i!cr N'-t-
su ii' it'' .!< r r> ;i iis- oi'.rr Kimli -'-l/ln Ii' ri K r.irii;. ;il',ir-"r;:'- bis /Mm E\:\'^Tr}U :\ der
\ «.•r>u iu rüaj^.^.uwl.»U untcrl.i^, liu- Hallte di -i tur ilin waliri n»! der g<->cl/.lu:in 11 Dau« r
der Krankcnunterstfltzung mafsgebend gewesenen Krank« n;:< ldes, im übrigen ein
Viertel des fiir den Ctrt seiner letzten Beschäftigung oder seines letzten Aufenthalts
matVgebenden ortsüblichen Tagelohns gewöhnlicher Tagearbeiter. »Wenn der Ver-
sicherte Invalidenrente erhält, kann dieselbe auf die Angehörigenunterstfltzung an-
gerechnet Werden.
§ 19. Die Versicherungsanstalt, welche ein Heilverfahren eintreten läfst, ist
b' bu'!. dir !• lir- itc'- für den Erkrankten dir Krank<'nka<(se, welcher «r aiiL," hört
oi'it r .'.uh T/t .ai;:'-1i' Tt hat. in d<-ni '•ni',"'n L'nil.mfj.' zu iilM-rtr.ipen, Welchm di - V<T-
siclieruTiL'- m-t.dt l\:r ^.''-Imt- n t-r.i. lui-t. Wi-r-h ii d.idiin'h «l- r K.ts^r l,ei>tung»*n Ar.f-
erlej^t, weh hr -il" r Lnil.ui^ ii<-r vcn ilir >'-t/bi h '»der •-tatiii.iri'-rh /,u b-istendi ii
Fürsorge hinau«.^. h«-n, bo hat die VersiclKruug>anstalt die entstehenden .Mehiko^)teu
zu ersetzen. Bestand eine Fiirsurgeptlicbt der Krankenkasse nicht mehr, so ist ihr
von der Versicherungsanstalt bei («cwährung der im § 6 Abs. i ZitTcr 1 des Kranken-
veniichcrung<«geset/cs bezeichneten Leistungen das halbe, bei Unterbringung des Ver-
sicherten in ein Krankenhaus oder in eine .\nstalt fiir Genesende das einundeinhalb-
fache Krankengeld zu ersetzen, sofern nicht höhere Aufwendungen nachgewiesen
werden.
§ 20 Als Krank- nkd-'cn im Sin,m« der Bc«!imn\un;t'n in den §§ 18, 19
^<Au n ..u.h dl. '.iiiz' ii I l:lt^ka>s.-n. woh Jh di. im ^ 75a des Kraukenversicherangs-
gesel/.is vort^' M-lKiic amtlich)- Üt-sclirinigung besitzen.
>3'
Digiiized by Google
196
GesetZK4*bung : Dcuticbcs Reich.
§ si. bt die Krankhdt, wegen deren das Heilverfahren eingeleitet wurde,
auf einen nach den Keich»geseUen Ober Unfallvrrsicherang tn entschädigenden Unfall
snrfickxufUhren, und ist durch das Heilverfahren der Eintritt der Rrwerbtunfthigkeit
(§§ 15, 16) verhindert und zugleich eine Entlastung di-s enL'>chädigung«pflichtigea
TrSgers der Unfallvt-rsichcruni: h. rhcij^. führt wordi-n, iii.I'-m «ü-- L'nfallrnt^chiidifjung
ganz, ndi-r /11m Teil iiiilit zu bcwillij^'-n wiir >)il< r in \\ < tjfjiH l; 'k' >iiitn-n i>t >o hat
die V. rvj,;]]. rui!^>aii-t;ih t," ^;>'n iii'->cn I rii^T An-.jiru> li aul Lr^^it; ii'*r Ku^t'-ii de»
Heilvcrtahrcns m dem im § 19 Sau 3 vorgesehenen Lmlanj;e. l.ui hr^au lur Kosten
des Heilverfahrens, welche vor dem Beginne der vierzehnten Woche nach dem Unfall
entstanden sind, kann nicht beansprucht werden.
Ffir die Ansprüche des Versicherten an den Träger der Unfallversicherung ist
die Uebemahmc des Heilverfahrens durch die Versicherongsanstalt der Uebernahme
durch den Träger der l'nfallvrr-iiohcniiij^ j^h ich ailitfn.
§ 22. Wird der Vcr>irh>Ttc infol;;e der Krankheit erw er'Diunlidiif; >i> kann
ihm, falls i-r sicli den gf-n iil-. ■ *^ ^ \ -r-i Ii riiiit^-anstalt ^^'■•trolTen'-n
Mat>nahmen oliiic gox-tj^lii ht n oil.-r son-t trilti^^t u Grun l i nt/.o;;. n hat, di-- Invalidr-n-
rente auf Zeit ganz oder teilweise versagt werden, Metern er auf dioc l olgcn hin-
gewiesen worden ist und nachgewiesen wird, dafs die ErwerbsunHihigkeit durch
sein Verhaken veranlafst ist.
§ 23. Strdtigkeiten, welche aus den Bestimmungen in den §$18 bis ao, 22,
zwischen den Versicherungsanstalten and den Versicherten entstehen, werden, sow -it
sie nicht bei der Rentenfeststellung zum Austrage gelangen, von der Aufsichtsbehörde
der ViTsicherungsanstalt< n <'nt>chied. n
Streitigkeiten, wiche au> den 1». -timnr.infj^-n 111 d. n jij; iS 20. 22
zwischen den Versichcrung.-aiistallen und den Krankenkassen entstehen wi-rden, »ofem
es sich um die Geltendmachung der den Versicherungsanstalten emj^eiaumten Befug-
nisse handelt^ wa der Aufsichtsbehörde der beteiligten Krankenkasse, sofern es sich
aber um Ersatxansprfiche handelt, im Verwaltungsstreitverfahrm oder, wo ein solches
akht besteht, ebenfalls durch die Aufsichtsbdiürde der beteiligten Krankenkasse ent-
schieden. Die Entscheidung dieser Aufüichtsheliörde ist im ersteren Falle endgültig;
im letzteren I-alle kann »ie innerhalb eines Monats na^ Ii ]■ r Zustellung im Wege
des Rekurses nacli Mafsgabe der 20, 21 der Gewerbeordnung angi^fochten werden«
Streitigkeiten über Frsatzanspruche in den Fallen de* ^ 21 werden durch das
Reichs-Vcriicherungsanit cnt>chieden.
§ 24. Durch statutarische Bestimmung einer Gemeinde (Ur ihren Bezirfc oder
eines weiteren Kommunalverbandes (Ur seinen Bezirk oder Teile desselben kann,
aofeiB daselbst nach Herkommen der Lohn der in land« oder forstwirtschafUicben
Betrieben beschäftigten Arbeiter ganz oder zum Teil in Form von Naturallei'^ttingen
gewährt wird, bestimmt werden, dafs denjenigen in diesem I'.e/irke wohnenden
kentenempHing rn, welche inn.-rl-.alb iless.-lben als Arbeiter in land- und forstwirt-
sclialtliclun l"lticb<n ihren Lohn nl r (« halt ganz i)der /.um Teil in Fomi von
Naturalleistungen bezogen haben, aucli die Rente bis zu zwei Dritteln ihres Betrage»
in dieser Form gewährt wird. Der Wert der Katuralleistuigen wird nach Durch»
Schnittspreisen in Ansatz gebracht Dieselben werden von der höheren Verwaltnngs-
Invalidcnversichening&gescU vom ij. Juli 1899.
197
bchördc festgesetzt. Die stfttotarischc Bestinmnng bedarf der Genelimigaiig der
höherrn Verwaltnngsbeh&tde.
Solchen rersoneB, weldieii wegen gewoltnheUsmifsiger Tmnksadit nach An»
Ordnung der znstänüigrn Brhörde g<istipr GftrSnkr in offrntlichrn fk-hankstättcn
nicht V« rabtVilpt wi-nlcn ilürfen, ist die Rente in dcrjcni^,-! n Gemeinde, für deren
Be/.irk - int >oUlu- Aiii rdnun^ pf ?roff''n worden ist. auch ohne dal's die Voraus-
i>et/.iin(:<'n des Abs. i vorliegen, ihrem vullea Betrage nach in NaturallcLstuiigen tu
gewaiiren.
Per Anspruch auf du* Rente geht an demjenigen Betrag, in welchem Nataral«
letsiongen gewahrt werden, auf den Konunonalverband, ttar dessen Bezirk eine solche
Bestimmung getroiTett ist, über, wogegen diesem die Leistung der Naturalien obliegt
D<-m Bezu};sberechtigten , auf welchen vorstehende Bestimmungen Anwendung
finden »ollrn. i^t dies von dem Komnuinalverbonde mitzuteilen.
n. r ^^■/ut,'^l^erec^^it:;te ist Vi. hiyt, l>inn»-n zwei Wochen nach d< r /n ^ llung
dieser Mitti ihin^ dir F.iit^t iieidunj; der Koniinun.il- \i!f>.icht>beli< ird. ;nizurutcn. Auf
demselben We^e werden all'- übripen Streiti;;keiten entschieden, \v< 1» lie aii> der An-
wendung dieser Bestimmungen zwischen dem Bezugsberechtigten und dem Kommunal-
verband entstehen.
Sobald der l'ebergang des Anspruchs auf Rente endgQltig feststeht, imt auf
Antrag des Kommnnalverbandes der Vorstand der Versicherungsanstalt die Postrer^
waltung hiervon rechtzeitig in Kenntnis zu setzen.
$ 25. Auf Grund statutarischer Bestimmung der Versicherungsanstalt kann
der Vorstand einem Kenten, inpllintier auf seinen Antrag an Stelle der Rente Auf-
nahme in f in Invalidenhaus oder in iihnlicht von Dritten unterhaltene Anstalten auf
Kosten der Ver^icherunj^isan-talt ^'ew iilir- n. Der \iit;;« iioiiiMu-ne iM auf ein Vierlcl-
jalir lind, wenn er di« {"rklriruii^ nu iit einen Mmiitt vor Ablauf <!irs, > Zeitraums
zurutknininU, jedesmal auf ein weiteres \ iorteljahr an den Verzicht auf die Rente
gebunden.
^ 26. Ut der Berechtigte ein Ausländer, so kann er, falls er seinen Wohnsitz
im Deutschen Reich aufgiebt, mit dem dreifachen Betrage der Jahresrente abgefunden
werden. Durch Beschlufs des Bundesrats kann diese Bestinunuag ftlr bestimmte
Grenzgebiete oder fUr die Angehtirigen solcher auswirUgen Staaten, durch deren
Gesetzgebung deutsclun Arbeiten! eine enf^f r- < hendc Fürsor^ic für d<?n Fall der Er^
werbsunfahigkeit oder des Alters gewährleistet ist, aufscr Kraft gesetzt werden.
47. (Aufbringung d«r Mittel.) Die Mittel tur Gewährung der in diesem
Gesetze vor^resehenen T.ristuncen Werden Tom Reiche, von den Arbeitgebern und
▼on ili-n Vrr'i!r!'..-rf'Ti .ntf^,'i"!'r.i.lii_
L>ie Aull riii;:uii;: 'Irr Mut. i . rtMli^t s> it.tis d>-s Kelchs durch Zuschi:»--'- /ii d- n
in jedem Jaiire thatsachlu h zu zahlend< n Kenten (§ 35), seitens der Arbcilgebi r und
der Versicherten durch laufende BeitrSge.
Die Beitrage entfallen auf den Arbeitgeber und den Versicherten zu gleichea
Teilen 143, 144, 154) und sind fllr jede Beitragswoche <§ jo) tu entrichten.
§ 38. vVoraushctzungen des Anspruchs.) Zur Erlangung eines Anspruchs auf
Grsougi*UunK Deut»ch<'S Reich.
Invaliden- o<lrr Altrrsr< nte Ut, aufi' r d' lu Nacliw.M- ■ ( I r\v<-rl»unlahi^k«'it Ix*-
iicliunj;-.« ri>r ^. t,'Ii, |i v.>r^'. - Ii. ii. ii Alt' r>. rrf<»t>]- rluh ;
1. tti. /ui 11 -kl' -uii^ (1. r \ . ir;^. scliri>l)in<-n \Varli-£i'j| ;
2. du- l.f KUU^ M'H 1^ lUiijJi-n.
^ 29. (\Vartc2i-it.) Die Wartrztrit lirtratrt:
1. bei der Invali<lvnrentc, nrrnn mitulcstvns üinhunda-rt Beiträgr Auf <}rund
der Vrrsiirlicruu(;spflicht grlristct worditi »ind. /w<-ihuadfrt Hfitra);»wuch«n,
imdfronla11> (tinf hundert B«itraj^wochcn ;
2. lu i der Alt. r-n'iit. c intuusi-nd/wi-ihundort Bi-itra}.'-wocln-n.
I-Mi IUI ilif lr< ivs illi^r \ . r-it Iktuii^ ^ i4 ;^' l.-i-1--l.u U' iti ki-tuin- n .luf
• Iii- W urtf/'-it Inr <lir Invalid- iirrtit.- nur «Luiii /.ur Anr- ' Liiuii^, u .-nti tr..ijil - -t- ii*
ciuiiundcrt Jk-ilräjjc uul «Irund ciiica die V< r.>ali.Tuu;^»j>tUclil otl>. r Her« i liti^jung
mr !»t>lb.>tvcrsicberini»^ tu ^4 rundenden \Vr1iäUni»cs };elei>tet worden «nd.
Die Vorschrift desi Ab*. 2 findet keine AnwendimK auf Beitrüge, welche von
den Venticbertcn innerhalb der ersten Tier Jahre, nachdem die VerMcheruncspflirhi
für ihren Berufszweig in Kraft getreten ist, freiwillig geleistet wurden sind.
j{ jo. ( B. i(r.it;sl< istiiiij^'. , 1 iir j. d<- WdiIk-, in wdi hcr d-T Versicherte in rinom
die W rsiLlicrun^;>]>t1ii ht b'-jjnünii tid. ii \rli'"it.>- tKl<T I>i<>n*.tvi'rli:dttii— o gestan<l' n hat,
it>t ein \'t rM> ii. rim;,'-l>citra^; /.u < iitrii Iii- ii I'-i-it rajiswoclie). I>U" tteitiagswochr bc»
ginnt mit firm Mmita^; einer i<'dt n Kali iiderwiK Ii'-.
Als l^^'ilr;i^^wcK.■lu'n »cr*lcn, ohne dai» Hcilr.i^c cnliiclitcl zu wcideu brauLhen,
diejenigen vollen Wochen in Anrechnung gi-bracht, während deren Versicherte
1. behufs Erfiillung der Wehrpflicht in Frieden»-, Mobilmachung»- oder Krieg;«-
leiten zum Heere oder zur Marine eingezogen gewesen sind,
2. in Mobilmachung»- oder Kriegszeiten freiwillig militärische Dienstleistungen
verrichtet haben,
3. wefjen bi-^c!n-mi^ter, mit /l itw ei..T i T\\i rli-<unl;iiii;^keit verbünd. -n -r Krank-
heit an d> r 1-. irlN' t/.mij,' ilirer r.erul-tli:itu;keit verhiiid.-rt ;;e\i.'>.-ii ^ind.
Diese Anrechnunj; « rlolgl jiduch nur bcj solchin i'cr»onen, welche vor den
in Rede stehenden Zeiten benifsaiäfsig eine die Versicherungspflicht begründende
Beschäftigung nicht lediglich vorübergehend aufgenommen haben.
Die Daner einer Krankheit ist nicht als Beitragszeit in Anrechnung zu bringen,
wenn der Beteiligte sich die Krankheit vorsätzlich oder bei Begehung eine» durch
strafgcrichtüchcs l'rteil festi^'e^tellten V. rbr. t lu n^, durch schuldhafte Beteiligung bei
Scbl:ij;erei.-ii oder kaul häiid'dn od.-r (Uireh I riinkl.illijjk.-it /ui:../.i::. n hat.
Hei Krankheiten, wcdche iinunterbroile-n l;in;;< r aK eii\ Jahr \välir.-n . kunuiit
die Uber di.-.>en Zeitraum hinausreichcndc Dauer der Krankheit aU Heitragsicii nicht
in Anrechnung.
Die an eine Kranklieit sich anschliefsvnde Gene^ungszeit wird der Krankheit
gleich geachtet. Dasselbe gilt von einem regelmäfsig verlaufenden Wochenbette fitr
die Dauer der dadurch veianlafäten Erwerbsunfähigkeit, aber höchstens für se<'hü
Wochen von der Entbindung an gerechnet.
§ 31. Zum Nach\vei> rin. r Krankheit 301 gentigt die Bcschcinij^un}; des
Vorstände» derjenigen Kraiikcnkass>e 1661 be^iebungisweise ilcrjenigcn eiugc-
InvaUdcnx^Taicherung^ccsietz vom 13. Juli
199
schriebenen od«r muf Gniiul landesrcchtlioher Vorschriften cmcbt«teii HilfsluMe»
welcher d«r Versicherte angehört hat, filr diejenige Zeit aber, welche aber die Dauer
der von den betrefTenden Kassen su gewährenden Krankenunterstiitzung hinausreichl,
sowie flir diejenigen Personen, welche einer derartigen Kasse nicht angehört habeli,
die Br-s(-hcinigong der GeraeindcbcliÖrdc. Di'- Ka^^. iuorstätuJr >incl verpflichtet,
diese Hestheinißiinßen den Vt- rsii Ii. rt< ti ^olort nach FHe.-ndij;ini}j »1er Krankenunter-
stützung oder der l-"itr>i>r^'- wulir. ml li. r < l- ii' -unt;>/<'it von Anit>\ii'e;jcn aii>/.UstrlK n
und können hierzu von der Auts]cht>l>eh<>rdc durch GeldNtratc bia lu einhundert
Marie angehalten werden.
Ffir die in Reichs- und Staatsbetrieben beschäftigten Personen können die vor-
stehend bexeichneten Bescheinigungen durch die vorgesetzte Dienstbehörde ausgestellt
werden. FOr diese Fälle ist dir Krankenkasse durch die Aufsichtsbehörde von der
Ausstcllun^^pflicht zu entbinden.
r>er Nachweis geleisteter Militärdienste erfolgt durch Vorlegung der Milttär-
paptere.
32. Hiihf der Mei(r:i;^<- 1 Die Rir ilie P.eitra;,'->woche zu enfricht'-tid.-n B'-i-
iragc werden nach I.ülinklas»'-n ^4) im voraus auf h«-N!iinmt ■ Zeitraum.-, und zwar
zunächst für die /eil bin zum 31. l»e/emlier 1910, demnächst für je zehn weitere
Jahre, durch den Bundesrat einheitlich te>ti»csetit.
Die Beiträge sind so zu benessen, dass durch dieselben gedeckt werden die
Kapitalwerte der den Versicherungsanstalten zur Last fallenden Beträge der Kenten,
die Beitragserstattnngen und die sonstigen Aufwendungen der Versicherungsanstalten.
In den verschiedenen Lohnklassen sind die Beiträge (ttr die einzelnen Ver*
sicherten gleich zu l>emr>sen und lediglich nach d. r hirrh^chnittliclien Höhe der in
denselben von den \'er>ichemnf;sanstalten zu gewiilirenden Kenten altzustufcn.
Vor Ablauf der im Ab>. 1 bestimmten /eilräunu- li.it <la^ K'-icli!) -Ver>icherungs-
amt die /ulänj:lirhk< it d'-r Heifrrice zu prüfen I>ai>ei sind Kehlbetrage od.-r Teber«
&chüs!>e, welch«- si» h aus ih-r I rhebunj; <ler bislierig«-n Beiträge heraus;,'estelh haben,
in der Weise zu berücksichtigen, dafs durch die neuen Beiträge unter Beaditun^ der
Wirkungen des § 125 eine Ausgleichung eintritt.
Bis zur Festsetzung eines anderen Beitrags sind in jeder Ventichenuigsanstalt
an wöchentlichen Beiträgen zu erheben:
in I^hnklasse I 14 Pf.
n ao
.t „ III M »
f, IV 30 ..
V 30 .,
Eine an<lerweit<- l > <t-< t/unj; der Beitrii^^e bedarl tler /iistimmunji des keichsta^es,
s 33. i< It-tiiriiila-t. Sonderlast, b d.- Versii hi-runcsanstalt verwalt -t ihre Ein-
nahmen und ihr \ ■•runij,;> n f i<-m'-in\ rrnii >^'>-n und >.>n 1 rvs-rniogi-n s.dl)^t:iiidif;. Aus
denselben sind die von allen Ver»icherun^str.i<;> rn yem«:iiisam aufzubringende l^ast
(Gemeinla»t) und die den einzelnen Versichrrung»ira);em verbleibende besondere Last
(Sonderheit) zu decken.
L.ivjivi^L.^ Ly Google
200
GekcUgrbunj; : DrutMrhcs Reich.
Die Gemvinlsst wird gebildet dnrcli drei Viertrl sämtlicher Altersrenten, di«
GnmdbetrSge aller Inv»]idenrenteo, die RenteRstrigermgcB infolge tob KnakhcH»-
wochen 40) tmd die Kentenabrondongen •§ 38). Alle abrigen Verpflidrtaagcii
bilden die Sonderlast der Versicherangsoaxtalt,
Zur DpcWunj: (1<t (jcmeinlast w» rrl» n in jeder Ver»ichrruii;;«.anstalt ▼om I. Juonr
KKKJ ab vier /rhnl«-! lirr f?cilr:t{,N' hiKlitii.ilsi}^ au>-p<">>chi«-(leii 1 < icnicinvermogrn). Dem
( trrin invt rnii ij:< n >m<l tiir >t in< n i>iachm;ilbi^'cn l'.rstaii<J vuii «1er X'ersirhrrungsanvtalt
ZniM-n j;uUUhclir« ibcn. Den Ziiuiluis bt'Nlironit Ut r Hunii' >rat liir die im |^ 32 Abs. l
be&timmten Zeiträume finbritltdl (Hr «lle Versichirung>anbtaltcn.
Ergiebt »Ich bei Ablauf der im g 33 Abs. 1 bt-zeichncten Zeitrtttinc« dafs das
Gcmeinvermügen xur Deckung der GemeinlaKt nicht ausreicht oder nicht erforderlich
ist, so hat der Bundesrat für den nächstfolgenden Zeitranm Uber die Höhe des fftr
das GcTTX-invcnnügen bm Imiüf-i^' auizuscheidriulcn Teiles der l^ iträ^e xvecks Ans»
gleichung drr entütandenen h < i ll>» tr:i>;r twler t'cberschüsse zu beschlicfsen.
Finc Krhiihun^ (l<-s für .l..- < ",. in. iT)v<Tni i;*!-!! Viu< !imäfsig auszuscheidenden Teils
der Bi-itr;i;^r br<larf <l. i /u-timiuuii^' <!< ~ k< u ii-ta^,'»-^.
Das am 31. lAzi-mber lüyy ain;t>animcU«- ^r!>amte Verai'ij;iti der Versicherung^
anstalten und weiter das bei Ablauf der im {( 3a Abs. 1 bexeichaetcn Zdtitanie aift>
gesammelte Vermtigen der Versicherungsanstalten, soweit es nicht buchmlfsig für di«
Gcmeinlast ausgeschieden ist, darf xor Deckung der Gemeinlast nicht herangeiogen
werden.
§ 34. (Lohnkla>s.n Nach der II . he des Jahmiarbeitsverdienstes werden f&r
die Versicherten folyt-ndc I .ohnkl;l^^en ^,'i bililet ;
Rla.ss«' I bis /.u ,?;u M;irk ••iii-rhbi-Hbrh.
II voll tii" lir ab 350 bi,s m 550 Mark,
,. III 550 „ ,. 850 ,.
IV „ S50 ., „ 1150 .,
„ V „ „ „iiSO ^Ivlc-
FUr die Zugehörigkeit der Versicherten m den Lohnkla^scn ist mit den ans
den nachfolgenden Bestimmnngen sich ergebenden Abweichungen nicht die Höh»
des -1 t iichlichen Jahresarbeitsverdienstes, sondern ein Durchschnittsbetrag mai*>
gebend.
Im eiiizclnrii j;ih .iL Jahn -.irl'i-:t-\ • riliriist :
1. lür .Mitjilicdcr ciucr Uria-, Ücincbs- (Fabrik-), Bau- oder Inaungs-Kraukeu-
kasse der dreihundertfache Betrag des fikr ihre Krankenkassenbeitrige nia£i>
gebenden durchschnittlichco Tagelohns betiehungsweise wiiklidicn Arbeite
vtrdienstes (S§ 20, 26 a Abs. 3 Ziffer 6 des Krankenversicheningagesetses);
2. fttr die hl der Land* und Forstwirtsdiaft bcschSftigtcn Personen, soweit
sie nicht einer unter Ziffer 1 bczeidincten Kr.^Ilkl•nka^^<• angchKrcn, ein
Hetrap. dir fiir si? von der höheren Vcrwaliuii<,'sbchi)r<b unter Bcrück-
^ichti^;unJJ des J; _^ als durtiisi hnitllicher Jahresarbcitsvcrdi< iist l^ stzuscLi'in
ist, bei Bctriebsbeamten wird edtnh der für jeden von ihnen nach § 3
des Gesetzes vom 5. Mai iSSo > k< ichs-GcseUbl. 1321 malsgcbende
Jahrcsarbeitsvcrdienst zn Gründe gelegt;
Digitized by Google
Invalidrnvcrsicherung&geiirtz vom 13. Juli 1S99.
201
3. für die tnf Grand de« Gctetses vom 13. JnU 1887 (Reidia-GcMtibL S. 329)
venicheiten Sedente und «adcrcn bd der Sectdiifiahit bcteiligteii PenooMi
der Durchädiiiittsbetiag des Jahresarfaeitsvcrdlenites, welcher genifs |§ 6
and 7 «. t. (). vom Reichskanzler bexiehmgiweise von der höheren Ver-
waltunpsbelh >rdc fpst}:o>e(zt worden ist;
4. iUi Mitglie«kr «lucr K.napp<-rhaftskav^e ihr lireihundcrttachc betrag des
von dem Kas&cn vorstände l»-stzu>ct/.c-nden durclischiiittliclicn täglichen Ar-
bcib>verdi«nstes derjenigen Klasse von Arbeitern, welcher der Vcr&icherte
angehört, jedoch nicht weniger als der dreihnadertfache Betrag des oiti*
ttblichea Tagdohns gewöhnlicher TageaibeHer des BeschiAigmgsortes (g 8
des Krudcenversicheningsgeselies) ;
5. im übrigen der dreihondertfache Betrag des ortsüblichen Tagelohns ge>
wohnlicher Tageturbetter des Beschäftigungsorts f§ 8 des Kranken versiehe«
rung<.ge>etzes) , soweit nicht für einzelne Berufszweif^e von der höheren
Verwaltunfjsbebordf «-in anderer lahn-'-arbcitsvcrdiesi-t t-'-t;^'--'-!.'! wird.
Lehrer und Erzieher gehören , soweit nicht ein JahrcsarbLitsvcrdicnst von
mehr als 11 50 Mark aad^ewiescn wird, mr vierten Klasi«.
Hofcm im Tonns fllr Wodien, Monate, Vierteljahre oder Jahre eine feste bare
Vergtttnqg verdnbart und diese höher ist, als der nach Abs. 2 fltr den Verstcherten
mafsgebende Durchschnittsbetrag, so ist diese Veigfttnag sn Gnmde za legen.
Der Versicherte kann <He N'crsicherang in einer höheren als derjenigen Lohn-
klasse, welche nach den vur^tLhtiidcii Be-timmungen für ihn malsgebend sriji würde,
beanspruchtii. In diesen Lallen isi i> dorh der auf den Arbeitgeber enttalbnde
Teil des Beitrags, sofern nicht die \'<. r:>ichcrung in tlcr höheren Lohnklassc von dem
Arbeitgeber nnd dem Ver<>icherten vereinbart i!>t, nicht nach der höheren, soodem
nach der fltr den Versicherten malsgebeaden Lohnklasse sa bemessen.
Die Landes>Zentralbehönle kann anordnen, dafs die nadi Abs. 2 fllr die ein-
sclnen Orte «arsgebenden Lohnklaasen md Beitiige (g 3a) sowie die Klassen von
Versicherten, welche aa dem betreffenden Ort in die einseinen Loknklassen entfallen,
von der Versicherungsanstalt in jedem Ort ihres Bexirks bekannt zu machen sind.
§ Ber- i hnung der Renten ! l>ic Renten werden nach •\<-t> Lohnklassen
i§ 341 und nach jalirevht-trapen her<rhn<t. ^ie b<st<-hen aus einem in der Huhc
verschiedenen Betrage, welcher, vorbclialtlich der N'orschrift des § 40 Abs. 2, von
den Vcrsicherungsanstallcn anfsnbriingen ist, imd ans einem festen Zoschnssc des
Reichs, der fllr jede Rente j&hrlldi flbifxig Mark betrigt
S 36. Die BerednnBig des von den Versichemngsanstalten aofzubringenden
Teiles der Invalidenrente erfolgt in der Weise, dafr einem GmndbcCnige die der
Zahl der Beitragewochen entsprechenden Steigemngssttse biwngercchnet werden.
Der Grondbetrag belauft sich
fUr die Lobnklasse I auf 60 Mark,
1« it fi III 9 1 f I
202
Gi*»rt/4:> i'ui)^ neut<<chtfi> Reick.
Der Bert'chnunj; d«» (vrundb<-trag« d«>r InvaUd(tir«-nt<' werden »tets ftinfhundert
Beitrajfswoclien tu Grtin«lf g«'l<7:t sind «•.•ni^or al- fünniuntlTt P. iir.»f^.w.> -hcn
ii:irli^"»wirs.-n, sn wt-rii'-ii titr ili-- l' lili n.l. n Wo iir:i-.- d. r I .■ liuikl.i ■,>»• I in
Ati-.vt/, l>ra< li( : «ind in- ln aK tuntluuid< rl r.- itr.i^'-woi Ii' n !i.n h;;--wio->> n ~<i Niiid
.sl«'t> di>' tun) liuiid.rl H'Mtr^t)^'- d.-r !>• h1i>i<-ii Loliukla^MM» /.u «iiiind-- i\x l.-g<-n.
Kommen lur dioc füiil liumlrrt Woclu-n vcrschicdcni- l.ohnkl;i«>rii in Brtracht, so
wird als Gnindbetrsif! der Durchschnitt der diesen Beitragswochen entsprechenden
GnindbetrXgc in Ansatz gebracht.
Der Steigerungssatz beträgt fUr jede Beitrag»woche
in der LohnklaMc I 3 Pfemtig.
«• fl M II 6 „
t» »♦ •« III S
„ IV 10
., .. ,. V 12
Für die Beitragswoche kann nur ein Stcigorun^ssau in Anrechnung gebracht
werden. Sind mehr Beitragsmarken verwendet, als hiernach BHtragswochen in An-
rechnung gebracht werden dürfen, und können die zu Unrecht beigebrachten Marken
nicht mehr ermitt<*U werden, so sind dir Bfiträ^;«» durch Ausncheidung der fhr die
niedrigeren Lohnklassen entrichteten Marken bis auf die zulässige HiH:hjtcahl lu
mindern
37. l>er von den Vcrsicücruu^aansUltcn aufzubringende l'cil der Altersrente
beträgt .
in di-r Lolinkla^ac l 60 Mark,
»t ». » n 90 ,.
UI ISO ..
„ „ ,. V :So
Knnimi-n Ufitrriße in vcrM-liicdenen Luliiiklasvcn inbetracli! wird i.-r Ihirrli-
ürliiiilt d<^r di-'-.-n Hritr:if:;>-n rntsprcchoiKl'-ii Alt- r ~r<Milt* >:<-\vrilin ■'Hid n.' 1 r al- ' in-
Uiu^ciul/wi ilaiiid- n l*f!< raR^v\ u( lii-n narlii^i-w i« --i-u, so sind di<- < uitau^<-ndÄweihundcrt
Beitrajic der höchsten l,ohiikLi.s»en der Berechnunf; zu (jrunde zu Ic;;en.
§ 38. Die Renten sind auf volle fünf Pfennig flir den Monat nach oben ab-
zurunden vnd in monatlichen TeilbetrSgen im voraus zu zahlen. Für denjenigen
Kalendermonat, in welchem die den Wegfall oder das Kuben des Rentenanspruchs
bewirkende Thatsache eintritt, ist der gezahlte Monatsbetrag der R.ntc zu belassen.
§ 39. Für einen Versicherten, welcher bei einer d-^r nai h jjj; S. 10, 1 1 ni-
pelassfnfn Kasseneinriehtunj^en beteiligt f;ewes»»n wird bei H ererb nunc der Kentr
für je<le Woclic ticr I'eteili^jun;^ narli dem I. jamiar tSyi diej.-iu>^c I .ohnkLissc
in Rechnung; gebracht, wekiicr derselbe nach dem von ilim wirklich bczüjjcncn
Lohne angehört haben würde, wenn er bei einer Versicherungsanstalt x'ersichert ge-
wesen wäre. Hat der Versicherte gleichzeitig einer Knappsichaftskasse oder einer
Orts-, Betriebs- (Fabrik-), Bau- oder Innungs-Krankenkasse angehi^rt. so bestimmt sieb
die in Rechnung zu bringende Lohnklasse nach den Bestimmungen des $ 34 Abs. a
Ziffer I beziehungsweise 4 und des § 34 Abs. 3.
Digitized by Google
IiivaUcli*m-cmchvn]ngv];r.<»cU vom 13. Juli
203
4 >. Für li'w nach 30 aU Bcitragxzeit p'-li -i» ' • Pau' : boacheiiiijjter Krank»
h'-itrii und niilitäri>cii<*r DienstleUtungen wird bei Berechnung der R^nte die I^hn«
kla&s<- II zu flrundf ^'^l" },'t.
Drii auf dio Diuu r militärischer Uicn»tleUtungcu entlallcmlen Anteil der Ri-ntc
flbemiiumt das Kcich 125J.
§41. Die Invalidenrente beginnt mit dem Tagr, an wekhem der Vertuit der
Erwerbsf&higkeit eingetreten ist. AU dieser Zeitpunkt gilt, sofern nicht ein anderer
in der Entscheidung festgestellt wird, der Tag, an welchem der Antrag auf Be->
willigung der Rente bei der xnstSndigen Behörde eingegangen ist ^§ 112 Abs. I).
Die Altersrente beginnt frühestens mit dem ersten Tage des einund^iebenzigsten
Leben s';»hrs.
I nr /'-it- n. <li. hoin» ring.inj^c (]<••, Antrag- aut Howilligmig einer Kcnlc länger
al> ein Jahr /.uru« kho^r-ii, wird die kentc nicht g. wiihrt.
Stirbt ein Ver»ich«-rter, d<-s»cu Renteuantrai; nocli /.u >«-in<'n Lcl»«.*iten l>ei der
xttstandigen Behörde eingegangen war, so ist zur Fortsetzung des Verfahrens und im
Falle der Bewilligung der Rente zum Bezüge der bis zum Todestage ßUligen Renten*
betrSge an erster Stelle der Ehegatte berechtigt, sofern derselbe mit dem Renten*
berechtigten bis zu dessen TckIc in Jl;iu^lirher OfiiK'inscli.ili ^'.-l.bt hat; wenn ein
solcher nicht vorhanden ist, tritt die Kechtsnacbfolge nach den Bestimmungen des
bürgerlich. n K<-clits ' jn.
§ 42. (|- r-t.ittun^; von l'.<-itr:if;. n.) \Vfil'lich<-n Tn >nn> ri. w<-lrli<' ein-' I ii-- i-iii-
gehen, bevor ihnen du.- eine Reiilc ^Jjf; 15, 16) bew lUij;. luif Knt-tchcidung zu^' -i- llt
ift, steht ein Anjipmch auf Erstattung der Ilälfle der fttr sie geleisteten Beitrag'*' zu,
wetm die letzteren vor Eingehung der Ehe ftlr mindestens cweihtmdert Worhon ent-
richtet worden sind. Diewr Ansprach mufs bei Vermeidung des Au$schlu»4e<> vor
Ablauf eines Jahres nach dem Tage «Icr Verheiratung; geltend genucht werden. Der
zu erstattende Betraj wird auf volle Mark nach oben abgerundet.
Mit der Kr>tattung erlischt die durch das frühere VersichcrangsverhäUnis be«
griindtif Anwartschaft.
§ 43. Werden versicherte i'crMJttcn durch « iiu n L nfall dauernd crwerb-.-
unlahig im Sinne dieses Gesetzes and steht ihnen nach ^ 15 Abs. a Satz 2 dir die
Zeit des Bezugs der Unfallrcnte ein Ansprach auf Invalidenrente nicht zu, so ist
Ihnen anf ihren Antrag die Hilfte der für sie entrichteten Beiträge zu erstatten.
Der Ansprach mufs bei Vermeidung des Ausschlusses vor Ablauf von zwei Jahren
nach (Um Vnf.xU prlt.nd macht werden. Die Bestimmungen di^ § 4a Ab», t
Satz J und Abs. z fnuh-n Anw. iulunf;
§ 44. Wenn fine niännlichr rt-rsmi. ttir welch'- miiid'stcn> tur zweihundert
Wochen Mritraf;.- entrichtet wordi-n >itid. vi-rstiriit. betör ihr ili<- eine Kenie icjj; 15,
16) bewilligende Entscheidung zugcatelll ist, atcht der hintcrlasscnen Witwe oder,
falls eine wiche nicht vorhanden ist, den hinterlassenen eheliehen Kindern unter
fünfzehn Jahren ein Anspruch auf Erstattung der Hälfte der für den Ver!>torl>enen
f ntrichteten Beiträge zu.
Wenn eine weibliche IVr^^n, für welche mindestens für zweihtmdcrt Wochen
Beiträge entrichtet worden sind, verstirbt, bevor ihr die eine Rente 1$. 1(1) be<
Digitized by Google
204
Gnetx^rbun]; : Dentschn Reidi.
wil1ip'Ti<lf Fiit^rluMilun;; /ii;;f^t»'llt i^t, gO bteht den liint<"rla»srn»'n vatrrl(is<-ti Kindrrn
imtrr fiiii(/> hn Jahren « in An«.jinu-h auf Frstattung der Halft r der ftir <lir Verstorbene
riitnrlitetrn IViträ^^r /.ii. Fin ;:l<-jcher An^prurh stellt iint<*r dfn-'lt>'-n Voraus«
•»etzutij.'rn di fi IniHerla^srncn. norli nirht funl/.t hn Jahre alt»!i Kiii>l<-rn einer »"h hen
weildithen l'cr>un zu, deren Liicuiauu bich %'on der häu.<>lich«u Gemeinschalt fern-
gehalten und sich der Pflicht der Vnterhaltanf; der Kinder entaogen bat. Wmt ditt
weibliche Person wegni Erwerbsnnfthigkeit ihres Ehenumns die Emtbrerin der Fa-
milie, so steht ein gleicher Erstattungsanspruch dem hinterlasseocn Witwer so.
Der Erstaitiin^sansprucb mufs bei Vcrmeidang des Ausschlusses vor Ablauf
eines Jahres naih d. m l'o.Ie des Versicherten erhoben werden. Der n erstattende
Betrag wir<l .uit \. Ii- Mark nach oben ahi!'-nni']et
"»chwt ht l>euii I oiie des \ rr-icherten iierrits ein Kentenfeststellungsverfahren,
so sfidulst dir Krstattim[;-anspruch den Anspruch der l".rhen auf die rückständigen
Kentenbcträge aus, solange nicht eine den letzteren anerkennende Entscheidung zu-
gestellt ist.
Vorstehende Bestimmungen finden keine Anwendung, soweit den Hinler-
bliebenen aus Anlafs des Todes des Versicherten auf Grund der UnfaUversicherangi«
gesetzc Renten gfwiihrt werden.
45. Durch übereinstimmenden t'' >-t Idufs de«, Vorstandes und de> Aus-
sclui-bes kann Ix-liniiiU w « r<l< n, d.tl'b die L « l«. rscl;ü-se des SoiifU-rr rrniotjens einer
Versichcruni^Nanstalt iilur ileii zur Deckung ihrer \'erpllichtungen dauernd crlurder-
lichen Uedarl /.u anderen als den im (je.setze vorgesehenen Keistungen im wirtscJiaft«
liehen Interesse der der Versicherungsanstalt angehörenden Kentenempianger, Vei^
Mcherten sowie ihrer Angehörigen verwendet werden.
Solche Beschlüsse bedfirfen der Genehmigung des Bundesrats. IMe Genehmigung
kann widerrufen werden, wenn das Sondervermögen der Versicbemngianstalt nur
dauernden Dockung ilr. r \'f rpflichtunp nicht mehr ausreicht.
§ 46. ( Frl 's< i'- Ti dri Anwartschaft 1 l>ie aus der Wrsiciienmgspfltcht sich er^
gebende .\n\vartscliatt erhsiht, wenn während zweier Jahre nach dem auf der
Quittuiigskarte (J; 131) ver/.-ichn« len .\usbtellungs»tag ein <lie VcrMcheriing.>p!lichl be-
gründendes Arbeits, oder Dien^tverhültnib, auf Grund dessen Beiträge cnuichtct sind,
oder die Weiterversicherung 14 Abs. 2) nicht oder in weniger als insgcsinit
awansig Bcitragswodien bestanden hat.
Den Beitragswochen im Sinne des vorigen Absatzes werden gleich behandelt
die Zeiten,
1. weiche nach § 30 als I?eitragszeiten angerechnet werden,
2. wHhrend <l«Tfn (!er Anwärter eine l'ntallrente für eine Vemiinderun^' der
ErwfrVis!;ilii;;k'-it um niiinle-tt-ns zwanzig; l't.i/i-m üdrr au- Kav>rn der m
den ijj; 8, JO, 11, 52 ijczcichnetcn Art Invaliden- oder Altersrenten bezog,
ohne gleichzeitig eine nach diesem Gesetze versicherungspfliditige Betddtf*
tigung auszuüben.
Bei der Selbstversicherung und ihrer Fortsetcnng t§ 14 Abs. l ) müssen mr Auf-
rechterhaltung der Anwartschafl während der im Ab«, i bezeichneten Frist nin>
destens vierzig Beitrüge entrichtet werden.
biTalidcBverstchenuigigeseU vom 13. Juli 1S99.
Die Anuart-schafl lebt wieder auf, M^bald durch Wicdcreintrotcn in eine ver*
veniclierunKspflicbtigc BcschXftigang oder durch frciwittig« Beitragileistung das Ver-
siehcningBverhSltBis «nieo«rt und danach «ine Wait«seit too sweihand«rt Bettrags*
Wochen snrttckfelegt ist
f 47. (Entziehung der lovalidonrcnte.) Tritt in d<*n Vcrhältnisst^n drs Em>
pflnRcrs einer Tnvalid«"nrrntP ein«- Veränderung ein, welche ihn niclit mehr ah er-
werbstltaflihig 15, 16) erscheinen läfst, so kann demselben die Rente entsogen
werden.
Ist be|;rundcte Annahme vurhaudcu, dals der Emplanger einer Invalideiirenle
bei DurchflUmmg eines Heitverfthrens die Erwerbsfithigkeit wieder erlangen werde,
so kann die Versicherungsanstall su diesem Zwecke ein Heilverfahren eintreten lassen.
Dabei finden die Bestimmungen des j$ 18 Abs. 2 bis 4, §§ 19 bis ai, 33 mit der
Mafvgabc Anwendung, dafs an Stelle der Angebdrigenunterstützung die Invaliden*
reute treten kann. Hat sich il<-r Kentcnempf&nger solchen Maisnahmen der Ver«
sichening«ianstalt ohne gesef /Ii. hcn oder son>t triftigen Grund entzogen, «o kann ihm
die Reute auf /• u t;an/. uder teilwei>o cnt/o^cn werden, solcru auf diese l oltr- n
hingewiesen worden ist und nachgewiesen wird, dafs er durch sein Verhalten die
Wiedererlangung der ErwcrlMfiLhigkeit vereitelt hat.
Die Entaiehung der Rente tritt mit Ablauf des Monats in Wirkianikeit, i
welchem der die Entxiehnng anasprechende Bescheid sagestellt worden ist
Wird die Rente von neuem odec wird an Stelle einer nach § 16 gewahrten
Invalidenrente eine Rente für dauernde Erwerbsunfähigkeit 15 bewilligt oder wird
eine Altersrente bewilligt, so ist die Zeit dci früheren kentenbe/.u;,'-. dem Versicherten
ebenso wie eine b' S< heini;,'te Krankheits^eit ij^ 40 Ah•^. I anzurechnen. Iiie Vor-
schriften des § 30 Abä. 5 und des § 36 Abs. l, 3 Anden auf diese Zeit keine An-
wendung.
§ 48. (Ruhen der Rente.) Das Recht auf Bezug der Rente ruht:
t. für diejenigen Personen, welche anf Grund der reichsgesetslicben Be-
ttimmungen fiber Unfallversicherung eine Rente bedeben, solange und
soweit die Unfallrcnte unter Hinarechnung der ihnen nach dem gegen-
wärtigen <'-•' •■ zugesprochenen Rente den siebenundeinhalbfachen Grund-
betrag der Invalidenrente (J; 36 Abs. 2, 3 übersteigt:
2. für die in den 6 Ab>. l, § 7 be/eirhneten Personen, so l.ui;.;c
und so weit die denselben gewährten Pensionen. Warte^elder oder ähnlichen
Bezüge unter Hinzurechnung der ihnen nach dem gegenwärtigen Gesetze
zugesprochenen Rente den in Ziffer i bezeichneten Höchsbetrag Über-
steigen;
3. solange der Berechtigte eine die Dauer von einem Monat Übersteigende
Freiheitsstrafe verbfifst. oiV r solange er in einem Arbeitshaus oder in einer
Besserungsanstalt untergeijracht ist :
4. solange der Ber<-<:hti;,'te niiht ini InLin^le seinen gewohnlichen Autenthalt
hat. I)urch Bcschluls des Bundesrats kann diese Bestimmung für l>estimnite
Grenzgebiete oder für solche auswärtige Staaten, durch deren Gesetzgebung
deutschen Arbeitern eine* entsprechende Fttnorge filr den Fall der Er-
Digitized by Google
206
w«'rl>i!Ui)l:ihiyk< u um! tl•■^ Altern i;rwähr1<'istft au(-».-r Kraft ^'cscLit
wewlrn.
llAt in den Fällen firr /i(rt>r 3 i)«>r K«>ntenlterr«*hii;;te rin^ im Inland«» trohnemie
Kaniilif. Uerfn rmerhall «t blshrr aus feinem Arlieitsvenlü-nstr bestritten hat, so ist
dif-MT ilie kentf zu Ulx-nnviM-n.
\Vältr«*iul des i;. /;;;-^ v. t) liivaliii' iir. nt- tu' ; <!■ r Aii-prut'b auf die Altersrente.
Aul dj<->-' ri i'.iU fiti'i'-t >h.- 1'- Miiiiinuii;; drs >: 3*» ^ ' ' - \'i\v.-ii'Ui»t^'
§ 4<i. , V'-tS.il'nt- /Ii .iinliT'-n An-priirh«-» I >■•■ ^- ••.•t.Mf h-T VHr-i l:r;it
Wnthentle W-rplii« htuu^ vmi tit iiu niil<:u uii'l At :h. ir. < : l>;iii<l- ti zur lUl- r^tuiziiiig
hill'sbedurJ'ii^fr l'ersonen «wie XMMipe j;cs«-t/lich<.', statntariM'he oder auf Vertrag
beruhende Verprtirhlungrn iVT Filro^irpe für alte, kranke, crwer1><«unfHhig< oder liilfs-
lM-durfti};c Personen w.'rdt-n duroli die«-* Gesetz, nicht Iw-röhrt.
Wenn v»in einer (i«'m«Mude oder einem Armenvrrband an hilf^bedärftine Per»
sionrn l'ntcr>f!it.' • :i für einen Zeitraum jj'lfis.tet wenUn ti r w l h -n diesen
l'er"-<in.!i (in \i,-;.:niii -isit Itnali'l'-ü- n<],x Ali'r^r.-tiv- /ri ^.iii'l <»l r iiimIi zusteht,
so ist llilli ll Ir. Il (t tluM ii l flx-rwrl^llll,; voll k'-lltrllii<-t!.r.'' ll \ r .lA' ,'U lil-t. Il.
ist ilu l iu» rs(üt7.»iti;; cim- vorilh«Tj^<-li«'n<le, so koiux u hrsat/ Ii' i> h^tt n-. >iroi
^ll>u.^t^l*t•^lii;,'^.• der Rente, utul zwar mit nicht mehr als der Ilülüe. in Anspruch g^'-
Hammen werden.
l»t die Unterstützung eine fortlaufende, so kann als Ersatz, wenn die l'nter-
Stützung in der (»«Währung des Unterhalts in einer Anstalt besteht, für dessen Dauer
uml in drin zur Frsat^l. istutif: erfor.lr-rlifh«-» Hi traj.-!- 'Ii-- fortlaufende feberweisung
«Ur vi.ll.n Ri-nt'-, im ührij^i-n die furtlaufende l'eberweisung von htkihstens der
hall»<-n K< iit'- Ix-.iii^jinu'ht wf-nl- ii.
50. 1 >>-r Aritr.u: .nit T. 1 u . ■si.ii^ m>ii Ki-iU<Mii><'tr.ij;.-ii . j< 49 Abs. 2 bis 4^
i>i S» 1 « iner dir im ij i id AI-. 1 /-u^uii li^< u IWhorde anzumelden; soweit c.- sich um
den Ersatz flir eine voräberf>ehende Unterstützung handelt, i<4t der Anspruch bei Vcr-
roeidung des Ausschluüscs spätestens binnen drei Monaten seit Beemligung der Unter*
Miitzunt; geltend zu machen.
licn (m'iik iiitlen und Armenvt-rbänden steht die Oeltendmarhung des Ersatz»
aii-i IM. ' .n;' 1) dann zu, wenn <lie liiltvlir-dürtti;,'«' l't rson, welcher ein Ansi»nu"b auf
liiviil;di-ti- I' Irr AUtT-r- nte /ii-t.rul. M>r Stell. M-'. K'-jitrTi.uur.iL."^ Verstorben ist,
l)ie l'fstiiiimun^: \'.n ^ i.\ .V>- .\ r.\f]-' i-;!;-!,]-,-! ln-mlf w.-iinutii:.
Streiti^k< ucn, \v. l< hr /wi^cli- n dm Iii u ilij^ini uIh i d< n .\ii.sj)ruch aut L clu-r-
wcisung v<in Ent>ichädi};r.ngsl»ctr:i^en cnt<«teheD, wenlen im Verwaltungsstreitverfahren
oder, wo ein solches nicht besteht, durch die dem Kr!iat/.l>erechtigten vorgesetzte
Aufsichtsbehörde entM-hicden. Die Entscheidung der letzteren kann innerhalb eines
Monats nach der Zustellung im Wege des. Rekurse?» nach Mafsgabc der 20. 31
der (»ewerbeordmmf; angefochten werden.
J; ;i I^ic l>r-tiMimuiii.'i*n l'-r .\0 V rr, i«,.,i nv.r]\ tiT l!rtri' !isun'> rii<-1iniiT
nnd K.'.~-' II \v< 1, lir ilif 1:1 II 1 i. tii' ili'l' II oii' i .\nu. ir . ■ II ■ 1 l H'.^r \'cr; itl i<-litung
zur l lUt r-tut.'uii^ Hili-l"-di;ri!ij;.T .ml »iiunii j.;i-~' t/rit hs t \ <tr-. lintMi erlulli-n.
52. i'alirilikassen, Kiujip*cliall-ka>*fn, Sorna nuska-scn unti andere für jje-
werbliche, landwirtschaftliche iKler ähnliche Unternehmungen bestehende Kasseti'»
uiyiii^icd by Google
luv;iIidciivcr»icbvrun^s£CMi'U vom 13. Juli 1-899. 2O7
einrirhtunj;«'!) , welche ihren nach den rrichsieesetzlichen Bestimmungen versicherten
Mil}!ltrdem fttr den Fail des Alters oder der Erwerbsnnßhigkeit Renten oder
Kapitalien gewähren, sind berechtigt, diese UnteratQtzangen fflr solche Personen,
wrirli.- Auf Gruml >l. r r- irl.-;; 's< t/1ii ii. n I^-^timmungen einen Anspruch aiuf Invaliden-
n l. r Ahi r-mitcn haben, um clrn Wert dor Kt/l'-n n oder zu einem geringeren Be«
tr.,).'- .'u . riiKif^i^'. n, •.Kfrm plcii ]i/.< iti^ dit- 1'. itt i;:'- der Hctricbsuntcrnrhmf r und
Ka>>c nn;::i,'l r mU-r im Kiillc der /u-niiunun;: dt r l'.( lrirli-.(int<-rnclHiicr wi-nij^'-iciis
dicjeinj4« u d.;r KAssi nnüiglicdcr in cin-.pi, clK iidcm \ erli;iUuiN<ic hcrub^ctuiudcrt
werden. Auf statalenmäfsige Kas»cnleistuni;rn, welche vor dem betreffenden Be-
schlüsse tlvr «ustäniligen Organe oder vor dem I. Januar 1891 an» der Kasse be-
willigt worden sind, erstreckt sich die Krmäfsigung nieht.
Die hierzu erforderliche Abänderung der Statuten bedarf der Genehmigung
drr /iistUndi}:.!! 1 ,andi>bchürdr. Die Irt/.tcre ist befugt, eine entsprechende Ab«
:iii''.' tnn^ il-T St.iti.ti-n i!irrr-«'i(> :nit rlii -^'iiltiL;>-r Wir^^iint,' vor/un'dim*'ii. -^nf.-rn <\\<'
zu <l< i) i-rw :dint< M K.i--' nr;nri> li'un;;- !! In itr.i^'- iid^ ri n- ! > -uiit'TTH'lini-T oder tlic
Mchrii' it der Ka<st*iinutt,lj< di r di«* Aliaiidi runq b« amra^t liabcn, <li«; Irt/trro aber
von den zuständi^^cn Ori»ancn »1<t Kiu«>sc abgelehnt worden ist.
Der KrmäfMgung der Beiträge bedarf es nicht, S4>fcm die durch die Herab»
minderung der l'nter>tiit2ung«-n ersparten Betrüge zu an<lcren Wohlfahrtseinrichtungen
für Betriel>>beamte, Arl>eiter oder deren Iliuturbliebene verwendet wertlen sollen und
dirvc .inderweile Verwendung durch das Statut r It und von der Aufaichts»
b'-l ir l' j^'cmdinii^it wird, oder soweit die I{fitrii;;e in d< r bi>l»rrijjcn Höhe erforder-
lich »uid, um die der Kasse verMfib«-nden I,tM^^uIl^;' !i /u d«i-kcn.
i 53. Die Hestimmmigen des ^ 4(1 Abs. 2 /ii; r 2 mil < ;^ tuulen
aui i) .iiit di>- zur l-''''r'i)r;:i- ti;r Iti\ .didilfit iiiiri Alter li< steli>-ii(li n K.,~si ii AiiwriiilLinfj.
!ii;'.-.rlitli Ii der« :i uil (irund urt>»tatutarischcr HcNtmmnin;;en eine Vt rpHichtung
zum untte b< ■-t< ht.
54. Tti-uu i U ileti iiiirh M.ii^u'-die t\< r reK-liv^r-., t/lii lh II I '.e>l i iiinuin;.; eti lun,
bt /.uj4e vt)H Invalidenrciuen U rei liiij;Icn TerMjaen ein ^e!>cl/.liclier An^[>rueli aul Kr-
satz des ihnen durch die Invalidität entMandencn Schadens gegen Dritte «usteht,
geht derselbe auf die Versicherungsamtalt bis zum Betrage der von dieser zu gc-
wKhr<-nden Rente Uber.
5J 55. ■ l'npföndbarkeit der Ansprüche.) Die LVbertragiing der aus den reichs-
ge^tzlichen Bestimmungen Oc^etze hielt ergebenden Ansprüche auf Dritte sowie deren
Verpfandung oiier I'iamlung hat nur in«oweit rechtliche Wirkung, als sie erfolgt :
t. «ur Deckung eines Vorschusses, welcher dem Berechtigten auf seine An«
>prüch«" vnr Anwoi-ung der Herne von -einem Arbeitgeber oder eineni
r>r;Mri - t \ < r-ii lierung^anstalt odrr d<;m Mitglied eine^ solchen Organs
2. zur Üeckuii;: der im j >>5o Alis. 4 der i u dpru/.ciMndnunt; in licr l''a^hung
der Bekanntmachung vom 30. Mai 1898 1 Reichs-« «etietzbl. S. 3691 bezeich«
nrten Kt»r<lerungen ;
3. zur Deckung von Kf>rderungen der nach 49, 51 ersutzb<*rechtigten
208
Gf>cti^'-bung l>ful>cl>c-. Rf ich.
Gemeinden und Arm<'nv«rbände sowie d«r an drren Stelle getretenen Be>
triehsttntemebmer un<1 Kaisen.
Die Rcnlrnfordrrimgen diirlen nur auf Ersatzfordrrunc«Tn für h^r-ogr-n-- L'ntall»
renten und I* nt>< Itii.lij^uti;^»-!!. snwrMt d-r AnNprurh a\if dic^r 54. 113 \H>. 2
auf dir \ - r^iv lierun^saiKi.ih ülxT^^f'ßangcn i>t. auf pr^duddct»- BrUragr, aut grtahlte
Vorschüsse, aui 2U Lnrecht gctahUc KeiUcnbelra^c, aut die zxi eratattenden Kuüten
de» Verfahrens und auf die von den Or|;ancn der Versicherungsanstalten rerhingten
Geldstrafen aufgerechnet werden.
Ausnahmsweise darf der Berechtigte den Anspruch auf die Rente gaaa oder
mm Teil auf andere übertragen, sofern dies von der unteren Vcrwaltungsbelidnic
genehmigt wird.
IL Organisation.
§ 56. Die Durchführung der InvalideOTersicberung erfolgt uatt*r Mitwiritung
der Laadcsverwaltungs» und der Postbehörden durch Versicherungsanstalten und tbrc
Organe (§§ 65 ff.), durch Schiedsgerichte ($| 103 ff.i ->owi>- durch da« Reichs-Vefw
stdieningsamt und die Landes-Versicherung^mter [j^ io& If.i.
A. Mitwirkung der i^andesverwaltungsbehörden.
§ 57. Attfser den ttbrigen aus diesem Gesetze sich ergebenden Aufgaben
lii^ den unteren Verwaltungsbehörden (§ 169) insbesondere ob:
t. die Entgegennahme und Vorbereitung von AntrKgen auf BewOligung von
Invaliden- und Ahrrsr^rUrn ; U2) oder auf Beitrnj;<cr$tattnng«n (§ IS8)
sowie di«- P.> oiiiarl)tuii^,' dri Antrat;»- auf Ri-ntfnV)ewillit^nn':"*n :
2. diL- Bcj,'iit.i< liUm;: d.-r I .iit/i' huii|4 von Invalidenrentni (^^ 47, t2l);
3. die Hfgutachtuii;,' der Kinslellung von Kenlenzahluncen 1 JjJ} 48. 12I1.
4. die Benachrichtigung des Vorstandes der Versicherungsanstalt über di«- zur
Kenntnis der Verwaltungsbehörde kommenden FiUe, in weldien Grund
zu der Annahme vorliegt, dafs Versidiertr dmch ein Heilveriähren vor
baldigem Eintritte der Erwerbsunfähigkeit werden bewahrt werden (§ 18)»
dafs Empfänger von Invalidt-nrenten bei Durch fuhrmig eines Heilverfahrt-n>
die Erwerbsfähißkcit wiedererlangen werdi-n i; 47 Abs. 2'. dass die In-
validenrente zu entziehen ist 47 Abs. 1 1 oder Rentenzahlungen einzu-
>tfllcn sind j^f 4S :
5. die AuikunliscricUung^ ül)i'r allr du- Invalidenversicherung belrclVenden An-
gelegenheiten.
§ $8. In den Fällen des § 57 Ziffer I hat sich die Begutachtung auf die
Vcnicherungspflicht (§§ ( bis 7) oder das Versichenmgsrecht ($ 141. anf das Mafa
der Erwerbsfihigkeit des Rentenbewerbers {ff% 5, 1$. t6) sowie darauf su entrecken,
ob und inwieweit von den Befugnissen der ^ 17. 32 Gebrauch zn machen ist
In den Fällen des § 57 Ziffer 2 hat sich die Begutachtung auf das Mab der
lDvalidenversicherungdge»«u vom 13. Juli 1S99.
209
EnresbdBttickeit des Rcntenempf&iigcrs (fi 47 AIm. l > towie damil m enCKckea, ob
«ad nwnwdt tdu dar Bdiigab det § 47 Abs. 2 Sats 3 G«lm«eh n mdi«« ist
Die Begutachtung mnfs ferner über alle diejenigen Fr^m sidi Terbreite«,
welche fiir die Vontudes der VentchonmctaiutftU von Balwf
«rachcsBefi.
§ 59. Ist dif untere VerwaltunRsbi-horde in den Füllen dr< § ?7 ZiAt i
und 2 der Ansiclit. daU das Gutachten ^jepen dif Gewährung einer Rrnt- odt-r tur
die Entziehung einer Invalidenrente abzugeben sei, »o hat üt: vor Abgabe ihre« Gut-
achtens die im § 58 bezeichneten Fragen unter Zuziehung je eines Vertreters der
Aibeitfebcr mul der Vcnidwitcn {% 61) in aHndlicher VerliMwIlnng m eritrtenu
Auf idaca Antrag oder wenn «• die AufklSrung des Saehverbahs erfordert, i«t der
Rentenbewerber oder Rentenenip&ngcr rar mOndUeben Verbandhuig aamaiebcn; m
jedem Falle ist derselbe von dem Termine zur mündlichen Verhandlung zu benacfa-
richtigen. Aua den Gittachtea wau(» ersicbtUch «ein, wie jeder der beiden Vertreter
gestimmt hat.
Der Vorstand der Versirherung^anstalt ist berechtigt, auch in anfi -r. n als den
in den 57, 58 angegebenen Fällen und Uber andere Fragen da> Gutachten der
anteren VerwaUungsbehfirde in der im Abs. i angegebenen Form zu verlangen.
S 60. Die höhere Verwaltnngsbehörde (§ 169) kann nach Anhörung oder
•ttf Antrag des Vorstandes Ar den Bearic einer Versicberungsanstalt oder Teile des-
aelben bestimmte Gemeindebehörden als untere Verwaltnngsbebdrden im Sinne des
§ 57 beaeicbnen und mit der Wakraehmong der in den §$ $7, 58 vorgesehenen Ge*
schifte betrauen.
§ 61. Fflr den Benrk jeder unteren Verwaltungsbdifmle (§ 57) werden Ver-
treter der Arbeitgeber und der Versicherten gewählt; deren Zahl beträgt, solange
nicht durch dipienip'^ Behörde, welche dir Wahlordnung erlassen hat 63). eine
profserf Zahl hf^timmt ist, aus d.*r Klasse d>«r Arbeitgelx-r und der V-rsirh-M t'-n je
vier. Dil- I?<->tinjniung>-n tlcr ij§ 87 bis 94. 97 find<-n cntN}tr'n-h''n(li- .Xnu >-n(liing
62. Di«* V.>rtreter der .■\rb<>itge'{)''r und tler Versicherten werden von den
Vorstanden der im Bezirke der unteren Verwaltungsbehörde vorhandenen (.)rU-, Be-
triebs* (Fabrik;*), Bau* und Innungs^Knukenkassen, Knappschnftskasscn, Seemanns-
Wisfti imd anderen air Wahrung von bteressen der Seeleute bestimmten, obrig-
keiüieh genehmigten Vereinigungen von Seeleuten sowie von den Vorständen der*
jea^en en^ieschriebcnen oder anf Grund lande^gesetzlicher VorschriAen errichteten
HiUakassen gewählt, welche die im § 75 a des KrankenversicherongsgcHrtzes vr>rge-
»ehene B<-M*ln'inigtmg besitzen und drrfn I'../.irk >ich über den B'-.'irk unf-Tt-n
Verwaltungsbi liMrdi- nicht hinaus erstreckt. Soweit dio im jj i bo/cu ha -u-ii i'«T,nnen
aolchen Kas>en nicht angehören, ist nach Bestimmung der Landesregierung den Ver-
tretungen der weiteren Kommvnalverbinde oder den Verwaltungen der Gemeiade-
Kiankcnvenicheraiig beiiehungsweLse landesrecbtUchen Einrichtungen ihnlicher Art
eine der Zahl dieser Personen entsprechende Beteiligung an der Wahl einairSamen.
Soweit die Vorstände der beieichneten Kassen und Vereinigungen ans Vertretern der
Arbeitnehmer msammengesetzt sind. nfh(n<-n bei der Wahl die den Arbeitgebern an-
Archiv fiir Mc. Gesetzgebonf «. Statiaulc. XV. 14
L.ivjM^L,j L,y Google
2IO
K^horrmlrn Mit(;lird<-r dr» Vorstands nur an drr Wahl drr Vertreter der Arbeit*
prlx-r. ili. ,1.1) Vt r^i. 1;. r('-n an^rhörrm!» rt Mit;:Ii< (l< r dr, Vori-tafKlrs nur an der
\Va})l i!<T \". rtr< ti r r \'iT^!r]irr?rn t' il. N or^'iiml'-, iii (l<-nrn .\rl>ritg'-h<T nicht
vrrtrfti ii -Ulli. Tx-lini'-n nur an il< r W ii< r V< rtri trr «Irr \'rr-ii Iii rtrn. Vor>taTni<\
III di-ri' n Arl'. :tii. lim. r lu» ht v« rtrt ten Mini. n< limcu nur ;in tli-r Wahl der Vertreter
eU-r Ail'-'H^;, l>. r t- il.
Vur>t:»ti<ic M>lili<'r Krank>iik.i>N<-n, tur »U-ren Mitj:lieil.-r rin«- hrMinclere Ka>sen-
einrirhtunß im Sinne der 8, lo. Ii besteht, sind nicht berechtigt, tat den Wahlen
trilzunehmcn.
IHr Vertreter drr Arbt-itgelier und der Versicherten müssen im Bezirke der
unteren Vrrwaliungshi-hörde und mindestens 2ar Hälfte an deren Spitze oder in einer
Entfernung bis zu lo km vtm demselben wohnen und dürfen nirht Mitglieder de»
Vorstandes (§ 73) mler eines Schie<lsgerichts ({J 103) sein.
§ 63. IHe Wahl der Vertreter rrfol|*t nach näherer IWimmnng einer Wahl«
(»nimm;;, \v. 1i Ii-- vun der für den Sitz der Vrrsichrrungsan'-t.ilt - 1 tändigen Landes-
/«•ntrall'« li> Tile niii-r «l'-r \'<r\ di. -.-r Ix -«iinTm.-n f%-h 'r.i. m i-t!.i--. ii i>t, iintrr T.i-itimf;
«■in»-v !*■< auK r.i^li ii <li. -. r l'- li tr.K-, l". i tii' in-atn. ii V- r-i. hrrim;;-an-tah< n wird <li.-
Waliloninijti^', -oteni » in luin t r^lainJiii> niit< r >1. n lu t. Laiiiio^r« j^u-run^rn
nicht <-r£it-lt wird, durch den Reichskanzler crlas.sen un<l die \Vahl durch einen von
demscllM-n ernannten Beauftragten geleitet.
Zum Zwecke der Wahl der Vertreter kann der Be2irk der unteren Verwaltung;«*
behordc in kleinere Wahlbezirke geteilt werden.
Streitigkeiten Uber die WTahlen werden von derjenigen Behörde entschieden,
welche die Wahlordnung erlassen hat.
3$ 64. Die Vertreter der Arbeitgeber und der Verücherten sind auf die ge-
wissenliafte Erfüllung ihrer Obliegenheiten durch die untere Verwaltungsbehörde su
verpflichten.
Durch die höhere Verwaltungsbehörde sollen über die Reihenfolge, in welcher
die Vertreter au den Verhandlungen zuzuziehen sind, Bestimmungen getroffen werden.
Die den Vertr< t»m /.u>tchenden Bexügc (jjsj 61, 92) sowie die sonstigen durch
dav Verfahren entstehenden baren Auslagen sind von der Versicherungsanstalt zu
erstatten.
r>i< unti rc Verwaltttugbbehörde ist befugt, Zeugen und Sachvcrstindige uneidlicb
zu veriuhnu-n.
I >cr \ ur>tand der \\'rsicheruiig>aiistalt l'^t bt tu^;!, aul Antr.a^ d«-r unteren \ er-
wallun^^-bthurdc den Bclciiij;trn solche Kusti-n tlois Vcrlahren^ zur Last zu legen,
welche durch Mutwillen oder durch ein auf \'ersciil<']i[iun^ oder Irreführung be>
recbnetes Verhalten derselben veranlafst worden sind.
Im Übrigen wird das Verfahren vor der unteren Verwaltungsbehörde durch die
Landes<Zentralbehörde geregelt.
Invalidmvrrsichrrungj-grsctz vom 13. Juli 1899.
211
B. X'ersicherungsanslalten.
I. Errichtung.
4j <>>. Die Vrrsichcruiijivanstaltf ii wr r<!' 11 nach Hrstimmunjj der Landes-
regH-iiiiiiicn lur wcittrr Komniunalvi-tb;tti(l< üircs GebicU oder für das Gebiet des
buutit-shlaats oder Teile desselben errichtet.
Auch kann fttr mehrere Rondessuaten oder Gebietsteile derselben sowie Übt
mehrere weitere Kommiuuüverbinde cin«s Bondesstaats eine gemeinsame Vcrsiche-
ran^sanstalt errichtet werden.
In der Versicherungsanstalt sind alle diejenigen Personen ra versichern, wekhe
in drrrn !^'-/irke iK-^chäftigt werden \ f <li<* Rctimmang des Beschiftigimgsorts
fiiiili n <ln- \'orso)iriftcn des c a <lt^ Krankctivcrsirhcningsjres'-t/rs Anwendunp.
Nowni i'.K r>.-^ch:iHi^unfj in einem lUtriciie ^t utlinilft , (!>"vsfti Sit/, in <l'-ni Uezirk
einer anderen Versiclierungsanstalt bcle^'cn ist, kann mit /ustimmunjj der beteiligten
Versicheningsanstalten die Versicherung auch bei der Versicherungsanstalt des Be*
trielMsitzei erfolgen. Diese Zuatirnmang mnfs auf Antn^ des zur Beitragsleistong
verpflichteten Arbeitgebers erteilt werden, wenn die beschäftigten Personen Mitglieder
einer fllr den Betrieb errichteten Betriebs* (Fabrik*) Krankenkasse sind. Findet die
Besrlialn^'un^ vorüVx rgehend im Ausland, aber in einem Hetriebe statt, dessen Sita
im Iidaude belegen ist, SO erfolgt die Versicherung bei der Versicherungsanstalt des
Betriel>^sitr»s.
l'.< 1 ausl;in<iis< hm Uinm iisrhitfen gilt als ll.^t haltij;uii;,'sorl d> s I'ersun.d-. der
.Sitz derjenigen Veri.icherunj;san.stall, in deren I'.ciirkc da> Schifl' bei Uebcrlahren der
Grenxe inerst eintritt.
^ 66. IMe Errichtung der Verichenmgsanstalten bedarf der Genehmigung des
Bundesrats. Soweit die Genehmigung nicht erteilt wird, kann der Bundesrat nach
Anhörung der beteiligten Landesregierungen die Errichtung von Veisichexnngso
anstalten anr)rdnen.
!j 67. I>- r Sit/ d'-r \'> r^t<~heninf^^.i!i~tal! wird durch «lie Landcsrej;tcnin^ h^-stimmt.
l~i dii- \'<-r- K hi i un;;s.iiiNtalt tar nat tif re l'.unile>^t.xat<-n o<]fr (ieliict-.!' i!i- der-
s^elhen errichtet, !>o bestimmt den .SiLr, lall.s eine Vereinbarung der beteiligten i^andes-
rcgicrungen nidit zustande kommt, der Bunde.sraL
§ 68. Die Versicherungsanstalt kann unter ihrem Namen Rechte erwerben
und Verbindlichkeiten eingehen, vor Gericht klagen und verklagt werden. FQr ihre
Verbindlichkeiten haftet den GUtub^eeni das Anstaltsvermögen, soweit dasselbe <nr
Deckung: der Vrrpflichtungen der Versicherungsanstalt nicht ausreicht, der Kommunal-
verbanti. tür \v< li}i< n die Ver^ichrrunpsanstall errichtet ist, im Falle seines Unver-
md^'ms Hier wenn di'- WrsicherimgMDütalt fUr den Bundesstaat oder Teile desselben
erri< ht< l i^t, «Irr Himd>-s'-taaf.
Ist die X'crsicherungsanstall bar mehrere Kunuuunalverbüude oder Bundes-
staaten oder Teile solcher errichtet, so bemifst sidi deren im Falle der Unzuling*
lichkeit des Anstaltsvermügens eintretende Haftung nach dem Verhiltnisse der auf
Grand der letzten Volküsahlung festgestellten Bevölkerungsziffer derjenigen Bezirke
mit wrlchcn sie an der Versicherungsanstalt brteiligt sind.
«4*
212
GeseUBebung : DenUchet Reich.
Die Mittel der \ erMch«:run|;.'.*m3»tAlt dürfen für and'-r«- aU in die>«in üe-
MtM vorgesehenen Zweck« nicht venreulet werden. Ihre Einnihmen and An*»
{■ben and goiondert <u verrechnen, ihre Bestände gesondert xu verwahren.
Die Veriicherang5iMi!tt«It darf mndere als die in dieiem Gesetc ihr Uber«
tragcnea Geschälte nicht Qbcraehmco.
9 69. Die durch die enrte Einrichtong der VersichemngsaMtaU entstehendes
Kosten sind von dem Kommunalverbande oder dem Biinde»taat, ftlr welchen sie
errichtet wird. \ ir."i ■ hi< fM-n. Für gemeinsaiTK' V'-r^i.-h'Tunjj^nstalten sind die Vor«
!>rlni>>^c iK-im Man^- l rioer Vereiabaning nach dem im § 68 Abs. 9 vorgesehenen
Verhältnisse lu Ii ivi»-n.
Die prlri>t«-tfn \ or>f hüvsi- >ind von der Ver&icherung:ian»lall au» den zunüclut
eingehenden Versicherungsbeiträgen zu er-ttatten.
s. Statut
§ 70. Mir jede Versicherungsanstalt i«l ein Statut ni errichten, welches vmm
dem Anwchnase 76) beschlossen wird. Dasselbe muf« Bestimmmg treffen:
I. ttber die Zahl der dem Vorstand angehörenden Vertreter der Arbeitfeber
and der Versicherten;
3. über die 2^1 der Mitglieder, die Obliegenheiten und Befognisse sowie
die !>.-riifung dr> Aus>chuv>es, Über die Bestellong seines Vorsitxenden nnd
über dio Art il'-r Besohlufsfavsung :
3. Über die I orm. in welcher der X' ^r^tand -sfinf WillTi-'-rkiarungen kund-
zugeben und iür die Vcrsichcrung>atistaU i\i zeichnen liat sowie Uber die
Art, In weldier die Besdilnfsfassung des Vorstandes and seine Vertretung
nadi anfsen erfolgen soll;
4. über die Vettretang der Versichenmgianstak gegenüber dem Vontaadc;
5. Aber die Zahl der Beisitxer der Schiedsgerichte, welche aus der KloMe
d*ir Arbeitp-'h'T (ind der Versich<Tt'-n minde-iten> j.- vit-r betragen mulSt
und Uber <li- Reihenfolge, in welcher die Beisitxer su den VerhsAdlangen
zuzuziehen sind ;
6. über die Hohe der nach § 74 Abs. 3, ^ 92 zu gewährenden VergütongM;
7. ttber die Aulsteüung des Voranschlags ;
S. ttber die Anfstelinng und Abnahme der Jahresrechmmg, soweit hieriNicr
nicht von der Ihr den Sita der Versicherungsanstalt «ustttndigen Landes-
Zenttalbehtfrde Bestimmungen getroffen werden;
9. ttber die VeröfTentlichtuig der Rechnungsabschlüsse ;
10. über die Öffentlichen Blätter, durch welche Bekanntmachungen lu erfblgon
haben ;
11. über (In- Vorau5s<-tzunj;<Mi einer AbiinJerun^ de> Statutü.
§ 71. Dem .^u^>^Iul>^<' niu>>' ii vorbehalten wt-r l -n
1. die Wahl der nicht beanitett-n Mitglieder de» Vori»tsutdes sowie die Wahl
der Beisitzer der Schiedsgerichte ;
2. die Feststellung des Voranschlags;
uiyiii^od by Google
Invalidenver»ichrrung»ßeseu vom 13. Jali 1899.
213
3. die Prflfaag der jAhresreclnraiq; und die Avfitellnig von BrinBcraafca
gegen dieselbe;
4. die Znitinuaug so BescUttncn des VontHndcs, veldie die Erwerbanf , dia
Wräu Irrung oder die Bi-lastang von Grundstücken der Versichenuigsansttk
br Irr fron, sofern nicht nach dem pflichtmälingen Enncncn des Vontnad«
<j«-fahr im Verzug ist;
5. >!ir Hrscklaf»fas»ung Uber die Bildung von RflckvcnkhenrngSTerbindcn
t> i;ic Abänderung d«rs Matuts;
7. dir Icbcrwachung der Geschäftsführung des Vorstandes.
Der Fntwurf des X oraiisc hlar;> /iff« r 2I ist >pätr*itens rwei Wochen vor der
zur l- f ^tsrt/imj; dfskflhen anb«-raunit'-n Nitzung des Au.sst liuss^ s der Aulsichtsbehörde
in Absclinlt vorzulegen. Diese ist befugt. Anstände zu erheben, insoweit der Vor-
«nschlag oder Teile de>>selben den gesetzlichen oder sitatutarisclien Bestimmungen
nicht entsprechen. Der Vorsitscndc des Vorstandet ist verpflichtet, den Beachlnft des
Ansichnses, durch welchen die AastfUide der Anfsichtsbehörde nicht berOdmchtigt
Verden, gemifs § 75 an beanstanden.
§ 7a. Das Statut bedarf sa seiner Gültigkeit der GencbBUgiuig des Reichs*
Vcrsicheningsamts. Dem Ictsteren sind die von dem Ansschnfs tibcr das Statut g«>
fafsten Brschlfiwe mit den Pratokollen durch den Vorstaad binnen einer Woche
einzureichen.
tjrßt n tlio Fnl-rli. i<lun>; tlo k< ichs -V' r^u tuTunf^'samts. tluroh welche die Ge-
n« }miif:iiii}^ ^• rva>,'t winl iindft binn<'n eiin r Krivl \ 011 vii r Wochen, vom Tage der
Zu>ti llunj^ an «I- ti \'i 'r-.i.in<l ab, tlit- Beschwerde an il< n runde>rat statt.
Wird inn« rhalli (Ii- ^t r Frist lU-schwerde nidit eingelegt oder wird die Ver-
tagung der Genehn^igving dc<« Statuts vom Bunde.srat aufrecht erhalten, so bat das
Reichs »Versichernngumt innerhalb vier Wochen eine abennaüge Beachlnlsfaisang
änznordnen. Wird auch dem anderweit beschlossenen Statute die Genehmigung end-
gültig versagt oder kommt ein Besdilufs des Ansschnsses Uber das Statut nicSit m
••tand. so wird ein solches vom Reichs-Versicheningsamt erlassen, b letsterem Falle
hat das Keichs-Versicherungsamt auf Kosten der VersicheruQgsanatalt die zur Ans»
fUhrung de^ .Statuts erforderlichen Anordnungen /.u treffen.
.\bandcrinigen des Statuts b< iliufi-n der Genehmigung des Reichs-V'ersicherungs-
airits. tiegen die W-rsaguii^; der t lenehnii^uiig tinilet V>innen vier WochcO, vom
Tage iler /ustellur^,' .d\ dir l'.-schwertle an den Hunde-rat statt.
Naili 1 cst^tellung des Statuts sind »lurrh den Vorstand im ,,keichs-Anzcigcr"
und in dem für die Veruffentiichungen der Landes-Zentralbchorde bestimmten Blatte
der Name, Sitz und Bezirk der Versicherungsanstalt sowie der Name des Vorstandes
bekannt «u machen. Verindenmgen sind in gleicher Weise zur öflentlichen Kenntnis
SU bringm.
214
3. VorsUnd.
s5 7.> ■ \" ' 1 i n ng^anstah wir.l durcli einen Vorstand verwaltet, )iOW«it
ni< lit • in/. Inc Angclc^fiiiitiUen durch Gesetz oder Statut anderen Organ^^n ttber>
tragen >inil.
I >rr \"(jr>l.unJ h.it \''TM; iifriiii^>;iris!.ilt j^-Tirhtli Ii uTi'l ui.i>'-r;:'-ri> litldii f.u
vertreten. Die Verlrctunjj cr>lrt-ikl ^lcl^ aucli uul ilicj»iuy<ii (jficliuli»" und R-'chts-
handlimgen, für wekbe nach den Gesetzen eine Spt'zialvollmacht erforderlich iit.
§ 74. Der Vorstand der Versicherungsanstalt hat die Eigenschaft einer öflfent-
liehen Behörde. Seine Geschfifte werden von einem oder mehreren Beamten de«
weiteren Kommiuudverbandes oder Bunde^taats, fllr welchen die Versicherung^anätait
errichtet ist, wahrgenommen. Die beamteten Vor>tanii-init;;Ii'-ili r. von i1-'n -n --in>-5
al- Vorsitzentlrr zu l)c/i-i< linL'ii i>t , winlm n.i Ii .M r^;;.il)f der latui<-^{^''N'-t/.licli'-n
Vorsclinttfu von ilt m KoniiininaK crliatiil«- bt■/i.•!lu^^^..\v.•i^>• von d<-r I .aini' -r- jjirrung
bcslclU. l'.rstreckt bich der Bezirk der Vcrsit;hcrungsan>laU üb'-r mehrere weitere
KommiinalverbSnde, so werden die Beamten von der Lande»regicMing bestellt; dirM
kann die Bestellung auf einen der weiteren Kommunalverbande übertragen. Erstreckt
sich der Bezirk der Versichenugsatistalt über Gebiete mehrerer Bundesstaaten, so
entscheidet über die Bestellung der Beamten, falls ein Einverständnis unter den be<
teiligten l .uidrsrt-^'i'-nniL; -n nicht erzieh wir<l. der Reichskanzler. Die Bezüge der
Beamten und dir«T Hintr-rbli< l>fn<-n >itid von dor Vcrsic!KTun<;sanstah zu vcruütrn.
Nohen d<-n vurj^i-nanntrn H''anitcn nir.>>en <!cni \'.>r-.taii.i.- \ »"rtretcr <l<?r Ar-
beitgeber und d<T Versicherten angehören. Besoldung wird dmen ni' ht gewahrt.
Durch das biatul kann bestimmt werden, dal» ileut \'orstandc neben den vor-
genannten noch andere Personen angehören sollen. Dieselben können nach Be-
stimmung des Statuts besoldet oder unbesoldet sein. Sofern ihnen Besoldungen zu
gewShren sind, bat der Ausscbufs (§ 76; die Anstellungsbedingungen festzusetzen.
§ 75. Der Vorsitzende des Vorstandes liat Beschlüsse der Organe der Ver*
sicherungsan.stah, weldie f;ejr,.n die gesetxlichrn oiler statutarischen Vorschriften ver-
stofsen, mit aiif~< lii. l>en>i<T Wirkung unter .\nj;.di.- der (iründe in beanstanden. Die
Anfechtung erlolgl mittels Beschwerde an die Aufsichtsbehörde.
§ 76. Fflr jede Versicherungsanstalt wird ein Ausschuf» gebildet, welcher aus
mindestens je fUnf Vertretern der Arbeitgeber und der Versicherten besteht Die
Zahl der Vertreter wird bis zur Genehmigung des Statuts durch die fUr den Sitz
der Versicherungsanstalt zuständige Landes-Zentralbehörde, spliter durch das Statut
bestimmt.
Dii se N'ertreter w i-rdt ti \ on den N'er'rrt.-ni der .\rl"-it;^i l>< r und d- r \''T>ir!! Tten
bei den unteren \'< r\valtun^^l>< li..rden 1 J; Ol >uwi> \un d- n lM i>it/,ei-n der Renten-
stcUcn Si) je getrennt von den Arbeitgebern und den Versicherten gewählt.
$77. Die Wahl der Vertreter erfolgt nach näherer Be:stimmung einer Wahl>
Ordnung, welche von der fiir den Sitz der Versicherungsanstalt zuständigen Landes-
Zentralbehörde oder der von dieser bestimmten Behörde zu erlassen ist, unter Leitung
4. AuMChofs.
Invahilcnvcr3ichcrung.>};e-<«:U vom ij. Juli l!>9<^.
eines Beauftragten dieser Behörde. Bei gemeinsamen Venicherungsanütalten wird
die Wahlordmmg, sofern ein Einverstlndnis anter den beteiligten Landesregierungen
nirht erzielt wird, «lurch dm Rcictiskamler erlassen, und die Wahl darch einen von
demsrlbm ernannten Beauftra>;t>-ii j:« lrit<-t
Für jcficTi \'crtrr t<-r >in>i miiwl- -t< ii> fiii rr-t'-r und zweiter l£r>atzmann zu
wählen, welche diii'><li"ti in Behindfruii^'-talleii zu ersetzen und im Falle des Aus-
scheiden:» lilr den Rest der Wahlperiode in der Reihenfolge ihrer Wahl eiozulrelen
haben.
Streitigkeiten ttber die Wahlen werden von derjenigen Behörde entschieden,
welche die Wahlordnung erlassen hat
§ 78. Den Vur>itz im Ausschussr mhft bis zur f lenchmigung des Statuts der
Vorsitzende des Vorstandes der Vcrsicherun','>.inst.iU. Derselbe beruft die Mitglieder
des Ausschu'i's.-s. Für diejenigen Mit glif'iior. w.-lche am Erscheinen beliind-T? sind
und dies (1,'in \ ur^itzeuden des Vorstandes rechtzeitig mitteilen, sind die Ersatx»
männer zu laden.
Die Mitglieder des ilber das Statut beratenden Ausschusses erhalten fßr ihre
Teilnahme an diesen Beratungen Vergütungen, welche von der fttr den Sitz der Ver-
sicherungsanstalt zutlndigen Landes-Zentralbehörde zn bestimmen sind.
79. F'ür die Wahrnehmung der den untfr<-n \ ■ rwaltungsbehordcn nach
^ji 57 bis 59 obliegenden Ciochult'- k >nti»~n für den liezirk der \''Tsir(i<Tung-,-
anstalt oder Teile dcssclbcm vom Vorstände der Vers icher uug.-anstall Rentenstellen
errichtet werden.
Erforderlidi ist jedo^ die Zmtimmung des Ausschusses der Ver»cherungs«
anstalten, anfserdem bei Verricfaeningsanstahen, fttr welche die beamteten Mitglieder
des Vorstandes von einem Konunnnalverbaade su bestellen sind, auch die Zustimmung
des mit der Verwaltung der Angelegenheiten dieses Kommnnalverbandes betrauten
Organs, l>ei Versicherungsanstalten ab<-r. für welrh' die beamteten Mitglieder des
Vorst.andes von der L.ind<-sregierung zu bestell, n simi, die Zustimmung d> r l.andeN-
Zcntralb<dior<le o<ler. solcm mehrere I ;indos-/.<-nlralb«'borden beteiligt sind und eiu
Einverständnis unter ihnen nicht erzielt wird, di<- Zustimmung ile» Reicliskan/lers.
Die Landes-Zentralbehördc kano im Falle des geschäftlichen BedUrfuissi^a, in^
besondere in Gegenden mit dichter Bevölkerung, nach Anhörung von Vontand und
Attsschufs der Vercicherungsanstalt sowie des mit der Verwaltung der Angelegen-
heiten des zustSndigen weiteren Kommunalverbandes betrauten Organs fttr Bezirk«
Unt< rer Verwaltungsbehörden oder ftir einzelne Gemeinden, in welchen nicht gcmäfs
§ 60 die Wahrnehmung der in Abs. i v<)rg<'s<h<'nen fir-schäft'- d<n Gi-meinde-
beh<»rden ubi-rtrap- n ist. di- I rrK litun;; \>>u Kt iit' nstcll^ n anordnt n. Sollen xdche
St<-l!--n für bi /irkr . irirliti t w.-nl. ii, w. li li.- sicli aul tli<- Gebiet«- mf lir. r^-r Bund«-'»-
sLuiii II .5r>trecken. su kaiiü der k^■K•il^kanzler, falls ei» Linverstäntlnia unli-r den bc»
tciligicn Landesregierungen nicht erzielt wird, ihre Errichtung anordnen.
Die Kentenstelle ist Organ der Versicherungsanstalt und hat die Eigenschaft
einer öffentlichen Behörde.
5. Rentenstellen.
2l6
Gr&rtz^rliung . iJrutschc» Reich.
§ 80. Aafwr dm im d 79 Abs. 1 bexekhnctcn Aufgaben km der Vontnd
»l«-r \'t r^if hrrungsanstalt unter Zustimmung rlc«* AVMChTisiies der Rmtenstellc die
Kontroll« iiV>«*r Hi-- Fntrirhtung (U r I!< ilr;i(:r iihortragen ; in pl' ichrr \V< i<.,- im«] mit
(i«-n«-hmi^'un{; di r lur ili 11 Mtz der kcntcnsfrllr /u^lundi^;« n 1 and< --/» niraUM-tiorde
konnrn d»r Krnttnsitlle durch den Vorstand noch w«-it«:rc ( )bhcg«:nhciicii über-
tragen werden.
§ 81. Jede RcntcMtcllc bcttcbt «os einem ctindigcn Voniticndcn, mindatena
einem StellTertreter und aui Beisitzem; ihr werden die erforderlich«» HiU<b«Hali9
beigegeben.
Die Fots. izun^' d( r Amtsdaucr und der Bezüge des Vorsitzenden und der Stell-
vertreter . rlol;,'t durrh d« n Vorstand der V« rsiihemngsanstalt. Die Ernennung des
VorsitV' ndt n uml der Stellvertrt ler erlolgt lux Ii .\n>!>'n»ng ile> Vorstandes dur< li die
mit der \"erwaltun>; der .\ii^'«li-^'enbrit'n d.^ U' i!< ren K<>n -miu.d Verbandes bcirautf
Behörde , liir diejenigen An.>talten aber, m welchen dje tie.tniteten Mitglieder des
Vontandes von der Landcs>Zentralbebörde zu ernennen sind i§ 74 Abt. t), dttth
die letztere.
NanM and Wohnort des Vorsitsendcn «nd seiner StellTCftretcr siad in dem
Besiriie der Rentenatellc vom Vorstände der Versichervngmnstah so vcrOffentlkbcn.
Wird die Stelle des Vorsitzenden der Kentenstelle von einem mittelbaren oder
unmittelbaren Staat>.beanuen im Nebenamte verwaltet >o unterliegt . r hinsichtlich
!>einrr Thatigkeit als \ orsitzender der Kenten»teUe nur der lÜsziplin^U'gcwaU der ihm
im iiauptamtc vorgesetzten 1 )ien>tbeh' irde.
Die Hilfsbeamten der Kenten»telle sind ileamte der Versicherungsanstalt; ihre
Bestellnng erfolgt durch den Vorstand der Venichemngsanstalt nach Anbörang des
Vorsitsenden der Rentenstelle.
§ 82. Die Zahl der Beisitzer betrigt, solange nicht durch die Versicberungs»
anstalt eine gröfsere Zahl bestimmt ist, aus der Klasse der Arbeitgeber und der
Versicherten 'e vier.
Aut di>- Wahl der Beisitzer finden die VurMÜmftcn der 6a, 63 ent»
sprechende Anwendung.
J; 63. Der Vorsjucnde, dessen McUvcrtreier und die Beisitzer sind auf die
t;e wissenhafte Erfüllung der Obliegenheiten ihres Amtes zu verpflichten; dasselbe
gih Ittr die Hilfsbeamten der Rentenstelle, insoweit sie nicht bereits ab Beamte der
Versicherungsanstalt einen Diensteid geleistet haben. Die Verpflichtung des Vor-
sitzenden erfolgt durch die ernennende Behörde (§ 81 Abs. 3) oder einen von ihr
hiermit betrauten xfrentlichen Beamten, die Verpflichtung der anderen Penonen
durch den \ orsilzcnden.
I>uri-li das Matut können über dir keihentolije, in welcher die Beisitzer ZU den
Verhandlungen zu/uziehen sind, P.evtimmungen getroffen wenien.
Der Vorsitzende setzt die den Beisitzern zu gewahrenden Bezüge <)2j fest.
Ihm steht die mmittelbare Dienstaufsicht Uber die Hilfsbeamten der RentensteUe
zu; Disziplinarstrafen gegen dieselben verhängt jedoch, sofern sie bei der Renten»
stelle im Hauptamt angestellt sind, der Vorstand der Versicherungsanstalt, im Übrigen
die ihnen im Hauptamte vorgesetzte Diemtbebörde.
Digitized by Google
lnvalidcnver!»ichc*rung»gc6rU vom IJ. Juli i899> 21^
K 84. Auf ^* Zniielniiig je eine« Vertreten der Arbeitgeber mi der Vei^
sicbeiten bei Entattnag von Gutaditcit finden die Vonchriften de« § 59 Abs. i
ctttspuecbende Anwendung.
I>ie Rcntenstelle ist befugt, Zeugen mid .Sucbventindige imcidlkb sn Ter»
ncfamca.
5 85. Die Kosten der Rcntenstelle ein^^hli^-Mich firr Bezüge des Vorritzenden,
iler Bei^it/rr und der Hi1fst>eamt«-n sowie die Kosten des Verfahrens vor der Renten»
stelle W&iiX (!ir Vrrsicherun;,"<aii^talt.
Dil ^.t ^tlm^lUIiJ; de> |< 04 Ab-. 5 1ind« t < nt>j>ri iiH nde Anwendung. Im
übrigen wirii das Verfahren der kenienstellen durch den Vurüland der Versicherungs-
anstalt geregelt.
}; 86. Die Landes - /.«-ntralbehurde kann Reni> n-iell- ji , wi lcbe ihren Sit/, im
Gebiete des Bondesstaats haben, »tatt der Begutachtung der Anträge auf Bewilligung
von InvaUdni» und Altenrenten and statt der Begutacbtong der Entziehung von In»
validenrenten und der Einstellong von Rententahlungen die Besdilulsfawuqg Aber
diese Antrfige, Entxiehuiigen und Zahlungseinstdlongen Mmie die BeacUufsfasraag Uber
Anträge auf Heitratiser-tattung«!» übertragen. An Weisungin (1.-^ Vorstandes ist die
RentensteUe bei H»- Schlüssen dies. r Art nicht gebunden. Jedoch ist die Rcntenstelle
v. rpflichtft, über di«- Ent/iehun;: li. r R. nte und die Kinstellung von Rentensahlungen
einen l'.«'scli» i(l /u rrbivsm, solern dies vom \'orstande l>cantragt wird.
i>ie im c; 64 Ab*. 5 dem Vorstand der Versicherungsanstalt eingeräumte Be-
fugnis Steht in diesem Falle der Rentenstelle lu. Im fibrigen wird das Verfahren
von der ftlr den Sits der Versicherungsanstalt mstSndigen I.4uides»Zcntralbehörde, bei
gemeinsamen Versicherungsanstalten aber, sofern ein Einverstlndnis unter den be>
triligtrn I^dcsregierungen nicht erzielt wird, durch den Reichskanzler geregelt
6. AUgenMine BeatimmnngMi.
1$ 87. Die Anzahl der Vertreter der Arbeitgeber and der Venicfaerten in den
ürganrn der Venicherungsanstalt mufs gleich sein.
^ 8S. Wählbar zu Vertretern der Arbeitgeber und der Versicherten sind nur
deutsche, männlichr, volljährige, im n</irke der V.-T>,irh.-nangsanstalt wohnende
P<-rsonen. \w wählbar ist, wer cum Amt eine» Schoflen unfähig ist ja des
Gericlit ^ \ <• r 1 .1 ->un>^-}:>->«.-tzes|.
Waliliiar iu Vertretern der Arbeitgeber sind nur die Arbeitgeber der nach
Mafsgabe dieses Ge»et2es versicherten Personen und die bevollmächtigten Leiter ihrer
Betriebe, zu Vertretern der Venicberten die auf Grund dieses Gesetzes versicherten
PerMinen. ^
$ 89. Diejenigen Versicherten I, 2, 14), welche ab Arbeitgeber versiehe«
nmgspflichtige Personen nicht blofs vorübergehend beschäftigen, werden bei der Bil*
dang der Organe der Venicherungsanstalt den Arbeitgebern zugerechnet.
§ 90. Die Wahl der Vertreter der Arbeitgeber und der Venicberten erfolgt
auf runf Jahre. Die Gewählten bleiben nach Ablauf dieser Zeit solange im Amt,
2KS
hin ihre Nachtulgrr <la» Amt an|;ctretrn habrn. Die Aua»rhi'ideii<J<*n »ind wieder
w&iillKir.
I'.T><>Il.-n. Wrli lir -ii.- W .ilil . ilitl.- /.ul:i->l;^rii Ciruiv! O4 U i >l--l Iii -n olltlf
nu^'-iHlr l'.iit-i. liiil(ii;;mi^' /II lii 11 >it/iin;^' II iiivlit i' rht/.-iti^ M'1. .-iiit, ibl-i) <j'i'-i ilifii
Obliej;<-nln itfn in ;uui«-rfr \V<'is<- iidt cni^iclun. k.<nn-n vom \ OrsUzcinicii des Voi-
standes mit Geldütnfr bis jeu fünfhundert Mark und. wenn ei» »ich um B<*isitz«r der
Rentcnstrllen bandelt, vom Vorsitxcnden der Rentfustolli* mit (!e)d«tFaf<> bi« zu ein»
huadertundfltnfsig Mark Wiegt wer4]«n.
Kommt eine Wahl nicht 4U stände oder verweigern <lie Genrähhen ihr I>ien»t*
Icistung, so hat, s>oI.in;,'.- und «>weit »ti- ^ i!. r l all ist, die Tür ih n Sit/ .ie» Organs
ziisthnHif;.- untfTf V.■r^*.ll^un^^b'•llordc die Vertreter aus der Zalil der Arbeitgeber
und di-r N'i tsii !n rt> n ni ••nn-nnrn
§ 91. Werden liiii.>irlitlii h rin< > ( i. v\ dilt'-n 1 liaT-.i !!■ ti !>• k.uitit , w.-l. lif
dessen Wählbarkeit nach Mai>^ahe die>cs Gf>.i<te«. au.s>clilicisrn o.lcr wolcln* »ich
als grobe Verletzungen der Amtspflicht darstellen, «o ist der Gewählte, nachdem ihm
Gelegenheit zor Aeu^'rung g<^ben worden ist, durch Beschlufs de> Vorstandes
seines Amts zu entheben. Gegen den Besuchluf« ist innerhalb eines Monats Be-
schwerde beim Koichs« Versicherungsamt zulässig; sie ist ohne aufschiebende Wirkung.
|j 02. (r.lirciiKint. r ) Dif d<Ti ( 'r^aneri der Versicli< run;:^an>taU aiiij -Iii ri.-nden
\''-rlr<-l>-r <]< r Ar;i. it;:< h< r utid d. r \'< r^Kli. rli-n v>TW;\U' n iiir Amt al- tlir>-namt
und i-rlialt'-n nat h niUi< ri r l?i->tiininuti^ d<-> Matiit^ Kr>atz liir hurr Au>la^; 'ii. die
N'crlfcter der Vcr.sii ln rt< n auUerdt-m < infn rauM'lilK-jraj; lur /oitverlu.'.l odr-r Kr»aU
für den ihnen entgangenen Arbeitsverdienst. Den am Orte wohnhaften BeisiUem
der Rcntenstellen aus dem Stande der Arbeitgeber kann unter Wegfall des EisaUes
fUr bare Auslagen ein Pauschbetrag f&r Zeitverlust durch das Statut zugebilligt
werden.
9^. (Halbing der Mitglieder der Or};ane. , l>ie Mitglieds d.-r < )i;^'ane haften
dor \ iT>ic lif-run;:sans(alt für getreiu- ( i<'M halt-.\ erwaltiin;; wi.- Vomuindn ilir^-n Mün-
deln inid untf rli- i,< n, w «'iin sie absichtli. li /um Naoliteilo »ier Vcrsicheraiigsuii>talt
handeln, ilcr ssialhi >{iuHiuinjj il<-> J< j<i6 do Mratpoct/.hucli-.
§ 94. (ALdcliuung der Wahlen.) Wahlen tu Lhrenämtern können vi>n den
Arbeitgebern der nach Mafsgabe dieses Gesetzes versicherten Personen und von b^-
voUmicIitigtvn Betriebsleitern solcher Arheitgelter nur aus denselben Gründen alige-
lehnt werden, aus welchen gentäfs ^ 1786 Abs. t ZilTer 3 bi» 4 und 8 de» Bürger-
lichen Gesetzbuchs das Amt eines Vormundes abgelehnt werden kann. Die Wahr»
nehnum^' eine?, auf < i n 1 A- - : {^enw&rtigen Geseires oder d.-r rnfallversirli. runsjs»
<;i-Nef/. od- r rl. > kj.iiik- iu<-r>iLlierunp>};es>-l/e>, üliertragenen l'luenaint> >t'dii d.-r
Kuiuung einet Vornutndseli.itt ^deuh. Durch das Statut i§ 70) können noch andere
.Ablehnuugng runde IcslgocUt werden.
Die Wiederwahl kann für eine Wahlperiode abgelehnt werden.
§ 95. So lange der Vwstand oder Ausschufs noch nicht gebildet ist, oder so
lange diese Organe die ErfUlltmg ihrer gesetzlichen oder statutarischen Obliegen-
hetten verweigern, hat der Vorsitzende des Vorstandes die letzteren auf Kosten der
Vemcherungsanstalt wahrzunehmen oder durch Beauftragt« wahrnehmen tu lassen.
lnvaliUi'nvcri>iclHTung»ge.sct£ vom 13. juli 1^99.
219
§ 96. (Abstimmung.) Bei Abstimmung der Organe giebt im Falle der
SUmmeagleichhcit die Stimme des VorsiUenden den Ausschlag.
§ 97. (Unbehinderte Ausflbnng der Funktionen.) Die Vertreter der Versicherten
haben in jedem Fall, in welchem sie xur Wahmefamong ihrer Obliegenheiten berufen
werden, die ArbritgrlxT hiervon in K'-nntnis zu srt/.n I>ii^ N'iclitlfistung «ler Ar-
brit wrilirrn«! dt-r Zeit, in \i . Iclif r dir br/.richniMf ri P<tmiii- n iluri Ii fii.- \\ .ih; n- lmning
jener < iblieccnh' it.-n .<n der Arbeit verhindert >ind. b» r<-, lai^'? !-ti \rb' ii^ -Ii, r ni' ht,
das Arbeitsvcrhaltnib vor dem Ablauf der vertragüniäUigcn Dauer do^clben aufzu-
heben.
§ 98. (Bearatenpers«jnal. I Den bei der Vcrsichcrung^aiistall und ihren Or-
ganen im Hauptamt besch&fUgten Bureau», Kanxtei« und Unterbeamten sind. soweK
sie nicht nach dem für sie geltenden Landesrecht als Htaatt- oder Kommnnalbeamte
anzusehen sind, nach nSherer Bestimmung der Landesregierung die Rechte und
Pflichten von Staats« oder Kommunalbeamten n übertragen.
§ 99. (ROckversichemngsverbinde.) Mehrere Versicheranstalten können verein-
baren, die I^ten der Invalidenversicherung ganz oder zum Teil gemeinsam /u tragen.
7. Veränderunp^en.
J{ :c>0 Verhuilerungen der Bezirke der Vorsicherunu-aiistalten sind zulii^-i^;, nO-
lerii sie von dem Au^-fhuf- einer befeilif;ten Wr^ii li.nin;.'>.iii^t.ilt mb r vd» det k<r-
girrung eines Üuiul« 5>iaat3, dessen (iebiet (be \ rr>u lierunj4>anilall ganz txicr teilweise
urofafst, beantragt und von dem Bundesrat genehmigt werden. Vor der Beschlufs*
fassung Uber die Genehmigung sind die Ansschti»sc der beteiligten Versicherungs-
anstalten, sowie die Regierungen derjenigen Bundesstaaten, deren Gebiete bei der
Verinderung beteiligt sind, su hören. Bei Versicherungsanstalten für die Bezirke
weiterer Kommunalverlwndc vind auch die Vertretungen der letzteren befugt, Anträije
auf \'eränderungen zu stell. n , vor der ( ienelnnipiinq von Ver.nnderungen der B-virke
solcher Versieherun^san.stalteu müssen die \ erUctungcn der beteiligten Kommunal»
vcrbänile jjehort werden.
blinc Zuiiaiiuuenlcgung , i'cilung «>der Aufhebung bci>tehender Versicherungs-
anstalten bedarf der Zustimmung des Reichstages.
Die VerSnderung des Bezirks einer Versicherungsanstalt, welche nur die Folge
einer Verinderung des Verwaltungsbezirks ist, für welchen die Versicherungsanstalt
errichtet wurde, füllt nicht unter die vorstehenden Bestimmungen.
§ 101. Scheiden örtliche Bezirke ans dem Bezirk einer Versicherungsanstalt aus,
so verbleiben der letzteren in vollem L'mfan^'c das bis zum Zeitpunkte des Aus-
sch< i<1ens angesammelte Vermögen sowie alle bis zu diesem Zeitpunkt enistandeaen
Verpflichtunjjcn.
Führt die Veriuidcrunj; zur Auflösung der \'er-.icb>run^san^tult, so jjelit d-ren
Vermögen mit allen Recliten und l'ilichteti, .sofern da.s!>clbe nicht von den beteiligten
Landesregierungen denjenigen Veraicherungsaniitalten, welchen die Bezirke der auf*
gelösten Anstalt Überwiesen werden, Übertragen oder mit Genehmigung der beteiligten
Landesregierungen %'on einer Versicherung:«ansta1t übernonunen wird, auf den weiteren
220
KommimalverbBnd bezirhaiif(swrise Bimdc«itaat, bri femdnMmcii VerridMnnc»-
aasteltrn anteilig auf ilir Kntnmiiiialmbiiidc oder BmideistaateB fibcr, flU welch«
die Vrrsichpninpsanstalt rrrichtet war.
l>»r rrnf;in<,' in wrlclu-m bri Aufl<'^unp einer grmcinianirn Vrrsiclierungs-
anstiAlt dir Kommim.iK . rl>:iii<!f «.«Irr HurKlrNstaaten an dem l>berjjangc des Ver-
mögen» zu iK-u-iligf n Mnti , wird , solem darüber eine himgong aicbt susta&dc
kommt, durch den Buidesnit oder, wcim mir Kommonaheifaiade eine» BimdwtMUi
beteiligt sind, durch die Landet-Zentralbehörde beidiDait
§ J02. Streitigkeiten, welche in betreff der VcriitogciisaBaeinandersetmug
switchen den beteiligten Venidierungsautalten cntitcfacn, werden mangeb Vcr«
ständigung Uber eine schiedsrichterliche Entscheidang von dem Reichs* Venichenmgs-
amt entschieden.
C. Schieds{*erichtc.
I5 ;o3. 1 ur den bezirk jcdrr V ersicbi-rungsaiisUlt wird utmde&tciu ein Schicds»
gericht errichtet.
Die Zahl, die Bezirke und die Sitse der Schiedsgerichte werden von der Zen-
tralbehörde des Bundesstaats, in dessen Gebiete die Versicherungsanstalt ihren Sitx
hat, bestimmt. Für gemeinsame Versicherungsanstalten wird diese Bestimmung, so-
fern ein Einverstfindnis unter den beteiligten l^andesregierungcn nicht enielt wird,
vom Reichitkansler getroffen.
(} 104. Jedes Schiedsgericht besteht aus einem ständigen Vorsitzenden und aas
BeiMtzem.
I)cr Vor>itzende wird aus der ikr nüontli. lif 11 H» aimr-n von der Zentral-
l'i ht'fdf dt s Huiidt sstaats, in welchem der Sitz do .V iiietl^^cnclit!- belej^'en ist er-
nannt. Für den Vorsitzenden ist in gleicher Weise mindesleos ein .Stellvertreter zu
ernennen.
Die Beisitzer werden in der durch das Statut bestimmten Zahl von dem Anif-
Schüsse der Versicherungsanstalt, und zwar zu gleichen Teilen in getrennter Wahl-
handlung von den Arbeitgebern und den Versicherten, nach einfacher Stinunenmehr-
heit g<\v:ddt.
hie llilthlieatnten des Schied>>j:;eric!it!) >ind Beamte der \'er>ichenin[j>an-stalt ;
ihre Bestt lUiiig erfolgt durch den \'nrvtan<l der V'ersicberungsanstalt nach Anhörung
des Vorsitzenden ile^ Schied-^ericht>.
Die Bestimmungen im ^ 62 Abs. 3, 64 Abs. s, § f*^ -Vbi». l, 3, S7 bis 92
Satz 1, 94, 97, 98 finden mit folgenden Maßgaben entsprechende Anwendung:
t. die Mitglieder des Schiedsgerichts dürfen nicht Mitglieder des Vorstuides,
Vertreter der Arbeitgeber und der Versicherten bei einer unteren Verwal-
tungsbehörde oder Beisitzer einer Kentenstelle sein;
3. die Enthebung eines gewählten Beisitzers erfolgt durch den Vorsitsenden
des Schiedsgerichts, vorbehaltlich der Beschwerde an die höhere Verwal-
tungsbehörde ;
^ i.y Google
Invmlide&venichenwgagesoU rom 13. JbU 1899.
221
3. die Auferiegung der Kosten gemäf» § 64 Abs. 5 erfolgt durch den Vor»
sitsenden des Schiedmcriclita.
§ 105. Name und Wohnort des VorsiUenden und äciner Stellvertreter sind im
Bnirke des Sdueibferiebts von der Laiides*Zentralbeliörde amtlich ta ▼eröflentlidien
«ad dem Reiehs-Versidienmgmnt nitiateilen.
§ 106. Der Vorritsende beraft das Schiedsgericht und leitet die Vcrhandlongea
desselben.
Das Schiedsfericht ist befugt, Zeugen tnnd SachverstEndige in vemehmea, und
Ihre Aussagen eidlich erhärten zu lassen.
Das Schiedsgericht entscheidet in der Besetzung von fünf MitgUedenii onter
denen sich ]r zwei .^rbrit^ehi-r und zwei Versicherte befinden müssen.
Die Enlbcheidun^;'-!! lies .Schi<-dsp'Ticbt> crfolgrn nach Stimmenniflirli<Mt und
»oUen spätestens inacrtulb drei Wochen nach litrer \'erkünduag den l'artoien zu-
gestellt werden.
Die Zttsidning der Beisitser erfolgt in der Regel nach einer im voraus auf-
gestellten Reihenfolge. Die Bestimmung des § 83 Abs. a findet Anwendung. Will
der Vorsitzende ans besonderen Gründen von der Reihenfolge abweichen, so sind
(fiese aktenkundig zu machen.
Im übrigen wird das \'frfal>rrn %or ilmi .Schiedsgerichte durch Kaiserliche Ver-
ordnung mit Zustimmung des Bundorat'» geregelt.
^ 107. Die Kosten de^ Schi>-<l>rj.Ti<!ht^ f'in-.<-!i!it-Nli Ii d<T Pxv.ü^'f d'-r B-i-
sitzrr und ib-r Hilfsbeamten sowie die Kosten de» Verfahrens vor demi,eU>en trägt
die Versicherungsanstalt.
Dem Vorsitzenden des Schiedsgerichts und dessen Stellvertretern darf eine Ver-
gütung von der Verrichemngmnstalt nicht gewählt werden.
Ueber die Beschaffimg der Gcschiflsiftame und GescbiftsbedOrfhisse des Schieds-
gerichts wird vom VorsitaendeB im Einvernehmen mit dem Vorrtaade der Versiche-
rungsanstalt Bestimmung getroffen. Bei Meinungsverschiedenheit entscheidet die
Lande«.Zentralbehörde des Bundesstaats, in welchem der Sita des Sctiiedsgerichts
belq(en ist.
D. Reichs-Versicherungsamt und Landcs-
Versicherungsämter.
§ 108. (Reicha-Venkherangsamt) Die Verrichemngsuastallen unterliegen der
Beanfsiditigang durch das Reidis-Versichenmgnint. Das AnMchtsreeht des letatereo
entfcekt aidi auf die Beobachtaag der geaeldUehcn nnd slaintafiaehen Von^Aen
Alle Entscheidungen des Reichs- Versicherangmmts sind endgültig, sofweit in
dicaem Gesetz nicht ein Anderes bestimmt ist.
Das Reichs- V^ersicherungsamt i>t befugt, ji'dfrz<*it eine Prüfung der (iosrhäftÄ-
fUlirong der Vrr?iicherungsanstalten varzun'-hm'-n Dir Mitglieder <l<:r Vorstände und
sonstigen Organe der N'crsicbcruttgsanstaUcn sind auf Erfordern des Reichs^Versicbe-
rangsamts verpflichtet, ihre Bücher, Beiige, Werlpapiere und Geldbestlndc sowie
222
CivM-t/ßrhunR: I>rutMbrH Krirh.
ihr« «uf <1rn Inhalt drr Bücher und dir Fr«>t<>rtziinj; drr Kent^fti «>tc. briQglichen
Srhrirt«tiic1cr vorzulrgt-n und dir i>onsit|;cn Mitteilungen zu machen, die zor Aus-
iiliuni; des Aursichtsrtrhts als erforderlich erachtet werden. Das Keich»*Ver»irhe>
runjisanrt kann die-«- II < ii h^T^u sowie i\it Hrlolpung <It r ^. -i i/li hen and statuta*
fischen \'ur^< Viri1t' ii iiur< h < f liKiralcn bis zu cintausrntl Mark an! ih -n
5; 'OM I Kr ic (i- -\'.-rvi. Ii, riii»;:-.init «-ntM liri i. t untu s. |i,i<irt i','-r k'-i iitf
l'Ut!> i , Au t >Ui U\^kr\U-n. It' vir il .nil <ll'- K- ■ lU'; m\il l'tllrhtcil d<T < >r<^ .»nr
drr VtT>itli<-nmj;s;kn*taltrn «»wie «Icr Mii<:lnii<r «ln-rr iJr^.mc, aui Au%l'^ung
(U-r Statuten und auf die tHiltigkeit der vullzogmen Wahlen, soweit ttlier letztere
nicht nach tij Abs. 3, j$ 77 Ab». 3 und {$ 82 Ab«. 3 zu befinden ist. beziehen.
Auf die dienstlichen Verhältnis« der auf Grund de» fi 74 Abs. I b«»tellten
und der im $ Si 2 tiexeirhneten Beamten findet diese Vorschrift keine Ati>
w«-ndun{;.
!; Mo. 1 hl- 1 11; -. lir i.lini;:!-?! i!< s K- i. h- -\'iT-i> li, ruTi;_''-:niit'- <-rti>lj,'fti m i|i-r T'.•-
^• •/un)^ •.Uli rnniil<-xt< Iis \irr Mil ;1ii-.|<tti iins-liIi'Nli, Ii lir- \'. >; -n/. iii !--n. ijrn<T w<-l. li'-n
^ilh jc rill \ rrtrrtrr »it r Arlicii^t lif r und der \ ersu licrtrn iK inuU n mui>, un«l unter
Zuziehung eines richterlichen Beamten, wenn ei steh handelt:
1. um die Ent>cheidung über eine Anfechtung von Be^chlü-sen der Organe
<ier Versicherung^an^talten l{| 75),
2. uro die Ent'icheidung vernvigensrechilicher Streitigkeiten bei Veränderungen
de- Ri -i, indes der Ver>ioli' ruti^-an>talten i§ I02),
3. imi [ r^.it/.«n-xpräche g«^en BcrufsgeniKsen^liaften (§ 23 Abs. 3, 113,
:jS Abs. iL
4. kill) «In i- iUm li«iiiuii^ auf koviMomrn j^i^^fn ilie i.ntNcheidungen der Schied—
tl*''^'<'l't*" ' '6).
BevchlifüNe , durch welche Revisionen ohne mündliche Verhandlung zurück-
gewiesen werden if} 117 Abs. 2^ erfolgen in der Besetznng von drei Mitgliedern,
unter denen sich je ein Vertreter der Arbeitgeber und der Versicherten befinden mnfs.
Als Vertreter der Arbeitgeber and der Versicherten gelten aucli für «Ir-n Bf--
r< u h (liox s vft/. v die auf Grund der UnfallTersich<'run'^'-':' sct7,c /u nichistan<ii^<-n
N!if;;!ir(lt rü d<'> Kcicli-. - Vrr-irhi rurit^vaiiits ^i-wülillni V< rfr<--UT ilcr Hctrirb'<unt«"r.
nriiiiu r und der Arl>'-it<-r, oluu- r-cscIiraTikuii^ aiil die ATii;t'l<';;''nlR-it<Mi iliro Ih-sotv-
dt rcn H< ruf>/.wciys. Uie Enthebung eines Vcrtreltrs der ,\rlK-Uj;pbcr oder der Ver-
sicherten (§91) erfolgt durch das Reichs •Verstcherungsamt.
Im übrigen werden die Formen des Verfahrens und der GeschSAsgang des
Reichs- Vertiicherungsamts durch Kaiserliche Verordnung unter Zuo<timmung des Bundes-
rats geregelt.'
S{ III. fLandes-VersicherungsSmttr. Sod-m lur .la^. Ci.-birt eines Bundes-
Staat- ein I.aiidi s-Vcrsirhcnmjjsamt erri< litct i-t >»2 de- l iilalK (■r>ichcrunpsge-.rtzrs,
100 d< s ( M'>tt/i s votii J.Mai iSSo, Ri-irlis < lesft/bl. S. I ;2 1 unterlirjjen di>>ieni:-'T)
Vcr<iictKTUtij;s.itistaU«;n, wcii !ir su h übi-r das (ii bi< ( dieses Hundesstaats nirht hinaus
erstrecken, der Beaufsichtigung durcli das Landes- Versicherungsamt. Auf die Landes-
versicherungsamter finden die Vorschriften der §§ 108 bis tio entsprechende An-
wendung.
Inval^dvnvrr^iche^l»gü|{esetx vom 13. jali 1899.
223
In dm An^;< Irj^c-nhciten der drn Landes- Ver^ichtningsamtcm unterstellten Ver-
sichenniKsiinNtaUen grhen die in dm 72, 91. 102, 127, 140, 156, 161, 178 und,
sofern auch die in Anspruch genommene Berafsgenossenschaft der Anfricht desselben
Landes» Vendchenrngsamts unterfteUt it4, die im § 23 Abs. 3, $113 Abs. 6 and
1$ 128 Ab>. 3 dem Rdichs-Verstcbeninesamt übertragenen Zuständigkeiten auf das
Landes- V»-r>irh«*ranp'-amt i;l»<T.
f'ir Kcirirn n Vrriiihr< ns uml ih r ( 'j» -. häft>-f»;ing bei dem Landes «Versiebe-
rung«amt werden durch die Landore^icrung geregelt.
§ I!2. (Feststellung der Rente. 1 FVr A!i<|iriii-h auf Bewill i<:unf,' « iner Rente
imt'T rinrf-icliini}: i!- r .air l'.< «^riindiinj: dit ii. nd< n ll-w- !*.stiu ki-. in'.lxxuxlcre der
l'-'^t' !i < Juiuuii^;-k.irt'- <j i ! 1 bvi der ti'.r drn Wnlinort ikI.t Iii •.fliiilii^^un^'sort Ars
\ e r-K )it rt* n und, wenn '-r < iTi.-ii solchen im hdiiml'- nioln m -hr liat, l»< i <1it f ür
seinen letzten Wohnort od<r tl<'NchuUiguug-«urt /u^tiiiidigcii uiucren Verwaltungs-
behörde oder Rentenslelle annunelden. LHe I..andcs«Zentralbehürde i«t befugt, anzu*
or«1nrn, dafs die Anmeldung bei einer anderen Behörde rechtüwirksam erfolgen
darf; letzteie hat die Anmeldung an die (Hr ihren Bezirk zustindige untere Ver»
waltungsbehörde od' r Kentcnstelle weiterzugeben.
I>ic untere \ t rw.iltuiif;sl>eh')rde oder Rentenstt-ll«- hat dir /.ur Klartttellottg des
}:vf 'h.iUi rrf, ,r4, rlii-li<-n Krh<*l)Uiij:>-n an/ustdlen und dir V'rrh.nu'Jr.nf^rn nut ilircr
|i;iHa( htiu heil Arniv.-riin[: 57 l>is 5g, -y, S4 AI». 11 dem Vorstande der lür ihren
I^.ez)rk zuständigen Vcr»iclK-rung>aDstalt zu ubcrsciirlm.
Glaubt der Vorstand dem für die Gewährung einer Rente abgt grbeneii Gnt«
achten der unteren Verwaltnngsbehi>ide oder der Rentenstelle nicht entspredien an
können, hO i«t die Sache, soweit es sich um die Frage der Versicherungspflicht
(§§ I bis 7) oder des Versichcrnngsrechts ift 14J oder uro das Mafs der Erwerb»»
Oiltii^krit drv Kentenbewerbers l§§ 5, 15, 161 handelt, an die untore Verwalttmgs-
brhurdr Kdcr dir krnten«trl!<- /.ur Anhörung: der Beisitzer 59 Abs. l) zurück«
zugeben. tuV.- h'/xm- TK"h nirlit ^rViurt -ind.
Wird lirr angrmrlilrti;- An>{^riu h anrrkannt, >o dir Huhf und der Beginn
der Rente >orort fotzuätrllen. Dem Empüngsberechtigtcn ist &odann ein schrift»
lieber Be>>cheid zu erteilen, aus welchem die Art der Berechnung zu ersehen ist.
Wird der angemeldete Anspruch nicht anerkannt, so ist derselbe durch schrifl«
liehen, mit GrUnden zu versehenden Bescheid abzulehnen.
§ 113. Die Annahme, daf& die Erwerbsunf-ihigkeit durch einen narh «Im Uti-
fallvrrsirhirimp^prsi-t/.rn m ent-rhridicrndrn Inlall verursacht i.st, brgriindet nicht
dir drs .\nv|iru<h» aut ln\ alidrnrrntr. f s ist virlnirhr, -.(»(»-rn itii iihrijjcn
dir \ .irau-v-ruun^;. II. unirr drn« n tine Invaiidcnrrntc bewilligt werden darl, vor-
liegrii, dioc Keutc IrNtzuslellen.
Ist Kodann die Invalidenrente filr einen Zeitraum gezahlt, fllr welchen dem
EmpflUiger ein Anspruch auf l'nfallrentc zusteht, so geht dieser Anspruch insoweit
III. Verfahren.
224
GrseUgrbung . DeuUche» Reich.
aaf die VenicheniiigMiMt»lt ttber, als die gewSbrtc Invalidenrente die zu geirührende
UnfiUlrente nidit UbentteigU
IHe VcrsicbenmipanftBlten aind berechtigt, die an Stelle des VerletiAeB die
Feststellung der Unfallrentc, soweit diese noch nidit erfolf^ ist. zu h<^antra;en und
nötigenfalls das durch di'- I nUilh r rsii-herungspcsH/.»- vorgrschriebene Verfahren durrh^
zuführ'-n, auch an Stell.- df-. Verletzten Rerht>niitt<-I eiii/.u1'*i;en und iwar ohne
kücksu ht auf Kriüten, wrl< iir ohne ihr VersrhulrU-n vrMrn li<-i) >ind.
Die Vcr»tchcruug»anbtaltcn sind auch dann berechtigt, nach Ab». 3 die I-est-
itellnng Ton Unfallrenlen herbciaufllhren, wenn ab Folge hienron ein Töllige^ oder
teQwei$es Rohen der Invaliden» oder Altersrente eintreten wflrde.
War in den Fillen des Abs. l von der Versidienu^sanstah ein Heilverfahren
eingdeitet, so finden die Bestimmungen des § ai entsprechende Anwendung
Streiti{;keiten aus .\nluts des Eftattanapruchs (Abs. a, 5* werden durdi daa
Reichs-Versicherungsamt cntsrhi.-den.
§ 114. Gegen den Bescheid, durch vi'-lch«n der An>pri:.li aul In^alid'^n- olfr
Altersrente abgewiesen wird, sowie gegen den Bescheid, durch welchen die Hohe
und der Beginn der Rente festgestellt wird, steht dem Rentenbewerber die Beratung
«nf schiedsgerichtliche Entscheidung sn. Die Bemfnng hat keine «afüchiebende
Wnknng.
Zur Entscheidung ttber die Berufung ist dasjenige Schiedsgericht berufen, das
filr den Bezirk der unteren Verwaltungsbehörde oder Rcntcnstelle snstindig ist. Die
Berufung ist bei Vermeidung <1> n .Ausschlusses innerhalb eines Monats nach der Zu«
Stellung des Bescheides hei liirscm Schied sg.rs lit ein/.ulft^.-n
Die Fri^i gilt auch dann als gewahrt, wenn luucrhalb »ler^elb.-n .iie Berufung
des Rentenbewerbers bei einer anderen Behörde eingegangen ist, leuti-re hat die
Benfungsschrift nngetEumt an das auftindige Schiedsgericht abzugelten.
Der Bescheid nmb die Beseiehnnng der BerufiaigBfrist und des Ar die Be-
mfnng sHtiiMUgen Schiedsgerichts enthalten.
Eine Ansfotignng der Entsckeidung des Schicdsgerichu ist dem Rentenbe»
Werber sowie dem \'orstande der Versicherungsanstalt zuzust'-lb'n.
ß 115. Das Schiedsf^friiht hat wenn es den Anspruch auf Rent'- fiir (.«■t^rund'-t
erachtet, /ugleicli die Holte uini Iti li<-c;inii der Rente fest/Ustclien. Hat das Schird«-
gericht in besonderen Ausnahmeiailen. welche das Keichs-X ersichcrungKamt n.ihcr
bestimmen darf, den Anspruch auf Rente nur dem Grunde nach anerkannt und nicht
gleidueit^ Aber die Höhe nnd den B^nn der Rente entschieden, so hat der Vor-
stand der VersicherungsaMtalt in denjenigen Fillen, io welchen daa Rechtsmittel
der Reviuon eingeigt wird, vorläufige Rentnnbetrige unveni^lidi zu bewill^en.
Gegen die vorläufige Bewilligung von Rentenbetragen findet ein Rechtsmittel nicht
statt. Sobald der Anspruch auf Rente rechtskräftig feststeht, hat der Vorstand deren
Hohe und Beginn, sofern dies nicht bereits früher ;^eschehen ist, feMzustellen i)li2).
Die vorläufig gezahlten Beträge werden auf die euügiiltig angewiesene Rente an-
§ ti6. Gegen die Entscheidung des Schiedsgerichts steht beiden Teilen das
Rechtsmittel der Revision so. Die Revision des Vorstands hat aufiichiebeade Wir-
gerechnet.
lavalidenversicherangsgeieU vom 13. Juli iii99> 225
kuag iiitoweit, als es «ich um Betrüge haaddt, die fikr die Zeit vor dem Erlab der
ugefochteneii Entscbeidoog oechtrigiich gezahlt werden soUea. Im fUirigeB hat die
Rerision keine aatschiebende Wirlniag.
Ucbcr die Revision entscheidet das Reichs-Versicherutigsamt. Das Rechtsmittel
ist hei demselben 7Mt Vermeidunj des AupschJus^f> innerhalb eines MhikUs nach
der Zustellung lior Kntsi hi-iduiiij (ies S< hi!''!>;i:^erichts einzulegen; die Besümniung des
§114 Abs. J lindct entsprechende Anwendung.
Die Revision kann nur darauf gestutzt werden;
1. dafs die angefochtene Entscheidung aaf der Nichtanwendung oder auf der
anrichtigen Anwendung des bestehenden Rechtes oder auf einem Ventofse
wider den klarea Inhalt der Akten beruhe;
8. dafs das Verfahren an wesentlichen Mangeln leide.
§ 117. Bei Einlegung der Revision ist an^u^eben, worin die Nichtanwendung
o<lcr die unrichtige Anwendung; di-> bestehenden Rechts oder der Vcrstof» Wider
den klaren Inliait der Akten oder worin die behaupteten M;ingel des N'- rfahreij« i^e-
funden wftdt-n. I Keirh^-Wrsicherungsamt ist bi.i - -iner Entscheiduuj^ au dic-
jcnigen CJrundc nicht gebunden, welche zur Rechtfertigung der ge&teliten Antrage
geltend gemacht worden sind.
Fehlt die Angabe solcher Grttnde oder ergiebt ^ch aus der Prüfung der An-
trJtge. dafs die angegriffene Entscheidung nicht auf der (fichtuwendung oder un-
richtigen Anwendung des bestehenden Rechts beruht, sowie dafs das Verfehlen nicht
an wesentlichen Mängeln leidet und dafs ein Ve^stof^ ui b-r den klaren Inhalt der
Akten nicht vorliejjt, oder ist die Revision v»T>r.ritet einj^jelegt. so kann das Keichs-
V'ersicherungsaint das Rechtsmittel ohne mündliche Verhandlunp ruriü kwci^i'n. An-
dernfalls hat das Reichs- Versicherung.satnt nach mundlicher Vcrhandluug zu ent-
scheiden.
Wird das angefochtene Urteil aufgehoben, so kann das Reichs-Verstcherungs»
amt tugleich in der Sache selbst entscheiden oder dieselbe an das Schiedsgericht
oder an den Vorstaad surttdtverwetsen. Dabei kann das Reichs>Versicherungsamt
bestimmen, dafs dem Renteabewerber eine ihrem Betrage nach bestimmte Rente
vorläufig zu zahlen ist. Im Falle der Zuruckverweisung ist die recht Ii die Heurteilang,
auf welche das Reichs- Vcrsictierunpsamt die Aufhebung geStOtZt hat, den weiteren
Entscheidun){en oder Hescheiden zu tirunde zu legen.
^ 118. Die Versicherungsaii-'alt'^n ».ind h»-fugt . von der Riickfnrdt-run^ der
{^emnfs 115 bis II7 vor rechtskraftiger Entscheidung gezahlten Rentenbeträge
abzusehen
lly. Auf die Anfechtung der rechtskräftigen Entscheidung über einen An-
spmdi auf Rente finden die Vorschriften der Zivilprozefsordnung über die VVicdcr-
«ufiiahme des Verfahrens entsprechende Anwendung, soweit nicht durch Kaiserliehe
Verordnung mit Zustimmung des Bundesraths ein Anderes bestimmt wird.
% lao. Die Wiederholung ebes Antrags auf Bewilligung einer Invalidenrente,
welcher wegen des Fdilens dauernder ErwerbsunOhigkeit endgültig nbgelehnt
worden war, ist vor Ablauf eines Jahres seit der Zustellung der endgftltigen Ent-
Archiv für ms. GeceUgebung u. Slatittik. XV. I5
226
Gr»rtzgt'bun^ : Deutsches Reich.
achddnag nur dann zulässig, wenn glaubhaft bescheinigt wiid, daft iniwitchoi Um*
ctäiide ringvtreten sind, aus denen sich das Vorhandensr'in der dauernden Erwerbt-
ut)f:ihigk«Mt ilrs AJitrai:^>;*r'!!'-r<; tTgicbt. Snfcrn eine sokhr F<f«;ch»"inijjunp nirht liri-
j^chraclit w ini. hat dir umerc Verwallungsbchi 'r<ic oi!cr Kciitciistcllc den vorzeitig
wii-drrholtcD Antrag durch Vertugung, gegen welche ein KechtsmKtel nicht stattiindet,
zurückzuweisen.
^ 121. L (.-her die Entziehung der Rente i§ 47i sowie die Kin&tellung von
Rentenzahlungen (§ 48) crlafst der Vorstand schriftlichen mit Granden ni TerKhenden
Bescheid.
Vor der Entscheidung ist die f&r den Wohnort des ReoteocmpfXngers snstEn-
dige untere Verwaltungsbehörde oder Rentenstclle gutachtlich zu hören (§§ 57 bis
59» 79, 84 Abs. I).
Der § :i2 Abs. j und die ^jj I14, II6 bis II9 finden im übr^en cat-
sprechfiul«- .\ r,^v rwiuu^.
vj 122. 1 ier uiitrrtMi X'erwaltun^sbvhorde t>lcr H<-ntf Tist- llr ist von allen auf
üire llft^iita». litung hiti vnm \ orsiaiidc getroflV-nen Fiitscliciduii^'Ln Kenntnis zu gehen.
Sofern Kcntctistcllcu errichtet sind, hat der Vurstand aulserdem der für den Wohnort
des Rentenempfängers suständigen unteren Verwaltungsbehörde ftber die den Be>
rechtigten anstehenden BezCige Mitteilung zu machen. Da* Gleiche gilt beim Eintritt
von VerindeningcQ.
§ 123. (Anszahlnng der Renten.) Die Anssihlung der Renten wird auf An-
weisung des Vorstandes der nach g 112 Abs. 2 ittstindigen Versicherangsanttalt
vorschuf^wr i^c durch die I'ostverwaltuiigcn. und rwar in der Regel durch diejenige
Postanslalt l ewirkt, in deren Hezirk der EmpfanK^berechtigte zur Zeit des Antrags
auf Bewilli^ning der Rente seinen Wohnsitz hatte Der Vorstand der N'ersicherungs-
anstait bat dein Berechtigten die mit der Zahlung der Rente beauftragte I'o»tanstalt
zu bezeichnen.
Verlegt der £nii>faiigsberechtigte Seinen Wohnsits, SO hat auf seinen Antrag
der Vorstand der Versicherungsanstalt, welcher die Rente angewiesen hatte, die
letztere an die Postanstalt des neuen Wohnorts zur Auszahlung zu überweisen.
Die Zentral'Postbehörden sind berechtigt, von jeder Versicherungsanstalt einen
Betriebsfonds ein/uzioheii. Derselbe ist in viertel jährlichen oder inanatlichen Teil-
ralilunf^cn an die den Versichcrunjjsanstalten von der Zentral-rn^thebori'.r' ,mi be-
7ei( '[ui> fiden Kassen abzuführen und darf die für die Vrrsicherunp'^aiiSMlt im laufenden
Rechnungsjahre vorau<;sichtIich ausruyahlendeti Betrnpe nicht uluTsteigen,
§ 124. I kechtiunp^.-N lle ( Die Kcchnung^^!clle des Reichs W'rsicherutjj^samts
hat alle bei dem letzteren nach Mafsgabe dieses Gesetzes vorkommenden rechneri-
schen und verstcherangstechnischen Arbeiten auszuführen. Insbesondere liegt der-
selben ob:
1. die Verteilung der Renten {§§ 125, 174);
2. die Abrechnung mit den Postverwaltungen (§§ 126 ff.) und die Berechnung
des diesen von jeder Versicherungsanstalt vorzuschiefsenden Betriebsfonds
Digitized by Google
Inv»lidciivexsichennigsgescta vom 13. Juli 1899.
227
3. die Mitwirkoog hn dm im Vollzüge des Gesetzes hemsteUcndcii stftH-
ttiscfaen Aibetteo;
4. die MitwIrkOBg bei Festsettoog der Veisieliemgsbeitrilge 3s).
Des Reichs-Versicbeni^lSMiit bestinmitt welche MittcUangca der RedmoBgaitdle
m diesen Zwecken von den Wrsichcrungsanstaltcn zu machen sind.
125. fV^crteilung der Renten. 1 r>if Rechnungsstelle verteilt (\\c Renten auf
das Reich, das Genacinvennogen und auf das Sondervcrmogcn. Dem Reich sind für
jede Rente fünfzig Mark Zuscliufs (§ 35) un»l für jede ohne Beitragsleistung in An-
recbnuDg kommende Beitragswoche bis zu anderweiter Feststellung durch den
Bundesrat ein RcntenantMl von achtzehn Pfennig zur Lest su k-gcn 40 Abs. 2).
Die Steigemngssltse der Invslidenrenten sowie ein Viertel der Altersrenten
sind von dem Sondervemögen der eintclnen Versicberangsanstalten, nlle übrigen
Rentenanteile von dem Gemeinvermögen zu tntgen. Die Steigerangsbeitrl^e fallen
derjenigen Anstalt «ur Last, welcher die entsprechenden Beiträge zugeflossen sind;
da^ Viertel jeder Altersrente ist nuf difienicrrii An'italtcn ?u verteilen, welchen die
Beiträge für den hetreflTenden Rentenempfänger rui^ctlosscn sind, und zwar im Ver-
hältnisse des Wertes dieser Beiträge. Der anw^cisenden Versicherungsanstalt sind
die dem Sondcrvcrtnugen einer anderen Versicherungsaastalt zur LasI fallenden
Rentennntcile nm Sdilnsw des Redinnngsjshres mit ihrem Kapitnlwert einmnUg sn
erstatten (§ 196).
Znr Feststellnng des Mofsstnbs, in welchem die im «bgelanfenen Rechnnngs-
jahre [;e/ahlten Rentenbetrige der Post zu crstitten sind, ermittelt die Rechnnngs-
stellc für jedes Jahr und für jede Versicherungsanstalt den Kapitalwert der von ihr
zur Zahlung angewiesenen nnch laufenden Renten sowie den hiervon anf das Reich,
das Geincinvermo^en und auf das Sondervermu^en der einzehi.-n \ I•r^i^i '-rungs-
anslalten entfallenden Anteil. Leber die Berechnung des Kapitalwcrts trifft der
Bundesrat Bestimmung.
§ 136. Die Zentral-Postbehdrden haben der Redumngsitelle NadiwetBongea
ttber diejenigen Zahlnngen, wdche im verflonenen Rechnungsjahr auf Gnmd der
Anweisungen der Versichenugsanstalten geleiatet worden sind« zuustellen. Die Rech«
nungsstellc hat die vorgeschn5«enen Beträge nach dem gemäfs 125 Abs. 3 fest«
gestellten Maf^stab auf das Reicli, ias Grineinvermögen und das Sonde rvermoc^en
zu verteilen. ! »ic liiernach auf das < iLiiieiiivcriiiui^'Hfi samtlicher .\nstalten cntfallcndcD
Zahlungen sind von den einzelnen Versicherungsanstalten im Verhältnis der iur die
Gemein last bestimmten Teile ihres Vermögens an erMattea.
Auf Gnmd dieser Verteilung hat die Rechnmgsstelle jeder Versidierangsanstalt
den Betrag mitsuteilen, den diese ans dem ftr die Gemdnlait bestimmten Teile
ihres Vemttgens einerseits und aus ihrem Sonderveimögen andererseits sn erstatten
hat; dabei sind zugleich die gemifs % 135 Abs. 2 von den eiacelnen Anstalten ein*
ander sn erstattenden Kapitalwerte ans dem abgelaufenen Rechnungsjahre festzu-
stellen. Die den Bt-rechnungen zu Grunde liegenden Zahlen sind anzugeben. Gegen
die Verteilung und .Vbrechiiung ist die Beschwerde bei dem Rcichs-Versicheningsaint
zuläs&ig. Leber die dem Reich zur Last fallenden Beträge ist dem Rcichskauilcr
(Keiehsamt des Innern) Vorlage sn machen.
15»
228
Ge:»eU){'^l>"ng DeuUcki<*^ Reich.
Den SÜCDtral'Postbehorden hat die Rcchnuagsritelle mitcnteileo, welche Betrige
von dem Reich und roa den einceloeii Versicheningsansulten zu entauen sind.
§ 137. (Erstattung der Vor^ husae der Postveru altiint^rn ) Die VanichentagS'*
anstalten haben die von der Reciniun^sstelle ihnen roitgctliciltcn Beträge t§ 126) den
Postverwalhns^'cn binnen rwi-i ^^ »ohen nach Kiiiijani^ «I-t Mitteilung zu ersfattrn.
Dir Krstattuu^ erfi)!;^t :iu> den i)pr<'itrn Mittfln iler An^tAlt. -Sitnl solche nicht vor-
handen, so hat der weitere Kommunalvcrband beziehungsweise der buDdr>.*taat die
erforderlichen Beträgt* vorzuschiefsen. Bei gemetOMmett Versicherungsanstalten
erfolgt die Aufbringung dieses Vorschusses nnrh dem im % 68 Ab«. 2 festgesetzten
VcrhSltnisse.
Gegen Versicherungsanstaken, welche mit der Erstattung der Betrige im Ruck-
stande bleiben, m auf Antmg der Zentral-r>»t]>ehorde von dem Reichs* Versidie-
lungsamt das /\van(j>beitreibungsverfahrcn cin^ulr-iten
i; 12S ( 1j -lattutij,' von Hcitrii^jen 1 »"r An^]H ich auf Eritattunc ^*'»" B^'i-
tr;i.4iMi ji); .\2 l>i> 441 i>t unter Heilirin^jun^ der zur 1 iejjruiidijiiß 'lienetiOen Beweis-
slücke bei der unteren \'erwaltungsl>ehorde oder kentcnstelle des Wohnorts oder
des letitcn ficsefaifiigungsorts oder bei der von der Laades^Zentralbehorde be>
stimmten Behörde (§ 112 Abs. i) geltend cu machen.
Die untere Verwaltungsbehörde oder Rentenstelle hat die Verhandlungen dem
Vorstände der flir ihren Besirk xusttodigen Versicherungsanstalt tu ubersenden.
Dieser hat über den Anspruch einen schriftlichen Be«:heid zu erteilen.
Der jj 113 findet ent.^itrechende ,\nw end jn^', wenn der ^ode^t'all. welcher den
Anspruch auf Britr.iijserstattung begrumlrt «Ijrch -itiet) ri.ic!» den UntuUversicherUJigs-
gesctzen zu entschadis^enden Untall herl)eiyL liilirt uordcu i^t.
Gegen den Bescheid steht dem Erstatlungsberechttgteu die Beschwerde au da:»
Kdchs-Versichemngsamt su. Die Beschwerde ist bei Vermeidung des Ausschlusses
innerhalb eines Monats nach Zustellung des Bescheids bei dem Keichs-Verstche»
lungsamt einzulegen.
Die Bestimmungen des § 114 Abs. 3 sind in den Killen der Abs. I, 4 ent*
sprechend anzuwenden.
Die \'ersicher>ii»(jsan'italten. an welche »leinerreit )]ie nunmehr .-uruLkerstatfeten
Beitrage entrichtet worden sind, haben der erstattenden \'crsicheruni;san.stalt Kr.«atz
zu leisten; die Abrundungsbeträge ^j^ 42 Abs. 1, 43. jj 44 Abs. ji verbleiben zu
Lasten der erstattenden VersicherungsanstaU. Das Verfahren wird vom Rcichs-
Versicberangsamt geregelt. Die Versicherungsanstalten können durch Vertrag auf
die Ersatzleistungen gegenseitig verzichten; der Vertrag ist dem Reichs- Versiehe>
nmgsamt mitzuteilen.
§ 129. I F.Dt^cheidung durch Rentenstellen.) Sind Rentensteli^n auf Grund der
Vorschriften de< ~i S6 die dort 1> -eichnelen Hefuijni.sse übertragen, so finden die
Vorschriften der ^§ i 12 bi:> 122, 12S mit folgenden Mafsgaben entsprechende An-
wendung.
Die Entscheidungen der Keutcn.stcllc erfolgen nach .'^itiuiuieuniehrlieil in der
Besetzung von drei Mitgliedern, unter denen sich aafscr dem Vmitienden oder
seinem Stellvertreter je ein Vertreter der Arbei^eber und der Vecsicherten befinden
Invahdrnvrr!>ichrrungi>gcsrtz vom 13. Joli 1899.
229
maft, wenn nach AB»idit de« Voraitteiidefi oder sclae» Stellvertreters die VcrMgaiic
eiMr beantragten Rente oder die Gewihnug ciDes gerhigCTeM als des beaatragtcn
Rentenhetrafjes oder die Entziehunß einer Invaliilcnrrntc in Frage steht
In den Fällen, in welchen der Anspruch auf Rente oder Beitragserstattiing
ganz oder zum Teil anerkannt oder die Entziehung einer Invalidenrente oder die
Einstellnng von Rentenzahlungen abgelehnt oder ausgesprochen wurden ist, hat der
Vorsitzende der Kenienstelle nach Erteilung des Kescheids dem Vorstände derjenigen
Verticherungiian!>ialt, die für den fictirk der RentenstcUc snstiBd^ ist,. Baverzuglich
die Vertiaadlungen xu Übersenden nad dabei diejenigen Entselieidnngen sn besdchnen,
welche grgen seine Stimme ergangen sind.
Der VorBUnd der Versicfaemngsanstalt ist befugt. Entscbcidongen der Renten-
steile, durch welche der Anspruch auf Rente oder Peitrnß<:erstattBng ganz oder nun
Teil an<r'f<annt oder die Entziehung der Invalidenrente oder die Einstellung von
Rfnten/ahhIn^;en al'^jcleiint worden ist. durch Berufung oder lU-^ch werde geniaf$
55 114 Abs. I. 5; 128 .\hs. 4 anzufechten, hie Herufutig und Beschwerde des Vor-
sliindes haben aufschiebende Wirkung, die Berufung aber nur insoweit, aU es »ich
om Betrigc luindelt, die für die Zeit vor dem Erlafs der Entscheidung der Rcnten-
stellc nachträglich gciahlt werden sollen.
Die Berufung oder Beschwerde ist bei Vermeidung des Ansschlnsses innerhalb
eines Monats, nachdem «He Verhandlungen der Renteostelle bei dem Vorstande cin-
gegan^'en sind Vh^ 3). bei dem eustSndigen Schiedsgerichte oder dem Reichs-
Versichcniiij.;-.-iiiit e i 11. ■,! Irrten.
§ I ^o. Marken I Zum /-.vecke fler Lrtu liur i: li' r Meitraije wer'len von jeder
Versicheriingsaiistalt für die einzelnen Lohnklaf^scn Marken mit der Bczeiclinung
ihres Geldwertes ausgegeben. Das Reichs Versieheningiiamt bestimmt die Zeit-
abschnitte, für welche die Marken ausgegeben werden sollen, sowie die Untere
acheidungsmerkmale und die Glkhigkeitsdauer der Marken. Innerhalb zweier Jahre
nach Ahlauf der Gultigkeits^er kOnnen ungültig gewordene Marken bei den zum
Markraverkauf bestimmten .Stellen gegen gUUige Marken umgetauscht werden
Die Marken eii^er \■ersicherun^j;<^an«t.^lt können bei allen in ihreui Itezirke be-
le«;enen l'o.-taiistalleii und ainieren von di r \ crsicheruiir^>an>t:ilt rin. urichtenden VcT-
kaufi.steilcn gtgen Erleginijj K-s Xennwert!-- knufücli erworben wenien.
§ 131. iQuitlung^kartc.) Die Entrichtung der Beiträge crJolgt durch Ein-
kleben eines entsprechenden Betrags von Marken in die Quittungsk«te des Ver-
sicherten.
Der Versicherte ist verpflichtet, die Quittungskarte sich ausstellen su lassen
und sie behufs Einklebeos der Marken oder zum Entwerten der Marken sn den
hierfür vi rt^e^chenen Zeiten vorzulegen (5i;J< 14J. i4i>, 150V Er kann hierzu voo
der ( 'rt^|"li/elb( '(Mirdc oilor von dem Vorsitzenden der Kentensttelle , soweit dieser
die Kontrolle über die l'eilra^jsci.trif litung lijii 161 tT.) ubertragen durch Geld-
»irafcn bjs zu zehn Mark angclialten werden. Ist der Versicherte mit einer <^>uiltungs-
karte nicht ver.<ichen oder lehnt er deren Vorlegung ab, 40 jst der Arbeitgeber be-
rechtigt, für Rechnung des Versicherten eine solche anzuschaflen and den vemuslagten
Betrag bei der nächsten Lohnzahlung einzubehalten.
230
G«setig«bitD( : Dcatsdics Reich.
Der Versicherte ist berechtigt, .luf srinc Kosten co jeder Zeit die AiUftelltUf
einer neuen <^»uittun!j>karte grgen Ruckgabe der älteren 7U hean<<pnicheD
4; 1^2 Dt»- <,>iiitfiin^<;karfr cn'.h, h da'^ Jahr um-] <i-i, Tae <*rT Ausgabe, iVxr
üher den Cieliraucli erla>ietitii Hcstimuiun^t-n t iJ"U mi i die Ntrafvürschrift d»"s
^ 1S4. Lu übrigen bestiiuiut der Bundesrat ihre Eiurichtuag. Für die Sclb&lver-
sichenmg und deren Fortsetzong 14 Ab«, t) kann vom Bnndcinte die Verwendung
besonderer Qaittungsknrten vorgewhrirben and die unbefugte Verwendung anderer
Quittungtkarten mit Strafe bedroht werden.
Die Kosten der (Juittungsknrte trigt. soweit sie nicht für Recboung des \'er*
i^icherten su bcscbafTen ist (§ 131 Abs. a, 3), die Versicbentngsnnstalt des Ausgabe-
bczirkü.
> '33' .U'de <juittun^;sk:irlc bietet Raum 7ur Aufnahme der Mark<-ti für
mindestens zweiund fünfzig Beitrag!)wocheo. Die Karten sind für jeden Versichertco
mit fortlaufenden Nummern tu Tenehen; die erste filr ihn ausgestellte Karte iat am
Kopfe mit dem Namen derjenigen Versicherungsanstalt, in deren Besirk der Ver-
sicherte SU dieser Zeit beschäftigt ist, jede folgende mit dem Namen derjenigen
Versicheruiq^Mtnstalt, welche sich auf der nichstvorhergehendcn Karte vermerkt
findet, lu bcreichnen. Stimmt der auf einer späteren Karte enthaltene Xame mit
dem auf der ersten Karte enthaltenen Namen nicht überdn. SO ist der auf der
ersten Karte eiithaltenr Name niafsgel)end
tj 134. Die Ausstellung und der Umtausch der (^uittuugskarten erfolgt durch
die von der Landca-Zentralbehurdc bc/cichucte btcUc.
Die hiernach xnstkndige Stelle hat die in der zurdckgegebenea Karte ein-
geklebten Marken derart aufsurechnen, dafs ersichtlich wird, wie viel Betragswochen
für die einzelnen Lohnklassen dem Inhaber der Karte anzurechnen sind. Gleich-
seit^( bt die Dauer der bescheinigten Krankheiten und milittrischen Dienstleistungen
des Inhabers anzugeben, wcirh«- in die Zeit, für welche die Quittungskartc gilt ent-
fallen Ucbv-r l-e aus dieser Aufrechnung sich ergebenden Endzahlen ist dem In-
liaber der Karte eine- fiescht-inigun^ /u (rtcilfii.
fj 135. Eine Quittungskartc verliert ilire Cjuliigkcit, wenn !.ic nicht iniicrliall^
zweier Jahre nach dem auf der Karte verzeichneten Ausstellungstage zum Umtausch
eingereicht ist. Ist die Annahme b^ründet, dafs der Versicherte ohne sein Ver-
schulden den rechtzeitigen Umtausch versäumt hat» so kann der Vorstand der Ver-
sicherungsanstalt des Beschiftigungsorts auf den Antrag des Versicherten die fort-
dauernde Gültigkeit der Quittuagskarte anerkennen.
Der Bundesrat ist befugt anzuordnen, dafs die Gdltt^&eitsdaner der Karten
durch Abstempelung verlangt^rt werden kann
§ 136. Verlorene, unbrauchltar gewordene oder <'erstörte ( hiittungskarten sind
durch neue zu ersetzen. In die neue Karte sind die in der älteren nachweisbar ent-
richteten Beiträge in beglaubigter Form zu übertragen.
§ 137. Der Versicherte ist befugt, Unsen zwei Wochen nach Aoshindigung
der Bescheinigung 134) oder der neuen Quittungskarte (9 136) g^en die Auf-
rechnung der Karte und den Inhalt der Bescheinigung (§ 134) scmie gegen die Ueber-
tragung (§ 136) Einspruch zu erheben. Gegen die Zuräckweisung des Einspruchs
Invaltdcnversicberungiigcsetz vom 13. Juli 1^99.
231
findet binncii ^leidicr Frbt Beschwerde bei der ttninittelbttr vorgesetzten Dienst»
behordc stntt. Die letstere enticheidet hierOber sowie über andere das Vcrfidiren
betretende Beschwerrlen endgültig.
§ 138. Die abjjc^cbcncn Ouittung^skarten sind an die \'ersich<"ning«an'<talt des
Bezirkes /u übersenden un 1 von dieser au diejcDige VersicheruogsaustaU, deren
Namen sie tragen, zu überweisen.
Diese ist befugt, den Inhalt von Quittongskarten desselben Versicherten ia
Sanmellaurten (Konten) »1 Abertmfen und dttte •& Stelle der Einselnriwnden aaf»
nibewnhren, die letsteren aber m vernichten. Das Verfidwcn sowie die Einricktan^
der Samntelkarte wird vom Bnndcmt bestimmt.
Der Bundesrat bat die Vomussetnngen nnd die Formen an bestimmen, nnter
denen die Vernichtung von Qtüttnngskarten auch in anderen Fällen zu erfolgen hat.
§ 139. Die Eintragung eines Urteih über die Führung oder die Leistungen
des Inhabers sowie sonstige durch dieses Geset? nicht vorgesehene I"intrri':;un2en
oder Vermerke in oder an der Quittungskarte sind unzulässig. (^)uittuügskarten. in
welchen derartige Eintragungen oder Vermerke sich vorfinden, sind von jeder Be«
hArde, welcher sie sngchen, einanbehalten. Die Behörde hat die Erselsnng derselben
dnrdi neue Karten, in welche der «tlüssige Inhalt der ersteren nach Mafsgabe der
Bestimmung des 9 136 tit ftbemdmien ist, sn veranlatsan.
Dem Arbeitgeher sowie Dritten ist untersagt, die Quittnogskarte nach Ein*
klcbung der Marken wider den Willen des Inhabers rurückzubchaltcn. Auf die
Zurückbehaltung der Karten seitens der zuständigen Behörden und < >rganc su
Zwecken des Umtausc hes, der Kontrolle, Berichtigung, Aufrechnung, l ehertragung
oder der Durchfuhrung des Eiazugsverfahrens (§§ 148 fr.) fmdct diese Bestimmung
keine Anwendung.
Qvitinngskniten, weldie im Widerspindie mit dieser Vondirift sorfidtbehalten
werden, sind dordi die Ortspoliseibehttrde dem Zuwiderhandelnden abcnnehmen und
dem Berechtigten ansauhindigea. Der entere bleibt dem letsteren für alle Nach-
teile, welche diesem aus der Zuwiderhandlung erwachsen, verantwortlich.
v{ 140. I Fiitrichtung der Beitrüge durch die .Arbeitgeber. 1 Die Beitrage des
Arbeitgeliers und des Xersitht-rten «ind von demjenigen Arbeitgeber /u entrichten,
welcher den Versicherten wahrend der Beitragswoche (J^ 30) bcsch.iftigt hat.
Findet die Bescbfiftigung nicht während der ganzen Bcitragswuche bei dem-
selben Arbritgeber atntt, so ut von demjenigen Arbeitgeber, welcher den Versicherten
auent beschlftigt, der volle Wodienbeitmg su entrichten. Wurde dieser Ver>
pflichtung nicht genügt, und hat der Versicherte den Beitrag nicht selbst entrichtet
(§ 144), so hat derjenige Arbeitgeber, welcher den Versicherten wellerhin beschüf-
tigt. den Wochenbeitrag zu entrichten, doch steht ihm gegen den zunächst Ver«
pflichteten Anspruch auf Ersatz ru. Steht der Versicherte gleichzeitig in mehreren
die Versicherungspflicht begründenden Arbeits- oder Dienstverhältnissen, SO Iwften
die Ari>eitgcber als (>esamtscbuldner fur die vollen Wochenbeilrage.
bofcro die thatsächlich verwendete Arbeitszeit nicht festgestellt werden kann,
ist der Beitrag fär diejenige Aibeitsz«t an entrichten, weicht zur Herstellung der
Arbelt anniherad (ur erforderlich zu erachten ist. Im Streitfall entscheidet auf
232
Gextsgehunii; : Deutsch«« Reich.
Antrng eint-s Teils die untere \'erwallur)L;'^^fhiirc)e eridj^uhii^. lUv X'crsich^rimg*»
Rnsfah is: iicrechti'^t, für ili<- Hcr« chriunf,' derartiger Beitr.i.'t in -rndprc Bcstimmangen
zu er!a«M n 1 >i< s( !beti lu iiurlVri lier • irrirhii>ijju(ijij des Keu iis- \ crsicherungsanits.
Jr 141. I»ic Kotriclituug der Ileitra^e eHolj;i lu der \Vfi>c, dals der Arbeit-
geber (j; 140 k bei der Lohnzahlung fttr die Dauer der Bcschafuyuug Maiken der>
jcnigcD Art in die Quittungskarte einklebt, welche für die Lobnklasse, die ftr den
Versicherten in Anwendung kommt (§ 34). vun der für den Bcschlftigungsort za-
ttändtgen VenicheraogMinttalt ausgegeben iM. Der Arbeitgeber hat die Marken ana
eigenen Mitteln sn erwerben.
Uif W-rvicherungsanslalt kanfi !)e-.liniinen dafs ui^r] inwieweit Arbeitgeber he-
fu;;! ^r]n '•cllrr. Hie Mnrkin -^u inidereii als <lrn :uis dm Lohiuahhingcn «ich
erj^eherulcn 'I'ertnijien bei;ubrinj^en. hi allen 1 allen mussrn liie auf die l)auer des
Arbeits- oder Dienslvcrhiltnisscs eittlaileiideti Marken sp.Ttestrns in der letzten Woche
det Kalenderjahres oder, sofern das Arbeits- oder Dienttverhiltnis früher beendigt
wird, bei Beendigung desselben eingeklebt werden.
Marken für einen zwei Wochen übersteigenden Zeitraum nflsten entwertet
werden Der Bundesrat bat die näheren Vorschriften tiber die Art der Entwertung
zu erlas»;en und deren Nichtbefolpung mit Strafe zu bedrohen.
Der I'.uiiiicsrat i-t l. fii>,M, uHer liie Fn* wertimg von an<1erer» Marken Vor-
ichrifj'-ii /u crlasst i» um; diieri \ii !'tl;i ((■l'^vmj: niit STal»- i'u iir'lr<j}ieii.
vi 142. 1 >i«- N'ftMi hcrt-;ii -Ulli V« rpfln iit. t, b« i <l. n l.iOiiuahlungcn die Haltte
der Beiträge, in den Fallen de> 34 Ab>. 4 aber, sotcrn nicht die Verticheruiig m
einer höheren Lohnklasie auf einer Vereinbarung zwischen dem Arbeitgeber und
dem Versichertco berabt, deD auf sie entfallenden höheren Betrag sieb cinbebaUen
«u lassen. Die Arbeitgeber dürfen nur auf diesem Wege den auf die Versicherten
entfallenden Itetrag wieder einziehen.
I »i«- Al'/tipr für Beiträge sind auf die l-ohnzahlungsperinden. auf welche &ie
enttalleii, );U ii }im;ifsip zn vcrteilru. 1 he Teill rträfie diirfeii. ohne dat> dadurch
M ehrt » lii-iuiij;m der Versicherten herl)eigellihrt werden, auf volle zehn Ftennig ab-
gerundet werden.
Sind Abzüge bei einer Lohiuahlungsperiodc unterblieben, so dürfen sie fttr die
betreffende Lohnzahlungsperiode nur noch bei der nichstfolgenden Lohnzahluig
. nachgeholt werden. Diese Bestimmung findet keine AnwenduDg, wenn wegen ver-
spSteter Feststellung einer bisher streitigen VersicherangbpfUcht oder aus anderen
Grttndrn P-< i trage nachträglich zu verwenden sind, ohne dafs den Arbeitgeber hier«
bei ein Wr--« huliU n irifil.
ArVititj:i k>er «leren /aiiluit^'sunlhiiij:keit mi / waiit;^ln-itreibunj:Nvt rtahr.-n lest-
gestelU worikn ij.t, dürfen, soweit die !• nlru luun^; der H< iira^..- in der im jj 141
Abt. 1 ai))^c^ebenen Weise erfolgt, Lohnabzuge nur tür diciiui|i:c Zeitdauer machen,
für welche sie die geschuldeten Beiträge nachweislich bereits entrichtet haben; so-
weit dagegen die Einziehung der Beiträge gemäfs 148 ff. stattfindet, sind sie ver-
pflichtet, die im Abs. i zugelassenen Lohnabzüge zu machen und deren Betrag so-
fort, nachdem d< r Ai /14: gemacht ist, an die i'uMLiii>M>:i Finzugsstelle abzuliefern.
Eine gegen den Arbeitgeber auf Grund des § 52 a des Krankenversicherungsgesetaet
Invalidrnvt rsichcrungNpesi lz vom 13. Juli 1899.
getroffen« Anordnung «rMredit sich nach nnf die Ton der beteiligten Kniikenknne
cinznsiehenden lUiträ^^f für dir Invalidenversicherung.
§ 14;?. l>i<- l^rlicbung der Bcitrhj;c für tlicjcnigcn Person«-!!, auf welche die
Versieh rruTif^sptlicht nach § 2 erstreckt worden ist, wird durch Bcacblufs des Bandes»
§ 144. jMitlichtun}; der Beiträgt^ durch die Versicherten.) Versicherungpßicbtige
Personen sind befugt, die BcitrSgc an Stelle der Arbeitgeber cu entrichten.
Dem Versicherten, welcher nnf Gnmd dieser Bestimmong die vollen Wochen»
britrige entrichtet hat, steht gegen den nach § 140 zur Entrichtung der Beitrige
verpflichteten Arbeitgeber der Ansprach auf [-Erstattung der Hälfte des Betrages,
und in den Fällen des § 34 Abs. 4, sofern nicht die Versicherung in einer höheren
I .«•hnkla'-sc auf einer Vcrcitibaninp /.wisrlven dcni Arbeitsgeber un<l dem Versicherten
tfrruht, auf Kr.-tatfunp d«T llälltf df^ t T)i;;t n ^.'rin<,'« rt 11 l'.cli.it^N /.n, \ve!rbi n der
Arbeitgeber nach der tur dcu Versicherten maugcbcndcu Lohnklassc /.a tragen hat.
Der Ansprach besteht jedoch mar, sofera die Marke v<niehriftsniäi'!<ig cuttrertet ist
Der Ansprach ist iHr die betreffende Lohnzahlnngsperiode bei der Lohnnhlnng
gellend zu machen. Ist dies bd einer Lohnxahlung unterblieben, so darf der An>
sprach fär die betreffende Lohnzahlongsperiode nnr noch bei der nächstfolgenden
Lohiuahlung erhoben wrr<1rn, sofern nicht rier Versicherte ohne sein Veischnlden
erst nai htrHj:;lir!j an Stelle (Ir> Arbeit^" li.-rs Bcitr.ifje verwendet hat.
c; 14;. Hei frei ',v ill i^TT Versilberung; j; 14' ?ia''i''n die sie ein:,'eher)deii Her-
*(.Tuii .Mr.rken derjenigen \'ersichcruiig>aiist.ill verwenden, in ilercii Bezirke sie
bcfeh.^ftigt sind oder. >ofcrn eine Bc>cliaftigung nicht statttindct, sich auflialten.
Dabei steht ihnen die Wahl der Lohnk1a«se frei. Bcgc)>cn sich Versicherte in das
Ausland, so sind sie berechtigt, die Versicherung dort fortzusetzen; sie haben dabei
Marken derienigen Versicherungsanstalt zu verwenden, in deren Bezirke sie zulettt
beschi>ftigt waren oder sich avifgehalten haben.
Personen, welche für die Dauer e-irn i ^,'et;en Lohn oder Gehalt unternommenen
Bevfhaf'itjun;^, wnhreiid d.-ren «ic nach >} 3 Al»s 2. 4 Ab^ I Jer N'ers icherungs-
; H'. hr r I !n ui<ttrl;e;:en, l'reiwillip siih versiclieri» (5; 14 .Mjs. Ii, steht ;;c<^eii den-
|eiin;en .\rlieit},'ebcr, welcher, wenn die V crsicheruiigspliicht Ite.stande. nach Jj 140
tat Entrichtung der Beitrüge verpflichtet sein wurde, der Anspruch auf Erstattung
der Flälfte der für die Dauer der Arbeitszeit entrichteten Beträge nach Mafsgabe
des {$ 144 Abs. 2 zu. Die Anrechnung höherer Betrüge, als stich bei Anwendung
des § 34 Abs. i bis 3 ergeben würden, kann der Arbeitgeber ablehnen.
^ 146. Unwirksame Beiträge.) I>!e na< btr.>gli. he Entrichtung von Britrigen
für eine vrrsicheruti'.'siiflicdtii^e Bescbnlti^unp ist nat h .\blnuf von zwei Jahren, so-
fern aiier ■iie l!citra^--lei\[un^ weisen vcrspi teter Kest'.tellun;; einer l'i'her streitigen
Versii lu ruMtjsj.tüi h! oder aus anderei) Cirumlen oline VerM-hiilden der Beteili^^ten
uulerbhti'cn ist. nach .Ablauf vuu vier Jahren .seit der Faliigkcil uiizui.i^>sig. I rci-
willige Beiträge und Beiträg« einer höheren als der mnfsgebenden Lohnklass« 34
Abs. 4) dttrfen für eine langer als ein Jahr zurückliegende Zeit sowie nach einge*
treteaer Erwerbsunfähigkeit (§§ 15, 161 nachträglich oder für die fernere Dauer der
Erwerbsunfähigkeit nicht entrichtet werden.
234
§ 147. Die in eiaer ordnuitgsmiftig musgestellteii Quittungskarte ordnungs»
niäfsig verwcndet<n) Marken begründen die Vermutuiijj, dafs während derjenigeo
Zahl von Beitragswcn heii. für welche Marken beipi lirac hl sind, ein den Vorschriften
des ficietres critsi>rei hendes Vfrsich<Turi{^>:\ erhr-ltnis auf Cfnind der \'ersichenin{;s-
pflicbt oder frciwil liger Wr'-i' h'Tun^ bt:>tatn!eii li.it r)ie«i<' \''Tiiiutunfj findet ied« .< h
insoweit nicht statt, als sich crgieb!, dafs die Marken erst nach Ablauf eines Monates
seit der FftUigkcit der Beitrage eingekleln oder während eine§ KaJeoderjahn mehr
Marken beigebracht sind, all in dasselbe Beitragswochen, entfiülen.
§ 148. (Einxiehung der Beitrige.) Durch die Landes-Zentnllwhorde oder
mit Genehmigung derselben durch das Statut einer Versicherungsanstalt oder mit
Genehmigung der höheren Verwallun^jsbehorde durch »italutarische Bestimmung eine*
weiteren KorntTiunalvcrbandes oder eim r f Gemeinde kann, abweichend von den \'or-
schriftcn de-. C; 14t Al)s. 1, angeordnet werden, dafs die Heitrage für alle ver-
sicherungspflichtigen Personen oder für bestimmte Klassen derseU>en
1. durch reichs- oder landesgesetzliche Krankenka^en oder durch Kitapp-
schaftskassen,
a. durch Gemeindebehörden oder andere von der Laades-Zentralbehorde be>
zciehncte Stellen oder durch örtliche von der Versicherungsanstalt eintu-
richtende Hebestelten
fär Rechnung der Versicherungsanstalt eingerogcn werden. Auf demselben Wege
können in diesen Fällen Kestimmungen über die Verpflichtnag xnr Anmeldung und
Abmeldung der Versicherten getri flen werden.
Sofern hiernach die Kiniichung der Beitrage durch ortliche llcltestcllcn der
Versicherungsanstalten angeordnet wird, sind die letzteren verpflichtet, solche Hebe*
Stellen auf ihre Kosten an den von der höheren Verwaltungsbehörde bezeichneten
Stellen au errichten.
Die Versicherungsanstalten sind verpflichtet, den mit der Eintiehung der Bei-
trige beauftragten Krankenkassen, Gemeindebehörden und .sonstigen von der Lander-
Zentralbehörde bezeichneten Stellen eine von der Landes-Zentralbchorde zu be-
stimmende Vergütung ni gcwnhren
Den ortlichen liebcstellcn der Versicherungsanstalten (Abs. 1 Zitier 2; kann
durch Bestimmung der Landcs-Zcutralbehordc oder der liöhcrcu Verwaltuiigsbchorvie
mit Zustimmung der Krankenkasse die Einziehung der Kraakeikvefsidterttngsbeitrige
übertragen werden. In diesen Füllen sind die beteiligten Kraakenkasaen veri»flichtet,
SU den Kosten der Hebestellen beizutragen. Die nihercn Bestimmungen hierüber
sind nach Anhörung der beteiligten Versidierungsanstalten und Krankenkassen voo
der höheren ^'or^va!ta^lf;sbehorde zu treffen.
Die Lande,s Zentralbehörde kann die Befugnisse regeln, welche der Versiche-
rungsanstalt ;,'egenuber den Eiü/ugs-slellen. soweit sie nicht v<.t! der \ ersichcruugs-
anstalt selb!<:t eingerichtet sind, zur Sicherung einer ordnungsmafitigen I^rfUllung ihrer
Aufgabe zustehen.
Pur die freiwillige Versicherung (§ 14) kann die Einziehung der Beiträge nicht
vorgeschrieben werden.
§ 149. Die Landcs-Zentralbehörden oder die von ihnen als zustSndig be«
InTaUdenTenichenmgsge»eU voin 13. Juli 1899.
leicbaetea Stelleo können nähere Besdmnrangen ftber das Verfahren der Ein«^
stellen 14S) bd Ebriehnng, Venrendnng and Verrcdiniing der Beitrüge erlassen.
Soweit diese Bestimmnngen nichts Anderes anordnen, werden die Bcitii^e
dnich die Einsngsstellon zugleich mit den Beitrügen zur Krankenversicherung an
deren Fllligkeitstenninen, bei solchen Versicherten aber, für welche Krankenver-
sicherungsheitrSgc nicht einzuriehen sind, zu den von der Einzugsstelle l)f-'imiiitrn
Zeitpunkti-n von den Arl)eitjjfhcrn cirifjcrogpn und die den eingezn;:jet)ct) Kctraijcii
entsprechenden Marken in. die * Juittuogskarten der Vcrstchcrteu eingeklebt. Dabei
findet dit Bestirnmug des 131 Abs. a entspredionde Anwcndaiq;.
% 150. Wird die Eiodehong der Beilrlge angeordnet, so kann von der
Landei-Zcntraibeliörde oder von den» Vorstände der Versicherungsanstalt einseinen
Arbeitgebem gestattet werden, die Beitrilge der von ihnen beschtitigten Personen
durch Verwendung von Marlcco nach den Vorschriften der §§ 140, 141 selbst ztt
entrichten. Vini .solchen N'erfugungen ist der Ein/ug'.stclle Kcnntni.« ru geben.
Reichs-. .Staats- und Kotnmunalbehorden können für die von ihnen It<-«chaf-
tigtcQ versicherungspflichtigen l'crsonen die Entrichtung der liciträge nach den Be-
stimmungen des § 140 übernehmen. Sofern dies geschieht, ist der Versicbcruugä-
anstalt and der ßnsngsstelle Mitteilnng zu madien.
§ 151. Wird die Einsiehong der Beitrige angeordnet, so kann anf demselben
Wege weiter bestimmt werden» dafs
1. die Ausstellung und der Umtausch der (Quittung »karten (§§ 134, i3^>i
durch die nach § 14S .\hs 1 mit der Eiosiehttng der Beiträge beauf*
tragten Str-llen statt/ufin<lcn hat :
t. für diejciiigi.T) \'f rsiclu.TtiMi, deren Ik-SLliafti.;utij,' «lurrh <ii'.' Natur ihres
Gcgenstaniie^ oder im voraus durch den Arbeitsvertrag auf einen Zeitraum
von wti.igL-[ als einer Woche beschränkt ist. die auf die Versicherten
entfallende Hilfte der Beitrige unmittelbnr von den Verskherten, die auf
die Arbeiter entfallende Ittlfte aber von dem weiteren Kommanalverband
oder der Gemeinde entriclitiet nnd durch sie von den Arbei^ebem wieder
eingezogen wird.
Für diese Falle hat die Versicherungsanstalt den mit der Einziehung <Jcr bei-
träge henuftraqteii Krankenkas.sen, Gemeindebehörden und sonstigen von der Landes-
Zentralbtlu^rdi- ht/oichnetcn Stellen besondere Vergütungen zu gewähren, deren
Hohe von der Lande.n-Zentralbehorde zu bestimmen ist.
§ 152. Die im ^ 148 Abs. 1, ^ 13t Abth I ZUTer i vorgesehenen Mafsregeln
kAnnen fHr die Mitglieder einer Krankenkasse (§ 166} noch durch das Kassenstatat
nnd Ar diejenigen Versiehctten, welche einer flir Reichs» oder Staatsbetriebe er*
richteten Krankenkasse angehören, noch doidi die den Verwaltungen dieser Betriebe
voigcsetste Dienstbehörde getroffen werden.
§ 153. Der Versicherte ist l>crechtigt. die <^Hiittungskarte bi i der die Heif 1 hii^c
einziehenden Stol!«-. sol.uigr er in dem Bezirke dieser Ntelli- vi'r-.ichert ist. /u hinter-
legen. Die Landc^-Zcntruibchorde kann im Einvernehmen mit der Versicherung!»»
aastalt die Verpflichtung tur Hinterlegung vorschreiben. In diesem Falle findet die
Bestimmung des 131 Abs. 2 Sau a Anwendung.
L.ivjM^L,j L,y Google
236
Grsrtzf;«hun|; : Dpiitiiches Reich.
|( 154. Abrur .üi^'J Ergfbcn sich bei den zwischen Arbeitfrelicrn und Ver-
sirlirrtm •-t:itf tiii<ir i, kn Altrechnungpn Bruch; frnni^e. •<o ist Her auf <\<-n Arheitjjebcr
entianciK.t'ti Feil nach ob'-n. Her auf deo Versicherten eolfalleudc Teil a*ch untea
auf volle rfciinif; ab/uriiii<i«Ti.
15?. 'Mrt itij;ki-itiMi. I Str« irij^kcit»-n /w ischen di-n (.»rjijaiicn der Versithc-
runysaiistalteii eiticrseits» und Arbcitgeiierti cnier Arbeituehmeru oder den im § 14
bezeichneten Personen andererseits, oder zwischen Arbeitgebern and Arbrntoehmer»
über die Frage, ob oder zu welcher Versicherungsanttalt oder in welcher Lohn-
klasse Beitriige au entrichten sind, werden, sofern sie nicht im Rcntenfeststellnng»»
▼erfahren 112 fl'.) hervortreten, von der für den Beschäftigungiort ^§ 65) za*
stnniliijt 11 uiiteren \Vr\valtungsbch'>rdc und (?a, wo Rentenstellen bestehen, von deoa
Vm si'.-rii l^-ii (i»-r>^i-lhcn entschieden, \'or tU r ICnts« !;t idunj; ist in der Rei;el der
Wrsii hfriiii;;<:in^i.Tl! ( itdc^ctihfi' /i;r Ar,if>rrutifj /u jjcbi-ti. (icj^t-n die Kntichrtdnnq^
«t< ht den Bctcibgtffi und der V«-Tsichcruii^;!ianstalt. welche sich in dein \ erfahren
geauf'^eit hat, innerhalb eines Monats nach der Zustellung die Beschwerde an die
höhere Verwaltungsbehörde zu, welche endgültig entscheidet. Die zustündigen Be>
hnrden <iad bei den Entscheidungen an die vom Keichs^Versichemogsamt aafge>
stellten GrandsSue gebunden. Streitigkeiten über Fragen von gmndsittlicher Be-
deutung sind dem Reichs-Versicherung»amte zur Entscheidung zu uberweisen, wenn
die^ iiiiirrVi:'' 'I i!<-r Beschwerd.-frist vnti der \ <T>it iierungsati>Mlt JH-untmfift wird.
!'.'--t' lit ^b•illnnJ^ev^•r^^ lucdeldlei^ ut'< r die Kr.t!j;e , welche Bell.. nie mr Ent-
«1 h'-i,h;iij; ; i-tii;iiiijj •-i-i. so wird die / u- tiirulij_"kcit \'<h\ der fi'jlieren \'cr\va:tungs-
l;el)')r.!c •.ider lier I audo-ZeiitraliM-horde. S">fern aber mehrere Uuiulc^staaten in Be-
tracht koiuiiien lui^ eine Eini^'ung ihrer Zentralbchorden nicht staittiudet, vom
Reichskanzler bestimmt.
§ 156. .Streitigkeiten zwischen den Organen ver<M:liiedener Versicherung»-
anstalten über die Frage, zu welcher derselben für bestimmte Personen Beiträge «a
entrichten sind, werden auf Antrag des Vorstandes einer beteiligten Versicherangs«
anmalt vom Reichs-Versicheningsamt entschieden.
$ 157. Im übrigen werden Streitigkeiten swischen Arbeitgebern und Arbeit«
nchmern über die Berechnung und Anrechnung der für diese zu entrichtenden oder
im Falle des § 140 Abs. 2 und der I44, 145 denselben zu erstattenden Bei»
trage sowie Streitigkeiten Uber Ersatzansprüche in den 1 'allen dc> 140 Abs. a
v(.n der unteren \'erwalt\ini;s1«ehi>rde inul da, wo Rentenstellen bestehen, von dcQ
Vorsit.'iii'irn lii-r'-flberi ^ le^i eii(i^ult i^' ciiisclueden,
«j i;S. Xacti i-ndi^ultij^'er ICrlcdij^'unj^ dieser .Strelu^^kfilen hat liie untere Ver-
w.ihutj^sl elitirde und da, wn Kenten-tellen lie^telu ti, ''.er \'<>rsiljeniie dcrselUen von
Auu.swigeti dafür zu sorytn, dafs zu wenig crhubene Betrage durch nachträgliche
Verwendung von Marken betgebracht werden Zu viel erhobene Beträge sind auf
Antrag von der Versicherungsanstalt wieder einzuziehen und nach Vernichtung der
in die Quittungskarten eingeklebten betreflenden Marken und Berichtigung der Anf*
rechnut.L;en an dieieniy;en Arbeitgeber und Versilberten zurückzuzahlen. Welche die
Aufwendung für die ßeitragsentrichtung gemacht haben.
Iavalidenversicberungägei«t2 vom ij. Juli 1)^99.
Handelt es sich um die Verweadung von Marken einer nidit susUndigcn Ver>
sSehemoKMUistolt, so ist nach Vernichtung derjenigen Marken, welche irrttmlich bei»
gabfadkt sind, ein der Zahl der Beitngswochen entsprechender Betrag von Marken
drr zuständigen Vcrsichcrungsaastalt bcuubringfii. Der Betrag der verniiihtotcn
Marken ist von der Vfrsicbcruti^^aixtalt. wclcli»- sie ausgestellt halte, wieder ein-
zu/ichtM) und zwischen deu beteiligten Arbeitgebern und Versicherten entsprechend
zu teilen.
An die Stelle der Vernichtung von Marken kann in den nach Ansicht der
unteren Verwaltungsbehörde data geeigneten Fällen die Eiuttehung der Quittungs*
Itarten und nach Uebertragung der gültigen Eintragungen derselben die Ausstellung
neuer Quittangskarten treten.
{} 159» Die Kosten des Verfinhrens bei Streitigkeiten der in den §§ 155
bis 158 bexeiehneten Art trägt, soweit sie bei dem Reichs •Versicherungsamt ent-
stehen, das Reich, soweit sie bei einer Reutenstelte entstehen, die, Versicherungs«
anstalt. im übrigen der Bundesstaat.
Die Bestimmung des § 64 Abs. 5 ßndet entsprccliende Anwendung.
§ 160. Auch ohne dafs ein Streitfall gemifs 153, 156 vorau.sgrgan^eu
ist. sind deti Beteiligten auf ihren .Antrag die entrichteten Bt-iträge niruckzu/uhlen,
sofern die Wrsiclierungspflicht <><ler d:.< Recht lar freiwilii^cik X'crsichcrung I4)
für dio l>i-lrt iti'iidci) liritragswoclien endgültig vorneint wordei, ist.
101. .Konlndle. I Die \ ersirlierung>aTij;Uil!'-n >iTid vcr]>tiichtct. die recht-
zeitige und vollständige Kntriclitung der Beitr.Tgc regeinialsig üherwaidu-n.
Die Arbeitgeber sind vcrplliclitel, über die Zahl der vuu ihnen beschafligleu
Personen, Uber die gezahlten Löhne und Geh&Uer und dber^die Dauer der Be-
schäftigung den Organen der Versicherungsanstalt und ihren Beauftragten sowie den
die Kontrolle ausflbeaden anderen Behörden oder Beamten auf Verlangen Auskunft
zu erteilen und denselben diejenigen GeschiiftsbUcher oder Listen, aus welchen jene
Thatsachen hervorgehen, /ur Einsicht wShrend der Betriebszeit an ^^n und Stelle
vorzulegen. Ebenso sind die Wrsii Herten zur Erteilung von Au>kunft Ul)er • >rt und
Dauer ihrer Hcsch.Htti^iinj; % r;t*'irluct Arbeitgeber und Iii- \'<m sicherten Miid
ferner verbunden, den bezeichne ten Organen, Behörden und iSi-anitcn auf Erfordern
die Quittungskarten behufs Ausübung der Kontrolle und Herbeiführung der etwa
erforderlichen Berichtigungen gegen Bescheinigung aussuhindigen. Sie können hierzu
von der Ortspoliseibehörde durch Geldstrafen bb snm Betrage von je einhundert-
undfAnfsig Mark angehalten werden.
Die Venichenngsanstalten sind befugt, mit Genehmigung des Reichs -Ver-
sicherungsamts zum Zwecke der Kontrolle Vurschriften zu erlaiisen. Das kcicli-s-
Versicherungsatnt kann den Erlafs solcher Vorschriften anordnen und liieselben,
sofern die Anordnung nicht befolgt wird, <ielbst erlassen. r)er Vorstand der Ver-
bichcrungsan.stalt oder der Vorsitzende der Renten&telle, solern dieser die Bciiragi-
kontrolle obliegt, ist befugt, Arbeitgeber und Veni^rtc aar rechtieltigen BrfltUnng
dieser Vorsdiriften durch Geldstrafen bis zum Betrag« von je einhundertandfAafsig
Mark ansnhaltea.
238 Gesetzgebung: Deutschn Reich.
i'>2 Die duri (1 i]\<- Kontrolle iJcn V ersicherungsanstalten erwachsenden
Ki>>-t«-ti grhuroii 7u :i \'er .v al[i:iig*>kosien. So-.vcit dir5rlbcn in baren Aaslagen
li<>trhrn, kutincn >ic iijrcli den \ (jr^futul drr Vrrsi<;}ifrutii;saii^talt oder den Vor-
sitzenden drr kciitiMistt lle, sofern dieser die ilcitragskuntruUe obliegt, dem Arbeit-
geber «ufcrl'-^t werden, wenn deraelb« dnrch NichterfHUung der ihm obliegenden
Verpflichtungen zu ihrer Aufwrendnag Ankfs gegeben bat. Gegen die Anferlcgiag
der Kosten findet binnen zwei Wochen nach Zustellung des Beschlusses die Be-
schwerde an die höhere Verwaltungsbehörde statt; diese entscheidet endgültig. Die
Ret;reil>uii^ der auferlegten Knuten erfolgt in derselben Weise wie die der Ge>
roeiti'K-.i^L^.ilii-n.
10 >. Herirhtipunj^rn der Quittuii^^kartt 11 erlUl^en, si»t'crn die Beteiligten
lihr-r dies<-r'ien f invrr>t:\r)'len sind, auf <letn im >; 1 atif,'<-'^.-!ifiien Wf^e durch liie
ilie Kontrolle ausu JLiiden < )rijaue. Behörden oder r.ean»t> ti oder durch die die Bei-
träge einziehenden Organe, anderenfalls nach Erle ligun^ des Streitverfnhiens gemäfs
S§ 155 bis 157.
j$ 164. ^Vermögensverwaltung.) Die Bestände der Versicherungsanstalten mässen
in der durch §§ 1807. iSoS des Bürgerlichen Gesetzbuchs bezcidmeten Weise an«
gelegt werden. Hat die Versicherungsanstalt ihren Sitz in einem Bundesstaate, f&r
dessen Geliiet Wertpa; iere diireli landesge«elzliche N of-i hrift tut Anlcfjung von
Mundil^'cldtTi» far geeiLjiiet erkl;'r; '■itul Art. 212 des Kuduhrungsjjeset/es /.um
Hilrj^erlicht ti (M >-et(liuc!r, >o können ilire Ke^t. ndc auch in \Vert}'a]>ieren dieser Art
aiii^elegt werden. Die Lundes-Zentralbchurdc desjenigen Bundesstaats, in dessen
Gebiet die Versichentngsanstalt ihren Silz hat» kann genehmigen, dafs die Bestinde
der Versicherungsanstalt auch in Darlehen an GeoMinden und weitere Kommunal^
verbünde angelegt werden. Es kann femer in gleicher Weise angeordnet weiden*
dafs bei der Anlegung des Aastaltsvermi^ens einzelne nach den vorstehenden Be>
Stimmungen ni^rlassene Gattungen zinstragender Papiere nur bis zu einem näher zu
hrstirnmenden Hetrag erworben «•erden dürfen und Hestimniunpen ul'er die Auf-
h-ivahnirig von W ertpapiei en getrotTen werden. Bei gemeinsamen \ ersicherungs-
anstalten bedarf es hierzu de.-> Einvensländnisses der lietciligten Landesregierungen.
In gleicher Weise kann ferner widerruflich gestattet werden, dafs zeitweilig
verfügbare bare Bestünde anch in anderer als der durch §S 1807 «nd 180S des
Bürgerlichen Gesetzbuchs bezeichneten Weise vorObergehend angelegt werden.
Die Versicherangsanstalten können mit Genehmigung der Anbichtsbehörde
einen Teil ihres Vermögens in anderer als der nach Abs. I zulissigen Weise, ins-
b«':>ondcre in Grundstücken, anlegen. Wollen die Versicherungsanstalten mehr als
den vierten lei! ihres Vermögens in dieser Weise anlegen, so bedürfen .sie d:uu
aufserdcm der tienelunij^uiig des Kommunalverbiindc- bi-, irluiii^'s weise der /.etur.il-
behörde des Bundei>$taats, für welchen sie errii hiet sind, und suferu mehrere Landes-
Zentralbehörden beteiligt sind, eine Verständigung unter denselben aber nkht cnielt
wird, der Genehmigung des Bundesrats. Eine solche Anlage ist jedodi nur ia
Wertpapieren oder für die Zwecke der Verwaltung, zur Vermeidung von VetmAgeBS*
Verlusten für die Versicherungsanstalt oder fär solche Veransultiugen mlimig,
welche ausscfaliefslich oder überwiegend der versicherungspflichtigen Bevölkerang
Invalidenver$icberuiigsgc!>etz von) 13. Juli 1899.
239
xugate komneo. Mehr die IfiUfte ihres VermögeiM darf jedoch etne Ver»
sicheriHitmiMalt n der beicidiaeteik Weite nicht anlegen.
§ 165. Die Versicherungsanstalten sind verpflichtet, dem Reicha-Versicherongs-
amte nach näherer Anweisung dcs?eH>cn und in den von ihm vorzuschreibenden
Fristen l ehersichten über ihre (icschäfts- und Kcchnungscrgcbiiisse cin/areichen.
Die Art und Form der Kcchnuugslührung bei den Venicberungsajistaltcn wird
durch das Reichs -Versicherungsamt geregelt.
Das Rcchttungfjahr ist daa Kalenderjahr.
IV. Schlara-, Straf- und Uebergangabestimmmigen.
§ 166. (KrankcakatscB.) Als KiaakenlMasen in» Sinne dieses Gesetaes gellen
vorbehaltlich der Bcstimnang in den §§ ao, 62 Abs. i, § Sa Abs. a die Orts*.
Betriebs» (Fabrik»), Raa* und Innangs^Krankenkassen, die Knnjkpschaftskasien sowie
die Gemcinde>KrankenversIcherung and landcsrcchtliche Einrichtungeu ähnlicher Art.
§ 167. (Besondere Bestimmungen für .Seeleute.) .Seeleute I Abs. I Ziffer I
des Cle«ctzes vom 13. Juli 18S7, Rrirhs-r'.r-vctzbl. S. 320 üind bei derjenigen Ver-
sicherungsanstalt zu versichern, in deren Bezirk sich der IleimatAhafen des Schiffes
befindet.
Die fttr Seeleute an enliiditenden Beitr.igc dArfen nach niherer Bestimmung
der Venrichentngsanslalten nach dem flUr die Unfttlverstchemng der Seeleute ab-
geschütsten Bedarf an Besataun^mannschaften der einsclnen Schiffe von den Rhedem
entrichtet werden. Uebcr das Verfidiren bei Entrichtung der Beitrige können durch
den Bnndesmt von den Vorsdiriften dieses Gesetzes abweicheode^Bestiamnngen ge»
troflen werden.
Für Srcleute, welche sich auiserhalb Europas aufhalten, betr.ngt die Frist zur
Einlcgung von Rechtsmitteln drei Monate. Die Frist kann von derjenigen ISehurde
gegen deren Bescheid da.s Rechtsmittel stattfindet, weiter erstreckt werden.
Die Obliegenheiten der unteren VerwaltangabehArde können , soweit es sich
um Seeleute handelt, durch den Bundesrat den SeenMaaatmtem flbertngcB werden.
§ 168. (Beitreibung.) RAckstlade sowie die in die Kasse der Versicherangs«
anstalt flicfsenden Strafen werden in derselben Weise bejgetrleben wie Gemeinde*
abgaben. Rfickstlnde haben das Vorsngsrecbt des g 61 Ziffer t der Kookursordonng
in der Fassung der Bekanntmachung vom 20. Mai 1898 (Reichs-Gesetsbl. S. 369)
und verjähren binnen zwei Jahren nach der Fälligkeit.
i{ l'>9. (Zuständige Landcsbehordcn.) Die Zentralbehörden der Hundcsstaaten
bestimmen, welche Vcrfmnde .1I? weitere Kommunalverbande an7uscben , und von
welchen Staats- «nier ( jcrneindebeliorden beziehungsweise Vertretungen tlic iu diesem
Gesetz den MaiUs- und üemcindeorgaueu sowie den Vcrlretongen der w^eitercn Kom-
niuaalv«rb9iiidc zugewiesenen Verrichtungen wahrsnnehmen sind.
Die von den Zentfalbehörden der Bundesstaaten ia GemlUsheit vorstehender
Vorschrift erlassenen Bestimromgcn sind durch den „RetchvAnseiger" bekannt wa
machen.
üiyiiized by Google
240
Gcs^tif^cijung L>eut»chi*3 Reich.
^ 170. (ZiutfUmiRen.) Zu.st<;llangen. w«lcbe den l<aaf von Fri$ti*ti bedingen,
konrn'ii liur. Ii di - r<wi ii,it!' l« cingwchri'-li. n-'n F?ri«*t>s rrfolg«*!!, Po*tcinli«rfrnillg»»
$ch< iiu- h %;ruiiilfii i)a< Ii Al'l.iuf \nn /.wei Jalir- n -••it ilir-T Ausst<-Uunj; die Vrr-
ntutiitit.; tiir die in der ordnun(;»mälsigrn Friät nach der Linlieferung erfolg«» /u-
slclluii;.;
iVr-uneii, wclclu- iiu hl im Inl.in<if wohin-n. l%>iniien \on d- ii zu>t«rIl<;nii<"U lic-
hdrden aufgefordert werden, einen /u>tel]unK«bev(>llin£chti^m zu bestellen. Wird
«in solcher innerhalb der gehetzten Frist nicht bestellt, so kann die Zu-aellung durch
ölTentlichen Aushang während einer Woche im den Geschäftsräumen der zustellenden
Behörde oder der Organe der Versichening»anstahen ersetzt werden. Das Gleich«
gilt, wenn der Aufenthalt des Empfingers unbekannt ist. .
$ 171. f Gebühren* und Stempelf reihrit.« Alle zur Begründung und Abwicke-
lung «liT K«N llt^\ iTli:iltni>N<^ zwischen den Versicliprun^saiistaltm '■in'T-*'it- und den
Arl'<"it;^<"l)t rn oiicr \'iT>ii hortfii aiHl.-rer^>'it> •■rtoni--rlh lii-n -i hi' 'l>;:>Tirlnli. h.-n uiui
aub<T;,'crichlli>-li<-i\ V.Tliau'iliitiL'cn \Ui>\ l rkuiiiirii ^in<i ^■•u-.ilit-'n- uti'l -t-inj><-Itr<-i.
l)a^^.•ll)l• ^ili lur ^>riv.lt^« lu ittlii-hr Volhii.*«. Iilcii und auitln h»- H<->, h< in;^uiii;.-ii, wi-lclie
mt GruuJ dieses Ijcsclz.-s zur Legitimation oder zur Fiihiung von Nachweisen er-
forderlich werden.
§ 172. (kechtshiire. I Die oftViitlichcn Behörden sind veq>flicht'-i . (l<-n im
Vollzüge dieses (»esetzes an sie ergehenden Ersuchen des Reichs-Versichemngsamts.
der Landes* Versicherungsfimter, der Schiedsgerichte, der Organe der Venticherungs*
anstalten und anderer »tfentlicher Behiirden zu entsprechen und den Organen der
Versicherungsiinstalten auch unaufgefordert alle Mittoilun;!fn zukommen zu la^Mii,
wt-lche für lU-ron C' i h ift-ln-trieb von Wichtigkeit «.ind. Die gl< ii Ii-- V. rj.i'i -htanj;
lic;;t »Ion < »r^^-iii dt-r \'< rsii h'Tiiii;:>.iii>!.ili' ti untereinander sowie den Organen der
Beru(>g<'nii-M-n-c!i;itt>'n und di-r Krank"'nl<.i>-''n ni'
duri li dii- Krliillunt; di<--.' r N ' rjii'ii htun;:' li fut^ti ii-Midt-n K>>>!imi ■•ind v.in
den Vcrsichrrungsanstalicn als oigctu \ •■rwaltungiki)Nt'-n insoweit zu erstatten, als
sie in Tag<.-goldem und Reisekosten sowie in Gebühren fOr Zeugen und Sachver*
ständige oder in sonstigen baren Auslagen bestehen.
173. (Besondere Kasseneinrichtungen. 1 Die Bestimmungen der ^ tS bis
23. 33« 47 bi« 52, S4* 55< 99« 100 Im* 102. 113. 115 bis 119, 123 bis 127, 128
Abs. 3, 6, §§ 156, 165 Abs. I, 171, 172 finden auch auf die nach 8. 10. 11
zugelassenen Kasseneinricbtnngen entsprechende Anwendung.
Die Haftung fllr di>- di r Ka^eneinrichtun;^ oMi- gendcn I,>'istun:^.-n öS, 127)
liegt, s<)r<rn di«- K;i<sen<-inrichtung liir H'-trifhi- do K'"ich> od-T oini> KontmunaJ*
verbaudf> frricht--t d«-m Rficli od<-r di-m Konununalv.-rlKiii i. in. ührig.ni d'^m-
jenigrn Hundi s^tuat (>l> . in dem der lii-tri'-b . (nr w-drh- n lic K.»!.-..'n'Mnrichtuiig
errichtet ist, seinen .NU/. h.u. Ist die Ka»seneinnchtung tür mehrere, in ver-
schiedenen Bundesstaaten belegene Betriebe errichtet, so haften diese Bundes*
Staaten nach der Zahl der bei der Kasseneinrichtung versicherten Personen, welche
in den beteiligten Betrieben am Schlufs des letzten Rechnungsjahres beschilUgt
waren. Diese Bestimmung findet in den Fällen des § 67 entsprechende Anwendung.
i^iy u^cJ L.y Google
biTOlidcnvcrsichcnmgsgcsctz vom 13. Juli 1S99.
34t
g 174. Für die F«s(stelliiiig der von den Kasscaeinriclitaiigcn dem Gcndi^
Tcnnögen mch dem biknfttretcii des Getötet mfliefsrnden Beitimgieimuhmeo sowie
für die Vt rtoilung der Altersrenten sind die nach § 32 Abs. 5 zur Erheboif
kommenden Beiträge maf^gflx'nd. Finc Wrf'ihm;: iIt von Kassencinrichtungen
festgestellten Renten erfolgt nur dann und lusowint, ein Anspruch aut dieselben
auch nach den \'orschrilten dieses Gesetzes bestehen würde und soweit die&elben
das Mals des rcicbsgcsctxlicben Anspruch!» nicht Ubersteigen.
Soweit diese Kasseneinricbtunge'n die von ihnen feitgeseMen Renten ohne Ver-
mittelong der Postnnstnlten selbst auaasahlen, wird ilmen der ReiclwmsclMiGi «m
Schlosse eines jeden Reciumngsjalu'es diidrt Überwiesen.
§ 175. (Strafbestirammgen.) Arbeitgeber, welche in die von ihnen «nf Grand
gesetxlicher oder von der Venidiemngsanstdt erlassener Bestimmnig mt&oatdlenden
Nachweisungen oder Anzeigen Eintragungen aufnehmen, deren Unrichtigkeit sie
kannten oder dm Umständen nach annehmen mufston, können von der unteren Vcr-
waUunf^sJichorde und da, wo Rentenstell«-n bestehen, von dem Vorsitzenden dcr-
s. il'i-n mit Geldstrafe bis zu einhundertundtimzig Mark, von dem Vorstande der Ver-
sicherungsanstalt mit Geldstraff bis zu fünfhundert Mark belegt werden.
§ 176. Arbeitgeber, welche es unterlassen, für die von ihnen beschäftigten,
dem Versichenmgszwang unterliegenden Permiett Ibfken in mreidiender HjShe und
in voncbriftsmfifsiger BeschalTenheit rechtieitig 141) zu verwenden oder di«
VersicherangsbeitfSge rechtseitig absofllhren (|§ 148, 149), können von dem Vor>
Stande der Versicherongsanstalt und da, wo die BcitragdcontroUe Rentenstellen Uber*
tragen ist, von dem Vorsitzenden derselben mit Geldstrafe bclcj^t werden, und rwar
von dem Vorstaiulr bis zu dreihundert Mark, von dem \ orsitzt-ndi-n der Renten-
steile bis zu « inhundcrlundfünfzig Mark. Kinc liestrafung findet nirlit >tatt, wenn
die rechtzeitige Verwendung der Marken von einem anderen Arbeitgeber txler Be-
triebsleiter (§ 177) oder im Falle des |; 144 von dem Versicherten bewirkt worden ist.
Die vorstdienden Bestimmungen finden anf Arbeitgeber, wekhe die ihnen ge*
mftfs § 4 Abs. a obliegenden Verpflichtungen nicht erf&llen, entsprediende An>
wendong.
Bestreitet der Arbeitgeber seine BeitragsptUcht, so ist diese anf dem im S 155
bcMichneten Wege festioatellcn.
§ 177. Der Arbeitgeber ist befugt, die Aufstellung tler nach gesetslicher oder
statutarischer Vorschrift erforderlichen Nacliwei^ungen oder Anzeigen sowie die Ver»
Wendung von Marken anf b-M'ün.iu hf i^tr I.. it- r seines Betriebes zu übertragen.
Name und Wohnort %oii -olclien bevollmächtigten I'.etriebsleiiern sind dem Vor-
stande der Versicherungsanstalt und da, wo die licitragskontroUe Kentenstelleu Uber-
tragen ist, dem Vorsitienden dersdben sowie beim Einzngsverfahren der Einsngmtdle
mitxoteilen. Begeht ein derartiger BevoUmichtigter enie in den §§ 175, 176, 179
mit Strafe bedrohte Handlung, so finden auf ihn die dort vorgesehenen Strafen An*
Wendung.
f 178. Gegen StrafTestsetiungen, die auf Grund dieses Gesctaes oder der an
drsnen Ausführung ergangenen Anordnungen oder anf Grund der Statuten von den
Archiv für toi. Gc«ettgebtmf u. Suiivtik. XV. |6
242
Gesetigcbunj;: Dcnlidics Reich.
Organen der VcnichcniiigBanstaltm oder dm Schicdst^crichts-Vonütieiiden gctroflea
sind, findet dir li. - ]iw< rtlr statt. Ueber dirselbc enlscli<itlft, wrnn dir Straff<-st-
^etrunj; auf Grutul «Ks {} 176 <«kr wt-nn ••!<■ in anderen hallen von drni VorNitzcndrn
«Icr kentenstelle o*l<-r von dem \'or-it/. iHien des S*hi<-dsj^crichts jjetroffen war, die
liohcre Verwaltunji-belmnie, in d« i< u /.irk sich tier Sit/, der \ < rsu herun^jsanstait,
der kcutcustcllc oder des Schiethgerichtis beiludet, im Übrigen das Reichs- Versiehe*
rangsamt. Die Beschwerde ist binnen swei Wochen nach der Zustellnng der Stnf«
Verfügung bei der zur Entscheidung tustindigen Stelle eianilegen; deren Ent-
tcheidung iat endgültig.
Die von den vorbezeichneten Stellen sowie too den Ver»'altun^sbebörden aof
Grund dieses Gesetzes festjjcsetztcn Strafen lln Ken. «»oweit nicht in diesem Gesetz
abweichende Bestimmungen (;etrotTcn sind, in die Kasse der Versichcningsanstalt.
§ 179. Wer der ihm nach 5; 14S obliegenden Verpflichtung zur An- und
Abmeldung niclit n.u hkomnit , wird mit deMstr.ife bis /u zwanzig Mark hestr;»lt.
yiatti- (Ii'- Meldung litr eine Kratikenkas!>e zu eriol^cn, su lUclsen dieser die Geld-
ktrak-n zu.
iSo. Den .Vrlxitgrbti n i,:i>l ihr<-n .\ng'•^l<•llt■■n i-t utit'T-.i^-t, «lurrh l'eb'-r-
cmkunft oder mittels Arbeilsoninuugcn die Anwenduiij; der Besiniimungen die»c>
Gesettes zum Nachtelle der Versicherten ganz oder teilweise anszuschliefaes oder
dieselben in der Uebemahme oder Ansäbmig einet in Gemtfsbeit dieses Gesetzes
ihnen flbertragenen Ehrenamts zn beschrSnkcn. Vertngsbestimmiingcn, welche diesetn
Verbote zuwiderlaufen, haben keine rechtliche Wirkung.
Arbeitgeber oder deren An.-.-.t. llt-- welche gegen die vorstehende Bestimmung
verstofsen, werd-^n, sofern nieht n.iih anileren geKctzliehrn Vors.hriften eine härtere
btrale eintritt, mit G< Id^trate bi» zu dreihundert Mark o<ler mit Matt bestralt.
§ 181 . Die gleiche Stiufc (§ lSo\ trifft, sofcru nicht nach anderen Gesetzen eine
höhere Strate verwirkt ist,
1. Albeitgeber. Weh lie lien von ihnen beM liältigteii, dem Versjcherungszwang
unterliegenden rersoiien an lU-itr.^gen in rechtswiilriger .\bsicht mehr
der Lohnzahlung in Anrechnung bringen, als nach § 34 Abs. 4. ^ 142
zul&eig ist, oder welche es unterlassen, entgegen der Vorschrift des § 143
Abs. 4 die dort gebotenen Lohnabzüge zu machen, oder den bei Anwen-
dung des § 52 a des Krankenvenichcntngsgesetzes auf die Beiträge zur
Im'alidcnversicherung sich ergebenden Verpflichtungen nachzukommen;
2. Angestellte, welche einen solchen gröf^ren Abzug in rechtswidriger Ab-
sicht bevx irkrn ;
3- Versicherte, wel< hi- die Heitriige si-U)st eiUru hten. wenn sie dabei von
dem Arbeitgeber in reclitswidriger Absicht mehr erstattet verlangen, als
nach ^§ 34 Abs. 4, 144, 145 zulässig ist, oder wenn sie ftir die
gleiche Beitragswoche die Erstattung des vollen Beitragsanteils Ton mehr
als einem Arbeitgeber in Anspruch nehmen oder es unterlassen, den Ton^
Arbeitgeber erhobenen Beitrsgsanteil zur Entrichtung des Beitrags zu ver-
wenden;
IiiTalidcnvcr»icberun£sgesetx vom IJ. Jnli 1^99. 243
4. Personen, welche dem BcreclitigteB dne Qnittuigsliarte «Mcmdidicli vor-
enthalten.
§ 182. ArbeHfeber, welche den von ihnen bescUUUgtcn Penoocn anf Gnmd
des ^143 LohnbebAc« in Abcog bringen, die «beesofencn Betfige aber nicht ni
Zwecken der Versichenmg Terwenden, weiden, falls nicht nach anderen Gesetzen
eine höhere Strafe verwirkt ist, mit Geldstrafe ins zu dreihundert Mark oder ndt
Haft bestraft.
Wunir die Verwendung^ in (Jrr Absiclit unterlassen, sich oder einem Dritten
einen rcchtswi<lrigcn Vermugensvorteil zu verscliaffcn o<ier die Vrrsicbemngsanstalt
oder die Versicherten zu sdiidigen, üo tritt Geiangnisstrafe ein, neben welcher aof
Geldstrafe b» an dreitausend Mark, sowie anf Verbist der bttiferUchen Ebrenredite
erkannt werden kann. Sind müdemde Umstinde vorhanden, so darf ansseblielslich
anf Geldstrafe erkannt werden.
§ 183. Die Strafbestinummcen der §§ 175, 176, 179 bis i8a finden auch
anf die gesetzlichen Vertreter handlungsunrahii^cr Arbeitgeber, desgleidien auf
die Mitglieder des Vorstandes einer Aktiengesi llscliaft, Innung oder eingetragenen
Genossenschaft, sowie auf di<> Liquidatoren einer Handelsgesellschaft, Innung oder
eingetragenen ( "I<•Tl^l■^-'•Tl•>^•!l;llt Anwendung.
1; 1S4. Wer in i,)uittun;;skaneii I'iiitragungen oder Vermerki- m.icht, welclie
nach § 139 unzulässig sind, odt-r wer in Quittungskarten den Vordruck oder die zur
Ausfüllung des Vordrucks eingetragenen Worte oder Zahlen verfälscht oder wis<>cnt-
licb von einer derart vermischten Karte Gebrauch macht, kann von der imteren
Verwaltungsbehörde und da, wo Rentenstellen die Beitragskontrolle flbert ragen ist,
'von dem Vorsitsenden derselben mit Geldstrafe bb zu awanzig Mark belegt werden.
Sind die Eintragungen, Vermerke oder Veränderungen in der Absicht gemacht
worden, den Inhabern der Quittungskarte anderen Arbeitergebem gegenüber sn keiUl«
zeichnen, so tritt Cioldvtr.ife bis zu zweitausmil Mark oder (jefKii{.'iiis bis zu sf-rhs
Moii.iti n ein Sind mild< md.- I mstande vorhanden, so kann statt der Gcfäuguis'
strafe aul Halt i rkaiuu werden.
Eine Verfolgung wegen Urkundcnfillschung 267, 268 des Reidia>Strafgesctz«
buchs) tritt nur ein, wenn die Fälschung in der Absicht begangen wurde, sich oder
einem Anderen einen Vermi^ensvorteil au verschaffen oder einem Anderen Schaden
zotttfUgen.
§ 185. Die Mitglieder der Vorstände und sonstiger Organe der Versichemng»-
anstalten sowie die das Auf^ji ht>reclit über dieselben ausübenden Beamten werden,
wenn sie unbefugt Hetri<b>geheimnisse offenbarten, welche kraft ihres Amts zu ilirer
K'-niitni- ;,'el.mgf sind, mit (ield^trafr bis zu eintausendfUnfhundert Mark oder mit
Gefängnis bis /u 'Ir. 1 Monaten bestraft.
Die Verfolgung liitt nui auf .Vmrat,' <les H. triebsunternehnu rs ein
160. Die im § 1S5 bezeichneten Tcrsoncn werden mit G< täDgni>, neben
welchem auf Verlust der bürgerliefaen Ehrenrechte erkannt w^den kann, bestraft,
wenn sie absichtlidi zum Nachteile der Betriebsuntemehmer Betriebsgeheimnisse,
welclie kiaft ihres Amts zu ihrer Kenntnis gelangt waren, offenbaren, oder wenn sie
i6*
Digitized by Google
244
IjescUgcbung : L>«*utsch«-.% Reich.
geheim gehaltene Betrirbi»einrichtungen oder Betriebsweisen, velche kraft ihres Amts
zu ihrer Kenntnis gelangt sind, solange als diese Betriebsgeheinmisse sind, nach-
ahmen.
Thun >i>- <lif>, um sirh oder einrm Anderm *-infn Wrm<>);<-nsvortril jlu ver-
x-hatTcn, so k.inn neben der («cfiingnisstrafe auf Geldstrafe bis za dreitausend Mark
erkannt worden.
§ 187. Mit Gciaiijinis nicht unli-r drei Monaten, neben welchem «tut V'eriu»t
der bargerlichen Ehrenrechte erkannt weiden kann, wird bestraft, wer anccfate
Marken in der Absicht anfertigt, sie als echt n verwenden, oder echte Marken in
der Absicht verfälscht, sie sn einem höheren Werte sn verwenden, oder wissentUck
von falschen otler verfakchten Marken d-ltrauch macht.
r^iesflbc Strafe trifft <1« ii . nijjcn. welcher Marken verwendet, veräufsert oder
iVüliiili oliwohl er weif», uUir tlen I nistanden nafh anni-hmen muU, dafs die Marken
bcn iti rintii.il \ ' Tw • iid«-t wor'!?«n sind. "^in i ni;Mi rii lr l'ni^tiirid'- vorhanden, tiO
kann auf (ieldstratc bis zu dmiimulrrt Mark odor Halt erkannt werden.
Zugleich ist auf Einziehung der Marken zu erkennen, ohne Unterschied, ob sie
dem Verurteilten gehören oder nicht Auf diese Einxiehang ist noch dann xn er»
kennen, wenn die Verfoignng oder Verurteilung einer bestimmten Person nicht
stattfindet.
g 188. Mit Geldstr.ife tu einluindertundfttnfzig Mark ndrr nut Haft wird
bestraft, wer ohne schriftlicli< u .Vuftr.i^ einer N ersicluTun^^sanstalt inier einer Behörde
i. Steni]»el, .Siegel, Stich<-, l'latteii oder aiid> re l omien, welche im .\n-
fertiyuny von Marken dienen kennen, anfertif;t oder an einen .\ndcren als
die VcrMcherungsan^talt beziehungsweise die Behörde verabfolgt,
a. den Abdruck der in Zif^r 1 genannten Stempel, Siegel, Stiche, Platten
oder Formen nntemimmt oder Abdrücke an einen Andere^ als die Ver-
sicherungsanstalt beziehimgsweise die Behörde verabfolgt.
Neben der Geldstrafe oder Haft kann avif rinzielmn;: der Stempel, Siegel,
Stiche. Platten oder I'ornien erlumut werden, ohne Unterschied, ob sie dem Verur-
teilten ;j< lK>ren oder nirht
ij iS"). ir«-l»M ^anji^itesiminuinf^en. I hf\ \'er>i. licrlen , welche innerhalb der
ersten lüut Jahre, nachdem die \'crsichcrungs|>tlichl iur ihren Berutszwcig in Kratt
getreten ist, erwerbsnnShig werden, wird auf die Wartezeit fUr die Invalideiiiente
(§ 29 Abs. 1 ZiiTer l) die Dauer einer früheren Beschiftigung angerechnet, flir welche
die Versicherongspllicht bestand oder inzwischen eingeführt worden iit
Die Anrechnung erfolgt aber nur, insoweit die frühere Beschäftigung In die
letzten Hinf Jahre vor Eintritt d -r Frwerbsunfähi^keit entfallt, und nur d.mn, wenn
nach drin /rit]n:nkte, mit welchem die VersichenmL' ht für den betrefTenden
Berufszwcig in Kratt getreten i^t . eine die Versii lirningspflicht begründende Be-
schältiguiig flir die Dauer von mindestens vier/ip Wochen bestanden hat.
g 190. Bei Versicherten, welche zu der Zeit, als die Versicherungsptlicbt tiir
ihren Bemfsxweig in Kraft trat, das vierzigste Lebensjahr vollendet haben, werdca
auf die Wartezeit flir die Altersrente (§ 29 Abs. 1 Ziffer 2) für jedes volle Jahr, vm
welches ihr Lebensalter zu diesem Zeitpunkte das vollendete vierzigste Jahr Uber-
^ ij . .-Lo l y Google
InvaliiicnvcrsicbcningsgescU vom 1 3. Juli 1899.
itiegcn liBt, Tienif Wodien vaA Ar den ilbcnchkfteiiden Teil ciacs aoldica Jahns
die WCitcWP Wodacn, jedoch nicht mt^hr als vienig, angerechnet.
Die Anrechnung crfoljjt aber nur «lann, wenn solche Personen während der
drm Inkrafttreten immittclhiir vuriiiif;c<!anf;encn drei Jahre bcrulsmälsip, wenn auch
nicht ununterbrui hi n, eine Hochatliguu^ j:« habl haben, für welche die Wrsicherungs-
ptlicbt bestand uder inzwischen eingeführt wurden ist. Dicker Nacliwci» wird er-
Unem, w«m immlialb der ersten fünf Jmhre, nadidem die VerMchenmgipflkht flir
den betreflenden Bentftsweig in Kraft getreten ist, eine die Verncheningspflicbt be-
gründende Besch<ignng flir die Dauer von mindestens sweihmdert Wochen bc>
bestanden bat
I I9i> In den ROlcn der §§ 189, 190 wird für die in Anrechnong an
bringende Zeit vor der Begründung der YrTsichr rUlgSpflicht eine unter § 30 Abt. 2
fallende Krankheit oder militärisi he Dionstleistung sowie die /«-it d< s früheren
lUv-ugs einer luvalidcoreote 47 Abs. 4) einem Arbeits* oder Dieustvcrhältnisse
gleich geachtet.
Dasselbe gilt für den Zeitraum von höchstens vier Monaten während eines
Kalenderjahres
1. von Zeiten vorübergehender Uoterbrechong eines ständigen Arbeits- oder
Dienstverhältnisses zu einem bestimmten Arbeitgeber;
a. von Zeiten vorttbeigehender Unterbrechung einer bcruf»niäfNi^(-n Pcschfif»
tigung, soweit es sich um '-in'- RrschäftipuiK liandclt. die nach ihrer
Natur alljährlich für einige Zeit voriibergcbcod unterbrochen zu werden
3. von ciiR-r zu Zwecken des V erdienstes unternommenen Beschäftigung mit
Spinnen, Stridien oder ähnlichen leichten häuslichen Arbeiten, wie sie
landesüblich von altcmden oder schwächlichen Leuten geleistet zn werden
pflegen.
% 192. Sind bei den auf Grand des g 190 sn gewährenden Altersrenten weniger
als vierhundert Beitragswochen nachgewiesen, so werden fttr die fehlenden Wochen
Beiträge derjenigen Lohnklasse, welche dem durcbscbnittlichett Jahresarbeitcverdienst
des Versicherten wahrend der im 190 Abs. 2 Satz. I b»-ieiohneten drei Jahre ent-
spricht, mindestens aber Beiträgr der ersten I.olinkla^-'- in An>atz j^ebraiht. Sind
mehr als vierhundert r>citra)^svvo( hon nachgewiesen, so kommen die Bestimmungen
des g 37 ohne weiteres in Anwentlung.
4; l<>3. Ansprüche auf k- nlrn odfr lU-ilra^'s« r-t.munf;en , über welche zur
/fit des Inkralttretens dieses Ge>ei/.<s <la> Fc-t-t<lliin;;svcrfahren noch schwebt,
unterliegen den Bestimmungen dir>cs Gesetzes, soinri letztere» für die Berechtigten
günstiger ist. Die Nichtanwendung dieser günstigeren Bestimmung bildet einen Re>
sionsgrnnd im Sinne des § 116 Abs. 3.
§ 194. f Gesetzeskraft.) Die vorstehenden Bestimmungen treten, soweit sie
sich auf die Herstellung oder Veränderung der zur Dnrchfllhrung der Invaliden*
Versicherung erforderlichen Einrichtungen beziehen, mit dem Tage der Verktbidnng,
im Übrigen mit dem l. Januar 1900 in Kraft.
})tl"-^t ">ai^i Iiiarbeit I ;
t
246
Gcsetsgebttne: DeuUches Reidi.
Sofern hi^ zu 1ptzter<''m Zeitpunkte die Statnldi einer V'ersicherungsambilC
odrr «-iiirr auf Gnind der ijj; ^, 7 drs (ir^-rtzes vom 22. Juni 1SS9 zug'-las5pnen
h''sornirr>*n Kasscneinrirluung dir nach dem gegenwartiffn Gr^rtr rrfonierlK hen
Aenderuiij;'>n nicht r<-cl)t?citit; rrlahrcu sollten, werden dic>,c Abänderungen durch
die AurMchl-<bchorde mit rechtsverbindlicher Wirkung von Auf>ichUwegeo voUxogen.
Der Reichskattsler wird emichtigt, den Text des InvBlideoverrichcraBgs-
Gesetzes imter fortlaufender Nnmmemfolge der I^uagraphen durch das Reidis-Gcscta-
blatt bekannt zu machen. Soweit in Reiehsgesetaen oder in Landesgesetzen anf Vor-
schrift «n de>, Gesetzen vom 32. Juni 1889 verwiesen ist, treten die entsprechcBdea
Vorschriften dit sc» Textes an ihre Stelle.
rrkundlirh unter unserer Höchsteigenbändigen Unterschrift und beigedrodctem
Kiti.xerlu hen Iiim. <;--1
Gejjebcn Mcrok im Gcirau^cr Ijord au IJord M. V. „Huhcujiollcm", dt-n
13. Juli 1899.
(L. S.) Wilhelm.
Grai von Po»adowäky.
^ ij ,L.Lo i.y Google
OR08SBRITAIINIBN.
Die LfSge der Ladengehilfen in England und das
Gesetz über die Beschaffung von Sitzgelegenheit
für weibliche Ladengehilfen.
Von
EDUARD BKRNSIHIN,
in London.
Wenn CS als unbcstrittciir Wahrheit ;^ilt, dafs die Laf^e der
cnji^lischen Iiukisti icarl)citcr im Durchschnitt besser ist als die ihrer
festländischen Kollegen, so kann man mit Recht daran zweifeln, ob
von der Masse der englischen Handlungsgehilfen das Gleiche gesagt
werden kann. Vielinehr hat sich in derselben Zeitperiode, wo durch
Gesetzgebung und Koalition ganze Kategorien englischer Industrie*
arbeiter wesentliche Verbesserungen in ihren Arbeitsbedingungen
erzielten, in den Verhaltnissen der englischen Handlungsgehilfen,
und insbesondere der Ladenangestellten, wenig zum Besseren, manches
aber zum Schlechtem gewendet Von der Mehrheit der englischen
Ladengehilfen steht es fest, dafs ihre Möglichkeiten in Bezug auf
die Lebenshaltung im wesentlichen stationär geblieben, relativ also
zurücl^egangen sind. Ihre Bezahlung bleibt hinter der von quali-
fizierten ("skilled") Industriearbeitern zurück, ihre Arbeitszeit ist eine
längere, ihre Abhängigkeit eine gröfsere.
Die Ursachen dieser Rückständigkeit sind nicht schwer zu er-
mitteln. Die Thatsache, dafs im Handel die kleine Unternehmung
noch eine erhebliche Rolle spielt und dafs in gröfseren Geschäften
stärker als in der Industrie ein Aufsteigen der Angestellten von der
untersten Stufenleiter zu höheren Stellungen erhöht wird, der starke
Prozentsatz weiblicher Handlungsgehilfen, von denen der gröfste
Teil die Erwerbstliätigkeit entweder nur als Durchgangsstadium vor
248
(}e!t«'tzK(-'l>ung'. GrofsbiitMinien.
dem Eingehen der Ehe oder behufs Ergänzung des Familien-
einkommens betreibt — dies und die erheblichen Unterschiede in
der Klasseii/.u^^^clKiri'^kcit, dem ßildung^ang und der sozialen Denk-
weise der kaufmännischen Angestellten erschweren die Bildung von
Koalitionen dieser zur Verbesseninjj ihrer Arbeitsbedingungen in
solcbrni < irade, dafs es kaum eine lirwerbsschicht ;^Mebt, die sich
gleicii iiilllos zur Aktion gewerkschaftlichen Charakters erwiesen
hätte wie der 1 l.indt I>L;rliilfen.
In En^lanil suul die Ür^'anisationen der 1 landlun^^j^ehilfen so^'ar
nocb hinter denen \ cr^rhiedciier b"esllanils>taatcn zuriick. Der au<;
einer \'ersriinielzun;4 ri\al:>iereniler Vereine h( r\or^e:'aii;^fene ..Natio-
nale Hund der X'ereiiu^ten La< lfii;.^i liiltt ii , Ma;;.;a/.inbeanUen und
Buchhalter" /ähltc Ende 1898 28**7 MitL^iieder, darunter 330 weib-
lichen ( iiM hiechts, und wird jetzt ^e^en 3 500 Mit^dieder haben.
Alle sonsti^'en kaufniUnnischen Vereine Knglands sind blofse HilLs-
und HildunL;s\ereine.
("laiiz kUi^lirii ist ilei Stand der Or^Mnisation in der Kiesenstadt
London. Trotz eifri«;tr .X^iitation der sehr rijhri<;en Leitung des
erwähnten Bundes zählte derselbe im Juli dieses Jahres in ganz
London, einschliefslich der benachbarten Städte Stratford ond West-
Harn, erst etwas über 500 Mitglieder. Eine im Frühjahr 1899 er-
folgreich durchgeführte Aktion zu Gunsten der Einhaltung «,a-re<^elter
Arbeitszeit in einem gröfscren Warenhaus der City hat der Be-
wegung hier einen gewissen ermutigenden Anstofs gegeben, aber
an Durchsetzung von wesentlichen Erfolgen aus eigener Kraft ist
noch auf lange Zeit nicht zu denken.
So sind die Augen des Bundes vornehmlich auf die Gesetz-
gebung als Helferin gerichtet. Aber auch hier hat er mit einer
grö(ser.en Schwierigkeit zu kämpfen wie die Organisationen der In-
dustriearbeiter. Die Stimme des Handelsangestellten wiegt nämlich
bei dem englischen Gesetzgd>er \'iel leichter als die des .Arbeiters.
Dies teils wegen des gerin^^en |»olitischen .Solidaritäts^efühls unter
ihnen, teils aber auch weil }.,aTade die Schicht der kaufimännischen
Grehilfen, die den Sehutz des Gesetzgebers am nötigsten brauchte,
die Angestellten der Warenhäuser, in ihrer grofsen Mehrheit des
Stimmrechts entbehrt. In Kn;:jland ist das Stimmrecht bekanntlich
an den Besitz einer ei^^enen VVohnunfj ;.^eknüpft, ein ii^rofscr Prozent-
satz der 1 landlun^'>i4^ehilfen aber ist weder Haus- nocli Zimnu rnneter,
sondern ist Tcilwohner oder Inncnwohnt-r itn Geschäft seines Prin-
zipals, d. h. hat bei diesem Kost und Logis.
Lduard Uernstcin. Die Lage der Ladcngt-liilfen in England etc. 249
Dieses Innenwohnerwesen ("Itving in System"), ein Erbstück aus
der Zeit patriarchalischer Zustände im Handel, und hier und da
auch heute noch in diesem Geiste praktiziert, hat sich in der Mehr-
heit der Falle zu einer iirahren Hörigkeit, einem last kldsterlichen
Internat mit allen seinen Ucbeln entwickelt Es überwiegt in den
grofsen Schnittwarenhäusem Englands. Für die Besitzer dieser Art
Geschäfte ist es vorteilhaft genug, denn es erlaubt ihnen, die An»
gestellten einer Kontrolle zu unterwerfen, wie sie sonst unmöglich
wäre. Was es aber (ur die .-Xn^estellten selbst heifst, ma«,^ einer
der besten Kenner der sozialen Zustände Londons, der Bapiisten-
^eistliche Dr. John Cliflford bezeugen, der noch das patriarchalische
System, wie es vor vierzig Jahren bestand, aus eigner Anschauung
kannte. In einer, am 26, Juni 189S gehaltenen Predigt über die
Hedingungcn und Probleme des Lebens in den Warengeschäften
sagte er:
„Heute ist der Angestellte vcillig in der Gewalt des Prin/ijials.
Seine Krcihcit liegt in Ketten. Kr hat wenig oder gar nichts d. trüber
zu l)cstinunen, was er essen und trinken und wie er sich kleiden
soll. Kr ist beständig unter .Sjjionage, iiberwacht in stirem dehen
und seinem Kommen... l'iid dann i.st es Jiiir unsagHi h peinlich
zu denken, dafs er kein Privatleben hat. Sein gaj)ze> Leben ist
ölienllieh. Kr ist kaum jemals allein. Das kostbare Clul ,.ein
eigner Raum" fehlt ihm, und in manchen l allen hat er nicht einmal
einen eigenen Abteil, sondern muls mit sieben oder siebzehn Per-
sonen im gleichen Räume schlafen. Er hat keine Gelegenheit zu
emsthaftem Nachdenken, keine Möglichkeit des Alleinseins, dieser
Quelle innerer Festigung . . . Au(serdem ist er zum Zölibat ge-
zwungen, und was das bedeutet, wage ich kaum zu denken, ge-
schweige denn auszusprechen . . . Und dann hat der Mann keine
bürgerlichen Rechte. Er hat kein Stimmrecht. Er ist 2$ oder
30 Jahre alt, aber er hat keine Gelegenheit, sein Recht als Staats-
büi^er auszuüben. Er ,4ebt drinnen", und das heiCst für ihn außer-
halb der politischen Welt leben ... Allgemein gesprochen, wobei
nicht vergessen werden soll, dals es bemerkenswerte Ausnahmen
giebt, mufs von dem System als solches gesagt werden, dafs es
schädlich ist für die Gesundheit, schädlich für die geistige und all-
gemeine Kultur, schädlich für die Entwicklung der Individualität
und M liadlich für die Moral."
.\chnlich äutserte sich im Jahre 1896 ein kaufmännischer He-
triebsletter in einem sehr gemäfsigt gehaltenen Artikel der in Oxford
L.ivjij^Lu L.y Google
250
Gesetzgebung GrorsbritAiuiieii.
herausgegebenen "Economic Review". Vor allem erweist sich das
System, schrieb er, als ein grolses Hindernis der Ehescbliefsung.
„Das Eheverbot", heilst es in einer trofflichen ArtikcKt ric, die das
*'Dail\- Chronicle" 1897 unter dem 1 itcl "Life in ihe shop" ver-
öffenllichte, „ist un[,fescliricbencs aber bindendes Gesetz". Und in
der vom Fabierverein herausgegebenen I'lu'^'schrift "Sliop Life and
its Reform" wir ! das „Zwangszölibat" der I^denanpjestelltcn auf die
meist unznläir^hrhc liezahlunf]^ und das System des "livin^ in " zu-
rück*;cfülirt, das keine X'orkehrun^en für \crheiratele Leute ein-
srhlielse, so dals selbst in .solchen I cllleii. wo eine leidlich kom-
fortable I'^he in<»L:!ich wäre, die Krlaubnis des Chct's nachgesucht
werden müsse. Diese werde aber ;^ewohnlich tiur dann erteilt,
wenn der .Anfragende schon t^iiie hölicre Stelle bekleide.
In der let/tgenaniiten Scluitl, die in >( !n- uliersii htlirher Weise
die Ikx'hwenien aulzalilt, unter denen der moderne Latlengehillc
in F.n<j;land U idet, i--t insbe>e>ndere das .Material berücksichtigt, (.las
die R(»nigliehe l ntersuehungskoinniission von 1892 über die Ar-
beiter\erhältni.sse mit Bezug auf diesen Punkt zui»ammengestellt haL
Desgleichen das in dem Standardwerk von Charles Booth Ufe and
Labour of the People in London" hierüber niederlegte MateriaL
Booth berechnet (Bd. VII). dafs mit Einschluß der Wohlthaten des
'living in" (Freies L<^is mit Kost etc.) die Hälfte der männlichen
Ladengehilfen in London sich kaum besser stehen wie ein Arbeiter,
der einen Wochenlohn von 30 Sh. bezieht, während drei Viertel
der weiblichen I^dengehilfen sich alles in allem auf 20 Sh. die
Woche stellen. Der Durchschnittsverdienst des männlichen Laden«
gehilfen im ganzen Vereinigten Königreich stellt sich nach den
Tabellen der Royal Conmiission on Labour auf 25 Sh. II Penoe
die Woche — weniger als der Durchschnittslohn selbst weniger
qualifizierter Arbeiter. Dem Schreiber dieses sind denn auch Fälle
bekannt, wo kaufmännische Gehilfen aus ihrer Stelle heraus sich
als Tagelöhner (Bauhandlangcr, Dockarbeiter) verdungen haben,
weil die Arbeit des Tagelöhners zwar körperlich schwerer, aber
dafür weniger abhetzend, eher besser bezahlt, die Arbeitszeit eine
kürzere sei .ils die im Laden.
Die .Arbeitszeit der Ladengehilfen variirt nach dem Charakter
der Geschäfte. Sie i.st am längsten in den kleineren Läden, sowie
in den Mittelgesehäften der \\)lks\ iertel, am kürzesten in den hoch-
eleganten Lusrhaften. wo die Aristokratie ihre Linkäufe macht, und
in den Arbeiterkonsumvereinen. Diese erreichen den Rekord günstiger
Eduard licmbtcin, Die Lage der Ladcugchillcn in England clc. 2^1
Arbeitszeit. Der grofse Arbeiterkonsumverein von Oldham z. E
hat folgende Arbeitsstunden:
Montags, Mittwochs und Donnerstag von vormittags und
I — 8 nachmittags, bezw. abends.
Dienstags von 8 — 12 vormittags, nachmittags frei.
Freitags 8—12 vormittags, i — 9 nachmittags.
Sonnabends 8 — 12 vormitts^s, 1 — 6 nachmitt^is.
Sonntai^s frei.
An den Nachmitta^jen, wo gearbeitet wird, wird eine halbe
Stunde für \'esprr '"Tca ) aus<:jcsetzt, sodafs die wirkliche Arbeits-
zeit si' li luf 55'., Stunden die Woche stellt Eine gleiche Zeit-
einteilung herrscht in 663 Arbeiterkonsumvereinen, die fast alle mit
("leschäften zu konkurrieren haben, in denen eine 80. stündige Ar-
beitszeit die Regel ist. Die .\rbciterkonsumvereine verzichten sämt-
lich auf das Innenwohnen der .Angestilltcn und haben das in den
meisten kapit.iUslisrhen Warenhäusern ultlu hc Ikifsensystem teils
ganz ahgfschatU, teils auf ein Miiiiicslinals reduziert.
Das System der Hufsabzüge ist ein weiterer Be?:rhwerdcpunkt
der englischen 1 .adengehilfcn. Ks ist in den englischen Warenhäusern
sehr verbreitet und in manclun (itxhäftt-n so kunstvoll aufge-
arbeitet, dafs es unmöglich ist. ihm nicht zum ( '>]}{rv /.u fallen. Der
Bufsenktnle.x des gröfsten der l.ontloner Warenhäuser — \\ hiteley
in Westbournc Park, West-London — enthält 159 Taragraphen, wird
aber noch durch den einer Firma im gleichen Stadtviertel übertroffen,
der nicht weniger als 198 Paragraphen zahlt Hingegen haben
einige andere grofse Warenhauser in London das Bu(sensystem
völlig abgeschafft, ein Beweis, dals es auch in kapitalistischen Unter-
nehmungen ohne Schaden entbehrt werden kann. Da(s es sich aber
so allgemein einbürgern und auswachsen konnte, beweist auf der
andern Seite aufs Anschaulichste, wie ungemein abhängig grade die
kau6nannischen Angestellten in England sind. Wirkte nicht in der
Mehrheit der Fälle die allgemein in England übliche Achtung vor
der Persönlichkeit als Korrektiv, ^ könnte man von absoluter
Unterwerfung dieser Klasse unter die Willkür ihrer kapitalistischen
Prinzipale sprechen.
Von gesetzlichem Schutz für den Handelsangestellten war in
England bisher nicht die Rede, in bczug auf ihn herrschte vielmehr
und herrscht im wesentlichen noch in ungetrübtester Reinheit die
Freilirit des Kontraktes. Verträge, durch welche Gehilfen sich die
drückendsten V'erpflichtungen gegenüber ihren Prinzipalen auf-
252
( tesrt2(,'< bung : Grof>briUiamcn.
erlegen, für sich selbst aber von allen Bürgschaften für die Siche-
rung ihrer Existenz, wie Kündi^unj^;ifrist etc. , absehen , gehören
durcliaus nicht ZU den SeUenlicitcn. In dieser i iinsicht i»t der
I iandlun^'NL^ohilfe ganz auf die Konjunktur und den guten Willen
des Prinzipals angewiesen.
Den ersten I^inL^ritT in den Absoluti^nin< dc-N I .adeneif^cn-
tiiincr?? niachif das ( i r s t- 1 z von 1 8tH6 ü h v i die A r I » c i 1 s z c i t
in L a d c n ^' e s c Ii ä f t c n , das für in Laden I>eMhafti;^'te juni;e Pcr-
s<nien von unter l8 Jahren eine Maxiinalai heit-^/fil von 74 Stundi-n
die \\ oche ft Ntselzte. A\n r das ( ioet/ l)e>tininit keine Strafen fi.ir
die l'ebertritiin*^ seiner XOrsclirillen und uberUiKt die Kontrolle
ihier I )ureiifuln nn;^ dem '^niten Willen der 1 .okalbeln »rden, \<iii dciu-ii
mir i'/.iDA wcni'^M- virh dazu verstanden Iiabeii, S|K'/iallH-anite mit
difvt r Koi tmlle /u 1 x auUra-cii. I'.ine Llrc)l^^■!r Anzaiii hat die
Aulj;al)e, iHe 1 )urii)hihruni; der besa;^^tei) Ik.-Iinimuii^' zu über-
wachen, an licamte ubertia,^en, denen scIidii andere l elxrwacliun^s-
aufgaben obliegen und die daher nur gelegentlich sich um iHcsen
Punkt kümmern können. Im Greisen und Gänsen ist das (lesetz
jedenfalls ohne Rückwirkung auf die Verhältnisse im Kleinhandel
geblieben.
Das erste Gesetz, das den vom Staat ernannten Fabrikinspek>
toren ein Aufsichtsrecht über I^dengeschafte gewährt, ist das ver-
besserte Truckgesetz von 1896. Es bestimmt in seinem ersten
Paragraphen, dafs kein Unternehmer seinem Angestellten Strafen in
Abzug bringen darf, die nicht im Anstellungskontrakt desselben genau
spezifiziert sind und sich auf Handlungen oder l^nterlassungen be-
ziehen, die den Unternehmer in seinem Eigentum oder Geschäfts*
betrieb wirklich schädigen oder ihm nach Voraussicht solche Schä-
digung verursachen können. Der Kontrakt mu(s entweder dem
Angestellten beim Antritt schriftlich \or*,ek%;eii lialien und von
ihm unterzeichnet sein, oder er mufs im Geschäft als gedruckte
AnkündijTun^:^ dauernd so ausgehängt sein, dafs er von den An-
«:^estellten jederzeit leicht cin<^esehen und ko|)iert werden kann. Die
Straten sollen auf alle Umstände des I "all< - Rncksirht nehmen, billig
und vernünitii; sein, und dürfen nicht ohne L.inhändi;^Hni^^ einer «^'e-
nauen s cii r i f 1 1 i c Ii e n Spezitizierung dem Angestellten in An-
rechnung ^'ebracht werden.
Das (xeset/ war, als die KcL^ierunL; es einbrachte, nur tur
Fa!)riken. Werkstätten etc., d. h. als .Schutz^^esetz für ^fcwerbliciie
Arbeiter bestimmt. Durcii Vermittlung der Abgeordneten Dilke
Eduard bcrnstein, Die Lage der Ladengebilfen in England etc. 255
und Tcnnant ijelan;^ es jedoch dem Bund der Ladeiigoliilfoii , die
Zustininuiii|^r des Ministers Ridley zu seiner Ausdelinuii;; auf die
I^denj^ehilfen zu erlangen. Der positive Schutz, den es j^c^en den
Strafenunfu^ gewährt, ist noch recht mäfsig ; immerhin legt es ihm
einen Zügel an, und indem es den Laden hierin der Wericstatt
gleichsetzt, schafft es ein wichtiges Prazedenz für die weiteren, von
dem Bund der Ladengehilfen erstrebten gesetzlichen Sdiutzmafs*
regeln.
Diese sind in einer Gesetzvorlage (Bill) niedergelegt, welche
u. a. die Unterschriften der Abgeordneten Charles Dillce, John
Bums, W. Steadmen, H. Tennant tragt und seit 1896 von den Ge-
nannten in jeder Parlamentssession von neuem eingebracht wird.
Ihre Haupt punkte betreffen:
1. Die Regulierung des Ladenschlusses. Die Laden
sollen an einem Tag in der Woche si)ätestens um i Uhr mittags
und an drei l agen spätestens um 7 Uhr abends geschlossen werden
müssen , an einem Abend bis 9 und an einem weiteren Abend
bis 10 l hr geöffnet sein dürfen. Die Festsetzung der Tage sollen
die Lokal behördcn bestimmen.
2. Sicherung des in den letzten Jahren an verschiedenen Orten
stark durchlöcherten Geschäftsschlusses am Sonntage.
\'on beiden Beschränkungen sollen ausgcnonimen sein Apo-
theken, Fruchtläden, Zcitungsläden , Tabakläderi , Speisehäuser und
Schankstätten, für die besondere Reglements bestehen.
3. Beschränkung der nach La d c n sc h lu fs z u 1 e i st e n -
den Arbeit. Nach dem gesetzlichen Ladcnschlufs sollen die An-
gestellten hocliNtens noch eine halbe Stuntle beschäftigt werden
dürfen, liicrvon sollen pro Jahr 20, vorher dem Ciewerbcinspcktor
bekannt zu gcbci\dc 1 agc ausgenommen sein , während deren
drei Stunden nach I^adenschUifs gearbeitet werden darf.
4. Sicherung von Sitzgelegenheit uud Sitzerlaubnis
för weibliche Ladengehilfen.
5. Sicherung einer wöchentlichen Maximalarbeitszeit von
sechzig Stunden mit Einschlufs der Efspausen för alle Laden-
angestellten, sowie Fürsorge för genügende Eispausen*
6. Verbot, weibliche oder junge Personen, die in Fabriken und
Werkstatten beschäftigt werden, nach ihrer dortigen. Arbeit noch
in Laden langer zu beschäftigen als die Differenz zwischen der vom
Gesetz iiir sie vorgeschriebenen Maximalarbettszeit und der wirklich
in der Fabrik etc. zugebrachten Zeit ausmacht
Digitized by Google
254
Gc&cU^cbung : GrobbritaunicD.
7. Fürsorge für ausreichende Sanitatsvorrichtungen.
Diesem Gesetzentwurf! der bei dem gegenwärtigen Geschäfts*
verfahren des englischen Parlaments solange keine Aussicht auf
vollständige Durchberatung im Haus der Gemeinen hat als nicht
die Regierung des Tages ihn aufnimmt, hat ein konservativer
schottischer Abgeordneter , der Oberst Denny, in abgeschwächter
Form den Vorschlag der Vorsorge iiir Sitzgelegenheit für weibliche
Latlenan^^cstclltc entnommen. Sein entsprechender \ntrag ist in
der ordentlichen Parlamentssession von 1899 zur Verhandlung; ge-
kommen und nach einigen Gefcihrnissen, die ihm im Haus der
Lords bereitet wurden, denn auch Gesetz g^cworden. Im Haus der
Gemeinen fand sich denn auch niemand, der ihn opponierte, im
I laus der Lords aber stellte sich der Premierminister Lord Salisbury
an die Spitze einer Anzahl entschiedener ( ie»,'ncr.
In der ersten .\l)stinnnuiiL: der l'cers, die nur der Kinführun^
der vor^cschla^fencn Besliuiniun^^ ii in Schottland ^alt , gelang; es
in der That tlem Kinflufs des Premiers, von einem schwach be-
setzten Haus eine Ablehnung der Bill zu erzielen. Als aber am
II. Juni eine neue X'otlage zur X'erhandlung stand, welche die
gleichen Hestinimungen in Kiigland und Irland einzuführen \'or-
schlug, verfehlten selbst die leierltchsten Bochwinungen Lord Salis-
bur\'s ihre Wirkung aul seine K<>lK L;en. Der .Mini.ster prophezeite
das gröfstc l'nheil für die Praueiiweit, wenn die \'orlage Gesetz
wurde. Sie würde der Erweiterung der Berufssphären der
Frauen, die doch so notwendig sei, um die tiefststehenden Frauen
dem Elend zu entreifsen, einen Riegel vorschieben. Denn vielen
Unternehmern sei die Unterstellung unter die vom Gesetz vor-
geschriebene Kontrolle so widerwärtig, dafs sie lieber auf die Be-
schäftigung von Frauen ganz verzichten als sich ihr unterwerfen
würden. Die Sache sei der Rede nicht wert, nur ein paar Philan-
thropen begeisterten sich für sie, die Vertreter der weiblichen Laden-
angestellten hätten vor der Königlichen Untersuchungskommission
die Verkürzung der Arbeitszeit als ein viel dringenderes Bedürfnis
wie die Fürsorge für Sitzgelegenheit hingestellt, welche letztere
Sache man ruhig der Einsicht und dem guten Willen der Unter-
nehmer überlassen könne. Im Notfalle wolle er, der Minister, sich
verpflichten, die V^eranstaltung einer IJntersuchung der Frage zu
bewirken, nur solle man doch nicht sich vom guten Herzen zu
einem unüberlegten Beschlufs hinreifsen lassen.
Beschwörung wie Versprechen erwiesen sich gleich fruchtlos.
^ ij . .-Lo Ly Google
Eduard Bernätcin, I>ie Lage der Ladcngchillen in England etc.
Der vom Herzog von Westhiinster, dem Bischof von Winchester,
Lord Carrington etc. energisch vertretene Antrag ward mit 75 gegen
28 Stimmen angenommen. Desgleichen ein Zusatzantrag, in dies
neue Gesetz nun auch Schottland hineinzunehmen.
Am 21. Juni ward dann die so amendierte Vorlage in dritter
Lesunj^ vom Haus der Lords ohne formale Abstimmung genehmigt.
Der Ba\ ar(l des englischen Manchestertums , Lord Wemyss, hielt
noch eine Protestrede, verzichtete aber auf eine Abstimmung. Lord
Salisbiir)' schwieg. Wie Schreiber dieses hört, hatte der Minister
in der Zwischenzeit durch seinen Sekretär u. a. die Hilfssekretärin
des Bundes der Ladengehilfen, Mifs Mary (t. Bondfield, darüber be-
fragen lassen, was sie von der ^^nlage halte und welches nach
ihrer Meinun«^' der Wunsch ihrer Bcrufsj^enossinnen sei, und Mifs
Bondlieid hat den Minister nicht in Zui-ifrl darüber gelassen, dafs
er es auf tiie von ihm befürchteten Wirkungen des Gesetzes ruhig
ankoninien lassen dürfe.
Liest man das < «eset/., dessen Wortlaut wt iter unten folt^t, so
ist man auf den ersten Blick versucht, Lord Sali'-hurv darin Recht
zu geben, dafs eine solche Kleinigkeit wie seine \'orschrift den
Apjjarat eines (leset/es nicht wert ist. Sie ist unlogisch, unvoll-
ständig und unbestinunt. Für ein Spezialgesetz enthält sie nicht
einn)al, wie dies die Bill von Düke untl (leno.ssen tliut, Bestimmungen,
die den Ladengehilfinnen das Recht sichern , sich , wenn sie nicht
beschäftigt sind, auf die vorhandenen Sitze niederzulassen, sie vor
vexatorischen Vorschriften in dieser Hinsicht schützt. Tndes, sie ist
in ihrer Art, als Vorschrift fUr die Betriebseinrichtungen in Laden»
geschäften, ein erster Schritt, und da ist der englische Gesetzgeber
stets so vorsichtig wie nur möglich. An ihrer sachlichen Berech-
tigung aber kann unter vernünftigen Menschen kein Zweifel sein,
die gesundheitsschädlichen Folgen, welche langandauerndes Stehen
der Frauen nach sich zieht, sind bekannt genug. Ebenso aber
auch, dafs viele Ladenbesitzer und viele Ladenbesucher — wir
müssen leider sagen, Ladenbesucherinnen unvernünftig genug sind,
von den Verkauferinnen zu verlangen, dals sie in buchstäblicher
Weise bestandig zur Bedienung der Kunden auf dem Sprung stehen.
In wie weit das Gesetz hierin Besserung bringen wird, läfst
sich n.itiirlich nicht voraussagen. Aber dafs es auch nur einen
I^denbesit/.er veranlassen wird, statt weiblicher männliche (uliilfen
ein/ustelkii , ist ganz und gar unwahrscheinlich. Einstweilen liat
es den Erhndungf^eist angestachelt, Sitze zu ersinnen, die auch in
Digitized by Google
2^6 GescUgcbunj; ; (_irui>bntannicn.
beschränkten Lokalitäten hinter den Ladentischen angebracht werden
können, ohne den thätigen Verkäufern den zu versperren.
Eine ganze Anzahl entsprechender Modelle sind schon patentiert
und ausgestellt worden.*) —
Folgendes der W' ortlaut des Gesetzes;
6a u. 63, Victoria, Kap. ai.
OsMts fSr die Beacbaflun^ von Sltsen fttr den Qebreucli von LadenftOfttsMUtai.
(9. Auguit 1899.)
Durch d«r Königiii aasgezeicbnelste Majestät etc. sei bestimmt wie folgt:
I. In allen Rftomen eines Ladens oder anderen Riumlichkeitcn, in denen
Guter thataficblieh an das Publikum im Einiclverkauf abgesetzt werden, und wo
weibliche AiiK>--''tflUc für den Ein^clvr-rkaiif von (liltrrn an tla*; Publikum lifschäftigt
werden, soll der ( I.^chHltslii rr (ArlM-itgcbcr) , der in >olclien Gebäuden (^esrhäft
treibt, Sitze hinter dem Ladentisch odi-r an vmst für il> t) Zwick pus^rndeii Steilen
besorgen, und /war im V»'rhältnis \on nicht weniger als einem Sitz für je drei in
einem Kaum bcM huUigtc weibhche Angestellte.
3. Jede Person, die es onterläfst, den Besttmmungen dieses Gesetses nadun»
kommen, soU, nach Venuteilung im sammariscben Verfahren*), flir einen ersten Vei^
Stöfs zu einer Bnfse von nicht fiber drei Pfund, and einen xwdten oder folgenden
Verstofs su einer Bufse von nicht weniger ab ein Pfund und nicht mehr als fttaf
Pfund anzuhalten sein.
3. Dieses Gesetz soU am ersten Tage des Januar eintausendncunhundeit in
Kraft trricn.
4. l>iest s Gesetz soll als zu den Gesetzen von 1892 bis 1895 über die Laden-
Stunden gehörig verstanden und gedeutet werden und mag gesondert zitiert wenfan
als das Gesetz von 1899 Aber die Sitae für Ladenangestelltc ("Seats for Shop
assisUnts Act, 1899**).
*) In einer vom Verein für (freiwilligen) friihcn I .adcnschlufs veranstalteten
Ausstellung -in<l zweihundert Modelle von hinii-r 1 .adfiitisrhen anzubringenden
Klipp!>itz< i> ausgosirllt, darunter viele tAit autonmischer Vorrichtung. Vier solcher
Sitze sind von einem, aus Vertretern von I'riuzipalcD und Angestellten gebildete
Komite pribniert worden. Die Ausstellvng erfreut »ch eines regen Besuchs von
GeschSIlsinhabem, die dort Anschaffungen machen.
*) Verhandlung vor einem Polizei- oder Friedensrichter.
MISZELLEN.
Die dsterreichiache Gkwerbeinspektion im Jahre 1898.')
Von
Prof. Dr. hRXS I MlSCHLiiC
in Graz.
f
So wie wir die letztjährigc Besprechung des Östeneicbischeii Ge-
werbeinspektoreobetichtes mit der Mitteilung von der Ernennung des
neuen Zentralgewerbeinspektors, des Hofrates und diplomierten Ingenieurs
Frans Klein, einleiten konnten, sehen wir uns genötigt diesmal neuerlich
auf einen Personenwechsel hinzuweisen. Hofrat Franz Klein, der 7wcite
der üsterrelchis« heil Zentralgewerbeinspektoren, erlag im Sommer 1899
einem I.ungcnlcKien, gegen welches der rastlos thätige Mann jahrelang
angekämpft hatte, und welches ihn schon längere Zeit gehindert hatte,
seine Kraft voll zu ent<en. Dennoch bedeutet der Tod Kleins einen
bedeutenden Verlust fUr die Sache der österreichischen Gewerbeinspektion.
Er strebte eine bedeutende Vennehrung der Sprengel und selbständigen
Inspektoren an nach einer in die Zukunft hinein entworfenen zweckmäfsigen
territorialen Gliederung. Durch seine bedeutende Persönlichkeit gab er
der ganzen Institution gröfseren Rückhalt und hob deren Ansehen. Er
versuchte es grofse Knciueten durch Vermittclung der Inspektionsorgane
im giinzeu Staat durchzuführen und durchdrang die gesamte Inspektions-
thätigkeit und Berichterstattung mit kräftiger Hand und einheitlichem
Geiste. Es war ihm nicht veistattet seine Pläne zur Ausführung zu
bringen» wenn wir aber nicht sehr irren, so werden die von ihm ge>
gebenen Direktiven auch für die weitere Entwicklung des Institutes
mafsgebend sein. Die Leitung der Zcntralgewerbeinspektion überging an
den bisherigen Clewerbeinsj)cktor des Niederösterrcif hischen Landbezirkes»
der seinen Sitz gleiclifails in Wien hatte, Regierungärat Friedrich Muhl — >
*) Bericht der k. k. Gcwcrbeinspektofen ttber ihre AmtstbSligkeit im Jahre 1898.
Wien 1899. Hof» and Stairtsdnidierei, LXI und 4S1 Seiten.
ArchiT für aot. G«icligebias O. SiMittik. XV.
Digitized by Google
Mincllen.
In orpanisatnrisc her Hinsicht sind wieder einige Fohschritte zu ver-
7cic hnen. Der l'ciMinaistand wurde um i Inspektor und 3 Assistenten ver-
raehrt ; der Titel der Assistenten in den von (iewerbcinspcktions-Kom-
missären umgewandelt, wodurch — gemäfs der in Oesterreich gebräuch-
lichea buieaukiatischen Sprachweise — deren verhältDismäfsige Selbständig«
keit mehr zum Ausdrudce kommt; der Bericht fttr die Bukowina wurde
von demjenigen für Galizien abgesondert u. a. m.
Die Thätigkeit der Inspektoren sowie deren Peraonalstand ist aus
folgender Tabelle zu entnehmen:
_ — - —
1004
I006
1890
■ 0 A A
»893
1090
»897
1898
k. xnspe jciiousciiBiigKc II«
1
3513
5892
9666
10911
II680
tlOCT
l>avon oliit'" N!(>h)ren ....
797
1223
2494
3S35
4698
5251
483a
Arbeiter iu den besuchten He-
228
274
343
509
518
568
Arbeiter im Durchschnitt per
89
7»
58
4»
46
44
Si
II. Sonstige Amts-
gescbäfte.
Eialadong zu Kommisnonen
104
671
2786
10760
10884
10487
12022
Fälle persönlicher Anteilnahme
104
44»
887
2609
a639
2669
Abpegfbene schriftliche Gut-
1 100
?
y
6070
9450
8740
9075
EntgcgengeDommene Beschwer-
den der Arbeiter ....
100
1359
50*3
5«» 7
6742
7913
8040
Erfolgreich interveniert in " „ .
?
.75
4»
35
?
f
Fälle der Inatibpruchnahme sei-
tens der Lutemebmer . . .
?
400
?
2704
2540
2283
■
2489
in. Personale.
Vv'i (1. r Zcntnde
I
I
1
2
3
9
12
16
18
«9
18
Zugeteilte ini.pektorcQ und Rom-
20 1 2^
ffluwre ........
_
_
8
27
3»
zosanuncn
10
•3
«5
40
45 • 48
5»
Es waiL- /u wünschen, dafs die schon vom Zeiittaiinsjicktdr Klein
j^eplante \ crklcinerung und X ermehrunj; der Sprengel cneri;isch erstrebt
werde, bis deren Zahl mindestens das Doppelte der heutigen ausmacht;
ebenso wäre zu wünschen, dafs die Wiederbesetzung des Gewerbe-
inspektorates (ür die Biooenschifiahrt möglichst bald erfolge, als Zeichen,
dafs dieser Zweig der Inspektion als selbständiger erhalten bleiben soll.
Femer würden wir wünscluM, daf^ der kiinftige Zentralinspektor die
ziflfermäfsigen Angaben über die Erfolge der Interventionen wieder auf*
Ernst Mischler, IMe dstcrreickiiche Gewcibdnspektioin im Jahre 1898.
nehme, denn diese sind ein zu wertvoller Mafsstab zur Beurteilung der
Leistungen und Leistungsfahij^^kcit des Institutes, als dafs darauf ver-
zichtet werden könnte. Am allerwenigsten aber sollte auf diese Angaben
verzichtet werden, solange die Ziffern im Sinken begriffisn oder überhaupt
niedrig sind; kein Sachkundiger kann hieraus aHein einen Schluft auf die
Resultate der österreichischen Gewerbeinspektion ziehen, wohl aber sollte
hieraus Anlafs genommen werden zu untersuchen, warum und auf welchen
speziellen ( iebieten die Interventionsfalle zu zwei Drittteilen ohne Erfolg
bleiben. Andrerseits kann das Wegla-ssen der Ziffern über den Effekt
der Interventionen leicht zu Misdeutungen .Anlafs geben.
Hinsichtlich des trefflichen allgemeinen Berichtes und der ein „Amts-
blatt darstellenden Einleitung vermögen wir nur auf das bereits in
unserem vorjährigen Berichte gesagte hinzuweisen ; ein Beweis, dals der
vorige Zenttalinspektor schon bei seinem Amtsantritte mit vollständig ab-
geklärter Aufteung über die Aufgaben des allgememen Berichtes und
sein \'erhältnis zu den Einzelberichten an die Redaktion des Jahres-
berichtes herantrat.
Die Ziri'ern des Berichterstattungsjahres scheinen darauf liin/iideuten,
dafs in der relativen Verwendung von Frauen und namenilu li von jugend-
lichen Arbeitern überhaupt ein gewisser Niveaustand bald erreicht sein
werde.
1884
1893 j
1897
1898
Auf icxx> Hillsarbeiter der .•
t>esacbtea UnteraehmuDgeD
297
278
Unter 16 Jahre alte Arbeiter. .
«5
75
61
60
Dagegen scheinen die Angaben über die gesetzwidrige Verwendung
von Kindern, Jugendlichen tmd Frauen zu lehren, dafs noch nicht alle
Fälle zur Kenntnis der Auftichtsorgane gelangt sind, resp. in zunehmen-
der Weise zu deren Kenntnis gelangen.
(Sir lir d'w unistchende Tabcllr.)
Gelegentlich der Darstellung dtr Arbeitszeit in den l)esu(hten
fabriksmäfsigen Betrieben, wofür ein längerer Zeitraum allcrdmgs noch
nicht vorliegt, wird auch den Veranlassungen der Herabsetzung der Ar-
beitszeit Beachtung geschenkt, und es zeigt sich da allerdings, dafs wohl
in grofsem Mafse die ungünstige Geschäftslage zu Grunde lag imd nur
weit seltener Bestrebungen der Arbeiter oder freie Entschliefsungen der
Unternehmer. Es wäre aufserordentlich dankenswert, wenn die Auf-
aichtsorgnne in jedem einzelnen Falle die Ursache der Wikvir/ung der
.^rbeilsz<•it konstatieren und dieselben übersichtlich darstellen würden ;
hieraus konnte möglicherweise eine ganzlich unerwartete Aufklärung her-
vorgehen.
17»
20p
Mi&^cUen.
WId«rgM6taUche V«r-
1896
1897
1898
!• ICnil» DriKSmiilSlgC
Betriebe.
Kinder tunter t» Jahren
3
3
»3
4
27
20
75
95
Kinder von 12-14 Jahren
89
4
93
»aS
3
127
106
13
138
Zur NachUfit verwendete
Jugendliche
365
363
166
166
»34
33
167
zusammen
457
4
461
314
6
320
260
120
380
n. Fabriksmlfsigc
Betriebe.
1
junder miter is juuen
»3
1 1
24
27
63
89
Kinder von 12— 14 Jahren
78
48
126
»57
167
324
228
393
Jugendlicli'- Hilfsar1>«'if<T
16
6
22
3
2
48
19
67
Zur NachUeit verwendete
Jugendliche und Fntnen .
4
'55
104
182
286
52
267
319
/.u^.unmcn . . .
98
205
303
276
360
636
355
5«3
868
Totale ....
jsss
1 209
1 764
590
366 j 956
615
1 633 [1348
Effektive Arbeitszeit in den besuchten fubrik&mäf&igen betrieben.
Betriebe
Arbeits-
zeit
in
Stunden
überhaupt
Textil-
industrie
Industrie la
Nahrung---
und Ueaui'---
mittclu
Inilristrir in
Slriiirii,
Krdc, 1 hon,
Glai
Kr/Ftigung
villi Ma«chi-
nen, App:»-
raten und
Transport-
mitteln
Metall-
industrie
1897I 1898
1897
l8qS
1897
1898
1807
1898
1897
1898
1897
1898
2
~ 1
2
_
8
»5
8
2
1
1
1
3
1
_
8«t
6
6
._ 1
I
3
9
1 10
202
8
5
■ 1
1
13
/
12
4
9
9»/.
125
183
5
10
5
lö
H
32
38
43
10
901
1017
74
109
03
119
114
216
210
153
206
10»/«
14
I
1
41 -
10',..
627
7S7
92
156
471
67
133
»«3
5«
5»
70
112
48
2 '
3
16
1 1
2002
1974
804
!f'
231
271
310
2'2'J
93
54
89
140
1 1 \e
432
456
429.
337
9
2
31
13
156
90
8
3
13
25
42
16
zusamm. I4473 ')4723| 1042 1015
778 1
752
öoo
526 1 403
i 36s 1 40» i 557
*) In der Pablikatioa inrtOnltch 4736.
L^iijui^c^ L,y Google
Ernst Mitchler, Die österreichiscbe Gewerbeimpcktion im Jahre 1898. 261
Jedenfalls ist es notwendig die rutersuehung über die Arbeitszeit,
ihren Wechsel und dessen Ursachen iuk Ii Iktriebsgruppen und Be-
schäftigungsarten zu spezialisieren. Der vorliegende Bericht tbut dies
bereits biosichtlidi der Keisdwflrtor und ihrer ganz besonders ungfinstigen
Verhältnisse in dankenswerter Weise. Recht beachtenswert ist der bei
diesem Anlasse gemachte Vorschlag eines Berichterstatters, Ueberstunden
nur zu bewilligen, wenn hiedurch keine Ubermäfsige Belastung der Kessd«
Wärter erfolgt. Eine gröfsere Praecision möchten wir dagegen immer noch
hinsichtlich der l^ebcrtretungen der Bcstimraunc^en ülier die Arbeitszeit
wünscheil : es tlurfte auch hier in();:lich sein, nach Gcwerljsgruppcn und
Ländern die Zahl der übertretenden Betriebe nebst den in Betracht
kommenden widerrechtlichen Arbeitsstunden und den davon betroffenen
Arbeitern ebenso festzustellen, wie es schon jetzt beztiglich der berech-
tigten Verlängerung des gesetzlichen Arbeitstages der Fall ist. Die
Ueberstundentabelle des heurigen Berichtes ergiebt für 1898 gegen 1897
ein beträchtliches Anwachsen der Ziffern ungeachtet der ganz allgemeinen
Kinnen aller Berichte über eine Depression der (leschäfte. Allerdings
schein! aurh liier das Anwachsen der Ziffern dem bereits erwähnten
Unistande zuzuschreiben /.u sein, dafs die Inspektoren dieser Darstellung
stetig intensivere Aufnu 1 ksainkcit /uu enden.
7üh\ der Betriebe mil Ucl>er-
itmidcn.
mie von Ueberstunden gegen
Bewilligung
Fälle von Uebentanden g«gen
Anmeldung
Arbdter in den Betrid>en mit
Ueberstmideii in looo . . .
Zu Urberstanden herangesMgene
Arbeiter in looo . . . .
ZalU der Ueberzeit-Arbeitstnnden
in 1000
Uebendt auf (ii)Staiidciitage
reduziert in iocx> . . . .
VebfTArit auf Arbeiter mit 300
Arbeitstagen reduziert . . .
Gesamte Betriebe
1S92 1894 , 1897 1S98
518
I
543
638 I 765
57
I
577
470
640 i 754
169 , 2^3
I
109 > 139
34 . 44
— ; i960 2O13
— \ 178 I 258
— 594 79»
_, ., von Ma- „
T««h|. ,^,,i„^„^ Metall.
raten , *"*
«c.
189$ 1S98 1898
strie
223
I
a8s I
»15 I
50 i
I
16 1
I
l^i 1
I
71 \ 7«
74
116
\
85
14»
I
29 I 33
»7 I 30
10 I 5
I
776 340
31
237 j 235 ,
Wenngleich behördlirbe Ausweise hier vorliegen, so dürften doch
Zweifel an deren Vuüständigkeit gestattet sein. Allerdings kann auch
uiyiii^od by Google
262
eine gröfserc Inanspruchnahme der l'eberstunden mit einer ungünstigen
Gesch&ftsUlge verbunden sein, weil in solchen Zeiten die ArbeiteD häufig
sprun'jweise ausgeführt werden und der Uiitornchmer eher zu einer zeit-
weisen Hetriebseinstellung emcrscits und l'ebeistuiulen andrerseits greift,
als zu einer dauernden Herai tsei/ung der Arheits/eit. Leider steht aber
diesem momentan auftretenden Bedürfnisse nach Ueberstunden, die viel
ZU lange (3 wöchentliche) Frist entgegen, welche den Landesbehörden
(Ür die Erledigung solcher Gesuche eingeräumt ist.
Aus den Bemerkungen zu den einzelnen Abschnitten» in
welche üblicherweise die Darstellung zcrrallt, sei folgendes hervorgehoben.
Die Beschreibung iler Hesi halTenheit und Kii,ri< htung der Wohn-
stiilten ist im allgemeinen sehr cin<:ehend abir vorwiegend vom tech-
nischen Standpunkte aus gelialten. Bemerkenswert und ganz zutreffenrl
ist der Wunscii nach zeitlicher Steuerfreiheit für neue gute Betnebsanlageii
an Stelle schlechter alter. Alle die Bemerkungen über die mangelhaften
Wohnungszustände in Kleinbetrieben scheinen nach der Einführung von
Wohnungsinspektoren geradezu hinzudrängen» denn den m Böhmen an^
gewendeten und im Gewerbeinspektürenlx'richte als den besten gerühmten
Weg „die Inspektion der klcingewerhlichen Betriebe durch die (Jewerbe-
bebörde unter Mitwirkung der lUvirk^arzte und der (n'wer!»einspektorate
und utuer Beiziehung von \'ertretein der beteiligten ( iemenulL 11 und Ge-
nossenschaften'' wird in seiner Schwerfälligkeit doch memaud ernst
nehmen wollen.
Die Einführung einer Anzcigeptlicht bezüglich der Berufskrankheiten
bezüglich ,^llcr solcher Erkrankungen, deren Ursache unzweifdhaft in der
g^erbüchen Thätigkeit der Betroffenen zu suchen ist" — ein Wunsch
einzelner Berichterstatter, denen sich der allgemeine Bericht anschliefst
— müfste derzeit wirkungslos bleiben ; ist es doch noch immer nicht
möglich die Anzcige{)tlit ht bei den wenigi-n Krankheiten, bei denen sie
heute schon bi'steht ; durchzusetzen: wo ilie Orirane zur Ausfühnnig fehlen
und die Kontrole nicht hinreiciit, mufs der Ktlekt ausbleiben. Tappen
wir doch auch hinsichtlich der Bewegung der Un<eziffem noch immer
am dunkeln. Der allgemeine Bericht steht, und mit Redit auf dem
Standpunkte» daCs die alljährliche Zunahme der Zahl der UnföUe auf die
bessere Eruierung zu schreiben sei, konstatiert übrigens» dais die Steige«
rung nunmehi in ein gleichmäfsigeres und langsames Fahrwasser geraten
ist, während die 'rodesfülle durch Unfälle sogar schon im Rückgang be-
griffen sind. Allgemcnie l'rteile daraus zu schöpfen ist derzeit noch
unmöglich. Der Gewerbeinspektor ^leht da vor einer ebenso schwierigen
wenn nicht unmöglichen Sachlage, wie dann, wenn er Urteile tiber das
Einleben, die Wirkungen etc. der sozialen Versicherung abgeben soll.
Seine Urteile könnten nur auf allgemeinen Eindrücken beruhen und
entbehren einer greifbaren, sicheren Unterlage : das .Arbeitsfeld der Ge>
Werbeinspektoren liegt da vielmehr auf dem Gebiete der in dieser Hin«
^ ij . .-Lo Ly Google
Ernst Mi sc hier. Die fisterreichische Gewerbeinqpektion im Jahre 1898. 265
siclit bekannt werdenden, häufig typischen Ein/eirälle von Wünschen,
Klagen und Beschwerden, die bezüglich der sozialen Versicherung laut
werden.
Die detzeitigen gewerberechtlichen Bestimmungeii über Piusen»
Ueberstunden, Sonntags- nnd £rsatzruhe treffen noch nicht das riditige,
wie die sowohl von Seiten der Arbeitnehmer ab auch von jener der
Arbeitgeher ausgehenden Klagen, femer der passive oder offene Wider-
stand und die oft totale ^'crständnislosigkeit gegenüber so manchen An-
wcndungsfällen andeuten. Dies kann nicht Wunder nehmen, da die all-
gemeinen Grundlagen der Geset^gebung schwanken. Die Vorschrift
über die Sonntagsruhe bindet nicht nur die Hilfsarbeiter sondern auch
den Unternehmer; sie ist ganz vomehmtich religiöser Horkuoft sowie.
Tendenz und nichts anderes, als die legislatorische Sanktionierung des
dritten Gebotes mit dem schon in diesem enthaltenen sozialpolitischen
Nebeneftekte. Der Ersatzruhclag dagegen bezieht sich nur auf die
Hilfsarbeiter und auf das so7:ial[>olitische Moment ; er kann sonach
nur von der Erwägung ausgehi-n, dafs den Arbeitenden in gewisser
Wiederkehr ein F.rholungstag et Im dcrlich sei. Diese Erwägung setzt
aber den Gedanken der kontmuierlicneu Arbeit voraus und wird bei be-
fristeter Arbeit mit vo^ehender oder nachfolgender unfreiwilliger oder
freiwilliger Mu&e hinfällig. Die Sonntagsruhe ist in dem rel^itisen Kerne,
d. h. in der Ausdehnung auf die gewerbliche Arbeit überhaupt» selbst
innerhalb jenes Gebietes, welches von den gesetzlich festgelegten Aus-
nahmen nicht durchbrochen i.st, undurchführbar; so arbeitet z. B. (Bericht
über Niederösterreich) ein Schuster fast au.sschliefslich für Arbeiter,
welche ihr Schuhwerk über Sonntag reparieren lassen müssen, da sie
nur ein Paar Schuhe besitzen — allerdings direkt gegen das Gesetz,
aber wer vennöchtc dasselbe hier auch anzuwenden ? Der Ersatzruhetag,
der naturgemäfs im Interesse des Arbeiters liegt, die Erhaltung seiner
körperlichen Rräite gewährleistet und ihm Mufse gewähren soll, ohne
den normalen Gang des Unternehmers zu schädigen, darf nicht den
Kffekt haben, dem Arbeiter zu schaden, oder das Gewerbe vor eine un-
mögliche Betriebsführung zu stellen Beides ist aber heute häufig der
Fall. Auch die Pausenvorschriften I ctlurfen ebenso wie jene bezüglich
der Ueberstunden einer Rcvisioti ; wenn z. 15. wie schon oben bemerkt
wurde, die politische Landesbehörde sich drei Wochen Zeit lassen kann
um ein Uebmtundengesuch zu erledigen, so »t damit die Ausotttzung
momentaner Konjunkturen, die eben die Grundlage der Ueberstunden
bilden, häufig unmöglich gemacht Sollen in allen diesen Dingen der
Arbeitszeit die B^riffe der Pflicht, moralischen Verantwortlichkeit;
Pflichtverletzung und Strafe sich einleben, dann mufs noch sehr an
diesen Vorschriften gefeilt werden , wobei es allerdings unerläfslich
ist, die sozialökonomischen und sozialcthischen Gründe dieses Spezial-
gebietes des Arbeiterschutzrechtes erst zu legen. Auch scheint die
Digittzed by Google
264
Miszellen.
Formulierung solcher Vorschriften ohne eine vorhergehende genaue
Enquete kaum möglich zu sein.
Von fjrofsein Interesse ist die FraL^c der Kundigungfrist. Ich habe
von Anfan«: an gelegentlich dieser Iirsjirechiingen den Siandj)unkl einge-
nommen, dals die küiidigungsluse soloriige Lüsung des Arbeitsverhält-
nisses von so schwerwi^nden individtial> und sozialwirtschafUichen
Nachteilen begleitet ist, und dafs, sie gesetzlich als gewisse Reget zuzu-
lassen, als schwerer Fehler zu bezeichnen ist ^in wie zweischneidiges
von momentanen Kräfteabmessungen a])hängiges Kampfmittel die sofortige
Lösungsmögliclikeit darsti. llt, ;,'eht daraus hervor, dafs vor Jahren die
Arbeiter auf möglichst kurze Kündigungsfristen resp. den Wegfall solcher
Gewicht legten, während dies heute, ganz im (legensatz zu deren ge-
änderter Ansicht, die Unternehiuer thun. Nunmehr ist in dieser Hinsic ht
eine neue Komplikation aufgetreten, welche in einen Zwiespalt der \'er-
waltimgsgerichtsbarkeit und der Gerichte resp. der neuen Gewerbegerichte
ausläuft. Bisher stand die Verwaltung auf dem Standpunkte, dafs die
ArbeitsOTdnung den Arbeitsvertrag enthalte und die stillschweigende Ein»
i'^i-ung des Arbeiters durch dea Antritt der Arbeit vorauswisctien sei.
Nun aber stehen die neu errichteten Gewerbegerichte, ebenso wie die
Bezirksgerichte, auf dem ganz anderen Stand] >unkte, dafs die Einwilligung
des Arbeiters mir vorliege, wenn sie besonders zum Ausdrucke gebracht
wird, dafs dagegen ein stillschweigender Konsens nicht anzunehmen sei.
Wenn daher — und dies ist ein häufigerer Streitfall — die Kündigimgs-
irist durch die Arbeitsordnung ausgeschlossen erscheint, so entscheiden
die Adnunistrativbdiörden, dafe das ArbeitsverhSitnis beiderseits sofort
ohne Kündigung geUlst werden könne, während die Gerichte in diesem
Falle • — weil die Arbeitsordnung ohne spezielle Annahme unverbindlich
ist — die Hestimmung der Gewerbeordnung betreffend die i4tägige
Kündigungsfrist als mafsgebend ansehen. Bei der gänzlich verfehlten Hal-
tung der österreichischen Gewerbeverwaltung gegenüber dieser wiclitigen
Frage der Kündigungsfrist, auf welche ich schon in den früheren Be-
sprechungen an diesem Orte nachdrücklich hingewiesen habe, war ein
derartiger Konflikt «wischen Administration und Judikatur unausweichlich.
Nun soll aber jemand im Volke verstehen, dals zwei Staatsbehörden auf
Grund desselben Paragraphen zu einer direkt entgegengesetzten Ansicht
gelangen können 1 Hier wird wohl die Administration vor der Judikatur
zurückweiciien müssen, so lange bis die alle Konflikte lösende legislative
Gewalt neue (inimllagen schafft.
Das Lchrlingswesen ist ein sehr wunder Punkt unseres Arl^eiter-
schutzes, weil der letztere, bis zur Schaft'ung neuer gesetzlicher Grund-
lagen der Lehrlingssüchterd in Fabriken ohnmächtig gegenüber steht
Für den Unternehmer liegt eine Verminderung der Gefahr, im sozialen
Kampfe einer gesdilossenen Gehilfenorganisation gegenüber lu stehen,
darin, Lehrlinge in grofser Zahl su verwenden. Wir kennen die Be-
uiyiiizeo Dy Google
Lrnst Mise hier, Die csterrc-ichisthc ücwerbcinspektion im Jahre ibgS. 265
Strebungen nach WiedereinfUhniog von Lehrlingsprüfiingen, wie sie hier
und da gemeldet werden, ebenso wie die Verlegung der Fortbildungs-
kurse von den Abendstunden auf Tagesstunden; dies ist nicht nur mit
Rücksicht auf die besseren Lchrcrfolge im allf^eraeinen zu befürworten,
sondern auch doshalb, weil in noanchcn Gewerben die Arbeit hauptsäch-
lich abends vor sich gehl. —
In der Reihe der Berichte ersciieint diesioal ein neuer, nämlich
jener fUr die Bukowina. Man verstdit die« ich möchte sagen tempera-
mentlose und resignierte Haltung des sonst guten Berichtes angesichts des
Umstandes» dafs von einer Einhaltung der Gewerbeordnung speziell des
Arl)eitss< hut/cs in diesem Lande sehr wenig die Rede ist. Xur scheint
es als ob der Bericht den eigenartigen konfessionellen Verhältnissen nicht
Rechnung trafen würde. Cicht. wie wir gesagt hril)en, die Sonntagsnihe-
l)estimmung in erster Linie vom reiifriösen Gesichtspunkte aus, so niufs
sie dort wesentlich beeinflufst werden, wo nicht der ganz vorwieueml
christliche und speziell katholische Charakter der Bevölkerini^ zu Tage
tritt, sondern eme in strenges altjttdisches Formelwesen eingeengte Be-
völkerung wohnt, wo die Arbeiterschaft sich aus ihr ganz oder teilweise
rekrutiert und sogen, konfessionell jüdische Gewerbe bestehen. Dies
wirkt hier abändernd, wobei zu entscheiden ist, in wieweit auch den
religiösere Anforderungen der christlichen Bevölkerung Rechnung getragen
werden soll.
Der Bericht des Binnenschit^'ahrtsinspektors, weU iier nur nebenbei
als öpezialgewcrbeinspektor fiir das Binnenschiffergewerbe fungiert, leidet
selbstverständlich durch diese Aemterkumulierung , und es wäre die Er-
nennung eines neuen Gewerbeinspektors, wie nochmals betont werden
soll, fttr diesen Betriebszwdg nunmehr doch schon erforderlich.
Der Bericht des Gewerbeinspektors für die öffentlichen V'erkehrs-
anlagen in Wien birgt wieder, angesichts der Möglichkeit einer höchst ein-
gehenden In.spektionsthätigkeit des Interessanten in Hülle und Fülle und es
sei — da gegenüber dein zentralisierenden Charakter, der seit uenigen
Jahren in dem österreichischen Gewerbeins|)ekt<)renl)eru hu /u Tage tritt,
und welcher auch zur Folge hat, dafs Monograpiiien u. dgl. nicht auf-
genommen sind, zur Mitteilung lokaler Besonderheiten kaum ein Anlafs
vorliegt ~ gestattet, hier mit ein^ Statistik der Wohnungsverhältnisse
der Arbeiter der Wiener Verkehrsanlagen zu schliefsen, welche sich aus
den Berichten der letzten fünf Jahre berechnen läfst und die wichtigen
Verhältnis.se der Schlafleute betrifft. Dem Inspektor der Wiener Ver-
kehrsanlagen geljidirt für seine unausL^esetzten Beobachtungen in dieser
Hinsicht, die er hottentlich weiter fortsetzen wird, der beste Dank.
266
MistelleiL
Wohnungsverhältnisse von Arbeitern bei de n W ieaer Verkehrsan
in den Jahren 1894 — 1898.
Anzahl der Schlafleutc in
einem und demselben
Wölitir.uiin»-
s c
2 i
_ C
u .S £
J3 7)
c
/.^
es
j= e
n o
s
Iii!
c _
SS
8
"S.S
o.
n
•— .
27.03
13.65
190
59,16
«1,83
61
28.16
7,04
5>4
SI.84
8,64
85
«0^8
15,12
346
46.62
»5.S4
211
70,72
7,07
492
29.25
9.75
435
124.02
7.30
712
y
?
?
?
?
?
35.8
17,90
174
32.2
i".70
387
66,2
6,60
,787
«1,3
7,00
!743
42,0
14,00
9
2 Maurer
I Handlan^r
4 Handlanger
1 Handlaogcr
4 Maurer
3 Handlanger . • . . .
10 Frdarbeiter
3 Maurer
17 Maurer ......
6 Maurer
2 Vorarbeiter
2 Erdarbeiter
3 Hnn<Il.\nger und Maurer
10 Maurer
3 Zimmerleute . . . .
1 Handlan]i[er . . . . .
36 Frdarbr-it. r
O Krdarbciter
0 Erdarbeiter . . , . .
5 Handlanger
10 Maurer
8 Maurer und Handlanger
4 Maurer
1 Handlanger
4 Maurer
2 Maurer
9 Erdarbeiter u.Handlanger
3 Erdarbeiter
t Kniarbeiter . . . . .
12 Maurer und Handlanger
2 1 landlanger
4 Haiulhinj^er
2 Handlanger
2 Maarer
2 Maurer
1 Zimmermann . . . .
I' i U c n m i c t e r.
i Tischler mit Frau und
I Rind
[ Handlanger samt Frau u.
2 Kindern und . . .
2 Bctlgchcr im Ziouner .
t Bettgeher in der KDche
1 Wächter samt Frau und
2 erwachsenen Kindern
im Zimmer . . . .
2 I'i tt;.:' Iir r im Kabinct .
2 Ikltgeher in der KUcbc
50
70
70
80
100
Ii
2!
4|
2 60 — 70
7 I) 60—70
j
17
6
2
1
3
10
3
I
•"') 9'
6,
51
10!
5 1
2
»1
41
80
100
100
125
60
80
106
100
100
40
40
70
50
70
70
So
50
100
100
5
2
70
100 i
I IfXJ
8 ')7o— 100
75
60
60
100
100 j
100
I
2
1
2
52,0
36,4
145,6
41,6
208,0
99.0
348.0
124.8
884.0 (')
362,0 (•)
130.0
62,4
124,8
520,1
IS«.3
52,0
748,8
187,2
218,4
130,0
304.0
291,2
166,4
26,0
208,0
104.0
327,6
156,0
52,0
530.4
78.0
124,8
62,4
104,0
104.0
5»iO
188,1
49.3
26,6
27,3
84.2
86,1
31.5
24,2
76,4
32,0
75t6
33.6
26,9
ti2,o
«4*6 j
75.6
35.6
86,1 [
33.7 .
32.3^
1
5.47
4,43
5.46
8.42
24. 19
10. I 1
iO,00
380
821
476
43«
528
"107
272
3-5
8,40 ' 433
6,72 I 464
26, SS ' 193
9,33
6,16
10,80
17,82
2>.53
16,83
32,38
474
316
16^
»75
120
309
160
I
") 143 j 74,4
•) 288 1 50,0
80 I 83,2
80 ' 41,6
1 36.9
1} 59^
' 28,8
')4i5
100
75
216.0
104,0
78.0
12,32
9.90
28,87
67,2 j 16,80
22,41 11.20
31,4 1 15,68
201
253
«44
465
248
') Zur alkini4;<ii
Benutndig.
^, In demsrl'"'-
Wohnräume scfaktce
noch andere Persona.
') Je nachdem, l'2
1 oder 2 Personen i
Bett benUKB.
*) Daselbst nodi
2 Personen.
^) i>trobsäcke uit
dem Fufsboden.
*) Finr Strohjchat-
tung auf dem Vn*
boden.
') 1 Kabinet, Mirt-
xins 6,ao Fl. mowt*
lieh.
Mietfins aaf die
Woche berechnet.
") Wohnung
stehend aus ZiDioee
imd Küche, Monat»'
zins 12,50 Fl.
Wohnung ' "
stehend aus ZininK:
Rabinet und iwiicbf.
Monatssins 18 FL
Die Hugo Heimann'sche öffentliche Bibliothek und
Lesehalle in Berlin.
Vom
Dr. WILHELM PASZKOVVSKI.
in Berlin.
Während dem Volksschulwesen m Deutschland von Staat und Ge-
meinden die anerkennenswerteste Fiirsorjje zu teil wird, wird der weiteren
llildung der gröfsi ron Massen des Volkes über das schulpflichtige Alter
hinaus nicht die gleiche Sorgfalt /ugcwendet. So ist es denn oft mit
Recht bemerkt worden, dals gerade nach dem Verlassen der Schule die
durch laDg)ährigen Unterricht erworbenen Kenntnisse rasch verloren gehen,
und dafs das Niveau der Volksbildung den Air den Jugendunterricht auf-
gewendeten grofsen Mitteln nicht entspricht Abgesehen davon, dafs das
Erwerbsleben unsere niederen Volksschichten völlig in Anspruch nimmt
und ihnen nur verschwindend geringe Zeit fiir geistige Erfrischung und
F,rho!nn[r nbrigläfst, fehlt es auch bislani: ;hi den geeigneten Bildungs-
stätten, Wo jene Erholung ohne grofsen Kostenaufwand gesucht \\rr<len
konnte. Im Auslamle hat man vielfach, in der richtigen Erkenntnis
dafs gerade dem reiferen Alter eine weitere Möglichkeit geistiger Fort-
bildung zu gewähren sei. Bildungsstätten roaimigfacbster Art errichtet,
wo jedermann ohne Kosten und ohne erschwerende Förmlichkeiten
seinem Bitdungsdrange nachgehen kann. Es ist oft darauf hingewiesen
worden, wie in dieser Beziehung besonders England und Amerika in
ganz hervorragendem Mafse sich die Fortbildung der breiten Massen
angelegen sein lassen. Die Ausdehnung des Universitätsunterrichts (Uni-
versity-Extension), jene Bewegung, die die Kluft zwis( hcn fk-lnldeten
und Ungebildeten uberbrücken helfen will, ist englischen Ursprungs und
hat, nach Amerika verpflanzt, besonders dort die weitgehendsten segens-
reichsten Folgen für die Bildung und Gesittung der weitesten Kreise ge-
habt, sumal da sie hier vielfach an die Stelle der vernachlässigten
Jugendbildung trat Städte und vor allem auch begüterte Bürger wett-
268
Miszellcn.
eifern drüben in dem Bestreben nadi Stiftung von Bildungsinstituten.
Zu den vornehmsten Bildungsstätten für ein Volk gehört ohne Zweiföl
eine wohl eingerichtete, gut verwaltete, und in anspreclienden Räumen
untergebrachte Bibliothek. Sie kann dein nach des Tages Last und
Mühen Krs« licpftcn und besonders dem. der daheim nicht einmal einen
bescheidenen Kaiun sein eigen nennen darf, eine wahre Statte der Er-
holung werden, ihn vor der Fhicht ins Wirtshaus scluttzen und in ihm
das beglückende Gefühl erzeugen, auch Teil zu haben an den unver-
gänglichen geistigen Gtttem der Menschheit, zu schöpfen aus dem immer
sprudehiden und erfrischenden Quell geistigen Lebens. Aber während
in England und Amerika fast jede Stadt von Bedeutung ihre gröfsere
Bibliothek mit Lesehalle besitzt, sind bei uns erst s( huarhe Ansätze einer
solchen „BibÜotheksbewegung" zu merken. Selbst der deutschen Reichs*
haiiptsta(h fehlt es noch an einer, dem Bildungsliedürfnis der jjrofsen
Bevölkerunt; entspre( hen<len grofsen Volksbibhoihek. Denn die 27 \'olks-
bibliotheken der Stadl Berhn, denen sich neuerdings wictler eine erfreu-
liche Fürsorge seitens der Bürgerschaft zuwendet, gcuu^^en, so segens-
reich sie auch im einzelnen wirken, schon darum nicht dem Bedürfnis,
weil ihnen fast allen das Wichtigste, nämlich eine Lesehalle fehlt,
für diejenigen Benutzer denen vielfach zu Hause, selbst wenn sie Bücher
hätten, der Raum und die Möglichkeit abgeht, sie mit Sammlung /u lesen.
Erst in neuester Zeit hat man, angeregt durch das von der Deutscheu
Gesellschafi lur Ethische Kultur gegebene Beis|)iel, die die erste Lcse-
lialle in Berlin errichtet hat, zunaclist zwei jener X'ulksbibliothcken mit
Leseräumen verselien, und es darf von der Fürsorge der mafsgebenden
Kreise erwartet werden, dais, nachdem sich «nmal <Ue Erkenntn» von
der Notwendigkeit der Errichtung ö(f<aitlicher Lesehallen • tmd Volks-
bibliotheken, Bahn gebrochen hat, ^) auch weitere Mittel zu diesem Zwecke
w erden bereit gestellt werden, und dafs die Zeit nicht mehr allzufem ist,
in der wir neben den vortrefflichen staatlichen wissenschaftlichen Biblio-
theken in Berlin auch bald eine Volksbibliothek grofsen Stils haben
werden.
Um so erfreulicher ist es, dal's daneben neuerdings auch rein privater
Initiative in Berlin die Errichtung eines solchen segensreichen volkstüm-
lichen Instituts zu danken ist. Unweit des Zentrums der Stadt hat der frühere
Inhaber der Guttentagschen Verlagsbuchhandlung, Herr Hugo Heimann,
aus privaten Mitteln eine in ihren Einrichtungen geradezu musterhafte
Zur Förderung dieser Erkenntnis hat der durch seine vielseitigen Arbeiten
auf (Irm r,ebicte der BiMiotliekswissenscliait rühmlichst bekannt«- Oberbibliothekar
an <1( r K niiglichen Universitätsbibliothek ?.u (luttingen, I)r. A. (Ir仫 ]. ' ini- ni-ue
Zcit-schrUl begründet, die unter dem Titel „Bl.'itter für Volksbibliothrkrn und Lese-
hallen** seit dem 1. Januar 1900 als Beiblatt zum „Ccuiralblatt für Bibliothekswesen"
im Verlage von Otto Harrassowitz in Leip/ag erscheint.
Digitized by Google
W. Passkowski, Die Hugo Ueimann'sche öfTentUche Bibliothek u. Leseballe. 269
öfl'entliclie Bibliothek mit Lesehalle errichtet, die zu unentgeltlicher Be-
nutzung jedermann freisteht Der Stifter dieser vornehmen Volksbildmigs»
statte hat nicht allein die erheblichen Kosten iür ihre Einrichtung
und Unterhaltung getragen, sondern er hat auch selbst» durch jahre-
lange Erfahrung im Buchwesen bewandert und durch eigene Kennt-
nis ausländischer Bibliotheken gestützt, die Einrichtung der Bibliothek
fn's ins Kiiuclne mit licbevolU-r Sorgfalt und mit dem weitesten Entgegen-
koinincii für die Benutzer durchdacht und getroffen. Die Bibliothek ist
in caicm eigens für den Zweck umgebauten Ciartenhause des <3rund-
stttdces Alexandrinenstiasse a6 untergebracht. Gleich beim Eintreten
ttberkomrot den Besucher das angenehme Geföhl, in eine voniehme Stätte
geistiger Erholung zu treten. Im Erdgeschofs des anbrechenden Häus-
chens, das von einem zur Erfrischung flir die Benutzer im Sommer be>
stimmten Garten umgeben ist, sind aufser der Garderobe fünf wohlaus-
gestattete, durch Zentralheizung gleichmäfsig erwärmte Räume zu Lese-
und Arbeitszimmern eingerichtet. 150 Benutzer finden gleichzeitig Ge-
legenheit, eine reiche und völlig ohne jede Tarteifärbung zusammen-
gestellte Bibliothek zu benutzen. Nicht weniger als 78 politische Zeitungen
und 365 Zeitschriften jeder Art und Richtung liegen aufser einer Reihe
von Nachschlagewerken, Gesetzsammlungen, und encyldopädischen Werken
hier aus und können ohne weitere Förmlichkeit von den Benutzem den
praktisch eingerichteten Rcpositorien und gediegenen Schränken ent-
nommen werden. Für die Nachschlagebibliothek besteht die Einrichtung,
dafs nur die Xunimer des entnommenen Buches, ledi<;!i< h /u statistischen
Zwecken, dem aufsiehtsfuhrenden Beamten ange^^eben wird. Aufser den
langen Tischen in der Mitte sind an den Wänden, um jeden verfügbaren
Raum zweckroäfsig auszunutzen, kleine geschmackvolle dreieckige, mit der
Basis der Wand zugekehrte Tischchen, eine eigene Erfindtmg des Stiften,
aufgestellt, an denen behaglich noch je zwei Benutzer Platz finden. An
diese Räame schliefsen sich zwei mit vortrefflicher Wascheinrichtung ver-
sehene Toiletten. Im ersten Stockwerk befindet sich das Büchermagazin
und die .Xnsleihestelle. Dort waltet eine Dame des Amtes als Biblio-
thekarin, und ihr zur Seite steht ein Beamter, dem besonders das Aus-
leihegesciiäft und die Bedienung des , .Indikators" zugeteilt ist. Dieser
äufserst praktische und in Deutschland noch wenig bekannte Apparat dient
dazu, dem Benutzer sofort anzugeben, ob das gewünschte Buch verliehen ist
oder nicht und überhebt ihn so der Mühe einer aussichtdosen Bestellung
und den Bibliothekar des veigeblichen Sudiens. Der Indikator, von dem
Engländer Cotgreave erfunden, besteht aus einem rahmenartigen Repod-
torium, das durch schmale Plättchen in tausende von Abteilungen zer-
Icjjt ist. jede Abteihm>^ enthält ein schmales Kästchen aus Blech, welches
auf der euieii Seite in roter, auf der andern in lilauer Farbe die fort-
laufenden Nummern der in der liiblioiiiek voriiandenen Werke anzeigt.
Wenn das Kästchen dem Beschauer die rote Seite zeigt, so ist das Buch
270
Missellcn.
verliflien, zeigt die lilaiie, so ist es vorhanden mui kann sofort in
Kniptan^^ {ieniunuKü wenlcn. ]>er Beamte legt beim Ausleihen «he Tk*-
nutzungskartc Uc.^ Kutlcihers, zugleich als (Quittung, in das Kästchen und
dreht es iinif so dafs die blaue Farbe dem Beschauer sich zuwendet
Jedes Kästchen ist mit einer Reihe von Blattern versehen, auf die der
Beamte den Tag der Verleihung und die Nummer der Verleibkarte ein-
trägt So bietet der Indikator ein vortrefflic hes und bcciuemes Mittel
* zu statistischen Zusammenstellungen ttber die Zahl der Benutzungen, ihre
zeitliche Aufeinanderfolge, endlich über die Benutzer selbst. Die Be-
dienung des Indikators ist für einen eingeübten Beamten sehr wenig
zeitraubend, und seine Kinfnhrung wäre aueh liir grofsere Bibliotheken
in Erwägung zu ziehen. I reilich käme man da nicht mit dem blofsen
Nummemsystem aus, sondern müfste auch Unterabteilungen der syste-
matischen Aufstellung des Bibliothek entsprechend einführen, endlich
müisten, wenn die Benutzimgskarte als Quittung einbehalten wird, jedem
Benutzer mehrere Leihekarten für jede Abteilung der Bibliothek ausge*
stellt werden. Der Indikator der Heiinannsrhen P>ii)li<nhek ist für 20000
Numtnern eingerichtet und hat sich für den bisherigen Umfang der Be*
nutzung vor/uglieh bewährt.
Herr Heuuann hat seine öft'entliche Bibliuihi k, die Ende Oktober
vorigen Jahres eröffnet wurde und an den Wochentagen von 5'/, bis 9 ' Uhr,
an Sonn- und Feiertagen von 9 — i Uhr geöffnet ist, zunächst erst in drei
Abteilungen reidi ausgestattet, nämlich in deutscher Litteratur, in Kunst-
geschichte und in Rechts- und Staatswissensehaften. Schon diese letzte
vorzüglich ausgestattete Abteilung, die flir den Rahmen einer Volks-
bibliothek aiifserst reichhaltig ist, läfst erkennen, wie weit Herr Heimann
seine Ziele gesteckt hat: niclits von irgend welcher allgcniciner Bedeu-
tung seiner Sammlung fehlen zu lassen. Sobald die anderen Abteilungen,
deren nächste die Naturwi.ssenschafien umfassen soll, fertig gestellt sein
werden, beabsichtigt Herr Heimann einen Katalog drucken zu lassen,
aus dem dann zu ersehen sein wird, dafs lediglich der Wunsch, Bildung
zum Allgemeingut zu machen, das hochherzige Werk beseelt und zu-
stande gebracht haben. Zunächst weist ein mit der Schreibmaschine
hergestellter systematischer Katalog die Bestände nach.
Hotü ii wir, dafs diese Bibliothek sich zu einer Stätte edler Volks-
bildung weiter entwickelt und aurli durch das von ihr und ihrem Be-
gründer gegebene Beispiel anspornend und fordernd wirkt.
. j _ d by GoogI(^
LITTERATUR.
Die Lag€ der deutschen Jfoharbeäer, Ergebnis statistischer Er-
• Hebungen für das Jahr 1893 veranstaltet vom Deutschen
Holzarbeitcrverband. Stuttgart, Verlag von Karl KloCs.
X895. 44 S. 8 0.
Die Lage der deutschen Hckarbeiter. Nach statistischen Erhebungen
fiir das Jahr i^j herausgegeben vom Vorstand des Deut-
schen Hol2arbeiterverbandes. Stuttgart, Verlag von Th.
Leipart 189^ 56 S. 8^
Die ArbeäsperhäUttisse iu der Gerberei umd Leder/ärberei, Dargestellt
auf Grund der statistischen Erhebungen des internationalen
Sekretariats der Lederarbeiter und auf Grund anderer Ma-
terialien. Berlin 1899. Verlag des internationalen Sekre-
tariates der Lederarbeiter (G. Kuske). 128 S. 8**.
Nach dem In-i der Cinmdung des Oeutsrhon HolzarbeiterA'crhaiides
im Jahre beschlüsseiicii Statut sollte der Verbandsvorsiand alle
zwei Jahre eine Berufsstatistik aufnehmen und zwar zum ersten Male
für das Jahr 1893 selbst. Das Ergebnis dieser erstmaligen Statistik ist
in der zuerst angezeigten Broschüre enthalten. Wegen des mit der
Arbeit verbundenen grofsen Aufwands an Zeit und Kosten beschlofs der
\ crbaniki;ij; im Jahre 1895, zweijähri^je Frist für die Wiederholung
der Krhebungen fallen zu lassen und dafür die Hestiminung in das Statut
aufzunehmen, dafs jeder ordentliche VerbaiuKtag zu l)esrhliersen hat,
wann und in welcher Weise statist!s( he Krheluin<;L n seitens des N'orstandes
zu veranlaiiseu suid. Zugleich wurde der \ orstand beauftragt, die nächste
Statistik fdr das Jahr 1897 aufzunehmen. Das Ergebnis dieser zweiten
Erhebung ist in der zweiten Broschüre niedergelegt.
Die Statistik des Deutschen Holzarbeiter-Verbandes verdient nicht
nur zeitlich sondern auch in der Methode und in ihrem Umfange d[eo
Vorzug. Im Jahre 1893 wurden an ca. 820 Orte Ortsfragebogen, ca.
2jr2 Lilteratur.
x8ooo Werkstattfragäbogen und ca. 84000 Penonenftagebogen venandt.
Von den wichtigsten den Personenftagebogen wurden 1893 19799 tie-
antwortet, 1897 dagegen die doppelte Anzahl: 38563. In den Orts-
fragebojTcn wurde bei beiden Krhebunpcn (ÜX den betreffenden Ort .\u>-
kunft vorl\n^i über die Zahl der Geschäfte mit Maschinenbetrieb, der
verwendeten l'ferdekräftc , der Ges( häft«.- ohne Maschinenbetrieb, der
Arbeiter, der Arbeiterinnen, der Hilfsarbeiter, der jugendlichen Arbeiter
(1897 nach Geschlechtern gegliedert), der Lehrlinge. Diese Fragen
waren 1893 für die Berufe der Bürsten- und Pinselmacher, der Drechsler
und verwandten Berufe» der Korkschneider, der Stellmacher, der Tischler
und verwandten Berufe su beantworten. Neu hinzugekommen sind 1897
die Korbmacher, weil sie erst nach den letzten Erhebungen des Jahres
dem Verband beitraten, wahrend die Korkschneider in der neuesten
Statistik nicht mehr gefulirt sind, ohne d ifs ein Grund angegeben ist.
Der Werkstatlfragehogen ist bei beiden l'>liebungen beinahe gleicli-
lautend gewesen. 1893 urafafste er 17, 1897 15 Fragen, in denen
Auskunft verlangt wurde über Name und Wohnort des .Arbeitgebers ;
die Art des Betriebs (Beruf, ev. Spezialität); ob mit Kraftmaschinen
gearbeitet wird, Art der Triebkraft und Zahl der Pfeidekräfte; Zahl der
ledigen und verheirateten Gehilfen; Zahl der ledigen und verheirateten
Arl)eiterinnen ; Zahl der ledigen und verheirateten Hilfsarbeiterinnen;
Zahl der jugendlichen Arbeiter fnnter 16 Jahren); Zahl der Lehrlinge
und Dauer der Lehrzeit; Art der Kiitlolmung, ob Lohn, Akkord oder
Halblohii ; Dauer der regelmäfsigen Arbeitszeit ohne Pausen; Zahl der
Unfälle a) an Maschinen, bi andere; Zahl der Fälle, in denen die Arbeits-
unfähigkeit a) unter 4, b; 4 — 13, c) über 13 Wochen dauerte, d) der
Unlatl eben tätlichen Ausgang nahm (nur 1897 erhoben). Weiter wurde
erhoben, ob Schutzvorrichtungen a) an Maschinen, b) an Transmisnonen
getroffen sind, ob Ventilationseinrichtungen bestehen, wie viele Personen
im Erhebungsjahr, an welcher Todesursache und in welchem Alter starben.
Zu diesen Fragen kam im Jahre i8q7 die weitere Frage, ob Maschinen
mit Hand- oder Fufsbetrieb verwendet werden, wahrend folgende zwei
Fragen der 1893er F.rhebung wegfielen: ^^'ar im Jahre 1803 Arbeits-
mangel, tür wieviel Mann und Wochen ": 12. War im Jahre 1693 Arbeiter-
mangel, für wieviel Mann und Wochen
„Unsere Fragen bezüglich Arbeitsmangel und Arbeiter-
mangel,'' heifst es in der x893er Erhebung, „sind offenbar von vielen
Beantwortern irrtümlich aufgefafst worden, so dafs eine Zusammenstellung
dieser Angaben kein richtiges Bild geben wlirde; wir verzichten daher
hier auf eine Wiedergabe derselben und verweisen in Bezug auf Arbeits-
losigkeit auf dns durch persunUche Krtiel)ungen gewonnene Ergcl)nis."
Fs sind dies im ganzen Fragebogen die beiden einzigen ungeschickt
formulierten Fragen. Dafs der Mifserfolg statt zu einer Erläuterung oder
gemeinverständlicheren Fassung der Fragen zu deren Preisgabe geftihrt
Digitized by Google
Die Lage der deutschen 1 iulzarbciter.
273
hat; ist.umsomehr su bedaoeni, als gerade die Arbeitsloseostatistik der
letzten Berufs- und VolksdÜilung gar sehr der Ergänzung aus anderen
Quellen bedarf und durchaus nicht über alle Zweifel erbaboi ist Bei
der sonst geradezu mustergültigen statistischen Aufl)ereitungdes gewonnenen
Rohmaterials ist es sehr zu bedauern, dafs der Bearbeiter die gewonnenen
Ergebnisse nicht mit denjenigen der letzten Berufs- und Gewerbestatistik
verglichen hat. Dies nachzuholen kaim nicht die Aufgabe unserer kurzen
Besfvechung sein. Es mag dies allerdings damit entschuldigt werden,
da6 es nicht jedermanns Sache ist, sich durch die x8 Folianten der
Reichsstatistik, von denen damals der die Ergebnisse zusammenfassende
Band noch nicht erschienen war, hindurchzuarbeiten. Bei der groben
Mühe, die der Verfasser auf die gründliche Durcharbeitung des ihm vor-
liegenden Materials ver>vandt hat, hat es ihn jedenfalls auch an der
hierzu erforderlichen Zeit gefehlt.
Aber gerade die Ergebnisse der Werkstatt fragebogen mufsten ganz
besonders zu einem Vergleich mit der amtlichen Gewerbestatistik ein-
laden. Ein solcher Vergleich hStte entweder durch Uebereinsthnmung
der Relativzahlen die Zuverttasifj^it der gewerkschaftlichen Statistik er-
härten oder es hätten die Gründe abweichender Resultate dargd^
werden können. Ein solcher Vergleich hätte aigleich gezeigt, ob die
Verhältnisse der von der Erhebung erfafsten Betriebe als typische an-
gesehen werden können oder nicht. Es wäre sehr zu wünschen, dafs
diese Arlicit von dem mit st-inem Material durch und durch vertrauten
auch als Statistiker nicht zu unterschätzenden Bearbeiter nachgeholt würde.
Die Fragen des Personalfragebogens, der der wichtigste von
allen war. lassen wir hier für 1897 wdftlich folgen:
„i. Welchem Beruf gehören Sie an (Gewerbe und Spezialität)?
2. Wie alt sind Sie?
3. Sind Sie verheiratet oder ledig?
4. Wieviel Kintkr h;il)en Sie a) über 14 Jahren, b) unter 14 Jahren^
5. Gehören Sie einer Imc horganisation an und welcher?
6. Arbeiten Sie auf Lohn, Akkord oder Halblohn?
7. Wie hoch ist im letzteren Falle Kost und Logis beim Meister
pio Woche im Preise anzuschlagen?
8. Haben Sie alle 8 oder 14 Tage Zahltag?
9. Müssen Sie Ihr Werkzeug ganz oder teilweise selbst stellen ; wie
hoch ist die Ausgabe hierfür pro Jahr?
10. Müssen Sie Beleuclitun^r oder Kleinmaterial selbst stellen; wie
hoch ist eventuell die Jahresausgabe a) für Beleuchtung, b) für Klein-
material ?
11. Wieviel betrug ihr Wochenverdienst in bar ohne Ueberstunden
und ohne Nebenverdienst?
la. Haben Sie aulser Ihrer Beni6arbeit noch Nebenenreib und
welchen, wie hoch ist das Jahreseinkommen aus demselben?
Ardiiv fifar m. G«nt«g*ba«g a. SMtittlk. XV. l8
Digitized by Google
Litteratur.
13. Tragt Ihre Frau zum Erwerb bei, durch welche Arbeit; wie
hoch ist das lahreseinkommen aus derselben?
14. Findet diese Beschäftigung in eigener Wohnung statt oder im
Arbeitsraum des Unternehmers? (fehh iScj^)
15. Tragen Ihre Kinder /um Krwt-rh bei a) über 14 Jahren, durch
welche Arbeit, Hölie des jahrcseiukommeus ; b) unter 14 Jahren, durüi
welche Arbeil, Höhe des jaiiresfinkommens r
16. Haben Sie im Jahre 1897 über Zeit oder Sonntags gearbeitet,
wievwl Stunden a) über Zeit, b) Sonntags; wie hoch ist das Jahreaein-
Icominen hierfUr?
1 7. Wurde die Uebeneitarbeit besser bezahlt wie solche in gewöhn»
lieber Arbeitszeit?
18. Wieviel Tage waren Sie im Jahre 1897 krank (Art der Krank*
heit) r
19. Wieviel Tage waren Sie im Jahre 1897 aus anderem Grunde
arbeitslos: ^lehlt 1893)
20. Wieviel Tage waren Sie im Jahre 1897 wegen Aibdtdos^eit
auf Reise?
91. Wieviel zahlen Sie Wohnungsmiete pro Jahr?
22. Befindet sich die Wohnung im Keller, Parterre, Mittelstock oder
ist es Dachv^rohnung r
23. Aus wieviel Räumen bc>teht die Wohnung (Zimmer, Kammer,
Küche I r
24. Haben Sie von diesen Räumen vermietet, welche (Zimmer,
Kammer, Küche), ^u welchem Mietwert?
35. Wieviel Personen benutzen die von Ihnen selbst bewohnt<in
Räume zum Wohnen, Schlafen etc., Erwachsene, Kinder unter 14 Jahren?
26. Wie hoch belaufen sich Ihre Jahresausgaben fiir Nahrungsmittel?
27. Wie hoch belaufen sich die Jahresausgaben fiir sonstige Lebens-
bedürfnisse, ausschliefslich der Nahrungsmittel und Wuhnungsmiete r
Dieser Frage! )<)<;en wurde ausgefüllt von: (Name, Wohnort, Wohnung),
in Arbeit bei (Name des Arbeitgebers, W ohnort, W otinunir) "
Wir sind geradezu überrascht von der Fülle des fur den Sozial -
Politiker wichtigen Thatsachenmaterials, das hier zum erstenmal von deut>
sehen Gewerkschaften erhoben wird. Dals nahezu 40000 Arbeiter diesen
Fragebogen brauchbar beantworteten, ist ein fOr die Ausarbeiter des
Fragebugens wie für die Intelligenz der deutschen Arbeiter gleich ehrendes
Zeugnis. Unseren amtlichen Statistikern empfehlen wir diesen Frage-
bogen auf (las Findringliehste zum Studiuni. Dabei erhebt sieh die
prinziiiielle l r;i<,^e, die nielit rnih genug aufgeu orten werden kann, ob
es sich nicht Ihm einer neuen l'.crufs/ähiung cmi)lehicn würde, von dem
Kinhcilsfrageschema mit seuieni abstrakten unverständlichen Biireaukraten-
deutsch abzuweichen und für Jedes Gewerbe durch eine Kommission
von Sachverständigen des betreffenden Gewerbes unter Leitung em^
Digitized by Google
Die Lage der deutschen Holzarbeiter.
275
Stttistiken einen konkreten Fragebogen nach dem Muster des vorliegenden
aufxustellen. Dafs in diese •Kommissionen auch Arbeiter zu berufen
wären, können wir, obwohl es selbstverständlich ist, nicht nnterlasseUf
ausdrücklich zu betonen. Die Durchführbarkeit einer, solchen Erhebung:
ist wohl kaum zu iH^zwtMfeln, da im vorhorcitendcn Stadium von der
utiteren \'erwaltungsbehuide leicht erhoben werden kann, wieviel Formu-
lare von jeder Sorte gebraucht werden. Statt eines einzigen Formulars
» riesiger Auflage wflide man eben dann etwa soo in kleinom Auf'
lagen bedürfen. Die Erhöhung der Druckkoiten kann gegenüber dem
Gewinn an ZuverlSssigkeit der Daten nicht in Betracht kommen. Die
Schwierigkeiten der Verteilung solch verschiedenartiger Formulare su
bewältigen, wäre unsere Biireaukratic jedenfalls im stände, da es sich
um rein formelle Dinge handelt. Wenn liie Statistik der Nebenberufe,
deren Hcdeutung einseitif; übertrieben worden zu sein scheint, darunter
leiden sollte, so wiire auch dies im Vergleich zu dem \ '\c\ tieferen Ein-
blick in das Volksleben, der auf diesem Wege zu gewinnen wäre, zu
verschmerzen.
Wur sehen also diese eingehe Holzarbeiterstatistik, der gegenüber
sich die Gelehrten in das ehrwOrd^ie Schweigen des „Graeca non le«
guntor^ hüllen, bietet Anregung zur Erörterung der weittragendsten,
prinzipiellen statistischen Probleme. Wer wollte sich darüber wimdern !
Wird doch die amtliche St.Ttistik fast durchweg von dem praktischen
Leben geraume Zeit fernstehenden hohen RegierungslK-araten organisiert,
während diese Statistik aus dem Bedürfnisse in harter Arbeit imi ihre
Existenz kämpfender Arbeiter, Aufschlufs Uber ihre Lage zu erhalten,
herausgewachsen ist.
Nicht tmgerügt können wir dagegen lassen, wenn in dem zu den
Fragebogen ergangenen Begleitschreiben von der „miserablen wirtschaft-
lichen Lage" der Arbeiter gesprochen wird. Für einen weniger urteils*
föhigen T eser leidet dadurch die kurze Aufforderung zur wahrheitsgetreuen
Beantwortung der Fragen, zumal sich das Begleitschreiben in längeren
Ausfühnmgcn über die ungünstige Lage der Arbeiter ergeht. In dieser
Beziehung ist das Vorgehen der Lederarbeiter zu loben, welche in ihrem
Fachorgan, der „Lederarbeiter-Zeitung", ausdrücklich bekannt gaben:
„es ist nicht notwendig (sie!), die Zustände absichtlich im besseren oder
schlechteren Lichte ersdieinen xu lassen, es genfigen vielmehr nur die
dnfiuhen Thatsachen."
Eine zusammenfassende Uebersicht der gewonnenen Ergebnisse zu
geben, müssen wir hier unterlassen und beschränken uns auf einige An-
gaben.
Der Gcsaratdurch-schnitisverdienst pro Woche betrug im Jahre 1893
18,69 ^* 2^"^ Verheiratete 16,69 Mk. tuid für Ledige 17,20
Mk. Bis zum Jahre 1897 hatte er sidi auf 19^ bezw. ti,o8 und
18,35 ^* erhöht Innerhalb dieser 4 Jahre ist somit eine Erhöhung
i8»
276
Litterator.
des Dttrchschnittdohnes um 1,37 Mk. wöchentlich fttr den Einxehiea
eingetreten.
In der Tabelle, die wir hier nicht wiedergeben können, sind die
Löhne der abwechselnd auf Lohn und Akkord Arbeitenden bei den
Akkordarbeiten! mitj^crechnet. Einige Zahlstellen dagegen, welche die
Zusammenstellung selber besorgten, haben dieselben teilweise auch den
I^ohnarbeitera zugezählt Besflglich des Entlohnungsverhältnisses Yoa
Akkord- und Lohnarbeiter bemerkt unser Berichterstatter: „Mit Aus-
nahme der Bürstenmacher und Hilfsarbeiter ist zwar der Wochenverdienst
der Akkordarbeiter überall höher als derjenige der Lohnarbeiter, aber
die Differenz ist nicht so grofs, als gemeinhin behauptet wird, und der
geringe Mehrverdienst entspricht gewifs nicht der gröfseren Ausbeutung-
der Kürjn rkrafte, welche die Akkordarbeit im allgemeinen als Bedingung
stellt. Auch geht dem Akkordarbeiter ein grofser Teil dieses Mehrver-
dienstes dadurch wkder verloren, da6 er erhehlidi höhere Ausgaben für
Werkseug tL s. w. hat als der Lohnarbeiter.*^
Besonderen Wert erhält die Lohnstatistik dadurch, daft unter An-
gabe der Zahl der von der Erhebung erfafsten Arlx'iter die höchste,
niedrigste und Durrhschnittsarbeitszeit pro Woche, sowie der durchschnitt-
liche Stundenlohn, die jährlichen Ausgaben für Wohnung, Nahrung und
Sonstiges, und der Jahresverdienst je für die Verheirateten und Ledigen
besonders in einer Ijeinahe erschöpfenden AnzalU alphabetisch geordneter
Städte nachgewiesen werden.
Die Wcrfmungsmieten sind hiernach ntir in 5 Stfldten und »rar
gans unerheblich zurückgegangen, in allen übr^en» zum Teil recht stark,
gestiegen.
Die in der Tabelle enthaltenen Ausgaben fur Xahrungsmittel und
sonstige LeliensbedurfDisse sind natürlich, wie der Bericht seilest bemerkt,
anfechtbar, weil nur wenige Arbeiter über diese Ausgaben regclmäfsige
Aufzeichnungen machen. Die Durchschnittszahlen sind also nur als
Resultat allgemeiner Schiitzungsangaben zu betrachten.
Von geringer Bedeutung ist auch der Jahresverdienst, da er nicht
durdi Erhebungen, sondern durch Mtdtiplikation des Wochenverdienstes
mit 50 gewonnen worden ist
Alle diese Angaben sind Durchschnittsangaben für die Holzarbeiter
überhaupt. In einer weiteren Tabelle wird nun für 42 bedeutendere
Städte die durclisc hnittliche Arbeitszeit pro Woche und der durchschnitt-
liche W ochenverdienst für die 5 Berufe getrennt nachgewiesen. Ks ist
im Interesse der Brauchbarkeit der Arbeit sehr zu bedauern, dafs dies
mit Rucksicht auf den Kaum nicht auch fiu" die grofse Tabelle S. 36 — 48
geschehen ist, die dann eben in 6 Tabellen hätte zerlegt werden müssen,
was allerdings eine Vermehrung des Umfangs der Schrift um 60 Seiten
zur Folge gehabt hätte.
Von welch verständnisvollem Eingehen auf die Verhältnisse des
Die Ijigc der deul&chen Holzarbeiter.
277
Gewerbe» die ganze Eiliebung getragen kt, dalttr xengt auch folgende
Stette aus dem Bericht über die 1893er Enquete:
„Die Kleinmeister hört man oft klagen, dafs die Arbeiter lU ihrem
Ruin mit bcitra^jen, indem sich dieselben den profsen Betriehen zuwenden
und sie, die Kieinraeister, mit irerin^^ereji und jüngeren Kräften fürlieb
nehmen müssen, somit in ihrer Konkurrenzfähigkeit beeinträchtigt sind.
Em Vergleich bestätigt diese Beliauptimg vollständig, demi wälirend auf
die Geschäfte mit Maschinenbetrieb auf je zoo gelernte Arbeiter 45,8
beaw* 65,2 — 76,5 — 69,4 oder insgesamt 68,1 verheiratete Arbeiter
entfiülen, sind in den Gesdiäften ohne Maschinenbetrieb nur 36,2 bezw.
43,1 — 24,7 — 50,7 (Drechsler, Stellmacher, Tischler, Diverse) oder
insgesamt 48,9 verheiratete Arbeiter vorhanden. Diese Thatsache ist
aber nicht l)öswillig aus Abneigung gegen die Kleinmeister, ja man
möchte sagen, nicht einmal willkürHch seitens der Arbeiter herbeigeführt,
sondern sie ist eine natürliche Folge der Verschiedenartigkeit der Arbeits-
verhältnisse in Grofs- und Kleinbetrieben. Ein selbst geringer Wechsel
im Geschäftsgang verursacht bei dem Kleinmeister Störung der Arbeits-.
Ordnung. Bei Geschäftsandrang müssen, soweit die nötigen Arbeitsmittel
vorhanden sind, Leute eingestellt oder es mufs, wenn die Arbeitsmittel
fehlen, über Zeit gearbeitet werden, bei Geschäftsmangel aber werden,
da dem Meister das Betriebskapital fehlt, um vorrätig zu arbeiten, Arbeiter
entlassen werden oder die Arbeiter müssen aussetzen. Da mm aber
der geringe Lohn kaum zum Leben von heute auf morgen ausrciclit,
ist der Arbeiter nicht in der Lage, Ers^mrnisse zu machen, er mufs also
ein möglichst stabiles Arbeitsverhältnis zu erlangen sw^n, da jeder
Tag Arbeitslosigkeit eine Keihe von Tagen des Mangels für ihn im Ge-
folge hat In grofsen Geschäften ist der Arbeiter dem häufigen Wechsel
nicht in dem Ma&e ausgesetzt, wie in kleinen, er iügt sich deshalb zu
Grünsten einer regelmäfsigen Beschäftigung lieber mandi schroffen Be-
stimmungen der Fabrikordnung, als bei gröfsercr Bewegungsfreiheit in
kleinen Geschäften sich häufig dem Mangel auszusetzen." ')
') Wir können bei dieser Frage di-- Krde des Nürnberger Arb<-itersekrctSl»
Martin Segitz auf der dritten ordfiitlii !i' n (]< in*ralversammlunp ili-s D. MA'. zu
Hraursrhweif^, am 21. April 1S97, w<-1c1k- unter dem Titel ,.r)as Unterstützungs-
west-n der ( lewerk«4chaften, insbesondere die Arbeitslosen-Unterstützung und deren
Einführung im Deutschen Metallarbciterverband" im Verlag von J. Scberm, Nürnberg
(Preis 10 Ff.) encfaieaen ist, nidit unenriliiiC lassen. Seglti vertritt hier io gc<
■chickler Weise den Standpunkt jener positiven GewerkselMiUer, die ein gvt organi-
siertes Unterstatsongswesen flbr eine der Lebensbedingmigen der Gewerkschaften
halten iiTi«! einen Hauptgrund der Mifserfolgc der deutschen Gewerkschaften, namenU
lieh im V ergleich mit den englischen, in der allzu einseitigen Betonung der politischen
und Kampforpanisation erblicken. Kri« hliaUigc statistische Angaben über die aus-
ländischen Gewerkschaften erhüben tl'-n Wert dieser zwar kleinen, aber auf ein-
gehenden Studien fuf&enden Broschüre.
Digitized by Google
Littcratur.
Während die Erhebui^ des Deutschen Holmfoeiter-VerbaadeSy m-
sofem ihr die Ergebnisse von über 38 000 Personenfragebogen zu Grunde
lagen, den Anspruch einer Statisdk machen kann, handelt es sich bei
den Gerbern und Ledornirhem um eine durch schriftliche Vernehmung
von Vertrauensmännern gewonnene En(|uete. Am 15. März i8()8 ver-
öffentlichte das internationale Sekretariat der Lederarbeiter in Nr. 6 der
,4-ederarbeitcr - Zeitung" an die Lederarbeiter aller Lander folgenden
Aufruf:
„Laut Beschlufs des intematkmalea Sekretariats werden die Korre-
sqKmdenten aller Länder enudit» Je einen Bericht Uber untenstehende
Fhigen einzusenden :
1. Arbeitszeit?
2. Arbeitslöhne?
3. Zahl der am Ort Beschäftigten (gelernt und ungelernt und Lehr-
linge)?
4. Wieviel sind organisiert und wieviel unorganisiert?
5. Frauenarbeit (Zahl und Besdiäftigimgsart derselben)?
6. Wie stellt sich die Zahl der Arbeitslosen, wann ist sie am höchsten,
wann am niedrigsten?
7. Fabnkordnung und deren Anwendung?
8. .\ngaben über sanitäre Verhältnisse?
Q. Kiitstehen den Arbeitern Nachteile wegen Zugehöriglceit zur
Organisation ?
10. Sind von den Arbeitern gewählte Fabrikausadlfisse vorhanden
und wie funktionieren dieselben?
Da obige to Fragen als Gnmdlage zn einem wiasenschafUidien
Werke dienen sollen, so ersuchen wir die Kollagen aller Länder, die>
selben möglichst korrekt zu beantworten.
Fragebogen werden den Korrespondenten in kttrzester Zeit xugesandt
werden."
Uehcr die Zuverlässigkeit und \'ollstandigkeit der Unterlagen der
\nrliegenden Arbeit giebt das von Adolf Braun bearbeitete Werkchen
leider keinerlei genügende Auskunft. Wir werden mit der vagen Be-
merkung abgespeist : , Jm allgemdnen waren die Fragebogen mit Socjg&lC
und Genauigkeit ausgefüllt worden." Was «mächst den auf Deutschland
besttglichen Teil der Arbeit — weitaus der umfimgreichste und beste — ~
anlangt, so ist zwar für die nach Ländern und ProviittMi (Prcufien) tmd
innerhalb dieser alphabetisch aufgeführten Ortschaften angegeben, wieviele
Arbeiter in die Untersuchung einbezogen worden sind, es ist aber leider
unterblieben, hieraus die Gesamtsumme zu ziehen und sie mit der von
der Berufszählung nachgewiesenen Arbeiterzahl zu vergleichen.
Bei Bearbeitung dieses aoigfiUtig ausgearbeiteten Ortsverzeichnisses
wurde durchweg das Leuchs'sche Adreisbuch und in einzelnen FäUen
auch die Adre&bücher der betreffenden Städte benutzt. Dem Ortsvcr-
^ ij . .-Lo Ly Google
Die Arbeiterverhältnisse in der Gerberei und Lcderlarberei.
279
.zekfaais ist eine 9 Seiten umfassende^ auf die Ledermdiistrie bezüglidie
Zasanunenstellung der Benifr- und Gewerbezählm^ vom 14. Juni 1895
vorausgeschickt. Leider unterblieb eine Verglcichung der Daten der
Herufszählung für die einzelnen Orte bezw. Verwaltungsbezirke, mit den
Ergebnissen der Enquete. Die Bände 117 und 118 N. F. der Statistik
des Deutschen Reichs hätten, in geeigneter Weise benutzt, hierfür aus-
reichendes Material an die Hand gegeben. Trotzdem ist das Ortsver-
seichnis ein willkommener Beitrag zu einer noch zu bearbeitenden deut-
schen Indttstriegeographie. Auch fllr die Erfassnng der Produktion sind
. diese Nachweisungen von «Wert und unsomehr zu begrüfsen, ab sich die
amdidie deutsche Produktionsstatistik hinter verschlosseneu Thüren voll-
zieht und auf die Bestrebungen und Verhältnisse der Arbeiter keine
Rücksicht nimmt.
In dem sich hieran anschliefscnden Tabellenwerk werden nach
Provinzen (nur für Preufsen) und Staaten und innerlialb dieser alphabetisch
geordnet für die bedeutenderen Plätze der Lederindustrie nachgewiesen:
Die Verbreitung der Lederarbeiter und Anteil derselben an der Oigani-
sation, die durchschnittlidie regelmftftige Arbeitsseit in Stunden ohne
Pausen pro Woche und die. Arbeitsldhne. In der ersten dieser Nach»
Weisungen wird die GesamtaJil der Arbeiter und diejenige der organi-
sierten Arbeiter nachgewiesen nach folgenden Kategorieen gegliedert:
Weifsgerber, Lohgerber, I-ederfärber, Hilfsarbeiter, Arl)eiterinnen, Lehr-
linge, jugendliche Arbeiter, Summa. Insgesamt wurden nacligewiesen :
Arbeiter davon organiriert
in rreufs<m 7503 35 1 7
„ Sarhs<m 547 224
im übrigen Norddcutächland 1884 574
in Bayern 918 s6s
„ Warttembcqf . . . . itis 168
„ Baden 374 176
„ Hessen 1189 49
„In der Wirklichkeit sind aber," bemerkt der Verfasser hierzu, „die
Verhältniszahlen für unsere Organisati<Mi> noch weit ungünstiger, denn
während die Zahl der Organisierten nicht su niedrig ist, ist die Zahl der
Lederarbeiter überhaupt viel zvl niedrig hier angenommen, wie ja die
Berufsstatistik lehrt". Leider hat der Verfasser auch hier wieder tmter-
lassen» die vergleichbaren Zahlen der Berufsstatistik anzuführen. Es wäre
dies umso wünschenswerter gewesen, als wir dicse'boti auch in der schon
erwähnten /usanimenstellung der Ergebnisse der Berufsstatistik S. i — 9
vcrgcl)cns suclicn.
Die Nachweisung der Arbeitszeil erfafst Arbeiter, Arbeiterinnen,
Lehrlinge und jugendliche Arbeiter besonders.
Die Statistik der Arbeitslöhne versiebtet leider durchweg auf die
Digitized by Google
28o
Litteratur.
Nachweisung von Stundenlöhnen. Sie weist die höchtten, niedrigstea
und durchschnittlichen Wochenlöhne Air Weilsgerber, Lohgerber, Leder-
fiürber, Hilftarbeiter, Arbeiterinnen» Lehrlinge und jugendliche Arbeiter
besonders nach.
An diese Dotailnachweistmpen schliefsen sich zusammenfassende
DarstelluiigL'n an über „Die 1 )iirchhihiung der Arheitcisrlnitzhesiimmunpen
in den Lederindustriecn" ; „Allgemeines über Krankheits- und Unfall-
gefahren in der Gerberei"; „Die UnfitUvcnndierung in der deotachen
Lederindustrie"; ,,Vorkehningen gegen Gesundhettsge&hren^.
Schon rein Sufeerlich steht die Erfaebm^ der deutschen Verhütnnae
im Vordergrund; sie umfafst 89 Seiten; diejenige über Oesterreich 19,
DSnemark 7, Schweden 4, Belgien und England je und die Ver-
einigten Staaten von Amerika 2 Seiten. Die österreichisch-ungarische Er-
hebung bezieht sich auf 30, die dänische auf 25 Orte fiir die I-ohperberei
und auf 5 Orte für die Weifsgerberei, die schwedische auf 6, die bel-
gische und amerikanische auf je i Ort. Von England wurden überhaupt
keine Fragebogen eingesandt Das Material der ausländischen JStaaten
ist nach demselben Schema behandelt wie das deutsche.
Die geringe Beteiligung der ausländischen Staaten zeigt, da(s der
Boden für eine internationale Statistik noch nicht reif ist. Ein Teil des
unbefriedigemlen Erpfebnisses in dieser Rczieliung wird allerdings darauf
zurückzufühien sein, dafs die Fragebogen nur in deutscher Sprache ge-
druckt worden sind.
Für eine Wiederholung derartiger Erhebungen, die dringend zu
wünschen ist, dürfte sich eine Bearbeitung durch d^ ZentralorganiaatioBeii
der einzelnen Länder empfehlen, um einer KiäAezenplitteiung vom-
beugen.
Was die thatsädilichen Ergebnisse der Enquete anlangt, so ver-
weisen wir auf unsere vergleichende DarsteUong -derselben in Nr. 14 der
„Sozialen Praxis" (IX. Jahrg. 4 Januar 1900 Sp. 343).
Als Gesainifacit ergiebt sich, dafs beide Erhebungen ihre Licht-
und Schattenseiten haWcn und dafs bei einer neuen Erhebung ein be-
friedigendes Resultat zu erreichen sein wird, wenn gegenseitig die eine
die Voiarbeiten der anderen benfitzt.
Berlin.
CLEMENS HEISS.
j _ d by Google
Grundzüge einer allgemeinen staatlichen Arbeits-
vermittlung für Oesterreich.
Von
Prof. Dr. ERNST MISCHLER,
in Graz.
I. Die Vorgeschichte des Gesetzentwurfes.
Dafs der Gedanke einer allgemeinen öffentlichen Arbeitsver*
mittlung, also die Aufnahme der Artieitsvermittlung in den Auf-
<,Mbeiikreis der staatlichen Sozialpolitik in Oesterreich über die
(irenzen litterarischer Diskussion sowie allfallige ParteipOStulate
hinausgewachsen ist und eine halbwc|:^s konkrete Gestalt angenommen
hat, ist einem von dem österreichischen Abgeordnetenhause aus-
gegangenen Anstofse sowie dem Hinzutreten günstiger äufscrer
Umstände zu danken. Unter diesen nicht zum weniefstcn der Er-
rirhtung ilc^ arbeitstatistischen Amtes und seines Arbcitslxirats,
tlcr sieh iti ertrnilirher Weise nicht nur zu einer Arena für sozial-
pölitische Rcdcturmere, sondern auch zum Anknüpfungspunkt inten-
siver Arbeiten ausgestaltet hat.
Im Jahre 1895 wurde im nsterreichischeii AhL^eordnetenhause
eine \om Ab;^a'()r(hieten der I.inken, Dr. .Max Menger, ein^febrachte
ReM^»hiii'in angenommen, welche einerseits auf Erhebungen über
den d;iniali;^fen Stand der Arbcitsvermittlungs-Einrichtungen im
Staate- und andererseits auf die Sciiat^utig von solchen abzielte.
Der Wortlaut in der letztgenannten Riclitung war:
Die Regierung wird aufgefordert, in Erwägung im ziehen, welche Schritte zu
ergreifen sind, anf dafs die sehr grolsen Llldien, wekhe derzeit im Systeme der
Arbeitsvemtttloiig in Oesterreich bestehen, amgefllllt werden, wobei ab Ziel die
Herstelhing einer jedem Arbeitsnchenden offenstehenden thndidut kostenfreien 'Ar>
beitsTcrmittlaiif unter soldien Bfodalitäten im Auge m behalten* wire, dafs dieselben
Archiv für mos, GeMtzaetnns n. Statistik. XV. 19
Digitized by Google
282
Ernbt MiücLlcr,
geeignet erscheinen, das Vertrauen sowohl der Arbeitgeber ak «och der Arbeit-
nehmer za erhalten.
Dem ersten Teile dieser Resolution ist die Regierung durch die
seitens des statistischen Departements des österreichischen Handels-
ministeriums erfolgte Veröffentlichung des trefllichen Buches „die
Arbeitsvermittlung in Oesterreich" (Wien 1898. A. Holder, IV» 304 S.
Text, 1 56 S. Tabellen und 50 S. Abdruck gesetzlicher sowie statutarischer
Bestimmungen) iur die Vergangenheit in ausreichender Weise bereits
nachgekommen. Ueberdies wurde auch schon Vorsorge getroffen,
um von nun ab eine einheitliche Statbtik der Arbeitsvermittlung
sicherzustellen. Das arbettstatistische Amt nahm diese Aktion unter
Mitwirkung des Arbeitsbeirates in die Hand; es wurden auf diese
Weise die Formulare der statistischen Berichterstattung sowie für
die innere Geschafts'^'cbalirunsj;^ der Anstalten entworfen und ge-
legentlich einer hiezu einberufenen Enquete, an der die \>rtreter
aller Gruppen von Arbeitsvcnnittlunfrs-Einrichtungen teilnahmen,
diese Absicht in eingehender Aussprache und g^cnseitigcr hörde-
rung um ein gutes Stück der \''er\virklichung näher gebracht. So
stellt zu hofil'en, dafs vom Jahre iqoo anj:,^efangen. alle wichtigeren
Arbcits\ermittluni;s-Kinrichtun«;en in dci Arbeitsamte ge(ilanten
Statistik vertreten sein werden. I )er inTicht über diese am 2. l)is
4. Mai 1899 in Wien abgehaltene KiKjucte wurde in der 4. Sitzung
des Arbeitsljeirates \oin 10. Juli i^yt) ciNtattt t und genehmigt.
Die Bedeutung dieses Schrittes liegt nicht nur in der F>Iangung
einer einheitlichen Statistik aller bedeutenderen Anstalti n ini ganzen
Staate, sondern darin, dals der ( tedanke einer gewissen einheitlichen
l.citur^g und l')eeintlussung des gesamten Arbeitsnachweises aller
Arten \un AiiNtallen im ganzen Staatsgebiete nicht angefochten,
vielmehr synipathi^ch begrülst wurde und fortan als bewuLster so/i.il-
püliti^clicr Lntwicklungslaktor seine treibende Kralt ausüben wird.
I m dem zweiten Teile der oben citierten Resolution zu ent-
sprechen, wendete sich die Regieiung an das arbeitstatistische Amt,
welches einen Gesetzentwurf „betreffend die Dienst- und Stellen-
vermittlung" verfafste und dem Arbeitsbeirate in dessen 2. Sitzung
vom 14. November 1898 zur Begutachtung \orlcgte. Der Arbeits-
beirat wies das Studium dieser Angelegenheit einem Ausschusse zu,
in welchem — gemäfs der Zusammensetzung des Arbeitsbeirates
selbst — je zwei Vertreter der Regierung, der Unternehmer, der
Arbeiter und der Fachmänner vertreten waren.
Wenngleich der AusschuGs diesen vom arbeitstatistischen Amte
Digitized by Google
GmndzOge dner allgemeinen staatlichen Arbeitsvennittliing (&r Oesterreich. 283
verfafsten tntwurt alshaUi fallen licfs iitul sich gän/Iich aiulcren
Prinzipien zuwendete, so sei doch in kurzen Worten auf dessen
Grundzüi:je hinL^ewiescn. Der Entwurf unterschied /w ischen gewcrbs-
TTiätsiL^cn iJiciist- und Stellenverniitlkingen einerseits und nicht
^ewerl)sinärsi;4en StclIciuerinittIun;Tseinrichtun!;(en andererseits. Die
ersteren, die 1 )ienstverniitthin^'S^eschäfte, deren Re<^elunfj der«
zeit in Oesterreich ebenso wie anderwärts sehr manj^clhaft ist, sollten
der Konzessionierung und überdies mehreren einschränkenden Be-
stimmungen sowie einer eingehenden Kontrolle unterwoffen werden.
Bezuglich der nichtgewerbsmäfsigen Stellenvermittlung wurden die
von Vereinen , . Genossenschaften und Gemeinden errichteten An-
stalten speziell normiert. Die Anstalten von Vereinen sollten nach
wie vor durch deren ebenes Statut, also in letzter Linie durch das
Vereinsgesetz ihre Regelung erfahren. Die genossenschaftliche Arbeits-
vermittlung sollte nur bezüglich der Genossenschaften mit mindestens
200 Gehilfen, und zwar insofern eine Neuregelung erfohren, als sie
von paritätisch eingerichteten Verwaltungsausschüssen geleitet und
auf ein Statut basiert werden sollte. Den Gemeinden mit mindestens
30000 Einwohnern wurde die Errichtung und Erhaltung unentgelt-
lich funktionierender Arbeitsvermittlungsanstalten zur laicht gemacht,
welche gleichfalls von paritätisch zusammengesetzten Verwaltungs-
kommissionen hätten f^cieitct und auf ein Statut basiert werden
sollen. Ueberdies wurden alle Arten von Arbeitsvermittlungsan^t ilt* n
einer staatlichen Kontrolle und der Pflicht zur statistischen Bericht-
erstattung unterworfen.
T^ 'i der Beratung; dieses Gest- t/rnt Wurfes im Ausschüsse des
Arbeitsbeirates wurde die Kxistenzberecliti^unfr der g^cwerbsmäfsigen
Stellcnvermittlunfj stark anc^efnchten , die Stcliunfjnahmc zur ver-
einsmälsii^en und genossenschaftlichen ArbeitsvcrmittlunL^f prinzipiell
L^uti^eheifsen, da<^ei;en !^ci;;en die Mi >;^dichkeit der zwanL:>weisen Kin-
führung komniunaler Arheitsv erniiltlun^sanr-talten in den ( iemctnder.
über 30000 kinwoluicr ;:,n(>rse, aus der Ki^enlunilirhkeit der (»ster-
reicliisrhen X'crfas^un^ hergeleitete Bedenken geltend gemacht.
\\'i< htiv^^cr aber als diese Schwierigkeiten war der Unistand, dals
dt 1 AusM hul> sich grund.säl/.lich hinsichtlich der Stellung der Ar-
beitsvenuiitlunL: im Systeme der Verwaltung mit dem Kntwurfe nicht
einverstanden erklärte, sondern eine betriedigen<le Regelung dieser
Angelegenheit nur in der Schaffung eines allgemeinen über das ganze
Staatsgebiet gespannten Netzes von Arbeitsvcrmittlungsanstaltcn er-
blickte. Damit war das Schicksal des vom arbeitstatistischen Amte
19*
Digitized by Google
284
Ernst Mischler,
entworfenen Gesetzentwurfes besiegelt und die Arbeit inufste ganz
von vom wieder begonnen worden.
Der Ausschufs wählte mich zum BerichtefStatter und Übertrug
mir die Aufgabe einen neuen Entwurf auazuarbeiten, was ich kon*
sequenterweise übernehmen konnte, als ich schon bei den Be-
ratungen über den abgethanen Gesetzesentwurf mit allem Nach-
drucke auf jener Seite stand, welche die Arbeitsvermittlung als eine
allgemeine X'erwaltungsau^abe erfaiste. Mit dieser Auffassung wuchs
aber die Sache zu einer solchen Grofee und Bedeutung an, dafs es
nicht mehr anging, einen Gesetzentwurf fix und fertig auszuarbeiten
und der Regierung zur Vorlage an den Rdchsrat im Wege des
Arbeitsbeirates resp. arbeitstatisttschen Amtes vorzulegen. Es wurde
nunmehr notwendig, zunächst festzustellen, ob die grundsatzliche
Auffassung des Ausschusses über die Altgemeinheit der Arbeits-
vermittlung im Arbeitsbeirate prin/ipicll geteilt werde und femer, ob
überhaupt Aussicht vorhanden M-i, dafs die Regierung einem so ge-
stalteten umfassenden Werke ihre Zustimmung geben und die nötigen
Kosten zur Bewilligung empfehlen wolle. Nur wenn diese Punkte klar-
gestellt waren, konnte sich eine einschlägige Aktion über das Niveau
allenfalls „schätzbaren Materials" oder eines sogenannten „Buch-
gesetzes", wenn es gestattet ist diesen Ausdruck als Analogie zum
W'orte Ruchdrama zu gebrauchen, erliehon luid allenfalls praktische
Bedeutung erlangen. (leraile huTuni aber handelt es sich und das
jiraktisclie Ziel lautet: die Kinfu^aing der allgeirieinen Arbeitsver-
niittlun^f in da-> System der staatlichen ^Sozialpolitik auf Grund des
zu verfassenden (ie>et/es.
Der Ausschufs hat ^ich dnher ^'eeinigt, dein Arheitsljcirate einen
Bericht vorzulegen, in welcliein das ( leripjie des zu erlassenden Ge-
setzes durch .Anführung sämtlicher jtrinzipieller Bestimmungen eines
s<'l( hen nel«t den erforderlichen Erläuterungen gegeben wäre. Der
in diesem Sintie \on mir verfafste Bericht wurde dann auch vom
Ausschüsse durchberaten und angenommen, worauf er in der fünften
Sitzung des Arljcitsbeirates vom 4. Xovember vorigen Jahres mit
zumeist nebensächlichen Abänderungen, welche nirgends den Grund-
gedanken tai^ierten, mit grolser Stimmenmehrheit zum Beschlüsse
erhoben wurde. Dieser Beschlufs hat den Sinn, dafs der Arbeitsbeirat
damit dem arbeitstatistischen Amte sein Gutachten über die Frage
einer allialligen legislatorischen Behandlung der Arbeitsvermittlung
abgiebt, über welche dieses Amt von der Regierung befrs^ wurde.
Ob sich das arbeitstatistische Amt in seinem Gutachten an die
Digitized by Googl(
GrunUzügc einer allgemeinen staatliclien ArbeitävenpitÜuug lür OcMcrreicb.
Regierung an diese Beschlüsse des Arbeitsrates halten wird, ist
nicht bekannt, ebensowenig, ob die Regierung sich auf den Stand-
punkt der Beschlüsse des Arbeitsbeirates stellen, und überhaupt die
Angelegenheit bis zum Stadium eines Regierungsentwurfes vorwärts
bringen werde. Sollte dies der Fall sein, so hat der Arbeitsbeirat
bereits im Vorhinein den Wunsch ausgesprochen bei der eventuellen
seinerzeitigen Ausarbeitung des Päragraphendetails neuerlich zur
Mitarbeit herangezc^n zu werden, und demgemäfs den hierfür
eingesetzten Ausschuß auch weiterhin als aktiv erklärt.
Mnpf nun was immer in dieser Angel^enhcit ^^cschehen, die
Thatsache läfst sich nicht mc lir \v( .^It n^^nen, dafs sich etwa 40 er-
fahrene Männer aus dem Stan<lt <\vv Arhcitijebcr und Arbeitnehmer,
Re^ieruiv^svcrtretcr und sozialpolitischen Theoretiker nach einjährigen
einnähenden Verhandlungen in einer wichtigen offiziellen Körper-
schaft, mit i^nm überwiegender Majorität über jene Grundsätze aus-
gesprochen haben, welche bei der als notwendig erachteten gesetz-
lichen Re;^'e1un^ der Arbeitsvermittlung in Oesterreich inbetracht
zu kommen haben. —
V\ ei',n in den nachstehenden Zeilen der Kürze wcL^cn \ on <^iiu'm
„Gesetzeiitwvirfe" die Rede ist, so sind darunter immer jene
(irundziige eines l ieset/.entwurfcs zu verstehen, von welchen eben
jetzt gesprochen worden ist, und nicht etwa der seiner Zeit vom
arbeitstatistischen Ainic vurj^a-legte formulierte (icsetzentwurf, von *
welchem die Beratung später Abstand genommen hat.
II. Die Vorfrage der legislativen Kompetenz. — Das
lokal* kommunale und das territoriale Gestaltungs-
moment.
Bei jedem Gesetzentwurfe ist in Oesterreich darauf Bedacht zu
nehmen, ob die gesetzgeberische Kompetenz beim Reichsrate oder
den Landtagen gelegen ist, und femer darauf, dafs die Rechts-
sphäre der autonomen Gewalten im Staate insbesondere der Ge-
meinden, nicht verletzt werde.
Was nun zunächst den ersten Punkt, die Kompetenz-
abgrenzung zwischen der Reichs- und Landesgesetz-
gebung anbelangt, so unterliegt es gar keinem Zweifel, da(s die
gesetzliche Regelung der Arbeitsvermittlung der ersten zugehore,
denn die Arbeitsvermittlui^ ist eine jener Angel^enheiten des §11
des Staatsgrundgesetzes über die Reichsvertretut^ vom 21. De-
Digitizea by LiOOgle
286
Ernst Mischler,
zenilu-r 1807 R.li.Bl. 14I, „welclic sich auf Rechte. Pflichten und
Ititore>>cii l)C/iclien, die allen im Reichsrate \ ertretent'ii K' >iii;4reirlicn
und Ländern '.^'eineinschafllich sinil". l iitcr den u dcjn>( l!t< ri ("ic-
sctze beispielsweise aufL^e/ähllen einsclilä^^i^cn < icset/esni,it< rien i>t
ilie Arbeitsvermittlung, ebensowenif; wie /. H. die Arbciterunlalls-
und Kranken<^eset7.;4el)uni^ enthalten, wol /u jener Zeit wohl nie-
mand an eine ül)er den Rahmen der (iewcrbeordnun^ hniaus-
«j^ehcnde Rei^eluni^f der ArbeitsvermitlluiiL: als eines Insonderen
Rechti^^ebietes dachte. Allerdin;^s wäre es heute lal.->ch, ilii- Arbeits-
vermittlung' ausschliefslicli au> licin zu en^^en Gesichtspunkte des
( lewerberechtes zu beurteilen, und etwa dej>we|,en de r Reichs
geselz^febunL,' zuzuweisen, denn hier lä^e nur eine durch die öster-
reichische Le^altcrniinologie allerdings nahegelegte Verwechslung
von „Gewerbe" und „Erwerb" vor. Nichts destoweniger finden wir
schon in der alteren österreichischen Reichsgesetzgebung hier und
da Hinwetsu Ilgen auf eine Arbeitsvermittlung, wie z. B. im Gesetze
über das Heimatsrecht vom 3. Dezember 1865 R.G.B1. 105, wo der
§ 26 besagt: „Arbeitsfähige Bewerber um Armenversorgung sind
zur Leistung geeigneter Arbeit nötigenfalls zwangsweise zu ver-
halten". Dabei darf es nicht beirren, wenn die ältere Geset^ebung
Arbeitslose mit Arbeitsscheuen in eine gar zu nahe Verbindung
bringt
Einen Einwand gegen die Berechtig^ung der legislativen Kom-
petenz des Reichsrates kann der autonomistische Standpunkt nur
insofern scheinbar begründen, dals er behauptet, die Arbeitsver>
mittlung sei überhaupt kein einheitliches Rechtsgelxet, sondern sie
sei hinsichtlich der l^slativen Kompetenz zu scheiden, je nachdem,
welche Be\ i>Ikerungsklassen sie betretTe. L^nd da wird weiter ge-
folgert, im l'"alle die Arbeit>\ ci mittlung landwirtschaftliche Arbeiter
I)etreffe, falle ihre gesetzliche Regelung als Gebiet der „Landes-
kultur" in die Kompetenz der Landtage; im F i!l die Arbeitsver-
mittlung Dienstl)oten betreffe, so gehöre sie nach Art. V P. 6 der
Reichsgemeindcordnung, der sich in den Gemeindegesetzen aller
Lander wiederholt, in den selbständigen Wirkungskreis der Ge-
meinden, und damit — was jedoch auch nicht zutrifft — in den
Wirkungskreis der I .andesia-^etZLn^liung.
Die erstere Argumcniicrun;^, dir Arbcitsx crmittlung landu n t-
schaftlicher Arbeiter sei eine Angelegenheit der Landeskultur, ist
otkiisichtiich lalsch, denn al> I^andokultur sind inmier nur „Sachen",
und sächliche Beziehungen zu verstehen, welche mit der Bebauung
Digitized by Google
Grundzüge einer allgcmciucn staatlichen Arbcilbvcrnuttlung für Ucätcrrcicli. 28/
von Grund und Boden im Zusammenhange stehen» aber durchaus
nicht die persönlichen Angelegenheiten der Landwirte, seien diese
Arbeitgeber oder Arbeitnehmer. Danach kann von einem aus»
schliefsenden Rechte der Landesgesetzgebung auf die Arbeitsver-
mittlung in der Landwirtschaft keine Rede sein.
Zu demselben Schlüsse kommen wir hinsichtlich der Dienst-
boten, welche zum gro(sen Teil, nämlich als landwirtschaftliche
ohnehin mit der eben zurückgewiesenen Argumentation zusammen-
treffen, im übrigen, namentlich als Hausdienstboten über diesen
Rahmen hinausreichen. Im Punkt 6 des Art. V der Reichs-
gemeindeordnung und den entsprechenden Paragraphen der Land*
geiin indrordnungcn wird nur von ,/ier Gesinde* und Arbeiterpolizei
und der Handhabung <\cr Dienstbotenordnung" als Gebiet des selb-
ständigen Wirkungskreises der (ieineinden gesprochen, was durchaus
nicht die Arbeitsvermitthing in sich begreift. Ueberdics entsteht
die Frage, inwiefern die Erweiterung des selbständigen Wirkur^s-
kreises der Gemeinden an sich, d. h. ohne da£s der Kompetenz-
abgrenzung zwischen Reichs- und Landesgesetzgebung mit Rück-
sicht auf spezielle ricbielc vorL,rcgriftcn werden soll, auch durch
Reichsgesetz, nicht nur durch Landesgesetz erfolgen kann.
Und damit sind wir beim zweiten der eingangs dieses Ab-
schnittes hcr\orgehobenen Punkte an;4elan;4t, nämlich bei der Rück-
sichtnahme auf die a u t o n o ni e n l i c w a 1 1 e n i m Staate, -
inbesondere auf die G e ni e i n d e n. Dieser Punkt ist von hervor-
ragender Bedeutung, weil es \on der Stellungnahme zu demselben
abhängt, ob in Oesterreicii das reiciisdeutsciie Vorbild der zahl-
reichen kommunalen ArhcUsvi riniulungsämter, welche dort aller-
dings spontan, zum mindesten ohne direkten staatliciien Zwang ent-
standen sind, nachgeahmt werden k.iiin resp. soll. Und da stehen
wir in ( )esterreich vor einer bedeut.samen, allerdings deshalb im
Wesen taktischen Schwierigkeit, weil die Rechtsgrundlagen hier,
wie auf so manchen Gebieten der österreichischen Ver&ssung nicht
feststehen, und je nach dem Vorwalten des zentralistischen oder
des autonomistischen Prinzips im Staatsleben nach der einen oder
anderen Seite hin praktisch ausgestaltet werden können, wobei
wohl feststehen dürfte, dafs eine gesetzgeberische Aktton, welche
direkt gegen gewisse Fundamentalsatze des autonomistischen Prin-
zips gerichtet zu sein scheint, wenig Aussicht auf Verwirklichung
hätte.
Die Gesetzgebung über das Gemeindewesen gehört seit der
Digitized by Google
288
Ernst Mischler.
Dezemberveiiassung des Jahres 1867 (§ 12 des StaatsgrundgeseUes
vom 21. Dezember R.G.B1. 141 über die Reichsvertretung) allerdings
im allgemeinen den Landt;iL^en zu, dennoch stehi die reichsgesetz-
liche Gewalt in mehrfacher Hinsicht im Ii in Kraft. M So ist sie
insbesondere auch berechtigt, auf den hihalt des selbständiiren
Wirkungskreises der Gemeinden bezüglich jener Angelegenheiten
einen bestimmenden Einflufs auszuüben, welche dem Gegenstände
nach ihrer Kompetenz untcrlltu^en, wie dies z. B. be/.iii^lirh der Ar-
beitsvermitthmp^ ohne Zweifel der Fall ist. Dies erfjicbt sich schon
daraus, dafs die Reichs<:jesctZ'gebun5T bezüglich solcher ihrer Befugnis
vorbelialtener (icgenstände berechtigt ist, die Kompetenznormen
festzustellen, und sonach bestimmte Angelegenheiten dem selb-
ständigen Wirkungskreise zuweisen kann. Ks dürfte wolil aiifscr
Zweifel stehen, dafs im .Sinne der österreichischen X'erfassung eine
sogen. F.rweiterung des eigenen Wirkungskreises der (lenuiiiden
durch Reiehsgeselz erf(>lL;t ii könne und zwar --rll )>t\erständlich nicht
nur, wenn den (leTueinden neue Keelite. sondern auch wenn ihnen
neue PHielitcn, also Laoten auterlegt werden, denn die \'erl.i>sung>-
gesetzgebuiig macht in dieser Hinsicht keinen L^nterschied. Aus
dem Geiste der X'iTfassuiigsgesetzgebung heraus könnte also wohl
die Herechtigung der Staatsgesetzgebung zur V erpflichtung iler de-
meinden hinsichtlich der Errichtung und Erhaltung von Arbeits-
verniittlungsanstalten nicht bestritten werden.
Praktisch, vom Standpunkte der zu erstrebenden Verwirklichung
eines Arbeitsvermittlungsgesetzes liegt aber die Sache ganz anders.
Dals die jetzige politische Konstellation in Oesterreich wenig ge-
neigt ist, eine Beeinflufeung der Gemeindeautonomie durch ein
Staatsgesetz herbeizuführen, ist bereits früher bemerkt worden. Aber
selbst wenn dieses Hindernis nicht bestände, wäre nur soviel ge-
wonnen, dafs die Arbeitsvermittlung den Gemeinden zur Pflicht
gemacht werden könnte. Dabei wäre für den praktischen Effekt
jedoch wenig gewonnen, weil diese Angelegenheit, als Gegenstand
des selbständigen Wirkungskreises, von den Gemeinden in freier,
beliebiger Weise erfofst und ausgestaltet würde. Es liegt aber gar
kein Anreiz vor, für die Arbeitsvermittlung einen Zustand zu
wünschen, wie ein solcher etwa für die .Armenpflege, viele Zweige
der Polizei etc. in der weitaus gritTscren Mehrheit der (iemeinden
besteht. Dafe damit durchaus nicht die Eignui^ und BereitwiUig-
*) Oeslenr«icbes Staat»wörterbadi, I. Bd., S. 689.
Digitized by Google
Grandzöge eiacr allgemcineii ttaatlkhcD Arbehsvermittlaiij; fttr Oesterreich. 289
keit vereinzelter Gemeinden, insbesondere grö&erer Städte, gute
Einrichtungen für die Arbeitsvermittlung zu schaffen in Abrede ge*
stellt werden soll, ist selbstverständlich.
Der Effekt einer solchen Einfuhrung wäre also im günstigsten
Falle, dafe eine Reihe von gröfseren Städten Arbeitsvermittlungs-
einriclUungen scliaffen würde, dafe also in Oesterreich im Wege
Ie<;islatürischen Zwaiifjcs etwa jener Znstand lierbeigefuhrt werden
könnte, der derzeit im Deutschen Reiche besteht
Diesen Znstand würde ich aber — so sehr er als Resultat
spontaner Entwicklung bemerkenswert und im allgemeinen als er-
freulich zu bezeichnen ist — als richtiges Ziel einer Staatsgesetz*
^'chunij; auf dem dcbiete der Arbeitsvermittlung nicht ansehen
können ; dieses Ziel müfste meines Erachtens höher steckt werden.
Eine noch so erfreuliclir Kntwicklun«; des kommunalen Arbeits-
vernutthui^fswi-scns hat immer den Man^^el der Eiiiscitii^keit, indem
viele Orte und ^anze (iebiele ohne solche I*liiuichtuf»gen bleiben,
und ferner den Nachteil der Attraktion von Arbeitskräften an den
Orten jj^uten X ermittlun^iswcseiis mit j^leich/citi^er Entblörsun<^^ der
Orte ohne solche Pümichtun^en , d. h. auf K<<siLn dieser Ict/tercn :
in der Re^el sonach die verstärkte Atttakitou \oii Arl)eitskräften
in den Städten mit vermehrter Eiit\ ölkerun^^ der ländlichen An-
siedlun<:^en. Die Belriedii^'un;^^ über eine noch so tictl liehe rein
kommunale X'ermittlungsanstalt ist nicm.iis eine ungetrübte. End-
lich ist mit den rein kommunalen Anstalten der Mangel isolierten
Voi^ehens verbunden, durch welchen sich diese des Vorteils der
Ausgleichun,^ des Arbeitsmarktes begeben.
Nun liegt aber die Sache im Deutschen Reiche so, dafs vielfach
einerseits die kommunalen Anstalten untereinander, sei es gebiets«
weise oder in ganz freiwilliger Ausdehnung in Verbindung gebracht
werden, resp. spontan in Verbindung treten, und ferner, dafs die
kommunalen Anstalten ihre Aufgabe nicht so sehr mit Hinblick
auf die Stadt erblicken, in der sie bestehen, als vielmehr im Hin-
blicke auf ein gröfseres Gebiet, für welches die Stadt gleichsam einen
Zentralpunkt bietet Diese beiden Entwicldungsmomente sind in
den kommunalen Arbeitsvermittlungseinrichtungen der deutschen
Städte bereits sehr deutlich zu bemerken und es ist eine durch den
Namen herbeigeführte Selbsttäuschung, die städtischen Vermittlungs-
anstalten im Deutschen Reiche vom kommunalen Gesichtswinkel
aus zu beurteilen: der territoriale Gesichtspunkt ist über
den lokal-kommunalen hinausgewachsen, und durch
Digiiized by Google
290
Ernst M ischler.
die isolierten, wenn auch zahlreichen städtischen Vermittlun{:^sanstalten
in den Landern des Deutschen Reiches schimmert der Gedanke
der Aus'j^u-staltun«; eines territorialen Netzes dcutUch hindurch, diC
Richtung der künftigen Entwicklung klar anzeigend.
Und so kann ich auch fiir Oesterreich das Ziel einer Gesetz-
gebung über Arbeitsvermittlung nicht in der Schaffung lokaler
kommunaler Plinrichtungen , sondern nur in der Einführung eines
territorial gegliederten möglichst lückenlos gespannten Netzes von
Arbeitsvermittlungsanstalten erblicken.
Daraus ergiebt sich, dafs die in der österreichischen Verfassung
liegende Schwierigkeit der Schaffung kommunaler Arbeitsvemiitt-
lun^^en im Wege der StaatsL,a'sctz^ebun{j keine Schwierigkeit für
die Lösung dieses sozialpolitischen IV- I Irin« < überhaupt bedeutet,
weil es gar nicht zweckmäfsig ist, den Weg kommunaler Einrich-
tungen zu betreten.
ni. Der Gedanke einer a 11 ij^e meinen staatlichen Ar»
beitsvermittlung im Systeme der Verwaltung.
Die Aufteilung der Forderung nach einer Arbeitsvermittlung von
Staatsw^en erscheint auf den ersten Anblick als ein unvermittelter
Schritt in der Ausdehnung der sozialpolitischen Gresetzgebung. Es
dürfte gar viele geben, welche die Motivierung fiir einen solchen
Schritt, eben seiner anscheinenden Unvermitteltheit wegen, nur in
einem allgemeinen gesellschaftsphilosophischen Postulate glauben
finden zu können, etwa in der Forderung nach einem „Rechte auf
Arbeit'' oder einem noch allgemeineren „Rechte auf Existenz'*.
Ebenso vmd es viele geben, fiär welche die Forderung nach Staat-
liehen Arbeitsvermittlungsanstalten nicht nur ein Postulat der Sozial-
politik sondern Staatssozialismus, Sozialismus schlechthin bedeutet.
Und doch, sehen wir unbe&ngen näher zu, ist dieses ganze
aus der Geschichte des Sozialismus hergeholte Rüstzeug — über
welches zu sprechen wir in diesem Rahmen gar keine Veranlassung
haben und welches wir überhaupt nicht nebenbei abzuthun unter-
nehmen würden, — fiir unser Problem vollständig überflüssig. Es
genügt hiefür von den gegebenen gesellschaftlichen Grundlagen
und von deren Ausgestaltung in unserem positiven Verwaltungs-
rechte auszu<:fehen, und wir •^fclangen in gänzlich ungezwungener
Fortentwicklung zu dem Verlangen nach staatlichen Einrichtungen
Digitizeü by üüügle
GrandzUge einer allgcmciucn btaallichcn Arbeit:» Vermittlung iür Oe^terreicll.
ftir die Arbeitsvermittlung. Die folgende Ausfuhr ung soll dies er-
weisen.
Als Aus<;aii^spunkt unseres gesellschaftlichen ZusainiiRnhaltes
gilt der Satz von der Krhaltung des Lebens durch die
Arbeit, und gleichzeitig liegt allen Verwaltungsgebieten die An«
schauung zu Grunde, jedermann, der im Besitze seiner Ki^fte
ist, sei in der Lage zu arbeiten, sonach sein und der Setnigcn
Leben zu erhalten. Dieser Satz tritt als etwas ganz selbstverständ-
liches, wie ein Dogma auf, und es werden schwerwi^ende Kon-
sequenzen hieraus für die verwaltungsrechtliche Regelung verschie-
dener und nahezu der wichtigsten Gebiete der Verwaltung des
persönlichen Lebens gezc^en. Ob der Zusammenhang von Lebens-
eriialtung und Arbeitsm^Itchkeit thatsächlich als etwas notwendiges
bestehe, ob also die Lebenserhaltung wirklich in die Hand des
einzelnen gelegt sei, darüber wird ein Zweifel in der Auffassung
der einschlägigen öffentlichen Einrichtungen überhaupt nicht auf-
geworfen ; hinter das Dogma zu sehen, empfindet unser Verwaltungs-
recht kein Bedürfnis. Die X'crwaltung^ebicte, welche hier inbe-
tracht kommen, -iiul namentlich jene, die mit Subsistcnzlosigkeit
und Armut, Arbeitscheu, Hcttel und Vi^abundage, Abschiebung und
Zwangsarbeit zusammenhängen, aber nu' h die < iewerbeordnung U.
a. m. Wir wollen hieraus die Grundideen des Heimatsrechtes resp.
der Armenversorgung, der Vagabundage und des gewerblichen Ar-
beitsvertrages nach imscrcr Gewerbeordnung herausgreifen.
Das österreichische Heimatsrechtgesetz von 1863 spricht nur
an einer einzigen Stelle, nämlich im § 26 von der Arbeitslosigkeit :
„ArbeitsHlliige Bewerber um ArmenTersorgung sind zur Leistung geeigneter
Arbeit nötigenfalk swangsweise »1 Terhalten.'*
Hieraus geht klar und deutlich hervor, dafs dem Gesetzgeber
der Gedanke einer unfreiwilligen Arbeitslosigkeit, welche der Arbeits-
lose gern selbst durch Ergreifung der ihm fehlenden Arbeitsgelegen-
heit beendigen würde, ganz unverstandlich blieb. Das Wort „ver-
halten" zeigt deutlich an, dafs das Gesetz nur eine gewollte Arbeits-
losigkeit, d. h. Arbeitscheu kennt. Im günstigsten Falle könnte man
aus der Einschiebung der Worte „ndtigen^ls zwangsweise" an-
nehmen, dafs der Gesetzgeber an die Möglichkeit einer gewissen
Indolenz in der Aufsuchung von Arbeitsgelegenheit dachte, welche
zwar nicht eines eigentlichen Zwanges, wohl aber bis zu einem ge
wissen Mafse eines „Anhaltens", einer Nötigung, bedürfe. Keines-
Digitized by Google
292
Ernst Miscbler,
falls aber kann man annehmen, dafs der Gedanke einer unfrei-
willigen Arbeitslosigkeit, die der Arbeitslose spontan und ^crn durch
Arbeitsleistung^ sanieren würde, die.sctn i? 26 zu (irunde lic^t. Ueber-
dies sei bemerkt, dafs vom Standj^unkte des (geltenden Heiinats-
rechts aus das rroblem der Arbeitslosigkeit erst für den Fall der
Verarmung aktuell wird.
Jedenfalls schwebt also diesem (leset/e der (leilaiike vor, dafs
jedermann sein und der Seinif^en Leben durch Arbeit zu erhalten
in der Lage sei, solange er individuell ,,a r b e i t s f ä h i g" d. h.
im Besitze der Kralle ist. Das (iesetz lirulet nun für den Fall der
gewollten Nichtausübung der \ orliandenen Arbeitskraft die Abhilfe
einfach darin, dafs der ( icinciiulc das Ri eht gegeben wird. Arlu-ii
zwangsweise zuzuweisen. kann <,inet>eils durch Arbeitslje-
schaffung durch die denieinde selbst im Rahmen der Gemeinde-
verwaltung geschehen; dals dies nur ganz ausnalunsweise möglich
ist, braucht nicht rrsi weiter betont zu wertlen, alle sog. N()t>tan(l>-
arbeiten , als Schneescliauleln , Gassenkeliren etc. reichen Iwitmi ati
(km ivand des Problems heran, st» \ ii l auch ciavon gesprochen wit\l.
Anderseils kann die .•\rbeitszuwei.>ung im Wege von Linrichlungen
(ur Arbeitsvermilllung erfolgen. Damit stehen wir aber schon vor
der öffentlichen Arbeitsvermittlung. Dafs einer solchen die (le-
meinde ohnmächtig gegenüber steht, ist heute doch ohne weiteres
klar und wird durch das Vorgehen einiger grofserer Städte durch-
aus nicht im allgemeinen, mit Rücksicht auf die Gemeinde schlecht-
hin, widerlegt. Dasselbe gilt iiir diejenigen Einrichtungen, welche
von Seite der Lander zur Erleichterung der GemeindearmenpHege
getroffen werden, wie insbesondere itir die Naturalverpfiegstationen,
welche — bei aller Anerkennung ihrer positiven Leistui^en — hin-
sichtlich der Arbeitsvermittlung doch nur vereinzelt d. h. für ver-
einzelte Orte, Bevolkerungsteile, Berufe und Fälle zu wirken im-
stande sind, u id bei denen überdies die Vermittlung von Arbeit
als das Sekundäre durch die Anforderungen der Naturalverpfl^^ng
der Wandernden als das Primäre in Fesseln eingeengt wird, welche
ihrer vollen Entfaltung hemmend entgegenstehen.
Die Folge ist, dafs die Gemeinden die Arbeitsbeschaffung für
arbeitsfähige Arbeitslose vorzunehmen aufser stände, dafs sie
sonach dieselben als Arme zu versorgen genötigt sind. Die arbeits-
fähigen .Arbeitslosen müssen von den übrigen Ciemeindeniitgliedern
thatsächlich für die Dauer der subsistenzlosen Arbeitslosigkeit er-
halten werden. Wollte man ironisch sein, könnte man sagen, es
Digitized by Google
Grundzüge einer allgemeinen staatlichen Arbeitsvermittlung (Ur Oesterretdi. 293
bestehe sonacli zwar kein Recht auf Arbeit, dafür aber ein in die
I'onn der Vcrpflichtiinir der Gemeinde zur Lebenserhaltung ge-
kleidetes Recht auf Existenz auch (tir die Arbeitsfähigen in Fällen,
in denen sie nicht arbeiten» weil keine Arbeit fiir sie vorhanden ist.
Bei dem Mangel bestehender Arbeitsvermittlungseinrichtungen be-
steht eine beträchtliche Armenüberlast för die Gemeinden, d. h. die
Steuerträger in denselben.
Wir sehen sonach hier auf dem Gebiete des Heimatsrechtes,
* dats das Dc^^a von der Erhaltungsmöglichkeit des individuell Ar-
beitsfähigen den Hintergrund der gesetzlichen Regelung bildet, dals
— weil es eben einen nicht zutreffenden Satz enthalt — der Ge-
meinde ganz unerfüllbare Aufgaben zugewiesen wurden, und dals es
dazu iiihrte, eine Hilfe för den Arbeitslosen erst eintreten zu lassen, *
sobald die Verarmung eingetreten ist. Hat die staatliche Gesetz-
gebung aber dieses Verwattungsgebiet unter der Voraussetzung des
Bestandes des Dogmas von der individuellen Arbeitsmc^lichkeit ge-
regelt, und stellt sich dieses Dogma als falsch heraus, so ist sie, um
jene Verwaltungsgebiete aufrecht zu erhalten, verpflichtet, jene Ein-
richtungen zu schaffen, wcK hc die itidividuelle Arbeitsmöglichkeit
herbeifuhren. So entwickelt sich die Forderung nach staatlichem
Einc^reifen auf dem Gebiete der Arbeitslosigkeit ganz von selbst
und konsequent aus den derzeitigen Rechtsgrundlagen des Heiroats-
rechtes. —
Wenn wir nun noch andere cinschlägi;^e Gesetze heranziehen,
so können wir uns dabei kürzer fassen. Im Vagabundengesetze
vom 24. Mai 18Ö5 R.G.B1. heilst es
1;^ 3.) ArbritsfHhi^e Pi-rsonen, welcho kein Hinkommen ond keinen erlaubtOl
Enverb liabt-n uml die Sirhcrlifit der Person oder des Kigentums pcfäbrden, könneil
von der Sichcrhcitsbehörde angewiesen werden, innerhalb einer ihnen bestimmten
Frist nachzuweisen, dafs sie sicli auf erlaubte Weise ernähren. Kommen sie diesem
Auftrage aus Arbeiischcu nicht nach, .so sind sie mit strengem Arrest von 8 Tagen
bis za 3 Monaten zu bestrafen. . . .
4.) Jede Gemeinde, in deren Gebiete eine arbeitsfähige Person sich befindet
oder betreten wird, welche weder die Mittel su ihrem Unterhalte aodi einen er-
laubten Erwerb hat, ist berechtigt, derselben eine ihren Fähigkeiten entsprechende
Arbeit gegen Etttlohnmig oder Natnrakerpfl^ong zoznweiscn. Wenn diese Pcrsoin
sich weigert, die ihr zugewiesene Arbeit zu leisten, so ist sie mit strengen Arrest
von 8 Tagen bis zu 1 Monat xu bestrafen.
Wenn der Gesetzgeber einen Arbeitslosen glaubt nötigen zu
können innerhalb einer Frist nachzuweisen, dals er sich auf erlaubte
Digitized by Google
294
Ernst Mischler,
Weise ernähre, so kann dies nur auf Grund der Anschauung ge-
schehen, dafs es von dem Betreffenden abhänge, Erwerb d. h. Arbeit
zu finden. Sonst würde ein solcher obrigkeitlicher Befehl grotesk sein,
etwa so als ob der herbeigerufene Arzt den Kranken dadurch
heilen wollte, dafs er ihm aufträgt binnen bestimmter Zelt den
Nachweis zu erbringen, dafs er gesund sei. Die Nichtbefolgung
dieser Aufforderung einen Er^^erbsnachweis zu erbringen, ist für den
Arbeitslosen unter Umständen ein strafgerichtliches Delikt, nämlich
dann, wenn die Arbeitsscheu das Motiv bildet, und sie kann auch •
bis zur Anlialtunii in einer Zwangsarbcitsaii^t ili führen. Allerdings
gilt dies nur hinsichtlich der Personen, weiche „die Sicherheit der
Person oder des Eigentums gefährden". Aber kann dies nicht fast
für jeden Arbeitslosen, namentlich bei tTröfscrcn Ansamnilungen
solcher behauptet, resp. vorgeschützt werden? \\\c soll mm der
Beweis erbracht werden, dals das Hrlangen eim"r Arbeit nicht aus
Arl)eitsscheu stattj^'efuiulcn hat* Droht da die ( lesetzgebung nicht
mit schweren Straten, ohne Kinriclitun<;en zur \'rrfii<^mn,;^f zu stellen,
welche der Arbeitslose benutzen kann, um Arbeil /u finden, oder
welche ihm i^^cstattcn, eitien lej^alr ii Beweis über die I nmöglichkeit
der derzeitigen ArbcilsaulHnduni^ zu luhren, der ihn vor Arrest und
Zwani^sarbeitsanstalt schützt? Dic^e draknuivchcn Malsnahmen des
(Ie^etzes i^CL^en Arbe!tsl*)>c koiuun eben nur be<^ritTen werden,
wenn man die Anschauung \oraussetzt, dafs tlic Erlangung von
Arbeil im Hclirljcn jedes einzelnen stehe, resp., dafs nur in Aus-
nahmsl.ilitii ein anderer Zu>land vorliege. .Also auch hier das
Dogma von der individuellen Krhaltungsmöglichkcit des Lebens
durch Arbeit.
Im § 4 macht dann das Vagabundengesetz in der Behandlung
der Arbeitslosen einen weiteren Schritt auf der im § 26 des Hei-
matsgesetzes bezeichneten falschen Ifohn. Dort hatte ofTenbar nur
die Heimatsgemeinde das Recht der Abeitszuweisung, und zwar nur
hinsichtlich der die Armenversorgung in Anspruch nehmenden Per-
sonen; im § 4 dagegen wird jeder Aufenthaltsgcmeinde das Recht
zugesprochen, dem (subsistenzlosen) Arbeitslosen eine entsprechende
Arbeit und zwar gegen Geldlohn oder blofse Naturalverpflegung
unter Arrestbedrohung anzuweisen. Hierin liegt die Losung
der Arbeitslosenfrage nach der derzeitigen österrei»
chischen staatlichen Gesetzgebung. Dahin muCste die Ge-
setzgebung konsef{ucnterweise gelangen, damit ist sie aber auch am
Ende der Sackgasse, in welcher sie vorwärts schreitet und die ihr
Digiiized by Google
Grundzüge einer allgemeinen :»Uatliclicn ArbcUsvcrraittluug lür Oesterreich.
nur gestattete, einen kleinen Weg zurückzulegen. Auch diese Mafs«
reget kann man nur verständlich finden, wenn die Unmöglichkeit
der Arbeitsauffindung als eine Ausnahme angesehen wird, denn
sonst hätte es doch gar keinen Sinn, einen Zwang zur Annahme
einer Arbeit, und ferner die Möglichkeit einer Naturalentlohnung zu
statuieren. Denn wohlgemerkt, dieser § 4 spricht vom (subsistenz^
losen) Arbeitslosen überhaupt und nicht etwa von Arbeitsscheuen
oder Landstreichern. Der Ausw^, den der Geseta^ber hinsichtlich
der Losung der Arbeitslosenfirage hier trifft, ist kläglich. Er sta-
tuiert ein vollständig ungeeignetes Organ, die Gemeinde, i^iebt
dieser nur ein Recht aber keine Pflicht, sorgt hiemit nicht für den
Arbeitslosen sondern für die übrigen Bevölkerungsteile, und stellt
jccU n subsistenzlosen \vl)eit.sl()>en vor die Nötigung, eine Arbeit in
der Gemeinde eventuell ohne Geldlohn annehmen zu müssen, ohne
selbst eine passende Arbeit aufsuchen zu können. Die Fra^e der
Arbeitslosen wird nicht durch Einrichtunfren zur Erleichterung
dos Auffindens von Arbeit , sondern durch Zwanjx zur Annahme
einer ^uIcIk-u '^a'li'>st. durch Statuieruncf eines Zwanges, ehe der
Weg der Ileiliiltc /v.r Arbeitsauffinduiig beschritten worden ist. Die
staatliche (iesel/grl)ung löst die I'rage der ArbcitsUisen nicht durch
Einrichtungen zur leichteren Arbeitsbc>ciiathiiig, soiulern durch die
Statuierung eines Rechtes für die AufciithaitsgemeiMtlcri zur zwangs-
weisen Arbeitszuweisung. Der Zwang zur Arbeitszuweisung darf
aber nur der gewollten Fernhaltung von Arbeit entsprechen, ilcr
Arbeitslosigkeit schlechthin entspricht dagegen nur die Arbeitsver-
mittlung. —
Denselben Ideengang wie im MeimatsreclUs- und im \'agai)unden-
gesetze finden wir auch im Schubgesetze vom 27. Juni 1871
R.G.B1. 88.
(§ 1.) „Die Abiichicbung au!> einem bestimmten Orte oder Gebiete mit der
Verweisung in die Znsländigkcitsgemeiade . . . (darf «ms polizeilichen Rücksichten
erfolgen) . . .
b) gegen aniweia> und bestimmongslofie Individuen, welche kein Einkommen
md keinen erlaubten Erwerb nachweisen können.**
Wenn der Arbeitslose seine Legitimationspapiere nicht zur
Hand hat, so kann er sonach in der Heimatsgemeinde abgeschoben
werden. Da man vernünftigerweise nicht annehmen kann, da(s die
Abschiebung, welche immer eine sehr harte Strafe darstellt, wegen
des Nichtbesitzes der Legitimationspapiere verhangt werde, so
kann der Grundgedanke des Gesetzgebers nur der gewesen sein, die
Digitizeü by Google
2y6
K r n » t M i s c 1) 1 c r ,
Abschiebung wegen des Nichtvorhandenseins von Einkommen oder
erlaubtem Erwerb d. h. wegen der Arbeitslosigkeit eintreten zu
lassen; dies aber kann nur den Gedanken zulassen, dafs die Arbeits-
losigkeit als etwas verschuldetes, d. h. im Willen gelegen angesehen
werde — sonach auch hier wieder das Dogmz von der individuellen
Erhaltungsmöglichkeit durch Arbeit und von der Verwechslung von
Arbeitslosigkeit als eines an sich unverschuldeten Zustandes mit
Arbeitsscheu als einer Schuld, oder wenigstens eines strafwürdigen
Zustandes.
Denselben (icclanken^^1^fJ^ von der unbedinj:jten individuellen
Erhaltungsmo^lichkeit durch Arbeit finden wir aber nicht nur im
Komplexe der PoHzcigeset/e, wir bcgejjncn ihm überhaupt überall
<1 >rt wo vom Arbeitsverhältnis^.- mittelbar oder unmittelbar die
Kr ie ist, so z. B. auch in der iTCWcrbeordnuno^ des Jahres 1859.
In dieser findet sich die Rcstimmun^ (i? jj), dafs, im Falle nichts
anderes vereinbart ist, die I4tägiijc Kündij^ninj^sfrist zu «selten hal)e ;
daraus srhlielst nun die \'erordnunt; des Handelsministeriums \oin
1 3. September 18S9 (Z. 30074I, dafs die kuiulii^unjrsfrist in der Ar-
beitsordrnuv^ j^v'inzlirh au■^L;e>clllosseIl werden könne, ein Rechts-
slandjuinkt und eine l'raxis, die Mm den neu ein^efiihrten Gewerbc-
<::;;erichtcn allcrdin;.^''- cnerj^iscli i)csli ittcii werden. Wenn das llandels-
ministerium zu einer solchen prin/ipiellen Hntscheidunp^, die iiebenl)ei
ffcsagt von enormer Tra-^weite ist, ^elanv;t, so kann es dies nur von
der Erwägunr; fjeleitet L;el!ian haben, dals die Neubegründung eines
Arbeitsverhältnisses dem Arbeiti r jederzeit sofort möglich sei, denn
sonst würde ja die brutale Zulassung bewuisler Aulscrexislenz-
setzung statuiert werden, welche wir doch niemals als berechtigte
Absicht einer Verwaltungsmafsnahme ansehen können. Da aber
die Neubegründung von Arbeitsverhältnissen dem Arbeiter eboi
nicht sofort möglich ist, er sonach durch den Ausschlufs jeder
Kündigungsfrist vor die Existenzbedrohung gesetzt wird, ist die
genannte Entscheidung sozialwirtschaftlich falsch; da sie überdies
von den Gerichten auch in ihren rein juristischen Elementen ange-
fochten wird, so bleibt von ihr nichts übrig, als dafs sie einen
weiteren Beweis bildet für das Dogma von der unbedingten indi-
viduellen Existenzmöglichkeit durch Arbeit, als eine der Grundlagen
unserer Verwaltung.
Doch nun genug der Exemplifizierungen. Wenn sie auch keinen
erschöpfenden Beweis erbringen sollten, so dürften sie wohl erläutert
und dem Verstandnisse näher gebracht haben, dafs In der That in
Digitizeü by üüOgle
ürundzügc einer allgemeinen staatlicbeo Arbeitsvcrnnlllung lür Ücatcrrekh. 297
unserer Verwaltung die Grundanschauun^ von der individuelien un-
bedingten Arbeitsmöglichkeit Arbeitsfähi<;er bestehe, daCs die Ver-
waltung deshalb ein Problem der Arbeitslosigkeit als Grundlage
eines normalen Verwaltungsgcbietes nicht kennt, dafs für sie die
Arbeitslosigkeit vorwiegend ein exceptioneller und selbstgewollter
Zustand ist, und dals an die thatsächliche Arbeitslosigkeit Kon-
sequenzen schwerwiegendster Natur geknüpft werden, ohne dals auch
nur im geringsten die Handhabe zu einer Beseitigung der Arbeits-
losigkeit auf dem W^e positiv förderlicher Verwaltungsmalsregeln
geboten würde. Wir finden demgemäls weder in unserer Verfassung,
etwa in dem Staatsgnindgesetze über die allgemeinen Rechte der
Staatsbüi^er die Statuierung eines Rechtes auf Arbeit,*) noch in
unseren V'crwnltungsgesetzen die Statuierung einer Verpflichtung*)
des Staates oder anderer ötTentlichcr Körper zur ArbeitsbcsrhafTung."*)
Nun ist es aber doch eine notorische Thatsachc, dafs die in-
dividuelle Arbeitsmöglichkeit Arl)eitsfahiger derzeit nicht mehr
schlechthin besteht, wobei es ganz offen bleiben soll, ob sie jemals
im allgemeinen bestanden habe; die Arbeitsnv >L^1irhkcit resp. Arbeits-
losigkeit ist ein soziales Problem. Durch die Mobilisierung der
Landarbeiter, den Zuzug zu den Städten, die rechtliche Freizügig-
*) Dies war l. B. in der franxDsischcn Vcrfassun^j vura 24. Juni 1793, aller-
dings in der anklaren Form einer als „Meui>cbenrcchi" hingestellten Pflicht der Ge-
selkcbaft der FalL
*) Dagegen das Prenfsiscbe Lsndrecht T: II, Tlt 19, § 1, a: Dem Staate
kommt es su, (ttr die Verpflegung derjenigen Bttrger an sorgen, die sich
ihren Unterhalt nicht selbst verKhaflfcn können. — Denjenigen, denen es
nur an . . . Gelepcnlieit, ihren . . . L'nterhah zu verdienen, mangelt, sollen Arbeiten,
die ihren Kriilten un>! I*"iihif;koiten angemessen sind, anp' wi^'sen werden. Jedoch
bemerkt A. Meng er I>i^ K.cbt auf den vollen Arbeitsertrag, S. 23) mit Recht
biezu, dafs diese dem Wurilautr nach sehr weitgehenden Bestmmiungen in Wirklich-
keit nnr die Armemmterstützung im Auge haben.
*) Ohne Anerkennung oder Setzung einer solchen Vcrpfltcktnng sind allerdings
von Staatswegen anch in Oesterreich sn Zeiten Einrichtungen Ittr Arbeitsbeschaffung
vorObergebend geschalten worden, jedodi stets im Zusammenhange mit der Armen»
pflege oder Vagabundenpolizei. So insbesondere die Arbeits- und Werkhäuser, welche
sirh bei ihrem «rsten Auftreten unter I,>-opold I., 1671. norh '/urhtli:iuser dar-
str-Ucn, jedorh in lUr Form des unter K;irl VI. im Jahre 172*» omllneteu Arbeits-
hauses entschieden auch die ArboitsbcM hutlung be/weckcn, wenngleich zu dem
Zwecke, um die bettlerpolizeilichcn Maf^regeln in Anbetracht des Bestandes eines
solchen Art>eitshanses energischer handhaben «1 können (Oesterr. Staatswörterbnch
n. Bd., S. 1633 f.).
Archiv für sei. GcMUgeVimg u. SuiUtik. XV. 20
Digitized by Google
29»
Ernst Mischlcr,
keit und Wandergewohnheit der erstandenen Arbeitermassen, die
plötzlichen Erschütterungen zufolge IVoduktions- und Absatzkrisen,
durch die Unmöglichkeit, den Arbeitsmarkt zu überblicken, durch
die zunehmende Desoi^nisation im Handwerke und die von An-
beginn an unterbliebene Organisierung des Marktes der Hausdienst-
boten hat die Arbeitslosigkeit so grossen Umfang angenommen,
dafs wir von der unl)C(lingten individuellen Erhaltun^smöglichkeit
des Lebens durch Arbeil als rei^^elniäfsir^cm (icsellschaftszustand nicht
sprechen können. W enn aber die staatliclie (ieset/^ebunp; von dem
Grundprinzipc beherrscht ist, die Arbeitslosigkeit sei ein, vielleicht
sogar verschuldeter Ausnahmezustand, und an diese schwer-
wiegende Konsequenzen für Individuum und Gesellschaft knüpft,
so entsteht für die Gesetz^^obung — sobald die Unrichtigkeit der
durchgreifenden Grundanschauung erkannt ist — die Verpflichtung,
einen derarli;^^en Zustand der \'erwaltun;.';scinrichtunc;^cn herbeizu-
führen, durch wclclien die individuelle liallungsmöglichkeit des
Lebens iniuel> Arbeil insoweit möglich als normaler Zustand herbei-
geführt werde; dies kann sie nur dadurch thun, dals sie den sozialen
Kern in dem Prolileme der Arbeitslosigkeit prinzipiell anerkennt
und ihm gerecht wird.
Diese horderung an den Staat nach Ilerbcilührung der Mög-
lichkeit der Arbeitsbethiitigung kann selbstversländlich vernünftiger-
weise nur mit Kucksicht aut die gegenwärtige gesellschaftliche und
staatliche ( iesamtorganisation erhoben werden. Mit Rücksicht auf
die derzeitige ( lesellschaflsordnung , in welcher der Indiv idual-
betrieb gegenüber den öffentlichen Ünternehmungen doch die
ganz allgemeine Regel bildet, kann die Aufgabe der Verwaltung
nicht darin gelegen sein, prinzipiell Arbeitsgelegenheiten zu schaffen
und zwar etwa nach Mafsgabe der auf dem Arbeitsmarkte vor-
handenen Arbeitslosen. Dies ist sogar — wenn es die Verwaltung-
da oder dort dennoch unternimmt, wie z. B. hinsichtlich der Arbeits-
beschaffung durch die Gemeinden, von der oben die Rede war —
grundfalsch , weil die Verwaltung ohne Rücksicht auf den Arbeits-
markt vorgeht und in das Problem der Arbeitslosigkeit durch
Schaffung neuer Arbeitsgelegenheiten eingreift, ohne zu beachten,
ob thatsächlich solche über den Bedarf hinausgehende Arbeitskräfte
vorhanden sind, oder ob diese thatsächlich vorhandenem, aber un-
bekanntem Bedarfe vielleicht entzogen werden. Deshalb scheint es
mir wohl unumstöislich, dafe mit Rücksicht auf unsere Gesellschafts-
ordnung von einem wirklichen Rechte auf Arbeit, welches unter
Digitized by üüOgle
Gmndittge einer allgemeinen staatlichen Arbeitsvcnnittlong für Oesierreicfa. 299
allen Umständen» also eventuell durch Schaffunc;^ neuer Arbeits-
gelegenheiten realisiert werden sollte , nicht die Rede sein kann.
Wird in Verfassungen oder Wrwaltungsgesetzen dennocli davon ge-
sprochen, so ist dies nur Phra<^c.
Wenn aber der Staat in un-~crer ( iesellschaftsform unniüj^lich
ilie iiulividucllc Ariteitstahii^keit durch Scharfun^^ \ on Arbeitsgelegen-
heiten ;.;rnautieren kann, was vermag er für die^eiljc zu thun? Fr
kann — und dies ist v<>ni positiven Boden der (legenwart erreich-
bar — die A r b e i t s ni ö g 1 i c h k e i t mit Rück.siclit auf die
b e > t e h e n < \ e n A r b e i t > e 1 c g e n h e i t e n g e w ä h r 1 e i s t e n , d. h.
dafür V orsorge trefTen , <lal> alle .\a(^litra>4e nach Arl)eil mit allem
Angebote derselben in >cinem ganzen Machlgebielc /n>ammentrcfife,
so dafs in diesem Rahmen wetler eine Arbeitskraft unvcrwertet noch
ein Arbeitsangebot offen bleibe: dies ist aber eben das Wesen der
Arbeitsvermittlung. Thut dies der Staat, dann, aber auch
nur dann, handelt die staatliche Gesetzgebung vom fealpolitischen
Standpunkte des Erreichbaren, aber auch des Notwendigen, kon-
sequent, wenn sie die Arbeitsmöglichkeit Arbeitsfähiger als aprio-
ristische Voraussetzung der übrigen Verwaltungseinrichtungen an-
nimmt.
Von diesem Gesichtspunkte aus werden wir auch mit be-
sonderer Rücksicht auf die im Reichsrate und in den Landtagen
gespaltene gesetzgebende Gewalt und die Doppelverwaltung des
Staates unmittelbar und der Selbstvcrwaltungskörper es verstehen,
warum es nicht genügen kann, die Arbeitsvermittlung den letzteren
zu überlassen, sondern warum sie der Staat unmittelbar in seinen
Verwaltungsbereich einbeziehen mufs. Da das Dogma von der
individuellen Arbeitsflihigkeit wichtigen Kom|)lexcn von Staats-
ge-^etzen zu Grunde lieget, so mu(s auch die Ausgestaltung der
Arbeitsvermittlung unmittelbar vom Staate selbst in die Hand ge-
nommen werden, weil er sonst die für den Fall der Arbeitslosigkeit
entstehenden Konsequenzen stets nur mit Rücksicht auf den in
den einzelnen Fändern verschiedenen Zustand der Cic>ctzgebung
und Selbstverwaltung ziehen dürfte, wodurch die Fundamente seiner
Verwaltung ins Wanken kommen mülsten.
Die vorstehenden Ausführungen dürften sonach den Beweis er-
bracht haben, dafs die Staatsgeset/gel>ung v om H< Kien iler gelli lulen
V'erwaltnng und den in ihr wirkenden Ideen seit geraumer Zeit \^^r
der Notwendigkeil sieht, eine l-.rweiterung der St >/.ial] h lüiik durch
Inangrifi'nahme der Linrichtungcn für die Behebung der Arbcits-
ao*
Digitized by Google
30O
Ernst Mi^cblcr,
losii^kcit im Kahinrii hc^tchcndcn Ai bcil>L;clci;culu'iten, also
durch ScliatfuML; .-Uiallifhci Arbcilsw-rmitlluiii^scimichtunj^^eii xoizu-
nchmon, wobei sie niclUs weiter ihut als Malsrej^aln nachzuholen,
die zur Handhabung bereits längst bestehender \'crwalluiij4>gc>et/e
unbedingt erforderlich sind. Die Schafiung staatlicher Arbeitsver-
mittlungseinrichtungcn ist sonach nicht ein durch sozialistische
Theorieen unvermittelt hereinfallendes sozialpolitisches Meteor, sondern
eine durch Fortentwicklung der in unserer Verwaltung . grundsatzlich
wirkenden Ideen erfolgende Ausfüllung einer in unserer Gesetz-
gebung klaffenden empfindlich fühlbaren Lücke; sonach wohl die
Einfügung eines neuen Bausteines, jedoch an einer Stelle welche
ausgefüllt werden mufs, soll das Gebäude nicht wanken.
IV. Die ürundzüge des Gesetzentwurfes.
I. Die Arbeitsvermittlung soll nach dem Grundgedanken des
Gesetzentwurfes einen Zweig der öffentlichen Verwaltung
und zwar der Staatsverwaltung bilden. Die staatliche Sozial*
politik soll sonach um ein neues (lebiet, die Arbeitsvermitt-
lung, cnveitert werden. Damit ist im allgemeinen nur gesagt,
dafs der Staat eine positive Thätigkeit auf diesem l'clde entfalten,
jedoch noch nicht ausgesprochen, in welches Verhältnis nunmehr
die niclilstaatliche Arbeitsvermittlung geraten soll. Hierüber
gilt der Satz, dass der Staat die Arbeitsvermittlung in erster
Linie zu besorgen habe, und zwar in dem Sinne, dafs überall
eine s t a a 1 1 i cli c A r b e i t s \- e r m i 1 1 1 u n g \- o r h a n d e n sei
oder doch eine s 1 c h e A r b c i t s \ e r m i 1 1 1 ii ii g , die z w a r
nicht Staatsanstalt ist, aber jenen Bedingungen ent-
spricht, welche das (lesetz für die staatliche Arbeitsvcrmitthmg
fordert; es wäre sonarh ein lückenloses Netz von Arl)cits-
vermittluiiL;sanstalten zu orgaiii>iei en. Die Lückenlosigkeit des
Netzes ist eine unabweisbare Bedingung, weil es nicht angeht,
Teile des Gcl)ictes einfach au^ dieser staatlii'hen s( )/ialp( »litischen
Mafsregcl auszuschlielseii, cJic^clbi ii >')na< h in einem /urückgelViieiu-nen
\erwaltungsrechtlich<'n Zustande zu belassen. Aber selbst wenn
man dies mit KuckNicht auf die uuLrleiche Entwicklun-j der ver-
»chicdenen Länder resp. Gebiete im Staate rechtfertigen könnte,
so ist die Lückenlosigkeit des Netzes notwendig als Vorbedingung
für die gegenseitige Ausgleichung auf dem Arbeitsmarkte, welche
nur bei einem Ueberblicke und einer DispositionsmÖglicbkeit über
Digiiized by Google
Grundzü};? einer allgemeinen staatlichen Arbeitsvermittlung fUr CK'stcrrcich.
die gesamten Arbcitsj^^ele^^cnheiten und Arbeitskräfte im ganzen
Wirtschaftsgebiete möglich ist.
Diese staatlichen Anstalten schliefsen die von
anderen öffentlichen Verbänden oder aus privater Initiative
gegründeten oder künftig zu errichtenden Arbeitsvermittlungs-Ein*
richtungen in keiner Weise aus, dieselben können vielmehr
ganz in derselben freien Weise wie bisher bestehen, wobei nur hin«
sichtlich der gewerblichen Genossenschaften und der sog. kon-
zessionierten Dienstvermittlungsgeschäfte eine oben bereits ange-
deutete und später genauer mitzuteilende Regelung vorgenommen
werden soll.
Da die Arbcitsvcrmlttlungsanstaltcn als Staatsanstalten gedacht
sind, ist es selbslvcrständlirh, dafs die Beamten derselben, welchen
die Abwicklung der laufenden Gcscliäftc oblicfjt, Staatsbeamte
resp. staatliche Funktionäre sein müssen. Ob dies nun wirklich
systeraierte Beamte oder kontraktlich rcsp. nebenamtlich fungierende
Personen sein sollen, ist ziemlich iichcnsiichlich iinrl in der Haupt-
sache von der zu leistenden Oualität und Quantität der Arbeit ab-
hangijjj. Im Falle s\stcmicrtc Staatsbeamte oder ihnen «^leichzu-
haltcnde l'unktionäre in Betrnclit kommen sollen, dürfte j^emä.ss
den österreichischen ( iehalts\ erhältnissen eine ReM)ldun}^ von vuud
20CXD Kronen jährlich ins Aui^e zu fassen sein. Diese BeanUcn
hätten im alii^'cineinen eine einfache l.eistuiii^. die nur persöiiHches
(je-chick, Sachkenntnis, Ehrlichkeit und L iiermüdlichkfit voraussetzt,
/u iMÜstieren, wobei keine wciterrcichcnden Vorbedingungen zu
.stellen wären.
X'ermuliich wird, wie stets, sobald von irgend einer staatlichen
o<ler ötlenllichen Tluitigkeit die Rede ist, auch hier sofort die Befürch-
tung aus}^'esj)rochen werden, dafs die>c geplanten Arbeitsvermiltlungs-
anstallcn als Staaisansialten in den Fehler bureaukratischer Ge-
schäftsführung verfallen werden. Diese Ciefahr besteht jedoch durch-
aus nu:ht mit Notwendigkeit. Sic besteht für den Staat nicht mehr
und nicht weniger als etwa für die Einrichtungen landschaftlicher
Arbeitsvermittlung, oder itir die Vermittlungsanstalten grofser
Kommunen oder Vereine. Die Technik der öffentlichen Arbeits*
Vermittlung ist durch das Vorbild der deutschen kommunalen An-
stalten so eingehend und treflflich durchgebildet und vorgezeichnet,
dass den geplanten österreichischen sowie überhaupt allen solchen
Anstalten gar nichts übrig bleibt, als die inneren Einrichtungen der
ersteren zu übernehmen und nach ihrem Vorbilde zu arbeiten.
Digitized by Google
302
Ernst Mischler,
2. Die Gemeinden sind verpflichtet, bei der Durch*
führiinL^ clcs (icsctzes mitzuwirken, wodurch für sie ein neues
(icbict des ü b c rt r a ^ c n c n \V i r k u n gs k r e i sc s entsteht, nämUch
die Milwirkuni; an der '1 hätif^keit der staatHchen Arl)cits\ ennittlun'^s-
aiistnhen. Die österreiciiische X'erfassuiig, ^j)eziell alle licmeinde-
ordiiunt^en, sprerhen näinHch \oii dein ciL^ciicii und dem iilier-
trasj;encn \\'irkiinL;>kreise der ( icnieiiiden, welch' letzterer eine Mit-
wirkunci der ( iemeiiideii an Staats^eschäften betrifft und durch die
besonderen staatli<'hen \'erwaltuii;jss7e->et/.e normiert wird. W ährend
die österreichische \'erla»uiig, wie oben luinerkt wuiile. (He Mc>g-
lichkeit erschwert, die Rrrichtung eigener ArbeitsN ennittiungs-
austalten in Cieineiiulen duich ein Staats-^eset/ anzuordnen, ein l'm-
stand, der aber, wie gleichfalls auseinandergesetzt wurde, für den
zu erreichenden Zweck nebensächlich ist, bietet sie dagegen durch
die Benutzung des „übertragenen Wirkungskreises" die Möglich-
keit, sich der Mitwirkung der Gemeinden an den Geschäften der
staatlichen Arbeitsvermittlungsanstalten zu versichern, ebenso wie
das z.B. bei der Vornahme der Volkszählungen, bei der Durchführung
der Wahlen, bei diversen Militärangelegenheiten etc. der Fall ist.
Diese Mitwirkung der Gemeinden hätte — al^esehen von
einer Kostenbeitragspflicht, von welcher im nächsten Punkte ge-
sprochen werden soll '— hauptsachlich in einer Mitwirkung an
den Vermittlungsgeschäften zu bestehen: die Anmeldung
offener Stellen und von Arbeitskräften entgegenzunehmen, der
> staatlichen Vermittlungsstelle mitzuteilen und umgekehrt fiir die Be-
kanntwerdung der Nachrichten der staatlichen Vermittlungsstelle in
der Gemeinde durch Anschlag etc. zu sorgen.
Zum W'rständnisse dieses Verhältnisses mufe vorausgeschickt
werden, dafs die staatlichen Arbeitsvermittlungsanstalten ihre Thätig-
keit über gröfsere Sprengel erstrecken sollen, so da(s sie lokale
Anmeldestellen benötigen, um die Thätigkeit nicht nur am Sitze der
Anstalt, sondern glcichmäfsig im ganzen Sprengel entfalten zu können.
Eine solche Mitwirkung der (iemeinden wird daher am Sitze der
Anstalten weit weniger erforderlich sein, als in den übrigen, nament-
lich den entfernter gelegenen Gemeinden. Ks kann sonach jeder
Arbeitgeber und Arbeitnehmer seine Anmeldung entweder direkt
bei der \^ermittlung<stelle oder bei der Autentlialtsgemeinde \"or-
nehmen; im let/teien halle üliermiltclt das tienjeindean>t eventuell
täglich (he Aiuiieldung j)er l'ost, Telegraph oder leleplion der
Vermittlung-^stellc; die \'ermittlungsslclie giebt dagegen den üe-
Digitized by Google
GnmdjtUge einer allgemeinen si.uiüichen ArbeiuvcrmitUung liir Oestcrreicb. ^03
meindeämtern auf demselben Wege die bei ihm unbesetzt bleibenden
Stellen und unverwendet bleibenden Kräfte täglich bekannt. Eine
Vielschreiberei wird dadurch nicht hervorgerufen werden, denn in-
soweit überhaupt der schriftliche Weg betreten wird, müssen
mechanische Vervielfältigungen benützt werden.
Ob die Gemeinden in Verfolgung dieser Mithilfe selbst Arbeit
vermitteln werden, ist dann eine Sache der praktischen Entwick-
lung. Es ist sehr leicht möglich, da(s durch das Zusammentreffen
von Angebot und Nachfrage bei der Gemeinde, mancher Arbeit-
geber seinen Arbeitnehmer und umgekehrt schon im Orte 6nden
kann, ohne dafs che Arbeitsvermittlungsstelle deshalb in Thätigkeit
gesetzt werden müfste,
' In welcher W eise eine Gemeinde sich zur staatHchen Arbeits»
vermitthmg zu verhalten habe, wenn sie selbst eine Vermittlungs-
anstalt besitzt, soll später in einem anderen Zusammenhange zur
Sprache kommen fbei Punkt 7).
3. Die staatlichen Arbeitsverniittluii^^s Kinrichtunj^en zerfallen in
0 r a II c dreierlei Art: Die territorialen A r b e i t s v c r -
m i 1 1 1 u n i,^sa n s t a 1 1 e n , die M i 1 1 e 1 s l e 1 U- 11 und die Central -
stelle. Diese Organe stehen zu einander hinsichtlich de> ei;4cnt-
iichi-n e i n z e Inen Vertnittlungs;_a-srhiit'tes n i c h t im Verhält ni>sc \ on
Unter- und l eberordnung, es besteht wonach in tlieser liinsirlit kein
1 n s t a n z e n z u g; die dreierlei ( )rgane haben vielmehr Ci e s c h ä ft e
verschiedener .Art zu besorL^en. Daneben wird allerdings ein
L eber- und L nterordnungsvei halinis in gewissem Siinie, nämlich
hinsichtlich der (iesamtstellung der Organe nicht bezüglich der
einzelnen l alle des \ ei iniUlungsgeschäftes — bestehen müssen.
a) Die territorialen staatlichen Arbeitsvermitt-
lung^anstalten sind diejenigen Einrichtungen, welchen das
eigentliche Vermittlu ngsgcschaft obliegt, d.h. die£ntge<?en-
nähme der Anmeldung von Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage,
sowie jene Thätigkeit, welche darauf abzielt, mit Rücksicht auf die
Kenntnis der einzelnen Begehren, den offenen Stellen {fassende
Arbeiter solange zuzuführen, bis sie besetzt sind, und den Arbeit-
suchenden solange offene Stellen nachzuweisen, bis sie passende
Arbeit gefunden haben. Die Thätigkeit hat bis zum Momente der
thatsächlich durchgeführten Vermittlung — falls diese erzielbar ist —
zu reichen und sich nicht etwa mit dem sog. Arbeitsnachweis zu
begnügen, d. h. mit der blolsen Bekanntgabe offener Stellen oder
verfügbarer Arbeitskräfte. Dieses Vermittlungsgeschäft wird
Dlgitized by Google
Ernitt Mischler,
vollkommen s c 1 1) s t ä n d i g von tkr territorialen \'crm itt Inn gs-
anstalt durchgeführt, nlmr dais hierbei eine IiiL^crenz der anderen
Organe, also der CentralstcUe oder Mittelstelle bestände.
Die Anstalten wären territorial anzuordnen. Ueber die
(irofse ihrer Sprengel läfst sich nirlit c^ut ein vollständig einfacher
Einleilungsgrund angeben. Anfänglich vertrat ich bei den Ver-
harulhingcn den Standpunkt der tliuiilichsten lebereinstimtnung
mit den Spreni^^ln der Jie/.irkshaiiptrnann«"haften, Abän'Jcrnnijen
im einzchien selbst ^erstrnKllirh vorausgesetzt; die Bezirkshauptmann-
schatts>j)rengel stellen ininier gewisse natürliche Bevölkerungs-
zentren dar, in denen überdies die ( iemeinde\ i 'rsieher öfter zu-
saiiuiienkonimen. Da 342 solcher Hc/irkc bestehen, würde ein
Si>r( iiL:el im Durchschnitte rund qoo km- nnd 70000 Mens<du'n
fassen. ( lelegentlich der AusschulsverlKun llunL^cn wurde jedoch be-
tont, dafs bei dieser Kinteilung für den Anfang eine zu grofse
Anzahl \ on Sprcngeln erforderlich wäre, wodurcli tiie Kosten un\ er-
hällnismälsig hocii anwachsen; .iuc\] dürfte so mancher Sprengel mit
geringer Intensität des Arbeitsmarktc.s zu klein st in; deshall) wurde
vorgeschlagen, die Kreisgcrichtssprcngcl zur (Irundlage zu nehmen.
Deren giebt es 71 und es würde sonach ein Sprengel durchschnitt-
lich 4—4 \ , Tausend km* und Million^ Einwohner um&ssen.
Als dieser Punkt bei der Plenarberatung des Arbeitsbeirates wir Ver-
handlung kam, wurde wieder auf den von mir im Ausschusse ur-
sprünglich vertretenen Standpunkt zurückgegriffen und auf Antrag
eines Mitgliedes aus der Unternehmerkurie beschlossen, diese staat-
lichen Arbeitsvermittlungsanstalten seien thunlichst für den Um&ng
eines jeden Bezirkshauptmannschaftssprengels zu errichten. Dabei
ist angenommen, dafs die Anstalt in der Regel in dem Hauptorte
des Sprengek ihren Sitz habe. Bei einer atlfalligen praktischen
Ausgestaltung dieser Einrichtung dürften also wahrscheinlich die
Sprengel der Bezirkshauptmannschaften im allgemeinen als Unter-
grenze angenommen werden, jedoch insbesondere im Anfange viel-
fach eine Zusammenlegung bis zur Grofse der Kreisgerichtssprengel
stattfinden, wobei überdies nach Bedarf kleinere resp, in Ausnahme-
fallen auch gröfsere Gebiete konstruiert werden konnten. Dabei
ist immer xnransgesetzt, dafs das Netz lückenlos, sonach kein Teil
des Staati^ebietes aus der Eingliederung in einen Sprengel aus-
genommen sein soll.
Bei jeder staatlichen Arbeitsvermittlungsanstalt besteht neben
dem eigentlichen Vermittlungsamte mit staatlich bestellten und be-
Digitized by Google
GmndAügc ciocr allgcnicincu ütaailichcii ArbciUvormiltluug lür Oesterreich.
soldeten Beamten ein ehrenamtlich funktionierender Ver-
waltung^sausschufSi dessen Aufgabe prinzipiell darin besteht,
die Interessen der am Abschlüsse des Arbeitsverhältnisses unmittelbar
interessierten Bevölkerungsklassen im Rahmen der staatlichen Ein*
richtung zur Geltung zu bringen. Da die Einrichtung staatlich ist
und die Kosten vom Staate getragen werden, kann diese Einfluls-
nähme der Verwaltungskommission keine schlechthin bestimmende
sein; ein etwa aus eigenem Rechte sich auf das Vermittlungsamt
beziehendes Ueberordnungsverhältnis ist von diesem Standpunkte
aus uiidt-nkbar, die \''er\vaItun.iTsausschüsse können vielmehr nur
jenes Mafs von Befugnissen haben, welches ihnen die staatliche
(ic-otzgebung; mit Rücksicht auf die l)essere Hrzielung des Kftektes,
d. h. die m öglichst vollkommene lirfüUung der den Arbeitsmarkt
betrctienden Anforderungen überläist
Die Verwaltungsausschüssc «vollen nach dem Cirundsatze der
Parität zusammengesetzt sein, so dafs Arbeitgel nr und
Arbeitnehmer je die Hälfte der Mitglieder ausmachen, wubci der
\'orsitzt'nde weder der einen noch der anderen Klasse angehört
und von der Regierung nach Anhörung der Wünsche der Interes-
senten ernaiuit wird. Die Mitglieder des W-rwaltungsausschusses
wcnh n gewählt, und zwar jede Paritätsgruppe von Angehörigen
derselben druppe.
Die Wahlordnung in die Verwaltungsausschüssc würde zum
Teil im deset/e, zum Teil in der ( leschäftsordnung jedes Ver-
waltungsausschusses normiert werden, und durch diese letzteren He-
stinimungen könnte die X'^ielgestaltigkeit der wirt>ehaftliehen Berufs-
zusammenset/ung in den ein/einen Sprengein Berücksichtigung
finden. In welcher Weise überhaupt Arbeitgel )er und Arbeitnehmer
durch ein- und denselben Wahlvorgang in einen Ausschufs entsendet
werden können, zeigen heute bereits die Wahlen in die Ausschüsse
der Bezirkskrankenkassen nach dem Gesetze vom 3a März 1888,
und es könnte daran gedacht werden, die Krankenkasseneinrichtung
bei der Vornahme der Wahlen entweder überhaupt oder wenigstens
hinsichtlich der durch die Versicherung zusammengefafsten Bevölke-
rungsgrui>[5e zum Ausgangspunkte ZU nehmen. — Jedenfalls mü&te
sowohl in der Gruppe der Arbeitgeber als auch der Arbeitnehmer
auf die wesentlichste Struktur derselben, und zwar wieder im all-
gemeinen als auch mit Hinblick auf die besonderen Verhältnisse
des Sprengeis Rücksicht genommen werden. Ein allgemeiner Ge-
sichtspunkt wäre z. B. hinsichtlich der Zusammensetzung der
Digitized by Google
306
Ernst Mischler,
Faritätsgruppc der Arheit^aMier der I 'titerschied von Landwirtschaft
und Gewerbe, dann Handclsbeschältigun{T, in örtlicher Hinsicht
Bergbau und Hüttenwesen etc.; innerhalb des Gewerb( s der l^nter-
schied \ o(i < iroKinduslrie und Kleinji^iwcrbe. Hei der Paritäts^rii{>{)c
der Arf)eiliichnier käme je nach der Sa« hhiL^e /. 15. der rnterschicl
von gewerblichen Hillsarbeitern und I )ieii>tl)oten , innerhalb der
erstcren \on i^ewerkschaftlirh, ;^fen< 's>en^eliaitlirh oder sonst orj^ani-
siertcn und den nicht organisiert ru, innerhalb der letzteren von
landwirtschaftlichen und Hausdienslljolen etc. in Betracht. Die
\'erwnltun'^fsausschüsse l)rauchten nicht i^erade ^^roi^e Kurperschallen
zu srin. \ ielniehr würde es fjenütrrn, wenn die X'ertrcter der ver-
schieileneii Interessen in ilcn Grui>j)cn der Arbeitgeber einerseits
un<l Arbeitnehmer anderseits durch einzelne Personen und zwar
der Zahl nach so vertreten sind, dals keine Majorisicrung von vorn-
herein gegeben ist. Selbstverständlich ist es auch notwendig, die
Verwaltungsausschüsse nach lokalen Bedurfnissen mit Rücksicht auf
etwa vorhandene - grofee Industrieen etc. zusammenzusetzen. Zu all'
dem soll eben das Statut die Möglichkeit bieten, welches auf Grund
der allgemeinen gesetzlichen Vorschriften für jede Verwaltungs-
kommission erlassen wird und auch eine Wahlordnung enthält.
Die Aufgaben der Verwaltungskommission bestehen in einer
Reihe von Angelegenheiten» filr welche die Zustimmung des Staates
allerdings erforderlich ist, die aber deshalb durchaus nicht als
minderwichtig angesehen werden dürfen. Sie werden in dem oben
erwähnten Statute (Geschäftsordnung) zusammenzufassen sein, welches
auf Vorschlag der Kommission staatlicherseits genehmigt wird. Die
Verwaltungskommission soll als fachliches Organ die unmittelbare
Aulsicht über das Vermittlungsamt fuhren, sonach den Geschäfts-
gang im allgemeinen und die Thätigkeit der Beamten im besondem
überwachen und mit Rücksicht auf «i^enerelle Normen auch leiten,
und zwar im Rahmen jener Machtbefuf^nisse, welche das Statut
verleiht Das eigentliche einzelne X'crmittlungsgeschäft mufe immer
Domäne des X'eiinittiungsbeaTnten bleiben, wie dies aber zu er-
folgen habe und wie es thatsächlich erfolgt, darüber soll die Kom-
mission einen Kinilufs auszuüben und sich zu vergewissern in der
La^^e sein. Die Kommissie»n soll das Recht haben, den \\oranschlag
der X'ermittlun^saiistah innei hall) gewisser ( nen/en frei, resp. unter
Vorbehalt staatliclier (.lenelnnigung zu entwerfen, und verpflichtet
sein, alljäiirlieh einen jahresberielit \i\ivv die 1 liäti:^dN"eit im abp^e-
laufencn Jahre zu erstatten, welclier einerseits der Oetientlichkeit
Digitized by Google
GrandzQge einer »Ugemeinen staatlichen Arbcitsvemittlong (Ür Oesterreich. ^07
gegenüber Rechenschaft geben und andererseits der Zentralstelle vor«
gelegt werden soll. Desgleichen soll sie berechtigt sein, über alle
Walirnelimungen innerhalb ihres Wirkungskreises der Zentralstelle
zu berichten und Anträge zu stellen. Endlich hat sie ein Ent-
scheidungsrecht darüber, wie sich das Vermittlungsamt in Strike«
fallen zu \'erhalten hat, worüber weiter unten (Punkt 5) gesprochen
werden soll.
b) Viir das ffesamte staatliche Arbeitsvermittlungwesen fungiert
als Zentralstelle das Handelsministerium im Einvernehmen
mit den iibrii^cn bctcili<^tcn Ministerien. Diesem obliegt die Er-
richtun;^^ oberste Leitiini; und l'eberwacluin,^^ der staatlichen Ar-
l)eits\ eimittlunfjsanstaiteii in rl es handhalil in oberster Instanz die
X'orschriftcn des zu erlasM iuicii (iesei/cs. Ks wird die W-rniilthnv^^fs-
nn>(,ilten inspizieren lassen und die Thäti^keil der V^crwaltuii^s-
ausvcliusse durch Erlassuni; von Musterstatulen sowie Bej^utachtun^
eiuLjereichter Statuten fördern und orleiclitcrn. Aus den ein-
lan;^^cndcn Berichten der einzelnen X'erniittlun^fsanstalten und auf
( irund eif^ener W'ahrnehnvung wird es Jalu esberiehte verfassen,
welche dem RiMehsratc vorzuloj^cn siiul, wie das heute schon mit
den Berichten der ( icwerbcinsjjeklorcn der hall ist, inid für eine eni-
hcitlichc zusammenfassende Siatisiik der .Arbcilsvermittlunj^ sorgen.
Zu allen diesen Geschäften der obersten administrativen
Leitung: kommt dann die Thätigkeit auf dem Gebiete der Ver-
mittlung' : die Ausgleichung zwbchen Arbeitsangebot und Nach*
frage auf dem Arbeitsmarkte in den verschiedenen Teilen des
Reichs, wozu die Arbeitsvermittlungsstatistik sowie das Verfüg ungs-
recht über die einzelnen Anstalten die Möglichkeit bieten. Diese
ausgleichende Thätigkeit hat mit dem Vermittlungsetnzelgeschäfte
gar nichts zu thun, sowie überhaupt der Zentralstelle auf letzteres
eine Einflulsnahme nicht zustehen soll. Die Ausgleichung wird
dadurch erfolgen, dals die Vermittlungsanstalten mit UeberschuCs
an Arbeitgebern oder Arbeitnehmern in Kenntnis gesetzt werden,
bei welchen anderen Anstalten Mangel an solchen besteht, und
dafs jene administrativen Verfugungen und Erleichterungen getroffen
werden, welche es ermöglichen, auf gröfsere Distanzen getrennte
Angebote und Nachfragen örtlich zusammentreffen zu hissen. Bei
dem Grundsatze der Freiheit in der Benutzung der Anstalten kann
dies allerdings nur durch Mitteilung, Kundmachungen, Belehrung,
Hinweise, Organisierung der Arbeiterzüge und des Aufcnthalts-
weclisels etc. erfolgen, was aber schon einen bedeutenden Schritt
Digitized by Google
3o8
Ernst Mischler,
gegenüber dem heutigen vollständig unorganisierten Zustand zu be-
deuten hätte.
Nun entstellt die Krappe, ob für die Angelegenheiten der Ar-
beitsvermittlung im Handelsministeriuni eine besondere Stelle als
Zentralstelle für die Arbeitsvermittlunijsanstniten, etwa nach Analogie
der Zentralge werbeinspekt ton, bestehen solle, und diese Frage ist
wohl zu bejahen. Aufscr den jedenfalls unmittelbar beim Ministe-
rium zu vtrhlcihcnden obersten administrativen An^^elep^enheiten
kommen eben auch >olrhe inbetracht, welche eine Ljanz spezielle
{'"achbehördc erforder-i. iiiul welche eiiu r solclien zu ei;::^eiiem K< r}itr
überlassen werden können. Solche An;4ele»^enheiten waren einer-
seits insbesondere die Statistik des Arbeitsmarktes, die Begutachtung
und Abfassung von Statuten, die Insjicktion der territorialen An-
stalten und andererseits ilie oben «::;eschildertc Ausgleieluuv^ auf dem
Arl)eilsinarkte. Dabei könnte aber \"on dvr Seliatfun«^ einer neuen
Zentral>telle alx^esehen und das a r b e i t s s t a t i s t i s c h e .-\ m t im
HandeNniinisterium als solche benutzt werden, um so mehr, als
demselben der .-X r b e i t sb c i r a t zur Seite steht, tler dem arbeits-
statistischen .Amte einen s t ä n d i c n A u s s c h u f s für die .Ange-
legenheiten der Arbeitsvermittlung zur Seite geben könnte. Dabei
würde das arbeitsstatistische Amt allerdings aus seiner durch den
Namen gegebenen engen Splmre heraustreten und einen Schritt nach
einem Arbeitsamte zu machen. Eine solche Erweiterung steht
im vollkommenen Einklänge mit Wesen und Aufgabe der heutigen
j\rbettsstatistik. Denn, wenn es auch zutrifft, dafe eine statistische
Zentralstelle als reines statistisches Amt fungiert, so wird da-
gegen ein fachstatistisches Amt auf Schritt und Tritt zu einer
Verwaltungsthätigkeit hindrängen und selbst gedrangt, und zwar
insbesondere zur Vornahme solcher Verwaltungsakte, die sich
als unmittelbare Ausfuhrung von durch die Statistik gegebenen Auf-
schlüssen, Anregungen und Forderungen ergeben, wie dies auf unseren
Fall angewendet in hervorragendem Falle z. E hinsichtlich der Aus*
gleichung des Arbeitsmarktes zutrifft Als Zentralstelle för die Ar-
beitsvermittlung hätte sonach das arbeitsstatistische Amt insoweit
zu funt^ieren, als die An^relenrenheiten nicht naturgemäß unmittelbar
vom Ministerium selbst zu besorgen sind.
c) Die Mittel st eile am Sitze der politischen Behörden
zweiter Instanz dient zunächst dazu, den \>rkehr der Zentralstelle
mit den territorialen .Anstalten sowie den Verkehr der Zentralstelle
mit den Verwaltungsbehörden im betreffenden Lande zu vermitteln ;
Digitized by Google
Gnmdzüge cinvr all^meinen staatlicben Arbcitsv«nnittlaqe fltr Oesterreich, yjg
ferner soll sie überhaupt 'gutachtlich ihiiti^ sein und insbesondere
der Zentralstelle gOL,annl)ci in I'rn^cn der Orp^anisation beratend
zur Seite stehen. Bei der X'ielt^'cstalti^^keit der wirtschaftlichen W-r-
hiiitnisse in Oesterreich wird die Arbeitsx'erniittlunix in den ver-
schiedenen (iebietsteileii uiiL,'c.ichtet aller Gleiclil« »i niiL;kcil der Grund-
y.U'^c in der ihatsüciilichcn Ausi^^cstaltun^ doch re^ionenvveise einen
besonderen Charakter traj^en, und für diese Ausj^estaltunj:^ /u sorgen
soll eben Aufgabe der Mittelslellc sein. Uebcrdies aber ist es ihre
Aufgabe, die Ausgleichung zwischen Arbeitsangebot und Nachfrage
auf dem Arbeitsmarkte in den verschiedenen Gebieten dessdben
Landes zu befördern und in dieser Hinsicht die den ganzen Staat
umfassende ausgleichende Thätigkeit der Zentralstelle zu erleichtern.
Eine eigentliche den Einzelfall berücksichtigende arbeitsvermittelnde
Thätigkeit soll sonach von der Mittelstelle ebensowenig ausgeübt
werden, wie von der Zentralstelle.
Die Mittelstelle ist jener Teil der ganzen Organisation, der
am wenigsten hervortreten und dessen Thätigkeit hinter den
beiden übrigen Stellen entschieden zurücktreten wird. Die Zu-
sammensetzung dieser Stelle wäre ebenfalls paritätisch zu denken,
den Vorsitz hätte eine weder dem Arbeitgeber* noch dem Arbeit-
nehmerstande angehörige fachkundige Persönlichkeit zu führen; die
Beratungen dieser Stelle würden ohnhin nur in gröfseren Terminen
stattfinden und fiir die bureaukratischcn Geschäfte könnte die Ar-
beitsvcrmittlungsanstalt der jeweiligen Landeshauptstadt aufkommen.
4. Die Grundsätze für die Thätigkeit der ArbeilsvermittlungS-
anstalten sind : Die Allgemeinheit der Arbeit, die r c i w i 11 i g -
kcit der Inanspruchnahme und die Unentgeltlichkeit der
Leistung.
a) Alle Arten von Diensten und Arbeitsleistungen sollen ver-
mittelt werden, landwirtschaftliche Arbeiten, gelernte und ungelernte
gewerbliche Arbeit, Ilandlangerdienste, Hausdienste und Dienste in
der Art der freien Henife. Prinzipiell soll überhaupt keine
Ausnahme gemacht werticn, wenngleich thatsächlich eine Be-
grenzung tler Thätigkeit t;cw!i"s vorliegen wird. Diese Grenze
ergicbt sich insbesondere nach ticr Höhe der Entlohnung
einerseits und der S e 1 1 e n h e i t d e s Vorkommens d e r D i e n s t e
von selbst, dagegen dürfte in der Spezialisierung der Arbeit eine
Grenze kaum zu erblicken sein. Ks liefern schon die derzeit be-
stehenden grofsen öftcntlichcn ArbcitsvcrnHUkitigen den Beweis, dals
die spezialisierende und individualisierende Thätigkeit in sehr vorge-
Digitized by Google
310
Ernst Miüchlcr,
schriltencr \\'ci-e. wohl in jt-dcin wÜDsrhcnswt rtcii M.Usc inö;4lich
ist. Sic lehren leriicr hinsichthch der oberen I ,ohnu,Tcn/.c. dals in
der Rc^cl Arbeiten bis zum Lohnsätze von l2oo Kronen vermittelt
werden; Stellen resp. Dienste mit höheren Lolinslilzcn sind weit
seltener und die thatsächlich vorkommende Obergrenze laut heutiger
Praxis dürfte etwa bei 2000 Kronen erreicht sein.
b) Die Inanspruchnahme der Anstalten mufs freiwillig bleiben,
und darf nie als erzwingbar aufgefafst werden. Solange jemand
selbst imstande ist durch eigene Wahl und Entscheidunj^^ seine
Arbeitskraft thatsachlich zi) verwerten, mufs es ihm gemäfs den
Grundlagen unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung voll-
kommen überlassen bleiben, dies in jener Form zu thun, welche
ihm beliebt; de^leichen kann jener Arbeitgeber, dem über seine
I^istung die volle freie Selbstbestimmung zusteht, darüber voll-
kommen frei verltigen können, ob er offene Arbeitsplätze besetzen
will. Anders dagegen, wenn sich jemand mit dem gesellschaftlichen
Fundamentaldogma von der Erhaltung des Lebens durch Arbeit
dadurch in Widerspruch stellt, dals er demselben nicht folgen will
oder kann, beziehungsweise wenn ein Arbeitgeber dem eine wirt-
schaftliche Bethäti;^^ung unter gewissen Bedingungen (z. B. kontinuir-
lieber zureichender I^istung) gestattet wird, dieser Pflicht z. B. wecken
Arbeiterman^cl nicht nachkommen zu l - niu n erklärt In solchen
Fällen kaim die Inanspruchnahme der .Arbeitsvermittlungsanstaltcii
etwas obligatori < lies erhalten, d. h. insofern als Zwang erklärt
werden, dafs die Nichtansprachnahme von Nachteilen begleitet sein
soll, l's !-t klar, dals bei -rnii'^end eitV4elel>ten all'^emeinen Ar-
bcitsv'rrinittluiu;.- instalten durch das l 'nterlasscji von deren Inan*
spriichnahnie otler beim Ausbleiben cnts|>recliei der Hctcilii^nn-^ im
[•"alle der Subsistenzlosi^^keit in der Rc^el Arbi iischeu anj^^cnommen
werden dai l, iiii 1 die Armenunterstiitzun^ Arbc !tslahi<^er ohne weiteres
alv^^ewiescn werden konnte. Lbenso werden lür den Inhaber eines
an gewisse Pflichten "itbutuleiien, z. B. konzessionierten ( iewerbe>,
dessen I'ortfiihrun^ vvcL^en L"nentl)ehrlichkeit der Leistungen unbc-
dini^t notvvendi'r ist, \a<-hteile staUiint werden dürfen, wenn er es
unterlassen hat, zur J a luu-lichuuj; zureichetuier .Ausübunj^ desselben
die allgemeinen Arbcitsvcrmittlunt^sanstalten in Anspruch zu nehmen.
Air dies bedeutet durchaus keine „obligatorische Arbeitsvermittlung",
die gemäfs unserer Gesellschaftsordnung ein Unding wäre, wohl
aber die Einfügung der Arbeitsvermittlung in das System der Ver-
waltung mit direkter Anknüpfung an andere Gebiete derselben.
Digitized by Googl !
Grundziige einer allgemeinen staatliclien Arbeiuvemittlang für Oesterreich. %{{
r i Die Fra»:jc drr K ii t l,' e 1 1 1 i c Ii k e i l oder l' n c n t ;:^e 1 1 1 i c h -
keil der Innn>i»rii(lniahfiu' der all<^emeincn Arlieitsveiniitthin^s-
aiistaltcn scheint mir indcls noch niclit voUkoinmcn t^eklärl zu sein.
Der Arheitsbcirat hat sich ohne viel Zweifel sofort auf den Standpunkt
der Uncnt|^cltlichkeit gestellt, der von seiner Kommission vorgeschlagen
wurde; ich vertrat in dieser als Referent allerdings den Standpunkt
der Möglichkeit einer Erhebung von Gebühren, vermochte jedoch nicht
durchzudringen. Für die Unentgeltlichkeit der Inanspruchnahme
spricht gewifs das folgende: viele kleine namentlich kurzfristige
Dienste würden durch die Gebühr relativ zu stark belastet; die
grofsen Arbeitgeber verfiigen über soviel Nachfrage nach Arbeit,
dafs sie dem Standpunkte der Entgeltlichkeit der Vermittlung ganz
verständnislos gegenüberstehen; endlich wird die Thätigkeit der
Vermittlungsanstalten durch das Kassengeschäft entschieden kom-
pliziert und in gewissem Sinne sogar gefährdet, indem Bestechungen
und dgl. erleichtert werden. Auch ist es richtig, dafs die Bezahlung
der Vermittlungsgebühren, dort wo ste bestehen, heute vorwiegend
auf dem Arbeitsuchenden als dem schwächern Teile lastet, und
dais flie gröfsten Schwierigkeiten bei der Erhebung der Gdiühren
aligemeinen Arbeitsvermtttlungsanstalten gerade von fien l iiter-
nehmem gemacht werden. All diese Argumente sind richtig', aber
ihnen stehen andere Erwäjrungen gegenüber : Die .\rbeit$vermittlung
betrifft auch höhere I .ohnklassen, wobei die Gebühr nur einen ijanz
verschwindentlen P)ruchtci1 des Lohnes ausmacht und thatsächlirh
üherliaujjt nicht als Last empfunden wird. Ferner ist die Arbeits-
verinittlunf^ heute xorwietrcnd noch im Stadium der pri\ atwirtschaft-
liclien h]nti,a"ltlichkeit. Dies >^filt nicht nur lunsichtlich der Dicnst-
Loicn sondern auch liinsichtHch sjit /icllcr iicrufsklasscn und \-ielfach
nn (icwcrbc, wo alicrtiinL,^s oft anschciiiciul l 'netUi^cUlichkcit vor-
lic<3, in Wahrheit aber die W-rmittkniLj chnch im (tcwerbe l)e-
schäfti^i^tc Mittelspersonen. \\ crkführcr, MitL,OicHlcrbeitra^e etc. in ent-
fjeltlichcr Weise erfolgt. Auch ist die l nentgcltlichkeit für die Ar-
bcitj^eber oft nur eine scheinbare, indem das h'.nt'^eU in h'orni von
andci >iKurii^an Aequiv alenten ert()l;^rt, die nicht sehen recht hoch
zu stehen ktjmmen. Amlei ei suts steht fest, dafs gcmäls ubcrein-
stinuncnden Erfahrungen seitens der Arbeitnehmer bei der allge-
meinen Arbeitsvermittlung gegenüber Gebühren keine Schwierig-
keiten gemacht werden. Es ist im allgemeinen zuzugeben, da(s
schon der Schritt von dem heutigen privatwirtschaftlichen Entgelt
zur niedrig bemessenen Gebühr einen bedeutenden Fortschritt be-
Digitizeü by üüOgle
i:L r n a t M U c h 1 c r ,
deuten würde, ohne dafs es notwendig ist, sofort in die volle Un-
entgeltlichkeit, also in das Steuerprinzip hinüberzusprtngen. Bei der
grofscn Inanspruchnahme dürfte die Erhebung der im einzelnen
ganz geringfügigen Gebühren zusammengenommen eine ganz an-
sehnliche Summe ausmachen, welche die Einfuhrung der Institution
wesentlich erleichtem wüitle. Ich denke dabei an die Gebühren*
pflicht namentlich bei gewissen Katc^orieen von Diensten, die heute
relativ hohen Leistungen an VcrinittkinL,'s<^'cschäfte ausgesetzt sind,
ferner l)ci höheren Gehalt- oder Lohnsätzen überhaupt, endHch hin-
sichtlich der Arbcil|;i l)rr in gewissem Umfange. Die Fntgelthchkeit
für die Leistung der allgemeim ti Arlx itsverniilllun^ könnte dort, WO
sie bt steht, im alljijemeinen bleiben, müiste aber den Charakter einer
Gl buhr haben und überdies sehr mäfsig gehalten sein; Sätze von
etwa 20 Heller für den Arbeitnehmer und 40 I Icller für den Arbcit-
<^feber l)ei Kinzellalkn, oder Jahrcspauschalien von 2 — 3 Kronen für
den Arbeit^a'bcr bei der unlieschränklen Inanspruclitiahmc dürften
die ani^a-mc^s' iie Höhe tlarsteiicn. Bei beMindcrs hohen Lohnsätzen
konnten IioIk ic ( li buhrc-n in iordert werden.
V In i allen von S t r i k c s und Auss[)errun;^en soll die \'cr-
waltuns^skoinmission fallwci>e darüber l^eseliluls fassen, ob die \'er-
nnttluii;4>thäti!7keit für die beteiligten Betriebe oder den beteiligten
ludu.stric/.weig einL;c.stcIlt werde oder nicht. Dafs die Strikeklauscl
\iel von der Bedeutung verloren hat, die man früher glaubte ihr
beilegen zu sollen, ist bek.ninl. Je mehr die Slrikes an l'mfang
und einheitlicher Organisation zunehmen, desto deutlicher stellt es
sich als unmöglich heraus, die Arbeitsvermittlung in den beteiligten
Betrieben und Betriebszweigen weiter funktionieren zu lassen; die
Vermittlungsthatigkeit müfste in solchen Fällen ein&ch versagen und
könnte überdies Anlafs zu Reibungen schärfster Art werden. Anderer«
seits hielse es über das Ziel schiessen, wenn bei jedem Strike die
Vermittlungsthätigkeit sofort suspendiert werden sollte, insbesondere .
z. B. wegen Strikes in vereinzelten Etablissements oder einzelner
Arbeitsgruppen in einem Betriebe. Es ist vielmehr erforderlich, in
jedem Strikefalle resp. bei jeder Aussperrung erst eine genaue
Untersuchung anzustellen, welcher Art Strike und Aussperrung seien,
um zu bestimmen, wie sich die Vermittlungsanstalt dabei verhalten
soll. Als Grundsatz ist allerdings festzuhalten, dafs eine Parteinahme
für den einen oder den anderen Streitteil, eine Erleichterung oder
Erschwerung von dessen Kampfstellung niemals stattlinden darf,
vielmehr eine Thätigkeit nur insofern vorzunehmen ist, als gleich-
Digitizeü by üüügle
Grund^c einer allgemeineii staatUdien Arbeitsveimittlang für Oesterreich. 3 iß
sam neutrales Gebiet vorliegt, d. h. die Position keines der Streit«
teile beeinflusst wird. All dies ist nur nach Prüfung jedes Einzel-
falls möglich und deshalb soll die \'er\valtungslcommission , der
hierdurch eine wichtiije Aufgabe positiver Natur erwächst, bei Aus-
bruch jedes Strikes und jeder Aussperrung die Entscheidung fällen,
in welcher Welse sich der Vermittlungsbeamte zu \'cihaltcn hat.
Dabei dürfte kaum zu bezweifeln sein, dafs die V'crwaltungs-
kommission resp. Arbeitsvermittlunj.rsanstalt bei den Bemühungen
zur Beilegung von Strikes in die Aktion wird mit eingreifen können,
insbesondere dort , wo es an cii^encn schiedsgerichtlichen oder
sonstigen cinschläf^ii^en I"'achoii;ancn noch fehlt.
6. Durch die iirojcklicrtcii allL^cineincn staatlichen W i rnittlungs-
anstalteii <olloti die übrigen derzeit bestehenden X'erniittlungs-
einrichtiui^en — abgesehen von den sog. Vcrmittlun<T,sgcscluifteii —
nicht als übeitiussig erklärt, sondern weiterhin beibehalten werden,
und nur bc/üi;lic!i der Genossenschaften in einigen Punkten eine
Rcglementierun;^ erfahren.
Was zunächst die als Gewerbe betriclx-ncn auf Gewinn ge-
richteten sog. Dienst- und S t e 1 1 e n v e r ni i 1 1 1 u n g s g e s c h ä f t e
anlxKingt, stellte sich der Arbeitshciiai aiil 11 Standpunkt, dafs
dieselben im I-'alle der P'inführung der staatlichen allgemeinen Arbeits-
vermittlung überflüssig seien und dafs sonach keine neuerlichen
Bewilligungen für die B^ründung solcher Geschäfte gegeben, sie
demgenuUs auf den Aussterbeetat gesetzt werden sollten. Dies war
allerdings nicht der Standpunkt des arbeitstattstischen Amtes, welches
in seinem ersten Entwürfe eines Gesetzes nur strenge Kontrollmals-
regeln beabsichtigte. Es befürchtete dabei, dafs im Falle des all*
mählichen und endlich volligen Verschwindens solcher befugten Ge-
schäfte, die man leicht überwachen könne, die Winkelvermittlung
blühen und zwar im Verborgenen blühen werde. Dabei wurden
die vielfachen Schäden und Nachteile der konzessionierten Ver-
mittlungsgeschäfte nicht übersehen, wohl aber eine Beseitigung der-
selben durch strengere Ueberwachung und Reglementierung erhofft.
Ich glaube, dafe für die konzessionierten Vermittlungsgeschäfte nach
Einführung der staatlichen al^emeinen Arbeitsvermittlung ohnehin
die letzte Stunde geschlagen haben dürfte und da& es im prak-
tischen Effekte ziemlich auf dasselbe hinausläuft, ob man sich auf
den Standpunkt des Gesetzentwurfes des arbeitstatistischen Amtes
oder auf jenen des Arbeitsbeirates stellt. — Minsichtlich der gewerb-
lichen Genossenschaften enthielt der erste, vom arbeit-
Archiv für m». Gescugebaac n. Sutittik. XV, 31
Digitizeo by Google
Ernst Mischler,
■
Statistischen Amte au^egangene Gesetzentwurf eine Bestimmung,
welche unverändert in die neuen Grundzüge übernommen worden
ist. Danach soll keine ("icnossonscliaft gezwungen werden, Arbeit
KU vermitteln, wenn sie dies aber tluit, so hat sie dabei — im
Falle sie eine gewisse Minimalzahl von GehiHen uinfasst — t^cwisse
Bedingungen zu erlüilen. Leber diese Minimalzahl herrschte keine
Kinstimmi^kcit . indem von seite klcingewerblicher Vertreter die
ZitTt-r von 200 (lehilfcn als viel zu niedrii^ bezeichnet wurde. Ge-
nu><( ii-^chaften mit einer unter das Minimum fallentien Gehilfenzahl
sollen hiiisiclillich t!or \on ihnen allentalls vorzunehmenden Arhcits-
vermittlun«^f ^an/ trei \'>i.;ehen können. Der hierher oehörij^e
l'arai;rai)h aus dem • ic.setzentwurfc des arbeitstatibtischen Amtes
lautet f» >l.;endermar>cn :
ij II. ( IcnossitiM li.itu-n, wcIcIk- Jtxo (IchillVn i,^ 1ü<>. 4. AI «-at/. il< r < "n-werbe-
ordnun;; ' uuii mehr als An;;' luri^jr besitzen uud Eiuricbtuugcn /.ur Vcrmitlluug von
ArbeiUtstelien im Sinne des ^ 116 der Gewerbeordnang bereits getrofien haben oder
treffen werden, sind ▼erpflichtet, die Verwaltut^ und Beaafsichtigang dieser Ein-
richtungen finem Ausschüsse xu ttbcrtn^en, welcher aus einer gleichen Anzahl von
Genossenschaftsmitgliedern und Gehilfen zu bestehen hat. Erstere werden von der
GenossenschafUTcrsammlung , Ittzirre von d«T GchilfcnvcrMimmlung (Hilfsarbeiter*
Versammlung 1 fjewühU. Der ii-wrilij^r Obmann dieses Ausschusses und dessen Stell*
Vertreter sind \on den MitfjHi I rn des Aus>irlm>>es aus ihrer Mitte m wähh-n.
An/.ald d< r Mit^liotU r und dir nülu ri-n !'•< ■.tinnnutfgt n über die Wahl d<'r-
sdiK ii, aber die Dauer ihrer i'unktiun, über die Wahl des Obmannes und seines
Stellvertreters sowie fther die Daner der Funktion dieser letzteren» endlich Aber die
Bestellung der die Geschäfte der Arbeitsvermittlung filhrenden Organe werden durch
ein besonderes Statut geregelt, welches von der politischen Landesbehärde xu ge-
nehmigen ist.
Dieser Paragraph erklärt sonach einerseits einen Verwaltungs*
ausschufs und för diesen die paritätische Organisation als obligatorisch,
und verlangt ferner ein Statut, dessen Genehmigung der politischen
Landesbehörde zusteht. Der Sinn dieser Vorschriften geht offenbar
dahin, Sorge zu treffen, dafs die Arbeitsvermittluni; von t^röfsercn
Genossenschaften wenn überhaupt, so in zutreffender, geeigneter
Weise erfolge und jener im allgemeinen unbefriedigende Zustand, der
heute besteht, ein Ende nach dieser oder jener Richtung nehme. —
Die übrigen Formen der bestehenden oder erst zu gründen-
den Arbeitsvermittlungsansialten werden zunächst durch das ge-
plante (leselz, resp. dessen (irundzüge über die allgemeine Staat*
liehe .\rl)eits\erniittlung g <i r nicht berülirt, sie können ihre
Thätigkcit in derselben Weise fortsetzen wie bisher, oder ändern
Digitized by Google
Grundzüge einer allgemeinen staatlichen Arbeitsvermittlung für Oesterreich.
oder <:janz beenden, ganz wie es ihnen beliebt. Dies L^ilt sonach
hauptsächlich für die Arbeitsverniitllunj^ der X'creine, für welche
ausschliefslich deren Statut und das X'ercinsgcsetz mafsj^ebend ist,
ferner für die Gemeinden, iiir welche da allein die Bestimmungen
der Gememdeordnung malagebend sind und endlich die Länder
(Landschaften), deren Recht auf R^elung und Verwaltung der
von ihnen errichteten Arbeitsvermittlungseinrichtungen z. R in An-
lehnung an die Naturalverpflegstationen durch das neue Gesetz gar
nicht berührt werden soll Die staatliche Regelung der Arbeits-
vermittlung verfolgt eben nur den Zweck, überhaupt und allgemein
die Ausübung der Arbeitsmöglichkeit im Rahmen der vorhandenen
Arbeit^elegenheiten herbeizuführen'; dazu ist aber keinesfalls erforder-
lich, die bestehenden Einrichtungen zu unterdrücken. Es erschiene
dies auch gar nicht zweckmäfsig, weil der Arbeitsmarkt in örtlicher
und beruflicher Hinsicht grolse Besonderheiten aufweist, welchen
eine spezielle Vorsorge sehr gute Dienste leisten kann, und weil es
sehr unklug wäre, vorhandenes zu zerstören, ehe man etwas er-
probtes an dessen Stelle setzen kann und ehe dieses Zeit findet,
sich einzuleben. Ks wird sonach vollkommen im Belieben der heute
bestehenden und noch zu errichtenden Anstalten für Arbeitsver-
mittlung stehen, ob und wie sie weiter zu fungieren beabsichtigen.
Das allerdings dürfte wohl klar sein, dals sich der Boden für solche
besondere Einrichtungen nach Einführung der allgemeinen Staat»
liehen Arbeitsvermittlung gcwifs verengern und vielleicht gar manche
derselben verschwinden wird; lebensfähige Anstalten werden aber
zweifelsohne weiterzubestehen in der Lage sein.
7. Das \'erhältnis der neu zu errichtenden staatlichen
Arbeits\crniittlunLi;sanstaltcn zu den bestehenden anderen ana-
logen Hinrichtungen katm ein mehrfaches sein. Zunächst ist es
denkbar, dals P)e/iehungcn ül)erhaupt nicht bestehen werden, sondern
die \ Lr>cliiedenen .Arten isoliert nebeneinander funktionieren werden,
wie (las heute die allgemeine Regel bildet, .iber als ein durchaus
unbelriecligender Zustand bezeichnet werden muls. Dafs dieser nach
etwaiger Kinfühning der staatlichen Vermittlung nicht weiter be-
stehe, dafür sollen eben die letzteren in ihrer Gesamtorganisation
sorgen und zwar zunächst im Wege freundlicher Annäherung und
Anbahnung gegenseitiger freiwilliger Beziehungen, wie dies eben&lls
heute schon hier und da vorkommt. Alle Arbettsvermittlungs-
etnrichtungen sind aufeinander angewiesen und können sich gegen-
seitig fördern; deshalb ist anzunehmen, dafs die neuen territorialen
Digitizeü by Google
K r n s t M i s c Ii 1 c r ,
Anstalten sofort versuchen werden, in Beziehung^ zu allen bestehen-
den Vermittlungsanstalten zu treten, und die Mittclstellen sowie die
Zentralstelle gern bereit sein werden, die ersteren in ihre Bemühungen
auf dem Gebiete der Au^leichung des Arbeitsmarktes einzubeziehen,
ihnen gutachtlichen Rat u. dgl. zukommen zu lassen u. dgl. mehr.
Dafs dabei gleichsam im Wege gegenseitigen Uebereinkommens ge-
wisse Bedingungen gestellt werden dürften, wie z. R die Ueber-
nahme der Verpflichtung zu gegenseitiger Mitteilung offener Stellen
und Arbeitsgesuche etc. ist selbstverständlich. All dies geht darüber
nicht hinaus, was heute schon vorliegt.
Wohl aber beabsichtiget der Gesetzentwurf eine viel weiter-
gehende Art der Bcziehun;:^ zwischen der staatlichen allgemeinen
Arbeitsvermittlung und den bestehenden freien V'ermittlungseinrich-
tungen. Wenn territorial veranlagte Vermittlungseinrichtungen
jenen Bedingungen entsprechen, weiche dasGesetz für
die staatlichen Anstalten vorschreibt, so können sie
deren Aufgaben übernehtnen, sonach gleichsam an deren
Stelle treten, und sollen dann staatlich erscits entsprechend
s u i ) \- «■ n t i o n i c r t werden. Dies werden sonach Arbeitsx eniiittlungs-
anstah< II in erster Linie der ( ieineiiuien, allenfalls der Landschatten,
und eventuell j^riisser tcrritr>rial wirkenden gcmeinnut/i.^eii X'ereine sein.
Im Falle dieses W rhältnisses sollen dann fiir diese Sprengel staatliche
Anstalten überhaupt nicht errichtet, resp. deren Wirkun<^s^^ebiet aus den
Territorien der staatlichen ArbeitsvermittlunL^shc/irke ans;^en(immen
werden. Wenn also z. R, eine Stadl eine kommunale \'erniittlungsanstalt
nach den Anforderungen des Gesetzes für ihr Gemeindegebiet errichtet,
so fällt dieselbe aus dem Sprengel der staatlichen Be/irksansialt her-
aus, resp, bildet gleichsam einen kleineren gle ichberechtigten Ver-
mittlungsbczirk für sich. Welche Bedingungen vorliegen müssen,
damit den freien Vermittlungsanstalten territorialen Charakters staat-
liche Qualität verliehen werde, ergiebt sich aus den vorstehend er-
örterten Grundsätzen: Errichtung einer Verwaltungskommission mit
paritätischer Organisation, Allgemeinheit, Freiwilligkeit und Unent-
geltlichkeit der Leistung, Unterordnung und Eingliederung in das all-
gemeine staatliche Netz u. s. f. Für den Staat erwächst durch eine
solche Substituierung der Nutzen, nicht überall neu organisieren zu
müssen, vorhandenes benutzen zu können, sich mit einer Subvention
abfinden zu können u. a. m.; fiir die Gemeinde erwächst der Nutzen,
zu der Mitwirkung im übertragenen Wirkungskreise nicht mehr ver-
pflichtet zu sein, da ja keine Staatsanstalt besteht, ihre Einflulsnahme
Digitized by Google
Gnindxttge einer allgemeinen staatlicbcn Arbeitsvennittlnng fUr Oesterreidi. 31^
weit mehr waliren, die X'erbinduntr mit sunsii^'ci^ etwa bestehenden
Genieindcciiirit liUini^^en herbeiführen zu ktMinen u. dgl.
Dabei entsteht die I'^raj^c, ob e> auch mö<Thch sein soll, V'er-
eincn, deren Thätigkeit nicht teri iturial sondern — sa^^en wir
— beruflich i.st oder hcstimmic Gesellschaftskreise unifalst, j^lcich-
falls die Möj^liclikeit zuzuerkennen, anstelle der allge meinen staat-
lichen Arbeitsvermittlung zu treten und staatliche materielle hörderung
ZU erfahren, also z, B. Vereinen von Berufsgenossen, gewerkschaft-
lichen Oi^anisationen u. dgl., femer alten sonstigen Vermittlungs-
etnrichtungen, die nicht territorial sondern beruflich wirken, und
welche Bedingungen diese zu diesem Zwecke erfüllen mUfeten. Von
vornherein ist dieser Gedanke gewife nicht abzulehnen, nur mii(ste er
anders ausgeführt werden als bei den territorialen Anstalten der
Gemeinden etc. Prinzipiell wäre sonach zu sagen, dafs auch solche
Organisationen den Charakter der staatlichen Arbeitsvermittlui^
erlangen und staatliche Beihilfe erhalten können; allerdings nicht in
dem Sinne, da(s sie hinsichtlich der von ihnen betrofTenen Berufs*
gruppe die Thätigkeit der staatlichen Anstalt ausschliefsen, also etwa
an deren Stelle treten : das wäre mit dem Charakter der Allgemein-
heit der Vermittlung, den die staatUche Arbeitsvermittlung nicht auf-
geben darf, unvereinbar. Es würde also nur ein Nebeneinander der
Thätigkeit bestehen, wobei allerdings aus praktischen Rücksichten
bei gutem Inandergreifcn, die staatliche Vcrmittlungsanstalt gewisse
Geschäfte der beruflichen übergeben, d. h. sich davon fernhalten
könnte, um eine Doppelleistung zu vermeiden.
Die Bedingungen, welche diese Art von Vereins- etc. \'er-
mittlungsanstalten zu erfüllen hätten, um mit der Uebernahme staat-
licher Aufgaben und dementsprechend mit Gclduntcrstützung seitens
des Staates bedacht zu werden, müfsten im allgemeinen dieselben
sein, welche von Gemeinden und territorial wirkenden Wreincii im
analogen I-"all zu erfüllen wärm: im besonderen müfste allerdings
eine Modifikation zulässirr und möglich sein. So stellt sich /.. R. die
Forderung,' nach einer X'erwaltun^^skommission und nach paritätischer
( )r^^anisation eiUweder mit Rücksicht auf die Wreinsleituni^ al> uber-
tlü^^ig, oder bei X'ereinen, die nur aus bestimmten Schichten von
Hcrufhangehörigcn gebildet sind (X'ercin der Hanilel.>L;ehillen etc. 1,
mit Rücksicht auf das totale hehlen der einen ParitätsLn"U|)j)e als
unmö'Tlirh heraus. Bei solchen Wreinen, gewerkschaliliclien i »rgani-
sationen u. (Il^I. würden sonach die sonst der \''erwaltun[jskomtnission
zukommenden Geschäfte von der \ crcinsleitung zu besorgen sein.
Digitized by Google
Erost Miscbler,
V. Die Aussichten f 1 c r \' e r \v i r k 1 i c h u n g des
G e s c l z c n t \v u r f e
Die Frage, welche Aussichten der Gesetzentwurf betrefiend die
EünflihrunjTj einer allgemeinen staatlichen Arbeitsvermittlung^ habe,
verwirklicht zu werden, kann — insoweit eine Erwictlerun^ hierauf
möi^^lich ist — mit der Präzisierung der Stellung der einzelnen
politischen Parteien und der Interessen der grofeen Berufsabteüungen
des X'olkes beantwortet werden. Die Debatte im Ausschusse und
im Plenum des Arheitsbeirates, sowie zahlreiclic Auslassungen in der
Parteipresse und bereits vorhandene Vcrwaltungseinrichtungen auf
diesem Gebiete lassen dies uii^rlnvcr inul mit ziemlicher Sicherheit
zu, insoweit die Parteiprogramme nicht schon direkt oder indirekt
einen l'inger/ciL": i^'chen.
Da ist zunaciisi die Stellungnahme der Aut onomisten von
Interesse. Nach den Verhandlungen im Plenum des Arbeitsbeirates
kann eine prinzipielle Gegnerschaft der autonomistischen Parteien,
aus denen sich die derzeitige Mehrheil des Reichsrates zusammen-
setzt, niciit angenommen werden, hisbesondere kann auch der \'er-
weis auf das i^ingreifen der Gemeinden in tlie Arbeitsvermittlung,
welcher in einer Rede als gestaltendes Moment für deren Ausbau
und Fortbau gefallen ist, nicht genügen. Die Gemeinden sind, von
einigen Dutzend Städten abgesehen, vollkommen aufser Stande, auf
diesem Gebiete selbständig thätig zu sein, und werden niemals
hierzu die Eignung besitzen; sie ^nd zu Idein, es fehlt ihnen die
Möglichkeit der Fühlung untereinander, und sie entbehren zum
gröfsten Teile der geistigen Potenzen. Sie sind — von den
grofseren Städten abgesehen — in dieser Hinsicht för immer auf
die Stellung als Hilkorgane* insbesondere als Anmeldestellen an*
gewiesen.
Fragen wir aber nun weiter, was die autonomen Faktoren bisher
auf dem Gebiete der Arbeitsvermittlung geschaffen haben, so lautet
die Antwort: die Arbeitsvermittlung in Anlehnung an die Natural«
Verpflegstationen und einzelne kommunale Arbeitsvermittlungs-
anstalten. Was zunächst die Naturalverpflegstationen an-
belangt, so müssen wir die Frage von einem zweifachen Gesichts-
punkte auffassen: erstlich die Arbeitsvermittlung als Ausflufe des
eigentlichen Wesens der Naturalverpflegstationen und zweitens die
Naturalverpflegstationen als äufserlich hergeholten territorialen Unter*
Digitized by Google
GrundzUge einer allgemeinen »uatlicben Arbeitsvermittluag für Oesterreich.
bau einer nur durch ihre eigenen Zwecke bestimmten Arbeitsver-
niittlui\g. In der erstgenannten Hinsicht liegt der Zusannmenhang
zwischen NaturatverpHegstationen und Arbettsvermittlung in der „Ar-
beitsbeschafiung für die Frequentanten der NaturalverpBegstationen",
und von diesem Boden aus sand die letzteren iiir eine durch-
greifende Losung des Problems der Arbeitsvermittlung unzureichend.
Die Naturalverpflegstationen bestehen in Oesterreich in der Haupt«
Sache nur in zwei zusammenhangenden Länderkomplexen, in der
nordwestlichen Landergruppe und in den Gruppen der Alpenländer;
im Osten und Süden fehlen sie vorlaufig und es ist ganz unbe-
rechenbar, wann und ob sie da überhaupt eingeführt werden; über*
dies sind, zumeist aus agrarischen Interessen, in mehreren Ländern
grofse Berufsgruppen von Arbeitsuchenden (TaglÖhner, Dienstboten,
Landarbeiter) von der Benützung ausgeschlossen. Ferner werden
gaxa allgemein sonstige Beschränkungen der Benützbarkeit vorge-
nommen, welche ihren Grund in dem eigenthchen Zweck der Xa-
turalverpfl^tationen haben: den Wanderbettel zu beseitigen, die
Arbcitsrheu zu bekämpfen und eine Sonderung der arbeitswilligen
und arbeitscheuen Elemente zu erzielen; aus diesen Gründen wird
vielfach den Ortsarmen, den einige Mittel besitzenden und den über
ein bestimmtes Zcitausmafs hinaus Arbeitslosen die Aufnahme ver-
weigert, sowie die Benützung der Stationen nur in bestimmten
Intervallen oder in bestimmter Häufigkeit gestattet. Endlich aber,
und dies ist ein sehr l)c<Jeutsames Moment, dienen die Naturalver-
pflegstationen nur den wandernden Arbciterelcnientcn, welche sich
zum allergrölslen Malse aus den männlichen, den jüngeren und den
ledigen Arbeitern zusarniiienset/en, wonach nur aus einem Bruchteil
der gesamten arbeitsuchenden Bevölkerung. Für die grofse Masse
sei>hafler Arbeiter, namentlich gröfserer .Städte und Industriebe/irke,
welrl\e ilire Arbeitsbedingungen ohne wesentliche Ortsveräiiderung
suchl, oder welcher das W'andern eiiic l 'imiöglichkeit ist, sind die
Xaluralverj)fleg>tationen überhaupt ohne Belang. Auch ist die .Xuf-
suchung der NaturaK crptlegstalionen von der Jahreszeit und den VV'itte-
rung^\erhäItnissen abhängig, also Momenten, die auf den Arbeits-
markt in gänzlich verschiedener Weise einwirken. Endtich ist für
diese Arbeitsvermittlung stets nur die Nachfrage der Arbeitsuchenden
und zwar allein mafsgebend, wobei auf diese Masse der Arbeit-
suchenden eine di.sponierende Einwirkung überhaupt nicht ausgeübt
werden kann, um sie dem Angebot von Arbeitsplätzen konform zu
gestalten.
üiyiiized by Google
320
Ernst Mischler,
Alle diese in der I^i^cnart der Frec}ucntanten der Naturaher-
pflegstation liegenden Momente lassen diese Anstalten als ungeeignete
Grundlagen einer planmafstgcn allgeineinen Arbeitsvermittlung er-
scheinen. Dabei ist es beinahe überflüssig, überdies noch darauf
hinzuweisen, dafs den Organen der Xaturalverpflegstationen — so
geeignet diese für den einfachen Dienst der Beherbergung^ sein
mögen — die Eignung zur Vornahme einer organisierten Arbeits-
vermittlung fehlt So wird die Arbeitsvermittlung der Naturalver-
pflegstationen stets nur ein beiläufiges Anhängsel sein und bleiben.
Dem Gesagten widerspricht es nicht, wenn zwei österreichische
Länder, Böhmen und Niederösterreich, den Versuch machen oder
wenigstens die Idee gefaCst haben, von den Naturalverpflegstationen
ausgehend zu einer allgemeinen planmärsigen, zentralisierten Arbeits-
vermittlung zu gelangen. Denn bei näherem Zusehen ergiebt sich,
» dafs hier die Arbeitsvermittlung zu einem scll)ständigen X^'erwal-
tungszweig entwickelt werden soll, so dafs die Naturalvcrpfleg-
stationen nur noch nebenher inbetracln kommen. In Ntederöstero
reich wurde im Jahre 1894 zwischen Staats- und Landesx erwaltung^
einverständlich der Plan einer ort^nnisierten, das ganze Land um-
fassenden Arbeitsvermittlung verabredet, der aber wegen der in-
folge der Resolution des Abgeordnetenhauses eingeleiteten Aktion
der Regierung vorlätifig /Zurückgestellt wurde. Die von der nieder-
österreichischen Statihaiterei aufgestellten Grundzüge sind nicht
ganz klar und lauten etwa foli^t iidermarsen :
Natiiralvrrpfiojj^tationfn br-.ori^rn ulli/.ifll dio Arln it'^x ermitthintj : in Wi.-n
soll dies durch die Gemeinde geschehen. Alle diese Virmiuliingsaiuur stehen mit
einer Zentrale ia Verbindung ; diese besorgt die Drucklegung der Zahl und Kategorie
and «llgemeiiie Verbratburnng der Arbeitsuchenden sowie der Arbeitgeber in Wien und
jeder niedcrösterreicbischen Gemeinde. Dieses Veraeichnis encbeint an Form einer
Zeitung, die sich ittr den Anschlag eignet Fftr das flache Land erfolgt deren Ver-
sendung an die politisclK-n (d. i. staatlichen) Bczirksbehitrdcn, welche Wöchentlich
die betreffende Verlautbarung in jede Gemeinde behufs Atligierung schicken. Neue
Kon/.osionierungen lür ><)gen. Di<-n^t\ <rnntllungsgesch:ifte sollen in der Kei,r< 1 nicht
mehr gLgebrn werden. Die Genos>»-nschaltrn W'-rd^n ,rur Mitwirkung an tin ser
Organi!>ation herange/,ogen. Die Oberleitung hegt m den Händen des Landesaus-
schusses. Für die Vermittlung werden sowohl von Arbeitgebern als Arbeitnehmern
Taxen anr Deckung der Regie eingehoben.
Würde eingangs dieses Planes nicht von Naturalverpflegstationen
gesprochen werden, so würde niemand einen Zusammenhang dieser
Organisationen mit denselben annehmen können. In der That
scheinen die Verpflegstationen auf die Funktionen von Anmelde-
Digitized by Google
GnmdzUge einer aUgemeiaen staatlichen Arbeitsvermittlmig Hlr Oesterreich. 32 1
stellen bcschtankt werden zu sollen , insoloni iiiefiir nicht die Ge-
meinden seihst inbetracht konuiicii . wie denn ^^eraiiezu von
„gemeindeamtliclieii \'erinitllun^'->luii caiix" }^esprocl)en wird. Wir
haben daher ein Netz von Anun kiotellen (Gemeinden eventuell
Naturalvcrpfle^stalionen) mit einer Zentralstelle und Mittclstellen
in den staatlichen Bezirksstädten , das ganze als Nachweisungs-
verkehr und nicht als Vermittlungsverkehr gedacht und mit sonstigen
Vermittlungsstelten der Genossenschaften etc. in Verbindung gesetzt
Wäre je dieser Plan verwirklicht worden, so wurde ach alsbald
herausgestellt haben, da(s die Naturalveriitlegstationen für denselben
von ganz nebensachlichem Belange, aber durchaus nicht der Kem>
punkt desselben seien.
Auch die in Böhmen seit 1897 eingeführte Organisation ist
nicht klar durchdacht, wenngleich sie gegenüber Niederösterreich
schon einen Fortschritt bedeutet; »e lädst sich etwa in folgender
Weise skizzieren:
Die Arbeitsvermittlmig erfolgt dm'di die NaturalverpBegstationen, wobei aber
di« Gcroeindclmter verpflichtet sind, Anmeldnngvn entgegensanehmen mid an die
nächste Station an leiten. Jo 6 — 7 Vcrpflegstationen werden einer Hauptstation zu-
gewiesen, welcher sir- dir unlx-sctzt gebliebenen Stellen anzuzeigen haben. Für die
Ausgleichung des Arbeitsniarktcs zwistlun diesen Haupt-t itinnr-n dient die beim
L.indes.uis>ohusse errichtete /entralc, welcher die bei den Huupt^i.uioin.ii unbe^t-tzi
bleibenden Stellen mitzuteilen sind. Die Zentrale vcruiieutüchl aul dieser Grund-
lage wöchentlich einen Amtsanteiger mit den bei den Hanptstationen mibesetzt
gebliebenen StcUcn. Da diese Organisation offenbar nicht gans entsprach, wurde
der Plan gefafst, Bczirksarbeitsvermittlmigsiroter n errichten, welchen Beiräte von
Fachmännern angegliedert werden sollten; diese Einrichtung, welche gleichfalb über
die Gemeinden als Anmeldestellen verHigt. soll dann in einem Zentnlarbeitsrermitt-
langsamt in I'ri^' .'ipfeln Bisher sind aber solche Hezirk^amter nur ganz vereinzelt
errichtet worden und zwar fungieren sie fwie z. B. Smichow bei Prag) m'-hr nach
.\Tt der kommunalen ArbcitsvcnnitUutig^^aniter. welche ja ihre Thätigkeit stets auch
auf ein zugehöriges gröfseres Gebiet erstrecken.
Auch in die-^er böliniischcii Einrichtung, welche sieh \m < icf^cn-
satz /II Niederösttt reich tranz im Ralimcn der Sell).st\cr\\ altunii ab-
sj)ielt und welche zwischen zwei OrganisationsL^edanken schwankt,
treten die XaturalverpIlcL^stationen vor den Gemeintlen einerseits
und den Haui)tstationcn, d. h. Rezirk.sämtern, andererseits zurück, und
.sind eigentlich ziemlich überflussi<j, auf kernen Fall aber der Kern-
punkt der Organisation, welche vielmehr begrifflich (lie Gemeinden
(unt! Verptlcgstationcn) als Anmeldestellen, sodann die Nitural-
vcrpflejj'atationcn, llauptstationen resp. Bezirksvcrmitllungsanstallen
Digitized by Google
322
Ernst Miichler,
als die eigentlichen Vermittlungsämter und endlich (neben den
Hauptstattonen, welche auch als ausgleichende Stellen gegenüber
den Stationen dienen) die Zentralstelte als oberstes ausgleichendes
Organ kennt: es sind ebenso wie in Niederösterreich dieselben
Organe, welche unser luitwurf fordert, nämlich die territorialen An>
stalten, die LandessteUen resp. die Zentralstelle zur Ausgleichung
und die (Tcmeindcn zur Amncldun^, nur ist dieser (tedanke wcdcr
in Niederösterreicli uoch in Böhmen klar aus<;estaltct.
Wir sehen also, da(s die Länder, aus^^i hLiul von den Natural«
verpilegstationen dort, wo sie den Ged mki n !er Arbeitsvermittlung^
weiter ausgesponnen liaben, zu jener Linnclitung gelangt sind oder
gelangen müssen, welche wir als die für Oesterreich zweckent-
sprechende erkannt haben. Nun ist aber zu bedenken . dafs das
bisher nur in einem ein/igen Lande (Hijhmcn) bereits thalsächlich
wenit:^tens angebahnt ist, während illc übrigen Länder keine Spur
einer Durchtuhrung der planmälsigm Arbeitsvermittlung zeigen.
Auch in Böhmen ist jedoch die thatsächliche Ausgestaltung von
(Jeni sorst iuvebenden Plane sehr weit entfernt. Ein vom .Staate
au.sgehendcr Zwang auf die Länder zur allgemeincii Ivinführuiig einer
solchen oder ähnlichen .'\rbcitsvcrmittlung ist verfassung>gemärs un-
möglich, und bei der sonst mangelnden eigenen Initalive der Länder
auf diesem debiete ist der Schlufs gerechtfertigt, dafs die .\usge-
slaltung einer bcfrietligenden Arbeitsvermittlung in Anknüpfung an
die Naturalverpllegstationen auch nur in jenen Lämlern, in tleiien
letztere derzeit schon bestehen, und insoweit die> mit Rücksicht auf
das Wesen der Naturalvcrpflegstationen überhaupt möglich erscheint,
niemals zu erwarten ist. Da die Lander ohnehin zu keiner anderen
Organisation gelangen können als zu jener, welche unser Entwurf
andeutet, so ist nicht einzusehen, warum von deren Standpunkt aus
gegen eine allgemeine staatliche Arbeitsvermittlung, welche den
Ländern die beträchtlichen Kosten einer solchen Einrichtung er>
spart, eine gegnerische Stellung eingehalten werden sollte. Das
Recht der Länder, etwa vorhandene Einrichtungen auf diesem Ge-
biete beizubehalten oder solche neu zu schaflfen, bleibt ja unange-
tastet und es steht ihnen der Weg oflen, bei Akzeptierung der
Grundzüge des Staatsgesetzes ihre allfallige Einrichtung in den
Rahmen der staatlichen Arbeitsvermittlung unter Aufrechterhaltung
ihrer eigenen Ingerenz einzugliedern und dabei noch staatlicbersetts
subventioniert zu werden.
Für die allfallige VerwiiMchung eines Staatsgesetzes über die
Digitized by Google
GruDdziigc einer allgemeinen äUatiichen Arbeitsvcrmitllung für Ücslerroich. 323
Arbeitsvermittlung ist es aber ein erfreuliches Vorzeichen, dafs der
Gedanke der Gemeinden als Anmeldestellen und der Bezirke als
Vermittlungsstellen, der Beiräte, endlich der Zentralstellen mit aus-
gleichender Funktion nicht nur nicht als etwas absolut Neues
hereinbricht, sondern sogar schon bis zu einem gewissen Grade
örtlich verwirklicht wurde und in zwei hervorragenden Ländern als
richtig und durchführbar erklärt worden ist'}
Und nun gelangen wir dazu, zu präzisieren, wie sich die An*
hängcr k o mm u naler, d. L in der Regel mittel- und grofsstädtischer
Arbeitsvcrmittlunc;s.'m.stalten zu dem l'rojekte der allL^^emeirien staat-
lichen Arbeitsvermittlung verhalten. Die Debatte im Arbeitsbeirate
vermag uns hierüber keinen Aufsclilufe zu geben, denn die Be-
sprechung dieses Tunktcs SjMtzte sich zu einer Polemik zwischen den
parteipolitischen (christlich-sozialen) Freunden der Wiener kommu-
nalen Arbeitsvermittlung und deren Gegnern, den sozialdemo-
kratischen Arbcitcr\'crtretern aussrhlicfslich über diese Wiener An-
stalt zu; sieht man jedoch naher hin, so kann nicht verborgen bleiben
— wenngleich es unausgesprochen blieb — , dafs sich der Redestreit
um die prinzipielle Frage drehte, ol) kommunale Arbeitsvermittlungs-
anstalten ausschlielslich durch die konuiiunalcn Machtlaktoren oder
durch paritätisch /.usanmieiv^^csetzte X'erwaltungskommissioiicn ge-
leitet werden sollen. I I]at.->achhch steht die Sache in Oesterreich
so, dafs die bisher Ijestchendcii wenigen kommunalen Arbeits-
vt i nuithingsanstaUen in der 1 lauptsacln .lusschliefslich als Glied der
Cieineinde\ erwaltunfj ohne Da/.uiriicn von Liementen der Arbeit-
gebcr und Arbeitnehmer aufgi-falst werden.
Gerade derzeit besteht in Oesterreich eine Strömung zur P>-
richtung derartiger kommunaler Arbeitsvermittlungen, die aber kaum
viel Erfolg haben wird. Bisher bestehen solche stadtische Arbeits-
*) In GAlizien wurde im LandUge wiederholt, suleta 1897 die GrOndung
einer Postarbeitsbörse flür das Land nadi Lvxembnrgschen Muster beantragt,
welche nach dem letzten Antrage ans einer Landesarbettsbörse, 74 Bezirksarbeits*
börsen und 12 städtisrlicn Arbeitsbör.scn bestehen sollte. Bisher ist dic>es Projekt
aber noch nirlil /,ur Ausführung fjelanyt. l's ist leicht zu «-rsehen, daf> eine solche
Organisation ohne w«'-;.-ntlirhe Mitwirkunp des Staates unausführbar i>t.
In Schlesien ^\ iird<- im Jahre iSoS im Landtage im Anschlu>,sc an üu- Er-
hebung dcü Ilandehmiui^itcriurai) über die Arbcit!>vermittlung ein ganz allgemein gc-
halteaer Auftrag an den Landeaanssdmls beschlossen, dieser solle Vorschläge über
ein das ganze Land umfassendes System von Arbcitsvermtttlttngselnrichtungen in
Vors^lag bringen.
Digitizeü by üüOgle
324
Ernst M i s c h 1 c r ,
veitnittlungsämter tn Wien und Prag, Smichow bei Pr^, dann in
Reichenberg, im kleinen Stadtchen Mährisch>Trübau « und in Lai-
bach; in Krakau und Triest ist die Errichtung im Zuge. Die
Wiener Arbeitsvermittlung ist eine Schöpfung der christlich>sozialen
Partei und als Gegengewicht gegen die gewerkschaftliche Vermitt»
lung und Partei überhaupt gedacht; die Anstalten in Prag-Smichow
und Trübau entstanden in Anlehnung an die Naturalvcrpfl^tationen,
die Reichenberger Anstalt vermutlich aus nationalen Motiven, die
Krakauer als Präventiv- und Repres^ivinitiel ij;cgen den Pauperismus.
Jedenfalls ist also von einer einheitlichen, bedeutsamen oder mäch-
tigen Tendenz, welche ein Aufblühen koiTimunalen Vermittlungs-
we'^ens erwarten liefse, keine Rede und die Befürchtung ausi^'c-
schlössen, es kr>nne etwa in eine solche Strömung durch das Projekt
einer staatlichen Arbeitsverniittlunfj hemmend eingegrifTen werden.
Anhän>^er kommunalen Arbeitsvermittlunc^.swcsens können den Gesetz-
entwurf nur beL^rüfsen, weil er allen (iemeinden, ohne einen Zwang
auf sie ausziuil>cn , die Möglichkeit beläfst , ci<^fene X'crmittlun^s-
an^tnlten wie bisher zu errichten oder /.u erhallen, und ihnen über-
dies noch die Au>sicht croftnet . im balle sie die drundprinzipien
des ( ir>etzcs für diese Anstalten akzeptieren , aus^iaebic^e staatliche
Sub\entioneii zu erhalten, wahrend sie die Kosten heute L^an/ allein
trat^en nüis-en. — Die Lasten, welche einer t renieinde aus dem neuen
(n-sctze erwachsen würden, sind verschieden, je nachdem die (ie-
meinde eine den staatlichen Anforderungen enlsprechendc Atistalt
errichtet oder nicht. Im ersteren Falle besitzt sie eine .\nstalt, die
sehr wenig kostet und liurch welche die (iemeiiide von jeder Mit-
wirkung an der lokalen staatliclicn Wrmitllung befreit wird. Im
letzteren Falle dagegen ist die Gemeinde zur Beistellung des Lokales
genötigt und hat als Anmeldestelle zu fungieren ; die Funktion einer
Anmeldestelle stellt sich ohne weiteres leicht heraus, wenn die Ge-
meinde eine eigene (in diesem Falte den Prinzipien des Gesetzes
nicht entsprechende) Vermittlungsanstalt erhalt, weil sie da nur
die von ihrer eigenen Anstalt nicht erledigten Fälle an die staat-
liche Anstalt mitzuteilen hat; besitzt die Gemeinde dagegen eine
solche Anstalt nicht, dann mufs sie fiir Entgegennahme von Arbeits-
stellen und Arbeitsgesuchen sowie zur Verlautbarung solcher und
Mitteilung an die staatliche Stelle Vorsorge treffen, und zwar be*
trifft diese Verpflichtung ebensogut die gro(sen Städte wie die kleinen
Dorfgemeinden. Dabei ist wohl anzunehmen, da& in groGseren
Städten, namentlich dort, wo sich die Errichtung von mehreren
Digitizeü by üüügle
Grumlzugc einer allgemeinen !>taalUclien Arbcitsvermilllung für Oesterreich. ^25
Anmeldestellen in den Stadtbezirken nötig macht, die Kosten einer
solchen Mitwirkung fühlbar sein werden; da hiedurch eine Ausgabe
hervorgerufen wird, auf deren Effekt die Gemeinde einen Einflufs
zu nehmen nicht in der Lage ist, während sie durch vielleicht un>
beträchtliche Mehrauslagen eine eigene Anstalt erhalten könnte,
deren Aufwand bei Akzeptierung der Prinzipien des Gesetzes zum
grofsen Teil auf den Staat überwälzt werden kann, erscheint es
för die Gemeinden — das Zustandekommen des Gesetzes voraus*
gesetzt — unbedingt vorteilhaft zur Errichtung eigener, sei es gänz-
lich frei oder nach den Grundsätzen des Gesetzes gebildeter Arbeits-
vennittlungsanstaltcn zu schreiten. Das kommunale Arbeitsver-
mittlungswcscn dürfte sonach bei Verwirklichung des Gesetzes einen
lebhaften Aufschwung nehmen und die Gemeinden hätten überdies
keine L'rsache, in dessen Zustandekommen eine Gefahr für ihre
freie Bethätigung auf diesem Gebiete oder die Gefahr beträchtlicher
unausweichlicher Lasten zu erblicken. —
Ganz besonders charakteristisch ist die Stellung, welche seitens
der gewerblichen Arbeitgeber einerseits und der gewerblichen Arbeit-
nehmer andererseits gegenüber dem Gesetzentwurfe eingenommen
wurde und welclie folgerichtig durch deren bekannte scharf
pointierte Partciprograiiiinsi »unkte diktiert war. Was zunächst die
Unternehmer anlielan^t, o nmlslin wir die 'gewerblichen und die
landwirtschaftiiehen und ninerhalb der crsleren die Grofsbetriebe
und das Kleingewerbe auscinanderiialten ; hinsichtlich der Arbeit-
nehmer kommen die gcwerk>chaftlicli organisierten und die auf
andere Weise organisierten inbelrarht.
Von den Arbeitgebern der gewerblichen Grofsbetriebe
wurde in der Debatte der bekannte Satz aufgestellt: die Arl>ciis-
vermittlung sei ausschliesslich Sache iler Arbeitgeber und sie sei
bei diesen am besten aufgehoben. Diese scharfe Zuspitzung ist
nicht so allgemein bekannt, und auch in der Partei nicht so allge-
mein anerkannt, wie etwa das — mutatis mutandis — gleichlautende
Postulat der sozialistischen Programme. Halten wir Umschau, wie
sich diese Arbeitsvermittlung der Arbeitgeber in der Fabrikaticm
bethätigt, so zeigt sich ein wenig befriedigender Zustand : Gewerbe-
vereine und Handelsgremien mit nebenhergehender ganz unzuläng-
licher Vermittlung auf der einen Seite, Aufnahme von Arbeitern
durch Bevollmächtigte, Werkfuhrer etc., oder Umschau, öffentliche
Bekanntmachung, schriftliche Offerte und dergl. auf der anderen
Seite — von einer festeren Organisation aber keine Spur. In der
Digitizeü by üüOgle
326
Ernst M i m; h 1 L- r ,
That besteht zumeist, wenigstens in den wirklichen Großbetrieben,
keine sog. direkte Beschaffung von Arbeitskräften sondern eine ver
hüllte Vermittlung durch Zwischenpersonen, Werkfiihrer und dergl.
Allerdings betonen die grofsgewerblichen Arbei^eber, an einer
Organisierung der Arbeitsvermittlung kein Interesse zu haben, weil
sie stets einer überschüssigen Masse von Arbeitskräften gegenüber-
stehen, welche sich selbst direkt anbietet. Hieran können wir an-
knüpfen und den groC^ewerblichen Arbeitgebern — deren theo-
retisches Postulat nach Alleinbereclitij^unj,^ zur Arbeitsvermittlung
wohl nur besagen soll, dafs sie bei der Ansttllcn ; von Arbeit-
nehmern ui'.bcdingt frei sein wollen, woran ja durch die geplante
Orgnnisation nichts j^'eändcrt wird — cntj^corcnlialten, dafs, wenn
ihre Behauptun;^ von dem übt-rschüssi^cn Anbote der Arbeitsuchenden
richtif;^ ist, für ihre Betriebe f:renau dieselben Zustände auch nach
Einführung der allgemeinen staatlichen Arbeitsvermittlung weiter
bestehen werdiMi , durch welche doch niemand gezwungen wird.
Arbeit zu geben oder zu nehmen. Die überschüssigen Arbeit-
suchenden, welche bei der Arbeitsvermittlung vergebens vorsj >rcchen,
weil diese keine neuen Arbcitsgelegenluitcn schafft, werden sirh,
falls sie sich in andere Arbeitsgelegenht itiii nicht überleiten lassen,
in diesem balle x) wie heute \or den Fabrik.sthoren einfinden und
nacli freiem Belieben des Arljeitgebers oder seiner Mittelsjiersonen
eingestellt werden. Aus diesetii ( irundc wäre es konseijuent. wenn
die grofsge\verl)lichen l 'nternehmerkrclse sich zu der geplanten
.staatlichen Arbeils\ eniiittlung /um mindesten tieutral v erhielten, um
so mehr als \-on ihnen wedei eine Sachlcislung noch eine Bcitragjs-
leistung verlangt wird , und sie in ihrer Aktionsfreiheit bezüglich
der Aufnahme von Arbeitnehmern oder Errichtung von gänzlich
freien Vermittlungsstellen nicht im geringsten beeinträchtigt werden.
Allerdings kann ich mich nicht der Ansicht hinneigen, dals die
gewerblichen Grofsbetricbe an einer Organisierung des Arbeits-
marktes kein Interesse haben, und erachte dies nur hinsichtlich der
unqualifizierten oder wenig Schulung voraussetzenden Dienste iiir
zumeist zutreffend.
Dem Postulatc der Fabrikvertreter, die Arbeitsvermittlung sei
allein Sache der Arbeitgeber, steht das Postulat der sozialdemo-
kratischen Arbeitervertreter gegenüber, die Arbeitsvermittlung
gehöre ausschliefslich den Arbeitnehmern zu. Allerdings wurde diese
Forderung gleichsam nur zur Markierung des Standpunktes auf-
gestellt, worauf die Vertreter der organisierten gewerblichen Arbeit-
Digitized by Google
(JrumUüge einer allgemeinen staatlichen Arbeilsvcrniitllung für Oesterreich. 327
nehmer in den Verhandlungen des Arbeitsbeirates erklärten, den
Prinzipien des Gesetzentwurfes über die staatlichen Arbeitsvermitt-
lungsämter zuzustimmen.
Die Stelluf^nahmederkleingewerblichen Unternehm er
— und dies stellte sich auch bei den Beratungen über den Gesetz»
entwurf heraus — ergiebt sich einerseits aus deren Verhalten gegen*
über der kommunalen und andererseits gegenüber der genossenschaft-
lichen Vermiulung, denn die übrigen Formen klein<^ewerblicher
Arbeitsvermittlung (im Anschlufs an Gewerbevereinc, Handwerker-
vereine, Handels^^remien und gemischte Fachverbände — Umschau,
Aufnahme durch Mittelspersonen oder Bcvollmächti«:jc, Oftcrte,
Inserate etc.) sind eben nur schwache, oft recht mifsliche Auskunfts-
mittel. Da von der Arbeitsvermittlun<^ der Städte, in denen die
Zusammensetzung^ der Vertretung wesentlich von der gewerblichen
Untcrnehmcrklas<c abhän;^t. weshalb diese an allen städtischen liin-
richtuni^cn somit auch an der Arbeitsv crmittlunL: besonders interessiert
ist, bereits die Rede war, handelt es sich nur noch darum, was
seitens der < i e n o s s e n sc h a ft e n von dem (Icstt/i-nt wiirfe zu er-
warten ist. Seitens kkinj^'ewerblicher 1 'titeriuhTucr wird hervor-
ijehoben, dals die riennsvrnschaften — deren rn/.uläni;lichkeii auf
dem Gebiete der Arbeitsvermittlunc^ ^nr nicht in Alfrede s:jestcllt
wird und bei den notaiischcn diesbe/.u^dichcn Zuständen, von ver-
einzelten Städten und ( ienossenschaften abgesehen auch ^ar nicht
nc'^fiert werden kann — die ihnen vom ( iesetzentwurfe zu^euuilete
Ürj>anis<'Uion mit paritätischen Wrwaltun^skommissionen etc. (welche
jedoch nur anzunehmen ist, falls die Genossenschaften sich über-
haupt mit Arbeitsvermittlung befassen wollen, wozu sie durchaus
nicht genötigt werden sollen) aUenfalls nur bei einer grösseren
Minimalzahl von Gehilfen praktizieren könnten als dies im Entwurf
vorgesehen ist : eine Forderung, über welche ein Einvernehmen Idcht
zu erzielen wäre. Im übrigen falle es den Kleinmeistern, die ohne-
hin mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben, schwer, eine Thätigkeit
in den Genossenschaften auszuüben. Da sollte man nun glauben,
dafs die kleingewerblichen und Handwerkerkretse gern nach den Be-
helfen des (Gesetzentwurfes greifen würden, welcher es ihnen ermög-
licht, eine Organisation des Arbeitsmarktes zu benutzen, zu der sie
gar nichts beizutragen haben, falls sie nicht wollen; sie erfohren ja
nur eine Erleichterung ihrer Existenzbedingungen, und könnten sich
auf diese billige Weise leicht von den derzeitigen Mühen und Mängeln
der^genossenschaiUichen Arbeitsvermittlung befreien. Das zutreffende
Digitizeü by üüOgle
328
Ernst Mischler,
Wirken mancher ( icnosscns( liaftcn hinsichtlich der Arbeitsvermittlung
in l'.hrcn, ist doch zuzup-ben, tlafs die Genossenschaften vielfach ge-
notii,ft sind, die privaten Wrmiuhin'^rsj^eschäfte zu benutzen, dafs in
den Herbergen [gewinkelt wird, die Kufhäuser groiser Städte oft der
Schauplatz wüster Szeticn sind, dals häufi-^^ zu Annoncen <:jegriffen
W erden nials und die 1 rn-i hau sowie der Znsannnenhang der \'er-
mittlun<^f mit dem handwerksüblichen (lesciienke keinen haltbaren
Zustand des X'ermtttlungswesens darstellen. Ich halte es für aus-
geschlossen, dals jriiials noch von dei\ ( K no>sen>ehaiten im allge-
meinen eine IeI)Ln>trihi;^e Arbeitsvermittlung /.u erwarten sei, woran
die Wiedel l)(- lel)ung>\ ersuche der genossenschaftlichen ( >rganisation
des Handwerkerstandes, wie sie derzeit auch in ( )e>tt rrcich an der
Tagesordnung sind, nichts wesentliches aiuicrn werden.
Die k 1 c i n g c w c r b 1 i c h e n , nicht gewerkschaftlich
organisierten Arbeiter, zu denen auch die gesamte, nicht
derartig organisierte (.jiehillenschaft im llantiel sowie die Privat-
beanuen etc. hinsichtlich ihrer diesbezüglichen Stellungnahnjc ge-
zählt werden können, legen mit Recht grosses Gewicht auf die
unangetastete Erhaltung der arbeitsvemuttelnden Thätigkeit ihrer
Vereine, speziell dort, wo es sich um besonderes vorgebildetes
Personal (Buchhalter, Kommis, Verkaufer, Güterbeamte etc.) handelt.
In dieser Hinsicht ist, sowie hinsichtlich der durch Vereine vor sich
gehenden Arbeitsvermittlung überhaupt zu bemerken, dals der Gesetz-
entwurf ausdrücklich auf dem Standpunkte steht, den Vereinen ihre
Selbständigkeit zu belassen und ihnen eben&lls, wenn sie sich den
Prinzipien des Gesetzes, wozu sie aber nicht genötigt werden können,
anpassen, staatliche Förderung in Aussicht zu stdlen. Insofern
könnten die Vereine resp. die Vertreter des Prinzipes der möglichst
freien Bethätigung auf diesem Gebiete mit dem Entwürfe, der ihnen
Schonui^ ihrer Eigenart und überdies nur Gewinn in Aussicht stellt,
wohl zufrieden sein. Allerdings wurde in der Debatte von den Ver-
tretern der freien Bethätigung in der Vereinsbildung, speziell auch von
christlich -sozialer Seite die Befürchtung ausgesprochen, die Tendenzen
nach Entstehung freier Organisationen könnten durch die Schaffung
eines geschlossenen Netzes staaUicher Arbeitsvermittlungsanstaltcn
in ihren Keimen erstickt werden. Eine genauere Aussprache, was
unter diesen freien Gebilden zu verstehen sei, konnte nicht herbei-
geführt werden und ich kann daher nur bemerken, dafs mit der
Organisierung einer zureichenden .'\rbeitsvermittlung unmöglich ge-
wartet werden könne, bis die noch ganz in den Anfangen steckende
Digitized by Google
GrundzUgc einer allgemeinen »täatlichen Arbeitsvcrmiulung Tür Oesterreich. ^29
freie Bethätigung auf diesem Gebiete, möge sie von welchen Motiven
immer getragen sein, halbwegs geniefebare Früchte in genügend
grosser Zahl getragen haben wird. Dies gilt nicht nur hinsichtlich
der Fachvereine, sondern auch der humanitären, der konfessionellen
Vereinsbildung, im besonderen der katholischen Grehilfenvereine
u. a. m«
Was femer die landwirtschaftlichen Ihteressen anbelangt,
so betreten wir damit ein Gebiet, welches der Arbeitsvermittlung
am meisten bedarf, und dennoch mit derartigen Einrichtui^en so
gut wie gar nicht \ ersehen ist. Die Dienstboten- oder Arbeits*
markte gehören der Vergangenheit an und der Landwirt ist genötigt,
entweder den „Zubringer" zu benutzen odt r sich an ein städtisches
\'ermittlungsbüreau zu wenden, wobei auch die Dienstboten zumeist
in eine recht miCsliche Situation geraten. Dabei mufs der Landwirt vor
jeder guten einseitig städtischen oder industriellen Arbeitsvermittlung
Besorgnis empfinden und das Abströmen der Landarbeiter in er-
höhtem Masse befürchten, da die auch in Oesterreich nunmehr auf
freier Basis geplante beriifsr^^enossenschaftiichc Organisation'), welche
auch der Arbeitsverniittiung dienstbar gemacht werden soll, wohl
noch in weiter Ferne ist. I'ür die agrarischen Interessen ist aber
nun gerade die ge{)lante staatliche Arbeits\'ermittlung mit ihrem
lückenlosen Netz territorialer Anstalten ein Schutz gegen das Ab-
strömen der Arl)eitskräfte in tlie Städte, weil den Dienstboten eine
Kenntnis der örtlichen Arbeitsgelegenheiten geboten wird, und weil
sie von der allfalligen reberfüllung des städtischen Arbeitsmarktes
Klarheil" erlangen. Aurli konnte die geplante Zentralisation des
Arbeitsniarkte^ die McLjlicilkeit bieten, überschüssige agrarische
Arbeitskräfte ilirem Berufe durch Verwendung in anderen Gegen-
den zu erhalten und die Gefahr planloser Wanderungen oder der
Auswanderung zu vermindern. Die Zersetzung in dem Stande der
landwirtschaftlichen Dienstboten, sowie die Umwandlung derselben
in Tagarbeiter ist ja eine bekannte Thatsache ebenso wie die fort-
schreitende Desorganisation des landlichen Arbdtsmaiktes, und wenn
hierin Wandel geschaiTen werden soll, so ist die Schaffung einer
gleichmaisig auch die agrarischen Interessen berücksichtigenden
Arbeitsvermittlung eine unabweisbare Bedingung.
Nun stehen wir in der Betrachtung der einzelnen Beni&klassen
*) In der XVL Session 1900 ist neoerlicb ein GeseUentwnif Aber diese An-
gelegenheit dem Reiclisrite vorgelegt worden.
Archiv tat Ml. Getietigcbanc n. Scatitdik. XV. 3S
Digitized by Google
330
Ernst Mischlcr,
von Arbeitgebern und Arbeitnehmern vor dem weiten Gebiete der
ungelernten Arbeit sowie der häuslichen Dienste, welche
jetzt — ebenso wie die landwirtschaftlichen Dienste — den ge-
werbsmäTsigen Dieiistverrnittlungs<Tcscliäften überlassen sind oder
sogar auch dieser Form der Arbeitsvermittlung entbehren. Uebcr
die Dienslvcrmittlungsf^escliäfte, in denen zumeist die Hnusdienst-
boten „zugebracht", die Gehilfen im Gastgewerbe sowie Handels-
angestellte vermittelt, das Theatcrpersonal angeworben, Seeleute
angeheuert, Lehrlinge gehandelt und Eisenbahnzüge landwirtschaft-
licher Arbeiter arangiert werden, sind die Akten geschlossen;
wenngleich es niemandem beikommt über jedes einzelne dieser
Geschäfte den Stab zu brechen, so ist doch die Anschauunc:^ 'j^anz
überwiegend, dals diese Form der Arbeitsvermittlung wert sei. zu
verschwinden. Dies kann aber nur geschehen, wenn in anderer
Form für eine Vermitthmg Vorsorge getroffen wird. Von diesem
.Standjiunkte aus und dieser gilt für einen bedeutenden Bruchteil
der Bevölkerung, der ebensowohl aus Dienstgebern wie F^ienst-
nehmern besteht, würde der Krsatz dieser .*^tcllengeschäfte durch
die allgemeine Arbeitsvermittlung freudig begrülst werden.
Fnil damit kininen wir uns dem Schlüsse der vorliegenden .\us-
führungcti zuwenden. Der neuerliche Schritt auf dem Gebiete der
Sozialpolitik, der mit einem Gesetze über die allgemeine staatliche Ar-
beitsvermittlung gemacht werden soll, kann niemandem überraschend
kommen und iur niemanden eine gefährliche Fortbildung unserer
noch so jungen Sozialpolitik, sondern für jedermann nur einen kon-
sequenten Ausbau unserer Verwaltung bedeuten. Dieser weitere
Schritt beabsichtigt, ohne das Bestehende in seiner Existenz zu be-
drohen, dessen Schäden und Auswüchse zu beseitigen, Lebensfähiges
zu erhalten und zu fördern, und auf dem gesamten Arbeitsmarkte die
Möglichkeit der Erhaltung des Lebens durch die Arbeitsbethätigung
im Rahmen der bestehenden Arbeitsgelegenheiten zu garantieren.
Dafs unsere Sozialpolitik der Ausbildung nach der Richtung der
territorialen Ausgestaltung und der Zentralisierung *) bedarf, und dals
speziell eine durchgreifende Oi^^anisierung der Arbeitsvermittlung
notwendig ist, darüber besteht in Oesterreich im grbfsen und
ganzen ein Zweifel wohl seit langem nicht mehr und insbesondere
*) Vgl. die interessftute Skizriemiig eines Bolchen GesamtlMines der öster-
reichischen sozialpolitischen Organe bei Köglcr, Soziale Verwaltung und Arbeiter»
Tcrncherong in „Soziale Praxis", IX. Jahrg. Nr. l6.
Digitized by Google
Grnndzüge einer «Ugeroeinen staatlichen ArbeitsvennittlmK Ar Oesterrddi. 3^1
ist CS der Ciedaiike einer allf:reiTieinen staatlichen Arbeitsver-
mittlung, der stets von neuem wiederkehrt. •) Die früheren An-
re<:][ungen fielen zu einer Zeit, wo die Bruchstücke unserer Sozial-
politik, Arbeitcrscliutz und (icwerbeinspektion, Arbeiter - Unfalls-
und Krankem crsirherun;_; , Eini'^ain^sämter und Gewerbe<;erichte
noch im Stadium der Projekte oder eben erst eingeführt waren;
die Hrfoli^losigkeit der älteren Anregungen zur F.inführung einer
allgemeinen Arbeitsverinittluiig darf daher durchaus nicht als ein
böses Omen für unseren X'orschlag ausgelegt werden. Wcmi nicht
alle Anzeichen trügen, so ist gerade jetzt, wo in einer ganzen Reihe
von Landstuben, darunter der gröfsten Länder Oesterreichs, das Pro-
jekt einer allgemeinen Arbeitsvermittlung in Verhandlung steht, wo
eine wenn auch kleine Reihe von Städten mit Errichtung von
solchen Anstalten vorgeht und die Unhaltbarkeit der derzeitigen
Zustande durch die Regierung selbst in erschöpfender Weise klar-
gelegt ist, der Zeitpunkt fiir die Ausgestaltung einer auf dem
territorialen Gedanken beruhenden Arbeitsvermittlung sehr günstig.
Dals unser Pariament wenig erfreuliche Zustände aufweist und fiir
die Beratung eines sozialpolitschen Gesetzes von grolser Tragweite
derzeit wenig Disposition zeigt, darf einen Freund des Ausbaues
der staattichen Sozialpolitik nicht beirren. Die Pause, welche in
der gesetzgeberischen Thätigkeit des Reichsrates bestand, hatte
iär unsere Angel^enheit wen^tens das Gute, dals eine Einigung
über die Grundzii^e einer allgemeinen staatlichen Arbeitsvermittlung
in öffentlicher Diskussion herbeigeführt werden konnte, und da& in
weiterer Befolgung dieser Anregungen vielleicht die Detailausarbei-
tung der Paragraphen des Gesetzentwurfes auf dieser Grundlage
wird herbeigeführt werden können, so dafs der Reichsrat hoffent-
lich bald einer Regierungsvorlage g^enübci stehen wird, die er
zwar ablehnen kann, der er aber eine ernsthafte Behandlung nicht
wird versagen können und, wie erhofft werden darf, auch nicht
wird versagen wollen.
') Schon im Jahre 1S74 wurde gelegentlich einer Anregung über die Ein-
fllbnmg von Arbciterkammera im österr. Abgeordnetenbaose an die Verbindung voa
Dicutvenmttlniigtbiireaax mit denselben gedacht. Im Jahre 1884 ttberreichte Dr.
Julias Wolf dem österr. Msiiisteriam des Imiera einen VorKhhig tar Anvgestaltutg
einer allgemeinen Arbeitavennitthmg im Anschlnsae an eine einsaflihrende Unfalls*
versicherang. Im Jabre 1895 endlich wurde die Eingangs dieser AusfUhmngen mit-
geteilte Resolution über die Arbeitsvermittlang gefofst.
22*
Digitized by Google
Die Berufs- und Gewerbezählung im Deutschen Reich
vom 14. Juni 1895.
Von
Prof. Dr. H. RAUCHBERG
in Prag.
Zweiter Teil.
Berufsgliederung und soziale Schichtung.
• Schluf» des rweitcn Teiles,]
Xm. Die Stellung der Frauen im Erwerbleben.
In den \ orhcr^cliciulen Abschnitten hal)cn wir die beriifliclie
und soziale Gliederung des deutschen \'ülks kennen gelernt. In
den nachfolj^enden Untcrsuchunc:jen soll sie in V'crbindunj^ ijebracht
werden mit den wichtigsten dcinographisciien Momenten : mit Ge-
schlecht, Alter, Familienstand und Glaubensbekenntnis der Bevölke-
rung. Wir hofTen dadurch Einblick zu erlangen in die Zusammen-
hänge zwischen den Grundthatsachen des natürlichen und des wirt-
schaftlichen Lebens des deutschen Volks. Als erster der eben an-
gedeuteten Gesichtspunkte ist tn diesem Abschnitte die Gliederung
nach dem Geschlecht zu untersuchen und ist danach die Stellung
der Frauen im Erwerbleben zu erörtern.
Am 14. Juni 1895 sind im Deutschen Reich 26361 123 Per-
sonen weiblichen Geschlechts gezahlt worden.') Darunter waren
5264393 in einem Hauptberuf erwerbthätig; 1 313957 waren
Dienende und 702 125 berufslose Selbständige. In der Kat^^orie
der Angehörigen ohne eigenen Hauptberuf verblieben 18667224.
Einschliefsiich der Dienenden waren somit 6 578 350 Frauen erweib-
*) Ucber cUu ZalilcnverliäUuü der beiden Geschlechter iu der Gesamtbevulke-
nng vgl. den XIV. Bd. dieses Archivs S. 265.
Digitized by Googl«
Die Bcruis- und Gcwcrbetählung im Deutschen Reich vom I4. Juni 1S95.
thätig. Das ist rund ein Viertel — 24,96 Prozent — der gesamten
weiblichen Bevölkerung des Deutschen Reichs. Lafst man aber
die Kinder unter 14 Jahr aulser Anschlag, so waren von 17 935 019
weiblichen Personen über 14 Jahr 6493681 oder 36,21 Prozent Er-
werbthätige oder Dienende. Von den je 100 männlichen Personen
jener Altersstufe sind es 90,7a
Wesentlich erweitert erscheint der Umfang der Frauenarbeit,
wenn auch der Nebenerwerb mit berücksichtigt wird. 1746326
Nebenerwerblalle betreffen Frauen, und zwar 265 297 Erwerbthätige
im Hauptberuf, 72741 beruf lose Selbständige und 1408288 An-
gehörige oder Dienende.^) Dafs die Zahl der hieran beteiligten
Personen nicht genau festgestellt werden kann, weil manche Per-
sonen mehrere Nebenberufe ausüben, ist schon im XII. Abschnitte
hervorgehoben worden.^ Um vieles dürfte jedoch die Zahl der
Personen mit Nebenerwerb hinter jener der Nebenerwerbfalle nicht
zurückbleiben. Man kann also annehmen, dals zu den 6,5 Millionen
Frauen, die im Hauptberuf erwerbthätig sind, erheblich mehr als
eine Million von Frauen hinzukommt, die es doch in der Form des
Nebenerwerbs sind.
Seit der Berufszahlung von 1882 hat die Zahl der erwerb*
thätigen Frauen stark zugenommen, viel rascher als jene der er-
werbthätigen Männer und als die Gesamtbevölkerung. '£s beträgt
die Zunahme der im Hauptberuf^)
erwcrbthätigcn Frauen 1 005 290 oder 23.60 Prozent
„ HBiiaer a 133 577 m »5,95
des Standes von 1882. Werden auch die Dienenden mit in Rech-
nung gestellt, so haben die erwerbthätigen Frauen und Mädchen seit
1882 um 1036833 oder 18,71 Prozent, die erwerbthätigen Männer
um 2 1 16426 oder 15,78 Prozent zugenommen. Daraus er«;eben
sich folgende Veränderungen in der Gliederung der weiblichen Be-
völkerung unter dem Gesichtspunkte des Berufs:
^) Ad dieser letzteren Zaiil suid die Angcbörigcn rund mit 9 Zehnteln, die
Dienenden mit i Zehntel beteiligt. Vgl. das Z&hlimgswerk S. II3.
') VgL oben S. 153 u. 158.
*) Im Nebeucrwcrb haben die männlichen Fälle um 696093 abgenommen,
die wdblichen vm 511615 zugenommen. Vgl. darflber die AnsAlhrangcn dct XD.
AbKlmitts, S. 159.
Digitized by Google
334
H. Rftuchberg«
Von je 100 Personen weiblichen Geschlechts sind
lSq5 1S82
Frw.rbth.Hligr 10,07 18.46
Dicnrnde 4,99 5 ;6
Angehörige 70,81 7-94
Berullose Sclbständifjf . . 4,23 3.04
Der rrozcntsatz der erwerbthätij^en Frauen erscheint um 1.5 1
\tTstiirkt. Auch bei den Männern treten ja die Erwerblhatigen
nunnielir stärker hervor; Iiier macht aber die Differenz der Prozent-
sätze von 1895 und 1S82 nur 0,65 aus. Die Be\ve;^un;j;^ auf Seite
der I'Vaucn ist also viel rascher. Demzufolge sind weiblichen Ge-
schlechts
von je loo 1895 1882
ErwerUhäligen 25,35 24,16
Dienenden 98,11 96,79
EnrerbthSti^en und Dienenden nmmroen . 39,7$ 29,23
Der Anteil der Frauen ati der Hcruüsarbeit des Deutschen Volks
ist also in rascher Zunaiinie bejijritlen.
Ks iieLjt nahe, (he hier vorp^eführteii Zahlen unter dem Ge-
sichts] »unkte der Konkurrenz aufzulassen. Die iiöhercn Zuwachs-
prozente der er\verl)th<iti^'eii h'rauen und die V'crstiirkunL^ ihres An-
teils an der Berufsarbeit werden häufig dahin i^edeutet. dals dadurch
der Wirkungskreis der Männer eint^eschränkt und deren wirtschaft-
liche Lage verschlechtert werde. Inwieweit diese .Auffassun^r nia-
teriell berechtiL^t ist, soll si>äter erörtert werden, iiacluicni wir «.lie
grundlegenden statistischen Thatsachen zur Kenntnis genommen
haben. Erst dann werden wir imstande sein, die Stellung der
Frauen im Erwerbleben sicher zu beurteilen. Hier will ich nur in
formaler Hinsicht davor warnen, diesem Urteil — wie es so häufig
beliebt wird — Zuwachsprozente zugrund zu legen, gegen deren
Berechnungsweise schwere Bedenken obwalten. Man pflegt die Zu-
nahme der Frauenarbeit häufig durch das IVozentverhältnis der
Frauen, die 1882 bis 1895 in die Erwerbthätigkeit eingetreten sind»
zu jenen anderen Frauen auszudrücken, die schon 1882 erwerbend
waren. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dafs diese Prozent»
*) So s. B. bei jR. Wuttke, Die erwerbthätigen Frauen im Deutschen Reich.
Dresden 1897. Rtchtige Auffassung in dem Report by Miss CoUet on the Statistics
of F.mployment of women and girls. Board of Trade, Labonr Department, London
1S95 S. 3.
Digitized by Google
Die Beruf»- und Gewerbexiblmg im DeuUchen Kctcb vom 14. Juni 1S95.
ProzcDtverbältnis di^sos Zawachs<*s
£U den
sätze ehcnsoselir von der Zalil der Icl/.tcrcn wie (Jcr ersteren ab-
hän^^eii. Da die Vcrglcichsbasis, die Zahl der Erwcrbthätigcii von
18S3, oft sehr schmal ist, so wird mitunter eine absolut ganz ge-
ringtuL;i<^e Vermehrung durch überraschend hohe Frozentzifiern aus-
gedrückt, die verwirrend wirken. Es müssen also immer die abso*
luten Ziifem mit berücksichtigt werden. Will man aber die Fort-
schritte der Frauenarbeit an methodologisch richtig berechneten
Verhältniszahlen messen, so ist — von dem Verhältnis zur Männer-
arbeit vorläufig abgesehen — der Berechnung nicht die Zahl der
Erwerbthätigen, sondern der Familienangehörigen von 1882 zugnind
zu legen. Denn diese bilden die Gesamtheit, aus welcher die Er-
werbthätigen hervorgehen. Dann gelangen wir zu folgender Auf-
stellung:
manulicb weiblich
FMmll«n«geh6ri«e im J«h« 1882 ( 16827722
l rro/.ciit der H. v. »Ikcrung 3<>r49 72i94
Zuwachs an Enrerbtbäligcn und Dienenden wäiirend der
Periode i88s— 1895 . . 3116436 1036833
Erwerbthidgen von 188a 15,78 18,7t
Familien-
angehörigen „ 1883 26,18 6,16
FamilieoMigdiörige im Jdire 1895 ( ^^5oo6. .8667224
l Pro/.ent der Bevölkerung 34.83 70,81
E.s ist allerdings richtig : im V^ergleich zu den Erwcrbthnti«^cn und
Dienenden von 1882 sind in den 13 Jahren 1882 — 1895 die Frauen
rascher in den Erwerb eingetreten als die Männer. Aber schon den ab-
soluten Zahlen nach sind mehr als doppelt so viel Männer neu eingestellt
worden wie hVaucii. Und wenn wir vollends, was das allein Richtige
ist, den Zuwachs in Beziehung setzen zu der Gesamtheit, aus welcher
er hervorgeht, also zu den Familienangehörigen von 1S82, welche
für die Berufsarbeit verfügbar waren oder doch demnächst in das
erwerbfähige Alter einrücken werden, so sehen wir zunächst, dafs
diese Reserxearmce mehr als zweimal so viel Frauen wie Männer
enthält. Es wurden ihr aber doppelt so viel Männer wie Frauen
entnommen. In Wirklichkeit sind also verhältnismälsig viermal so
viel Männer als l-Vaiu n aus dem Reservoir der hamilienangehörigen
auf das l eid der Beruisarheii übergetreten, nämlich 26,18 I'rozent
der männlichen, aber nur 6,16 Prozent der weiblichen l amilien-
angehorigen. Dieser Abgang erscheint durch den Geburtenübcrschufs
und den Nachwuchs reichlich wett gemacht, sodafs die Kategorie
der Familienangehörigen bei beiden Geschlechtem 1895 absolut cr-
Digitizeü by üüOgle
336
H- Kducliberg,
I
hebltch stärker besetzt ist wie 1882. Relativ aber hat sie, wie
schon im II. Abschnitt geze^ wurde infolge der rascheren Ver«
mehrung der Erwerbthätigen und beruilosen Selbständigen bei
beiden Geschlechtern abgenommen. In den Altersstufen der Er*
werbfahigkeit ist bereits so ziemlich der ganze Vorrat an männ-
lichen Familienangehörigen aufgebraucht und in die Erwerbthatig*
keit bzw. in die Stellung berufsloser Selbständiger übergeführt
worden. Wie im nächsten Abschnitte noch ausfuhrlicher erörtert
werden soll, verblieben nämlich in der Stellung von Familien-
angehörigen ohne eigenen Hauptberuf
von je 100 Personen
mSanlich
.weiblicfa
hl der Altersklasse
1895
1882
«895
1882
unter 20 Jahr . . .
77.19
8l»l9
83.16
von 20 30 Jahr . ,
3,37
53.10
o,«5
0,62
74.34
76,82
„ 40—50 „ . .
0,68
Oi55
70.95
72.85
., 50—60 „ . .
0,08
«.4«
63- »4
65.28
„ 60 — 70 „ . .
6.83
55.34
60,22
„ 70 Jabr V. darüber
10,58
23^2
46.94
55.62
Wir seilen olsn, rlals in den entscheideiuleii Alterslvlasseii auch
niclil mehr I Prozent der Miinner, wohl aber bei weitem die
grühere Hälfte der 1 r iueii zum Eintritt in den Erwerb vt-rfÜL^bar
bleibt. Die<;es eine rro/erit der Männer besteht wohl haupt^arlilich
aus solchen, die durch j»hy>ische, [^eistij^'e otler moralische ' ie-
brechen von der Bei utsarbeit ausj^eschlossen sind. Alle Männer,
die n)an üljerhauj'i brauchen kann, halben einen Beruf. Die Ar-
beitsnachfra^c hat das Anj^ebot an männlichen Arbeitskräften fast
«rän/h' Ii erschöplt. Sie hat ferner die ju^^cndliciien Altersklassen
stärker heran^e/o^an : der Prozentsatz der Pamilienangehörigen unter
20 Jahr ist erheblich zurückgegangen. Aber auch das reicht nicht
aus zur Deckung des vollen Arbeitsbedarfes: es mulste auf das
weibliche Geschlecht gegriffen werden, welches noch die gr5(stea
Reserven an arbeitsfähigen und bislang erwerblosen Familien-
angehörigen enthält Wenn also die weiblichen Erwerbthätigen
seit 1882 um 1036833 zugenommen haben, so ist dadurch keines-
wegs das männliche Arbeitsgebiet eingeschränkt worden. Nachdem
das gesamte männliche Arbeitsangebot thatsachiich erschöpft war»
ist diese Million Frauen vielmehr notwendig gewesen, um den dem
>) Vgl. den XIV. Bd. dieses Arcbivs S. 269 f.
Digiiized by Google
Die Berufs« und Gewerbetihlang im Oeutscben Reich vom 14. Juni 1895.
Ljegcnwärtif^cn Staiule der Terhnilc und Arbeitsor<:janisation ent-
sprechenden Arbeitsbedart der dcuiachen Volkswirtschaft zu decken.*)
') Ich nclime also an. i]:ifs der Arbeitsbedarf der aufblühenden deutsche n
Volkswirtsrhatt sich rascher entwickelt habe als der Narhwurh«;, und dafs dadurch
die Frauen in beschleunigtem Tempo der F,rwcrl)thäti^k« it zugeliihrt wurden. Gegen
diese Auffaitsuug kunnte die Thatsache der Arbeib>losigkeit eingeweDdet werden,
deren Umfiuig dnrch unsere Erhebung sowie durch die Volksiählung vom a. De«
Mmbef 1895 fcftgestellt worden ist. Ln HinbUcke auf die erschöpfende Behandlung,
welche die Arbeitaloaenfrage in dieser Zeitschrift bereits durch Prof. Schanz erfahren
hat, ist es nicht meine Absicht, mich aosführlicher öber die eintchligigen Z&hlnngs>
eigebnissc zu verbreiten. Ich beschränke micl) daher darauf hervorzuheben, dafs
aus dem durch diese lu iden Erhebung '» festgestellten Umfang d« r Arbeitslosigkeit
keineswegs auf eine (Luit-rnde Ueberfiilhiii^ riclT auch nur auf die Siittinung des Ar-
beitsmarkts geschlossen werden kann. Aus anderen Ursachen als wegen Krankheit
waren arbeit&loü am 14. Juni 1895 179004 und am 2. Dezember 1^95 553640 Ar^
bdtndimer. Die ersteren machen 1,1t, die letzteren 3,43 Prozent aller Arbeitnehmer
ans. Zunächst ist zu berOdcsichtigen, dafs sdion die absoluten Zahlen aus den im
Zfthlnngswerke angeflihrten Gründen, die ich fltr vollkommen zutreffend halte;, eher
sn hodi als zu niedrig ausgefallen sind. Dann bringt es der Umstand, dafs es an einer
umlassenden Organisation des Arbeitsmarktes fehlt, mit sich, dafs immer eine gewisse
Anzahl von Arbeitsuchenden /.eitweilig arb< itslos ist. Mag auch im grofsen und ganzen
die Nachfrage noch so sehr üV)er das An;;i bMt überwiegen, es giebt (]o< h immer rück-
läufige Gegenden und Herufe, in weichen das Gegenteil der Fall ist. Die Ab-
gleicbung durch Wegzug oder durch den Uebergaug zu aufstrebenden Berufen kann,
wenn ftbcrhaopt, dodi nur gana aUmihlich erfolgen. Schon deswegen wird immer
ein Teil der Arbdtndmcr von einer Momentaufnahme auf der Arbeitssuche ent»
dedtt werden. Dasu kommt noch dn Umstand, der bisher noch nicht berflcksichtigt
worden ist, dafs n&mlich manche, die sich als arbeitsfShig bezeichnet haben, es
sicherlich nicht sind. Sie halten sich zwar dafür, vermögen aber den Anforderungen,
nicht 7u entsprechen, die an einen Vollarbeiter gestellt wenlen. Die .Arbeitslose»
sind eben in gewi>^eni Sinuc die .\usle-,c der Untauglichen. Wird das Alles berück-
sichtigt, so wird man I Prozent Arbeitslose »elbsi zur Sommerszeil eher als ein An-
zeichen starker denn schwacher Arbeitsnacbfrage anselien. Aber die Winterzäblung
lut 3,43 Procent Arbeitslose e^ebenl Und sie hat die Arbeitslosigkeit nicht an
ihrem Höhepunkt erfafst, der wahrscheinlidi in den Febraar fiQUI Dennoch kann
idi darin keinen entscheidenden Einwand gegen meine AuHfossung erblidcen. Dens '
Arbcitslcsigkeit zur toten Zeit ist eben ein wesentliches Merkmal aller Saisongewerbe.
347 5' 7 "^OD den am 2. Dezember 1895 ermittelten 5 53 640 Arbeitslosen gehören den
5 Bcrufsgnjppen : Landwirtschaft und Gärtnerei, Industrie der Steine und Erden,
Baugewerbe, \'crkehrsgewerbe, Beherbergung und L n iviirkung an, welche ausge-
sprochene Saisongewerbe sind und im Winter ihre n t Zeit haben. Ueber drei
Viertel der Differenz gegenttber der Sommcrzäblung cut fallen auf diese 5 Berufs«
Digitizeü by üüOgle
338
II. Kauchbcrg,
Die Erweiterung der Frauenarbeit war — Technilc und Arbeüs-
oi^ntsation als ^'c^cben vorausgesetzt — eine volkswirtschaftliche
Notwendigkeit Wie sie sich im Einzelnen durchgesetzt hat und
zu beurteilen ist, soll späterhin auf Grund des vollen Ziffern*
materials dargethan werden. Aber es schien mir zweckmaTsig einer
naheliegenden falschen Auffassung von vornherein vorzubeugen«
Darum habe ich den methodolc^isch allein richtigen (Gesichtspunkt
für die Verwertung der Zahlungsergebnisse schon jetzt aufgestellt
Nunmehr können wir in der Vorführung der Thatsachen fortfahren.
Berücksichtigen wir dabei zunächst nur den Hauptberuf, so
werden Umfang und Zunahme der Frauenarbeit sowie ihr Verhältnis
zur Männerarbeit nach den grofsen Benifsabteilungen in der nach-
stehenden Uebersicht veranschaulicht:
gruppen. Dafs die tote Zeit soviele Hinde feiern madit, iit cvdfelsohiie da be>
klacenswerter Mifsstand, der möglidist sa beheben and in lindeni ist Aber «nf
eine danernde UeberfltUmg des Arbeitsnwrktcs kum d«mns keineswegs snrOdige-
scblosscn werden. Vom Standpunkte der Berufsstatistik .lus stellt sich die Sadie
vielmehr folgfndcriii.ifsen dar: Jeder Heruf bestimmt die Z;ild seiner Angehörigen
nach <ieinem H<irhstb<il:irt. Fällt die Krhelumf; in die tote Zeit, so wird sie einen
Teil derjenigen, <li>- aiil^-T Arl eit {^e-vtzt wordt-n sind, bei solchen HeMriuiltigungen
registrieren, zu welchen sie mittlerweile übergegangen sind, einen anderen Teil al>er,
dem das nicht geglückt, bei dem betrefTenden Saisongewerbe als arbeitslos. Aber es
darf dann nicbt ohne weiteres angenommen werden, dafs diese Personen absolnt ftbei^
sShIig sind. Sie sind es eben nnr zur Zeit der Anfnahme gewesen, nicht sn jener
Zeit, in welcher die Arbeitsnachfrsge entscheidend ist fibr die Bemfswahl und Bc-
rufszQgehörigkeit Wenn in dieser kritischen Zeit das männliche Arbeitsangebot
nicht ausreicht und Frauenarbeit tecliniscli zulässig und verfügbar ist, so werden
eben Frauen eingestellt, W(nnt,dt irh die Reduktion während der toten Zeit auch dir
Männer betrifft. Da nun ilii- Zahl der Berufszugehörigen von dem normalen Arbeils-
bcdarf zur Zeit der Saison abhängt, und jede Zählung, insbesondere aber eine
\Vinterzäblung, eine Zahl von Gewerben in ihrer toten Zeit oder doch bei flauem
Geschiftsgang antrifft, so dttrfen ihre Arbeitslosen keineswegs anch ak absolnt über-
sählig angesehen werden. Vielleicht sind sie es, vielleicht reichen sie nicht einmal
zur Deckung des normalen Arbeitsbedarfs bei vollem Betrieb voS. SSeitwdlige Ar>
beilslosigkeit ist also gans WOhl vereinbar mit einem solchen durchschnittlichen
Uebergewicht der Arbeitsnach frage über das Angebot, dafs zur Deckung des vollen
Bedarfs Fr.iu< n in erhöhtem Miifse herangezogen werden \'n<\ da« i;-t thaf^Hchlich
der Fall ^'cwc-cn. l'eber eine Million neuer Arbeitsplätze sind wäiirend des Zeit-
raumes zwischen beiden Berutszählungen von 1882 und 1895 neu geschaffen worden,
fttr welche der männliche Nachwuchs nicht mdir auslangte. Diese Plätie sind es,
die von einer Million Frauen besetst wurden.
DigiiiztKj by Google
Die Berufs- und Gewerbezählung im Deut:>cben Reich vom 14. Juni i!^5.
Weibliche
Zmuhme
VonieoEnrerb>
ErwerbthSttee
seit i88a
thättgen sind
wcihlicli
absolut Prozent
absolut
Prozent
1S93
1882
A I .aiul\virt>chaft . . .
2753154 41,85
218 245
8,61
33.20
30,78
I 521 1 1 8 23,12
394 142
34.97
•8.37
17.62
C HflMfel nd Verkehr .
57960S 8,Sl
381498
94.43
24.79
1S.98
D Hinslicbe Dienste etc.
»33 Ws 3,56
50029
i7,ai
54.07
46.S4
E Oeflentlicher Dienst .
176648 2,69
61376
53»a4
»3,39
>i,l8
G Dienstboten*) . . .
1313957 »9,Q7
3« 543
2,46
98,11
_96.78_
zusammen . .
6578350 100
1036833
i8jt
»9.75
29,23
Mehr als 2 l-ünfld der \veil)lirhcn Erwerbthiiti*;cn widmen sich
also der Lanthvirt-^eliafl, fast ein X'iertel j^jehtirt der Industrie an,
ein Fünftel sind Dienstboten.-) Fassen wir das X'erhältnis zur
Mannerarheit ins Auge, so besteht das häuslirhe Dienst|)ei>onal fast
ausschliebilicli aus Frauen und auch von den Dienenden und
sonstigen Lohnarbeitern, tiie nicht im Haushalte des Dienstgebers
leben, ist die cfrnfsere Hälfte weiblich. Weiblich sind ferner ein
Drittel der l^erufsthätigen in der Fandwirtschaft, ein X'iertel im
Handel und X'erkehr, nahe/.u ein I-ünftel in tler Inclustrie und ein
.Achtel im ötientlichen Dienst und den freien iierufen. In .sämt-
lichen Herufsabteilungen haben die erwerbthätigen hiauen raM.her
zugenommen als die Männer j am raschesten im Handel und Verkehr,
woselbst »e nunmehr fest doppelt so stark auftreten wie 1882.
Aber auch im öffentlichen Dienst und freien Beruf betragt ihre Zu-
nahme mehr als die Hälfte, in der Industrie mehr als ein Drittel
des Standes von 1882. In der Landwirtschaft % sowie bei den
häuslichen Dienstboten') ist der Rückgan«^ an männlichen Ail>eits-
kräften au%ewogen worden durch die Einstellung von weiblichen.
Demzufolge ist in sämtlichen Beru&abteilungen der Antheil der
Frauen den Männern gegenüber gesti^en. Am stärksten tritt die
Verschiebung in der Abteilung D häusliche Dienste etc. zu Tage;
hier wird sie jedoch zum Teil durch formale Momente bedingt, in-
dem die genauere Berufsbestimmung bei der Aufnahme von 1895
insbesondere die Gruppe der männlichen Lohnarbeiter gelichtet hat.
'1 In (Irr Hau>h:iUinif^ d< s Dienstgebers lebend.
^1 ücber die entsprechende Gliederung der Gesamtbevolkerung vgl. den Xl\'. Hd.
S. 275.
^) Vgl. ebendaselbst .S. 276.
^) VgL oben S. 134 dieses Bandes.
Digitized by Google
340
H. Kauchberg,
Auliserdem ist das Prozentverhältnis auffällig zu gunsten des weib*
liehen Geschlechts verschoben worden im Handel und Verkehr so-
wie in der Landwirtschaft VerhältnismäTsig geringfügig ist der
Fortschritt der Frauenarbeit gegenüber der Männerarbeit in der In-
dustrie, obwohl hier die Frauen um mehr als ein Drittel des
Standes von 1882 zugenommen haben. Allein die männlichen Bc-
rufsthätigen haben sich hier fast im gleichen Tempo vermehrt, so
dafs ' das Prozentverhaltnis der beiden Geschlechter nur unwesent-
lieh verändert erscheint.
Bevor wir den Anteil der werkthätigen Frauen an den einzelnen
Berufi^ruppen und -Arten untersuchen, will ich auf die bedeutenden
Unterschiede in ihrer sozialen Stell un*^' den Männern gegenüber
hinweisen. Srhon die Berechnungen auf S. 612 des XI\'. Bandes
haben darauf hingedeutet Wir fanden, unter je 100 berufthätigen
Münnern Frauen
Selbständige 3I|34 23^2
Angestellte 4,14 0^81
Arbeiter 64,52 77,17
Die unteren sozialen Schichten überwiegen demnach bei den
erwcrhlhäligen PVauen noch mehr wie bei den Männern, und ihre
relative Verstärkung den oberen gegenüber Hat seit 1882 hier noch
rascliere Fortschritte gemacht Frauenarbeit hat äbcrwi^end prole-
tarischen Charakter.
Die Anal)^ der Daten über die Arbeiterinnen läist diesen
Charakter noch deutlicher zu Tag treten. Es wurden nämlich er-
mittelt
weibliche ErwerbthStise Zwatimt seit l88a
absolut
Prosent
absolnt
Prozent
117«44S
9a3«4
8.55
54042
0,82
39830
123,20
häusliche 1 )icii5tl>oten ....
1313957
10,97
3>543
»,46
iiiittlKitijic Kaniilii naiigchörige .
sonstige Arbeiterinne» ....
1 158944
2 87c) Qb2
17.62 \
43.7S '
883146
«7,99
zuä^iiQ Ilten .
0575350
100
1 036833
lS,7l
Diese Ziffern legen es uns nahe zu versuchen, ob sich nicht
der Umfang der proletarischen Frauenarbeit der büi^rlichen gegen*
über exakt al^enzen lafst. Rechnet man zu dieser die Frauen, die
als Selbständige oder Angestellte thätig sind, zu jener der Arbeite-
rinnen und häuslichen Dienstboten, so gehören 1,7 Millionen Frauen
Digitized by Google
Die Berufs* und Gewerbezihlang im Deatuchen Reich vom 14. Juni 189$* 341
oder 18,0 Prozent den bür«j;crlichen, 4,0 Millionen oder 8i,i Prozent
den proletarischen Kreisen an. Allein eine derartii^e Sciieidun^ wäre
voreilig. Ich habe schon im \'. Abschnitte dar^ethan, dafs man die
statistischen l iUi r>rheidiin^en dc^ Arbritsratv^'cs nicht schlechthin
den sozialen KatcL^oricn «^gleichstellen darf. Das ^^Wi <^anz insbe-
sondere von der Frauenarbeit. Unter den Selbständigen befinden
sich hier zahlreiche I-Vauen von ausgesprochen i>roletarischcr Lebens-
führung — man denke nur an die Lage der Näherinnen — , und
andcrtrscils stehen zahlreiche Arbeiterinnen aulserhalb der prole-
tarischen Kreise und ihrer sjtc/iti^chen Interessenorganisation. 1,3 Mil-
lionen häu^liche Dienstboten und 1,2 Millionen mitthätiger Familien-
angehöriger, zusammen 2,5 Millionen oder 37,6 Prozent aller crwerb-
thätigen Frauen leben und arbeiten im Hause und im FamUicnvcr-
bände. Allein das Haus ist den Dienstboten ein fremdes und die
Lage der gesamten Familie mag häufig eine wenige glänzende
sein.') So stehen sie doch wenigstens mit einem Fufse auf prole*
tarischem Boden.
Nach Berufsabteilungen ist die soziale Stellung der Frauen die
folgende:
Weibliche Erwerbthitige in
A Landwirt- B In- C Handel, und E Ocffentl.
Wirtschaft dusthe Verkehr Dienst u. freier
Beruf
absolut I'ro/,.*! absolut Proz.-) absolut Proz.*) absolut Proz.-;
Selbstindige . . 34*^^99 3,27 519492 7,90 202616 3,08 102438 1,56
Ai^iestellte . . 18 107 0,28 9334 0^14 Ii 987 0,18 14624 0,2a
Mitthätige Fsuni>
lienangchörige . 10J0443 15,51 43974 0,67 94527 1^44]
Sonstige Arbeit^. 595*6 0,91
rinnen . . . 1 367705 20.79 «»48 328 14,41 270478 4, 11 )
zusammen . . 2753154 41,85 1521 i 18 23,12 579608 8,Si 176648 2.69
Das Hauptgcbiet der weiblichen Fainilicnarbcit ist die Land-
wirtschaft; sie umfafst über eine Million niitthäti<,'c weibliche Fa*
milienangcliörif^e. Das ei-^'cntliche Objekt der ])rnl et arischen Frauen-
frage bilden die 2879962 iamilienfremden Arbeiterinnen, von
welchen die gröfsere liiUfte hinwiederum als ungelernt gelten
muls. 1367705 sind landwirtschaftliche, 948328 sind industrielle
'j den LVberblick über die soziale Schichtung der gesamten Bcvölkenxng
im XI. Ab^^hnitt S. 140 (T.
^) Frozentanteil an der Summe sämtlicher weiblicher Erwerbthätiger.
Digitizeü by üüOgle
342
U. Rauchberg,
Arbeiterinnen. Mit «Icn mitihciiii^^^cn I'aiiülii'nanL^chöri^'eii erreicht
die Zahl der Arhi itrnuiu n in lU-r Imiustrii- iialu /u eine Million;
sie bcträ^^t 9i")2,3oJ und hat seit 1882 um 447 073 oder 82 Pro-
zent, also aulscrordentlich rasch zugenommen. Ist es auch unmög-
lich, auf Grund der vorliegenden Materialien, selbst wenn man auf
das Detail der einzelnen Benifsarten ein^in^e, die genaue Grenze
zwischen der bürgerlichen und der proletarischen Frauenarbeit ab*
zustecken, so kann doch kein Zweifel darüber bestehen, da(s das
Gebiet dieser letzteren das ganz unvergleichlich grofsere ist.
Schon bei der Analyse der einzelnen sozialen Klassen im VI. Ab-
schnitte dieser Untersuchungen habe ich darauf aufmerksam gemacht,
dafs sich die soziale Stellung der selbständig berufsthätigen Frauen,
nach dem Betriebsumfang beurteilt, wesentlich anders darstellt wie
jene der Männer. Halten wir an den dort gemachten Unter«
Scheidungen der sozialen Klassen der Selbständigen fest'), so and
weiblich von je 100 Selbständigen
Soziale Klassen nach der Land» der Industrie der Haus> des Handels and
dcnGröfsenkatcgorien Wirtschaft für eigene Industrie Verkehrs
der Betriebe '} An Rechnung
I .^3-71 31.74 5 ».73 32.88
n lo.us 7,Sfs 13,73 13.7«
ni 7,40 7,5- if^os 7.06
IV 6,08 5,06 12,08 5,48
V 6,23 3,08 — 4.29
VI 6,11 _ 1,61 - —
zusaromen 13,44 21,70 44,58 33,81
\'on (.Uli Inhabern tlcr Bttrichc klciiisier Katct^oric ist also
rund ein Drittel, in der Hau>inilu>ti ic so^^ar tlie j^röfscre Hälfte
weiblich. IIinjj;c<;cn nimmt (lic Bctcilii^inii^ des wcibliclien (tc-
schicciil.s mit aufsteigendem Betriebsumfang ab. L'nbedeuiciide
1) VgL den XIV. Bd. dieses Archivs S. 6ao, 625 und 628.
*) Die Abstafnngen der Gröfsenkategorien sind die folgenden:
Landwirt-
-Iii-' für
Haus«
Handel und
scliaft
eigene Ki-v hnunj^
induslrir
Verkehr
ba
Betriebe
mit I'ersoncn
I
unter 2
1
1
t
II
2— 5
a- 5
2— 5
2— 5
ni
S- 10
6 — 10
6—10
6—10
IV
10— 50
io— 20
üb.T 10 .
1 1 — 20
V
50 — 100
21 —100
über 20
VI
100 u. mehr
über 100
uiyiiizeo Dy GoOg !
Die Berufs- und Gcwerbcülilung im Deutschen Reich vom 14. Juni 1895. 343
Ausnahmen bestehen nur in der Hausindustrie und in den beiden
obersten Gröfsenkat^^orien der landwirtschaftlichen Betriebe, hier
wegen des Einflusses ererbten Besitzes. Jedenfalls ist das Schwer-
gewicht selbständiger weiblicher Erwerbthätigkeit durchaus in den
Betrieben kleinsten Um&ngs gelegen. Sie umfassen in der Land-
wirtschaft 52,24, in der Industrie für eigene Rechnung 85,91, in der
Hausindustrie 94,15 und im Handel und Verkehr 76,21 Prozent der
selbständig erwerbenden Frauen jener Berufe.
Die Ergebnisse der Beru£szählung über die Frauenarbeit werden
ergänzt durch zwei weitere Quellen: durch die Angaben der ge«
werblichen Betriebsaufnahme über die Verwendung von
Frauen und durch die Mitteilungen der Gewerbeaufsichts-
beamten über die Fabrikarbeiterinnen. Genauer als die Berufs*
Statistik für sich allein es vermöchte, unterrichten sie uns über die
Arbeitsstellung der Frauen.
Von den einschlägigen Ergebnissen der Gewerbezählung
werden die wichtigsten in der nachfolgenden Uebersicht *) zusammen-
gestellt.
Von jr Auf die ncbcn-
Stellung Ucwerbthätigc loo Ge- bezeichneten
des Personen werbthK* Stellangen cnt-
Gewerbepersonals tigensind IsUenvon je 100
mSnnlich
weiblich
weiUidi Uännern
Frauen
Inhaber Wn Alleinhetrifbrn
1 US US
589226
34.4
50.0
84,4
„ „ Gfhilfcnbctrifbcn .
I 125 528
108942
S.S
50,0
15.6
mit bis zu 5 I'ersonea .
910 850
96817
9.«>
40,5
I3'9
-io „
156 729
10742
Ö.4
6,9
j I u. niphr „
57049
'383
2,3
2,6
0,2
rntcrnrhiiit r üln rhaupl .
2250653
698 168
237
100
100
Vorwaltunfjsptrsonal . . , .
14S16
72.9
84,4
Tei I1111-.V ii< s Aufsichtsprrsoiial .
1 I 7 Oh_^
2734
2.;>
-7,'
15.6
Angestellte überhaupt ....
431 394
'7550
3.9
IOC
100
Gc-hilfcn und Arlx iti-r . . .
3 205 700
I 208 967
19,6
99,2
78,2
127 798
21,8
8.7
7.9
erwaclisene ....
4 74(>757
1 141 169
»9,4
90,5
70.3
Mithelfende Familienaogehörige
42137
354640
89.4
0,8
213
jugendliche ....
S43I
10938
66.S
0,1
«»7
erwachsene ....
3671«
3437^«
_90,3
_ 0,7 _
ai,i
"5*47897
1 623607
«3.6
100
100
.Smnne d. gcverbthitigen Pen.
7929944
»3393*5
23,8
') Vgl. Statistik des Deutschen Reichs. Nene Folge, Bd. tt9 S. 80.
Digitized by Google
344
H. Kauchberg,
In den Betrieben, auf welche die Gewerbezahlung sich er-
streckte waren demnach 2339325 Frauen gewerbthättg ; sie
machen 23,8 Prozent des gesamten gewerblichen Betriebspeisonals
aus. 1882 waren davon nur erst I 509 167 oder 20,6 Prozent weib-
lich; die Zunahme beträgt daher 830158 oder 55,0 Prozent Sie ist
relativ rascher erfolgt als jene der Männer, bleibt aber, absolut ge>
nonimen, erheblich dagegen zurück, indem das männliche Betriebs-
personal um 2098322 oder 36,0 Prozent sich vermehrt hat. Die
Arbeitsstellung des weiblichen Betriebspersonals war die folgende:
gewerbtUU^t« Fmnen in Prawntco
1895
188a
t89S
1883
Unteinehmeiiiuien
698x6s
71 1856
29,8
47.2
Angestellte . , .
17550
4948
0,8
ArbeUerianen . . .
. 1 623 607
792363
69,4
5a,5
Es haben demnach die Unternehmerinnen um 13688 oder
1,9 Prozent abgenommen, hingegen die Angestellten um 12602
oder 254,7 Prozent und die Arbeiterinnen um 831 244 oder 104,9
Prozent zugenommen. Die Verschlechterung in der Arbeitsstellung
der weiblichen Gewerbthätigen ist in Wirklichkeit nicht so arg, als
nach diesen Zahlen angenommen werden müGste, indem nur die
Inhaberinnen von — überwiegend proletarischen — Alleinbetrieben
al^enommen, die Inhaberinnen von Gehilfenbetrieben aber zuge-
nommen haben; relativ sogar sehr erheblich. Es wurden nämlidi
gezählt
Inhaberinnen 1895 1882 Zo- bzw. Abnahme
von AlU-inbetrii bon . , , 589226 634 194 — 7,1 Prosent
von Gebilfenbctrieben . . 108942 77662 -\- 40,3 „
Trotzde.m steht, wie die Tabelle auf S. 343 erkennen läfst,
kaum ein Sechstel aller weiblichen Unternehmer Gehilfenbetrieben
vor; 844 Prozent derseben sind Inhaberinnen von Alleinbetrieben,
und ihnen gehört mehr als der dritte Teil aller Alleinbetriebe,
21 223, mehr als ein Fünftel aller Inhaberinnen von Alleinbetrieben,
gehören übrigens der Hausindustrie an. Mit wachsendem Betriebs*
um&nge nimmt sodann der Anteil der Frauen an der Unternehmer-
Stellung rasch ab.
Bevor ich die Gliederung des weiblichen Hilispersonals be-
*) Vgl. hinsichtlich der Art imd Weise der Erhebung den erütcu Hauptteil
dieser UntersnchoDgen im XIV. Bande des Archivs für sociale Gesetzgebung und
Statistik S. 250 ir., hinsicbtlich der materiellen Ei^ebnisse aber den vierten Hanptteil.
Digitized by Googl<
Die Berufs- und Gcwerbc^ählung im DculMrJu-n Reich vom 14. Juni 1895.
Spreche, sind noch die absdiuten Zahlen Über die Besetzung der
einzelnen Gewerbeabteilungen mit weiblichen Grewerbthätigen nach-
zutragen. Es wurden deren ermittelt
in den Unter*
Gewerbeabteiinngen nehmerinnen
A Gärtnerei, Tierzucht, Fischerei ... 1571
B Industrie einschl. Bergbau u. Baugewerbe 503875
C Handel and Verkehr einachL Gut* und
Schankwirt&cbaft 193723
Ange*
stellte
18
9 SM
Arbeite-
rinnen
17117
1044963
8030
561 528
Während die Betriebsinhaberinnen abgenommen haben, und die
Mitwirkung der Frauen als Angestellte sich noch immer in sehr engen
Grenzen hält, sind als Arbeiterinnen in den von der Gewerbe-
zählung erfafsten Betrieben 1623607 Frauen — 23,6 Prozent des
gesamten Arbeitspersonak — thätig. Ihre berufliche Qualifikation
weicht von jener der Arbeiter insofern ab, als die mithelfenden
Familienangehörigen bei den Arbeitern auch nicht I Prozent, bei
den Arbeiterinnen aber mehr als den fünften Teil ausmachen.
Immerhin ist aber auch von dem berufemälsig ausgebildeten Ar»
beitspersonal nahezu ein Fünftel weiblichen Geschlechts.
Für den Anteil der Frauen an dem Arbeitspeisonal ist auch
die Grofee der Betriebe von Belang. Es sind nämlich weiblichen
Geschlechts
•
in Betrieben mit
in Jen
bis 5
6—20
über 20
Gewerbeabteiiungen
P e r s 11 II n
von je
100 bcrut.-.niaisigen Arbeitern
14*3
25,6
29.9
«,9
19.9
C Handel und Verkelir . . .
44,0
34/>
no,»
im ganzen ....
18,9
19,5
ao,o
von je 100 mitarbeitenden FamilienangebÖiij
76,5
85,6
«5,7
H Industrie
84,4
77.9
44,a
C Handel und Verkehr . . .
92,9
85.0
79,7
im ganzen ....
90,3
82,0
56,0
In der Industrie nimmt bei steigendem Betriebsumfimge der
Prozentanteil der Frauen an dem beruismäfsigen Arbeitspersonal zu,
an den mitarbeitenden Familienangehörigen ab. Im Handel und Ver-
kehr fallt die Quote der Frauen durchaus bei steigendem Betriebs*
umfang. Die eigentliche Stätte der weiblichen Familienarbeit ist
ArcMv für sei. GeMUcebunc n. Sutistik. XV. 33
Digiiized by Google
346
H. Rauchberi;,
der Kleiiihciricb, wo^^cL^en die berufsmässigen Arbeiterinnen in den
industriellen Groisbetrieben relativ am stärksten hervortreten. Im
ganzen entfallen von den beruDsmälsigen Arbeiterinnen
auf Betriebe absolut auf je loo Minaer
mit weniger als 6 Personen .... 306956 23,35
„ 6—21 „ .... 3S2588 20,41
„ 21 und mehr „ .... 729433 31|I7
Die grö(sere Hälfte der berufsmafsigen gewerblichen Arbeite-
rinnen steht demnach in der eigentlichen Fabrikindustrie. Nach
den Mitteilungen der Gewerbeaufsichtsbeamten zählte
man 1892 649668 Fabrikarbeiterinnen, 1895 aber deren 739/55
und 1897 bereits 822462. Die AiiL^aben der Gewerbezählung und
der Gewcrl^eaufsichtsbeamtdn über den Umfang der Frauenarbeit
in Fabriken stimmen im grofsen und ganzen überein. Dn- i-i -ehr
wertvoll; wir wissen nunmehr, dafs wir durch die jährhchen Be-
richte der Gewerbeaufsichtsbeamten wirklich in zutreftender Weise
unterrichtet werden über die Zahl und Zunahme der Fabrikarbeite-
rinnen, über ihre Verbrcitunjf nach Gewerbegruppen und ihre
Gliederunj^ in Jugendliche und hrwachsene. ' I
Kehren wir nach dieser kleinen Ahsrhwcifung wieder zur He-
ruf'-slatistik zurück, so wird ein genauerer Hinblick in die l a werb-
verhältnisse der l'r.iueri tlureh die l nler>uchung nach Berufsgru] ipeii
und Berufsarten eröffnet. Nach*Heruf> g r u | > ] > e n erteilt zunächst die
folgende rcher-icht Auskunft über die Gliederung und Bewegung
der Frauenarbeit :
Siehe die LVbersicht auf S. 347,
Sowohl hinsichtlich der absnhiU'ii Zahl der weiliHelien Erwerb-
thäti'jen auch hinsiclulicii iiires X'erhältnisscs /vi den Männern
ragen am meisten herxor die Beruf>gruj)j)en : Landwirtschaft, Be-
kleidung und Reinigung, Textilindustrie, Handelsgewerbe, Gast- und
Schankwirtschaft, Nahrungs- und Genufsmittel. Jede dieser Gruppen
umfafst mehr als lOOCXX) Frauen mit ihrem Hauptberuf. Zusammen
beschäftigen sie 94,53 Prozent aller in den Beru&abteilungen A — C
hauptberuflich erwerbthätigen Frauen. Im Gast* und Schanl^ewerbe
ist die gröisere Hälfte der Erwerbthätigen weiblichen Geschlechts,
nahezu die Hälfte ist es in der Industrie der Nahrungs- und Genufs-
mittel sowie in der Textilindustrie, in der Landwirtschaft Jedoch ein
>l Vl;1. die alljiihrlichen Uebersichten im Statut. Jahrbuch fttr das Deutsch«
Reich. ZuleUt ao. Jahrg. 1899 ^- 4>«
Digitized by Google
Die Berufs- und GewerbciShlung im Deutschen Reich vom 14. Juni 1895. y^j
Zahl der
Za>,
oder
Von je 100 Er-
weiblichen
Abnahme ( — )
werbthStigcii
Berufsgrnppen
Erwerb»
seh
1882
sind weiblich
thätigen
absolut
Prozent
1895
1882
I. Landwirt vcliaft ctc
2 745 840
214214
8,46
33.67
31.18
II. Forstwirt siluilt iincl i'isdiorei .
7314
403«
'22. 78
5.35
2.S3
III tttTgbau und HuUcnwoscn .
15577
710
4,78
2,74
3.37
39555
18697
89,64
7,S9
6,29
V. Metallverarbeitttiig . . . .
36210
1695a
88,03
4.«>
3.64
»«5>3
739»
3,35
1,80
VII. Chemische Industrie . . . .
14731
8313
»«9,73
«4,30
11,14
4388
1691
65,»!
9,97
8,41
427961
104 iSi
32,18
45,28
38.05
X. Papierindustrie
39 222
1 3 2C.4
50,75
28,87
28,65
XI. Lederindustrie
10023
3S22
61,64
4.80
XII. Hol/- und SchnitzstoH'e . . .
30346
4 3<>7
16,81
4,09
4,9s
XIU. Nabrungs- and Genufsmittd .
«40333
74951
114,64
15,98
9,86
XIV. Bekleidung und Reinigung
136504
23,68
47, la
13873
7618
121,81
1,03
0^66
XVI. Polygraphische Gewerbe . .
14958
8153
119.78
>a,54
9,77
XVn. Künstlerische Gewerbe . . .
1 9S2
986
99,00
6,99
4,»7
XVni. (Jcwerbl. Pers. ohne nähere Bes.
'» 536
"I3397
—67,21
21,82
21.85
XIX. Hnndels<:«nverhe
29') S29
1 2,\ ! t>S
70.69
24. S8
2o,S6
XX. \ ersirht run;,'si^< wrbc
4S9
61 1,25
2,24
0,69
17700
3591
2,89
3,24
XXII. Beherbergung und Erquickung
261 450
153250
141. (.4
53,07
38.72
zusammen
4853880
893885
22.57
25,f'7
24,44
Drittel. Von den Bcrufr^i^ruppcn : Gewerbe ohne nähere Bezeich-
nun'^^ Rerf^bau und I lüttenwe.scn, 1 lolz- und Schnit/stofic und \'cr-
kclirsL^cwerbe abgesehen, haben die Frauen in sämtliclien Bcruf.<-
^'riipjH'n ra.scher /.uj^enoiiinicn als die Männer und erscheinen daher
nunmehr mit höheren Prozentsätzen \ errreten. .\bsolut abgenommen
haben sie nur in der ersterwähnten ( iru|)pe, wegen der genaueren
Berut>anj^abe bei der Zälilun»^ von 1895.
l'ntersuchen wir die Bethätit^ainfr flcr Frauen nach einzelnen
Berufsarten, so ist zunächst die Frage zu beantworten, in welchen
Berufen tlie bVauen hauptbächlich beschäftigt sind. Sie konzen-
trieren sich der absoluten Zahl nach auf \ ei hahiu.>inar>ig wenige
Berufe. Unter den 207 Berufsarten, welche die Berufsstatistik unter-
scheidet, giebt es nur 32, worin mehr als 10000 Frauen ihren
Haupterwerb finden. Diese umfassen zusammen 4956821 weibliche
Erwerbthätige oder 94,16 Prozent, so dafs auf die übrigen 175 Ikrufe
33*
Digitized by Google
34»
H. Kauchberg,
nur 307 572 oder 5,84 Prozent ent&Uen. Die Benifsarten mit mehr
als 25000 weiblichen Erwerbthat^en sind:
Weibliche
Erwerbtbätige
Berttfsarten
unter 100 Erwerb*
absolut
33»93
T< f 1 1 >• r 1 *^ n
9$tn o^sf
i w ..11' u- UHU 1 ruuuKiciiiiaiiui. 1 ,
2 / 0 1 4
C 22 Hcht'rberjjuDj^ und Enjuickung .
261 4^o
53.07
, 1 82 7^9
7Ö-9J
177434
4OJ5
119515
Äff 1 4
95» »3
100055
58.36
F. 5 Gciundlicikptlege
75327
61.67
E 4 I.rziohung und Unterricht . .
73207
3 «.47
60 4S5
47.36
D 2 Lohnarbeit wechselnder Art
51 096
25.43
B 74 Strickerei und Wirk«« ...
42461
S3,2a
B lai Kleider- und WSscbdconfektton
•41361
74.07
32931
95.84
»7586
74,75
Das sind also die 1 laupt^fcbiete der I'VaLRiiarlKMt. Anders ist
die Reihenfolge der Benifsarten, wenn man sie nach dem Verliältnis
der darin erwerbthätigen Frauen zu den Männern grupijicrt. Da-
durch gelangt man zu einer Uebersidit über die spezifischen Frauen-
berufe. In der nachstehenden Uebersicht sind jene 2i Beru&arten
angeführt, in welchen die Frauen über die Männer überwi^;en.
Die einzelnen Berufsarten sind geordnet nach den Verhältniszahlen,
welche die Vertretung der Frauen in jedem einzelnen Beruf aus-
drücken. Um auch einige Anhaltspunkte für die Beurteilung der
Berufsstellung zu bieten, fuge ich die Verhaltniszahlen (Ur die in
selbständiger Stellung erwerbthätigen Frauen hinzu. Die vierte
Spalte enthalt die Verhältniszahlen über den Anteil der Frauen an
den entsprechenden Zweigen des Nebenerwerbs. Und um auch die
Tragweite der Verhältniszahlen richtig beurteilen zu können, werden
in den letzten beiden Spalten unserer Uebersicht die absoluten
Zahlen mitgeteilt, die den Berechnungen zugrund liegen.
'1 Aufwartefrauen, nicht im Hauähaltc dos iJicnstgcber» lebfiul. iJie Zahl der
bei der Hcrrscluifl lebenden wcibUchen Uicnstboten beträgt 1313957; sie machen
98,11 Proaent «11er häuslichen Dienstboten aus.
Digitized by Google
Die Beruls- onU Gcwcrbezählung im Deuuchcn Reich vom 14. Juni 1895.
i i-s
5\ ir% -t-
O 9« 00
>n o «t
« 000-
N
* o
M%
0 ^
c rr
4. -
0
ir,
00
0
5^
VC
^^
;^
«
00
00
m
•e
0
M
«4
5
eo
p»
■0
00
M Ul
e
QO
8
CO
§
2 s ^ 5 2
9k
00
oo_
0
-r
oo_
II
M M 9n
St >S m
00'
«f
cT ~^
00
00 !<.
•0
00
w
00
•0
LT.
q
vO
-t
d"
00
f
-I-
0^
0
oc
00
Q M ^ «« Q^
§*" CO 00 cT i/, I
m u% 00 ro o I 9«
O* O» * 10 «rt •*
0> ir,
00'
-r
\c" — " n" f« -f I 00"
i>« r« ^ — r«. — 1 iO
00 OO 00 M u-k QO
vri
*4
»o «*> —
<8
I"
OC
«Ol
M
«0
t-» — vO t-~000 O O '■l '■'
r-» ir. rO
1^ l>« >C O vO
0
e
e
e
■c
o
^ '5
I
B
3
C
- o
g
e
3
c
te
c
3
3
CS
o
£
1^
3
■f. -J.
0
c
0
"5
C-
K
U
•
i
-0
3
ex
E
•s
k-
>
3
>J
IT)
3 b J3
1
c
9
1
I
I
Digitized by Google
H. K a u c b b c r g ,
In diesen 21 Berufsaiten überwiegen also die Frauen über die
Männer. In 33 weiteren Berufen machen sie zwar nicht die Hälfte,
aber doch mehr als ein Viertel der Erwerbthätigen aus; in 37
Berufen bewegen sich die Verhältniszahlen zwischen 10 und 25 Prozent,
in 30 Berufen zwischen $ und 10 IVozent, während ihre Beteiligung
bei 86 Berufen 5 Prozent der Erwerbthät^en nicht erreicht. Diese
letzteren sind also die spezifisch männliclieii Berufe. Teils sind es
solche, welche eine höhere kcnpcrliche Leistungsfähigkeit voraus-
setzen, teils ist durch die öffentliche Ordnunfr den Frauen (Irr
Zugang dazu verwehrt oder erschwert, teils hält endlich die hand»
werksmärsi<:^e Or>^anisation die Frauen fem. Es fallt auf, dals gerade
in diesen Berufen die — an sich wenio^ zahlreichen — Frauen in
besserer sc^zialer Stellung sich befinden als in solchen, in welchen
sie absolut und den Männern crcfrenüber zahlreicher vertreten sind.
Die P-rklärung ücgt darin, dals die handwerksmälsige Organisation
der Frau in der Regel keinen anderen Platz einräumt, wie den als
Meisterin, der nicht so sehr auf dem Arbeitsrani^e als auf dem Be-
sitz beruht. Damit stimmt auch iiberein, dals hier der Anteil der
F'rauen am Nebenerwerb jenen am Hauptberuf in der Regel ganz
erheblich überragt.
Was die Veränderungen in der Beteiligung der Frauen an den
i iii/(.liK-n Hcrufsarlcn seit 1882 anl)clangt, so sehen wir die Fraueti
aut (kr t an/.en Linie in entbciiiedenem Vorrucken begriti'en. Die
EntwickkuiL: der deutschen X^olkswirtschaft hat die Arbeitscreletren-
heiten rasch vernuhrt, in tlen männiicluii Ixrutcn sowohl wie in
den wcibliciien. Mit der gesteigerten Arbeilsnachfrage hat alier das
Arbeitsangebot nicht bei beiden Geschlechtern gleichen Schritt ge-
halten. Das männliche Arbeitsangebot ist, soweit es die unvoll-
kommene Organisation des Afbeitsmarkt^ gestattet, vollkommen
aufgebraucht worden. Der Nächwuchs männlicher Arbeitskräfte
bleibt hinter dem Bedarf der Volkswirtschaft eher zurück. Hin-
gegen begegnet er noch immer einem überreichlichen Angebot
seitens der weiblichen Arbeitskräfte; aus welchen Ursachen, wollen
wir später untersuchen. Die Frauen drängen also nach Erwerb.
Hinter der Million, die während der letzten Zählungsperiode in
die Berufearbeit eingestellt worden ist, stehen neue Millionen
Frauen, die den Zugang dazu noch suchen. Zunächst wenden ^e
Ohne Militärdienst mid die Untencheidaiig«ii der AbteQimg F, in welcher
wir es ja nicht mit eigentlicher BernfsbethlUgung sn thnn haben.
Digiiized by Google
Die Beruf«- und GewerbMihlang im DeuUchen Keicb vom 14. Juni 1895.
sich dcnjoiiiL^cMi l<L-rufcii zu, welche von altcrshcr das Gebirl der
Frauenarbeit l)ildeii, und schon friiher .ibsoUit oder doch verhälliiis-
nuifsi;^ viel Frauen beschäftigten. So haben die hYaucn zuj^enoniint-n
in lier Laiidwirlschaft um 203 583 oder S,o6 Prozent, im Gast- und
Schankgcwcrbc um 153250 oiler 141,64 Prozent, im Waren- und
Produktenhandel um 122862 oder 83,32 Prozent, in der Konfektion ')
um 86397 ^^^^^ 20,86 Prozent, in häuslicher Dienstleistung um
66295 oder 56,93 Prozent, in der Weberei um 61 750 oder 45,00 Pro-
zent. Das Reservoir dieser renommierten Frauenberufe ist — die
Landwirtschaft etwa ausgenommen — durch ein überaus williges
Angebot bis zum äulsersten Rand angefüllt. Aber ae können nicht
alle Arbeitswilligen und Erwerbbedürftigen aufnehmen: zahlreiche
Frauen wenden sich soldien Berufen zu, welche bisher hauptsachlich
von Männern besetzt waren. Da sie hier nur wenige weibliche Er<
werbthätige vorfanden, so erscheinen die Zuwachsprozente auflallend
hoch. Gegen die Ueberzahl der Männer hat das jedoch nicht viel
zu bedeuten. Der Anteil der Frauen an dem betreffenden Beruf
gegenüber den Männern erscheint dadurch nur unmerklich ver*
schoben. So haben z. B. die Frauen in der Klempnerei und Blech-
wareniabrikation um 3764 oder 234,66 Prozent zugenommen. Aber
auch die Männer sind in dieses rasch aufblühende Gewerbe zahl*
reich eingetreten. £ls hat im ganzen um 82,19 Prozent zugenommen
und der Prozentanteil der Frauen erscheint den Männern gegenüber
nur unwesentlich, um 3,30, verschoben. Oder nehmen wir die
Ziegelei und Thonröhrenfabrikation: 6477 Frauen wurden neu ein-
gestellt, ihre Zunahme beträgt 93,25 Prozent; aber ihr Prozcntanteü
den Männern gegenüber ist nur um 1.66 gewachsen. Und so vor«
hält Cif* sich in den meisten anderen Berufen, wclclie durch rasche
absolute oder relative Zunahme der erwerbthätigen Frauen auf»
fallen. Selbst in den 6 friiher erwähnten Berufsarten, von denen
jede seit 1882 mehr als 50000 Frauen neu cinL^^estellt hat, bleibt
die prozentuale Verschiebung zu Gunsten der Frauen in ziemlich
en-cn drenzen. Die Prozent>ät/e \nn 1895 übertreflen jene von
1882 bei der Landwirtschaft um 2,6o, \u\ ( last- und Schankgewerbe um
14,35, ''1^ W'arcü- und Produktenhandel um 5,26, in der Konfektion um
0.53. in häuslicher Dienstleistung um 7,07 und in der Weberei
um 10,95.
Die Veränderungen der Frauen- und der Männerarbeit in den
') Einscbliclslich Niihcrci und Schneiderei.
Digitized by Google
352
II. Kauchberg,
einzelnen Berufen bewegen sich demnach in der Regel in der
gleichen Richtung. Die Berufe, in denen die Frauen am meisten
zunehmen, haben auch ihre männlichen Erwerbthatigen rasch und
den absoluten Zahlen nach sogar in weit grölserem Um&nge ver>
mehrt Nur zur Ergänzung, zur Ausfüllung der Lücken sind Frauea
herangezogen worden. Auch bei den rückläufigen Berufen erstreckt
sich die Bewegung in der Rcj^^cl auf beide Geschlechter, Die
gleichen rrsachen, welche die Zahl der Männer einschränken, setzen
hier auch Frauen aufscr Arljcit. Allerdings sind die Frauen die
zäheren. Sie halten die Positionen fest, welche die Männer räumen
oder rücken sogar an deren Stelle nach. Seit 1882 haben die £r-
\verbthäti;>:^'en im ganzen in 185 Berufen zugenommen und in 22
Berufen .il)<^enommen. Die erwerbthätigen Frauen sind aber nur
in 14 Berufen zurückj^cgangcn, zumeist in solchen, die überhaupt
rückläufig sind. Zunahme der Frauen verlnindon mit Abnahme
der Männer, also eine Gcgcnbewcgung Ijoidcr 1 icschlechter, tritt in
der Regel in solchen Berufen ein, deren allgeiiKMue T.niye oder
deren Arbeitsbedingungen sich verschlechtert haben. Die Stellungen,
welche von den Männern verschmäht und verlassen werden, weil
ihnen anderwärts lolincmiere Beschäftigung winkt, erscheinen den
' Frauen noch immer begehrenswert. Der nau|)tfall ist schon früher
erörtert worden: es ist dies die l.andwirt.schaft, welche 222 108
männliche Erwerbthätigc an andere Berufe abgegeben und dafür
203583 weibliche Arbeitskräfte neu eingestellt hat, die au> (ier
Kategorie der I"ainilienangeh<)rigen entnommen worden sind. Ein
andere> Beispiel von (legenbewegung bietet das — im g.iu/cn 1 uck-
läufigc — Schuhmachergewerbe. Hier wurden im Hauptberuf gezählt
Erwerbthälige 1895 gegen ^
1895 tSSa 1882
nfinnlich . . 336977 43oSoa — 33825
weiblicb . . 15909 8590 4> 6689
Wenn hier die männliche .-Xrbeit abnininit und zum Teil wenigstens
durch weibliche Arbeit ersetzt wird, so ist dies eine Begleit-
erscheinung der Umbildung des Handwerks zu fal)rikniärsigen Grofs-
betrieben eine rseits und zu verlegter Heimarbeit andererseits. Diese
( legenbewegung ist hoeh'-t iHzeichnend für das Wrhältnis \-on
Männer- und Frauenarbeit überhaupt: Wofern die Frauen nicht
*) Die Berafsxugeliörigeii, einschliefsltcb der FuniUenaiigelidrigen tmd DienendaD
haben is 35 Bcrafsarten dbcenommeii. Vgl. S. 391 des XIV. Bandes.
Digitized by Google
Die Berufs- und Gewerbczählung im Dcutüchen Reich vom 14. Juni 1895.
zum Ersatz herangezogen werden, um jene Lücken auszufüllen, die
das männliche Arbeitsangebot offen gelassen hat, rücken sie in
solche Berufe und Berufsstellungen ein, von welchen die Männer
sich zurückzuziehen im Begriffe stehen, weil sie anderwärts
lohnendere Beschäftigung finden.
Aber noch eine andere Gegenbewegung ist nachweisbar. Ebenso
wie die Frauen in männliche Berufe, dringen auch die Männer in
solche Berufezweige ein, die bisher ausschliefslich oder doch über-
wiegend den Frauen überlassen waren. So haben in der eigent-
lichen Kleider- und Wäschekonfektion *) die Männer um 98 Prozent,
die Frauen aber nur um 49 Prozent zugenommen, in der Putz*
macherei etc. die Männer um 50, die Frauen nur um 28 Prozent
Und zwar tritt die raschere Zunahme der Männer gerade in den
höheren Berufsstellungen, bei den Selbständigen und Angestellten
am auffälligsten zu Tage. Das ist leicht zu erklären: die Um^
bildung dieser und ähnlicher Gewerbe zu kaufmännisch organisierten
und betriebenen Geschäften b^t eine ganze Reihe von Stellen für
die kaufmännische Leitung und den Vertrieb eröffnet, welche zum
grofsen Teil den Männern zufallen, während die eigentliche Her-
Stellung der Waren nach wie vor Sache der Frauen bleibt.
Männliche Berufe werden also immer mehr mit Frauen durch-
setzt, manche weibliche immer ni«-lti mit Männern. Diese (iegen-
bcweiruii'' scheint auf den ersten Blick der ( h uiultendcnz unserer
gesellschaftlichen P'ntwicklung zu widersprechen, welche auf immer
gror>ere Funktioiisdill'erenzierung gerichtet ist. Sollte die Ausbildung
der volkswirtschaftlichen Arbeitsteilung, wie sie sich in der Berufs-
gliederung spiegelt, ni(Mit eine immer strengere Scheidung zwischen
den wirtschaftlichen bunktionen der beiden Geschlechter mit sich
bringen? Und dürfen wir denn nicht erw.irten, die männlichen
Berufe immer ausschliefslicher mit Männern, die weiblichen Berufe
immer ausschliefslicher mit I r.iuen besetzt zu finden? Und nun cr-
giebt die Berufsstatistik das Gegenteil!
Jene Erwartung müfste sich erfüllen, wenn die Grenzlinien der
einzelnen Berufsarten im Sinne der Berufsstatistik in der That
gleichartige technische und soziale Funktionen zusammenfafsten und
ungleichartige trennten, und zwar vorzugsweise jene, worauf die
Scheidung zwischen Männer- und Frauenarbeit beruht Diese Vor-
aussetzung trifft aber keineswegs zu. Wie schon früher hervor-
1) Olme Nihttinacn vmi SdimiclercL
Digitizeü by Google
354
H. Rauchberg,
f^'cliobcn wurde, umfafst jede einzelne Position dt-r Bcrufssiatistik
eine ganze Reihe von Berufsbenennungen der Zählpapiere. ') 10397
thatsächlkrh eingetragene BeruCsbenennungen sind auf 207 „Beru&
arten" reduziert worden, welche die letzten Einheiten unserer Be-
rufsklassifikation bilden. Die feinere Verzweigung der volkswirtschaft-
lichen Arbeitsteilung ist gleichsam nur noch in ihren Hauptästen
erkennbar. Aber auch die Derufsbenennungen spi^eln sie nicht
getreulich wieder, denn selbst der Sprachgebrauch ^^rmag den
Fortschritten der Arbeitsteilung und FunktionsdifTerenzierung nicht
zu folgen. Gleichnamige Beschäftigungen sind in Wirklichkeit noch
lange nicht gleichartige. Der technische Fortschritt, das Eindringen
der Maschine in bisher handwerksmafsig betriebene Produktions-
zweige, die Umbildung der Betriebsoi^nisationen, das alles hat
eine so weitgehende Arbeitszerlegung innerhalb der alten Be-
rufe mit sich gebracht, tlafs keiner derselben mehr ein einheitliches
Arbeitsgebiet darstellt. Hinter dem einheitlichen Namen verbirgt
sich \ielnu hr eine g.iti/c Reihe von mannigfach abgestuften, inein-
ander planvoll eingreifender Beschäftigungen, welche die verschieden-
artigsten Anforderungen an die phvsi« he und geistige Kraft, an
die technische und kaufmännische Ausl)ildung der Berufsangehörigen
stellen. Zugleich mit der Erweiteniiig ihres Umfangs ist da^^ innere
Ciefüge <ier einzelnen Berufe unendlich verfeinert worden. In bisher
überwiegend männliclicn Berufen sind Arbeitsgelegenheiten für
Frauet). in überwiegend weibliclrcn leitende Stellen ge^rhatten
Wftrdcn, welche sich die Miinner kraft ihrer allgemeinen \'()rliand-
stcltung aneignen. Die .\rbrit>lrilung /wischen den beidcis lie-
sclilcchicrn zerbricht den Raliinen der allen Berufsorganisation. Die
lieruf^benennungen. die diese letztere geprägt hat, scheiden nicht mehr
wie früher Manneiwerk von hrauenwerk. Jene (iegenbewegung
zwischen niärnilicher und weiblicher Berufsarbeit steht al>-o nur
scheinbar in \\'iders})ru<'h zu der forl^clireileniien gesellschaltlifhen
Arbeitsteilung. Die (irenzen zwisclien niännliclier und weiblicher
Berufsarbeit sind nicht verwischt, woiil aber .^iiul sie k» »iiipli/icMcr
und beweglicher gewortlen. Sie decken sich nicht mehr mit den
Grenzlinien der einzelnen herkömmlich benannten Berufe, sondern
laufen mitten durch diese hindurch, schwankend je nach dem durch
Technik und Betriebsorganisation bedingten Grade der Arbeitszer*
legung und je nach der Wechselbeziehung zwischen dem männlichen
>) Vgl. den XIV. Bd. dieses Archivs S. 274.
Digitized by Google
Die Berufs- und Gewerbeziihlung na Dcutscbeu Reich vom 14. Juui 1S95.
und dem weiblichen Arbeitsangebot In Wirklichkeit ist aber die
Funktionsdiiferenzierung zwischen den beiden Geschlechtern feiner»
die gesellschaftliche Arbeitsteilung vollkommener geworden: ohne
Rücksicht auf die hergebrachten Scheidelinien der Berufe sind den
einzelnen Arbeitskräften sowohl des männlichen als auch des weilv
liehen Geschlechts in höherem MaCse als bisher diejenigen Leistungen
zugewiesen worden, wozu sie nach dem jeweiligen Stande der
Technik und der Lage des Arbeitsmarktes am besten geeignet sind.
Eine neue Aufteilung der gesellschaftlichen Funktionen zwischen
den beiden Geschlechtem ist im Zuge, welche als eine Verbesserung
der technischen Organisation mit dazu beiträgt, die Produktivität
der gesamten gesellschaftlichen Arbeit zu erhöhen.
Offenbar wird man der Bedeutung dieser gewaltigen und tief-
greifenden Bewegung nicht j^erecht, wenn man sie lediglich unter
dem Gesichtspunkte der Konkurrenz zwischen den beiden Ge-
schlechtern auffafst, und aus der erweiterten Thätis^keit der Frauen
folgert, dafs das Arbeitsgebiet der Männer eingeschränkt und da&
Männerarbeit durcii hVauenarbeit verdrängt werde. Die Sachlage
ist vielmehr die: 3 13*^ ^67 neue Arbeitsgelegenheiten sind in der
deutschen Volkswirtschaft während iler 13 Jahre zwischen den
beiden Berufszählungen vom l8<S2 und 1895 geschaffen worden.*)
Nur 2133577 männliche Arbeitskräfte standen hierfür zur Ver-
fügung, I 005 200 StclI'^Mi mufsten also mit hVaiien besetzt werden.
Die Kinstclluiig \<»n cuier weiteren Million weibliciier Arbeitskräfte
war also notwentlig, um den durch die gegenwärtige ( )rganisation
und Technik bedingten Arbeitsbedarf der \'olkswirtschaft zu decken,-')
Nehmen wir die deutsche Volkswirtschaft als einheithches Ganzes,
so kann überhaupt nicht von Konkurrenz die Rede sein, sondern
nur von der Ergänzung de> Arbeitsangebots bis zur vollen Deckung
des Bedarfes. Anders freilicii, wetui es sich um die Besetzung der
ein/eliK-n .Stellen handelt. Welche Stellen den Männern unil welche
den Frauen zufallen sollen, ist zum Teil allerdings schon durch
Tradition und Technik, sowie durch die besondere Qualifikation
entschieden, die sie erheischen. Bei einem anderen Teil ist diese Ent-
scheidung nicht von vorneherein gegeben. Denn die Tradition reicht
nicht in allen Fällen aus und die Umbildung der Technik und der
Betriebsorganisation haben sie erschüttert. Die Aufteilung dieser
') Von den bSmlichcn Dienstboten abgesehen.
VgL Anm. S. 337 f*
Digitized by Google
356
H. Rmttchbcrg,
zweifelhaften Stellen erfolgt daher durch Selektion. Und wie jede
gesellschaftliche Selektion wird auch diese von den Beteiligten als
Konkurrenz empfunden und beklagt. Es scheint, als ob die Frauen
die Männer unterböten und verdrängten. Zahlreiche Umstände
nötigen sie, sich mit einem gcrinpjcrcn \^crilienst oder Lohn zu be-
gnügen: körperlich schwäclicr, fachlich mindef vorgebildet , \ on
Natur aus zaghafter, wissen sie ihre Ansprüche noch nicht durch
Organisation zu unterstützen. Ihr bisheriger Wirkungskreis war eng
und jede Erweiterung desselben müssen sie, um das Trägheits-
moment zu überwinden, durch besondere Vorteile erringren, die sie
den l^nternehmem einräumen.') Durch das enge Thor, das zum
P'rwerb führt, drängen sich aber nicht rauscnde sondern Millionen
Frauen, die sich gegenseitig unterbieten, und auch ilas l-.xistei^z-
miniinuni bildet nicht die l'ntergrenze des Lohnes, wo die Kxistenz
nicht ausschliefslich auf ihm beruht. Su fallen denn in tler Tliat
auf der ganzen Linie die mindot einträglichen Stellen den I-rauen
zu. Die Zunahme männli( her Arbeit wird aber dadurch, wie wir
gesehen haben, in den aufblühenden Ikrufen — und diese bilden ja
die ganz überwiegende Mehrzahl — nicht beeinträchtigt. Denn die
MiuHier sind nun einmal im Resit/^tande und geniefsen auch smist
in jeder Hinsicht eine Art \"i handstellung , die schon in den
physiologischen Unterschieden zwischen den beiden deschlcchtern
bcgrünik l ist uiul in dem ludieren ge>cll>cli.ilüichen \\ eil der männ-
lichen Arbeitsleistung ihren Ausdruck findet. '*) In den stagnierenden
und rückläufigen Berufen freilich wird Männerarbeit durch I'rauen-
arbeit ersetzt, nicht so sehr durch eigentliche Verdrängung, sondern
indem die Männer freiwillig die Position räumen und der mann*
liehen Nachwuchs sich von jenen Berufen abwendet und aufblühende
Arbeitsgebiete aufsucht, wohin ihm die Frauen zunächst noch nicht
zu folgen vermögen. Denn der technische Fortschritt hat, gleich-
sam als Ersatz dafür, dafs er in eine ganze Reihe von Berufen die
Frauen eingeführt hat, neue weite und lohnende Arbeitsgebiete er-
schlossen, die Knh, Ausdauer, technische Ausbildung, Fachwissen,
mit einem Worte: Männerwerk bedingen.') Sind auch die Frauen
*) Vgt Rithe Dnncker, Ldpsig. Ueber die Beteüigang des wciUkliai
Geschlechts «a der Cnrerbthitigkeit Hamburg 1899.
*) Vgl. den Artikel „FraueoM-beit und Fnuenfnge" von Pierstor ff im Hand-
wörtcrbttdi der Staatswissenschaftcn. 2. Aufl. UL Bd., i&sbes. 5. 1198 f. n. 1213.
*) So enthält z. B. die Bemfsstatistik von 1895 eine nene Position, Elektro-
Digitized by Google
Die Berufs- und Gewerbezäblung im Deutschen Reich vom 14. Juni 1S95.
auf der einen Seile in die Deprcssionsgcbiele des männlirlicn Ar-
beitsfelds eingedrungen, so ist es nunmehr nach der anderen Seite
hin ganz unvergleichlich erweitert, und zwar gerade nach jener
Richtung hin, welche die lohnendste Beschäftigung bietet und den
Frauen am fernsten liegt Die Konkurrenz der Frauen auf der
einen Seite ist fiir die Männer nur ein wirksamer Ansporn, das
Trägheitsmoment zu überwinden, die Berufe zu verlassen, wo nichts
mehr zu holen ist, und jene andere Richtung zu verfolgen, wo
ihnen die Zukunft gehört')
Zwei wichtige Etappen auf dem Vormarsche der Frauen in
das Gebiet des Hauptberufs bildet der Nebenerwerb und die
Heimarbeit Beide leiten, häufig miteinander kombiniert, die
Frauen aus der hauswirtschafUichen Bethättgung über ziu* Teilnahme
an der volkswirtschafUichen Produktton, die allein für die Berufe*
Statistik in Betracht kommen kann. Beide ermöglichen es der
Frau, sich wenigstens bis zu einem gewissen Grade ihren Hauswirt»
schaftlichen Obliefjenheiten und gleichzoitis:^ auch dem Erwerb zu
widmen: der Nebenberuf, indem er nicht die volle Arbeitskraft in
Anspruch nimmt, die Heimarbeit, indem sie die Frau doch an der
Stätte ihrer hauswirtschaftlichen Thätigkeit beläfst
Dafs die Anzahl der Frauen mit Nebenerwerb — im Gegen-
satz zur Rückbildung des Nebenerwerbs bei den Männern — rasch
zunimmt, wurde bereits im XI. Abschnitte festgestellt.-) 1746326
Nebenberufe, 3 5. 28 Prozent aller Fälle, treffen auf das w'eibliche
Geschlecht. Die ganz überwiegende Mehrzahl davon, i 408 288 oder
80,64 Prozent , sind Ani^elun i^a- ohne eigenen Hauptberuf oder
Dienende, 265 297 haben zugleich einen Hauptberuf und 7274I Fälle
betreffen bcruf^losc Selbständige.
Nur srlieinbar steht im (iegensatz zur Zunahme der weil)!ich^
Nebenerwerbfalle eine erhebliche Abnahme der hauptberuflich er-
werbthätigen l-raueu, die zugleich einen Nebenerwerb haben. Es
wurden deren ermittelt
tochnik, die 1882 noch nicht vorkam, mit 14,053 Enrerbthfitigcn, darunter mir
S Prozent Frauen.
'1 Sidin y Webb, The alleged ditVircncics in the wagcs paid to men and
women für similar work. Economic Journal »•dilcd by Edgcworth. I. Bd. S. ^»35 ff.
*) Vgl. oben S. 1590"., woselbst aucli tili- Rolle des weiblichen OcMhlcchts bei
der Gestaltung der Ncboiitrwcrbsverhältnissc erörtert wird. Hier bandelt es sich
nunmehr tun die Bedeutung dieser letzteren Hir den Frauenberuf.
Digitized by Google
358
H. Rauchberg,
1S95 18S3
in i!'-r H'-nifsabteilung absolut l'rozeat absohtt Pmccnt
A Laiiiiwirtschaft 1 08 472 3. 04 \-j^f>i^(t 7.0;
B Inilu-tri.- 670(17 4,47 77490 6.8S
C Hamti-l uikI \irktlir .... OU054 10.56 43797 14. 6i)
D Häusliche Dienste, Taglohn . . 10 242 4,ji> 17049 <J,f>o
E Oeflentlicher IMcnst 8691 4,92 10755 9 33
im ganzen . 255456 4.85 328327 7,71
Diese Krscheinung erklärt sich daraus, dafs die Frauen mit
Hauptberuf immer strenger und ausschliefslicher von demselben in
Anspruch genommen wcrclcn und daher immer weniger Zeit er-
ühri|::;en zu nebensächlicher Betliäti<:]:un<^. Wir stehen hier vor einer
ReflexwirkuiMj: «nserrr fortschreitf lulen Arbeitsoi^nisation. .Aber
als überreicliliclier Kr.sal/ für die laufende von erwerbtbätigen
Frauen, die durch den Hauptberuf dem Nebenerwerb eiitzoL^^en
worden .'^incl, treten Hunderttausende aus der Re>er\ckatei^orie der
nicht Krwerbenden durch das Thor des Nel)ene: werbs in (las Be-
rufsleben ein. Betrui» docli die Zaiil der weil>Iicluii .Xu' a'h(")ri 'en
und |)ieiu nden mit Nebenerwerb 18S2 erst S10020, lN')5 bereits
140S2SS, ilu- Prn/entanteil ist von 92,70 auf 96,00 ^estie'^en. ."^o
ktJinmt es, dals <hi' l alle weiblichen Nebenberufs in der Mehrzahl
aller Pusiiiunen r.i>ch zunimmt. Nach Bcrufsablciiungen war die
Gestaltung seit 1882 die folgende:
Zu-, bzw. Abnahme — )
Zahl der weib* der weiblichen des Anteils der
liehen Neben» Kebenbemfe weibl. an allen
berufe absolut Prozent Nebenberufen
\ LniuUvirtschaft . . . I35>570 37,05 428308 46.39 8.11
^ ln(hi>trif «53055 24.7' 6271H 69,43 7 "4
(' Ilaruhl und \'.rk< lir . 221 0S4 3S.S0 141072 I7".3i 20, iS
1) HüusIuIr- I»i»!i-t.- etc. 9329 5f "3 -39 -2.63 2,47
E OcfTcnllichor l»i<nst . 1 1 28S n,S3 — I 0S7 - 8,78 — I.30
im ganicn 1746326 35,28 631250 56,61 9,09
Auf die Verhältnisse nach den einzelnen Gruppen des Neben-
erwerbs einzugchen, würde zu weit (iUhren. lieber den nebenberuf-
lichen Anteil der Frauen an jenen Erwerbsarten, in denen die
Frauen dem Hauptberuf nach überwiegen, hat schon die 4. Spalte
der Ucbersicht auf S. 349 Auskunft erteilt. Wir entnehmen daraus,
dafs an der Mehrzahl der angeführten Berufsarten die Frauen
nebenberuflich noch erheblich starker beteiligt sind wie hauptberuf-
uiyiiizeo Dy Google
Die Berafr» und Gewerbcrittiliiiig im Deutschen Reich vom 14. Juni 1S95.
lieh, wogegen in einer Minderzahl von Berufearten ihre Beteiligung
am Nebenerwerb hinter jener am Hauptberuf verhältnismafeig zu-
rückbleibt.
Ebenso wie an dem Nebenerwerb sind die Frauen auch an
der Hausindustrie vcrhältnismäfsig stark beteiligt.*). 154604
Frauen, 45,14 Prozent aller [ lausindustriellen, gehören ihr an, wäh-
rcnd der Pro/.entanteil der Frauen an der gesamten Industrie nur
18.37 beträgt. Dazu kommen noch 38912 Fälle von hausindu-
striellcr Frauenarbeit im Nebenberuf. Das Schwei^wicht liegt, wie
bei der Heimarbeit überhaupt, in den Gruppen der Textil-, Be-
kleidungs- und Reinigungsindustrie. 120 230 Frauen, 92,5 Prozent
aller Heimarbeiterinnen im I Iau|)tberuf, entfallen auf diese beiden
Gruppen. Der sozialen Stellung nach sind die Frauen in der Haus-
industrie unter den Selbständigen nahe/.u ebenso stark vertreten, wie
unter tlen Abhängigen; es waren nämlich weiblichen Geschlechts
von je 100 .Selbständigen 45,37, \<)ii i<' HX) Gehilfen 43,94 Pro/.cnt
und /.w.ir speziell unter den mitthätigen Ivmiilienangehörigen 87.06,
unter den sonstigen Gehillen 32,47 Prozente. Allerdings arbeiten
jene weiblichen selbständigen Hausindustriellen in der Regel allein,
gehören also tler untersten sozialen .Schichte der Sell)ständigcn an.
Der Vergleich mit den F>gebnissen des Jahres 1S82 ist nur
hinsichtlich der selbständigen Heimarbeiterinnen möglich.") F^r lehrt,
dafs die Frauen an dem schon früher erörterten Rückgang der
Hausindustrie stärker beteiligt sind wie das männliche Geschlecht.
Sehr begreiflich, denn er betrifft zumeist jene der Textil- und der
Bekleidungsindustrie angehörigen Berufszweige, welche zur eigent-
liehen Domäne der Frauenarbeit gehören. Indessen bleibt der
Rückgang beschrankt auf die hauptberuflich ausgeübte hausindu-
strielle Frauenarbeit Im Nebenerwerb hat «ie, hauptsächlich infolge
des Eintritts von früher familienangehörigen Frauen, nicht unerheb-
lich zugenommen.
Von besonderem Interesse ist die geographische Ver-
breitung der Frauenarbeit. Der Anteil der Frauen an der
gesamten Erwerbthätigkeit schwankt zwischen 22,17 Prozent (in
Westfalen) und 37,32 Prozent (in HohenzoUern). Maisgebend für
die Beteiligung der Frauen am Erwerb ist in erster Linie die be-
sondere Gestaltung der Berufsgliederung, je nachdem nämlich
*) V£l. darilber den VIII. Abschn. Bd. XIV dieses Archivs S. 647 ff.
*) Waram, ist schon aaf S. 653 f. des XIV. Bandes auseinander geseUt worden.
Digitized by Google
36o
H. Raucbberg,
solche Berufe und Betriebsformen hierin vorwiegen, die viel oder
wenig Frauenarbeit verwenden. Insbesondere auf die Vertretung
der I^ndwirtschaft und auf ihre Organisation in Kleinbetrieben
kommt es dabei an, welche ja den breitesten Raum bietet zur Be-
thätigung familienangehöriger Frauen. So steht z. B. in Württemberg
und Baden der Frozentanteil der Frauen mit 32,91 und 35,08 Prozent
erheblich über dem Reichsdurchschnitt, hauptsachlich wegen der
Bethätigung familienangehöriger Frauen in den landwirtschaftlichen
Kleinbetrieben, dann aber auch wegen der fortschreitenden Ein*
Stellung weiblicher Arbeitskräfte in der rasch aufblühenden Industrie.
Alle die mannigfachen Momente, welche die geographische Gestal-
tung der Bcrufsj^liederung überhaupt Ix ciiinu^^en , sind demnach
auch von Belang für die örtliche X'erbrcitung der Frauenarbeit
Niehl überall hat die T utwirklnnLX jener Momente zu einer Ver-
stärkung geilen über der Männerarbeit gefuhrt Zwar haben die
weiblichen Erwcil-thätigen - mit '^'eringfiigii^^en Ausnahmen —
in samtlichen Staaten und Lnndesieilen absolut zugenommen;
aber das männliche Geschlecht ist hinter der Zunahme des
weiblichen in einer Anzahl von Gcbietsabschnittcn kaum zurück-
geblicbeti ; in anderen ist es v erhältnismäfsiL,' noch zahlreicher in
den Erwerb eingetreten, so dals der Anteil der Frauen — trotz
der absoluten Zunahme — 1895 soj^ar i^^eringcr bleibt wie 1882.
So habeti z. B. in Berlin die erwerbthätigen Frauen um 75 034 oder
44,72 Prozent, in Hamburg um 25 794 oder 44,46 Prozent zuge-
nommen; aber ihr Anteil an der (lesamtzahl der Erwerbthätigen
ist in Berlin von 31,48 nur aui 31,90 Prozent gestiegen, in Haml>urg
ist er von 29,35 auf 29,08 zurückgegangen. Es ist ferner der An-
teil der I' rauenarbeit, um nur einige der wichtigsten Gebiete mit
Tallender Tendenz her\orzuheben, zurückgegangen in Schleswig-
IIoLiein von 25,30 auf 24,91 Prozent, in Westfalen von 22,85 aul
22,17 Prozent, in Bayern von 37,55 auf 34,65 Prozent, in El.sals-
Lothringcn von 31,25 auf 30,51 Prozent Insbesondere verstärken
die Fortschritte der Industrie, wie das Beispiel Westfalens zeigt,
nicht ohne weiteres die Frauenarbeit Von dem Charakter der
betreffenden Industrien abgesehen, kommt es dabei auch darauf an,
ob der männliche Arbeitsbedarf der Industrie durch die Rekrutierung
landwirtschaftlicher Arbeitskräfte gedeckt und die dadurch ent*
stehende Lücke durch die Einstellung von weiblichen Arbeitskräften
in der Landwirtschaft ausgefüllt wird. So treten insbesondere in
Sachsen, Anhalt und Lippe die Frauen nunmehr in der Landwirt-
Digitized by C(
Die Bcraffr md Gewerbezahlimg im DeuUdheii Reidi vom 14. Juni 1895. ß(3i
Schaft viel starker hervor, während ihr Anteil Im ganzen nur un-
wesentlich erhöht erscheint')
Es ist also nicht richtig, dals die moderne Wirtschaftsentialtung
notwendigerweise den Anteil der Frauenarbeit an der Gesamtsumme
gesellschaftlicher Arbeit erhöhe. Diese weit verbreitete Annahme
wird auch widerlegt durch die Untersuchung nach Gröfsenklassen
der Wohnplätze, wobei ja ar^nommen werden kann, da£s den
höheren Grölsenstufen zugleich höhere Stufen der wirtschaftlichen
Entwicklung entsprechen:
Es sind nämlich
von je 100 Flaues von je 100 ErwerbthBtigen
Ortsgrörsenklasacn
erwerbthitig
weiblich
1895
1882
1895
1883
in der Grof&städten ....
18.93
»7,65
«3.56
33«73
„ „ Mittflstädten ....
15.73
14.64
'9.S5
10.2'S
,1 „ KlfinstäiUcn ....
«5.33
14,16
19.94
18.89
„ „ Landstädten ....
17,59
15-85
23.23
21,70
auf dem flachen Lande . . .
22.91
20,02
28.80
26.66
Oberhaupt .
19,97
18,46
25.35
24,16
In der vorstehenden Uebersicht zeigen die ersten beiden Ziftem*
reihen, wie häujig die Erwerbthätigen — mit Ausschlufs der
Dienenden ^ — unter den Frauen sind. Die letzten beiden Ziffern-
reihen geben an, welchen Anteil die Frauen an der Gesamtzahl der
Erwerbthätigen haben* Verhältnismafsig am wenigsten Erwerbthätige
finden sich unter den Frauen der Kleinstädte. Sowohl mit steigender
als auch mit fallender Einwohnerzahl nitnnit der Prozentsatz der er-
werbthätigen Frauen zu. Er steht am flachen Lande am höchsten,
hier wegen des Ueberf^ewichts der I^ndwirtsrhaft als des gröfsten
Frauengewerbes, dann aber in den (irofsstädten, hier in erster Linie
wegen der stärkeren Vertretung der Herufsabteilung D häusHche
Dienste und Lohnarbeit wechselnder Art ( Bedienerinnen etc.), auch
wegen der intensiveren industriellen ßcthätigung und des stärken
Hervortretens von 1 landel und X'cikehr.
Innerhalb der ein/einen Berufsabteilungen waren die X'erhält-
nisse die folgenden: £s sind weiblich von je 100 Erwerbthätigen
*) Aebnliche Bewegung in Oesterretdi. Vgl. darüber Rancbberg, Die Be-
völkerung Oesterreichs etc. Wien 1895 S. 402 f.
*) lieber die Dienenden vgl. S. 139.
Archiv für tm. GeseUf ebung u. Stetiitik. XV. 34
Digitized by Google
302
H. Rauchberg,
Landwirt» Handel und Iläusl. Dienste. Öffentl. Dienst
in den schart Industrie Verkehr Lohnarbeit u. freier Beruf
1895 1S82 1805 1S82 1895 1882 1895 18S2 1895 iS82
GroCsstSdten 21,11 19,54 23,04 25,33 21,64 16,64 56,5' 48,79 14.24 i2,43
MittdsttdtcD 36,16 S4,oa 19^ «0,43 as,86 17,93 5i|06 43i4i 8,62 8,19
Kleinstädten 29,58 a6,63 17,71 18,14 24,33 I7i90 5i|iS 44,08 9,21 7,60
Landstädten 31,69 39,81 ijfio 16,72 26,67 19.67 54«^ 46,63 15,03 13,9$
auf d. flachen
Lande. . 33,63 31,08 15,34 14,46 30,63 22,05 56,29 49,H 17,53 »6,78
Diese Zahlenreihen verlaufen in geradezu überraschend regel-
mäfsiger Weise. Je volkreicher die Wohnplätze, desto grofeer ist
der Anteil der Frauen an der Industrie und desto geringer wird
ihr Anteil sowohl an der Landwirtschaft als auch am Handel und
Verkehr. Auch in den Beruisabteilungen D häusliche I^enste und
Lohnarbeit sowie E öffentlicher Dienst etc. steht die Beteiligung
der Frauen im allgemeinen im umgekehrten Verhaltnisse zu den
Ortsgröfsenklassen, nur da(s die Grofsstädte hier eine Sonderstellung
einnehmen. Man kann also gewifs nicht sagen, da& die intensivere
Wirtschaftsentfaltung der gröfseren Wohnplätze Hand in Hand gehe
mit stärkerer Beteiligung der IVaiicn am Erwerbleben. Das trifft
nur zu hinsichtlich der Industrie; in den anderen Berufeabteilungen
ist der Verlauf der Zahlenreihen eher der entgegengesetzte.
Aber auch auf dem Gebiete der Industrie hat die Entwicklung
während der 13 Jahre zwischen den beiden Berufszählungen von 1883
und 1895 die Unterschiede zwischen den einzelnen Ort^ölsenklassen
hinsichtlich der Bctcihgung der Frauen nicht verschärft, sondern
eher ausgeglichen. Ihr Prozentanteil an der Summe der Bcrufs-
thätigen in der Industrie hat seit 1882 auf dem flachen Ijinde und
in den Landstädten zugenommen, in den gröfseren Städten aber
abgenommen, am meisten in den Grofsstädten. Dürfen wir die
höhere Einwohnerzahl der Ortsklassen wirklich als Symptom höherer
Wirtschaftsentfaltung gelten las<cti, so können wir aus jener Gegen-
bewegung den Satz ableiten , dafs zwar auf den unteren Entwick-
lungsstufen Frauen in höherem Mafsc neben den Männern in die
industrielle Arbeit eingestellt werden, (lals aber auf den höheren
Entwicklungsstufen eine Art Rückbildung stattfindet, indem der
Anteil der hVaucn den Männern gegenüber zu sinken beginnt, wenn-
gleich die Zahl der in tler Industrie ei werbthätigcn brauen in jeder
Ürtsgrölsenkl.is.c absolut noch im Anwachsen l>egriffen ist.
Wollen wir zum Schlufs noch die Entwicklungstendenzen
uiyiiizeo Dy GoOgl]
Die Berufs* und Gewerbezählung im Deutschen Reich vom I4. Juni 1895.
im Frauciurut rl) zu deuten versuchen, >o Ii.iben wir vorerst zu unter-
suchen, welche Anlialtspunkte sich hierfür den Er^^ebnissen der aus-
1 ci n d i s c h e n Herufszählun^en abgewinnen lassen. Was zunächst die
Häufigkeit des Fraucnerwcrbs im X'er^dcich zum Männcrerwerb in
den Staaten anbelangt, welche in erster Linie zum Vergleich heran-
ztnsiehefi sind,') so waren erwerbthätig *} von je loo
Krauen Männern
im Deutschen Reich. 25,0 61,1
in Oestermdi 47,3 63,3
in Ungarn 34,9 63,S
in Frankreich ijfi 58,8
in England und Wales a6,8 634
in den Vereinigten Staaten von Amerfla I2,S 58,7
Wir ersehen aus dieseti Zitt'ernreihcn zunäch>t, dals die Prozent-
sätze der erwerbthätigen Frauen viel starker schwanken als wie
dies bei den Männern der Fall ist Diese Schwankungen sind in
erster Linie aus den formalen und methodischen Verschiedenheiten
der Berufserhebung zu erklären. Ein guter Teil aller Frauenarbeit
bewegt sich auf dem Grenzgebiete zwischen volkswirtschaftlichem
Beruf und hauswirtschaftlicher ThätigkeiL Von der Art und Weise,
wie die Grenzlinie bei der Berufserhebung gezogen wird, hängt
daher auch das statistische Mafs des Frauenerwerbs ab. So scheint
er z. R in Oesterreich am häufigsten zu sein, weil hier alle zweifei«
haften Fälle zu Gunsten der volkswirtschaftlichen Beruisthatigkeit
entschieden worden sind Hingegen bleiben die Prozentsatze för
England hinter der Wirklichkeit zurück, weil der englische Census —
offenbar sehr mit Unrecht — die mithelfenden Familienangehörigen
grundsätzlich nicht als erwerbthatig gelten läfet.
Dann ist auch die Beru&gliederung selbst, wie wir bereits
w'issen, von gröfstem Einflüsse auf die weiblichen Erwerbsgelegen-
heiten. Denn die einzelnen Berufe können schon nach ihren tech-
nischen Voraussetzungen Frauen nur in sehr verschiedenem Mafse
verwenden. Wir müssen daher, um utis auch nur halbwegs zu
unterrichten, zumindest die einzelnen Berufsabteilungen ins Auge
fassen. Eine verläfsliche Untersuchung müfete freilich an die einzelnen
'» Vfjl. Zählunp!>wcrk S. 27S l)ie Daten der liotrcfTcndcn Zählungen sind:
für < »estcrrrii h-Uni^'am 31. I)i:/.i rnlM r 1S90, für I'r.inkrcii Ii 12 April 1S9I, für
England u. Wales 5. Apnl 1Ü91, lur liie \ cremiytcn Sliialen 1. juni iSyo.
*} Einachliefslich der DiensCboten.
Digitized by Google
364
H. Raucbbcrg,
Iicrufs/,\vciL,fc anknüpfen. Das würde aber an dieser Stelle zu weit
führen, l^.ui/ d.i\uH .ibj^LMjiK n. dafs dem iti der verschiedenen Jierufs-
klassifik.iti- 'II der einzchien Länder fast unüberwindliche Sciiwierier-
keitcn cnt^ej^'enstehen. Nach einzelnen Berufsabteilungen aber ent-
fallen Frauen auf je lOO erwerbthätige Männer
im
in i£ng«
ind<rn\"orciu.
Dnit sehen
in Oester-
inUn.
inFrank*
Und n.
Staaten von
Reich
reich
g«m
reich
Wales
Amerika
Lamdwiitscluft . .
47.7
39,7
39,a
4.5
M
Industrie ....
22,5
45.7
33.5
35.3
Handel und Verkehr
32,9
4».7
»9,S
3S.4
7.4
OctT< ntl. Dienst und
Irric l'.cru!"e
14,1
»4.1
9,7
1S.7
54.0
40.3
l'ersunlidii- I)i< nste .
691,0
«330.S
"4V7.3
1^3,7
1240.9
im ganzen .
4M
78,0
40,3
46,3
45.2
20,{!>
Auch hier sind die auffalligsten Verschiedenheiten in erster
Linie auf formale Momente zurückzuführen. Insbesondere erscheint
in England und in den Vereinigten Staaten von Amerika die Frauen-
arbeit in der Landwirtschaft und im Handel und Verkehr haupt-
sächlich deswegen so aufserordentlich schwach vertreten , weil —
wie bereits erwähnt — die mitthätigen Familienangehörigen nicht
berücksichtii^t sind. In den gleichen lindern kommt der Prozent-
satz (K r Frauen in der Berufsabteilung ölfenilicher Dienst und freier
Beruf zu hoch heraus, weil hierher die „professional class" gerechnet
werden mufstc, die zum guten Teil auf andere Berufsabteilungen
übergreift. Fndlich ül)er\vioi;en in Amerika in der Berufsabteiiung
„persönliche Dienste" die Männer nur deswegen über die Frauen,
weil hie;1i< r nicht nur Beherbergung und Erquickung, sondern auch
alle Arbeiter ohne nähere Bezeichnung des Beru&vreigs gerechnet
worden sind. ')
.Schon die Untersuchung,^ nach BcrufsahteilunL^en zeigt also, dafs
man die Schhifszilü i n für thc cinzchu ti Lätidcr nur mit der äufsersten
X'orsicht auluLluncii d.ui. I )as gleiche gilt aber auch von den
Zahlen für lede BcruUabtcilung. hislxsondere in der Landwirtschaft
sind liie l)ereits erwähnten formalen Momente v(>n grölstem Eiii-
Huls auf das (ieschlechtsverhältnis. Gleichwohl wird es durch die
vorstehende Uebcrsicht wcnig.stens in seinen Grundzugen richtig gc-
'i 11«'' Annu.il Ri-juirt ol thr ( , »mmissioncr ol Labor, 1S95/96. Work anU
Wages ot nan, woincn and childrcn. Washington lSy7, S. 21 f.
Die Berufs- und Gewerbezäblung im Deubchco Reich vom 14. Juni 1895.
kennzeichnet Angenommen, da(s der Ausfall an mitthatigen Fa-
milienangehörigen das weibliche Arbeitspersonal der Landwirtschaft
Englands und Amerikas um die Hälfte herabgedrückt habe, ') so
würde sich, wenn wir die entsprechenden Korrekturen danach vor- -
nehmen, die Prozentsatze der landwirtschaftlichen Frauenarbeit in
England nur bis 6/>7, in Amerika bis 12,23 erhöhen, also im Ver-
gleich zu den kontinentalen europäischen Verhältnissen noch immer
aufscrordentlich niedrig bleiben. Ks kann demnach kein Zweifel
darüber bestehen, dafs die Landwirtschaft in England und in den
X'erein igten Staaten von Amerika hauptsächlich Männerwerk ist.
Der Anteil der Frauen den Männern gegenüber nimmt in England
ab; in Amerika wächst er zwar, aber nur ganz allmählich, so dafs
jene Grundlhatsarhe unverändert bleibt Hingegen ist die Land-
wirtschaft schon dem Hauptberuf nach im Deutschen Reich zu
mehr als einem Drittel in Oesterreich /u mehr als der Hälfte
l'Vauenwcrk. Wird der Nebenerwerb mit berücksirlitigt, so erhöht
sich der Anteil der Frauen an der laiulwirtscliatlHchcn Berufsarbeit
ganz aufscrordentlich. ■-) Im Hauptberuf wie im Nebenerwerb hat
er während der letzten Zählungsperiode absolut sowie antcilsweise
rasch zugenommen, indem der Ersatz für die zu lohnenderen Be-
rufen übergclicnden Männer durch die l'Vauen gestellt wird. Das
ist eine der wichtigsten Thatsachen. welche die Stellung der Frauen-
arbeit im deutschen Wirtschaft>lcl)en kennzeichnen.
Hinsichtlich des Anteils der Eraucn an dem Erwerb in den
anderen Berufs.ibteilungen scheint das Deutsche Reich eine Mittel-
stellung unter den hier verglichenen Landein euizunehmen. Aller-
dings ist die V'ergleichung in den Abteilungen LIandel und X'erkehr,
sowie öffentlicher Dien.st und freier Beruf durch die verschieden-
artige Behandlung der mitthatigen Familienangehörigen, sowie durch
die unldare Abgrenzung der „professional dass" sehr beeinträditigt;
in der Industrie ist sie aber im grolsen und ganzen durchfuhrbar.
Hier liegt auch schon den absoluten Zahlen nach das Schwergewicht
der Frauenarbeit, soweit sie nicht landwirtschaftlich ist Handelt
es sich doch — immer vom Nebenerwerb abgesehen — im Deutschen
Reich um 1 521 118, in Oesterreich um 725037, in Ungarn um
0 Im Deutschen Reich iii«chen die weibUdwn mitthltigen Familienuigehörigen
37,3 Praseat der Fnuien mit Hauptberuf in der Landwirtschaft aus. Ein Zuschlag
von 50 Prozent macht dcmnadi den oben erjSrtcrten Ausfall jedenfall* reidilich wett.
*) Vgl. oben S. 160.
Digitized by Google
366
H. Raacbbcrgt
135763, in Frankreich um 1 427 322, in England und Wales um
1840898 luul in den X'ereiiii^tcn Staaten von Amerika um l 027 242
industriell beschäftigte I-rauen. Wie in der Industrie überhaupt,
wird auch hinsichtlich der industriellen Frauenarbeit das Deutsche
Reich absolut nur von England iibertroft'cn, hin^c;:^cn beschäfii^;,'! es
in seiner Industrie mehr Frauen als Frankreich und vollends als
Amerika. Da nun — wie wir gesehen haben — die überwiegende
Mehr/.ahl tler in der Industrie erwcrbthäti^en Frauen den unteren
sozialen Schichten aii}:^'ehört , so ist das Deutsche Reich eines der-
jeni^'cn Läti<Icr, in welchen die proletarische Frauenfrage am dring*
lichsten aullritt.
Su ^ewn^t und undankbar es auch ist, sich in Prr)]>he/eiui!;:^cn
zu er^^^chen , kann ich doch tler \'er;>uehunL,' nicht widerstehen,
die in diesem .Kb^chnitte vorf^cfiihrten Materialien zum Schlüsse
noch zu einem Ausblicke auf die mutmafsliche kunftij^e Kntwicklung
zu verwetten oder doch wenigstens zu einem Ueberblicke über die
Icndenzen, von ilcnen sie beherrscht wird.
.Als voreilig habe ich schon früher die weit verbreitete An'
nähme bezeichnet, als mülste die moderne Entwicklung notwcndi;4er-
weisf iiljcrall und in allen Berufen den .-Anteil der Frauen an der
J-.rwerbarbcit erhöhen. Auch habe ich schon eingangs diocs
Abschnitts dargethan, wie die bisher übliche Berechnung der Zu-
wachsprozente dazu fuhrt, die thatsächlichen Fortschritte der Frauen»
arbeit zu übersdiätzen. Nur im Zusammenhange mit den Nach-
wuchsverhältnissen der beiden Geschlechter und unter Berück-
sichtigung des Verhältnisses dieses Nachwuchses zu den Anforderungeo
der rasch wachsenden Volkswirtschaft und des erweiterten Arbeits*
marktes können sie richtig beurteilt werden.^) Wir müssen daher
trachten, hieriiir einen höheren und freieren Standpunkt zu gewinnen.
Wie schon die vergleichenden Uebersichten auf S. 363 und 364
erkennen lassen, ist das Ausmafs der Frauenarbeit in den einzelnen
Ländern sowohl absolut als auch im Verhältnisse zur Männcrarbeit sehr
verschieden. Die Untersuchung nach kleineren Gebietsabschnitten
lehrt femer, dafe jene Verschiedenheiten auch innerhalb der ein*
zelnen Länder sich fortsetzen. Wie weit sie im Deutschen Reiche
bestehen, und welchen Einfluis insbesondere die OrtsgröCsenklasseo
darauf haben, findet sich auf S. 361 f. angedeutet Jedes Land, jedes
') Siehe oben S. 361 f.
*) Vgl. die AttfsteUang auf S. 335.
Digiiized by Güo^ -
Die Berufs- und Gcwerbezählong im Deutschen Reich vom 14. Juni 1895. ^i^j
Gebiet, jeilc Kategorie von Wohnplätzen hat somit eine ci^aiic,
spezifische Kapazität für Frauenarbeit: ihr Ausniafs ist bedingt
durch die Stufe der volkswirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ent-
wicklung. Zweierlei Einflüsse machen sich dabei, oh in entgegen-
gesetster Richtung, geltend: wtrtschaftlicfa-techniche und soziale.
In ersterer Hingeht kommen alle diejenigen Momente in Betracht,
welche die Umbildui^ einer Summe von früher — wenigstens der
Hauptsache nach — isolierten Hauswirtschaften zur einheitlichen,
arbeitsteiligen Volkswirtschaft bewirken. Ein Produktionsakt nach
dem andern, der früher die Frau im Hause beschäftigte, wird nun-
mehr aus der geschlossenen Hauswirtschaft ausgelöst und auf die
volkswirtschaftliche Produktion übernommen, aus welcher nunmehr
die Gegenstände des häuslichen Berufs angekauft werden. Die
Thätigkeit der Frau beschrankt sich immer mehr auf die Ordnung
der Konsumtion. I^e Frau selbst ist frei geworden für die Zwecke
der gesellschaftlichen Produktion.
Hin grofser Teil der erwcrbthätigen Frauen wird also in den
gesellschaftlichen Produktionsprozefs einbezogen und demnach auch
crwcrbthätig im Sinne der Reruüsstatistik ohne wesentliche Acnderung
in der Technik oder dem Gegenstande ihrer bisherigen Bethätigung
lediglich durch die Angliederung ihres bisherigen VVirtschaftskreises
an das grofse Ganze der \''olks\virtschaft. So im weitesten Um-
fange auf dem Gebiete der Landwirtschaft, so durch die Umwand-
lung des Mausfleifses in Hausindustrie oder auch sonst durch die
Verwertung häuslicher Fertigkeiten zum Gelderwerb. Nicht die
Art, sondern die Intensität und die soziale Bctlcutung ihrer Arbeit
ist eine andere geworden. X'ollzieht sich der Uebergang zur P"r-
werbthätigkeit auf diese Weise halb unbemerkt, wenn nicht un-
bewulst, so sind desto augenfälliger jene anderen P^älle weibliciier
Erwerbthätigkeit , die erst durch die ftu tsciircitende technische Ar-
beitsteilung — Arbeits/.erlegung im Sinne H ü c h e r s ■ — insbesondere
in Verbindung mit den I'ortschritten der Maschinentechnik ermög-
licht und hervorgerufen worden sind. Denn dadurch werden die
Frauen mit einem Schlage iiircm bisherigen häuslichen Wirkungs-
kreise entführt und in den starten Mechanismus der volkswirt-
schaftlichen Produktion eingegliedert.
Verengerung des häuslichen W^irkungskreises und (ielegenheit
zu gesellschaftlicher Erwerbthätigkeit sind also die beiden Voraus*
Entftehimg der VolknriitM^aft, a. AiA S. 182.
Digitized by Google
368
H. Kauchberg,
Setzungen für die Berufsarbeit der Frauen, Voraussetzungen, die
durch jeden Fortschritt in der Ausbildung der Volkswirtschaft in
immer höherem Mafse erstellt werden. Aber es sind doch zunadist
nur Möglichkeiten, die sich da erschliefsen. Ob diese Möglichkeiten
sich verwirklichen, ob sie thatsachlich zu Frauenerwerb ausgenutzt
werden, hängt sowohl von der Lage des Arbeitsmarktes als andi
von allen jenen sozialen Faktoren ab, welche die SteUung der Frauen
im Hause bestimmen. Zwei Gewalten ringen gleichsam um den
Besitz der Frau: Neigung und Sitte, die Pflichten als Gattin und
Mutter fesseln sie ans Haus, wollen sie auf privatwirtschaftliche
Thälii:,'keit beschränken und des eii^enen Erwerbs entheben.
Andererseits aber (iraii;j^en dahin die ünzuläng^lichkcit des Familicn-
einkommcns, der erhöhte Bedarf an arbeitsteilig her^^cst eilten und
geldwirtschaftlich 7.u beschaflfenden Gütern, die Unmöglichkeit, die
weibliche Arbeitskraft im verengerten Hause voll zu verwerten.
Welche \oii diesen beiden Gewalten wird sieben' Werden die
l)rurk\ erhältnisse, welche die Frau ins Hrwerbleben hinausdrän<;t'ii.
sich stiirker erweisen oder die konservativen Gegentendenzen des
Hauses ?
Die Beantwortung dieser bVage hängt von der Gestaltung der
sozialen V^erhältnissc ab. Zufolge der fortschreitenden Ausbildung
der Arbeitsteilung und der Technik nimmt die Kapazität der
modernen Volkswirtschaft für I'Vauenarbeit zu. Ks besteht dem-
nach zweifelsohne die Tendenz zur \*»M"niehrung derselben selbst
ohne Veränderung in den so/.ialen X'erhaltnissen. In der That
hat sie in fast allen Staaten in der Zwischenzeit zwisciien den
beiden letzten Berufszäldunü'en i^ewisse Fortschritte '.ainaciu.
Cileichwohl ist für Kngland .die liochst wichtige Thatsaciie zu ver-
zeichnen, dals die industrielle Frauenarbeit i88l — 1891 wenigstens
anteilsweise keine weiteren Fortschritte gemacht hat, sondern dafs
vielmehr gerade in einer Reihe der wichtigsten Berufs/weige An-
sätze zur Rückbildung sich zeigen. In den Berufen, in denen die
Frauen mit wenigstens 1 Pro/ent veriictiii sind, haben von je
IOC» Frauen im Alter von über 10 Jahren 1881 noch 28,11, 1H9I
nur mehr 27,75 gccirbeitet. ') Es entfallen in England und Wales
erwerbthätige Frauen auf je 100 Männer:')
*) Report by Miss G>llet a. a. O. S. lo.
*) Census of England and Wales. Vol. IV. General Report London 1893. S. $9'
uiyiiizeo Dy G(
iSoi
1871
t88l
1891
60
79
102
100
161
178
180
172
180
208
224
201
«3«
149
163
156
50S
476
289
167
636
745
586
334
7*
65
80
67
Die Berufs- und GcwcrUctählung im I Jcutsclieii Reich vom 14. Juni 1895. ^(j^
in den folgenden
Berafssweigen
Tuchindustrie ....
Kammgamindttstrie . .
Scifieninfiiisfrie ....
Baumwiillmdu-trir .
Spitzetitabrikation .
Handschubmacher . . .
Papierindustie ....
In einer Reihe von \viclitij.^en Iiuliistrien. die früher Frauen in rasch
steigender Progression eingestellt halten, ist also, wie die eben an-
geführten Heispiele erkennen lassen, naeh den Ergebnissen des
letzten ( iiglischen Census ein Stillstand oder entschiedener Rück-
gang eirigetreten.
Fortschreitende Frauenarbeit ist also kcines\ve«js eine uincr-
nieidliche Begleiterscheinung der wirtschaftlichen und gcsellschaft-
liciien Fnlwicklung. Vielmehr ist ein Punkt erreichbar, übt r welchen
hinaus der Frauenerwerl) nicht zunimmt, sondern stationär bleibt
oder wenigstens im X'erhäUnissc zur Männerarbeit — abninmit.
Auf dem ( icbiete der Landwirtschalt i>t diese Rückbildung in Kng-
land und Amerika bereits in vollem (jange. ') S< • erklärt es sich,
dafs der Prozentsatz der PVaueiiarbeit in den Vereinigten Staaten
erheblich niedriger steht, wie im Deutschen Reich. Und doch ist
man gewöhnt, Amerika als das klassische Land des Frauenerwerbs
anzusehen 1 Und auf dem Gebiete der Industrie scheint dieser
Wendepunkt nunmehr in der hochentwidcelten Volkswirtschaft Eng-
lands eingetreten zu sein.
Durch technische und soziale Voraussetzungen ist die Ent-
stehung und Ausbreitung der Frauenarbeit bedingt. Und durch die
weiteren Fortschritte der technischen und sozialen Entwicklung wird
auch jene Wendung herbeigeführt In technischer Hinsicht insofern»
als es gerade den höchsten Stadien der Maschinentechnik eigen ist,
>) b Englnnd ist die Zahl der Landarbeiterinnen 1881— 189I too 40346 auf
84150 zarQckgegangen, in den Vereinigten Staaten 1880 — 1S90 von 534900 auf
447104. Hierselbst stollten «iie Frauen iSSo noch 16,09 Prozent, 1S90 nur mehr
I4.S8 Prozent der Landarbeiter. Wonn gleichwohl die Gesamtzahl der in d<'r Lanrl-
wirtschaft der Vereinigten .Staaten beschäftigten Frauen gegen löäo weder absolut
noch anteilsweise xurttckgcgangcn i:it, so erklirt sidi dies nus der nadien Ver*
mchnug der Gmndbesitferinnen. Hierfür sind aber die BesittverhSltnisse, nicht die
Arbeitsverhültnisse mafsgebend.
Digitized by Google
370
II. Rauch bcrg,
Frauenarbeit auszuschalten und dafiir höher qualifiziertes Männer*
werk in Anspruch zu nehmen, ^) teils direkt, zur Ueberwachung der
Maschinen, teils indirekt in der Form einer Arbeitsverschiebung,
indem Frauenarbeit in den letzten Ptoduktionsstadien der betreflenden
Güter erspart, aber neue Männerarbeit auf die Herstellung jener
Maschinen verwendet, also in ein früheres Stadium des gesamten
Produktionsprozesses eingeschaltet wird. Auf solche Weise wird
also die spezifische Kapazität der Volkswirtschaft fiir Frauenarbeit
herabgemindert.
Xoch gröfscr ist in der glcicbcfi Richtung die Wirkung des
sozialen Fortschritts, welcher in der Erhöhung und Stabilistenii^
der Löhne und damit auch der jj^csamtcn Lebenshaltung besteht.
Dann läist der Druck nach, welcher die Frau zu ei^'encm Erwerb
nötigt, und jener Komptex von Motiven, welche ich früher als die
konservativen Gc^cntendenzen des Hauses gekennzeichnet habe, ge-
winnt an Kinflufs. Denn die Frauenarbeit hängt enge mit der Höhe
der männlichen .Arbeitslöhne zusammen. FLinerseits besteht zwar
die Icnden/. dort hVauen einzustellen, wo die männlichen .Arbeits-
löhne vom l "nttriiehmer als hoch em{>fin\den werden, andererseits
wird aber «las \ii)citsangebot der braucii diirrh jede Steigcrunj:; in
dem F.inkomnicn ihrer Männer oder \'äter lieral);^cmindert.- 1 l'nd
bei einer durchgreifenden, nicht auf cin/elnr Rraiichen beschränkten
Hebung des allgemeinen Lohnniveaus ist üjcsc letztere Tendenz die
durchschlagende.'^)
.^o gelange ich denn zu dem Schlüsse, dafs die rasche Zunalunc
der I-raiu narbeit, haupt>ärliiirli in tler hidustrie, nur ins« »lange eine
HegleilersclicimniL; <lcr \t •Ikswirlschaftlichcn Entwicklung ist, als der
soziale Fortschritt hinter dem technischen zurückbleibt, dafs aber,
sobald der .Abstand zwischen dem sozialem und dem technischem
Niveau sich vermindert, Gegentendenzen lebendig werden, welche die
Frauen zunächst von jenen Arbeitszweigen oder Arbeitsbedingungen
*) Beispirlsweise erinnere ich an den Uebergang TOtt der Flachprease tnr Ro-
t.niiün>prcs-ii' im ^ucl»^ruckc^^:<•^verbc , oder an die Einführung von Maschinen in
einzelnen Zwei^^cn der Beklciduni^sindustrie, wodurch die Zahl der darin bewhiftigtcn
Frauen vemiindrrt, jene der Männer vergrofsert worden ist.
'•') Vgl. kud. Martin, Die Ausscbliei'üUDg der verheirateten Frauen aus der
Fabrik. l ubingen 1897, 45 ff.
Der Einflnfs der FamiUenstaikbverbilUiiaie in der darin eingetretenen Vet^
schiebnngen auf die Erwerbtbätigkeit der Frauen soll im nichsten Absdbaitte er*
örtert werden.
Digitizeü by üüOgle
Die Berufs- und üewerbczahluiig im Deutschen Kcicli vom 14. Juni 1895.
befreien, in welchen der Widerspruch mit den natürlichen und ethischen
Aufgaben der Frauen am lebhaftesten empfunden wird und die
Schäden der Frauenarbeit iiir unser gesamtes Volksleben am ge-
fährlichsten sind. Noch ist das Deutsche Reich nicht in dieses Ent*
wicldungsstadium eingetreten. Wir sehen vielmehr die Frauenarbeit
auf der ganzen Linie im Vorrücken begriffen; nur ausnahmsweise,
sumeist in rückläufigen Berufen nimmt sie ab, und wo dies der
Männerarbeit gegenüber der FaU is^ haben wir die Ursache mehr
in ganz speziellen, in den betreffenden Berufen ^^elegenen Veran-
lassungen wie in der Hebung der gesamten sozialen Lage zu suchen.
Noch nimmt die spezifische Kapazität dt r Volkswirtschaft für Frauen-
arbeit rasch zu. Noch hat sie kein wirksames Gegengewicht ge-
futulen in den Bedürfnissen des Hauses und der Familie, welche
die Frau im Namen der künftii^cn Generationen für sich in An-
spruch nehmen. Noch schöpft die rasch gesteigerte Arbeitsnach-
frage, welche der männliche Nachwuchs nicht befriedigen konnte,
aus dem weiten Reservoir der Frauenkraft, die bisher der Familie
angehören durfte, anstatt dals die fehlenden Arbeitskräfte durch
technische Fortschritte ersetzt würden, welclie die Produkte itat der
verfügbaren Hände erliölien. ^) Allein, wenn ich die Krgebnissc der
Berufsstatistik jener Staaten richtig gedeutet habe, deren technische
und soziale Kntwicklung der unseren in manchen Stücken voraus-
geeilt ist, so wird jene grofse Bewegung, welche die I'Vau aus der
geschlossenen Hauswirtschaft in die volkswirtschaftliche Produktion
uberführt, auch im Deutschen Reirlie langsamer werden, später stille
stehen und endlich \icikicht teilweise durch Rückbildungen unter-
brochen w erden. Und Ansätze in dieser Richtung hat auch sclion die
deutsche Beruiszählung von 1895 in der geographischen (iestaltung der
Frauenarbeit zu Tage gefördert. Ich erinnere nur an ihre relative
Abnahme gegenüber der Männerarbeit in ausgedehnten Gebieten und,
an die besondere Gestaltung nach Ortsgröfsenklasscn, welche gerade
iiir die höheren Wutschaftsstufen der gröfseren Wohnplätze die
<) SelbstverstSndlicb ist «neb im Deutschen Reiche die Produktivit.ät de r Arbeit
durch den technischen Fortschritt ungemein gesteigert word<"n. Allein ich meine,
man hat ihn nicht in solchem Mafse ausgenützt, um die Einstellung von neuen
weiblichen Arbeitskräften über das männliche Arbeit!»angebot hinaus entbehrlich zu
machen. Noch stehen die weiblichen Arbeitsluhne m> niedrig, dafb die Einstellung
Ton mdir Frauen, also die Mtansire Ausnutzung weiblicher Arbeiuiträfte profitabler
cisdbeint th höhere KApitalsinvestitioiicn und die iatensivere Aonlltcang der
Mlaneilcnft
Digitized by Google
3^2 H. R»iichb«rg,
niedrigeren Prozentsatze der Frauenarbeit überhaupt und die ge-
ringeren Zuwachsprozente der industriellen Frauenarbeit ergeben hat*)
Ich hrauclic nicht erst besonders hervorzuheben, daß diese
Pro<;iv)se IjIoI's für die Hauptgebiete der proletarischen Frauenarbeit
L^ilt, in welcher das Hauptgewicht der Frauenarbeit überhaupt lieg:t
Im uhriq^en mufs die gesamte P-ntwicklun«:^ /II weiteren Fortschritten
des Frauenerwerbs führen. Habe ich doc h schon firuher ^^czeigt,
wie die Arbeits/erle^nin^ in fast allen Berufen, auch in solchen, die
bisher als ausschUelslich oder [^anz übcrwie^^end männlich galten,
fort und fort neue Arbeitsorelej^enheiten für Frauen schafft. Der
Druck der X'crhältnisse hat die Frauen thatsächlich in jene Berufe
cinL,a'fuhrt und das wird in Zukunft zweifelsohne in noch höherem
Malsc d(T Fall sein. Alx r liir die Fraj^e der I'Vauenarbeit über-
hau|)t, für ihre licdeutun^ für unser «ganzes Volksleben ist das nicht
entsch(Mdend. L^enn dicsr' FiitsciieidunL; licj.,^t auf dem Hoden jener
verhiiUiii^inälsi«^ wcni.; /alilreiidien lUruic. welche die uberwiegende
Mehrzahl aller erwerblhäti^uii I rauen in sich vereinen.-) Von noch
<^erini^erem Belang sind in dicker Richtung diejenigen Berufe, auf
welche die Bestrebum^en der burt;crliclien Fraucnlxwegung gerichtet
sind. (iL wils u erden auch hier manche hindernde Schranken lallciu
Allein so wichtig das aucii in |)rin/.ij)icller Minsicht sein mag, vom
Standj>uiiktc der gesellschaftlichen h.ntwicklung ist der Umfang
jener viel umworbenen Berufe \iel zu gering, als dafs sie für die
Zukunft der Nation von erheblicher Bedeutung werden könnten.
Dazu kommt noch ein Anderes: Während die proletarische Frauen«
frage gerade bei den Verheirateten am brennendsten ist, bleibt die
bürgerliche Frauenfrage, soweit sie den Erwerb betrifft, hauptsäch-
lich auf die Unverehelichten beschränkt Sie ist gcwissemuiseD
die Umkehrung der Heiratsfrage. Das macht sie zwar doppelt
i>rennend für die hiervon Betroffenen, drückt aber ihre Bedeutung
für die gesamte gesellschaftliche Entwicklung herab. Denn fitr
diese stehen die Interessen der kommenden Generation in erster
Linie. Was daran keinen Anteil haben wird, bleibt gleichsam eine
quantit^ negligeable. Und so sehen wir uns denn zum Schlüsse
hingewiesen auf den nächsten Abschnitt, welcher die Atters- und
Familienstandsverhältnisse behandelt und den vorliegenden Abschnitt
durch die Erörterung der eheweiblichen Arbeit ergänzen soll
') Vgl. die Ausfllbrang«!! auf .S. 362.
') 6 Berufsgruppen nmfaMen rasamineii 94,53 Prozent, 33 Berafsacten 94,16 Pro*
zeBt aller Frauen mit Hauptberuf. Vgl. oben S. 346 f.
uiyiiizeo Dy Google
Die Berufs« und GewerbcMhlung im Deutschen Reich vum 14. Juni 1893.
XIV. Alter und Familienstand der Erwerbthätigen.
1. Die Altersgliedervng.
Die Gnindzügc der Altersgliederung des deutschen Volkes
habe ich bereits im I. Abschnitt dieses Hauptteils angedeutet ') In
welchem Zusammenhang sie mit den Berufe- und Erwerbverhält-
nissen steht, haben wir nunmehr zu untersuchen. Die Bearbeitung
der einschlägigen Materialien weist 1S95 insofern einen erheblichen
Fortschritt gegenüber der Berufsstatistik von 1882 auf, als die
jugendlichen Altersklassen von 12 — 20 Jahr nunmehr von je 2 zu
2 Jahren abgestuft sind. Gewerberechtlichen und sozialpolitischen
Gesichtspunkten wird dadurch in angemessener Weise Rechnung
getragen. Auch sind wir so in die Lage versetzt, den allmählichen
Uebertritt aus der Kat^orie der Familienangehörigen in jene der
Erwerbthätigen genauer zu verfolgen.*)
Zunächst haben wir den Elnflufs des Alters auf die Stellung
zum Berufe oder auf die Kategorien der Berufszugeliör ig-
keit zu untersuchen. Die Unterlagen hierzu sind in den beiden
nach stehenden l'cbcrsichten enthalten, von denen die eine die ab-
soluten, die andere die Verhältniszahlen bringt.
Erwerb» B^-ruflosp
Altersklassen thülifjf Dienende Angehörige Selbständige
unter 12 Jahr .... 32^'^; 7812 144M9141 194316
12 bis 14 „ 148700 25689 1880 118 ^SA^*^
U .. 16 „ 1131723 153288 7732S3 5552»
16 „ 18 „ 1397 161 199916 458286 49295
I* ao 145» 206746 383673 4» 644
«ater 14 Jahr .... 181453 335°! 1^379-59 -2507'^
14 bis 20 3980147 5599$° 1 615242 146461
unter 20 Jahr .... 4101600 593451 17994 501 400179
20 bis 30 ,, 5513 '21 519427 23^7454 113747
30 „ 40 3^3^.^^.> 105197 ^504822 106S33
40 50 30S9009 51554 1947^*63 173 »5»
SO „ 60 „ ^37(428 38077 1385465 303988
60 „ 70 „ 1263414 «»795 801032 475028
70 Jahr und d«rttb«r . . . n < > 8815 43<>U8 563881
Summe . . . 20770875 13393(6 27517285 2142808
'1 Archiv lür soziale GesetzRebunu und Stati-^tik XIV. Bd. S. 265 f.
-I AUcrdiniijM wure es huclist « rwiiiiM lit, allen derartigen Lnlersuchungeu den
Altersaufbau nach einzelnen Altcr^juhreu zu Grund legen zu können. Jeden&Us
Digitized by Google
374
H. Rauch berg,
Von je 100 Personen jeder Altersklasse ^nd daher
Erwerb-
bcmfloie
Alters Klassen
UlaDge
SCUnVUMIIge
o/>5
98^41
1,21
88,68
3«09
7.25
36,58
2,63
9.50
21,78
2,54
18,42
2, 00
, 1 />s
0,20
97. >8
i»S4
8,89
2,3a
77.71
1,76
6,09
27.98
t.33
38,10
»59
0,98
37,02
3,29
0,93
33,i»
7,42
• 49.3 1
0,89
3 ».26
18,54
«9.24
0,62
30,59
39.55
im ganzen . .
. 4o.ta
a.59
53, »5
4.U
Mit zunehmendein Alter wechselt auch die Zu^oh n i^^keit zu den
hier unterschiedenen vier Bc\ ölkenin-^so^ruppcn. Auf der untersten
Alterstufe gehören so ziemlich Alle der Gruppe der Familienange-
hörigen an. Nur jene Kinder, die in fremde Obhut ausgcthnn sind,
werden aus zählun^^stechnischcii ririindcn den beruf losen Selbslän-
<H;^en zugezählt. Schulbesuch, Iü■zieluulL,^ Bcnifsvorl)ereitung u.dgl.
l rs.ichen sind es zumeist, welche die Kinder aus dem I\licrnhaus
führen; am häufigsten ist dies auf der Stufe von 12 — 14 j:ihr der
Fall. Fortab nimmt die Kategorie tlcr h'amilienangehürigcn relativ
ab, um auf der Alteistufc von 20 — 30 Jahr ihren Tiefstand zu er-
reichen. Vom 14. Jahr ab wird sie durch den Uebertritt in die
Kategorien der Erwerbthätigen und der Dienenden rasch gelichtet;
kann die vom ZiUnngswerk verbeifsene solide Basis fhr die Versichcnuigsstatislik
auf andere Weise nicht gelegt werden, kh verkenne jedoch nicht, wddier Arbeits*
aufwand — insbesondere ohne die Anwendung von eldtrisdien SQUdnuuefajnen —
damit verbanden w&re; anch ist ziimgcbrn, dafs die VeröffentUchung der so ge-
wonnenen, ilberau'; umfangreichen Tabfllt-n kaum noch anginge. Tnimerhin mochte
CS sicli für die Zukunft i ni|,fi-liU-n, die Aher><itufe von 12 bis 20 lahr in die ein-
zehun Ahersjahre auf^ul<>>cn, und darüber liinaus anstatt der lo j.'iltrißen ^ iährige
Altersstufen zu bilden. Aus welchen Ursachen der Altersaufbau nicht nur für die
Benifsthätigen , sondern fUr alle Kategorien der Bemfszugchörigkcit ausgewiesen
werden sollte, werde ich später zeigen.
Digitizeü by üüügl
Die Berufs- und Gewerbczahlung im Dcuuchcn Reich vom 14. Juni 1S95.
ihr Tiefstand fallt in die Stufe von i8 bis 20 Jahr mit 18,42 Pro-
zent Auf der gleichen Stufe sind die Kategorien der Erwerb-
thätigen und Dienenden anteilsweise mit 69^66 und 9,92 Prozent
am stärksten besetzt. Fortab macht sich beim weiblichen Ge-
schlecht der Einflufs der XTerehelichung dahin geltend, dafe er zahl-
reiche früher erwerbthattge oder dienende Personen in die Kate-
gorie der Angehörigen zurückversetzt. Sie erreicht daher in der
Klasse von 30-40 Jahren neuerdings einen Hochstand, um fortab
allmählich aber ununterbrochen abzunehmen, hauptsächlich infolge
der X'crwitwung. Denn dadurch wird die Mehrzahl der früher als
Angehörige gezählten filicfraucn entweder zu eigenem Erwerb
nötigt, oder doch in die Gruppe der beruflosen Selbständigen
über<:^cführt. Die Kategorie der Erwerbthätigen aber wird vom
30. Lebensjahr ab fortwälircnd <j;« li("]itct ; zunächst, wie bereits er-
wähnt, infoli;e des I-mtlusses der Eheschlicfsunc^en auf den Frauen-
er\\'crb, dann durch den Uebertritt von Invaliden oder sonstigen
Personen, die sich von ihrem Beruf zurückziehen, in die Katc-^orie
der beruflosen Selbständigen. Bis zur Grenze von 60 Jahren macht
das noch nicht viel aus uiul wird zum Teil auch aufL^cwo-^fcn durch
die neuerliche RcteiliL,nni^ der Witwen am Erwerb; im Alter von
60 — 70 Jahren ist aber nur noch die kleinere Hälfte erwerbthätig.
Die Mehrzahl der Greise über 70 Jahr sind beruflose Scli)ständigc.
Allerdings sind die Zahlen über die Kinder- und die Greisen-
arbeit nur mit gröfster Vorsicht aufzunehnu n. Denn der Eintritt
in die Erwerbsthätii;keit, sowie der Austritt aus tiorselben vollziehen
sich häufig nur ganz allmählich, in unmerklichen l cbergängen. Eine
scharfe Grenze kann dabei nicht gezogen werden. Immer bleibt
dem subjektiven Ermessen ein gewisser Spielraum eingeräumt. Es
ist psychologisch leicht zu erklären, dafs Beginn und Ende der Be-
rufethätigkeit den Beteiligten häufig erst bewufst werden, nach-
dem die von der Erhebung gewünschte Grenze schon längst
überschritten ist. Die Angaben über die Kinderarbeit werden
daher zu nieder, die Angaben über die Greisenarbeit zu hoch aus-
fallen. Bei der Kinderarbeit kommt noch dazu, da& sie oft nicht
den arbeitenden Kindern, sondern den Eltern oder anderen Personen
zu statten kommt, die es nicht Wort haben und die Kinder nicht
als Subjekte eigenen Erwerbs anerkennen wollen. Absichtlich oder
doch fahrlassigerweise wird für solche Kinder die Berufeangabe
unterlassen, ja selbst die Bezeichnung ihrer Thätigkeit als Neben-
erwerbb Das ist psychologisch so tief begründet, dafs man von
Digitized by Google
376
H. Rftttcbberg,
den Eltern oder sonstigen Machtbabem niemals Verlälsliches fiber
den Kindererwerb wird erfahren können. Die Erwartung, dafe
eine SpezialStatistik der Kinderarbeit gleichsam als Nebenfrucht der
allgemeinen Berufsstatistik wärde geerntet werden können, ist eine
trügerische. Die Fragen müssen vielmehr an solche mit der Sacb>
läge genüf^cnd vertraute Personen L^orichtet werden, die nicht an
der VcrschIeicrun«T, sondern an dt r Klarlegung der thatsächlichcn
VcihälliiivM- ein Interesse haben, also in erster Linie an die Lehrer
oder Kinderschutzvereine und durch deren V^crmittlung an die Kinder
selbst. Auch wäre eine viel cincjehendere Fragestellun<^ erforder-
lich, womit man die allgemeine Bcrufszählunj^ nicht belasten kann.
Mit einem Worte: die Kinderarbeit ist nur durch Spczialenqueten zu
erfassen. Dann kommt man /u pjanz anderen I' r^clinissen.' 's Da wir
es hier mit einer Frai:je zu ihun haben, in welcher die Bcrufszählung
versat;t, <;etlenke ich darauf nicht mehr (U ^ Näheren zurückzukommen.
Was aber die ( ireisenarbeit anbt !ani;t, so ist es wiederum
j!sychol()»(isch leicht beirrciflirh. wenn sich dreise, obwohl sie that-
'-ächlich nicht mehr eru erb t iiä t i g sind, mit ihrem VDrmall^en
]k"ruf be/eii linen, insl)cs< fiidere wenn flie früheren Be^i^/^■e^llahnisse
noch fortl)e.>lehen. I haisachlich haben wir es hier aber eben mit
solchen zu thun und nicht mit lk-rufs\ oi hältnissen im Sinne der
Statistik, Damit stimmt übcrciu, duis die ganz überwiegende Mciir-
zahl der als erwerbend angegebenen (ireise der Berufsstellung nach
Selb>täiidige sind. Sicherlich haben es die höheren sozialen Schichten
nicht so notwendig, wie die unteren, die Erwerbthütigkeit bis in das
Gretsenalter zu erstrecken. Aber während bei diesen das harte
Urteil des Arbeitgebers über die Erwerbsfahigkeit entscheidet,
urteilt der Selbständige in eigener Sache, und er will sich lieber
nach seinem vormaligen Berufe bezeichnen denn als Rentner oder
vollends als Familienangehöriger. 1,5*^/,, erwerbthätige Kinder unter
14 Jahr sind also offenbar viel zu wenig, nahezu 30'Vo erwerbthätige
Greise über 70 Jahr viel zu viel.
Wie wir eben gehört haben, übt das Alter beim weiblichen
Geschlechte einen anderen, viel wechselvolleren Einflufs auf die
Stellung zum Berufe aus, wie beim männlichen. Denn vom Alter
hängt hinwiederum der Familienstand ab, und dieser ist bei den
Frauen von noch einschneidenderer Bedeutung (ur die Beteiligung am
1} Vgl. Conrad Agahd. Die Erwerbthätigkeit scbulpflklitiger Kinder tm
Deutschen Reich. .Vcbiv fttr soziale Sutistik tmd Verwaltung XII. Bd. S. 373 £
Digiiized by Goog
Die Bcruü- und ücwerbczählung im Deutschen Reich vom 14. Juni 1S95.
Erwerb wie beim männlichen Geschlecht Wie weit dieser £influfe
reicht, wird vollends klar, wenn wir die einzelnen Altersstufen nach
den Kat^orien der Berufezuhihrigkeit für jedes Geschlecht abge«
sondert gliedern. Dazu ist die folgende Au&tellung bestimmt:
Von je 100 Personen jedes Geschlechts und jeder Alters-
klasse sind
Erwerb-
berafloBe
Alteriklaisen
Ihätige
Dienende
urigr
Selbständige
WA n W\ VI 1
niänui.
wcibl.
niünni.
Wcibl.
männl.
wcibl.
männl.
Wcibl.
unter 1 2 Jahr . .
0,34
0,CX7
0,10
98,32
'■34
1.30
12 bis 14 „ . .
9,83
4,21
0,07
2.35
.S(i.4l
90,96
3.69
2,4s
14 " 16 „ . .
72,11
34,95
0,20
«4,31
24,55
48.63
3,H
2,11
16 „ 18 „ . .
86,96
46,08
0,23
18,65
9,8»
33.57
2,99
1,70
18 „ ao „ . .
91.36
48,44
0,25
•9,39
30.9a
»,77
i.»5
unter 14 Jahr . .
>.54
0,61
0,01
0,39
96,82
97,55
»,45
14 bis 20 „ . .
83.40
43. »5
0,22
17,45
»3.41
37,71
2,97
1,69
unter 20 Jahr . .
23.72
12,25
0,07
5,05
74.22
81,19
1.99
».51
20 bis 30 „
95,67
34.13
0,26
11,80
2.37
53,10
1,70
0,97
30 n 40
97,62
20,94
0,10
2,98
0,85
74,34
».43
1,74
40 „ 50 „ . ,
9646
«3.46
0^
1,84
0.68
70.95
2,80
3,75
50 it ^ »» . •
92,5»
»6,76
0,0$
1.7a
0,98
63.24
6,45
8.28
60 „ 70 II
7«.93
»3^94
0,05
1,61
3.15
55.34
«7,87
19,11
70 Jahr und < ir
4 7vU
14.4'''
0,04
1 ,09
iu,5S
-1- M
im gnuen . .
61^3
I9»97
0,10
4.99
34.83
7031
4,04
4.a3
Beim männlichen Geschlecht dauert also der Ueberganj^ zur Krvverb-
ihätii^keit bis zum 40. Jalire an. Darüber hinaus nimmt der Prozentsatz
der l.rwcibthätigen ab, wenn aucii nur ganz allmählich. Die Kate-
gorie der Angehörigen erreicht auf der Stufe von 40 — 50 Jahren,
jene der beruflosen Selbständig^en auf der Stufe von 30 — 40 Jahren
ihren Tiefstand. Gans anders bd den Frauen. Das Maximum der
Erwerbthätigen und Dienenden und das Minimum der Angehörigen
wird hier schon auf der Stufe von 18 — 20 Jahren erreicht Schon
auf der Stufe von 20 — 30 Jahren beginnt der Einflufe der Verehe-
lichung sich geltend zu machen und auf der Stufe von 30 — 40 Jahren
hat er die Vertretung der Erwerbthätigen und Dienenden erheblich
herabgedrückt, jene der Angehörigen entsprechend emporgeschnellt
Fortab zeigen sich aber die Folgen des durchschnittlichen
höheren Heiratsalters und der gröfeercn Sterblichkeit der Männer.
Immer mehr Frauen werden Witwen und ein erheblicher Teil der-
selben wird dadurch zu eigenem Erwerb genötigt Daher eine un«
Archhr für tot. G«MUCtbuaff «. Sutiatik. XV. 3$
Digitized by Google
^^g H, Rancbberg,
unterbrochene Steigerung in der Gruppe der beruflosen aber selbst-
Standigen Frauen und eine neuerliche — wenn aucli nicht absolute
so doch vcrhähnismäfsige — Zunahme der erwerbthatigen Frauen»
welche erst hei der Grenze von 60 Jahren abnimmt ZU Gunsten der
scIbständiL:! ti Fierufsloscn. Kurz, für die Männer entscheidet das
Alter, für die I raucn aber in erster Linie der Familienstand über
die Stcllun<T zum Beruf.
Im Vergleich zu den einschlägigen Ergebnissen der Berufs-
zählung von 1S82 hat die. Vertretung der Erwerbthatigen fast auf
allen .Mtcrsstufen zugenommen, am meisten aber auf den jugend-
liclicn. Sehen wir genauer zu, so werden wir gewahr, dals die
Steigerung der Erwerbsintensität auf der untersten .Mtersstufe —
unter 20 Jahren — hauptsächlicii beim männlichen (leschlechi ein-
getreten i>t, auf allen anderen aber fast ausschlielslich beim weib-
lichen: ja es ist auf ein/.clnen Stufen der Prozentsatz der erwerb-
thatigen Männer sogar um ein Geringes zurückgegangen, haupt-
säclilich zu gunstcn der beruflosen Selbständigen. Es waren näm-
lich erwerbthätig von je loo Personen
1S95
188a
Altersklassen
mlnnl.
weibl.
Eusanunen
weibl.
unter 90 Jahr .
ia.>5
»7,97
«»,77
II,3t
16^6
ao bis 50 „
95.67
34,13
64,60
96,34
31,9«
63,5«
30 ». 40 II • •
97,6a
».94
58.75
97,61
18,50
57.09
4© » 50 ♦» • •
96^6
23.46
58,71
97»04
21.98
58,60
50 „ 60 „ . .
02. 52
■57.85
93-68
25.SI
5S.13
60 ., 70 ., . .
49.3»
79.80
22,71
49 56
70 J.itir und mohr
47. .'4
U.46
2Q.24
4f'.48
13.26
2S.5;2
im ganzen . .
61,03
»9.97
40, i 2
00,37
18,46
38.98
Demzufolge haben ^ch die nachstehend ersichtlich gemachten
Veränderungen in der Altersgliederung der Erwerbthatigen ergeben:
\^on je 100 Erwerbthatigen entfallen auf die nebenbezeichneten
Altersklassen
1S95
18S2
A 1 1 c r s k 1 ;v > s c n
nianiil.
\Vftl)l.
zusammen
mannl.
weibl.
zusanmirn
unter 20 Jalir .
i-,oS
26,07
20,04
16.40
26,79
lS,9i
20 bis 30 „ . .
26.07
27,93
26,54
25-35
27,49
25,SÖ
30 „ 40 „ . .
30,90
13,58
19,04
30,90
13,06
19,01
40 ,1 50 • •
15,81
12,13
14,87
16,88
I3,6o
»5,85
50 „ 60 „
11,56
10,98
»M«
11,70
11,14
11,56
60 „ 70 . .
6,03
6.38
6,08
6,88
6,9«
6,89
70 Jabr und darüber
1,96
«,«5
3,01
1,89
*
3,00
1,9«
Digitizea by LiOU^^I^
Die BcruJs- und Gewcrbczählung im Deutschen Reich vom 14. Juni 1S95.
Wir sehen also: die unteren Altersstufen sind 1895 vei^gleichs-
weise starker, die höheren — mit Ausnahme des Ghreisenalters —
schwacher mit Erwerbthätigen besetzt wie 1882. Bemerkenswert
ist dabei, dafs die Quote der Erwerbthätigen unter 20 Jahren 1895
gegenüber 1882 beim männlichen Geschlecht um 1,28, beim weib-
lichen aber nur um 0^18 verstärkt erscheint Der männliche Nach-
wuchs ist somit stärker in Anspruch genommen worden wie der
weibliche. Ich erblicke darin einen neuen Beleg (Ur die im vorigen
Abschnitte vertretene Ansicht, dafs die gesteigerte Einstellung von
weiblichen Erwerbthätigen zur Deckung des vollen Arbeitsbedarfes
erforderlich gewesen ist, nachdem der männliche Nachwuchs so gut
wie aufgebraucht war.*)
Die Erwerbsarbeit des deutschen Volks ist also intensiver ge-
worden. In zweifacher Richtung: zunächst nehmen auf jeder einzelnen
Altersstufe nicht nur absolut, sondern auch im Verhältnis zur Gcsamt-
bevölkcrung mehr Personen teil am Erwerb wie früher. Dann aber
ist die Intensität der Bcrufsthätigkeit auch dadurch ^M stcigcrt worden,
dals CS insbesondere der Nachwuchs und die jün^^ffreii Altersklassen
sind, aus welchen das Plus an Erwerbthätigen hervorgeht. Nicht nur
vergrölsert sondern auch verjünLaTt ist die ( iesamtmassc der Heruf-
thätigen. Mit grölserer FCncrgie kann sie daher ihre Zielr \d folgen,
und sie hat Aussicht ihre Thätigkcit länger zu ci^trct krn wie die
abtretende (ieneration. Wir dürften diese Kräftigung unserer Volks-
wirtschaft mit ( leiiugthuung begrüfscn, wenn wir nicht die Zunahme
der Kuuici - und Frauenarbeit als unerfreiiliclie Begleiterscheinungen
mit in den Kauf nelimen mülsten. Jedenfalls aber sind es Symi)tome
des hochgespannten Menschenbedarfs der deutschet) Volkswirtschaft.-)
Indem ich nunmehr daran gehe, die Altersgliederung in den
einzelnen Berufen, und zwar zunächst nach den grofsen Berufs-
abteilungen zu besprechen, mufs ich bemerken, dafs die Alters-
gliederung — und ebenso auch die Gliederung nach dem Familien-
stände — nur fiir die Berufthätigen, nicht aber auch fiir die
anderen Kategorien der Berufezugehörigkeit ausgewiesen wird. Wenn
ich es auch vollkommen begreife, ödSs die Kombinationen nicht bis
ins Uferlose ausgedehnt werden konnten, so bleibt es doch zu be-
») Vgl. üben S. 336.
Die Zunahme der Greisenarbeit erwähne ich nicht unter diesem Gesichts-
punkte, weil mir die Ergebmsie aus den auf S. 376 geltend gemachten Gründen
nicht verUlftlich genug scheinen, und die Venchiebongen flbrigens nnr ganz gering*
nigig sind.
»5*
Digitized by Google
380
H. Kauchberg,
dauern, dafs jene Einschränkung es unmöglich macht, einen wich-
tigen und interessanten Gesichtspunkt aufzustellen und zu verfolgen:
nämlich die Erwerbthatigen in jedem Beruf zu ihrem Nachwuchs
in Beaehung zu setzen und zu untersuchen, inwiefern der Nach'
wuchs den voraussichtlichen Bedarf deckt, die Menschenbilanz der
einzelnen Berufe also aktiv oder passiv abschlie&t Einblick wäre
auf solche Weise zu erlangen gewesen in die Frage der erblichen
Beru&folge und des Menschenaustauschs der einzelnen Berufe, bt
das nun auch ausgeschlossen, so bietet doch die Untersuchung des
Alters der Erwerbthatigen nacli einzelnen Berufen, sowie der hierin
eingetretenen Aenderungen seit 1882 genug des Interessanten. Die
ziffernmälsigen Unterlagen hierfür sind in der nachstehenden Ueber*
sieht enthalten:
Im nebenhezeichneten Alter stehen von je ICD Erwerbthatigen
der Berufisabteilung
Land«
Lohn-
Sonstiger öflfüllt*
und
In-
Handel
arbeit
Armee
lieber Dienst
4 • A % %F « V ■% * V* 4# V ^
Forst*
dustrie
und Wechselntier
und
und freie
wirlüchaft
Verkehr
Art etc.
Mariue
Beruf&artcD
im
Jahre 1895
unter 12 Jahr
0,37
0.02
O.Ol
0,05
0,0t
12 bis 14 „
1,36
0,44
0,22
0,37
0,11
«4 » i6 „
6.66
SM
3,3«
4,62
0,04
1.78
16 „ tS
7.16
7,66
5,3»
4,93
0,33
3,67
»« » » „
6.84
8,08
6,0s
SM
3,39
3.76
onter 14 Jahr
I163
0,46
0,23
043
0,13
14 bis ao „
20,66
ai,3»
«4,73
14,69
3.76
8,21
unter aoJ«hr
33,39
21,84
14.96
15.11
3.76
8,33
so »t 30 »♦
21,24
28,03
25,03
30,92
89,09
24.30
30 M 40 II
16,24
21,14
22.76
18.79
5,09
26,63
40 „ 50 n
14,87
14.57
17-S7
17,64
1,33
18.40
50 II 60 „
13,86
9,17
»2,35
15.38
0.59
13,03
60 „ 70 „
M7
4,06
5.48
9.19
OtI3
7,06
70 Jabr «. darüber
3^3
1.19
1.56
a,97
0,02
»,«9
im Jahre 1882
unter 20 Jahr
21,84
19,66
11,66
9,01
3,58
7,36
20 bis 30 n
22,25
«7.57
22,69
«7,9«
89,43
33,99
30 „ 40 „
16,18
21.74
24,22
21,93
4.73
24,06
40 n 50 "
15.75
15.34
20.00
20,64
1,49
10.26
50 „ 60 „
9.41
12,8S
16,96
0,57
14,02
60 „ 70 „
8i45
4.99
6,68
10,73
0,16
8,86
70 Jahr u. darüber
3,42
1,29
1,81
2,81
0,04
3i95
uiyiiizeo Dy Google
Die Bc-rufä- und Gewcrbezäblung im Deutschen Reich vod) .4. juiu 1^95.
Die Landwirtschaft wird charakterisiert durch die höchsten
Quoten der Kinderarbeit sowohl wie auch der höheren Altersstufen.
Die Klassen des kräftigsten Alters hat sie zum Teil an die anderen
Berufsabteilungen abgegeben, vorzüglich an die Industrie, woselbst
insbesondere die Alterstufe von 20-^30 Jahr durch ihre übernor-
male Besetzung — 2SjO$ Prozent — fiervorragt Erheblich schwächer
wie in den anderen Berufsabteilungen sind hier die Altersklassen
über das 40. Jahr hinaus besetzt, nicht etwa wegen des gröfseren
Menschenverbrauchs der Industrie — nach dieser Richtung gestatten
die vorliegenden Ziffern keinen Schlufs — sondern weil die rasche
Entfaltung der Industrie auf den Nachwuchs angewiesen ist, nicht
nur auf ihren eigenen, sondern auch auf jenen der Landwirtschaft,
und weil diese Bewegung noch zu kurze Zeit währt, als dafs sie sich
durch alle Altersklassen hindurch hätte fortpflanzen können. Handel
und \>rkehr, insbesondere aber der öffentliche Dienst und die freien
Berufsarten zeichnen sich durch eine relativ stärkere Resctziinrr (]cr
höheren Altcrsiuten aus, und geradezu charakteristisch ist sie tur die
Abteilung Lohnarlioit wechselnder Art als der Zuflucht zahlreicher
gescheiterter Existenzen. Dals sich der aktive Kriegsdienst haupt-
säclilich auf das Alter von 20 — 30 Jahren zusammendrängt, ist von
vornherein nicht anders zu erwarten.
Im Vergleich zu den ei»tsprcciienden Zahlen für 18H2 erscheint
die Altersstufe bis zu 20 Jahren nunmehr in sämtlichen Hcruls-
abteilungen stärker besetzt: sie alle haben sich rascher durch Re-
krutierung erweitert, als dies den physischen Nachwuchsveriiält-
nissen eigentlich entspricht. Insbesondere da.s Menschenmatcrial der
rascii aufstreijenden Berufsabteilungen Industrie, Handel und Verkehr
ist erheblich junger geworden. Denn so häufig der Uebertritt von
Erwerbthätigen aus anderen Benifen auch ist, in erster Linie beruht
die Erweiterung der Erwerbarbeit doch auf der Au^ugung des eigenen
Nachwuchses. Im übrigen erscheinen die oben hervorgehobenen typi-
schen Abweichui^en im Altersaufbau der einzelnen Beruiigabteilungen
1895 noch schärfer ausgeprägt wie 1882: die Uebersetzung der kraftig-
sten Altersstufen in den aufetrebenden Berufsabtheilungen, die ent-
sprechende Depression bei der Landwirtschaft, der Bodensatz alter
Leute bei der Lohnart)eit wechselnder Art. Die Altersgliederung
jeder einzelnen Berufsabteilung entfernt sich immer weiter von dem
Typus, welcher der Gesamtbevölkerung und dem Generationen-
wechsel entspricht und wird immer mehr beherrscht durch die Ent-
wicklungstendenzen und die Aufnahmefähigkeit der einzelnen Berufe.
Digitized by Google
382
H. Kauchbcrg,
Ein enger Zusammenhang besteht zwischen dem Alter und
der sozialen Stellung. Unter je loo Erwerbthätigen jeder
Altersklasse sind
1895
i88a
' Altersklassen
Selb-
An-
Arbeiter
Selb.
An*
Arbeiter
aUmdige gestellt^
stiiidige
gestellte
unter 20 Jthr .
1,76
1.9»
96,33
0,65
96,49
ao bis 3p ,«
. I3'3
4.14
82.73
•5.70
81.58
30 40 „
. 36,34
4.50
59.» 6
41,00
2,66
56,34
40 5" '»
. 47,8S
3.65
2,05
47.59
50 „ 60 „
• 54,38
2,68
42,94
55,83
1,50
42.67
60 „ 70 „ .
. 57,58
40.5»
58,39
1,11
40,50
70 JtAr wad mehr
. 61,04
1,10
37,86
6s. 13
0,78
37^
im ganzen
3,»9
67,77
3«,o3.
1,90
66,07
Von Altersstufe zu Altersstufe sind demnach die Selbständigen
stärker, die Arbeiter schwächer vertreten. Die Quote der Ange-
stellten erreicht auf der Stufe von 30 — 40 Jahr ihren Höhepunkt,
um sndann wieder allinähhch abzunehmen. Diese (icstaltung^ der
Reihen wird in erster Linie durch den Uebertritt von einer sozialen
Klasse zur anderen herbeigeführt, welchen die Jahre für Viele mit
sich bringen. Und /.war findet die überwiegende Bewegung in der
Richtung nach der höheren sozialen Klasse statt. 12 Prozent der
Unternehmer, aber 60 Prcizent der Arbeiter sind unter 30 Jahr alt;
38 Prozent der l fiternchmer und nur 12 Prozent der Arbeiter sind
über 50 Jahr alt. Inwieweit die Sterl)lichkeitsverhähnisse dabei
mitspielen, lässt sich nach den zitl'ermässigen l ntc:i.iL;cn nicht be-
urteilen. Jedenfalls aber geht die aufsteigende Klassenbewegung
parallel mit dem Alter.
Im Vergleich zu 1882 sind sämtliche Altersstufen der Unter-
nehmer nunmehr schwächer, sämtliche Altersstufen der Angestellten
sowie der Arbeiter — hier mit Ausnahme der jüngsten — nun-
mehr stärker besetzt. Die Verschiebung -der sozialen Schichtung
in der Richtung der Arbeiterklasse erstreckt sich auf alle Alters-
stufen und kann demnach keinesw^ mit der Erweiterung der
Volkswirtschaft durch die zahlreichere Einstellung jüngerer Kräfte
erklärt werden. Wir haben es vielmehr, wie ich schon früher fest-
gestellt habe, mit einer durchgreifenden Veränderung der sozialen
Struktur zu thun.
Diese Veränderung hat sich aber, wie überhaupt, so auch im
Hinblicke auf die Altersgliederung in den einzelnen Berufs*
Digitized by üüOgle
Die Berufs- und Gcwerbcühluog im Deutschen Reich vom I4. Juni 1S95.
abtheitungen nicht in der gleichen Weise durchgesetzt. Nach
Berufsabteilungen ist 1H95 der Zusammenhang zwischen Alters-
gliederung und sozialer Schichtung der folgende:
Von je icx> Erwcrbthätigen jeder Altersklasse sind
in der in der im liandel
Landwirtschaft Industrie nnd Verkelir
Altersklassen Selb- Ange- Ar» Selb* Ange- Ar« Selb» Ange» Ar-
stSndige stellte beiter stUndige stellte heiter stindige stellte heiter
unter ao Jabr 0,14 0,5s 99,3« S S^ i.59 94.S3 0.94 10,76 88,30
20 bis 30 „ 9.19 l..^7 89.44 15,81 3,35 80,84 U<4> «5.6i C.q,98
30 „ 40 ,. 41,11 1,69 57.20 31,26 4,17 64,57 .XO.nq 12, (K) 4(1,32
40 M 50 .. 53.36 1,41 45.23 39,74 3.96 50.30 55.21 3>.42
50 „ 60 „ 57,26 1,15 41,59 46.59 3.42 49,99 63.42 6,78 2y,8o
60 „ 70 M 56.«» 0,98 43,00 54,90 2,61 42,49 73,15 4,49 22,36
70 Jabr n. niehr_56,03 0.67 43.30 65,93 1.68 32.39 82^36 2,51 15,13
im ganzen 30,98 i,t6 67,86 24,90 3.18 71,92 36,07 11,20 52,73
Am spätesten führt die Landwirtschaft , am ehesten die
Industrie zur Selbständigkeit. Denn in der Landwirtschaft ist sie
zumeist i;ekniij>ft an den Resitzwirhsrl iitnl dieser hinwiederum an
den Geticrationcinvechsel ; in der Iiuhistrie. ^owie im I landcl und \'er-
kehr bieten doch noch immer zalilreiche Berufe und Betriehsformen
dem energisch Aufstrebendon riclc^^^enhcit, die Scll)stän*l!'.,'krit zu er-
rini^en. wobei die Beschaftuni; des erforderhchen Kapit.il^ 1111 1 icuidel
um.! Wikchr stärker retardierend wirkt wie in der Industrie. Dalier
stehen von je lOO Selbständigen
der Landwirt* der des Handels und
in Alter schalt fndtistrie Verkehrs
▼on anter 30 Jahren 6,70 20,95 lo^^
n II 40 »7.96 47.49 36,a4
II SO I. 53.57 70,75 63,60
Umgekehrt verläuft die Alterskurve bei den Arbeitern. Die
Landwirtschaft weist die höchste, die Industrie die geringste Quote
bejahrter Arbeiter aus. Was endlich die Angestellten anbelangt, so
steht ihre Quote im Handel und Verkehr mit 20—30 Jahr, in der
Industrie mit 30 — 40 Jahr am höchsten; im Handel früher, weil hier
schon der Eintritt in den Beruf häufiger in jener Stellung erfolgt,
während sie in der Industrie oft erst durch Aufisteigen aus der
Klasse der Arbeiter erworben wird.
Gegenüber dem Jahre 1882 sind, sowie im ganzen auch hin-
sichtlich der Altersgliederung der einzelnen Beni&abteUungen und
Digitizeü by Google
384
H. Ranehberg,
sozialen Schichten keine wesentlichen Aendcrungen einj^cttvi -i.
Bemerkenswert ist nur, dass unter den Selbständigen der Industrie
die höheren Altersstufen nunmehr etwas stärker, die Jüngeren
schwächer vertreten sind. Nur die Greise über 70 Jahr haben hier
zugenommen, alle anderen Altersklassen ai)er abgenommen: die
Selbständigkeit aus früherer Zeit wird bewalirt, sie neu zu erriiv^iTi
fällt immer schwerer. ¥üv die Landwirtschaft ist die verglcicli^-
weise stärkere Vertrctutig des jugendlichen Alters und der Ausfall
in den mittleren Altersklassen charakteristisch. Was von diesen an
die anderen lierufe abgegeben wurde, ist wenigstens teilweise thir'"!i
die friiiiere Kinstellung des Nachwuchses ersetzt worden. Ilin>iclil-
lich der Wischiebungeii in den Alter-^\ et hältnissen der industriellen
Arbeiter verweise ich auf meine Ausfuhrungen im X'. Abschnitt. ^)
Um endlich aucli einigen Hinblick in die .'\ltcrsverhältnisse der
einzelnen Bc r u 1 sg r u p p e n zu ermöglichen — aui die Berufs-
arten einzugehen verbietet die Rücksicht auf den verfügbaren Raum •)
— so schalte ich die nachstehende Tabelle ein, welche den Alters-
autbau der Erwerbthätigen jeder Berufsgruppe in den Jahren 1895
und 1882 in Gliederungszahlen darstellt
Siehe die Uebenicht auf S. 385.
Zwei Momente sind es hauptsachlich, von welchen die Alters-
gliederung innerhalb der einzelnen ßeruCsgruppen abhängt: ihre be-
sonderen Ansprüche an die körperliche Leistungsfähigkeit, die ja
durch das Alter in hohem Masse bedingt ist, und dann die auf-
steigende oder sinkende Bewegungstendenz. Berufe, die besondere
Rüstigkeit erheischen, wie Bergbau und Hüttenwesen, Industrie der
Steine und Erden, Baugewerbe werden durch die l'ebersetzung der
mittleren Altersstufen gekennzeichnet, Berufe, wo die körperliche
Leistungsfähigkeit nicht in gleicher VW ise von Belang ist, durch die
Uebersetzung der jugendlichen und höheren Altersstufen. In der
gleichen Richtung aufsert sich auch der Einflufs der Entwicklungs-
tendenzen. Aufstrebende Berufe ziehen den Nachwuchs an sich und
locken auch sonst die leistungsfähigsten und kräftigsten Pllemente
an: sie zeichnen sich daher durch eine höhere Vertretung der jüngeren
Altersstufen aus, währetul die rückläufigen oder stagnierenden Be-
rufe auf die minder leistungstahige Arbeit einerseits des jugendlichen
>) Vgl. den XIV. Bd. dieses ArcliiTS S. 614.
*) AnifUhrlichere DarsteUpttg, insbesondere auch anter B«rü^nchti£ttii£ der
örtlichen Verschiedenheiten bei P. KoIlaMnn im Jahrb. f. Geset^eb. elc. Jahrg. 1900
S. 163 ff.
Digitized by Coogl
Die Heruts- und ticwcrbezählung im Dculscben Reich vom 14. Juni 1895.
- s« »5 - * O
M M O M M O M
c
i/
o.
a.
s
t£
g
CO
e
c
t c
i
o .
jn
c •
e o
w
8
o
J3
00
00
5
O
o
CO
00
'»^ 00
r/1
IE
O On
00
J3
O A
3
CO
00
O « M o
0
QC
N
•*
M
et
CO
c
VO
o<
o"
d
0"
C4 — Q — m
* f» O
o* »f «-
C^ »/'i vO O ") O !-<«"•
O >0 r» * ^ w» O QC fJ
-Ä «O
00 O f^rO'iJ-rOiriVO
m 00 M — 00
't- O rO
00" -~ ~
m f* «n ro ^ w
-t fO O \0
^ "2 * *0 *t. **- ''J. " r-. 1-» - » r^, ^ „ ö r-. N
•/■( t>. r»> M M
Q O 9>>-e0Q0 c>oe
00 eor^r^" ^ ^ "O
*^ 00 t>> äT otf" S tZ ^ m!" »fiT |C cT
1^ «f c
OK Ov r*»
^oq^ «
o" »Ä otf" <R ^ «o"
f*! t-^ "i 00
o o >c
— 1^ £> ^ \o * 00 «/» VO u-i ly, iri
C - >' . i A r». O ov CO vo 00 o
Ov »rt « u-, \cr ^ r< tÄ to ^ vo <f cT ^
— Q0_ 0_ — vO N_ CO_^ IC. C -r »ri 00 — «00 O C?« O N
vo" o" vfiT -f d ■»f vo" oo' — « — 00 cf> w" — — "
^ N ^ Q — -t C N ir, ^
— SO O CT^co r^fs in so f^,
<0 fi
•t fi — r) r< r) — ri rj
O O CO 00 o
'1 o v o
vn ri o Ö O —
ti 3 cri N "^ OO r-^ c
«»^ & »2 ♦ — W N N O «<■
M OD ao ^ CO* o' ^ d
— — r< — — — r<
vO
q.
VC
0
1 /"i
0
00
«^0
0
CO
<^ N W
00"
q.
QO_
tr. CO
0 -
M
rs
ri
«'
n
ri
er
v£>
N
-+
'O
%
CO
vO
C*
vq
ri
ri
N
cP
M
ut so
N "
N
in
tt
r~
0^
-f
e*
vO
t-<.
ö
f*i
- O - o
LT: r-- C". ^
— OO « c- I-
O SC
— « w
>: r-o 1^« NvO i^<o ro
O ^ — f'i ^ N \o ei" ^ ff vo" « »Ä «f
o
so'
OS
00
00
— e
= ^ 'S £ S S
'S« >2 VI £ M O. *9
t2i tS <a o «* j« V
5? S ö Cfa H Ä J
— — tx
121
Digitized by Google
386
Ii. Rauchberg,
Alters unter 20 Jahren und andererseits der höheren Altersstufen
aufgewiesen bleiben. Die Landwirtschaft und die Textilindustrie ent-
halten hierfür Belege. Auf die gleiche Weise sind auch die Ver-
schiebungen gegenüber den Ergebnissen von 1882 zu erklären. In
den aufstrebenden Berufen wächst die Uebersetzung der mittleren
Altersklassen, in den stationären die Uebersetzung der noch nicht
und der nicht mehr voll leistungsfähigen Altersstufen. Die Unter-
schiede in der Altersgliederung vei^roisem sich in dem Malse, ab
die erbliche Berufsfolge an Boden verliert, und der Nachwuchs von
seinem Milieu sich emanzipiert, um jenen Berufen sich zuzuwenden,
welche die besseren Aussichten bieten. Bessere Aussichten sind aber
in erster Linie bedingt durch gesteigerte Produktivität der menschlichen
Arbeit. Alle Berufe stehen unter einander in einem labilen Gleich*
gewicht, das dem Gleichgewichtszustand zwischen den einzelnen
Zweigen der Produktion und Konsumtion entspricht. Die entschei-
denden Aendcrungcn hierin gehen von der Seite der Produktion aus:
der technische Fortschritt ist es, welcher ihr die Wege weist. Infolge
der Vcrbilli^aipi^' der Waren pafst sich ihr die Konsumtion dann an,*)
Gröfsere Produktivität ermöglicht aber bessere Bedingungen für Kapital
und Arbeit. Technisch erweitert sie die Produktion, gesellschaftlich zieht
sie Kapital und Menschen an sich. Jene stete Umbildung der Berufs-
gliederung und sozialen Schichtung, in welche die Benifvzählung hin-
ein leuchtet, wird also hauptsachlich bewirkt durch die Acnderungen
in der Technik und Organisation des gesellschaftlichen Produktions-
prozesses. Damit steht die erbliche Berufsfolgc in Widerspruch.
Denn jede Stufe jener grolscii Fntwicklung bedingt, wenigstens bis
zu einem gewissen Grade, eine neue Auslese der in der Produktion
*) Selbotrerstiadlich werden die Erfinder oder OrgnnfaHlomi geleitet von der
Rücksicht auf die gesellsduitlidicn Bedttrfiiisse, die KofiramtioD, den Tonnasicbt-
lidien Absatz und den Gewinn, welcher von der Minderong der Frodnktionskosteii
und iliT F.rwcitoruuR des Absal/.cs /.u prwart«'n steht. Die Kenntnis gesellschaftlicher
B«"lürfni»L- ist also einer ii«'r wichtij^sten Motive für den Erfinder oder Organi>ator.
A!>' r ihre \Virksaink> it iiulWrt -irli « Ix-n zunSrhst in Acnderungen des Produktions-
jtro/." ^.-m s und erst der Preis ixier die Bis< hatienhfit der gebotenen Waren oder
Lcihtuugcu rufen die vorausgcseUte Nachfrage seitens der Konsumenten wach. Oft
war sie latent, oft folgen aber die Konstuntionssitten nnr lögenid und widerwillig den
Fortschritten der Produktion. Also nochmals: menschliche Bedürlinsse, die Rddc«
sieht auf deren bessere Befriedigung und den dadurch an erzielenden Gewinn sind
die psychologischen Motive, die Acnderungen in der Technik und Oiigaiitsation aber
die thatsächlich treibenden Kräfte bei der Umwandlung des Produktionsproxesses und
der Ulm entsprechenden Bcrulsgliederung.
Digittzed by Googl
Die Berufä- uad Gewerb«uhliiiig im Deutschen Reich vom 14. Juni 1S95.
thätigcii Arbeitskräfte. Dieser Auslese ist zunäclist der Nachwuchs
unterworfen, weil hier die konservativen, retardierenden Klcmcnte
relativ am schwächsten sind. Aber auch solche Personen, die be-
reits ihren Platz im Erwerbleben gefunden haben, wissen sich häufig
dem Eififlufs jener Elemente zu entziehen und durch den Wechsel
des Berufe oder Produktionszwe^es an der aufsteigenden Konjunktur
teilzunehmen. Natürlicherweise sind es hauptsachlich die Jüngeren,
die zu solchem Berufswechsel entschlossen und befähigt sind. Die
Umbildung der Berufsgliederung geht also in der Form des Berufe-
wechsels vor sich, in der Regel in gleichem Schritt mit dem Genera-
tionswechsel, zum Teil aber auch demselben vorauseilend. Die
Spuren dieser Bewegung haben wir in der Altersgliederung der
Erwerbthätigen erkannt.
2. Der I-'amilicnstand.
Bevor wir in die Erörterung der Familienstandsverhältnisse
innerhalb der eitizelnen Berufszweige eingehen, empfiehlt ts sich,
einen Blick auf die Familictistandsgliederung in den verschiedenen
Kategorien d e r B e r u fs z u g e h i> r i k c i t zu werfen. Das wird
durch die nnclKtchcnde l'ebersicht rrniot^liciit. Bei der Berechnung
der GlircieriK.L^zahlcii sind die Kiiuicr unter 16 Jahren als noch
nicht ehemundig aulscr Anschlag gebhebcn. Die Geschiedenen
wurden wegen ihrer geringen Zahl nicht gesondert ausgewiesen,
sondern zu den X'erwitweten geschlagen.
Von je 100 nebenbezeichneten Personen sind demnach
Stellung zum ledig verheiratet verwitwet
Beruf: mänai. weibl. zus. männl. weibl. zus. männl. weibl. zus.
F.rwprbthätigc . 39.23 59.08 44.17 57.31 21.60 48,42 3.46 19,32 7,41
Dienende . . . 87,72 95,52 O5.37 lO.IO l.oo I.18 2, 18 3.48 3,45
Angehörige . . 71,43 17,03 19,29 13,76 77,lS 74,54 14,81 5,79 6,17
beruf lose Selb«
' stladige . . 27.9t »6,05 26,92 48.05 6,18 25,80 24,04 67,77 AIJ^
im gansen . 39,56 34»87 37, ^4 55.57 53.76 4,87 13,08 9,10
Wenige Worte genügen zur Erklärung. Durchaus sind die
beiden Geschlechter «/ctrennt zu untersuchen. Verheiratet sind
unter den erwerbthätigen Männern mehr als die Hälfte, von den
erwerblhäti'jfcn Frauen etwas mehr als der fünfte Teil. \'on den
familienangchorigen Frauen sind es d.igegen nahezu vier 1-ünfiel.
Für den l''r.iucnerwerh sind also die l-\amilienstandsverhällnisse
von geradezu entscheidender Bedeutung. Wie wir im vorigen Ab«
Digitized by Google
388
Ii. Kauchberg,
schnitte gehört haben, beträgt die Zahl der hauptsächlich erwcrb-
thätigen Frauen im Deutschen Reich 5264393. Die häuslichen
Dienstboten können bei der nachfolgenden Erörterung als ganz
überwiegend ledig — nur 3 Prozent derselben sind verheiratet oder
verwitwet — aufser Anschlag bleiben. AuGserdem kommen noch
421 241 weibliche Erwerbthätige im Alter von unter 16 Jahr in Ab*
zug, so dafs 4843152 erwerbthätige Frauen erübrigen, die im Alter
der Ehemündigkeit stehen. Von diesen sind 2 861 148 oder 59^08
Prozent ledig, x 046381 oder 2i,6i Prozent verheiratet und 935623
oder 19,31 Prozent verwitwet oder geschieden. Hing^^n sind im
ganzen von je 100 Frauen, die im Alter von 16 Jahr und darüber
stehen, 34,87 Prozent ledig, 52,05 Prozent verheiratet und 13/28 Pro-
zent verwitwet. Die Quote der Verheirateten steht also bei den
erwcrbthätigen Frauen kaum halb so hoch, wie unter der Gesamt-
zahl der < In Müindigen Frauen. l''mg;ckehrt verhält es sich mit den
Quoten der Lechzen und der Witwen; chese erheben sich bei don
erwcrbthätigen Frauen beträchtlich über den Durchschnitt. Die
ganz üb» ! i ' ^^ende Mehrzahl derselben sind eben Mädchen, welche
dem schulptlichtifj^cn Alter entwachsen, bis zur Zeit der Verehe-
lichung gänzlich oder doch der Hauptsache nach auf ciji^enen Er-
werb angewiesen sind. Die Mehrzahl derselben tritt sodann infolge
der Eheschlielsunj^ dauernd oder doch zeitweilifj aus der volkswirt-
schaftlichen Erwerbarbeil in die Kategorie der Familienangehöri<^cn
zurück. L ud davon bleibt hinwicdcruni ein erheblicher Teil nach
lOde des Mannes iin\f r<t)rgt zurück und sieht sich neuerdings zu
dein eigenem h.rwerli .;c:i( tti;.^t. So kommt es, dafs — wie aus der
obigi-n l Ll)ersichl zu entnehmen — die X'erwitweteii unter tlen
erwerbenden i'Vauen naiiezu 6 mal so stark vertreten sind, wie
unter den erwerbthätigen Männern.
Ist al>o auch die bei weitem gröl'sere I lälfte aller erwerb
ihätigen brauen ledig, so erül)rigen doch rund 2 Millionen erwerb-
thätigcr hVauen, die entweder verheiratet sind oder es doch waren,
2 Millionen deutsciie brauen, welche zu den Pflichten der Painiiie
und der Häuslichkeit auch noch die schwere Last des Hauptberufs
auf sich nehmen mulsten ! Hierin, in der ehewciblichen Krwerbthätig-
keit erblicke ich den Mittelpunkt der Frage der b rauenarbeit überhaupt.
Denn alle l'ebelstände der Frauenarbeit und insbesondere die damit
verbundenen Gefahren fiir das physische und geistige Wohl tier
kommenden Generation treten am schärfsten hervor bei den b lauen,
welche Mütter geworden sind> Freilich sind es nicht alle Ehefrauen
Digitized by Goog
Die Herufä- und Gcwerbczähluii^ im Deutschen Reich vom 14. Juni 1S95. 389
oder Witwen, aber doch die ganz überwiegende Mehrzahl Dar-
über werden wir durch die Berufsstatistik jedoch nicht des Näheren
unterrichtet Ich möchte anregen, daCs bei der nächsten Wieder-
holung der Beru&zählung die Daten über die Kinder der erwerb-
thätigen Frauen ausgebeutet werden.*) Soweit die Kinder unter der
Obhut der Mutter stehen, und das ist ja bei der ganz überwiegenden
Mehrzahl der Fall, finden sie sich in der gleichen Haushattungsliste
verzeichnet; einer besonderen Erhebung bedarf es also nicht Der
Wichtigkeit der hier im Spiele stehenden Interessen wäre es ange-
messen, die verfögbaren Eintragungen nach dieser Richtung hin mit
besonderer Sorgfalt auszubeuten.
Seit 1882 hat die eheweibliche Arbeit erhebliche Fortschritte
gemacht Da damals die Geschiedenen, welche 1895 zu den Ver-
witweten geschlagen werden, mit den Ledigen zusammen ausge-
wiesen wurden, ist die Vergleichung nur hinsichtlich der beiden
grolsen Gruppen: Verheiratete und Unverheiratete möglich. 1882
waren 697639 Verheiratete und 3561464 nicht verheiratete Frauen
erwerbthätig, 1895 sind es 1 046 381 verheiratete und 4 2 18 Ol 2 nicht
verheiratete Frauen; die verheirateten Frauen haben also um 49^8
Prozent, die nicht verheirateten nur um 18,5 Prozent zugenommen.
Im ganzen ergeben sich iiir die 4 Kationen der Berufszugehörig-
keit folgende Verschiebungen in der Familienstandsgliederung:
Es sind
1895 1S82
nicht nicht
von je 100 verheiratet verheiratet verheiratet verheiratet
mMiml. weibl. mlnnl. weibl. mimi]. weibl. mlmiL weiU.
ErwerbthStigeii . . . 54,02 19,88 45,98 9o,t2 55,18 16,38 44,8a 83.6a
Dienenden .... 8,92 0,86 91,08 99,14 9,83 1,28 90^17 98,7^
Angehörigen. . . . 0,67 41,07 99»33 58f93 4M* 98»8o 58,54
bernfU». Selbtttadigen 40^05 5,38 59.95 94,62 42,61 3,93 57,39 96,07
Die Khcstandszitlcr des männliclien (ieschlechts hat also durchaus,
jene des weiblichen (icschlechts aber nur bei den Dienenden und
Aii^feh(')rij:^cn abgenommen, bei den Li \vt rlithäti^en und l)eruflosen
Selbständigen hingegen zugenommen; waren 16,4 von je lOO
erwerbthätigcn Frauen verheiratet, 1895 sind es bereits 19,9.
') AnsHtz«' zu *"iner Familienstatistik unter bi sondrr«T Iierücksiriiti;,nin>^ der
Kinder/;«!)! !)< i der fraii/o'-iM hen Volk^zühlunp. Auf die Kombination mit den Ge-
sichtspunkten des ErM'erbä war sie jedoch nicht bedacht.
Digitized by Google
390
H. Raucbbcrg,
Bevor ich die Fatnilienstandsgliederung nach den einzebeo
Berufs abteilungen vorführe, schalte ich hinsichtlich der weib-
lichen Erwefbthätigen die einschlägigen absoluten Zahlen ein, deren
Kenntnis (lir die Beurteilung der Frauenarbeit von besonderer Wich*
tigkeit ist. '
Unter den berufthätigen Frauen sind
in d<-r Hcrufsableilung
vcrhi iraiol
vcrwilwft
l 051 524
615 301
4.S0 3^9
1048818
250666
221 034
323966
129176
136466
123266
2859s
83004
E 3—8. Oefftmü. Dienst u. freie Berafsarten
135 81 5
22643
18 190
Im ganten . .
3382389
1046^1
9356*3
Für die Gesamtheit der Beruft hat
\\^cn aber
wir{l die
Familien-
»(Hederim;^' diircli die foli^cnden Verhältnisberechnungen dargestellt:
Es sind in jeder Berufsabteilung
im Jahre i So; 1882
l<.-ili^; vt-rhrir it' t v. rwitwrt verheiratet
von ie 100 niännlichcu lirAvcrbtbäligcn
A Landwirihciiiill
"4
?5-59
4,47
55,8^
54.35
2,61
55.39
35.98
61,18
2.84
63,31
D Lohnarbeit wechselnder Art . . .
«9.35
66.35
4»30
73.47
93.43
7,45
0,13
6.85
E 2--S. Sonst. öfTentl. Dienst n. freie
36,92
59,53
.v^5
61,24
von je l<xi wcibbcbon Frwcrbtliätigcn
22,35
1 7. «16
17,45
16,4s
14.57
13.2«
22,29
21,04
D Lohnarbeit wechselnder Art . . .
52,28
12,23
35.49
13.70
E 2—8. Sonst, öllcntl. Dienst n. freie
76.88
13,82
10,3p
16,13
von je
100 Erwerbth&tigen tlberhnnpt
46,60
44.55
8.8s
44,01
47.80
47.39
4.81
47,96
r Handel
40,92
51,54
7.54
55. «9
I) l,ohnarl>' it wi-cIiv- IikIit Art . . .
41.75
37.08
2i,J7
45.83
92.43
7.45
0,12
6.«5
t 2 — S, Sonst, oftcntl. l)i<nsl u. Ircic
45.80
49.15
5.05
Digitized by Googl
Die Berufs- und Gcwcrbc^ibluug im Deutschen Reich vom 14. Juni 1S95. 2g i
Im allgemeinen steht die Ehestandsziflfer am höchsten im
Handel und Verkehr { es folgen sodann der Reihe nach: öffentlicher
Dienst, Industrie und Landwirtschaft Gegen 1882 sind die Ver-
Schiebungen im ganzen nicht sehr erheblich, hauptsächlich deshalb,
weil bei den beiden Geschlechtern Gegenbewegungen bestehen, die
einander bis zu einem gewissen Grad aufheben. Bei den Mannern
ist nämlich die Quote der Verheirateten in allen Berufsabteilungen
mit Ausnahme des Kriegsdienstes zurückgegangen, bei den Frauen
in den entscheidenden Berufsabteilungen Landwirtschaft, Industrie,
Handel und Verkehr gestiegen. Die eheweibliche Arbeit ist also
auf den Haup^ebieten ihrer Anwendung in Zunahme, und zwar in
ziemlich rascher Zunahme begriffen.
Diese Wahrnehmung wird auch durch die Untersuchung nach
der sozialen Stellung bestät^. Ks sind nämlich verheiratet
von je 100 inSnnliclien
BerafBabtciluneen
SclbstKndigen
Angestellten
Arbeitern
1895
1882
1895
1882
1895
1882
88,75
89,27
58,20
62,03
32,78
37,19
IrnhT^tric
83,39
83,46
58,25
52,32
45,12
42,65
Ilaudcl und Verkehr , . .
83.89
^-1.34
40,32
45,04
48,60
47.78
zusammen . .
86,17
80,37
53. '2
41,05
40,48
von j f 1 00
w e i b 1 i
c Ii e n
Selbständigen
Angostolhcn
Arbeitern
«
»895
1882
1S95
1882
1895
1SS2
13,47
9,96
5.74
7,28
23.76
18.39
»3.67
8»3o
16,76
13,69
Handel and Verkehr . . .
27,26
25.13
5.34
•5.56
30,08
16,89
CQmninen
»7.35
14^6
6,33
13,36
17,36
Dafs die liohcren
sozialen
Schiclitcn auch die
hülieren
" Ehe
stands/.ififcrn haben wün
Icn, war
von '
i'ornhcrein nicht
anders
zu er
warten. Am t^rölston sind die
\'crsc
hicdeiihoiten zw
isciicn den so
zialcn Schichten hinsicl
litlich der Stel
lun^f der
Witwen. Unter dci
selbständigen erwcrbthätigcn I^Vaucn sind 48,74 Prozent verwitwet,
und zwar in der Landwirtschaft 77,13, in der Industrie 27,05, im
Handel und Verkehr 55,76 Prozent; unter den Arbeiterinnen sind
es nur 8,30 Prozent, und zwar in der Landwirtschaft 9,09, in der
Industrie 8,14, im Handel und Verkehr 3,57 Prozent Der Unter*
schied ist sehr begreiflich, denn die selbständigen Witwen wurden
zumeist erst durch den vom Mann ererbten Besitz zur Erwerb»
thätigkeit veranla(st, während die verwitweten Arbeiterinnen ihre
Digitized by Google
392
Ii. Kauchberg,
Erwerbthätigkeit in der Regel schon im ledigen Stande b^onnen
haben und daher von den ledigen und verheirateten Arbeiterinnen,
aus welchen sie hervorgehen, an Zahl erheblich ubertrofien werden.
Der Vergleich mit den Ziffern fiir 1882 fährt zu mancherlei inter-
essanten Wahrnehmungen. Ich hebe hier nur hervor, dals die Ehe*
Standsziffer der landwirtschaftlichen Arbeiter fallt, jene der indu-
striellen Arbeiter steigt. Die Ehestandsziffer der Arbeiterinnen er-
scheint durchaus erhöht Insbesondere ist die Zahl der verheirateten
Industriearbeiterinnen von 69215 im Jahre 1882 auf 166558 im
Jahre 1895 gestiegen. Früher waren 12,69 Prozent der industriellen
Arbeiterinnen Ehefrauen, jetzt und es bereits 16,76 Fk-ozent.
Die Verwendung von verheirateten Arbeiterinnen ist auch bei der
mit der Berufezählung verbundenen gewerblichen ßetriebsauf-
nahme besonders erfraj:ft worden. Unter den eif^entlichen gewerb-
lichen Gehilfen und Arbeitern, also von den mithelfenden Familien-
angehörigen abgesehen, sind im ganzen 1268967 oder 19,6 Prozent
Frauen ermittelt worden. Scheidet man die jugendlichen Arbeite-
rinnen unter 16 jalir aus, so erübrigen 1 141 169 oder 17,6 Prozent
erwachsene Arbeiterinnen. Von diesen waren 160498 oder 14,1
Prozent verheiratet, von je loo Arbeiterinnen überhaupt also 12,6
Prozent. Bei weitem die Mehrzahl davon, 1 40 804 oder 87,7 Prozent
der verheirateten Arbeiterinnen gehören der eigentlichen Industrie iB)
an, 2740 oder 1,7 Pro/.cnt der (lewerbeabteilung (A) Uärtnerei,
Fischerei etc., 16954 oder 10,6 Prozent dem Handel und Verkehr iC).
Nach Gl orscnkatcgorien der Betriebe war die Verbreitung der ehe-
Weiblirlu'ii Arl)cit die folgende:
\*on je 100 erwachsenen Arbeiterinnen sind verheiratet in der
Gcwcrbeabteiluntr
Gröfsenk lasse Gärtnerei, Handel und
Fischerei etc. Industrie Verkehr
18,1 6,1 «,3
37.0 I9t9 8,6
Betriebe mit 1 — 5 Personen.
I» »» 6 — *o » •
H n Über 20 „
im guizen
h„s zeigt sich also, dafs c
a6,a 16,8 5,S
lie Verwendung eiieweibhcher Arbeit
mit dem Umfang der Betriebe in der Regel zunimmt; am auf-
falligsten in der eigentlichen Industrie, woselbst der Prozentsatz der
verheiraten Frauen in den Fabrikbetrieben mehr als 3 mal so hoch
steht wie in den Kleinbetrieben und mehr als doppelt so hoch wie
in den Betrieben mittleren Umiangs. Im Handel und Verkehr
Digitized by GoogI|
Die Beraft« und Gcwerbciihlung im Dcntsdien Reich vom 14. Juni 1895.
weisen diese letzteren der geringsten Prozentsatz eheweiblicher
Arbeit aus; er steht daselbst am höchsten in den Grofsbetrieben,
während die Kleinbetriebe eine Mittelstellung einnehmen. Eheweib-
liche abhängige Arbeit ist also ganz übcrwicp^eiKl Fabrikarbeit. ')
Kehren wir nunmehr wieder zu den Ergebnissen der Beruis-
zählunrj zurück, so hätte eine eindringendere Untersuchung über
die Wechselbeziehungen zwi.schen Familienstand und Beruf, ebenso
wie dies hinsichtlich der Alters Verhältnisse an das Detail der ein-
zelnen Berufs arten anzuknüpfen und dabei auch die Unter-
schiede der Berufsstellung mit zu berücksichtigen. Da dies der engere
Rahmen der vorliegenden Untersuchungen nicht gestattet, teile ich
in der nachstehenden Ucbcrsicht wenigstens die Quoten der Ver-
heirateten unter den Erwerbthätigen der einzelnen Berufs gruppen
unter Trennung der beiden ( ^schlechter mit und füge die ent-
sprechenden Daten für 1882 zur X'crgleichung hinzu:
Sirln- tlii- l'cbcr>it ht uuf S. 394.
Beide (icschlechter zusaminengenommen, hat sich die Ehe-
standsziffer in der Summe der hier vorgeführten Herufsgrup{)en
nicht geändert. Wohl aber sind X'erschiebungen bei jedem der
beiden Geschlechter eingetreten und zwar in der Regel in ent-
gegengesetzter Richtung: bei den Männern ist die Quote der \'er-
hcirateten gesunken, bei den hVauen ist sie gestiegen. Die Unter-
.schiede zwischen den einzelnen Rcrufsgruppcn und ebenso die \^er-
äiidcruiigen gegenüber 1882 sind in erster Linie bedingt durch die
soziale Schichtung; denn die Selbständigen haben — wie ich be-
reits gezeigt habe — eine viel höhere Ehest. iudszitfer wie die Ab-
hängigen. Da, wie wir aus dem V. .^.bschnitt wissen -), die Ab-
hängigen nunmehr fast in allen Berufsgruppen den Selbständigen
*) Die Gewerbesfiblnng von 1895 ist die erste im OenUchen Reicii, beiwelcber
die Verwendung von verlieiimtetcn Fnoen erfragt wvrde. Es ist also der Vergleich
mit frlllieren Gewerbesfthlnngen nicht dnrcfafllhrbar. Wohl aber versacht das SSh-
longswerk die Spesialenqntten von 1875 mid 1890 Ober die Bescttäftigaog verhei-
rateter Frauen in Fabriken zum Vergleich heranzuziehen. Damach sollen die verheirateten
Influstriearbeiterinnen absolut zwar nicht unerheblicli zugenommen habi-n , anteils-
wi isf uht-r, c1. i. im Vrrhiiltnisse zur (>esamtz;vhl der Industriearbeiterinnen, wären sie
etwas zurückgeblieben. l).is steht in so auttälligem Widerspruch zu den auf S. 390
und j9i mitgeteilten tlrgebaissen der Berufsstatiütik, wonach die Vertretung der Ver«
heirateten gerade nnter den Indnstricarbeiterinnen rasch soninunti dafs ich die Gmiid-
lagen jener Berechmnigen fttr gaat tumllngUch halten mnls.
>) Vgl, Archiv »r sociale Gesetegebong und Statistik, XIV. Bd. a 618.
Ardür lür m. GeMUgebttag n. Sutittik. XV. 36
Digitized by Google
H. Raachberg,
Es sind verheiratet unter jp loo Emerbtli&tigea der nebenbeaeichaeteB
Berafsgruppcn
I ^ ^ 2
Dcrui Struppen
Wfibl.
/.US.
Wcibl.
55»23
22,34
44,16
55.52
•7,44
43.65
II« vorMwifTscoaic niMi fiscnerei
70^5©
26,25
70,01
ai,93
69,43
liL vergMu, ntiueDwesen etc.
t * 9A
1 1|00
61,79
01,01
10,98
59,5*
iv« jnausine acr aieuie n. uucn
55»*9
ai,94
5*,56
56,45
'•,37
54,05
V . iviciAiivcrarDciiiuig • • • •
'7,33
45,90
.A«* VfB
47,57
>5,7'»
40,4'
\ 1. .iiasciuii< Ii, \ V t nczeiiKV evc* •
55f5w
»S»'7
54,25
57,30
ao,79
50,05
\ II. C hämische ln(!ii>tri'* ....
02,00
'7.3°
55-02
I 0, 1 2
r f AA
55,"0
VIII. F<>rstwirtv<'h Nr't>cnprcHluktc .
»305
^5.47
<>y,75
1 2.40
64.93
IX. rcxtiliiuiu>tri(*
5 ''55
20.7 1
4't97
59.4 •
' .>.47
42,69
53.40
«4,42
42. '5
50.04
12.38
39,25
51,1a
«5,3a
4^^,99
50,06
»4,37
48,35
Xn. Holi^ u. ScbnitxstofTe . . .
35,8«
»1,70
5a.37
54,»7
15,76
5a,a5
XnL Nahnmgi» und Gennfsmittel .
«7, «7
43,59
47,39
ao,30
44,7a
XIV. BddeiditnK und Renugung .
5».97
11,38
33,37
53.7»
10,35
34,37
5«,40
31,16
58,13
^ _ _
63,41
38,46
63,»4
X\ I. rolyjrraphischi- (icwcrl»»'
4 J .00
1 1.?7
37.36
38,32
9,84
XVII. Künstl.-r u. künstl. H.tii.b.' .
40,04
9,59
37,91
39,43
11,04
3M5
XVllI. Gewerbliche Personen ohne
nihere Bcaeicbniuig ....
58,56
12,2s
48,45
58,63
»5,77
49,26
54,67
»7,74
47,97
56,18
H,85
49^65
XX. Versicfacntngsgcwerbe . . .
56,59
12,48
55,60
5^26
35,<»
56^11
7»,»6
36,42
70^84
73,45
36t3f
7«,9l
XXIL Bdierbeigung und Erqnickung
58,78
15,77
35,96
66,5a
U,i6^
46,25
55,69
20,50
46.66
56,4«
16.5»
46.66
gegenüber erheblich stärker hervortreten, so haben die verminderten
Ehestandsziffern der Männer nichts aufiallendes an ach. Sie sind
einiach eine Reflexwirkung der geänderten sozialen Schichtung. In
der That sdimndet diese Reflexwirkung sofort, wenn man die ein-
zelnen sozialen Schichten iiir sich untersucht Nach den groGsen
Berufsabteilungen ist dies auf S. 391 geschehen, und wir haben ge-
sehen, dafs die Quoten der verheirateten Angestellten und Arbeiter
in den Abteilungen Indtistrie sowie Handel und Gewerbe entschieden
zunehmen. Das wird durch die besondere Gestaltung nach einzel-
nen Berufsgruppen und -Arten bestätigt, wofür die zifiermäfsigen
Unterlagen hier jedoch nicht mitgeteilt werden können.
Die gesteigerte Ehestandszifier der Arbeiter ist zweifelsohne
ein erfreuliches Symptom. Sie deutet an. dals ihre wirtschaftliche
Lage jetzt in weiterem Um^ge als früher die Gründung einer
Digitized by Google
Die Berufs- und Gewcrbezählung im Deutschen Reich vom 14. Juni 1895.
eigenen Familie gestattet, und dafs die Arbeiterklasse auch an der
physischen Erneuerung des V^olks immer breiter und kräftiger be-
teiligt ist. In diesem Zusammenhange erscheint es nunmehr doppelt
bedeutsam, wenn die Ehestandszififer der Arbeiter in den meisten
industriellen und kommersiellen Berufen steigt» in der Landwirt-
schaft dagegen fällt Nicht nur das wirtschaftliche, sondern, was
noch wichtiger ist, auch das physische Leben des deutschen
Volks stützt sich immer mehr auf die Industrie und ihre Arbeiter-
schaft.^) Galt im alten Agrarstaate der Bauernstand als die uner*
schöpf liehe Quelle der Volkskraft, so wird gereifte Einsicht sie im
modernen Industriestaat immer mehr in der Arbeiterklasse, voraus
in jener der Industrie, erblicken. Nur dafs diese Quelle nicht uner-
schöpfich ist Der stets neu belebenden Berührung mit der Natur
entrückt, ganz und gar auf die Bedii^ngen der Kultur gestellt,
mufs die Arbeiterfamilie der Ge&hr der Degeneration immer von
neuem entrissen werden. So ist positive Sozialpolitik zugleich
Volksh)^iene. Soziale und nationale Politik stehen, richtig ver-
standen, nicht etwa im Gegensatz zueinander, sondern ne haben
die gleichen Interessen und erheben die gleichen Forderungen.
Diesen Interessen scheint aber die gesteigerte Ehestandsziffer
der weiblichen Erwerbthäligen zu widerstreiten, die in der über-
wiegenden Mehrzahl der Bcrufs^ruppen und -Arten wiederkehrt.
Die besondere Gestaltung der sozialen Schichtung bei den weib-
lichen Krwerbthätigen läfst eher eine relative Abnahme der Ver-
heirateten erwarten. Denn noch rascher als wie l)eini männlichen
Geschlecht hat sich hier das Uebergewicht der Abhängigen, insbe-
sondere der Arbeiterinnen g^enüber den Selbständigen verschärft.
Und gewils ist die abhängige Erwerbsarbeit noch weniger mit den
häuslichen und Familienpflichten der Frauen vereinbar als die selb-
ständige Erwerbthätigkeit, welche in zahlreichen Fallen nur als der
berulsstatistischc Niederschlag ererbter Bcsitzverhältiiisse aufzufassen
i'^t. Trotzdem liat die ehcweibliciie Arbeit niciit nur nicht ah'.i^e-
noinmen, sondern auf rlcr ganzen L.inie rasche I''ortscln ittc ^^cniacht,
noch raschere als die i-rauennrbeit überhaupt. Die AusbiKlung der
!• abrikindustrie, die Notwendigkeit, den Ausfall an mäiuilicheii Ar-
beitskräften zu ersetzen, die von der Landwirtschaft und anderen
minder lohnenden Beschäftigungen lohnenderen Berufen si» h zuge-
') Vgl. dazu die AusflÜmuigen Uber die FamilienentfaltuDg im X. Abschnitt
S. 134 ff. tlicäcs bandes.
■6»
Wgitized by Google
^1- Kauchbcrg,
wendet haben, und alle anderen Momente, wodurch die spezifische
Kapazität der deutschen Volkswirtschaft für Frauenarbeit erhöht
worden ist *), haben insbesondere auch die Arbeitsgelegenheiten für
eheweibliche Arbeit vervielfältigt und erweitert Und die Unzulang-
lichkeit des männlichen Arbeitsverdienstes veranlaist inuner mehr
Frauen, von jenen Gelegenheiten thatsächlich Gebrauch zu machen.
Ja es liegt sogar die Vermutung nahe, dals die früher festgestellte
Erhöhung der EhestandszifTer der männlichen Arbeiter mit der Zu-
nahme der eheweiblichen Arbeit in Zusammenhalt stehe. Kann
doch desto eher zur Ehe ^ijc.sch ritten werden, wenn auch die Frau
am Enverb teilnimmt und zu den Kosten dos Haushalts heiträ^^.
Die Zunahme der cheweiblichen Arbeit wird je nach dem Stand-
punkte der verschietlenen dabei betcili<^ten Interessen verschieden be-
urteilt werden. Wer wie ich lediglich das Interesse der N'^olkskraft
und V'olkskultur vor Augen hat, wird sie als höchst be<k nklich be-
klagen. Die — ohnedies naheliegenden — Gründe brauche ich an
dieser Stelle nicht auszuführen. Hier kann es sich nur darum handeln,
in luichterner (Objektivität das Mafs und die Entwicklungstendenzen
lestzustellen. Soweit die Unterlagen internationale Verglcichungen
ermöglichen , scheint im Deutschen Reich die industrielle und
kommerzielle .Arbeit verheirateter Frauen im Vergleich zu anderen
europäischen Imlustriestaatcn noch nicht sehr \erbreitet zu sein.
Nicht so sehr ihre .Ausdehnung, als wie vielmehr ihre rasclic Zu-
nahme ist beunruhigend. Mit ilen amerikanischen X'erhähnissen \er-
glichen, crx'heinl sie allerdingN l>ereit> weit vorgeschritten. Ich stelle
die Daten iür Deutschland, ( )(sterreich und Amerika nebeneinander:
Von je lOO crwerbthätigen i^rauen sind
in der Industrie im Handel n. Verkehr
ver-
v«'r-
ver-
ver-
ledig
heiratet
witwet
ledig
heiratet
witwet
im Dfutichon Reich . .
68.9
14.6
55.9
22.3
21.8
in '>*"st<rrciolr- 1 ....
63,7
12,7
44,4
25.5
30.»
in den Vereinigten Staaten
von Amerika') . . .
79.0
10,7
9,3
82,a
7,4
104
Die Oudic der crwerbthätigen \erheirateten Frauen steht also
in Oesterreich hoher, in Amerika viel niedriger wie im Deutschen
'j oben (l<n XIII. .\l)schni(t S. 367 ff. •
') Zahlung vom 31. Dezember 1890.
^ ZSbInng vom i. Juni 1890.
i
i
Digitized by Google
Die Berufs* und Gewerbesäbhmg im Deutschen Reich vom 14. Juni 1S95. jpj
Reich. Insbesondere in jenen Industricz\vcif]^en, in wclciien dcrlirols-
bcirieb vorherrscht, sind in Amerika verheiratete Frauen auffallend
selten.') Eine Spezialuntersuchung des l^nionsarbeitsamts liber die
Laj^e der Arbeiterinnen in den amerikanischen Grolsstädtcn-j hat er-
geben, dafs von den 1 7 427 Arbeiterinnen, auf welche die Erhebung
sich erstreckte, 15 3S7 ledig, 1030 Witwen und nur 745 veriietfatet
gewesen sind Fabrikarbdt von verheirateten Frauen scheint also
daselbst eine seltene Ausnahme zu sein. Das deutet auch schon
die Bezeichnung von Fabrikarbeiterin: fektory oder working girl an.
Das männliche Arbeitseinkommen genügt, um die Frauen von der
Erwerbarbeit, zumindest von solcher, die nicht von der Hauswirt-
Schaft aus geschehen kann, zu befreien.
Welche allgemeine Erkenntnis lälst sich aus unserer kleinen inter*
nationalen Zusammenstellung ableiten? Ich glaube, keine andere als
die, dafs die Quote verheirateter Arbeiterinnen ein Anzeichen iiir
den proletarischen Charakter der Frauenarbeit überhaupt ist. Denn
sie steht im umgekehrten Verhaltnisse zur Auskommlichkeit des
männlichen Arbeitsverdienstes und zur Kraft der konservativen Tra-
ditionen, welche die Frau ausschlielslich för jene grolsen Aufgaben
in Anspruch nehmen wollen, von deren Erftülung das Wohl und
Wehe der kommenden Generation und damit auch die Zukunft der
Nationen abhängt^) Gilt dies Iiir die internationale Vergleichung,
') Vgl. drn auf S. 364 citit-ricu Bt-richt des amrrikaniMrhen .\rl)<-it>amts und
meine Besprechung bierUbcr im XII. Band dcä Archivs für soziale GcbcUgcbung und
Statistik s. 135 ir.
*) 4d> Anmuil Rqxnt of the Commisrioner of Labor, Working Womcn in Larfe
atics. Washington 1889, S. 304 ff'
>) Damit ist auch das Urteil ansgcspiodicn Uber die Beitrebangen, die Eli«-
francn gesetzlich aus drr Fabrik auszuschlicfsen. So w&nschenswert das Ziel auch
wäre, so wenig ist es durch gesetzliche Mafsngfln zu errciclien, so lange nicht die
wirtschaftliclien und sozialen Voraussit/.ungen hierfür geschartVn sind durch liic
Hebung der männlichen Lohnniveaus und der allgemeinen Lebenshaltung. In der gani
überwiegenden Mehrzahl der Fälle bedeutet ja eheweiblicbe Arbeit nichts anderes,
als dafs das Einkommen des Mannes den Bedarf der Familie nicht deckt» nad dnfs
die erfofderlidie ErgSnzoog auf andere Weise als dwck die Fabrikarbeit der Fmn
sich nicht beschaffen Ulk. Was xenniSchte ein gcsetdiches Verbot an dieser Sachlage m
▼erbcasemf Es würde nur ^ne Frimie anf das Konkubinat setien, oder die Fhm anf
noch mindere Arbeitsgelegenheiten abdringen, hauptsächlich in der Richtung haus-
industriellen Erwerbs. Äimit kämen wir vom Regen in die Traufe. Nein, wie die
Krauenfrage überhaupt, ist auch dieses T<*ilproblem derselben nicht einseitig von der
Fraaenseite, sondern nur von der Männerscite aus zulosen; durch die Steigeruiig des
öigitized by Google
398
H. Rauchberg,
SO möchte ich doch speziell för das Deutsche Reich die oben kon-
statierte Zunahme der eheweiblichen Arbeit nicht ohne weiteres als
ein Merkmal fortschreitender Proletarisierung überhaupt gelten lassen.
Mehrfache Umstände lassen jene Zunahme trotz der unleugbaren
Hebung des Lohnniveaus und der Lebenshaltung erklärlich scheinen.
Zunächst ist mit der fortschreitenden Ausbildung der arbettsthät^o
Volkswirtschaft der Geldbedarf des Arbeiterhaushalts überhaupt ge-
wachsen. Gleichzeitig ist sein Kulturbedarf erweitert, und die Kosten
des Unterhalts sind vergKifsort. Ist auch die dringendste Notdurft
gestillt, so will man die Lebenshaltung doch über das bisherige,
durch den Erwerb des Mannes gegebene Niveau hinausheben. Hier
mufs nun die Hrwerbsarbeit der I'Vau aushelfen. Ihre Vorteile sind
greilbar, sie drücken sich in Mark und Pfennig aus; ihre schwer-
wiegenden Nachteile und Gefahren entgehen oft dem befangenen
Blick der Nächstbeteiligten, l^nd so nimmt denn die Frau die Last
des Erwerbs auf sich, oder verharrt darin länger als wie dies sonst
der Fall gewesen wäre.
Vielleicht noch wichtiger für die Gestaltung der Ziffern ist ein
anderer Umstand: Die Frauen, die in einem bestimmten Beruf als
erwerbthätig ausgewiesen werden, sind keineswegs immer mit
Männern des t^leiclieii Beriif'< verheiratet. Zum Teil sind <ic von
anderen, sclilt c hter gelohnten IJerufen aus zu jenem Beruf über-
gcii^angcn und gehören eigentlich einer tieferen sozialen Schicht an.
Gestatten es die Löhne eines günstig siliiiei ten Gewcrbe7.vveiges den
Arbeitern, ihre Frauen zu Hause zu belassen, so bewerben sich doch
Prauen, deren Männer anderen, ininder entlohnten Berufen angehören,
um jene weiblichen Arbeitsstellen. Die Zahl der in einem bestimmten
Berufe be.sciiäft igten Ehefrauen hängt also nicht blofs von den .Arbeits-
löhnen dieses Berufs, sondern auch von ihrem \'erhältnis.se /u dem
sonstigen Lohnniveau der (iei;etui ab.') Insbesondere tracluen die
Frauen schlecht gelohnter landwirtschaftlicher Arbeiter oder kleiner
( irundliesitzer auf solche Weise von dem höheren Lohnniveau der
Intlu^tnc zu prolitiercn. Sie las.sen also die Quote der eheweiblichen
ii»milich<;n lünkomincas bis rar Höhe des vollen Funilienbedarfs. Dann bött die
Arbeit der Ebefnuien von selbst auf. Sind erst diese Voraussctzunpcn gegeben, dann
woll.n wir iin« dir "eselzliche Sanktion ihrer Rückwirkunj; auf die ebeweibliche
Arbeit j^tTtK- f,'rt;illt:ii l.issi'n. .\lier bis dahin i^t der Wrg noch weit.
'i Vgl. die inltTt »s.ini«-u l.rht buiitjcn von M .i r t i n ^>er den Herut" der Ehe-
männer der in der KrimmiU>cbauer Strcicbgamindustrie arbeitenden 1- rauen, a. 0.
S. 45 ff.
Digitized by Googl^
Die Berufs« und GewerbexSUdiiiig im Deutschen Reich vom 14. Juni 1895. 399
Arbeit in der Industrie höher, in der Landwirtschaft nietlri^cr er-
scheinen, als dies dem Berufe der l)CtreH'eiidcii l'!hcniiinner nach der
I'.iU sein niuisle. In dem Mafse als sich das Lohimi\eau eines Be-
rufs hebt, werden zwar die bVauen der darin beschäftigten Arbeiter
von der Erwerbarbeit entlastet, aber Frauen aus minderen Berufen
strömen dafür, vielleicht sogar noch zahlreicher ein. Der Umstand,
<]a(s Mann und Frau in zahlreichen Fällen verschiedenen Berufen
angehört, verhindert es also, aus der Quote der eheweiblicben Arbeit
und ihren Veränderungen auf das soziale Niveau und die Lebens-
haltung in diesem Beruf zunickzuschliefsen. Die Quote der Frauen-
arbeit und speziell der ehewetblichen Arbeit ist zwar höchst charak-
teristisch iär die gesamte Volkswirtschaft im Vergleich zum Ausland,
nicht aber fiir die Lage der einzelnen Berufe und für die Beurteilui^
ihrer Entwicklungstendenzen.
3. Der Familienstand in Verbindung mit der Altersgliederung.
Der Familienstand ist in hohem Mafse durch das Alter bedingt
Die besonderen Familienstandsverhaltnisse der einzelnen Berufe oder
Beruistellungen treten erst dann rein zu Tage, wenn man sie för die
einzelnen charakteristischen Altersgruppen gesondert untersucht
Hinsichtlich der vier Hauptkategorien der Berufszuhdrig-
kett geschieht dies in der nachstehenden Uebersicht, welche gleich-
sam als die Fortsetzung der Uebersicht auf S. 387 anzusehen ist
Von je 100 nebenbezeichneten Personen sind
Kategorien
der Berufs- ledig verheiratet verwitwet
mgehörigkeit mimiL wcibl. ins. mlnnl. wdbl. ms. minnl. welbL sas.
im Alter von 16—30 Jahren
Erw.Tbthätige . 80,37 90,12 83,25 19,45 9,02 ^f>A7 o,iS 0.86 0.38
Ditinnd.^ . . . 97,49 99,50 00,47 2,38 0.34 0.37 0.13 0,16 0,16
Angehörige . 97,97 44,30 48,63 1,96 55,47 51,15 0,07 0,23 0,22
Beruf lose Selb-
slindige . . 95,44 86,75 9»,34 4,i8 6,41 4.9» 0,38 «.^
in ganzen . 81,46 70,2a 75,79 18,37 a9,H »iM o,»7 <^S4 0,3,6
in Alter von 30—50 Jahren
ErwerbtbStige . 13^3 33,80 17,67 84,17 42,4a 76,15 2,00.33,78 6,18*
Dienende . . . 70,15 88,31 87,75 a7»<9 3.55 4i30 «i»* 8,14 7.95
Angehörige . . 64,69^5.68 6,27 33,07 93,13 92,53 2.34 t,l9 !,«>
Krniflose Selb- ^
ständij,'c . . 39,24 36.15 37,46 55,31 12,59 30,70 5,45 51,26 31,84
im ganien . 14,79 »4.73 »4.76 83,14 77,61 80,31 2,07 7,66 4,9s
Digitized by Google
I
^Oü H. Kauebberg,
Kategorien Von je loo nebenbeteidmetc» Penoncn dnd
der Hcnils- l<'dig verheiratet verwitwet
siigehörigkeit m&nnl. weibL ms. nXmiL weibl. xus. miiuiL weibL as.
im Alter von 50 und nebr Jahren
ErwerbthStige 6,89 17,56 9,58 80,51 HM ^37 «t6o 58^ M/>$
Dienende . . . 49,17 58,34 58,11 30,34 4,14 4,80 »,39 37,5a 37«
Atgebörige . . 18,30 4,94 5,57 3<«44 74.44 7»A0 5*>*3ß *ofi2 »»,03
Bemflose Selb*
stindige . . 11,00 17,84 14,75 5^,17 4,75 »7,95 3».83 77»4i 57.30
im ganicn . 7,95 10,96 9,56 74,94 49,64 6i,4« 17,»« 39,40 5W»3
Indem ich in allen anderen Punkten auf die vorstehende L'eber-
sicht selbst verweise, will ich nur auf den aufserordentlichen Einflufs
aufmerksam machen, den der Tod des Ehemannes auf die Erwerfo-
thätigkcit der Frauen insbesondere in den liöheren Altersstufen aus-
übt. Während \'on den männlichen Erwerbthätijrcn im Alter von
50 Jahren und darüber 80,5 Prozent verheiratet und nur 12,6 Prozent
verwitwet sind, sind unter den erwerbthätigen Frauen jenes Alters
58,0 Prozent verwitwet und nur 24,4 Prozent verheiratet. Die rasche
Minderung,' in der Htiote der eheweiblichen Arbeit mit zunehmen-
dem Alter ist also nicht so sehr auf den Austritt jener Frauen aus
der Erwerbthätii^keit als wie vielmehr auf ihren Ucbertritt in die
Gruppe der Witwen zurückzuführen. Das wird bei der Beurteilung
der nachstehenden X'erhältniszahlrn zu berücksichtigen sein, welche
lediglich die (Juote der Verehelichten unter den Erwerbthätigen
jeder .Altersstufe zunächst nach Berufsabteilungen und dann
nach sozialen Schichten dai stellen.
Ks sind verheiratet von je lOO im nebenbezeichneten Alter
Stehenden Erwerbthätigen der Berufsabteilung
Landwirt-
In.
Handel n.
Lohn-
OcffcntL
im Alter
Schaft
duttnc
Verkehr
arbeit etc.
Dienst
a) mEnnlichet Geaehlecht
Ol
16— ao Jahren
o.a7
o,a7
0,33
1,13
0,88
,»
ao— 30 „
*7,S0
35,4s
31,99
46,a4
6,95
a8,S3
•«
30—40 „
7«i73
«3.93
«1,34
«3i99
71,94
81,08
tl
40—50 „
«7,3«
89,09
«9,53
86,69
«4,«9
88.36
II
5o<-6o „
84,79
86.64
88,17
84,#
«a.99
85,76
>•
60—70 „
75.92
7S,o3
So. 7 3
7<>.7S
74.« I
76,92
,1
70 u. darüber
59,98
61,32
65,24
60,67
50,30
60,53
Digitized by Googl«
Die ütvaii- und Geverbez&hlung im UeuUclien Reich vom 14. Juni 189$.
Laudwirt-
In-
Handel u.
Lohn-
Oeffenll.
zu-
im Alter
•cfaaft
dustrie
Verkehr
arbeit etc.
Dienst
b)
weibliches Geschlecht
ran
i 16—20 Jahren 0.67
0,69
0,47
0,48
0,47
0,65
II
»—30 «
I4i68
ia,07
8,67
5.65
«4,7»
tt
30-^
53,6a
37,01
46,84
25.37
16,45
43,65
»♦
40—50 „
4«,36
3a,89
45.05
31.33
3a,09
41,04
1»
50—60 „
34,78
«3,34
3»,98
14,34
19,69
30,11
1»
60 — 70
22.73
14,09
18.02
8.43
15.66
I9r4l
«•
70 u. darüber
ia,o9
7,»4
8.9*
4.S8
8,82
10,20
Aus den Ergebnissen dieser Tabelle will ich nur hervorheben,
dafs der Verlauf der Ehestandssdfier in der Landwirtschaft bei den
beiden Geschlechtem der entg^engesetzte ist. Beim männlichen
Geschlechte bleibt die Ehestandszifier, insbesondere auf den unteren
Altersstufen, hinter jener der Industrie und des Handels erheblich
zurück, beim weiblichen überragt sie dieselbe durchaus, am meisten
auf den mittleren Altersstufen.
Was endlich den Familienstand in Verbindung mit dem Alter
in den einzelnen sozialen Schichten betrifft, so hebe ich aus
der Fülle des Materials nur die nachstehenden Ziffemreihen heraus:
Es sind, die Beru&abtetlungen Landwirtschaft Industrie, Handel
und Verkehr zusammengenommen, verheiratet von je 100 im
nebenbezeichneten Alter stehenden
Sdb-
Ar.
Selb.
Ange-
Ar-
im Alter
stindigen stellten
beitem
stindigen
stellten
beiten
männlich
weiblich
von 16 — 20 Jahren
8,10
0.35
0.22
1.05
0,19
0.63
» 20—30 „
68,16
21.75
27.32
«7.78
3.22
15.1 1
„ 30- 40
90,20
73.63
76.54
33,09
12,21
51,81
„ 40—50 „
92,69
86,91
83,96
23,08
15,61
56,5»
„ 50-60 „
'89,26
87,0a
81,09
13,79
«5,90
47,66
» 60-70 „
8i,as
80,05
70,35
7,«9
13,41
33.47
„ 70 mid darflber
66,05
63,96
51.35
4,38
4,8»
iSt95
Auch hier ist die in mancher Hinsicht gegensätzliche Gestaltung
der V^crhältniszahlcn bei den beiden Geschlechtern bemerkenswert.
Während die Ehestands/.ifler der männlichen Selbständigen durchaus
und am meisten in den jüngeren Altersklassen über jene der antlercn
sozialen Schichten sich erhebt, ist dies beim weiblichen (ieschlecht
blofs auf den untersten beiden Altersstufen der Fall. Darüber
hinaus sind es die Arbeiterinnen, die bis ins Greisenaiter hinein
Digitized by Google
402
H. Kauchberg,
durchaus höhere Ehestandszahlen ausweisen, wie die selbständigen
oder die angestellten Frauen, ein neuer Beleg fUr den überwiegend
proletarischen Charakter der eheweiblichen Arbeit.
XV. Das Glaubensbekenntnis der Erwerbthätigen.
Das ( ikuibensbekenntnis ist sowolil bei der Berufszahlung von
i8q5 als auch bei jener von 18S2 für alle individuell f^czählten
rcr.soneri ermittelt weiden. Aber nur die Daten für 1895 Miid für
tlas ^anzr Reich bearbeitet worden. 1 882 ist von der Reirhsstatistilc
auf die IVarbeitunj^ der t insc lilä'Mj^en l'!rL;ebni>se verzichtet worden.
Riols für einzelne Bundesstaaten liei^t sie vor. Die X'er^deiehung
der Ergebnisse beider Bcrufszälilungen für den Umfang des ganzen
Reichs ist also in diesem Tunkte unmöglich. Aber auch 1895 er-
streckte sich die Bearbeitung nicht auf die gesamte Bevölkerung,
sondern nur auf die Erwerbthätigen. Die Materialien gestatten daher
nicht die Beantwortung der interessanten Frage, im welchen Ver-
hältnisse Erwerbthätige und Familienmitglieder unter den An*
gehörigen verschiedener Glaubensbekenntnisse zueinander stehen.
Doch ergeben «ch hierfiir gewisse Anhaltspunkte durch den Ver-
gleich mit der Gliederung der Gesamtbevölkerung nach dem
Glaubensbekenntnisse, wie sie durch die Volkszählung vom I. De-
zember 1890 festgestellt worden ist Es wurden ermittelt
1895
1890
Erwerbtbitige*) und
oitsanveiende
Dienend«
Personen
absolut
Prooent
Prawnt
cvaagduche Christen ....
'5078555
62,17
62,77
katholische „ ....
8S62072
35.76
anfl.T»' ....
6244S
0,26
0,20
I^r.ii lit'.-n
244 5H6
1,01
b»5
Hekcnucr anderer Kcli<:ioii( ii .
5 338
0.02
0,03
zusammen .
24252999
ioo,cx>
100,00
Unter der Voraussetzung, da& sich nicht etwa die konfessionelle
Zusammensetzung der gesamten Bevölkerung seit i8go in der
gleichen Richtung geändert habe, kann aus dem Umstände, dafs die
Quote der Erwerbthätigen bei den Katholiken höher steht als unter
der Gesamtbevölkerung, bei allen anderen Konfessionen aber
Eiiiscblicfslich der bcruflosen Selbständigen.
Digitized by Googl :
Die Herut's- und Gewerbczählung im Dcut^hen Reich vom 14. Juni 1895.
niedriger, geschlossen werden, da(s bei den Katholiken verhältnis-
nnäTsig weniger, bei allen anderen Konfessionen, insbesondere bei
den Evangelischen und den Israeliten verhältnismäßig mehr Personen
in der Stellung der Familienangehörigen verbleiben. Das wird in
erster Unie verursacht durch das Verhältnis zwischen Erwerbenden
und nicht Erwerbenden in den Berufen, denen die Angehörigen der
verschiedenen Bekenntnis^ sich hauptsachlich widmen, und dann durch
die besondere Berufsgliederung der Gebiete, woselbst sie ansässig sind.
Ueber die konfessionelle Zusammensetzung der einzelnen Be-
rufsabtetlungen, sowie über die Berufsgliederung der hier
unterschiedenen Konfessionen unterrichten uns die nachstehenden
beiden Uebersichten :
Von 100 Erwerbthätigen jeder Berufsabteilung sind
C h r i s t 0 n
Isra-
Bekenner
Berufsabt eilangen
cvaagel.
kathol.
andere
eliten
aiK lerer
Religionen
43.01
o,aa
0,04
0,01
• H54
34,57
0,3t
o,5S
0,03
. «5,7«
38,21
0,26
5,71
Lohnarbeit wechselnder Art .
. 68,75
30,84
0,19
0,21
0,01
Oeffcntl. Dienst, freie BerttfauteB 66,54
32,'8
0,32
1,03
0,03
Sflbständigr ohne Beruf
• « «
. 63,93
33 9«
0,27
1,86
0.03
H&usUche Dienstboten
6?, 30
33.93
0,20
0,47
0,01
im ganzen
36,54
0.26
l,OI
0.02
Auf die einzelnen Berufsabteilungen entfallen von loo Erwerb-
thätigen jeder Konfession
über-
r )i r i s t 0 n
Isra-
Bekenner
Berufs-
haupt
evangcl.
kathol.
andere
eliten
anderer
abteilangen
Religionen
Laaclwiftichafl . . . .
34,19
31,10
40,14
«9,55
t.3«
9,8s
34,t$
3Si44
3a,3«>
4i,S4
18,80
4Ä,57
9.64
io,ao
7.44
9,57
54,56
18,8t
Lohnarbeit Wechsel. Art
1,78
»,97
i,5»
1,34
0,36
Oeffenllichcr Dienst, freie
Bcrulsartcn ....
5.88
6,29
5,«8
5,03
5.99
7.02
Selbständige ohne Beruf
8,84
9,09
8,20
9,07
16,30
13,00
HIniliclie Dienstboten .
5.52
5.13
4,at
s,6i
3.l6
Für die Berufs^^
licderu
ng der F.v
angelischen und
der Katholiken
ist char.'iktcristisch,
dals diese einen
gröl.scren, jene
einen
kleineren
Teil zu (irr laiulwii tschaftlichen Herufsbcvölkcrunf,' stellen als ihrem
sonstij^en Zahlenv eriiäUnis cntsj)richt. Uiiiy;ekehrt ist demzufolge
das Verhältnis ihrer Anteile an den anderen Berufsabteilungen.
Digitized by Google
404
H. Kauebberg,
Insbesondere erscheint der Anteil der Evangelischen an der Lohn*
arbeit wechselnder Art und am öfTentlichen Dienst besonders
hoch, der Anteil der Katholiken am Handel und an der Lx>hnarbeit
wechselnder Art besonders gering. Die Israeliten gehören zur
gröfseren Hälfte dem I-Iandel an und sind daran mehr als fiinlinal
so stark beteiligt wie ihrem sonstigen Zahlenverhältnis zur Be*
völkerung entspricht; auch ihr Anteil an der Abteilung der beruf-
losen Selbständigen und am öffentlichen Dienst und freien Beruf
geht um ein geringes darüber hinaus.
Untersuchen wir das konfessionelle Gefiige der einselnen Be-
rufsgruppen, so fallen durch Prozentsatze, welche den durch-
schnittlichen Anteil erheblich überragen, auf: die Evangelischen im
Versicherungsgewerbe (77,67 Prozent), polygraphischen Gewerbe
(74,51 Prozent), in der Maschinen- und Papierindustrie (71,79 uod
70,14 Prozent) und im Verkehrsgewerbe (69^15 Prozent); die Katho-
liken, von der Landwirtschaft (43» 17 Prozent) abgesehen, im Berg-
bau und Hüttenwesen mit 55,05 und in der Gruppe der gewerb-
lichen Personen ohne nähere Bezeichnung mit 42,05 Prozent; die
Israeliten neben dem Handelsgewerbc, wozu sie 10,55 Plrozent der
Erwerbthätigcn stellen, auch noch im Versicherungsgewerbe (3,14
Prozent), in der Infiu-irie der Nahrungs- und Genufsmittel, sowie
der Bekleidung und Reinigung (1,48 und 1,19 Prozent); die „sonstigen
Christen" und die Bekenner anderer Religionen sind bezeichnender
Weise in den künstlerischen Betrieben mit 0,65 und 0,13 Prozent
verhältnismäfsig am stärksten vertreten.
Die Unterschiede in der sozialen Stellung der Ervverb-
thätigen verschiedener Konfession werden in der nachstehenden
Uebcrsirht dargestellt :
Ks sind von je 100 dem ncbenbezeichneteii Glaubensbekenntnis
an;^ahöi i^ari Krwerbthäti^nMi der 3 Beruüsabteüungen Landwirtschaft,
Industrie, Handel und \' erkehr
in der
Landwirtschaft
in der Industrie
Glaubensbekenntnis
Selb-
Au-
Ar-
Selb-
Ar-
stSndige gestdlte
itfndigc
gestdltie
bester
evuigeliiche Guristen. . .
««.37
0,64
«7,5«
11.73
1,6s
3».7«
katbolisclie „ . . ,
15,87
0,3t
34.t3
0,98
«9.94
andere „ ...
0,39
aobso
a.31
33.90
Christen überliaiipt . . .
I3J»
30,04
10,88
1,3«
3if7i
0,88
0,04
0,92
ia,9i
3.05
9.20
Bekenner anderer Kt lipionen
6,05
0.47
6,58
17.13
4.« 1
40,66
im ganzen .
0,51
29,76
10,90
1.39
3 «.♦9
Digitized by Coog
Die Berufs- und Gcwcrbezählung im Deutschen Reich vom 14. Juni 1895. ^05
im
in Landwirtschaft, Industrie
Handel nnd Verkehr
nnd Handel «uammen
Glaubensbekenntnis
Selb-
An-
Ar-
Selb-
An-
Ar- ■
st.Hn(ii<:r
{gestellte
beiter
ständige
gebt rlltc
heiter
cvaiigcliscbe Christen . .
• 4,t«
7.05
28,70
67.41
katholisehe „ . .
* 3f»i
0^80
28,54
2.09
andere „ . .
i>93
4,30
36,67
4,63
58,70
Christen flberlmapt . .
• 4.07
6,38
a8,66
3,ai
68,13
. 43.«a
8,ao
20,98
S7.6I
11,29
3«.io
Bekenner anderer Rdigionei
B 10,Sl
10,48
33.99
8,39
57.7«
im ganxen
. 4,4Ä
a«.94
3i29
67.77
W'ir entnehmen
daraus,
dafs unter den
Kaliiol
ikcti die
Selb-
ständigen und Ango
LcUton. I
i.inicnlli»
:h in der Industrie sowie im
Handel und X'crkehr,
minder
häufig vertreten
sind,
wie unter den
Evangelischen und vollends unter den „anderen Christen". Hingegen
steht der Prozentsatz der selbständigen Landwirte bei den Katho-
liken etwas hdher als bei den Evangelischen, was sich daraus er*
klärt, dafs im protestantischen Norden und Osten des Deutschen
Reichs der landwirtschaftliche Grofsbetrieb viel mehr verbreitet ist,
wie im vorl iegend katholischen Süden und Westen. Damit stimmt
auch die gröfsere Anzahl der evangelischen Angestellten in der
Landwirtschaft überein.
Viel grölsere Unterschiede als zwischen Evangelischen und
Katholischen bestehen hinsichtlich der sozialen Gliederung zwischen
den Christen überhaupt und den Israeliten, indem unter diesen
durchweg, am aufialligsten aber im Handel und Verkehr, die Selb-
ständigen und Angestellten den Arbeitern gegenüber in den Vorder-
grund treten. Während bei allen anderen Konfessionen die Ab-
hängigen überwiegen, ist die Mehrzahl der Israeliten in selbständiger
Stellung erwerbthätig. In der Industrie halten sie die Schicht der
Selbständigen beiläufig ebenso stark besetzt wie jene der Ab-
hangigen, im Handel und Verkehr sind ihrer rund zwei Dritte
selbständig und nur ein Drittel ist abhängig.
Schlafs des «weiten Teiles.
Digitized by Google
Landwirtschaftliche Manufaktur und elektrische
Lrandwirtschaft
Von
Dr. OTTO PRINGSHEIM,
in Breslau.
Die fast endlosen Debatten über die Ag^rarfrage haben noch
immer nicht die erwünschte Klärung L;el)racht. \'iellcicht lic^^'t
der eirund hierfür in dem Umstand, dafs bei Behandlung der Agrar-
frau^e mit althert^cbrachten Scliablonenbcfjriflen , wie Grofsbetrieb
untl Kleinbetrieb, ()|»eriert wird. Allein, wie erst die feineren morpho-
lü^^ischen Untersucliun^aii der letzten Jahre c^rolsere Klarheit üi)cr
die Hnt wickluni^stendenzen der Industrie gebracht haben, so bedarf
es wahrscheinlich eines tieferen P-indringens , um auch auf agra-
rischem Gebiet zu bcfriedii^enden Resultaten zu i^felan^^cfi.
l iiserc Auff,fal)e kann es nicht sein, den «^'anzen ^^)rnlenreichtu^1
der landwirtschaftlichen Iintwicklunfj zu verfolgen. Ks soll nur
eine ( liaraktcrisierung der Formen versucht werden, die der Land-
wirtschaftsbetrieb während der kapitalistischen Ki'oclic annimmt, und
besonders bestimmt werden, welche Kntwicklun^sstufe die heutige
deutsche Landwirtschaft erreicht hat. Die vorkapitalistischen l orraeo
des Ackerbaus bleiben daher unberücksichtigt.
Die Landwirtschaftslehre hat sich mit den Fragen der agra-
rischen Morphologie so gut wie gar nicht befeist Sie untersdiddet
allerdings verschiedene Systeme des Feldbaus und der Viehhaltung.
Allein sie charakterisiert dieselben in rein technischer Weise als
Dreifelderwirtschaft, Koppelwirtsdiaft, Fruchtwechselwirtscbaft, lafet
das ökonomische Moment unbeachtet oder verwendet es in ver-
wirrender Weise. *)
*j VgL hierzu den Arukcl „Ackcrbau:>yälcmc" von von der Goltz un Hand-
Digitized by Google
Landwirtschaftliche Mauufaktur und elektrische Landwirtschaft.
Auch die Nationafökonomen haben die hier angedeutete Lücke
nicht ausgefüllt^) Gewohnlich begnügten sie sich mit dem Hin-
weis, da& Grolsgrundbesitz und Groisbetrieb nicht zusammenzufallen
brauchen und unterschieden Grofsbetrieb und Kleinbetrieb in ganz
äufserlicher und unzureichender Weise nach der Anbaufläche.^
Die Industrie hat bestimmte Betriebsformen, die eine fort-
laufende Entwicklungsreihe darstellen. Für jeden Geschichtsabschnitt
ist eine dieser Formen charakteristisch, wenn auch aus der voran-
g<^angenen Epoche zahlreiche Reste fortleben. Bei Kennzeichnung
der verschiedenen Formen wurde oft der Fehler gemacht, sie nach
einem einzelnen Moment, wie dem Absatz, der Arbeitsteilung etc.
zu bestimmen. Man muls vielmehr jede Betriebsform sowohl nach
der quantitativen, wie nach der qualitativen Seite betrachten, ihre
Eigentümlichkeiten in der Technik, Arbeitsverfassung und Ver-
waltung erfassen.
Knapi)s Behauptung, dafs die kapitalistische Entwickluf^ früher
in der Landwirtschaft als in der Industrie auftrete, dürfte nur cum
j^rano salis zu verstehet) sein. Vor der Ablösung der gutsherriich-
bäuerlichen \'crhältnissc i<onnte von einer wirklich kapitalistischen
Wirtschaftsverfassung keine Rede sein. Aber auch nach der ßauem-
befreiung hielt nicht überall ein kapitalistischer Grofsbetrieb seinen
Einzug in die Landwirtschaft. In zurückgebliebenen Ländern , wie
in Rumänien, lebten die eben abgelösten Hand- und Spanndienste
in anderer Form wieder auf. Anderwärts, wie in Böhmen, war die
nächste Folge nicht der Grofsbetrieb, sondern, da den Besitzern
Geld und Inventar fehlte, eine Zunahme kleiner Pachtungen, 'i
Man könnte die I'rage aufwerfen, ob nicht ähnlich wie das Ver-
lagssystem ein Mittelglied zwischen Handwerk und Gro(sindustrie
Worterbuch cit-r St W. 2. Aufl., der die- herrschende liikhirhiit ilhi>tri< ri. Stit-da
(Art. „Fabrik" im Handwörterbuch; bemerkt, das Ackcrbausystfm st-i wesentlich
tecfaniscber Natur und könne mit mehr oder weniger Aufwand an Kapital und Ar«
beit beuieben werden. Trotidcm nacht er keinen Venucb einer anderen Klassi-
fikation der «grariscben Entwicklung.
') Richard Jones (Essay on the distribntion of wealth and the sonrces of
taxation) bat schon 1S31 die Terschiedenen Formen der prundrente unterschieden
Er kennt serf rents, melayer rcnts, ryot rents, peasanl rents, cottier rents und iarme
rento.
*) Vgl. Conrad, ,,I'..iucrngut und Bauernstand" im Handwörterbuch II, S. 43S
•) Guido Kratlt, Hin GroUgrundbe-itz der Gegenwart. Wien 1872 J>. 1 fl
Vgl. auch Griinberg in Scbmollcri> Jahrbuch 21, S. 135 fT.
Digitized by Google
4o8
Otto Pringsheim,
bildet, eine analoge Krsrheinung sich auf dem Wc^^'c von der Baucrn-
wiitscliaft zum laiuhvirtschaftlichen Grolsbetricb findet. ') In der
That fehlen Verlagsverhähni'^sc in der Landwirtschaft flieht g^anz.
üa jedoch che Hauptprodukte der bäuerhchen Wirtschaft, Getreide
und Vieh, teils von den Produzenten selbst konsumiert, teils auf
Lokahnärktcn abgesetzt wurden, mulste das \'erhältnis des Händlers
zum IVofiuzenten ein andere^ werden , als in der hidustrie. Wo
Handelsprtan/.en gebaut werden, tiiiden wir jedoch nierkwürdii^e
Analogieen zu den X'erlagsverluiltnissen der Hausindustrie. \ om
holländischen Tabakbau wird berichtet: „Der Tabak wird von den
Pflanzern nicht direkt an Konsumenten oder Grofshändler verkauft,
der Wrkauf findet durch X'erniittlung von l-"aktoren statt . d. h.
von Per>onen , die in den Bezirken des l abakioaus wc^hnhaft. im
Sonmier den Tabak auf dem Felde besichtigen, den eingeernteten
Tabak während des Trocknens beobachten, und endlich, wenn der
1 abak zus.nnmeiiL;ebunden ist, ihn kaufen und in Empfang neinnen.
Dann lassen sie den Tabak in ihren eigenen Lagerhäusern die
Gährung durchm.ti iu n . um ihn schlielslich an tlie eigentlichen
Käufer, Cirofshändler und I'abrikanten, als deren Makler sie fungieren,
gegen Berechnung von Pro\ ision , Miete etc. abzuliefern. In ein-
zelnen Fällen kaufen die Faktoren jedoch für eigene Rechnung.
Ein anderer Fall, der hierher gehört, ist das Verhältnis des. Rüben-
bauers zur Zuckerfabrik. Gerade, wie der hauandustrietle Weber
sein Garn vom F hrikanten, erhält der Rübenbauer den Samen von
der Zuckerfabrik. Die Rübenverträge enthalten auch scharf formu«
lierte Bestimmungen äber den Bau und die Ablieferung der Rüben,
die* häufig vexatorischer Natur sind.') Man mufs jedoch eine zu
formalistische Betrachtung des hier gekennzeichneten Abhängigkeits-
verhältnisses vermeiden. Dieses braucht für den Grofi^rundbesttzer
nicht drückend zu sein und verschwindet gänzlich, wenn die Rüben-
bauer Aktionäre der Zuckeriabrik sind.
') licjit mir fern, hier auf die vou K. Liefmann jüngst angeregte Kontro-
verse aber das Wesen des Verlags einxiigehen. Jedcnfiüs wird die Betrachtung der
bisher unbeachteten landwirtschaftlichen VerlagsverhBltnisee für die Eatscheidong der
Streitfrage von Wichtigkeit sein.
') Citkomsten van het onderzock naar den toestand van den laodbovw in
Nederland. Haag 1890. III, 96. S. 4.
*) Noch schärfere Bestimmnngcn sind in den Vertrigen fitr den Anban von
Samcnraben vorgesehen.
Digitized by Google
Landwiitscbaftliche Manufaktur und elektrische Landwirtschaft.
409
Die angefiibrten Beispiele von VeHagsverhältnissen lassen sich
noch vermehren, sicher ist jedoch, dals sie nicht den breiten Raum
einnehmen, ^e in der Industrie. —
Betrachten wir nun den typischen Fall des heutigen landwirt-
schaftlichen Grrolsbetriebs, die Wirtschaft des ostelbischen Ritterguts
von 2cx>— 400 Hektar.
Noch immer überwiegt in dieser Wirtschaft die Handarbeit, und
der Arfoeitsprozefs wird teils durch individuelle Arbeitsakte, teils
durch einfache Kooperation charakterisiert^) Wenn Arbeitsteilung
stattfindet, wie bei der Ernte zwischen Schnittern und Bindern, so
schafft diese doch nie spezialbierte Teilarbeiter, da dieselben
Leute später zu anderen Funktionen verwandt werden.^ Solche
Spezialarbeiter finden sich jedoch bei der Viehzucht (Schafer, Schweizer
im Kuhstall).
Bei oberflächlicher Beurteilung könnte die Anwendung der
zahlreichen landwirtschaftlichen Maschinen zu der Annahme verleiten,
als habe die I .and Wirtschaft bereits eine Entwicklungsstufe erreicht,
die der maschinellen Grofsindustrie entspricht. Allein so grofs die
Fortschritte des landwirtschaftlichen Maschinenwesens auch sind,
•dasselbe hat bei weitem noch nicht alle landwirtschaftlichen Arbeiten
crfafst. *) Brauchbare Rübenheber und Kartoftclcrntemaschincn sind
noch immer ein frommer Wunsch, Auch haben die Landwirte
lange, bevor die grofsc P^ntdcckung gemacht wurde, dafs die
Maschine keinen Mist ^'iebt, die Sdiranken, die dem Maschinen-
betrieb gesetzt sind, erkannt
*) Beispiele der einfachen Koopemtion tnud d«s Attf laden von Heu, MSben uaw.
Individnelle Arbeitsakte finden statt, wenn ciik Aibdter walil, ChUisalpeter ttreat 11.S.W.
•) In Pommern wird sogar der Stellmacher dos Guts zu Erntearbeiten bena-
^'rzn»«n. Ii. Wittenberg, Die Lage der ländlichen Arbeiter in Neuvorpoaimcm
und aul Kü^tn. 1SQ3 S. 10.
'1 l-'s wird rr<-w.)hnlitli übfrsilu-n, wie jimg die Anw>iidung l.indwirtM-luilllicher
Mahchinou in i )cut.schland ist. In Scblaasiedl wurden 1S55 die ersten iJrilima&chinen
eingeflibrt, 1851 die erste Drescbmascbine, dancboi aber der Huiddmacfa nodi lange
belbebalten. Ein Dampfpfli^ wwde erst 1873 aogesdwft. Vf. Rimpau, Die Be-
wtitschafiang einer preufsiscben Doinine im 19. Jabrbuidtft. Menael>Lengerke, land-
wirtscbaftlicber Kalender für 1900 5. 81 n. 90. Anfimgs der teer Jahre sollen
Drillmasclnnen in Wcstpreufsen nur <^:in/. vereinzelt existiert haben. Backhaos,
Agrarstatisti-»che Untersuchungen über den preufsiscben (3sten im Vergleich zum
\Ve>ten iSqSi S. 1 2o. In Oldenburg kommen 1 >ampfdreschmaschinen seil 1S80,
selb^(bindendc Mähmascliincn seit iSqi vnr. F. Heusinj^, Der Einflul's der land-
wirtschaftlichen Maschinen auf Volks- und Privatwirtschaft ^,iS9S) S. 20.
ArekhP für lo«. Ccwugebung u. Statiidk. XV. 37
Digitizcd by Google
4io
Otto rringsheim,
Sie wu(sten, da(s die Maschine bei der vorwiegenden Anwen»
dung von Gespannen, bei dem Mangel an kräftigen und intel%entai
Arbeitern und bei ihrer kurzen Benutzungszeit nicht den hohen
Wirkungsgrad besitzen konnte, der die in der Industrie verwandten
Maschinen auszeichnet.*)
Endlich kann sich, da die meisten landwirtschaftlichen Afbetten
successive und nicht simultan erfolgen, kdn Maschinensystem aus-
bilden. Eine Ausnahme ist es, wenn eine Dreschmaschine mit
einer Strohpresse oder Haferquetschc kombiniert wird.
Aus diesen Thalsachen ersieht sich, dals der Arix itsprozefe
des landwirtschaftlichen Grofebetriebs weder automatisch , noch
kontinuierhch ist; das Rittergut ist also nicht das Ebenbild der
modernen Fabrik. Will man es mit einem industriellen Gebilde
vergleichen, so bietet nur die Manufaktur (im Sinne von Marx)
eine Parallele. -)
Die sporadische Anwendung^ von Masrliinen hebt den Charakter
der Arbeitsverfassung des heutigen landwirtschaftlichen Grolisbetriebs
nicht auf, derselbe ist manufakturmäfsig. ^)
Zu demselben Resultat gelangen wir auch, wenn wir neben
der Arbeitsverfassung einige andere ökonomische Momente heran-
ziehen.
Wenn es zum W esen der modernen Industrie gehört, alle öko-
nomischen Kategorieen scharf herxortretcn zu lassen und <lurch ge-
naue Buchhaltung Produktionskosten, Gewinn etc. sicher festzu-
Viele Lrandwifte siiid aosgesprodicn nuchinenfeiadlieh. So M. G. Nord-
mann, Agimrier helft Eodi selbst. Die Gestaltung des UndwtrtsdiaßlidieB Be-
trirbes mit Rücksicht auf den herrschenden Arbeitennangel. Berlin 1899. Der
hochkonscn-ativc Verfasser bestreitet die Nützlichkeit des Maschinenbetriebes und
empfiehlt beschränktere Anwendung von Drcsr linr.iM-hin.n. Auch von der Goltz
hSit die ausjjcdehntc Vt-rw- ndtnit,« der I )rcNchina > hiiu 11 ti;r vorkehrt. Kinc noch
weitere Au&dehnung konnte- die lan<lwirlschattlich<.n .\rbeiter\erhäknissc in nicht gut
SU madienider Weise zerrütten. Vorlesungen über Agrarwesen und Agrsrpolilft
(1899) S. 39. Audi da Zentnunsorgan, die Schlesische VolktMitnng vom 11. Fe-
bruar 1900 veitritt Sluilidie Anscbaunngea.
*) Marx selbst spricht „von jener Art grofsen Agrikidtttr, weiche der Ifsau-
fkktorpcriode entspricht und sich wesentlich nur durch die Mas.se der gleichMltig
aTi;'' \\ nndten Arbeiter und den Umfang der konzentrierten Pro<luktionsmittel TOB
der l'..iuernwirt.s(li;iit unterscheidet". Kapital, 3. Aufl. 1, S. 335. Vfjl. audi SoBJ*
barts Definition der Manufaktur in dies.ni Archiv Pd. XIV S. 353.
^) Sporadische Verwendunj; von Maschinen widerspricht nicht dem Wesen der
Maanraktur. Marx, Kapital, I, S. 349.
Digitized by Google
Laudwirucbafilicbe Manufaktur und elektrische Landwirtschaft.
Stellen, so bleibt die Landwirtschaft weit hinter diesem Ideal zurück.
Backhaus befragte loo Güter über ihre Buchhaltung und es ergab
sich das erstaunliche Resultat, da(s nur 3 Wirtschaften doppelte
Buchführung hatten, während eine grofse Anzahl Landwirte gestand,
da& bei ihnen noch keine Buchführung vorhanden sd.')
Es giebt noch andere Umstände, die bewirken, dafs die.wirt'
schaftlichen Verhaltnisse auf dem Lande nicht so durch^htig sind,
wie in der Industrie. Wie oft kommt es vor, dafs ein Arbeiter
seinen Dienst verläfst und seine Lage zu verbessern glaubt, während
das Gegenteil eintritt, da er den Wert der Deputate nicht richtig
zu schätzen versteht.
Dafs die Landwirtschaft mit anderen Absatzbedingungen zu
rechnen hat, als die Industrie, braucht nur angedeutet zu werden.
Während die meisten Industrieartikel für den Weltmarkt bcstinunt
sind, hat die Landwirtschaft neben dem weltmarktfähigen Getreide
Produkte, wie Milch, die nur auf Lokalmärkten absetzbar sind und
andere Erzeugnisse, wie Futterpflanzen und zuweilen Stroh, die
überhaupt nicht verkauflich sind. Ebenso bemerkenswert ist die
geringe Bedeutung von Kartellen für die Landwirtschaft. Das
rheinische Rübenbauerkartell ist vereinzelt geblieben und der Erfolg
der TU ucrdinri^s eingeleiteten Bestrebungen zur Hebung der Milch-
preise bleibt abzuwarten. Wenn so landwirtschaftlicher und industri-
eller Grofsbetrieb qualitativ verschieden sItkI, so sind ihre quanti-
tativen Differenzen nicht minder hervorstechend. Einen Jahresumsatz
von 100 000 Mk. werden viele Rittergüter nicht erreichen, die
meisten Fabrikbetriebe aber weit überschreiten. Freilich hat in
einigen Ausnahmefallen, besonders" wo technische Nebengewerbe
eine grofse Rolle spielen, auch der landwirtschaftliche Großbetrieb
eine Ausdehnung gewonnen, die an die Riesenbetriebe der Inchi'^tric
erinnert. Fs ist wenig bekannt, dafs es auch in Deutschland wahre
„Honaiizafarmen" giebt. Die Herrschaft Benkendorf (Provinz Sachsen)
hat eine .Anbaufläche von 2626 ha und bildet einen Musterbetrieb
intensiver Wirtschaft. 375 ha werden mit dein Dampfpflug ge-
ackert. Der V^ichstand umfafst 123 Arbeitspferde, 70 Paar Ochsen,
300 Milclikühe, 100 Mastochscn, 3600 Mastlämmer. Zum (iut ge-
hört eine eigene Zuckerfabrik und eine Brennerei mit 300000 Liter
Spiritusherstcliung« Die Aufsicht führten 13 Beamte, 14 Hofmeister.
'j Backtiaus a. a. (). S. 264. Conrad meint, dafs viele Landwirte selbst am
Schlufs des Erntejahrcs nicht genau den Erdrusch kennen.
«7*
Digitized by Google
412
Olio Pringsbcim,
Femer waren angestellt i Fabrikdireictor, I Fabrikverwalter, t Brenn*
meister, Maschinenmeister, Kassierer, Buchhalter und ein eigener
Tierarzt. Die Jahresausgaben betrugen bereits 1887 1,5 --a Milli*
onen Mk. — Noch bedeutender ist die Wirtschaft des Oekonomierat
Böckelmann in Atzendorf mit 3 320 ha, die alle unter dem Pfluge
sind Ein eigener Dampfpflug, 99 Pferde und 610 Ochsen bcsoiigefl
die Beackerung. Eine eigene Zuckerfabrik, Cichoriendarre und
Brennerei sind vorhanden.^)
Die angeführten Ausnahmen bestätigen aber die Regel. Im
allgemeinen ist der Charakter des landwirtschaftlichen Grofsbetriebs
ein anderer, als der des industriellen, und es war nicht schwer
nachzuweisen, dafs dieser Grolsbctricli dem Mittelbauern nicht über-
legen sei. Der häufig vorkommende Absentismus der Besitzer, die
ebenso häufi^a^n Unterschlagunj:^en der Beamten, die Dielistiilile der
Arbeiter, die X'crstöfse gegen die ersten Re-^eln der Aj^rikulturchemie.
die Wirtschaft auf ausgeraubtem, verquecktem Boden, das alles ist
nicht die Signatur des ( rrofsbetriebs, sondern besonderer X'crhält-
nisse, unter denen ein Teil der deutschen Landwirtschaft zu leiden hat.
Während aber die David und Hcrt/., die Oppcnheinier und
Weise ni,'riin von dem nahenden Knde des landwirtscliaft liehen (iro(>-
betricbs weissaL;^ten. l)e;^^ann eine technische I'mwälzun«^ einzutreten,
die allem Aii>clieine nach berufen ist, die StelluriLy des landwirt-
schaltlicheii ( irolsbcti ielis /u befestigen luid seine Entwickluni^
auf eine höhere Stufe /u führen. Dank dem teils in Anj^riff i^e-
nonnnenen , teils «geplanten Bau \ on elektrischen rcberland-
zentralcn hält die Klektrolechnik ihren Kinzuj:;; in die Landwirt-
schaft.-'» Die uni\er>elle X^erwendbarkcit der elektrischen Energie
und der Z\vani,% che IJektri/.ität möglichst alUeitii; zu verwerten,
fiihrt dazu, alle landwirtschaftlichen Maschinen elektrisch zu be-
' t)i<- Bcsclireibuiifi tli«--.cr und einiger Shnlidicr Wirt-clian.'n der Provini
S.iclisi-n timlrt m.in in den Mitteilnn^'PTi der dciitv. hcn Lantlwirtschaftsj^es^'llschaft
iSou <ti)rk 17. \''^] auch Kurt Kiimker, l5cnkendorf und seine Ncbcn^- trr
'l liiel s l.;uul\viit-t liattlii lir J.ilu lau hör. l6. l.-ilirg. 18S7, .S. qSl ff. Kin»-n nurk-
würdigen Irrtum b-yeht Kaulsky (.Vgrarlragc), wenn er behauptet, in Eugland
, »cien looo ba das Maximum der Betriebsgröfse. Es gicbt in England Betriebe bb
XU 14000 acres. Vgl. F. Tb« König, Die Lage der' engl. LandwirUcbalt S. 9o.
*) Solche Zentralen sind teils gebaut, teils projektiert filr die Kreise Soest,
Samter, Lirgnitz, Ne*ibaldens1«ben, Kolberg, Greifenbe^, in Unterfranken, auf der
Insel Rügen, in Aüialirnlx r^ (( )>tpr.-ur»pn) u. s. w. Vgl. über die Verwendung von
l lektri/ttät in der Laiidwirtschafl den Vortrag des Ingenieur Sinell. Jahrb. der
D. L. G. Bd. 14.
Digitized by Go
LADidwirtschaftliche Manufaktur und elektrische LandwirtscbaA.
ireiben. Viele Uebelstände, die bisher dem Lokomobilbetrieb und
Göpelbetrieb anhafteten, verschwinden, wenn der Klcktroinolor ihre
Stelle einnimmt. Die Melkmaschine z. B. wird, elektrisch betrieben,
ungleich häufiger angewandt werden, als dies bei Lokomobiibctrieb
möglich ist ') Elektrische Feldbahnen haben unleugbare Vorzüge
vor den mit Dampf- oder Petroleummotor ausgestatteten Anlagen.^
Die Dresdimascliine mit dt^;ebautem Elektromotor ist ein
grofser Fortschritt, sie ist sofort betriebsföhig, das lastige Fahren
von Kohlen und Wasser fiUlt fort und Störungen durch Platzen des
Riemens werden vermieden.^ — Der elektrische Pflug wird un-
gleich gröfsere Flächen durchfurchen, als es je der Dampfpflug ge-
than hat Elektrische Dreschmaschinen, Schrotmühlen, Häcksel-
schneider, Molkereimaschinen, SchaSscheeren, Pumpen, sogar elek-
trische Futterdampfer und Brutapparate sind bereits im Betriebe
und wenn bei anderen Maschinen die Anwehdung der Elektrizität
noch auf Schwierigkeiten stolst, so ist alle Aussicht, dieselben zu
überwinden. — Das bedeutet die Ersetzung der meisten Gespanne
durch Elektromotoren:^) Das bedeutet weiter die Möglichkeit eines
'1 Vgl. Prüfung der „Tbistle*** Melkmaschine, «af Veimnlassong der deutschen
Landwirtschaftgesellschaft ausgeführt. Hrrirhtct von Bt'nno Marttoy, (Arbeiten
der deutschon I,andwirtschaftsgrsollM;liaft Heft 37). S. 54 u. 55.
■) Vgl. hierüber Technische Rundschau 1899 Nr. 43. Georg Frost, Eick-
thächc Feld» und Waldbahnen.
*) Adolf Settfferhcld, Die Anvcndiuig der Elektrizität im laadwirteduiil/»
Ucben Betriebe, ans «gener Erfahning mitieteilt. Stottgart 1899; S. 19.
*) Daalc der UeberlMtong und den Profitintereisen der elektrischen Gesell»
Schäften wird „die TÖlUge Verdringmig des Pferds ans dem wirtachaftUchen Leben*'
noch nioht so bald erfolgen. Kttr eine ntclit nUsttfeme Zukunft aber wird sich
Heines Prophezeiung bewahrheiten:
,, Bedroht ist das i^an,'f Pt''Tdepi>rlilecht
Von ichrccklit lu n SchicksaLsschliigcH.
Obgleich ein Schimmel, schau ich doch
Einer schwarzen Zukunft entgegen.
Uns Pfeid« tötet die Kookurrens
Von diesen Dampfmaschinen,
Zum Reiten, sum Fahren wird sich der Mensch
De& eisernea Viehes bedienen.
Wir können nicht borgen oid stehlen nicht
Wie jene Nlcnschcnkinder,
Auch >chmci< lirln nirht, wi.- d.T Men:>ch und der üund,
Wir »ind verlalleu dem bchinder."
Digitized by Google
414
Otto Pring&heim,
Maschinensystems in der I^dwirtsdnlt^) So wird die Elektrizität
erst dem maschinellen Betrieb 2um Siege verhelfen. Was die
Dampfkraft nicht vermochte, das wird die Anwendung der Dreh*
Stromtechnik sicher bewirken, die Verwandlung der Landwirtschaft
aus einer alten Manu&ktur in einen modernen Großbetrieb.*)
Sobald diese technische Umwandlung eintritt, ist es auf dem
Ijmde aus mit der „vjäkovaja tichina" (dem jahrhundertalten
Schweigen), von dem der russisdie Dichter spricht
Die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der durch die Elek-<
trizität bewirkten Umgestaltung der landwirtschaftlichen Verhaltnisse
lassen sich vorläufig nur andeuten,^ nicht sicher feststellen.
Fragen wir zunächst, wie weit das Konkurrenzverhältnis zwt*
sehen Großbetrieb und Kleinbetrieb alteriert werden wird. Es ist
klar, dafs diejenigen Güter, die eigene elektrische Anlagen haben,
geringere Produktionskosten haben werden, als die mit Gespannen
in alter Weise fortarbeitenden Wirtschaften. Freilich können sich
auch die kleineren Wirtschaften an eine Zentrale anschlicfsen lassen
ofler eine Genossenschaft behufe Erriclitiing eines Elektrizitätswerks
bilden. Jedenfalls aber werden die Zentralen den gröfseren Ab>
nehmern höhere Rabatte gewähren und sie in koulanterer Weise
behandeln.^) Die Elektromotorcti müssen gekauft oder gemietet
werden, da ein loo pferdiger Klektromotor nicht zehnmal so viel
kostet, wie eine lOpfcriligc Maschine, so ist auch hier der grölsere
Betrieb im Vorteil. — Der Vorschlag, der jüngst eine landwirt*
In der Landwirtschaft sind von den über 4 Jahr-- aU'Mi Pf.-rrl< ii a ^S^cxx» Ik-
scViaftigt. P. Mack - Althol Ragnit, Der Aulschwung uii^m -, I .andwirlM lialt>l>':tri< l" s
durch VctbiUiguog der Produktiooskostcn. Eine Unlcrbuchung über den I)i<'n>t, dr-n
Maschinentechnik und Elektrizität der Landwirtschaft bieten. König!»bcrg 1900,
S. 52 aimmt an, dafs swci Drittel der bidierigen Arbdtadere dnxdi Elektionotordi
ersetzt werden können.
') „Man kann, wenn mehrere ElektromotoNn Toihandcii stiid, an einer Stelle
Fntter schneiden, Wasser pumpen oder aeliroteii, an der anderen die Dreschmaschine,
StrtkhfMresse oder sonst derglddiai Maschinen m gleicher Zeit in Betrieb setiea.
Seufferlield, a.a.O. S. 39.
^ „Les nsines centrales seront poor Tagriculture non seolement an foctevr t«ch*
niqne, mais od clomcnt economiquc et social de la pltts grsnde impoitance poor
l'avenir du pays." 1-a pelitc R^publitiuc. »8. November 1899.
') Mehrcrc Elektrizitätswerke berechnen gröfseren Abnehmern eine Fau^chal-
summe, während der Verbrauch der kleineren Konsumenten durch den Zähler be-
stimmt wird.
Digitized by GoogI<
LandwirtschaAliche Manufalrtar and clcktriKhe Landwirtadiaft.
scliaflliche VersAmmlun^ in Lic^nitz beschäfli^^te, dals die Kreise
die Elektti7.itäts\vcri<e bauen sollten, hat wohl wenig Aussicht auf
allgemeine Annahme. Allein auch in diesem Falle ist es fraglich,
ob der kleinere Besitzer hiertiurch begünstigt werde wurde. — Kurz,
CS scheint, als ob die Klektrizität eine Verschärfung des Konkurrenz-
verhältnisses zwischen Grofs- und Kleinbetrieb in der I^andwirtschaft
herbeiführen sollte. Jedenfalls sollten die Schriftsteller, die, wie
F. O. Hertz über dieses Thema gehandelt und den Einflufs der
Elektrotechnik ignoriert haben, ihre Untersuchung von neuem an>
fangen.
Eine weitere Folge des elektrischen Betriebes mufs die wachsende
Industrialisierung des platten Landes sein. Da an ca. l6o Tagen
des Jahres die Feldarbeit ruht, so wird die Rentabilität der elek-
trischen Zentralen dort am höchsten sein, wo industrielle Anlagen
mit elektrischem Betrieb zur Ei^anzung errichtet werden. Man
schlagt besonders den Bau von elektrochemischen und elektro-
l3^tischen Werken auf dem Lande vor, da diese einen variabeln
Kraftverbrauch haben und unbeschadet der Rentabilität zeitweise
den Betrieb einstellen können.*) Wenn schon jetzt Landarbeiter
während des Winters in Ziegdeien und ZuckeHab'iken Beschäftigung
suchen, so werden sie auch von der Arbeitsgelegenheit in diesen
neuen Anisen Gebrauch machen. So würde das alte Uebel der
Landwirtschaft, Mangel an Arbeitskiäften im Sommer, Ueberflufe
an Arbeitskräften im Winter, etwas gemildert wetden.
Der wachsende Maschinenbetrieb, die zunehmende Industriali*
sierui^ des platten Landes, schlieislich die Vermehrung und Ver-
besserung der Verkehrsmittel müssen auch die althergebrachten und
nach Ansicht vieler Landwirte bereits unerträglichen Arbeiter-
verluUtnisse -) des Landes umwälzen, müssen Stadt und Land nach
dieser Richtung hin nivellieren.')
') I'. Mack a. a. n. S. 50. Auch d^-k tri sehe Verhüttung von J\isti)frzen. elek-
trische ""Schleppschiffahrt, ferner Tlewinnung von Alumiiiium in tbonrcichcn Gegenden
kann als Aushilfsmittel in Fra^'c kommen.
*) „Die Landwirte sagen, es seien trotz aUer BemObungen Knechte und MIgde
bald ttkhl mehr ni haben, das wenige Gesinde sei niditsnntzig, angexogen, der
schlesische Lofangirtner sei atugestorben, das bstoannverhiltids in Ostprenfscn nihc
auf thänemen Ffifscn, das bstitat des Scfaarwerkers oder Hofglagen lasse sich nicht
mdir aufrecht erhaltte ... die ArbciterhSnser ständen teUs leer, teils seien sie von
Witwen «nd RentenempfSngem, Gelegenheitsarbeitern, Trunkenbolden und Idioten
bewohnt . . . selbst Scholkioder fingen zu ttriken an . . Arthar Brase, Der
Digitized by Google
Otto Pringshetm,
I
iJic ( icsj>antiarbcit erforderte Arbeiter, tlie von Jugend an mit
dem \'ieh umzustellen verstanden. Die Hinführun}^ des elektrischen
Betriebes beseitigt diese Notwendigkeit und gestattet im Notfall die
X'erweiulung sogar von städtischen Arixitern.
Die verhällnismälsig einfache, aber nicht LT' fahrlose Hedienung
der elektrischen Maschinen erfordert eine gewisse Intelligenz und
schlielst so rotii und nachlässige Arl)eitskräfte, wie sie vielfach unter
den heutigen Knei Ilten vorkoninien, aus.' i
Der durch die wachsende IndustriaUsierung des Kindes und
verbesserte X'erkehrsmittel gesteigerte Kontakt von Industriearbeitern
und I^ndarbeitern muls 1 ebensansprüche und Lohnforderungen der
letzteren notwendigerweise steigern.*)
Dieser Tendenz zur Hebung der ländlichen .A.rbeiterverhältnisse
werden freiUch scharfe ( legenströmungen begegnen.
Der Rat, durch stärkere Ausnutzung der Arbeitskräfte die
Produktionskosten zu verbilligen, ist den Landwirten oft gegeben
worden. Aber erst jetzt scheint die technische Möglichkeit einer
Verlängerung des Arbeitstages gegeben zu sein. Die mit Ausnahme
von Stallwachen der Landwirtschaft bisher unbekannte Nachtarbeit
wird dank den Fortschritten der Beleuchtungstechnik sich immer
mehr verbreiten. Schon jetzt kontien wir hierfür einige Beispiele
anführen. Auf dem (iut der Herrn Hujatti, dem bei Münchengrätz
(B<»hincn) gelegenen Joliannahof, wurde eine elektrische Dresch-
maschine und Bogcnlicht installiert und infolge hiervon 2^, Stunden
Arbeitermangd in der dcutschco Landwirtschaft, seine Unachcn und die Mittel sar
Ablulfe. (1900) S. 3.
*) Audi H. Lttx erwartet die Aufhebung oder Milderung de« Gegensattes nm
Stadt und Land von der ElektrisitiU. (Das Zeitalter der Technik. Neue dentsdie
Rundschau 1899, S. 131 1.)
>) Vgl Seufferhelld a. ai O. S. 32.
*) Viele Landwirte flrdOen die Folgen der Induatrialtticnnig dea platten
Landes . . . Man venpriclit sich Vorteile (Verhehnerleiehterung, erweitefte Absats«
gebiete), fOrchtet aber und mit Recht, dafs die mit einer Verpflansnng der Industrie
sweifellos verknüpften Nachteile Überwiegen werden. Was nQtsen z. B. die hödisten
Milchpreise, wenn sirb niemand zum Fttttem und Melken bereit erklärt, wsts helfen
uns 20 — 30 rfcnnigc höhere Kartoflrelprfi-.e, wenn wegen I.cutcniangels nicht tief
gr-pf1U(^'t. ri-rht/.eitig ^t-dün^t, und <las ICartuflclfcld nicht von L'okraat reingehalteo
werden kann ; H r a s e a. a. O. S. 90.
Digitized by Goügl
Landwirtschaftliche Manufaktur und elektrische Landwirtächait.
länger gedroschen ,,als ^^fcwöhnlich".') — Noch interessanter ist
folgender l all \on Nachtarbeit, der das Rittergut Kürbitz (K«niig-
reich Sachsen) betrifft. Es berichtet Seufterheld hierüber: „Iis war
bekanntlich der Sommer 1897 mit viel Regenwetter gesegnet, wa^
für die Getreide- und Dürrfutterernte schon sehr unangenehm ist,
noch mehr aber für den Raps. Dieser ist gegen extreme Witterung
am empfindlichsten. Man hat nun an einem schonen 1 agc den
Raps mit samtlichen verfiigbaren Personen abgehauen und aufgestellt.
Da er ziemlich reif war und das Barometer nichts gutes inbezug
auf die zu erwartende Witterung ahnen Uefs, entschlofe ich mich
ungesäumt mit dem Einfahren des Rapses zu beginnen und liefe es
Nachts bei elektrischer Beleuchtung fortsetzen, sodals morgens um
6 Uhr die letzte Fuhre in den Hof wankte. Um 7 Uhr, also nach
einer- Stunde hatte sich schon ein Regen eingestellt, der mehrere
Tage anhielt"*)
Ebenso wahrscheinlich, wie eine Ausdehnung der Nachtarbeit,
ist vermehrte Einstellung von Frauen und Kindern. Wenn Bensing^
Recht hat, dals die landwirtschaftlichen Maschinen, weil von Ge-
spannen bewegt, Frauenarbeit und Kinderarbeit wenig zulassen, so
ändert sich dieser Umstand mit der Einführung von Elektromotoren.
Ob eine Freisetzung von Arbeitern infolge vermehrten Maschinen*
betriebs erfolgen oder ob der heutige Arbeitermangel fortdauern wird,
läfet sich noch nicht übersehen. Sicher ist nur, dals Veränderungen
in der Nachfrage nach Arbeit erfolgen werden, wenn der elektrische
Betrieb überall zur Anwendung arbeitssparender Maschinen ver-
anlafst. Diese geminderte Nachfrage kann aber durch erhöhten Be-
darf infolge intensiverer Kultur ausgeglichen werden.
Aus alle dem ergiebt sich, dafs die Elektrizität die ländlichen
Arbeiterverhältnisse vollständig umwälzen wird.
Die Aussichten für die Landwirtschaft im 20. Jahrhundert sind
wahrhaft glänzende. ,4ch wage es auszusprechen, dals für die Körner-
Wiener landwirtscliaftliche Zeitung lü. Dciember 1899. Selbst in KufsLand
ist die NMhtwrbcit wShrend der letxtcn Zeit in die Laadwirtidwft eincedmageii.
,Jn frachtbArai Jatiren delmcn sich die Arbeiten in einigen WirtscIiaAen bis in die
Nacht ans bei kOnstlidier Beleuehtong dnidi Fackehi." Wladimir Jljin, Die
Entwickinns des Kapitalismos in Rnfsland. St. Petersbvig Z899, & t66. — In der
technischen Rundschau 1S99 Nr. 43 verhmgt ein Ljudwiit Nachweis eines Sdidn*
Werfers filr Acetylcnheleuchtunjj,
'1 Seufferheld a.a.O. S. 25.
^) Bensing a. a. O. 74.
Digitized by Google
4i8
Otto Pringihcim.
fruchte im DurclT-chnitt eine X'erdoppluncj der Erträge in Aus.sichL
fjeslcllt werden k um und inuis, und dals eine V^erdi citachunij der
Kartüffelerträ^c kciofswci^s aulscr dem Hereich der Möglichkeit lie^t."
Diese Worte von Max Delbrück beweisen, zu welchen Hoft'nungen
wir berechtig sind. Seitdem durch die Untersuchunj^en von Iaiii-
slröm der Einflufs der Elektrizität auf das Pflanzenwachstum sicher
nachgewiesen worden ist, eröffnen sich auch nach dieser Richtung
hin ungeahnte Perspektiven. Die Stdgening der Prcxluktivität wird
aber nur erfolgen, wenn die Landwirte es verstehen, einigermafsen
moderne Arbeiterverhältnisse zu schaffen^ wozu jetzt zum erstenmal
in der Geschichte sich die Gelegenheit bietet Wenn sie es vor-
ziehen, Beschränkung der Freizügigkeit, Bestrafung des Kontrakt-
bruches und ähnliche Maisregeln ihren Arbeitern zu bieten, stehen
desto härtere Kämpfe bevor und desto gröfseren Schaden wird die
I^andwirtschaft erleiden.
*) Max DelbrUck, Die dentscbe Lindwirt>ichart an der JabrbundcrtswcQd«.
Prrufsi^.che Jahrbücher, Februar I90O S. 203. Delbrück sagt eine Verachtfachung
der Produktion (üt das Ende des ao. Jahrhondeits, vergUchen mit dem Anfang des
19. voraus.
Digitized by Google
Das Gnmdeigeiitum in Belgien in dem Zeiträume
von 1834 bis 1899.
Von
Prof. Dr. EMtt- VANDERVELDE,
Mitglied der Depaticrtenkuniner in BrOssd.
Die Verteilung des Grund und Bodens zeigte in den Nieder«
landen im 18. Jahrhundert ungefähr dasselbe Bild» wie im übrigen
Westeuropa. Wie dort, befand sich auch hier der grolste Teil des
Grundbesitzes in den Händen des r^ierenden Fürsten, der Geist-
lichlccit und unzähliger Gutsiierren.
Die Bauern waren persönlich frei; sie hatten im allgemeinen
dn erbliches Recht auf ihren Grundbesitz, waren jedoch hinsichtlich
desselben, oder sogar für ihre Person, Frondiensten unterworfen,
mit Geld- oder Naturalleistungen belastet. Andererseits genossen
die Bauern häufig daneben mancherlei Nebenberechtigui^pen, so ge-
wisse Nutzungen in Wald und Heide des Grundherrn, namentlich
die Befugnis, sich dort Brennholz, Bauholz, F.ichcln und Gras, Streu,
Torf etc. zu holen. Diese Bercrbtii^ninL^cn und Verpflichtungen trugen
dazu bei, zwischen dem herrschaftlichen und dem bäuerlichen Grund-
besitz eine gegenseitige Abhängigkeit herzustellen, die zumeist noch
durch gemeinsame Koppel- und Wechselwirtschaft gefestigt wurde.
Hie und da lebten im Gemeinbesitz, dessen Genufs die Grundherren
mit den Landbewohnern teilten , gewisse mittelalterliche Formen
des Grundeigentums fort, wovon sich noch häufig Spuren in unserem
Jahrhundert finden.
Dieser Stand der Dinge nun hat seit der französischen Revo-
lution ganz erhebliche, tiefgehende Umgestaltiyigen erfahren.
Die feudalen Besitzungen sind mit wenig Ausnahmen in den
Digitized by Google
420
Emil Vandervelde,
Händen adeliger Familien gebliehen, oder wurden ihnen unter dem
Kaiserreich 7.urückgegeben , entblöCst jedoch selbstverstäodUch von
ihren grundherrlichen Rechten.
Die geistlichen Güter mit ihren unzähligen Piachthofen dagegen
sind in Privatbesitz übergegangen. Unter der hollancUschen Re-
gierung und namentlich kurz nach der Revolution von 1830 ge-
langten die schönsten Domänenwaldungen in die Hände der kapita*
listtschen hohen Bourgeoisie.
Die Grundlagen der bauerlichen Verhältnisse endlich werden
durch die Zwangsenteignung der Gemeindeländereien, die Umwand'
lung der Koppelwirtschaft, die Beseitigung der Nutzungen, der
Weiderechte, der Triftrechte wesentlich beeinträchtigt Eine weiteie
Erschütterung erfahren sie hierauf durch den Rückgang der länd-
lichen Hausindustrieen , den zunehmenden fiskalischen Landtausch,
die landwirtschaftliche Krisis und vornehmlich durch die £ib-
teilungen.
Es wird nun demgegenüber behauptet, seit der Fertigstellung
des Katasters habe der ländliche Kleinbesitz an Umfang gewonnen,
und man beruft sich hierbei auf die Zunahme in der Anzahl der
Grundsteuereinschätzungen. In der That ist diese Zahl in der Zeit
von 1834 bis 1897 von 945659 auf 1 193087 gestiegen. Man folgert
ganz allgemein hieraus, dafs die Zahl der Grundeigentümer zunimmt,
dafs sich der Grund und Boden zerstückelt, dafs in einer mehr oder
minder nahen Zukunft die grolsen Domänen bescheidenen Fetzen
selbständigen Besitzes Platz machen werden, und dafs somit die
sozialistischen Sätze von der zunehmenden Konzentration des Grund-
eigentums offenkundig widerlegt seien.
Diese Federungen ruhen lediglich auf Scheingründen, wie wir
im nachstehenden beweisen werden.
Ganz abgesehen von der h3^thekarischen Belastung, über deren
Umfang wir mangels neuerer Statistiken unzulänglich unter-
richtet sind, besteht kein Zweifel, dafs die. Anzahl der Grundbesitzer
mehr und mehr stark hinter der Anzahl der Einschätzungen zurück«
bleibt
Sodann ergiebt die Vergleichung der landwirtschaftlichen
Statistiken, dafs das von den Beintzern selbst bewirtschaftete bauer-
liche Grundeigentum vor dem pachtweise bewirtschafteten kapitali-
stischen Grundbesitz zurückweicht.
Endlich ist als besonders kennzeichnend die Thatsache, em
Digitized by CoogI(
Das Grandeigentum in Belgien in dem Zeiträume von 18J4— 1899.
Resultat der von uns angestellten Untersuchungen, ') hervorzuheben,
dats, der landläufigen Ansicht entgegen und trotz des Anwachsens
der Bevölkerung, der Steigung des Bodenwertes — bis zur land-
wirtschaftlichen Krisis — , der Zerstückelung der Anbauflachen, der
Wirkung der Erbfolgegesetze, der Zunahme in der Gresamtzahl der
Grundquoten» — daTs trotz alledem die Quoten von hundert Hek*
taren und darüber, welche Privaten gehören, einen noch
grofseren Umfitng haben, als zur Zeit der Fertigstellung des Katasters.
Gehen wir nunmehr auf vorstehend angeführte drei Punkte
näher ein, und &ssen wir zunächst den ersten, die Vereinigung
mehrerer Grundquoten durch einen Besitzer, ins Auge.
Bekanntlich treflen auf einen Besitzer soviel Quoten zusammen,
als er Grundeigentum in verschiedenen Gemeinden besitzt So
sind beispielsweise einige unserer Wohlthätigkeitsanstalten , welche
aus früherer Zeit sich grofsen Grundbesitz erhalten haben, im
Kataster mit einer grofsen Anzahl von Quoten vertreten. So:*)
Getamtflicfacii» Quoten-
inhalt anzabl
Hektar
in Diest die Annenanstalt (borran de bienfatSMioe) . 498 26
„ n Spitäler (bospices) 691 30
„ Nivelles Spitiilf-r II45 39
„ Tournay die Armcuaii'^ialt I414 7^
,, Spitäler 1822 79
„ i iu^^e die Armenanstalt 302 52
„ SphSler 3625 76
„ Brüssel , 2304 129
M Gent „ 3893 »»9
Wir wollen übrigens der Zahl und der Bedeutung derarli;^a*r
Grundeigentümer in Iklj^icu nicht zu viel Gewicht beimessen.
Nach ihrer letzten offiziellen Zusammenstcllunf^, welche vom 3 1 . De-
zember 1864 dauert, umfaßten die Besitzungen der Armcn-
anstalten nur 1,36, jene der Spitäler 1,25 Prozent der (iesamt-
fläche Belgiens, gegenüber 82,16 Prozent der Privatbesitztümer und
') Unter dem eifrigen Beistande verschiedener Freunde waren wir in der Lage,
wihrend der Jahre 1898 und 1899 die Grundkataster der 2609 Gemeinden des
Landes durchzuarbeiten and ihnen die wichtigsten Feststcllun{;<>n zu entnehmen.
Diese rntcrsucluin^^cti siud es, welche der gegenwärtigen Abhandlung in der Haupt-
Sache als Unterlage dienen.
^) Nach Mitteilungen der Herren Sekretäre dieser Institute.
Digitized by Google
422
Emil Vandervelde,
der Differenz, welche dem Staate und anderen öfiRmtficheo Korpo-
rationen gehört.
Es giebt jedoch noch viele andere Grundbesitzer, namentlich
in den Gegenden, wo der Kleinbetrieb vorherrscht, welche g^eicber*
weise eine beträchtliche Anzahl von Grundquoten in einer Person
vereinigen. In der Provinz Brabant allein haben wir gefunden, dals
die Familie von Arenberg über 6000 Hektar mit 31 Quoten besint
In Flamland ist es nicht selten, dafs ein einziger Eigentümer im
Kataster mit 30, 40, ja sogar 50 Gruodquoten vertreten ist. \^or
der Vcrfisßsunpjsrcvision des Jahres 1894 enthielt die Liste der in
den Senat Walilbaren in einigen Provinzen die Angabe sämtlicher
Quoten, deren Ertrag für jeden Wählbaren zur Feststellung des für
einen Senator erforderlichen tinkommens diente. Nach der Liste von
1893 vereinigten die 112 Wälilbaren VVestflanderns 1730 Quoten,
was einen Durchschnitt von 14 Qur>ten nuf jeden Wählbaren be-
deutet. Viele von ihnen halten drundbesitz in mehr als 20 Ge-
meinden, und die Xummern i, 27, 38, 48 und 49 der Liste waren
mit je 44, 43, 47, 58 und 41 Quoten vertreten.
Im Jahre 1807 veröffentlichte der „Landbouwer", eine land-
wirtschaftliche Zeitung der Genter Sozialisten, verschiedene Namen
\ on ( irundbesitzcrn in ( icnt nelist Angabe der Grunde juotcn, welche
ilinen in den verscliiedencn Gemeinden des Landes gehörten,
hiels da :
„Herr von P . . . l)esit/t in 44 belgischen (ienieifuien und in
Holland T 195 11. Ö7 A. Von diesen 44 Grunti( juoten enthalten
zwanzig auch Parzellen unter 5 Hektaren, fünf nur haben über 50
Hektar.
Herr von G. vereinigt in sich 58 Grundquoten, welche in^*
samt II 30 H. 99 A. umfassen."
Kurzum, es liesteht kein Zweifel, dafs infolge der Vereinigung,'
mehrerer Grundquoten in einer Person die Zahl der Grundeigentümer
beträchtlich hinter jener der Quoten zurückbleibt. Im Jahre 1848
verhielt sich nach der einzigen Zusammenstellung , die je gemacht
wurde, die Zahl der Grundbesitzer zur Ouoten/.itTcr wie 7 zu 9»
seit dieser Zeit indessen kommt es infolge der Zerstückelung der
Felder, der zunehmenden Leichtigkeit des Verkehrs, des immer
gröfseren Umiangs der geschäftlichen Beziehungen immer haui^
vor, dafs man in allen Gegenden des Landes Grundstücke zusammeo-
kauft, woraus sich crgicbt, dafs jenes Verhältnis jetzt ein anderes
sein mufs, als vor liinfzig Jahren.
Digitized by Google
Du Cnmcldgeatain in Belgien in d«m Zdtniiune von 1834 — 1899.
In der Umgegend von gro&en Städten, wo die Entwickelung
der Verkehrsmittel, der Eisenbahnen namentlich, allem Anscheine
nach früher oder spater die ländlichen Besitzungen in Bauflächen
verwandeln mufs, kaufen gewisse Familien samtliche Grundstücke,
deren sie habhaft werden können, zu Zwecken der Spekulation oder
der Kapitalsanlage auf. Diese Landankäufe haben besonders seit der
Konversion oder vielmehr seit den aufeinanderfolgenden Konversionen
der staatlichen oder städtischen Anleihen der letzten Jahre zuge-
nommen. Angesichts des gegenwärtigen Zinsfufscs der öffentlichen
Fonds ziehen es viele Leute, welche diese früher kauften, vor,
Grundstücke zu erwerben, namentlich dort, wo sie in der Zukunft
eine Wertssteigerung erzielen können. Nun wird aber hierdurch
notwendig in den Bezirken, wo die grofsen Domänen selten sind,
wo die Spekulanten in zahlrciclien Gemeinden zerstreute Grund-
stücke kaufen müssen, der Abstand zwischen der Anzahl der Grund-
quoten und jener der Grundbesitzer ein immer ^röfserer werden.
Aus diesen Thatsachcn läfst sich schliclscn, dafs die, übrigens
zweifelhafte Zunahme in der Anzahl der ( irundbcsitzcr nicht so
stark ist, als jene der Grundquoten vermuten liefse. Andererseits
wird diese letztere Zunahme seit ungefähr zwanzij^^ Jahren eine
immer langsamere. Während der i^anzen Dauer der landwirtschaft-
lichen Krisis hat ^o^:\r die absolute Zahl der Quoten in Limburg,
Luxemburg und ( )siflandern abt^enommen. Anderwärts hat sie weit
weniger rasch /.ugenommen, und nimmt sie noch ebenso zu, als die
Bevölkerungsziffer. Während im Jahre 1834 auf hundert Einwohner
23 Quoten kamen, kommen auf die gleiqjjie Anzahl Linwohner im
Jahre 1897 nur noch 18.
Hieraus erhellt, dafs die Anzahl derer, die keinerlei
Anteil an der Ergiebigkeit des Bodens haben, denen
nicht einmal die Stelle zu eigen ist, auf welcher das von ihnen be-
wohnte Haus steht, in der zweiten Hälfte dieses Jahr-
hunderts bedeutend angewachsen ist.
Wenden wir uns nunmehr zum zweiten der von uns oben auf-
gestellten Sätze, zu jenem vom stetigen Anwachsen des kapita-
listischen Grundeigentums, so müssen wir zunächst Einiges
über den BegrifT der kapitalistischen Betriebsweise in der
Landwirtschaft vorausschicken. Der engere Sinn dieses Begriffes
setzt das Bestehen dreier, genau voneinander unterschiedener
Klassen voraus: den Lohnaibdter, den eigentlichen Bebauer des
Bodens, den Pachter, welcher den Betrieb leitet und den Unter*
Digitized by Google
424
Emil Vandervelde,
nehmergewinn daraus zieht, und den Grundeigentümer, der den
Pächter gegen einen vertragsmäfsig festgesetzten periodischen Grund-
zins ermächtigt , sein Kapital im Grund und Boden zu nutzen.
Dieser Stand der Din^^c nun findet sich allenfalls im gro(sen oder
mittleren L.andwirtschaftsbetricb verwirklicht.
Fal'st man jedoch die Bedeutung des Wortes weiter, so werden
wir kapitalistisch — gej:^cnüber dem bäuerlichen — nennen
alles Grundcit];entum, das nicht denen ^ahört. welche es bebauen.
Aus dem Gesichtspunkte der sozialen Wirkungen ist das \'or-
herrschen der pachtweisen Be Wirtschaft un;:;; gegenüber der Selbst-
bewirtschnftung nun eine weit gewichtigere Thatsache, als das Vor-
herrschen des grolsen gegenüber dem kleinen ( iruiuliiesitz. Sobald
der Hebauer des Bodens Rente zahlen mufs, ist e-. ihm ziemlich
gleichgültig, ob das pachtweise bewirtschaftete hcUl seines Dorfes
einem oder mehreren F^igentümern gehört. Das Beispiel Siziliens,
Irlands, Flanderns zeigt .sogar, dals letzterenfalls die Bewirtschaftung
durch Pächter luirtere Wirkungen haben, dafs unter ihr die .Ab-
hängigkeit der ländliciicn Bevölkerung unerträglicher sein kann,
l'ebrigens darf man behaupten, dals die Parzellenpächter in Flam-
land, welche ebensowenig Kapitalisten sind, als die dem Sweating-
System au^elieferten Heimarbeiter, stärker ausgebeutet werden, als
viele Landarbeiter im Condroz und anderwärts.
Mit der Behauptung, dafs skh das Grundeigentum zeistüdcde,
wäre also keinesfalls gesagt, da(s es sich demokratisiere; es würde
sogar das Gegenteil zutreffen, wenn der mittelbare Betrieb gleich-
zeitig der Selbstbewirt%:haftung gegenüber an Terrain gewänoe.
Diese letztere Erscheinung aber ist unstreitig überall wahrzunehmen,
wo die Entwicklung des intensiven Betriebs beträchtlichere Kapitalien
erheischt und die Existenzbedingungen des bauerlichen Grundbe^tzes
vernichtet.')
Allerdings umfafst in Belgien die Selbstbewirtscbaftung noch
einen ansehnlichen Bruchteil, ungefähr die Hälfte des landwirtschaft-
lich bebauten Bodens — 53 Prozent im Jahre 1880, 4p Ptozent im
Jahre iBgs.*) Es ist hierbei aber nicht zu übersehen, dals die ofifi-
'1 iilx r diesen Punkt unx ron H< rieht an don Landwirt^cliaftskongrefs in
Wurcnmit am 31. Dc/.cmbcr l&y>~, al>(4cdruckl in „iJoslree und Vandt-nrlde, le So-
ctalisine en DLlj;ii|ue •, Paris 189S, hex Giard et Bricrc; — ferner „De la, V»ll«e
Poussin, la propri^^ paysaime cn Belgii|ue" in d«r „Revue sociale eatholique" vom
I. Februar 1898.
') Nach den landwirtscbaftlicfaen ZKhlougen von 1880 und 1895.
Digitized by Google
Da» GrundcigcDtum ia Belgien in dem Zeiträume von 1S34— 1899.
zidle Statistik unter diese Kategorie auch Holzungen, Heideflächen,
Oedland, Weideland, periodisch gerodete oder abgesengte, aber niqht
regelmäisig angebaute Flächen rangiert, ohne Unterschied, ob sie
Privaten, dem Staate, Gemeinden oder öffentlichen Instituten ge-
hören. Zieht man lediglich die regelmäisig bebauten Flachen des
Agrikukurterrains im eigentlichen Sinne in Betracht, die Brachfelder
eingeschlossen, so erhalten wir ganz andere Ziffern.
Umfang und Verteilung der angebauten Flächen.
In Pacht
selbst bewirt-
In l'acbt
selbst bewirt-
ichaftet
schaAet
Hektar
Pros.
Pro«.
Hektar
Pros.
Hektar
Pros
Laxemlmrg . .
61 33S
34,4
116934
65,6
63170
3ai>
130763
67,9
Liroburs . . .
56043
41.8
78 109
58,2
78795
59.«
5443B
40,8
Xamiir . . ,
139459
61,2
88543
38.8
139605
63.7
79707
36,3
Lüttich . . .
II 3 296
60,1
75376
39.9
128780
68,8
57 934
31,2
Hcnrn-pau .
190867
65.9
«02374
34,9
195479
69,1
87664
30.0
Hrabant .
1 92 9 1 2
71.1
78336
28,9
187377
72,1
72697
27,0
Antwerpen . .
93 »07
59.5
63 408
40.5
107 207
73,0
39736
27,0
Ostflandem . .
186333
74,0
65646
36,0
180614
77,8
51630
33,3
Westfl«ndeni .
337398
«5.3
44343
«4,7
340338
88^
317*3
11,6
KdnigT' Belgien
1 370513
65,1
713059
35.9
1 3^0358
68,9
596331
31,1
Ks kommen somit im ijanzen Köni^^rcich auf hundert Hektare
rei^elmälsig angebauter Machen uiii^'cfähr neunundsechzig, von denen
der Kapitalistenzehent enlrichtct wird. Der liigenbetrieb übcrvviejTt
gc^en den pacht\vci>t n nur in den Ardcnncn, den Heideflächen tler
('amj>inc oder Waldgegenden von Entre Sambre et Meuse. In den
Ebenen VV'estflanderns dagegen wurden im Jahre 1895 von liundert
bebauten Hektaren nur elf von ihren Eigentümern bewirtschatlct.
Im Bezirk Ostende ist die Selbstbewirtschaftung — sieht man von
den unbebauten Flächen, den Stranddünen, ab — vollständig ver-
schwunden. Kurzum, je weiter man von den höheren Landstrichen
in die dcgenden der intensiven Bodenwirtschaft gelangt, desto be-
trächtlicher wird der Bruchteil des kapitalistischen ( irundcii^entums,
im weiten Sinne des Wortes, an der bebauten Fläche, l ni einen
allgemeinen Au>druck zu gebrauchen, kann man sagen, dals die
Entwicklung dieser Betriebsweise in geradem Ver-
hältnis steht zum V^erkaufs werte desGrund und Bodens.
Demgegenüber erscheint es als offenbarer Widerspruch, dafs
gerade in Zeiten der Krisis^ der Entwertung von Grund und Boden,
Archhr fiir lot. G«scttc«baBg u. Stalittik. XV. 38
Digitized by Google
426
Emil \' ander Velde,
das kapitalistische Eigentum an Umfang gewinnt. Die Erklärung
hierfür ist darin zu suchen, dafs in derartigen Krisen die Bauern
nicht imstande sind, den allzu schweren Verbindlichkeiten nach*
zukommen, welche sie in Ihrer Sucht nach Landerwerb in guten
Jahren auf sich nahmen: die Einkünfte werden geringer, die Sdiulden
gröfser, die Hypothekenlasten drückender, es mehren sich die Zwangs-
verkäufe von Grundstücken. „Auf Anordnung des Justizministers ist
eine vergleichende Statistik der Anzahl derartiger Verkäufe auf-
gestellt worden für zwei Perioden von je drei Jahren, zwischen denen
ein Zeitraum von zwanzig Jahren liegt, (Ur die Jahre 1871 — 73 einer-
seits und 189t — 93 andererseits. Es ergiebt sich aus der Ueber*
sieht, welche auf Angaben aus allen Landesteilen fufst, dafe mit Aus-
nahme der Ardennen diese Zwangsenteignungen in der zweiten drei-
jährigen Periode weit zahlreicher waren als in der ersten. Fast aller-
wärts hat sich die Zahl derartiger Versteigerungen mindestens ver-
doppelt; in Limburg ist sie auf das Dreifache, in den Arrondiss^
ments Mechcln und Löwen auf das Vierfache, in jenem von Toumay
auf das Sechsfache gestiegen."
Selbstverstrin<llicli repräsentieren diese Zwangsverkaufe nur einen
sehr geringen Teil der X'crruifscrunL^'-cn de^ hiiuerliclien Grundbesitzes
überhaupt, welche durch die landwirtschaftliche Krisis veranlafst
wurden. Von 36 Prozent Hektar der rcgelmäfsig bebauten Fläche
im Jaliic iSRo ist die Eigenbewirtschaftung auf 31 Prozent im
Jahre 1895 gesunken. Al^esehen von Luxemburg, wo die regel-
mäfsi^ l )e})autefi Flächen, sowohl pachtweise als selbst bewirtschaftete,
auf Kosten des unbebauten ( tebiets an Ausdehnung gewonnen haben,
wiril der Grund und Roden mehr und mehr den Händen derer ent-
rissen, die ihn bebauen. Die Anzahl der ( rrundbesitzer, welclie ihren
eigenen Boden L^anz oder mehr als zur Hälfte bewirtschafteten. !)e-
trug im Jahre 1895 231 319 — was seit 18S0 eine Abnahme \<'*n
62205 oder \on 21 Prozent bedeutet. Die Anzahl derjeniL^'cn. die
im Jahre I«*^95 die <4es.inile oder iil)cr diclKUfte der von ihnen be-
bauten h'läche j<achtweise bewirtschafteten, betrug 508 306 was
eine Verrini^erun^ >eil 1880 von 18566, oder 3 Prozent bedeutet.
Man berechnete im Jahre 1880 auf die gesamten Landwirtschafts-
betriebe ü8 Prozent Pächter und 32 Prozent Figentiimer ; 1893 be-
trug tier IVozcntsaiz der Pächter 72, der Figentümer dagegen 28.
'; Ih- la \ ;tlli .- I'ou?.sin in der Revue sociale catholique vom l. April 1894,.
S, i()S. BiuxfUfs iS'ji>.
Dlgitized by Googl
Das Gnindeigcntaiii in Belgien in dem Zeitnmme von 1S34— 1899.
Zur i^fcliörii^eii Würdii^'^iini,' <\cv Trai^^wcitc ilicscr Abnahnir des
KiL;enbctricbcs ist indessen eine besondere L'ntersuclumi^ der nutne-
rischen Kntwicklunt: der verschiedenen landwirtschaftlichin Ik'triebs-
katej^uriecn, vom Parzellen- bis zum i irol^L;rundl)esitz, erforderlich. Zu
diesem Beluife nehineii wir die allLjemcin, in Deutschland wenigstens,
adoptierte Klassifikation zur (irundlage. Wollen wir die Bedeutung
eines I,aiuhvirt.schaftsbetriebes l)csiinimen, so dürfen wir, um einen
Ausdruck des Herrn von Philippov ich zu gebrauchen,' ) ihn nicht vom
geometrischen, sondern nur \ oin ökonomischen Standj)unktc aus be-
trachten. „Nennen wir," sa;_;i W. Roscher,") „grofs ein solches
l^ndgut, das einen Wirt tler <,^ebildeten, höheren Klasse schon mit
der blofsen Direktion des Betriebes voll beschäftigt .... Ein
mittleres Gut beschäftigt seinen Wirt mit der blolscn Direktion
nicht vollständig; derselbe hat vielmehr Zeit übrig, um auch an
den gröberen ausfuhrenden Arbeiten teilzunehmen, und gehört einer
Standes« und Bildungsstufe an, welche dies keineswegs verschmäht.
Aber die Mehrzahl der ausfilhrenden Geschäfte werden durch Lohn*
arbeiter verrichtet In dieser Klasse stehen die meisten gröfseren
Bauerngüter. Kleine Güter sind solche, die in der Regel nur von
dem Wirte selbst und dessen Familie bestellt werden, aber deren
Arbeitskraft auch vollständig in Anspruch nehmen. Wo die Land*
Wirtschaft zu gering ist, um auch nur eine Familie ganz zu be-
schäftigen, da sollte man gar nicht mehr von Landgütern, sondern
blofe von Parzellen reden/' Man kann also im grolsen Ganzen als
Grofsbetriebe solche bezeichnen, die so au^edehnt sind, dals der
Unternehmer nicht an der landwirtschaftlichen Arbeit im eigentlichen
Sinne teilnimmt und sich auf die Leitung des Unternehmens be*
schränkt. In den mittleren Betrieben dagegen leitet er das Unter-
nehmen gleichfalls, arbeitet aber ebenso wie die darin thätigen Ar-
beiter. Zu den Kleinbetrieben rechnet man jene, in denen der
Ackerbauer mit den Mitgliedern seiner Familie thätig ist, ohne
dauernd Hilfsarbeiter darin zu beschäftigen. Unter Par/ellenbetrieben
endlich sind solche zu verstehen, deren Umfang nicht hinreicht, um
den Bebauer und seine Familie ausschlicfslich zu beschäftigen. Es
braucht wohl kaum erwähnt zu werden, dafs der Umfang dieser ver-
schiedenen Klassen in verschiedenen Gegenden je nach der Beschaften-
heit der Bodenfläche, des Klimas, der Art der Bewirtschaftung und
*) Gnmdrifo der politisclun (Vkonomie I. Fr<-iburg iSoo, S. 33.
') Xationalökonomic des Ackerbaues. 13. Aufl., 188S, § 47.
2$*
Digitized by Google
428
Emil Vandcrvclde,
der ganzen Reihe von Faktoren, welche die Ergiebigkeit des Bodens
beeinflussen, erhebliche Abweichungen aufweist. Im kleinen Brabant
z. K, wo industrielle und Gemüsekulturen vorherrschen, unterscheiden
die staatlichen Agi onomen folgende Klassen von Betrieben :
Grofsc Betriebe mit . . , . I5 — 35 HektarcD
Mittlen- I'.i triebc mit ... 5 — 14 ^
Klciobclriebe mit .... I — 5 „
„Von bc>uiuicicii I nisländcn ahgcsolieii," sagt die ,, Monographie
über, die Campine",') „wird eine normale Familie, bestehend aus
Vater, Mutter, einem erwachsenen Sohne und einer erwachsenen
Tochter und zwei oder drei Kindern minderen Alters auf einem
Gehöft mit 3 bis 4 Hektaren das ganze Jahr über Beschäftigung
finden. Bei der Bewirtschaftung eines derartigen Besitztums wird
die Familie ihren Unterhalt finden, aber kaum vorwärts kommen.
Mit Hilfe von zwei oder drei anderen Arbeitern in der Erntezeit
würde sie 6 bis 8 Hektare bewirtschaften können.''
Auf den Mochebenen der Ardennen dagegen, wo die Bebauung
noch eine sehr extensive ist, unterscheiden die Agronomen je nach
dem Umfange;
Kleine Betriebe (petite cnltare) von . . 3 — 30 HciktaKII
Mittlere Betriebe (moycnnc culture) von 30 -60 Hektaren
Greise Betriebe (gramde culture) von . 60 Hektaren und duttber.
„Soll eine nurniale Bauernfamilie, bestehend aus Vater, Mutter,
drei oder vier Kindern im arbeitsfähigen Alter, und einem Kinde
unter 12 Jaliren ohne fremde Arbeitskräfte Beschäftigung und Tntcr-
halt fin<k n, so ist mindestens ein Iksiutum von ungefähr 20 Hektaren
erforderlicli. Mit zwei oder drei fremden Arbeitskräften zur Ernte-
zeit, d. h. zur Zeit der Heu-, Roggen-, Hafer- und Kartotlelernlc,
könnte eine solche Familie 40 bis 50 Hektar bebauen." -)
Unter Berücksichtigung dieser Abweichungen nach unten und
oben können all;4enieinc, auf das ganze Land anwendbare Durch-
schnitte sell)st\ erständUch nur sehr relativen Wert haben. Ks ee-
schiebt daher nur unter ausdrücklichem X'orbchalt, wenn wir für ganz
Belgien folgende Klassifikation vorschlagen;
') Monographie agricole de la regton de la Campine. Broxelles 1S99. 44.
«) A. a. ü.
Digitized by Google
Das Gnmdeigentttm in Belgien in dem Zeiträume von 1834 — 1S99. 4^9
Hektare
GroAbctriebe 50 and darüber
Mitdere Betriebe 10—50
Kldnbetriebe a— 10
PoneUcDbctricbe 0—2
Seit der ersten landwirtschaftlichen Zähluiij^' hat die Anzahl der
selbstbewirtschafteten Betriebe in diesen verschiedenen Kategorieen
folgende Schwankungen erfahren. Es gab solche Betriebe im
1S46
i8<6
1880
189s
Parsellciibesits . .
1*7 IIa
aa99i9
ai8i44
164867
Kleinbesitz . . . .
57169
68598
60598
5« «98
Mittleren Beats . .
16587
«93*9
«3757
14*37
Grofsbesits. . . .
■ 359
a8a3
1015
917
aoiaaö
iao97i
3935*4
»31319
In sämtlichen Kategorieen ist also seit 1S66 ein Rückgang der
selbstbewirlschafteten Betriebe zu verzeichnen, abgeselien von einer
geringen Zunahme (-|- 470) in der Anzahl der mittleren I^etricbc in
den Jahren von 1880- -1895. Die angegebenen Ziffern erhallen in-
flessen ihre volle Bedeutung erst, wenn man sie den ents{>rechen(ien
Kategorieen der pachtweisen Bewirtschaftung gegenüberstellt, was
nachstellend in eingehender Weise geschehen soll.
Die aufserordentlich grofse Anzahl von Parzellenwirt-
schaften ist eine wesentliche P^igentiimlichkeit der belgischen
Agrikultur. Nach der Zählung des Jahres 1895 befinden sich unter
einer (iesamtheit von 829625 Betrieben 634353. deren Umfang
2 Hektar nicht erreicht, und zwar werden hiervon selbstbewirtschatlet
164867, pachtweise 469486. Abgesehen von einigen Landstrichen
mit Gemüsckulturen liefert die grofse Mehrzahl dieser Betriebe ihren
Bewirtschaftern nur nebensächliclicn Unterhalt. Die einen gehören
eigentümlich oder pachtweise Dorfhandwerkern, Kleinkaufleutcn —
Schankwirten, Viehhändlern, (iefliit^i Izüchtern u. s. w. — , Bürgern,
die über andere Einkünfte verfugen (aus beweglichem Kapital,
Pensioticn, Nebengewerben, aus anderen (Juellen als aus industrieller
oder landwirtschaftlicher Lohnarbeit). Andere, und dies sind die
weitaus zahlreichsten, werden eigen oder |>achtweise von verschie-
denen Arbeiterkategorieen bewirtschaftet, die auf dem Lande wohnen.
Ks sind dies:
I. Die I Handarbeiter (Dienstboten und ständige lagelöhner), in
Digitized by Google
430
Emil Vaadervelde,
einer Anzahl von 128277 (Männern) nach der letzten Zahlung
von 1895.
2. Die umherziehenden Arbeiter (Schnitter, Rübenarbeiter etc),
besonders /ahlreich im Süden der Provinz Antwerpen und im Hage*
land (Hrabant), ebenso in den Teilen Flanderns, wo früher die
Leinenheimindustrie herrschte. Ihre Anzahl ist auf 45 bis 50000
zu schätzen. In der Hälfte des Jahres abwesend , ijberlasscn sie
ihrer Frau und anderen Gliedern ihrer Familie die meisten Ai1)eitcn
«• ' ihrer kleinen Wirtschaft.
3. Die halb ländlichen, halb industriellen Arbeiter, wie sie
z. B. in Zuckerfabriken oder in den Bergwerken während des Winters,
und auf den Feldern zur Zeit der Ernte, wenn die Arbeitemach*
frage zeitweilig steiojt, thätig sind.
4. Die Arbeiter der ländlichen Ilausindustrieen : Strohhutmacher
im Grcrthale, Watlenschmiede in der Lütticher Gegend, Ilolzschuh-
niachcr aus der Gegend von Waas oder von Fntre Sambre cl Meuse,
Messerschmiede aus der Gegend um Gembloux, Weber aus der
Gegend von Renaix oder Braine l'Alleud etc.
5. Endlich die Arbeiter, welche alltäglich, oder für die y;anze
Woche oder für eine nocli längere Zeit in die Städte oder Industrie-
plätze zur Arbeit gehen. Solche Arbeiter sind I)eispie1swei>c die
Fisenbahnarbeiter, die Strafsenpflasterer, Maurer und Stuckarbeiter
des wallonischen Brabant, die Steinbrucharbeiter des Condroz, die
Schieferbrucharbeiter von Semoy's, die Hochofenarbeiter in Luxem-
burg, die Weber aus den Nachbargegenden von Roubaix und
Tourcoing, die Erdarbeiter aus der Gegend von Bolders und im
ganzen mittleren Belgien, die Hüttenarbeiter, die Kohlcnarbeiter, die
Strecker in Walzwerken uiul andere in den Becken von Lüttich,
Möns und Chailcroy beschäftigten Fabrikarbeiter.
Zweifellos hat die Barzellenwirt-schaft für diese verschiedenen
Arbeiterkategorieen dadurch, dafs sie ihnen fast sämtliche von ihneif
konsumierten Gebrauchswerte liefert, unbestreitbare Vorzüge. Vom
agrikulturwissenschaftlichen Standpunkte aus jedoch ist sie durch*
aus 2u verwerfen. Gleich verdammenswert ist sie unter dem Ge-
sichtspunkt der sozialen Stellung der Frau, welche hierdurch nur
zu oft zum Arbeitstier erniedrigt wird; ebenso leidet darunter die
Erziehung der Kinder, die hierdurch am Schulbesuch gehindert
werden. Wir sind daher der Ansicht, dafs diese Wirtschaftsweise
mit dem Fortschreiten der Industrie, dem grosseren Umftmge der
Parzellen aUmählich verschwinden wird, und zwar in der Weise,
Digitized by Google
Da:» Grundeigentum in Belgien in dem Zeiträume von 1834 — 1899.
<]a(s sich diese winzigen Betriebe in gewöhnliche Gärten ver-
wandeln.
Was ihre Anzahl anbelangt, so entspricht sie naturgemäfs dem
Bestände der verschiedenen Kat^;orieen der Personen, welche «e
bewirtschaften. Da sich dieser Bestand in samtlichen Arbeiter-
kategorieen — mit alleiniger Ausnahme jener der ländlichen Heim«
arbeiter — während der Periode industrieller und landwirtschaft-
licher Ausdehnung, welche sich bis in das Jahr 1S74 hinein erstreckt,
beträchtlich vermehrt hat, so sind auch die Zahlen der Parzellen-
wirtschaften gestiegen, wie uns die landwirtschaftlichen Zählungen
von 1846, 1S66 und 1880 zeigen. Es beliefen sich die Betriebe im
Umfange von weniger als zwei Hektaren auf
«dbtt paetoreise uu-
bewiitacbaftde bewirtschaftete gesamt
1846 . . . taytia 273403 409514
1866 . . . 339929 397986 527915
1880 . . . 318144 499419 710563
Die Anzahl der selbst bewirtschafteten Parzellen hat sich also ver-
ringert, nachdem sie in der Zeit von 1846 — 1866 fest auf das
Doppelte angewachsen war. Die Anzahl der gepachteten Parzellen
dagegen steigt bis 1866 nur sehr wen^, um in den darauflblgenden
fun&ehn Jahren unter dem Einflüsse des kapitalistischen R^me
sich um zwethunderttausend Arbeiterparzellen zu vermehren.
Von gaiizcn 910396 Betrieben überhaupt erreichen 710563
noch nicht die Gröfse von 2 Hektaren. Ikl^ion wird zum klassischen
Beispiel der bis aufs äufserste «getriebenen Bodenzersplitterung.
Von 1880 an scheint jedoch eine Be\ve<jun£^ in umgekehrter
RichtuncT einzusetzen. Nach der Zählun^^ dos Jahres 1895 ist die
Anzalil der Parzellenlictriebe auf 634353 gesunken, was eine Ab-
nahme von 76210 Bt Illeben bedeutet.
Bei der Beurteilung dieser Abnahme ist nicht zu vergessen, dafs
nach der Erklärung des Kandwirlschaftsministers „die Anzahl der
1880 aufgenommenen Landwirtschaftsbetriebe dadurch sehr über-
trieben wurde, dal^ man damals die in den Ergänzungshsten ver-
zeichneten Flächen als besondere Betriebe betrachtete". Aber auch
angesichts dieser Erklärung, welche übrigens lu- lit geeignet ist, die
Glaubwürdigkeit der iJalen tler l88oer Zählung aulser allen Zweifel
zu setzen, ist es immerhin müi^lich, dafs die Anzahl der Parzellen-
wirtschaften in manchen Gegenden thatsächlich abgenommen hat.
Digitized by Google
432
Emil Vaadervelde,
Während die Zählung eine Zunahme in den Industrieprovinzen
Lüttich und Hcnncj:^nii. und ebenso in der Provinz Antwerpen kon-
statiert, wo die Industrie rasch fortschreitet, verzeichnet sie eine
Abnahme in den landwirtschaftlichen oder gemischten Provinzen.
Diese Verminderung würde zusammenhangen einerseits mit dem
Zug vom Lande in den Teilen des l atules. wo die schwache Eni-
Wicklung der Verkehrsmittel die Arbeit« i hindert, mit ihrer Be-
schäftigung in der Stadt das Wohnen auf dem Lande zu verbinden,
und andererseits mit der geringeren Nachfrage nach Handarbeit seit
der landwirtschaftlichen Krisis, mit der Aufforstung und Verwande-
lung in VV^eideland einer [^rofsen Menge pflügbaren Landes nach
en;^^lisclicm Muster. Daher die erhebliche V^erringerung der Anzahl
ständiger i^ndarlicitcr, welche die letzte Zählung in folgenden Zittern
feststellt Iis gab ländliche Arbeiter
Minner Fruen in^gefamt
1880 . . . 14176» 75 433 a»7>9S
1895 . . . 138277 58829 187106
Die Behauptung einer gewissen Abnahme in der Zahl der Arbcitcr-
parzellen seit der Landwirtschaftskrisis dürfte vielleicht darin eine
Bestätigung finden, dafs sich die gleiche Erscheinung in Frankreich
zcii^t: während es dort im Jahre 1882 137464O Parzellenbesitzcr
gab, welche genötigt waren, ihren Unterhalt durch Lohnarbeit oder
durch Fachten von Grrundstücken zu vervollständigen , zeigte diese
Kategorie 1892 einen Bestand von nur 1 18802$. In Deutschland
dagegen ist die Anzahl der Parzellen unter i Hektar ~ zweifellos
infolge der kolossalen industriellen Entwicklung — von 2323316
im Jahre 1882 auf 2529132 im Jahre 1895 gestiegen, was eine
Zunahme von 8,8 Prozent bedeutet Es läfst sich nicht verkennen,
— trotz des scheinbaren oder wirklichen Rückganges, welcher
während der Landwirtschaftskrisis eintrat — , dafs allgemein die Aus^
dehnung des kapitalistischen Systems in Industrie und Landwirt*
Schaft eine Vermehrung in der Anzahl der Pärzellenbctriebe auf
Kosten einer oder verschiedener anderer Betriebskategorieen mit
sich bringt Andererseits ist zweifellos, in Belgien besonders, dais
die selbstbewirtschafteten Parzellen im Verhältnis zu den pachtweise
bewirtschafteten abnehmen.*) Dies erklärt sich wahrscheinlich
daraus, dals die ganz kleinen Grundbesitzer gerade durch die Städte
■) Vgl. Sonchon, k propri^£ paysanne, Plirts, 1899, S. $8.
Digitized by Google
Da» Grundeigentum in lielgien in dem Zeiträume vun 1834 — 1899.
angezo<;en werden: sie tiaben die Hofifnung, mit dem dürftigen
Kapital, welches sie aus dem Verkaufe ihrer Grundstücke lösen
können, dort besser fort zu kommen. —
Wcnilcn wir uns jeizt zu den kleinen Betrieben, so Hnden
wir die Wirtschaften im Umfange von 2 — lo Hektaren, deren
grölster Teil vom Bauer selbst mit seiner Familie ohne dauernden
Beistand von Lohnarbeitern bestellt wird, in der Zeit von 1846 bis
1895 in folgender Bewegung:
Selbst
In
Ins-
bewirt«;chaftct
Pacht
gesamt
1846 . .
• . 57i*J9
69 961
126 120
1866 . .
. . 68598
94713
«63503
1880 . .
. . 60598
97663
158261
1895 . .
. . 51 S98
99 aS«
150586
Es hat also die Anzahl der kleinen Pachtbetriebe, die besonders
4n Flandern an fscr ordentlich zahlreich sind, ununterbrochen zuge-
nommen. Der kleine bäuerliche Grundbesitz dagegen ist seit der
Zählung des Jahres 1866 in merklicher Abnahme begriffet. Uebrigens
ist hier zu bemerken, dafs selbst diejenigen,' welche der Meinung
sind, der mittlere häuerliche Grundbesitz sei imstande, sich dem
kapitalistischen Betriebe gegenüber zu halten , ja sich sogar auf
dessen Kosten zu entwickeln, die durchschnittliche UnzAilängüchkeit
der sclbstbewirtschaftctcn kleinen Betriebe anerkennen, welche, ob-
wohl keine Arbeiterparzellen, zu wenig umfangreich sind, um den
l'nterhalt einer Familie in geliürigem Mafse zu beschatifen. So
schildert beispielsweise Smiciion in seiner unlängst erschienenen
Untersuchung über das bäuerliche Grundeigentum die Milsstände
des zu kleinen Besitzes folgendcrmalsen :
„Es ist selir selten , dafs der Ackerbauer , der als ganzes Ver-
möijen eine I Kitte und Feld besitzt, das für seinen Unterhalt zu
klein ist, gleichzeitig etwas Kapital in Händen hat. Besälse er es,
so würde er es zweifellos sofort zur Vcrgröfserung seines Feldes
verwenden. Aus diesem Grunde wird der Satz, den man als Haupt-
regel für die Verteilung des Bodens aufgestellt hat, das Erfordernis
nämlich eines gewissen \'erhältnisses zwischen dem beweglichen
und unbeweglichen Verni(">gen der Grundbesitzer, stets seine Geltung
gegenüber dem l'.u /( llenhesilz verlieren (d. h, jedem Grundbesitz
gegenüber unter 3 } lektaren, da Souchon den Umfang dieser Kate-
gorie anders bemilst, als wir;, und die hierdurch geschaffene Lage
Digitized by Google
434
Emil Vandcrvelde,
zeitigt infol^a^dcssen schwere Uebelstände. Sic natnentUch veran-
lafsl, d.ils derartige Besitzer unausweichlich dem Wucherer verfallen.
Sodann kann sie infoI<;e di s Mangels an genügenden Betriebsmitteln
(Geräten (xler Vieh) die Besitzer zu einer Lebenshaltung herab-
drücken, die weit härter als jene der blolsen Tagelöhner, und sie
zu ohntnächtigen Sklaven des Bodens machen, den sie sich zu be*
herrschen schmeicheln. " ' )
Die-c Bemerkungen haben zwar nur die Betrielie unter 5 Hek-
taren im Au^a', dürften aber wohl ohne Zweifel auch auf den
bäuerlichen Belitz von bedeuteiulerem Flächenumfang, aber von
schwacher Produktivität zutreffen, wie man sie in den armen
Gegenden des Condroz und den Ardennen findet. —
Währen«! nach nbiL^^-j,^ kleinen Betriebe und tlie Parzellen-
wirtschaften >eit 1 88o an Umfang verloren haben, ist andererseits
ein beträchtliche Zunahme der mittleren Betriebe seit diesem
Jahre zu verzeichnen. Es gab solclie Betriebe:
Selbst
In
Iiis>
bewirtschaftet
Paclit
gesamt
1846 .
. . 16587
24997
41683
1866 . .
. . »9J29
«7 733
4706a
1880 .
• . 13767
14402
38169
1895 . .
. . »4 «37
2686$
41 IO8
Die gleiche Lracheinung zeigt sich vibrigens auch in Deutsehland,
wo in der Zeit von 1882— 1805 die l^rt riebe von 5 — 20 Hektaren
die stärkste numeri.sche Zunahme aufweisen. '*)
Nichtsclestoweniger wäre es irrig, hieraus zu folgern, dafs der
mittlere bäuerliche Grundbesitz , oder der mittlere Betrieb in allen
(iegenden im Anwachsen begriffen sei. Im (iegenteil scheint er
eher überall, wo die Indu.sttic sich entwickelt, abzunehmen, und
zwar infolge der hierdurch verursachten X'erteuerung der Handarbeit.
So schreibt ljeis|iielsweise der „Ingenieur agricole de Gembloux" *)
in einem berichte über eine Studu ureise in Pas-de-Calais :
„Der hohe Preis der Handarbeit steigert die Betriebskosten der-
mafsen, dals viele Felder brach liegen, und es giebt Grundstücke,
die vor wenig Jahren noch zu vierzig Fmncs verpachtet wurden und
jetzt nicht einmal einen Abnehmer für fönfundbEwanzig finden. In*
Sottchon, la propricte paysanne, P»ria 1899, S. 56.
*) Karl Kautsky, Die Agrarfrage. Stvt^ait 1899. S. 132.
') L'Ingtoieur agricole de Gcmbloox vom l. Jannar 1899, S. 339.
Digitized by Google
Uds Grundfigciiluin in Belgien in dem Zeiträume von 1834 — 1S99.
folge dieser Verhaltnisse verschwindet der mittlere Betrieb, denn
er gerade ist am meisten von der Handarbeit abhängig, da sein
Kapital und der geringe Umfang seiner Unternehmung ihm nicht
gestatten, sich Maschinen anzuschaffen, und doch kann er nicht
ohne fremde Hilfe fertig werden." Ebenso ist die zunehmende
Schwierigkeit, Landarbeiter zu bekommen, eine Ursache mit des
sehr augenfälligen Rückgangs der Selbstwirtschafl in den Provinzen
Antwerpen und Limbufg. Schon im Jahre 1878 wies Rolin-
Jacquemyns in einer Abhandlung über den Kanton Hoc^straeten
(Antwerpener Campinc) hin auf den Einflufs der Preissteigerung
der Handarbeit infolge der Anziehungskraft des Antwcrpener I fafens.
,.Einc Erschci Illing*', sagte er, „die mit der Zeit gute Wirkungen
zeitigen niufs, die aber über kurz oder lang den Hofgutbesitzer
nötigen wird, sich nach Hüfismitteln umzusehen, die ihm gestatten,
seine Wirtschaft mit einem grofseren Kapital zu betreiben. Im all-
gemeinen hilft er sich, wenn er verschuldet ist (was selten vor-
kommt), damit, dafs er seinen Hof verkauft und dann als Pächter
darauf bleibt. So kommt es, dafs der ehedem sehr zahlreiche
Stamm der selbstbewirt.schaftenden Grundbesitzer sich immer mehr
verringert." '1. Dieser Stand der Dinge hat sich in den folgenden
Jahren Icdiglicli verschlimmert, und wenn seit einiger Zeit die Lage
der kleinen .Ackerhauer bis auf weiteres prekär geworden, begünstigt
andererseits der Abfluls der Arbeiter naeh Antwerpen, und die Auf-
saugung der intelligenleslen , fleifsigsten und kräftigsten Arbeiter
durch die Industrie fortgesetzt die Zerstückelung der groüen \ind
mittleren Betriebe. ,.Da sich die Industriebetriebe, und namentli<'h
die Ziegeleien", s« hneb im Jahre 1899 de Beukelaer. „in der ( am-
pine \on Jahr zu Jahr xerniehien, so wird es auch \on Jahr zu
Jahr schwieriger, Feldarbcitci zu bekommen. Der Landwirt sieht
sich genötigt, fast seine ganze Arbeit mit seinen Söhnen und Töchtern
zu verrichten, und wer dies nut seiner Familie nicht fertig bringt,
ist schlielslich gezwungen, sich nach irgend einem kleinen Pacht-
gut umzusehen, wo er sein Leben ohne viel Sorge fristen kann." '*)
Wie man sieht, bringt der b'ortschritt des Kapitalismus nicht
notwendig die Konzentration des Betriebes mit sich; es kommt im
Gegenteil ziemlich häufig vor, dafs dieselben Ursachen, welche die
'1 Do Lavelryc. l agriculturc bclgc, Anvcrs, S. 172.
l'rojct d in^titulion d une ccole professionelle d'agriculture et d'horticoUure,
Anver» 1899, S. 13.
Digitized by Google
436
Emil Vandcrvelde,
Abnahme des Eigenbetriebes veranlassen, gleichzeitig; die Zerteilun^
der grofsen Domänen, die Entwickelung der Gemüse- und industrie*
eilen Kulturen, die Vermehrung der Arbeiterparzellen herbeifiihren,
welche ein höheres Pachtgeld erzielen, ab die grofsen Gehöfte.
Ein anderes Resultat konnte nur eintreten, wenn der intensiv'e Grofs*
betrieb ein entscheidendes Uebergewicht über die Parzellenwirtsdiaft
gewänne, — eine Entwickelung, wie sie sich übrigens in einem
beträchtlichen Theile Belgiens seit ungefähr zwanzig Jahren an*
bahnt —
Was nun die grofsen Betriebe (50 H. und darüber) an*
langt, so sind sie seit dem Jahre 1880, nachdem sie bis zur land-
wirtschaftlichen Krists an Zahl abgenommen, wieder ai^^ewachsen.
wie folgende Uebersicht zeigt.
Sdbst
In
Ina-
bewirtschaftet
Pacht
• . »359
S874
4333
1866 .
. . . 2833
2705
5827
1880 .
. . . 1015
23H8
3403
1S95 .
. . . 917
2667
3584
Die Eigenbetriebe nehmen also fortgesetzt ab, aber der kapitalistische
Grofsbetrieb entwickelt sich auf Kosten der kleinen Betriebe. Diese
Wandlung kommentiert das „Annuaire statistique", veröfTendicht
vom Minister des Innern, mit folgenden Worten:
„Es sind ausschliefslich die Wirtschaften unter 5 Hektaren, und
namentlkh jene unter 2 Hektaren, deren Zahl abgenommen hat
Die Wirtschaften im Umfange von über 10 Hektaren dagegen sind
auf 5789 angewachsen. Die Konzentration des Grund«
besitzes, welche dem Fortschritt des Grofsbetriebes
und der rationellen Viehzucht entspricht, tritt uns
hier in sehr deutlicher Weise entgegen. Es ist seit 1880
eine Bewegung entstanden, die gerade umgekehrt verläuft, wie jene
von 1866 bis 18S0. Während diiiials die Zahl der kleinen Wirt-
schaften beträchtlich zunahm, ist jene der grofsen Betriebe stark
gesunken. Gegenwärtig ist es der kleine ländliche
Grundbesitz, welcher vor der Grofs Wirtschaft zurück-
tritt." ')
Dies Fortschreiten des Grofsbetriebes würde weit beträchtlicher
crsclieinen, wenn es nicht teilweise durch entgegengesetzte ik-
'j Annuaire pour 189S, Bruxrllcs 1899, S. XUV.
Digitized by Googl
Das Grundeigentum in Belgien in dem Zeiträume von 1834 — 1^99.
we^'ungen maskiert würde, wie sie in manchen Gegenden noch an-
dauern.
So ist, wie wir sahen, in der Campine die Phase der Zer>
Stückelung nicht abgeschlossen. Desgleichen ist in Luxemburg eine
Verringerung in der Zahl der Betriebe über 50 und unter 3 Hektaren
eingetreten; wogegen die Betriebe von 3 — 10 und 10 — 5.0 Hektaren
zugenommen haben, was somit ein Zurückweichen der gro(sen und
der Parzellen* Wirtschaften zu gunsten der Zwischenkategorie bedeutet.
Die Erklärung fiir diese Thatsache ist gröfstenteils in der Abnahme
der Landarbeiter zu suchen, welche mit dem Intensiverwerden des
Betriebes zusammenfallt.
„Die Anzahl der Tagelöhner wird von Jahr zu Jahr geringer,
während jene der eigentlichen Dienstboten kaum schwankt." ^)
Diese Verringerung hat die Abnahme der Arbeiterparzellen zur
Folge. Andererseits werden die grofsen Wirtschaften mai^ls
Kapitalien und Arbeitskräften zerstückelt und weichen Aufforstungen,
\\V ideländereien oder Betrieben geringeren l 'riifanges, welche die
I-amilienglieder bewirtschaften, die bezahlter Hilfe fast völlig ent*
behren können.
Blicken wir aber auf die andere Seite der Maas, auf die frucht-
baren iiochebenen des mittleren Belgiens, so zeigt sieb uns ein
anderes Bild: einerseits eine Verniehrung in der Anzahl der Parzellen-
wirtschaften, weil die Leichtigkeit des X'crkehrs den in der Stadt
beschäftigten Arbeitern gestattet, allabendlich nach Hause zurück-
zukehren und andererseits eine -Zunahme der Betriebe von über
50 Hektar, weil die Grolswirtschaft, welcher au-,rcirhendes Kapital
zur \'crfüj:^un<:; steht, ihre technische 1 eberlegenheit gegenüber der
kleinen und mittleren Wirtschaft otVenhart.
Kurzum, der kaj)ilalislische Grolsbetrieb entwickelt sich auf
dem (letreidebodcn der lehmigen l^ndstriche. Die Zerstückelung
greift in den Ardennen immermehr um sich. Der Kleinbetrieb,
die industrielle oder < fcmüsc Wirtschaft bleibt in Flandern und in
der ("ampine vorherrschend. .Aber das eine steht fest, dafs in der
weit überwiegenden Mehrheit der Ackerbaudislriktc, — ob sich nun
die Betriebe konzentrieren oder zerteilen, ob sie sich erweitern oder
zerstückeln — , die Eigenwirtschaft, der Selbstbctrieb, im Rückgang
begritVen ist. „Eine notwendige Folge des Privateigentums am
Grund und Boden unter dem kapitalistischen System ist die
•) Monographn- agncolc de la rcgion de l Aidcnnc, S. 36.
Digitized by Google
438
Emil Vandervelde,
Scheidung des ackerbautreibenden Besitzers in zwei Personen: den
Besitzer und den Unternehmer" (Marx). Was diese Sonderung ver-
anlafst, das bäuerliche Grundeigentum vernichtet, das ist weit
weniger diese oder jene spezielle Ursache — wie Erbfolgegesetze,
technische Rückständigkeit, mangelhaftes Betriebsmaterial — , als
die gesamte Entwicklung der bürgerlichen GeseUschaft, der kapitalis-
tischen Produktionsweise.
Gleiche und Zwangsteilung, immer drückendere staatliche und
militärische I.^en, Vernichtung der landwirtschaftlichen Neben-
gewerbe, Verkauf der Gemeindeländereien und der Domänenforsten,
Beseitigung der Nutzungsrechte, Intensiverwerden der Betriebsweise^
wie CS durch die Bedürfnisse einer industriellen oder richtiger,
nicht landwirtscli.iftlichcn, immermehr anwachsenden Bevölkening
notwendig wird, I)clokali>ali()n der Märkte, Ueberschwemmunj,^ mit
überseeischem (iclrcide und anderen Produkten, veranlalst durch die
gleichen Bedürfnisse und ermöglicht durch die Ausdehnung der
Transportindustrie, Steij^en des Bodenwertes, in der nächsten Im«
t]^ebung städtischer Bevölkerungshäufungen namentlich, — alle diese
Krschcinungcn sind ebensosehr die ]''olgen der sozialen l ierr>chalt
der Bourgeoisie, als Faktoren der Zersetzung der alten Formen des
ländlichen Grundbesitzes. Verstümmelt durch das X'ersclnvinden
der Gemeindeländcreicn. <ler kleinen Industrieen beraubt, welche
einen Nebenerwerb für die Bedürfnisse des I I.iushaltes boten, aus-
schlielslich auf ticn Charakter einer reinen Landwirtschaft beschränkt,
die gröfstcnteils nur Tauschwerte" produziert, besitzt das bäuerlicliL'
GrutuU i'u iitiun den e< bedrohenden, es zersetzentlcn l'rsachen
gegenultcr nur noch geringe Widerstandskraft. l'nd was die
wirt.schaflliclie Fntwicklung anbalint, wird erleichtert durch ^ic-
setze und ( lewohiiheiten h^isichllich der Frljfolgc. Diesen Unisiaikl
kennzeichnete Schaetzen, der konservative Abgeordnete von Tongern,
am 5. Juli 1S85 mit folgenden Worten:
,,T)ie tongesetzte Teilung des ( irundbe-^it/cs hat infolge der
erbrcciitliclieti Bestimmungen, lier durch tlie Lr)sung der < icmcm-
schaften erforderte!! .Auszahlungen und Kaulsteiiiju l Nciilielslich dazu
geluhrt, auf jenen ungeheuere Lasten zu hiuiten. Die K.ipitalicn
wurden hierdurch notwendig angegrifien, die hvpothekari.sche Be-
lastung nahm oft in erschreckender Weise zu, und /war unter SO
drückenden Ik-dingungen, dafs sie jeden Forlschritt hinderte. Durch
die Zertrümmerung des Bodens wurden Verbesserungen unmöglich,
für die allerdings nur zu häutig die Mittel der Besitzer nicht aus*
Digitized by Coogl
Das GruQdeigeDtum in Belgien in dem Zeitnuime von 1834 — 1899.
gereicht haben würden, und man mufstc dem Staate j^^cbcn, was
fruchtbringende Wandlungen hätte hervorrufen können." ')
Man ist freilich bemüht, diese Verhältnisse zu bessern; man
ändert die Erfol^cgesetze, sucht die staatlichen Lasten zu erleichtern,
organisiert den ländlichen Kredit Man wendet femer gegen jene
ein, die den mehr oder minder nahen VeHall des bäuerlichen
Grundbesitzes vorhersagen, dals der Kapitalismus' die Wunden heilt,
die er schlagt, inclem er die ländlichen Hausindustrieen durch
lebenskräftigere Betriebe ersetzt, so durch die Zuckerfabrikation,
die Branntweinbrennerei, Molkerei, Fabriken aller Art, wie sich auf
dem Lande mehren. Man weist endlich hin auf das üppige Ge-
deihen der ländlichen Genossenschaften und Vereine, welche den
Bauern Saatkorn, Dungmittel, landwirtschaftliche Maschinen, kurzum
alle Hil&mittel liefern, die ihnen den Kampf gegen die kapitalistische
Wirtschaft ermöglichen.
Wir wollen durchaus nicht verkennen, dafs der Einfluß dieser
verschiedenen Faktoren die r^essive Entwicklung des bäuerlichen
Grundbesitzes verzögern, ja hie und da sogar hemmen kann. Nur
darf man nicht vergessen, dals jeder Versuch einer Umgestaltut^
der Erbfolgcgesttzc an dem Glcichheitssinnc unseres Volkes scheitern
würde, dafs die Erleichterung der öffentlichen Lasten, soll sie nicht
ein schwer zu rechtfertigendes Privileg werden, sich auf alle I.and-
wirte erstrecken müfste, dafs eine Ljründlichc Organisation des länd-
lichen Kredits nicht nur den Ackerbautreibenden zu Gute käme.
Ist andererseits richtig, dafs die Grofsindustrie auf dem Lande um
sich greift, oder wohl in den Städten eine wachsende Anzahl länd-
licher Arbeiter beschäftigt, so wirkt dieser neue Stand der Dinge
durchaus nicht auf die Kräftigung des bäuerlicficn Grundl)csitzcs
hin, sondern führt vielmehr seine Zersetzung heri)ei, intieni er ihn
zertrünuncrt : der Bauer, der ein ländliches Nebengewerbe betreibt,
wird durch den Industriearbeiter ersetzt, welcher in seiner freien
Zeit eine Bodenparzelle bebaut, die er inaiiehmal al.s Kit^entünier,
zumeist aber als Pächter besitzt. So lesen wir zum Beispiel in einer
Abhandlung \()ti \an Neuis über [ imburg:
,,Der Kleinbauer, welcher in minder günstig gelegenen Gegenden
sein Auskommen ruulet, vermag hier ( in der l 'mgegcnd von St. Ircjrul)
keinen Widerstand zu leisten; infolge der ül)ermäl>ig hohen Pacht-
gelder kann er keinen guten Boden bekommen : er verkauft seinen
'i Ctunibro des Repre:>cfitaiiLi 1884,83. Doc. no. 164, S. 63.
Digitized by Google
440
Emil Vandervelde,
Pflug und wird Tagelöhner oder Arbeiter in der nächsten Fa>
brik." *)
Aber mufs denn wirklich überall, wo sich die Industrie entfaltet,
die Entwicklung diescUic sein ? Ist die erlösende Genossenschaft
nicht im stände, das Schicksal des bäuerlichen Grundbesitzes zu
wenden ?
Wir haben uns bort it>^ anderwärts über die Aussichten und
den wahrscheinlichen Erlul^^ einer kooperativen Gestaltung des
kleinen ländlichen Grundeigentums ausgesprochen, ■ l utul wollen
deshalb hierauf nicht weiter eingehen. Man kann mit Kautsky
sich mit der Trage beschäftigen, ob die ländliche Genossenschaft
einen l'ebcrL^ang zum Sozialismus bedeutet, oder — wie so viele
andere Produktiv genos>enschaften — zum Kapitalismus , ■*] und,
nebenbei gcsat^t, man wird gut thun, sieh in dieser Sache \ or allzu
absoluten Aufteilungen und vorschnellen Verallgemeinci ungen zu
hüten. Jedcntalls aber steht fest, dals seit der industriellen
Umwälzung d i e S c h e i d u n g zwischen Grundbesitz und
landwirtschaftlicher Arbeit immer schärfer zum Aus-
druck gelangt ist.
W ir kommen nunmehr zum dritten Punkte unserer Ausführungen,
zur Konzentration der G r u n d q u o t e n.
Die in das Kataster aufgenommene Fläche Belgiens belauf
sich auf 2945557 Hektar. Sieht man vom Hennegau \l'J2\(>'j
Hektar) ab, über welches unsere Ermittelungen nicht vollständig
sind, so bleiben för die übrigen acht Provinzen 2 573 390 Hektar.
In der Zeit von 1834—1845 gab es in diesen Provinzen 2288 Quoten
von 100 Hektaren und darüber, welche eine Gesamtfläche v<m
659448 Hektar, 25,6 Prozent der Katasterfläche umfafsten. 1898
bis 1S99 betragen sie nur nodi 214s mit einem Umfange von
579888 Hektaren, 22,5 Prozent der Katasterfläcbe.
In der nachstehenden Uebersicht haben wir für samtliche Pro
vinzen, Hennegau ausgenommen, die Ziflern der Bodenverhältnisse
iur die Zeit von 1834 — 1845 und von 1898 — 1899 zusanunengestellt
und diesen gegenüber jene der Bevölkerung pro Quadratkilometer,
den Durchschnittswert des pflügbaren Bodens und das Verhältnis
') Nafselt, St. Trond, Tonpjcs. Bclgiqae illustre- II, XX1\ . b. 445.
*) Le Sodalisme en Bdgique. — Rapport m Omgris de Waremme »ui U
petite propri«t« nmle, Paris (Giard et Bri^) 1898. S. 359 ff.
*) Kautsky, IMe Agcarfrage, S. 116 ff.
Digitized by Google
Das Grundciyciiium m Belgien iu dem Zeiträume von 1834 — 1899.
der selbstbewirtscbafteten Betriebe, unter Einschlufs der
Waldungen und unbebauten Ländereien.
Provinsen
olkerung pro
c £
!j " 1«
«■Sc
von 100 Hektar
und darüber
GeaMuntnmfang *ler (Quoten
ton KXi llrktar luid
darüber
1834—1845 1S98 - JS99
r. > 'x
■= t
c -c .i
*£ -3 fö
*-- 1 w
C 1, U
J) ^
V — •
Frcs.
'^34— 45 »898— 99
Hektar | %
Hektar
io
V >-> IZ
Namur.
95
1973
631 ' 501
154301 42.1
140 768
38,5
58.6
Luxemburg .
49
1074
541 557
178 526 40,4
u>8 244
38,"
84,5
Ltttdeh . .
386
3075
309 311
88356 30,5
74 192
25.6
50.1
Limburg . .
98
2080
•54 »07
78 537 32,6
49485
20,7
63,3
Antwerpen .
281
2413
192 184
67 634 ,23,9
46485 (14,3!
52677
18,6
54,5
Brabant . .
378
343»
331 i 216
45499
«3.9
35.S
WiestflMuicm
245
3447
136 ■ 156
26 639 ! 8,2
37768
8,6
17,2
Ostflandem .
338
3839
104 1 113
1S970' 6,3'
91 355
7,.
»7.5
Insgesamt .
224
2838
2288 j 2145
1 659 448 (25,6
579888 22,5
50,6
Man wird bemerken, dafs — mit der offenbaren Ausnahme der
Provinz Lüttich, wo die meisten gröfseren Besitzuiii^cn sich auf den
I lochebenen des Condroz oder in den hochgelegenen Sumpfgegenden
befinden — die grofsen Grundquoten i^fcradc in den Provinzen be-
sonders zalilrcich sind, wo die Bevölkcr uiiv^; ciiu- dünne, der Ver-
kaufswert des Hodens niedrig, die Selbstbcwirtschaftung ausgedehnt
ist. Die höchsten Ziffern ciillallLii auf die Provinzen Nanun und
LuNcinhurg, welche sowohl die nurulcstbevölkerten sind, und wo der
Hüden\ erkaufswert am uiethigslen ist. Die niedrigsten Ziffern da-
gegen linden wir in tlen beiden Flandern, welche inbe/.ug auf den
\'erkaufswert pflügl)aren Bodens obenanstehen, und welche wohl
sicher die dichteste ländliche Bevölkerung haben, hii Einklang mit
der herrschenden Ansicht bekunden Anzahl und L'mfang der grofsen
Grundc]uoten die Tendenz, im geraden X'erhältnis zur f^ntwicklung
der Be\ (")lkerung und des Bodenweites abzunehmen. Iis ist daher
in der Zeit von 1834 1845 — 1898 99 die Gesamtfläche der Quoten
über 100 Hektar von 659,448 Hektar (25,6 Prozent der Kataster«
fläche) auf 579888 Hektar (22,5 Prozent der Katasterflächc) gesunken.
Diese Alm^me indessen rührt ausschliefstich — und gerade dies
ist zu betonen — aus der Veräuiserung oder Teilung einer groisen
Anzahl öflentUchec Lindereien her. Zieht man lediglich das Privat-
Archiv für loi. Geictivebnif o. SutiMik. XV. 29
Digitized by Google
Emil VmderT«lde,
gnindcigentum» die Privaten gehörigen Grundquoten in Betracht,
und sieht man ab von den Domänen und Gemeindelandereien, so
haben die Grundquoten von loo Hektaren und mehr einen beträcht-
Höheren Umfang als vordem.
In den Jahren 1834 — 1845 gab es in Belsen — abgesehen vom
öfTentlichen Grrundeigentum — 1787 Grundquoten von lOO Hek-
taren und darüber, mit einem Umfang von 592353 Hektaren, gleich
13,3 Prozent der Katasterfläche, und zwar
17 Qttoteit von ttber looo MekUren 34 Iii Hektar
85 M »* 500—1000 „ 52820 „
4S0 „ „ aoo— 500 „ 144686 „
ii<i6 ,, ,, 100— 200 i6<>7;/>
17S7 (^)iiotcn von über loo HektarcQ 392 353 Hektar.
1898 — 1899 finden wir nur noch 1749 Quoten, deren Umfang
indessen 397 1 30 Hektar, 13,5 Prozent der Katasterfläche betragt,
und zwar
17 Quoten von ubi-r Kjoo Hektaren 23 S50 Hektar
89 „ 500-1000 „ 5^342 „
540 „ „ 2üO— 500 „ 110S9J „
H03 „ „■ ioo-~ aoo „ 154039 n
1749 Quoten von über 100 Hektaren 3^7 1 30 Hektar.
Ks /oii^'t sioh somit im ganzen l ande und uii;^cachtet aller
Faktoren, die auf Zerstückelung; hinarbeiten, da!-, der private Grols-
l^frundhesilz eher zu- als ahninimt. Man wird nun saL^en, dafs diese
Zunahme — kaum 5000 Hektar unbedeutend >ei ; de)ch darf in. ui
nicht xer^essen, dafs der Hodenwert zut^eiunninen und die übri^'C
Mäche sich mehr und ni<-!n- zersplittert hat. und drifs daher die
relative Bedeutung des ( irolsj;rundeit;entuni> seit der Fertigstellung
des Katasters unstreitig gestiegen ist. l'ebrigens ist dies Steigen
nicht überall zu verzeichnen, was aus folgender Uebersicht erhellt.
(Siehe die miMtehende Tabelle.)
In drei Provinzen — Namur, Hennegau, Limburg — und in
mehreren Distrikten der anderen Provinzen macht sich somit eine
erhebliche Abnahme der großen Grundquoten bemerkbar. Man
kann allgemein behaupten, dafs sich diese £rscheinung geltend
macht in der unmittelbaren Umgegend der industriellen und
stadtischen Bevölkerungsanhäufungen, in den G^enden, wo die
Zerstücklung der Anbauflächen die Zerstücklung der Besitzui^n
hervorgerufen, und dort, wo man alte herrschaftliche Forsten abge-
holzt, urbar gemacht, der Holzaxt überliefert hat.
Digitized by Googl l
Das Gnmdcigentam in Belgien in dem Zeiträume von 1834—1899.
Grundquoten von 100 Hektaren und darüber.
1834-1845
1898— 1899
Anzahl
Um-
Prozentsatz
Anzahl
Um-
Prosentsats
der
fang
d. Kataster-
der
fang
d. Kataster^
Quoten
Hektar
flache
Quoten
Ilcktur
fläche
Naniur . ,
473
106672
29,1
405
100 276
27-4
Lüttich . . .
251
48660
16.7
»74
55 75»
19,2
Luxemburg . .
220
559>l
«2,7
369
66313
>5,o
Antwerpen . .
141
34184
ia,7
15»
39485
«4,7
Brabant . . .
212
38963
11^
197
41545
12,6
Hcnnegan . .
204
55*5*
14,8
166
39186
10,5
WestJIandem .
"5
«574
6,9
13a
33288
7,a
Ostflandem . .
86
14039
4.9
98
18757
6.3
Limburg . . .
85
15298
6.3
56
12 522
5.»
Könifrr. Belgien
1787
39*353
13.3
»749
397 130
i3t5
Seit der Fertigstellung des Katasters sind die Städte und
Industriezentren enorm angewachsen, während andererseits der länd-
liche Grundbesitz infolgedessen notwendig abgenommen hat: iiir die
Zeit von 1880 bis 1895 stellt man eine Verringerung der landwirt-
schaftlichen Flache von 97443 Hektar, gleich 3 Prozent, fest, was
eine durchschnittliche Jahresabnahme von 6946 Hektar ergiebt Die
nicht landwirtschaftlich benutzte Bodenflache belief sich 1880 auf
270758 Hektar, gleich 8,17 Prozent, 1895 auf 338075 Hektar, gleich
11,47 Prozent des gesamten Flächeninhaltes des Landes. Selbst-
verständlich hat die Erweiterung dieser grofsenteils mit Häusern und
Industrieanlagen besetzten Zone das Verschwinden der meisten
'^rofscn Quoten in der Bannmeile der grolsen Städte und in den
Industriebezirken der Provinzen Hennci^.iu und Lütticli (Möns, Cliar-
leroy, Muy, Seraii^^ u. s« w.) mit sich gebracht. Aber es wäre
uffenbar einr c^rnsse Ungereimtheit, wollte man diese I'lächen-
abnahme als das Anzeichen einer gleichmäüsigeren Verteilung auf-
fassen. Der ümfaii.: der grofeen Quoten verringert sich mit dem
Anwachsen der Bevölkerung, gleichzeitig aber auch mit der Ver-
mehrung ihres Katasterertrages. In dieser Hinsicht charakteristisch
ist das Beispiel der gröfsten Vorstadt Brüssels, Schaerbeek, welche
1834 nur ein Dorf war, und heute die fiinftgröfste Cremcindc des
Landes ist: die Quotenan/ali! hat sich hier seit der F*"crtigste1hui<^^
des Katasters nahezu verzchnlacht von 568 auf 52(73 ; der (icsaiiU-
umf;ing der zwan/ii; LTÖlstcn ( irutulquoteii, welcher sich 1834 auf
258 Hektar mit einem Ertrag von 24873 Fr. (von nicht mit Ge-
39*
Digitized by Google
444
Emil VAndervelde,
bäudc bc.NcUtcin Botlcn) belicf, i>t auf 2o() Hektar im Jahre 1898
gesunken, aber mit einem Krlra^e von 400J4 I'r. (von nicht mit
Gebäude besetztem Boden). Es braucht hier nicht besonders betont
zu werden, dal's eine Gegenüberstellung der Erträge aus dem mit
Gebäuden besetztem Grundbesitz einen noch grösseren Unterschied
ergiebt. Der Einflufs der Städte auf ihre unmittelbare Nachbarschaft
verringert somit den Umiang der grofsen Besitzungen, erhöht aber
ihren Wert
Was nun die Einwirkung der Zerstücklung der Anbauflächen
anlangt, so ist zunächst ziemlich selten, dafs in den Gegenden, wo
der kleine Betrieb vorherrscht und wo infolgedessen keinerlei tech-
nisches Hindernis för die Zerstücklung der Erbschaften obwaltet,
der grofse Grundbesitz — unter der Herrschaft des Code Napoleon
— sich halten kann. Nichts ist leichter, als die Erbteilung eines
Besitztums, wenn es bereits in mehrere Wirtschaften zerl^ ist.
Dagegen wäre es in Gegenden, wo Waldungen und unbebaute Flachen
fehlen, wo die Anbaufläche sich mehr und mehr zerstückelt — bb
in die letzten Jahre hinein wenigstens — aufserordentlich schwierig
und glddizeitig durchaus nutzlos, einen Groisgrundbesitz zu schafien
oder wieder herzustellen. Daher sehen wir die Grundquoten von
über 100 Hektaren in den fruchtbaren Teilen des unteren Luxem-
burg, in vielen Distrikten der Lehmbodengegend und in sämtliclien
Bezirken des „Polder"-Baues, au^nommen in jenen, wo dem Meere
neue „Polder" abgerungen wurden, im Abnehmen begriffen.
Hin weiterer Faktor in dieser Verringerung der grofsen Quoten
ist, wie erwähnt, die Urbarmachunff der Waldungen. In den Ar-
dennen, dem Condroz oder im Entre Sambre et Meuse findet man
noch jetzt weite bewaldete oder unbebaute Flächen, welche den
gröfstcn Teil der grofsen Domänen dieser l^indstrichc bilden.
Seit der Zeit der I'^crligstcllung des Katasters jedoch und nament-
lich seit der bis ztiin Acufscrstcn getriebenen Abholzimo der fünf-
ziger und sechziger Jahre hat die Zahl dieser Domänen merklich ab-
genommen. Der Rückgang clor grofsen ( Trund(]iii>lcn, besonders in
der Gegend \'on Piiilippex ille und dem früheren l" urstentum (, himay,
entspricht somit der Plünderung der alten feudalen Besitzungen
durch gierige Spekulanten. Uebcr diesen Punkt wird in) ..Bulletin
de la Societe centrale forestiere" (Juli 1896) folgendes geschrieben:
„Die Veräulserungen und Verwüstungen der Privatwaldungen
nehmen langsam, aber sicher ihren P'ortgang. Wir haben geschL-n,
wie nach dem W aide von Rance (über looo Hektar) die Herrschaft
Digitized by Google
Das Grundeigentum in Belgien in dem Zeiträume von 1834 — 1S99.
Beauraing, die Forsten von Gerenne und noch andere zum Verkaufe
gesteUt wurden, wie sie bald darauf parzelliert, ausgebeutet und zu
Wäldern ohne Baume oder zu wertlosem Lande wurden. Eine der
grofsen Besitzungen nach der anderen in den Händen PHvater ver*
schwindet infolge Eibteilung, Aussterben von Familien, Greldver-
lusten u. s. w. Bei den Privatforsten kann es nicht anders sein.
Früher oder später laufen sie Gefahr, vernichtet zu weiden, oder
nicht mehr die Rolle zu spielen, die ihnen vom Standpunkte des
öffentlichen Wohls aus zukommt"
Kurzum, die Entfaltung der kapitalistischen Produktion wirkt
mit den verschiedensten Faktoren zersetzend auf den Grrolsgntnd'
besitz. Sie vergreift sich nicht allein am bäuerlichen Eigentum, um
es zu unterjochen, sondern auch am feudalen Besitz, um ihn zu zer-
setzen. Und je mehr die intensive Kultur fortschreitet, der städtische
Grrundbesitz, die unersättliche Ausbeutun^^ der grofsen Waldungen
um sich j^reifen, je mehr der Wert des Grund und Bodens weniger
von der Gestaltung seiner Oberfläche abhängt, als von seiner Lage,
so dafs ein einziger bebauter Hektar in volkreichen Gegenden an
Wert hunderte von Hektaren Heide- oder Moorland aufwiet^t, desto
unvermeidlicher wird sich im Grolsgrundbesitze eine rückgängige
Bewegung /eigen.
Wenn er trotz alledem widerstehen, ja seit tirci V'ierteljahrhuncieiten
an Umfang gewinnen konnte, wenn die Konzentration dc^ ' ti und und
Hodens schliefslich der Zerstücklung gegenüber die (. )l)eriiand gewinnt,
so geschieht dies hauptsächlich auf Kosten des öffentlichen Grund-
eigentums. Die Polderkonzessionen, die freiwillige oder zwangsweise
Veräufserung der Gemeindeländereien, der Verkauf der herrschaft-
lichen I-'orsten, der dem Staate oder bäuerlichen Getneinden ge-
hörigen unbebauten l'lächen waren die wesentlichsten Faktoren der
Konzentration des ( n undbesitzes in den 1 landen Privater. Die
hieraus neuerdings entstandenen ( xrundbesitzungen , /.umeist zu
billigem Preise erworben, sind es, welche die in anderen Gegenden
eingetretenen Rückgänge wettmachen. In dem Mafse, in welchem
sich die industriellen oder städtischen Zentren entwickeln, verändern
die groiaea (^"^^cn ihre Lage, je mehr sich die Transportmittel ver-
vollkommnen, nehmen jene in den Gegenden zu, wo noch viel un-
bebautes Land existiert. Es ist also hier bezüglich der Gegenden,
wo die Privaten gehörigen Quoten von 100 Hektar und darüber
wenig zahlreich sind, ein wichtiger Unterachied zu machen: in
einigen Gegenden giebt es keinen Grofsgrundbesitz mehr, in
Digitized by Google
446
Emil Vanderv«14e,
anderen giebt es ihn noch nicht Die ersteren liegen den fie«
Völkerungszentren zu nahe, als da(s sich der Grofsgrundbesitz u
ihnen halten könnte, die anderen zu weit ab, als da(s es der Mähe
wert wäre, ihn einzurichten. In der nächsten Umgebung der Städte
trifft man keine grofsen Quoten, weil der anbaufähige Boden zu
teuer ist; sie finden sich andererseits kaum, und die Gemeinscbafts*
formen des Grundeigentums erhalten sich, in den wüsten Heiden
der Ltmbuiger Campine, weil der pilügbare Boden nicht wertvoll
genug ist, un<I andererseits die I^ndbewohner an ihren Nutzungs-
rechten an den (icmeindeländereien festhalten. Die Zwischenzone
ist CS — der Condroz, die Antwerpener Campine ~ wo die Pri*
vaten gehörigen Quoten von loo Hektaren und darüber am zahl-
reichsten sind; in dem Sandboden des Meetzesiand, in der Umge<::end
von Gent, im Buscampveld, in der Gegend von Brügge, in den Mcide-
flächen von Brecht und Santhovcn, in der Antwerpener Gegend, in
den Rodländercicfi des wallonischen Rrabant in der Umgegend von
Brüssel, in dem hochgeloL^enen Schlaniinbodcn der Ardcnncn, in der
Lüttirhcr Gegeiul liat seit fiinfzi;^' oder sechsig Jahren — und fast
stets auf Kosten der ( ieineindeländereien oder der Domänenforsten
— der Grolsgrundhesitz Fortschritte gemacht.
Seit der landwirtschaftlichen Krisis sind indessen zu diesen
Faktoren noch andere getreten. „In den letzteren Jahren", schrieb
uns 1898 B . . . Notar in Wavre, „hat der Grolsgrundbesitz in der
Gegend von Nivellcs zugenommen, weil die Bauern nicht nichr kaulen,
da e.s ihnen an Mitteln fehlt."
Wie wir andererseits sahen, hängt die Anzahl der greisen Quoten
in hohem Mafse mit dem Umfange der Weide- und Waldflächen
zusammen. Während der Abholzungsperiotle war die Zerstückluni;
des Grofsgi undhesitzes im ( langc; gegenwärtig, wo man wieder auf-
forstet, wo man tausende von Hektaren pflügbaren Larides in Weiden
verwandelt, zeigt sich die entgegengesetzte Tendenz.
Dagegen scheint die Aera der Veräufserungen des öffentlichen
Grundeigentums, welche so sehr zur Bildung von privaten Grofe-
grundbesitz beigetragen haben, endgültig abgesdilossen zu sdn.
Es wäre zwar sicher dem allgemeinen Interesse entgegen, wollte
man die Urformen des Gemeineigentums weiter bewahren, aber
man beginnt, wie wir im folgenden sehen werden, allerwärts die
Notwendigkeit seiner Erhaitu ng alsPatrimonialeigentum des
Staates und der Gemeinden anzuerkennen, das zum Besten aller,
Digitized by Googl
Das Gnindeigeutam in Belgien in dem Zeiträume von 1834 — 1S99.
und nicht als Pr i v a t c i j^^ c n t u m , das im Interesse einzelner zu
bewirtschaften ist.
In unseren Monographien über einzehic Landstriche ') haben
wir gezeigt, wie tausend« von Hektaren seit Ende des achtzehnten
Jahrhunderts aus dem Besits des Staates, der Kirche und der Ge-
meinden in das Eigentum Privater übergingen.
Die Gesetze vom 15. Fructidor des Jahres IV und vom
5. Frimaire des Jahres VI haben ihnen die Güter der Geisdichkeit
ausgeantwortet, die holländische Regierung durch das Mittel der
Soci^t^ generale die schönsten Staatswaldungen, das Gesetz vom
25. März 1847 einen grofsen Teil der Gemeindeländereien, zu ge-
schweigen von den Gerichtsentscheidungen, welche das privatrecht-
liche Eigentum mit dem Lehneigentum verwechselten, wie in der
Sache der Forsten von Chimay. Kurzum es gilt nicht nur fiir Eng-
land, sondern auch lur Belgien und andere Länder, wenn Marx an
einer bekannten Stelle sagt:
„Der Raub der Kirchengüter, die fraudulente Veräufserung der
Staatsdomänen, der Diebstahl des Gemeindeeigentunis, die ursurpa-
torische und mit rücksichtslosem Terrorismus vollzogene Verwand-
lung von feudalem und Claneigentum in modernes Privateigen-
tuiTi , es waren ebensoviel idyllische Metluxien der ursprüng-
lichen .\kkumulation. Sie eroberten das Feld für die kapitalistische
Agrikultur, einverleibten den Grund und Boden dem Kapital,
schufen der städtischen Industrie die nötige Zufuhr von vogelfreiem
Proletariat." -)
Heute indessen, wo man sich beklagt, nicht über Arbeiter-
mangel in den Städten, sondern über die unzulänglichen Arbeits-
kräfte auf dem Lande, zeitj^t sich eine entgegengesetzte Strömung:
man bringt \on verschiedenen Seiten (lie W'iederherstellung der
(lemeindeläruiercicn in \'orsch!apf. hin jüngst erlassenes Gesetz
befreit die Ankäufe von Ländereien seitens öffentlicher Beliörden
zum Zwecke der Rcforstung von der EnregistrementsL,el)ühr. Die
Regierung selbst regte unter Aufgabe des früher in ihr herrschenden
bürgerlichen , individualistischen Stand[)unktes die Notwendigkeit
der Erhaltung und Erweiterung des Staats- und Gemeindebesitzes an.
'1 AnnaUb de l'Institut des sciences sociales. Bruxelles 1899, im Lokale des
Instituts, 1 1 rutf Ravenstein.
^ Das Kapital. Bd. I, Kap. 24 : Die Expropriation des en^li&chea Landvolks
von Grund und Boden. 4. Aufl. 1890, S. 699.
Digltized by Google
448
Emil Vandervelde,
Im Jahre 1895 bemafs sich der Uixifong des bewaldeten Grund-
besitzes in Belgien auf 521 494 Hektar, welche folgendermalaen ver-
teilt waren:
Staat 25260 Hektar
Gemeinden > 5^ 1 57 n
Oeffcntliche Zitate saij „
Private . 33t 864 „
5*1 494 Hekter.
Die Privaten L;i'Iiöri^'en W'aUluiii^cii inarhtcii also iinf^efähr zwei
Drittel (63,8 rro/.ciU) des (ian/.cii aus; sie besitzen die Mehrzalil
der Grundquoleii von über hundert Hektaren. Was die Staats-
forsleii betrifft, so wird ihr Unilmi^, der schon so beschränkt ist
(4,5 Pro/eilt , demnächst um un^alaiir den sechsten Teil verringert
werden, infol^^e des Kantonncments V) der Xut/un^srechie ver-
schiedener Gemeinden; im Jahre 1814 betrug ihr Flächeninhalt über
53000 Hektar. Der Bericht des Obersten Rates der Forsten über
die Erhaltung und Vergrölserung der Staatsdomänen (18 14) liefert
uns die Einzelheiten über die aufeinanderfolgenden Veraufserungen»
welche von 1814 bis 1830, und besonders 1830 stattfanden.
„\\ ährend der ersten Periode erstreckten sich die X'eräufserungen
auf 37756 11. 45 A. 31 C, welche für 28061617 Fr. 75 c. verkauft
wurden, also der Hektar Grund und Boden mit Bestand durch-
schnittlich mit 743 Fr. In der zweiten Periode ergab der Verkauf
von 15488 H. 72 A. 68 C die Summe von 25 118 340 Fr. 7 c. oder
1 621 Fr. pro Hektar. Die gesamten Veräufserungeti von Domänen-
forsten in beiden Perioden umfalsten 53245 11. 17 A. 89 C, und
hiervon wurden «0205 H. 23 A. 26 C. abgeforstet.**
Der Ueberrest von 33039 H. 94 A. 63 C. umfalst noch schönen
Hochwald, der aber leider nur verhältnismälsig klein ist. Da die
meisten Käufer gierige Spekulanten waren, nur darauf bedacht, die
nutzbaren Produkte sofort zu verwerten, so sind sie mit den
Waldungen ohne jede Schonung ver&hren, und heute sind viele von
diesen mittelmälsiger, stark gelichteter Schlagwald, wo es sozusagen
sogar am Dienstholz fehlt Was die 20205 urbar gemachten Hek-
tare anlangt, so gaben sie, von einzelnen Ausnahmen in den Pro-
vinzen Brabant, Hennegau, Limburg, Lüttich und Namur abgesehen,
'j Reger lung der Waldiervitatea durch Abu-etung eiaes Teils des dienenden
Waldes an die Servitatberechtigteii sn Eigentum.
üigiiizeü by Google
Das Gnindtfigentnm in Belgieii in dem Zeitimum« von 1834 — 1S99.
sehr schk rhtes Ackerland , von welchem jetzt viel brach liej^t.
„Diese l^uuicicien, reich an Hunuis, welchen der Wald im Krdreich
an^esaninielt hatte, brachten einij^e aufeinanderfolgende gute i.riiten;
bald aber hierdurch auf ihren ursprünglichen Zustand zurückge-
bracht, versagten sie im Ertrage, wenn nicht durch starke Düngungen
nachgeholfen wurde, die den Betrieb zu kostspielig machen. Es
giebt in Belgien sehr viele Grundbesitzer, die durch solche traurigen
Erfehrungen bitter enttäuscht sind, und die wissen, was die AfneIio>
ration unergiebigen Bodens kostet"
Im gro(sen Ganzen haben also die Veräurserungen von Domänen-
forsten des Staates zumeist verderbliche Folgen gehabt. Die abge-
holzten Flächen ergeben im allgemeinen nur kärglichen Ertrag;
viele bleiben unbebaut, andere werden jetzt wieder aufgeforstet.
Dies ist beispielsweise der Fall in der Nachbarschaft des Waldes
von Soignes und in vielen Gegenden der Ardennen. Inbetreflf der
nicht abgeholzten Forsten ist man fast überall einig darüber, dals
das Eigentum Privater an Waldungen die schwersten Milsstande
zettigt. Ueber diesen Funkt äufsert der Rat der Forsten genau
dieselbe Ansacht, wie die Sozialisten Marx*) und Karl Kautsky.*)
Im „Bulletin de la Soci^ centrale forest!^" vom Juli 1886 lesen
wir:*) ,iDer Privateigentümer kümmert sich in keiner Weise um
die I'olgen, welche die Nutzung seines Waldes för das Klima, die
Wasserverhältnisse oder die Industrie der Umgegend haben kann.
Er hat nur seinen eigenen Vorteil im Auge. Der Staat allein hat
die Aufgabe, über Dinge zu wachen, welche seine Bürger allgemein
angehen; er hat an Stelle des einzelnen zu treten, wenn dieser
ohnmächtig ist, hierin ist sein Eingreifen in der Sache der Privat-
waldungen begründet."
Der gleichen Meinung ist auch der Minister oder vielmehr das
Ministerium der I^nd Wirtschaft. In seinem Rundschreiben vom
12. Juli 1897 sagt der damalige Landwirtschaftsminister Leon
de Bniyn, nachdem er die q;erin[:^e Bedeutung der Staatsforsten be-
tont hat: ,,Fs '^'csrliieht in berechtigter Besorgnis, wenn wir im
Hinblick auf tlic Zukunft angesichts des gegenwärtigen Konsums
und der sich hieraus er:nl)(nden Mifswirtschaft erklären, dafs die
Beforstung der Hoclicbenen und Heideländereien von allgemeiner
'1 Marx. Kapital. Bd. II. 2. .Vufl Ilamburp 1893, S. 215.
'1 Knutsky, Die Agrarfrage. Stuttgart 1899, S, 329.
^- 507.
Digitized by Google
450
Emil Vanderv«lde,
Wichtigkeit ist, welche gebieterisch das Eingreifen der öfTentlicben
Gewalten erheischt. Das Heideland bewalden, wo es auch sei,
heifst einen neuen Nationalreichtum schaffen, heilst die Arbeitskräfte
der betreffenden Gegenden und die Industrie des Landes fördern
und regeln. Die Hochebenen beforsten, heilst zudem eine frucht-
bringende Anlage machen, es bedeutet die Beseitigung der Wild-
bäche, Verhütung ihrer Zerstörungen, Ersparnis der ui^;eheuren
Ausgaben för Verbauungsanlagen , die an sich unproduktiv und
Iiäuri<:,r unzulänglich sind. Einer solclien Au^be aber kann allein
der Staat gehörifj entsprechen; er allein vermag namentlich das
Erreichte dauernd /u sichern, was beim Privateigentum nur zu oft
versäumt wird." Infolge dieses Rundschreibens verlangt die Re-
gierung alljährlich unter den aufserordcutlichcn Ausgaben einen Be*
trag von 300000 Fr. zur Erweiterung der Staatsforsten. Ein weiterer
Betrag von 100000 Fr. wird beansprucht für die Bcforstung von
Oedland im Domanialbesitz. Es ist hiermit ja unstreitig etwas ge*
schehen, aber, wie man nicht umhin kann, zu bemerken, sehr wenig.
Verfährt man in dieser Weise, so braucht man über hundert Jahre,
bis die Staatsforsten den Umfang wieder crlanL^en , den sie 1814
hatten! Wenn der Bourgeois-Staat in der Neuschaffung der Waldungen
in gewissem Sinne halb und halb Kollektivismus treibt, so ist dies,
wie man jedenfalls zugeben wird, homöopathischer Kollektivismus,
l eber 63 Prozent des bewaldeten ( rrundbcsit/c-^ })kMl)eii in den
Händen Pri\atcr, sind der Willkür derer überlassen, die sie bewirt-
schahcn. Die der Forstverwaltung unterstehenden Waldunijen,
iiänilich jene des Staates, der (lemeinden und der öffentlichen In-
stitute, re|)räscntieren nur 188630 Hektar. .'Xufserdem sind die
meisten (ii niLiiulewaldungen , trotz aller Bemühungen der l or^t-
beamten. verwüstenden Eingriffen ausgesetzt, welche die Interessen
der kommenden ( lenerationen schwer beeinträchtigen. Es ist daher
erforderlich, dafs an .Stelle des gegenwärtigen Temporisierens, der
. iiäfliehen .Milsgritfe der Vergangenheit eine energische Forstpolitik
tritt. Selbst dem Bourgeoisie-Regiment erscheint der kollektive
Besitz dort notwendig, wo man allgemein anerkennt, dalSs der kapi-
talistische Besitz Bankerott gemacht hat.
Was nun die Gemeindeländereten anlangt, so finden wir, dafs
sie 1846 noch 162896 Hektar, wovon 80055 auf die Campine,
80864 auf die Ardennen kamen, nm&tsten, wovon heute nicht mehr
hunderttausend existieren. In der Zeit von 1847 bis 1866 wurden
' über 33 000 Hektar veräulsert, teils in grofsen Flachen von mehreren
Digitized by Google
Das Grundeigentum in Belgien in dem Zeiträume von 1834 — tS99. 45 1
hundert Hektaren, teils in kleinen Partellen, die an die Landbe-
wohner verkauft oder unter sie verteilt wurden. In den meisten
Fällen hatten diese Veräufserungen solche Folgen, dals die Re-
gierung, trotz der Vorliebe, die sie bei jeder Gelegenheit fiir das
Privateigentum an den Tag legte, schließlich es nicht mehr mit an-
sehen konnte* Im Jahre 1898 unterbreitete De Bruyn, damals
Landwirtschaftsminister, dem Obersten Rat der Forsten die Frage
der Veräufserlichkeit der Gemeindeländereien in folgenden Worten:
,4n verschiedenen Landesteilen ist das der Forstverwaltung nicht
unterstellte Gemeindeland häufig Gegenstand der Verteilung unter
die Gemeindeangehörigen oder des Verkaufes in kleinen Parzellen.
Aus diesem Grunde ist der Gemeindebesitz in vielen Ortschaften
ganz verschwunden oder nahe daran, zu verschwinden. Viele Grunde
stücke, die zum landwirtschaftlichen Anbau wenig geeignet sind
und sich im Besitze mittelloser Gemeindeangehöriger befinden,
bleiben unbebaut oder werden zu niedrigen Preisen von den grölseren
Grundeigentümern erworben. Wäre es nicht thunlich, der
Versilberung des unbeweglichen Kapitals der Ge-
meinden und der oben erwähnten Verteilun«; oder
Vei äufserung von Parzellen entge<,'cnzutreten? Müfste
nicht hier die Verpachtung und Beforstung als nahe-
zu allgemein gültige Regel aufgestellt werden?"
In Beantwortung dieser Fragen erstatteten zwei Mitglieder des
Obersten Rates der I"'orsten, Fraters und De Carital-Peruzzi, dieser
Körperschaft zwei Berichte, einen über die Ardennen, den anderen
über die Campme; beide liefen in ihrem Resultat auf die Un-
veräulserlichkeit (ics Gemeindc!aii<ic-; hinaus.')
„In den I'iov inzcn Namur, I .uUich. und Luxemburg", heilst es in
Kraters' Bericht ,,ist man haulig zu aufcm.uu!erf'>I'^enden Teilungen
(ler ( icmeindciändcreicn oder zum Verkaute .in liie Genieinde-
bewohner von in kleine Parzellen ein^^eteüteii Mächen geschritten,
so (lals es in iliesen I*rovinzen zaiilieiche dcnicuulen giebt, welche
fast kein Gemeindeland mehr besitzen und dal)ei doch nichts er-
übrigt haben. In den meisten Fällen haben diese Arten der Ab-
tretung des Gemeindelands der (ic>.imtheil der Be\vohner>el»aft
keinen Nutzen gel)racht und sehr wenig zur Instandsetzung der un-
bebauten Flächen beigetragen. Die durchgängig übertriebene Zcr-
') Bulletin de la Socicte centrale foresticre de Bclgiquc, Februar 1898. S. 120.
'j Ebdas., S. 120 — 127.
Digitized by Google
452
Emil V a II d e r V e 1 d c ,
stücklung — die Parzellen hatten oft nur einen Umfang von lO
bis 1 5 Ar» selten von einem halben Hektar ^ liefe ihre Verwertung,
sei es durch Urbarmachen, sei es durch Beforsten, wen^ vorteilhaft
erscheinen; zudem besafeen manche neuen Besitzer, wdche ihre ver-
fügbaren Mittel zur Berichtigung der Kaufpreise und der Kosten
hatten aufwenden müssen, nicht mehr das zur Ausnutzung ihrer
Parzellen notwendige Geld, so da(s nach kaum einigen Jahren diese
als blofse Weideplätze dalagen; auch wurden verschiedentlich Par-
zellen von dem einen oder anderen wohlhabenden Grundbesitzer
(meistens zu niedrigen Preisen) erworben, der, nachdem er eine
gewisse Anzahl Grundstücke vereinigt hatte, in der Lage war, sie
urbar zu machen oder zu beforsten. Ks läfst sich daher behaupten,
dafs zumeist diese letzteren die einzigen waren, welche von der
Verteilung oder V'eräufserung der Gemeindeländereien an die Ge-
meindebewohner Nutzen zogen.
Daher hat Ihre Kommission einstimmig den Wunsch aus«
gesprochen, es möge den Gemeinden nicht mehr gestattet werden,
die Gemeindeländerden, welche als anbaufähig bezeichnet werden
würden, an die Gemeindebewohner in kleinen Parzellen zu verteilen
oder zu verkaufen. Dagegen ist sie einig in dem Verlangen. da>
die \''erpachtung dieser Ländereien nn< h Möglichkeit zu fordern sei
und für sie zu fast all*^^cniciner Regel werde.*'
Diese Beschlüsse fanden im Rate der l^^rsti n, wo neben Staats-
l)eamteii die gröfsten W'akleigentuim i und die gröfstrn Käufer von
(icmcindcforsten, die es in Hel-j^icn gioht. sitzen, keine rückhalLslose
Zustimmung. Baron ( inftinet und ( traf Merode namentlich erklärten,
dals es ihres Krachtens nicht angehe, den Gemeinden das Recht
des Verkaufs oder der Verwertung gewisser Teile ihrer Besitzungen
zu nehn>cn.
„Wäre es nicht angebracht", sagte (traf Merode, „die
meindrn zu ermächtigen, einen bestimmten Teil ihrer unbcbautci
Flächen unter der Bedingung zu veräulsern, den anderen leil m
zuljaucn ? . . . ¥Äne (icmeintle w ill /. H. eine Schule, ein Ciemcinde-
haus, eine Stralsc bauen; hierzu i)iauciit sie (leld. Dies hat sie
nicht, dafür aber Geiueuideland. Wäre es da nicht für sie vorteil-
haft, hierv on einen Teil zu opfern ?**
„Durchaus nicht"; entgegnete mit vollstem Rechte Schmitz,
der Präsident der Luxemburger Landwirtschaftsgesellschaft, „die
Reichen in der Gemeinde werden hierbei profitieren, nicht aber die
Armen. Unter der von Ihnen empfohlenen Regelung bezahlt der
Digitized by Google
Das Gnmdetgeatum in Belgien in dem Zeiträume von 1834—1899.
Aermste in der Gemeinde zur Durchführung dieser Leistungen
ebensoviel wie der Reichste, und dies wäre die denkbar grö&te
Ungerechtigkeit. Herr Baron GofHnet ist Grolsgrundbesitzer: wollte
man in seiner Gemeinde eine Kirche bauen und ihre Kosten in
dieser Weise aufbringen, so wurde der letzte seiner Gutsknechte
ebensoviel als er bezahlen, und das ist nicht gerecht."
Der Rat der Forsten erklärte schlielslich auf Antrag Visarts»
seines Präsidenten, da(s er für die Frage der Erhaltung des Ge-
meindebesitzes nicht zuständig sei, da& diese ihn höchstens soweit
angehe, als es sich um die Erhaltung der den Gemeinden gehörigen
Waldungen und Forsten handle. Und unter diesem Vorbehalt ge-
langten folgende Beschlüsse zur Annahme:
[. „Es ist als allgemeine Regel nicht zulassig, die Veräußerung
von Gemeindeländereien zu gestatten.
2. Es empfiehlt sich, die Verpachtung auf lange Zeiten nach
Möglichkeit dort zu fördern, wo dieser Modus bereits besteht, soweit
es sich um Landereien handelt, welche nicht sofort beforstungs-
oder anbaufähig sind; es ist hierbei den Pächtern die Verpflichtung
auficuerlcgen, den Boden innerhalb einer bestimmten Frist vollständig
zu kultivieren und in Stand zu setzen.'* —
Es sind also die öfTentlichen Gewalten, nachdem sie lange
Zeit die Urheber oder Mitschuldigen der Verschleuderung der Ge-
meindeländereien und der Staatsforsten gewesen, jetzt bemüht, den
öffentlichen Gnrundbesitz zu erhalten und sogar auf seinen früheren
Stand zu bringen. Gleicloeitig aber, denn von einer wirklichen
Rückkehr zur Vergangenheit kann keine Rede sein, verschwinden
mehr und mehr die altertümlichen Formen der Bewirtschaftung
dieses Besitzes. Man „kantonniert" die Nutzungsrechte, welche die
Gemeinden der I^dbewohner an den Staatsforsten besitzen.
Ebenso regelt man die Art des Genusses der Gemeindeländereien
anderweitig.
Der Privatbesitz der Gemeinden uinfafst bekanntlich zwei Arten
von Grundeigentum, welche die Theorie zum Unterschiede als
,,Die Nutzungsrechte an den Waldungen und Forsten sind ftlr deren Besitxer
«ine sehr lästige Servitut und eine ewige Ursache von Strcitigkeitf-n und Prozcssen.
l'm sie Ins 711 werden, gicbt das rj.-sct/ 'l'-ni P.-sit/.. r l.i^ Rt-rlit d< s „Kantonne-
mf^nt?.", w elches ihnen gestatt«'t, das Nut/unj[;>r(*cht .lut <-iin iri hc .timmtrti 'l'eilc des
<li r Nutzung unterworfenen Grund uud Hodens in Eigeutuni^rcchi zu verwandeln.'* —
Laurent, droit civil, vol. 7, 2. ed., S. 121.
Digitized by Google
454
Emil V a II d e r V c I d e ,
Patrimontalgut und als Gemeindegut bezeichnet Das
Gemeindegut, oder die „communaux", ist dasjenige, an welchem
die Gemeindeglieder ein individuelles Genufsrecht be»tzeo: die
Holzgerechtigkeit, die Nutzung der Oedflächen, des Heidelandes,
das Weiderecht u. s. w. Trotz des zuweilen hartnäckigen Wider*
Standes der Ortsangesessenen änd die „conrnnunaux**, deren Bestehen
unverträglich ist mit einer intensiven I^dwirtschaft, zweifellos vct'
urteilt, wenn nicht zu verschwinden, so doch eine gründliche
Wandlung zu erfahren. Anstatt aber wie früher zu gewaltsamen
Expropriationen zu schreiten, oder zu nicht minder verderblichen
Teilungen, steht prinzipiell nichts ents^ej^en, dals die Staatsgewalt
seihst die Aufgabe übernimmt, diese Ländereien zu kultivieren und
sie iti 1' a t rimo n i a 1 g u t zu verwandeln, dessen Erlrag die üe-
meintle, ebenso wie ein Privatmann, bezieht: hierher gehören z.B.
die Gemeindewaldungcn <Mier die von der Gemeindebehörde ver«
pachteten anbaufähigen Ländereien.
Gründlich täuschen würde man sich aber, wollte man hierbei
besonders auf die ländlichen Gemeinden rechnen, und von ihrer
Engherzigkeit und ihrem Schlendrian erwarten, dafs sie ihren Land-
V)e<it/ in Stand sct/en und \or allem durch (irundstücksnnkauf
von ]*ri\aten erweilern oder neuschatVen. Linter dem jetzigen Stand
der Dinge konnte man höchstens \nn ihnen \erlangen oder ihnen
auferleL^en, was sie noch haben, fiichl zu \eräursern, Aufforsuiiv^en
unter der Leitung und mit der l nterslützung seitens des Staate^
durchzuführen, ihr anbaufähiges Land unter günstigeren Lkn lin.;unt;cn,
als sie bei den Cirundbesit/ern tler Gegend liblirh sind, zu \er-
pacliten, statt es dauernd auf die Haushalts\ erstände zu vorteilen.
Einschneidendere Lmgestaltungen der Boden Verfassung im kulleklivis-
tischen Sinne sind in erster Reihe \cjn der Initiative der Zentral-
gewalt und grofser Stadtgemeinden /u furtlern, welch letztere sich,
wie z. B. Antwerjien es gethan, einen landwirt<rhaftli( hen Grund-
besitz zu schatten hätten. Wir sind zwar nut Kautsky \ öllig darüber
einig, dafs in den bureaukr.uischcn und militärischen Monarchieen
„die Sozialdemokratie keinen Grund hat, die Zahl der kapitalis-
tischen Slaatspächter zu vermehren und die Regierung unabhängiger
von den Geldbewilligungen der Volksvertreter zu machen."')
Allein in mehr oder minder demokratischen Ländern, wie im
unserigen, gewinnt die Frage ein ganz anderes Ansehen, und selbst
') Die Agrarfrage, S. 329.
Digitized by Google
Das Grundeigcntutn in Belgien in dem Zeiträume von 1834 — 1899.
unter dem kapitaJistischen Regime begegnet die fortschreitende
Sozialisiening des Bodens nicht überall den gleichen Einwänden.
Auch ist zweifellos, dafe sich die Erweiterung des kollektiven Be-
sitzes, wie sie in der allernächsten Zukunft zu verwirklichen ist, nicht
auf das Gebaudeeigentum und die Industrie im engeren Sinne be-
schränken wird. Der mittelbare oder unmittelbare sozialisierende
Einflufs der Städte wird machtig auf das Land einwirken» wird
Genossenschaften hervorrufen, ihre Ziele erweitern, höhere Formen
der Produktion und Aneignung schaffen. Es waren jederzeit die
Städte das treibende Element der Wandlungen des Eigentums und
der Kultur. Das Land lebte noch in den alten Verhältnissen, hätte
die städtische Boui^eoisie nicht die Güter der toten Hand an-
gegriffen, die Grundherren verdrängt, die Bauern von den feudalen
Lasten befreit, und — nicht nur befreiend, sondern auch bedrückend
— die Genieindeländereien veräufsert, die Wälder verstümmelt, und
durch die Konkurrenz der Maschinenarbeit eine Menge Hausindustrieen
vernichtet, die friihcr auf dem platten I^ande blüiiten. Wenn 45,000
Arbeiter aus dem Hennegau un l (!en Mandern nicht mehr in der
Heimat wurzeln und während sechs Monaten des Jahres nach dem
Norden I Vankreichs und dem Groisherzogtum Luxemburg wandern,
so iiat dies darin seinen Grund, weil die Fabriken die alte Leinen-
industrie tot gemacht haben. Wenn die Pächter in Beanre und
Brie so laut nach flämischen Arbeitern rufen, so rührt dies daher, '
dafs die Anziehungskraft der Städte die ländlichen Gegenden brank-
reichs entvölkert oder doch die meisten Landarbeiter in Industrie-
arbeiter \cr\vandclt hat. Je mehr die industriellen und städtischen
Zentren, Föchtcr des Kapitalismus, anwarhscn, dcstoiiichr \erliercn
die ländlichen Klassen verhältnisniälsi^' an HedcutunL^; die Anbau-
fläche wird kleiner, die zunehmende trleichteruriL; des Wrkelirs
bringt das kleinste Dorf mit dem W'eltmarkte in Verbindung und
unterwirft es den (iesetzen der allgemeinen Konkurrenz.
Von der Stadt aus gehen die dem bäuerlichen Grundbesitz töt-
liclien Krisen; in der Stadt regieren jene, die dem Lande das drei-
fache Joch der Steuern, (les Pachtzinses und der Kaserne auteriegen ;
in die Stadt hinein strömen von allen Luden der Welt ihre Pro-
dukte. L'nd jetzt, wo die städtische Bevölkerung ihr Getreide aus
den neuen Krdteilcn erhält, ist es wiederum ihr Einflufs, ihre
steigende Nachfrage nach Butter, Fleisch, Zucker, Früchten, Gemüse,
und, leider, Alkohol, welcher den Landwirtschaftsbetrieb umgestaltet,
ihm andere Gerätschaften giebt und das platte I^d mit Dampf-
Digitized by Google
456
Emil Vandcrvelde,
molkereien» Zikorienfabriken, Branntweinbrennereien, Zudccrsiedereien
bedeckt — alles fast kapitalistische Unternehmungen, deren abhängige
und unterwürfige Lieferanten die Bauern der Umgegend sind. In
diesen ProduktkMiszweigen, die mit dem Landbau so eng verknüpft
sind, ist die industrielle Konzentration sehr weit vorgeschritten: die
grofsen Zuckerfabriken sind völlig gewappnet aus dem Scholse der
kapitalistischen Welt hervorgegangen; die Ricscnbrennereien sind
trotz der den kleinen Destillateuren ^^^^währtcn Steuerprivüegien eben
dabei, diese ein fvir alle Mal zu erdrücken; nur die genosscnschaft*
lieh orj^anisierten Milch Produzenten kämpfen aussichtsvoll gegen die
kapitalistischen Molkereien, allein, es steht zu befürchten, daSs, wie
so \ i( lc atulere Produktivgenossenschaften, auch sie zumeist, gerade
durch ihren Erfolg, sich in kapitalistische Betriebe verwandeln
werden. Es wird daher voraussichtlich die kollektivistische Er-
oberung des Landes beginnen mit der Expropriation dieser Indu-
strien, der Sozialisierung der Wälder, der Arbeit der inneren Koloni-
sation, welche die Süniple zu bewältiifcn, die Ileideflächen urbai /.u
machen, die unbebauten Ländereien in truchttragende zu verwandeln
hat. Was der Kapitalismus im Interesx einzelner angefangen, wird
der Sozialismus zum Wohle aller vollenden. „Die Rationaiisicnin,:!;
der Agrikultur" sagt Karl Marx M einerseits, die diese erst betähigt
gesellschafllicii betrieben zu werden, die Rückluhiuiig des Grund-
eigentums ad absutduni anileroi .>c)ls, dies sind die grol'sen Ver-
dienste der kapitalistischen Produktionsweise." Wie alle übrigen
historischen Fortschritte, hat sie auch diese durcli die Verarmung
der direkten Produzenten bezahlen lassen. Jetzt, wo der bäuerliche
(irundbesitz in einem Industrielaiule, wie es das unserige ist. nur
einen geringfügigen Teil der bebauten Fläche repräsentiert, wäliremi
zwei Drittel des Bodens ilenen, die ihn bebauen, nielu zu eigen i^'e-
hört, tritt die Parasitenrolle der Besitzerrenle allen klar \or .\ugcn.
l'nd je mehr der Kapitalismus die Landwirtschaft erobert und den
alten Schlendrian durch die wissenschaftlichen Malsnahmen der
Agronomie ersetzt, desto mehr werden wir uns der Möglichkeit und
den Vorzügen der kollektivistischen Aneignung und Bewirtschaftung
des Bodens nähern. Wir verkennen übrigens keineswegs die Schwierig-
keiten, den Widerstand, die Hindernisse aller Art, welche sich einer
derartigen Umgestaltung entgegenstellen und noch lange entgegen-
stellen werden. Wir sind überzeugt, dals sie nicht völlig durch-
*) Vgl. Das Kapital, Bd. Ol, 2, $. 157. Hamborg l894>
Digitized by Goog(e
Das Gnindeigentnin in Belgien in dem Zeitiaume von 1S34— >i899.
geführt werden kann, solange der Sozialismus sich nicht der indu-
striellen Produktion bcmächti|:ft hat. Aber wir möchten doch denen
tutber, welche etwa die Möghchkcit sogar einer so tieffjehenden
Wandlung bezweifeln, auf die mindestens ebenso einschneidende Um-
wälzung hinweisen, welche den Sturz des h'eudalsystems kennzeichnet.
Es dürfte nicht viel mehr als ein Jahrhundert dauern, bis die sieg-
reiche Bourgeoisie, in ihrer Profitgier liarthcrzigcr mitunter als die
vordem herrschenden Klassen, aber thatkräftiger, unternehmender,
reicher an Hilfsmitteln, das Land den Gesetzen der kapitalistischen
Produktion unterworfen hat. Noch viel weniger Zeit wird es ange-
sichts der wachsenden Schnelligkeit der sozialen Wandlungen be-
dürfen, bis die städtischen Arbeiter, vom Kapitalismus befreit, ihre
Errungenschaften der Landbevölkerung teilhaftig werden lassen und
sie von ilen Jiedrückungcn erlösen, welchen sie ihre aufeinander-
folgenden Gebieter unterworfen haben.
Archiv für Mt. Gwttigebuf n. StatiiUK. XV,
30
Digitized by Google
I
GESETZGEBUiNG.
PRBU88BN.
Die Erweiterung der Zwangserziehung.
Von
Prof. Dr. FERDINAND TÖNNIES. >)
In langwierigen Kämpfen wehren sich die ursprünglichen, im
unmittelbaren Wollen und Glauben beruhenden Verbände und
Gemeinschaften der Menschen gefjen die zersetzende, vereinzelnde,
sie zu Mitteln für ihre Zweck- herabsetzende Vernunft der Indivi-
duen auf der einen, gegen die ebenso individualistisch wirkende
S t a a t s r a i s o n auf der anderen Seite : in diesen Kämpfen vollzieht
und verzehrt sich die gesamte neuere Fintwicklung de^ sozialen
l.cbens. Jeder so geartete Kampf i>t ein Todeskampf, sie erfüllen
df-ri I'rozcis des Unterganges jener durch Wesen und l'eberlielerun^
gehcdigtcn X'crbände. Der letzte, einfachste, aber zähestc, weil
innerlichste von allen ist die Familie. Dals ihre hergebrachte de-
stalt durch die moderne ökonomische Kntwicklung aufgelöst wird,
ist beinahe ein Gemeinplatz geworden. Die Staatsgewalt wird an-
gerufen, sie zu retten. Schutz iler Frauen und Kinder \or der —
formell durch ihren eigenen oder durcli den Willen des h'aiuiiien-
vatcrs, materiell durch das Intere^>e des Kapitalisten bewirkten —
Individualisierung, die sie dei\ Männern gleich zu Verkäulern
ihre ! Arbeitskraft niarht. bildet den Kern der ganzen bcwufsten Reak-
tion der Gesellschalt gegen ihre gegebenen Kntwicklungstcndenzen, die
in der Fabrikgesetzgebung enthalten ist; und der Fortschritt
') Wo ich bei Citatcn Worte durch Sperrdruck hervorhebe, die es im Origiulc
nicht sind, setze ich die gesperrten Worte twischen Asterisken *j
Digitized by Google
Ferdinand Tön nies, Die Erweiterung der Zmngserziehttng.
wird iinnicr lehliafter geforckrl werden, wie er immer drinji^ender
notwendig und unaiitlialtbar wird, der sie zu einer Hausindust rie-
(iesetzgebung^ erweitert. Das Problem wird aber auch immer
mächtiger sich erheben, ob und wieweit der gegebene Staat, der
Arm der Gesellschaft, diese Aufgaben, die ihm die Gesellschaft zu
überweisen gezwungen ist, zu tragen und zu erfüllen fähig
sein werde, ohne seinci^cils eine tiefe, innere Umbildung zu erfahren
und sich gefallen zu lassen.
Eine besondere, an sich verhältnismäfsig geringfügige, in ihren
Konsequenzen sehr bedeutende Seite dieses Problems ist es, die in
der Erweiterung der Zwangserziehung verborgen ist
Im heutigen Privatrecht, wie es in unserem Bürgerlichen Gesetz-
buche sich ausprägt, ist die Familie eine Anomalie. Sein gesamter
Inhalt bezieht sich auf die Regelung des Austausches von Ver-
mögenswerten zwischen einzelnen Personen, natürlichen oder juristi*
sehen Personen (die Familie ist weder das eine noch das andere).
Grundbegriffe sind: die Fähigkeit, Rechte zu haben — allgemeines
Merkmal der Person; und die Fähigkeit, Rechte auszuüben — be-
sonderes Merkmal der mündigen Person*^) Die unmündige Per-
son mufs durch eine münd^e Person, den Vormund, im Rechte
(d. h. vor Gericht) vertreten werden. Die Staatsgewalt erzwingt, nach
Feststellung der Rechtsthatsachen durch Richterspruch, die Rechte
jeder Person gegen alle anderen. Der Mündel hat auch Rechte
gegen den Vormund; sie können durch einen Gegenvormund ver-
treten werden im gewöhnlichen Rechtsw^e, sie können aber auch
direkt durch die Staatsgewalt vertreten werden, im Wege der Poli-
zei, sei es durch ein besonderes Amt, oder durch freiwillige"
Gerichtsbarkeit, d. h. eine Gerichtsbarkeit, die funktioniert, ohne
durch Klage dazu veranlafst zu werden. Dies ist das System der
preufsischen Vormundschaftsordnung gewesen , ist dem Prinzipe
nach auch das des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Kernpunkt ist die
ständige Aufsicht über alle geführten Vormundschaften. Nun
ist, der begrifflichen Konsequenz nach, jede Vertretung der Rechte
von Kindern durch Vater und Mutter nichts als ein besonderer
Fall der Vormundschaft; sie müfste mithin einer ganz gleich-
artigen Aufsicht unterliegen.
Diese Aufsicht ist ihrem Wesen nach, wie die ganze freiwülige
Das B.G.B, scbtebt djuwiscben noch den „beschränkt gcschäftsfahiKcn**
Minderjährigen.
30»
Digitized by Google
460
GesetxigebiiBe: PrenfiMO.
( Tcriclitsbarkeit, eine ütfcnllich-rechlliche I'uiiktion. Dals sie in das
Pn\'atrccht aufi^enomrnen wird, hat seinen (irund darin, dafN sie
materiell ihre weit überwiegende Bcdeutunp^ im Vcrm<)'^eii>-
recht, dalier für \ e r m < i;^ e n s 1 o s e Voniumi !>cli,itit.-n jirakli^'h
fast keine Iktleiitim^; hat. Wenn nun im P r i \ a t r c c Ii t der ( deich-
Stellung' von Kindern unter elterlicher Gewalt mit bevormundeten
Kindern die l'radition starke Hemnuin;_;en ent^cfTcn>telIt, be-
stehen hiiiL;ej4cn für das öffentliche Recht solche liemmunj^en nicht.
Die polizeiliche Sorge für das Wohl von Kindern und die polizei-
liche Befugnis zu Mafsregeln gegen Kinder leiten sich direkt aus
der allgemeinen Macht der Polizei, nach Malsgabe von Gesetzen
öffentlichen Gefahren vorzubeugen, ab. Mit ihr konkurriert nur
die strafrechtlich e Behandlung solchSr Kinder, die för strafbare
Handlungen verantwortlich gemacht werden. Insoweit als diese
einfach verurteilt und die Urteile vollstreckt werden, liegen sie
außerhalb jener Sorge. Wenn aber die Absicht, solche Kinder
zu erziehen und zu bessern, mit der Strafvollstreckung verbunden
wird, oder sich daran anschliefst, oder sie ersetzen will, so
ist die strafbare Handlung nur ein möglicher 'Erkenntnisgrund, aus
dem auf das Bedürfnis jener Absicht, d. h. auf den verwahrlosten
Zustand des Kindes geschlossen wird.
Und wenn der allgemeine Satz zum Rechtssatz wird: „ver*
wahrloste Kinder fallen der Sorge des Staates anheim", und wenn
^ogar dieser Satz von Kindern auf alle Minderjährige ausgeddint
wird — so ist dies von unermelslicher Tragweite. So eng auch
der Begriff der Verwahrlosung umschrieben werden in^;e, prinzipiell
ist damit das Recht des Staates gesetzt, das Erziehungsrecht der
Eltern nach seinem Ermessen aufzuheben, den Vater oder die
Mutter, ganz wie einen Vormund, ihres Amtes zu entsetzen.') So-
weit CS dabei um festgestellte Schuld an der Verwahrlosung sich
handelt, ist der Grundsatz länc^st in theoretischer Geltung (die Fälle
des § 1666 H.G.}^. 1 ; praktisch aber fast nur nach MaG^abe neuerer
Zwanc^serziehungs-Gesetzc ZUr Anwendung gelangt. Dagegen ist
auch theoretisch kontrovers die Unabhängici^keit des Ein-
schreitens von schuldhaftem Verhalten; im Reichsrechte nicht zu-
gelassen, ist sie, wie wir sehen werden, den Landesgesetzgebungen
Ganz abzusehen von dem Rechte, solche Minderjährige, die der häuslichen
Erziehung entwachsen sind, durch eine Art von administrativer Jastiz der
„Zwangserziehung" zu unterwerfen.
Digitized by Google
Ferdinand Tonnies, Die Elrweiterung der Zwangstcrziehuug.
freigegeben worden. Der Gebrauch, den die Gesetzgebung des
gröfsten Staates im Reiche von dieser Befiignis macht, wird daher
von einschneidender Bedeutung sein. Wenn ein radikaler Ge-
brauch davon gemacht wird, so wird um so scharfer die Frage
geltend gemacht werden müssen: ob der Staat entschlossen und
vorbereitet sei, eine gerechte Anwendung durchzuführen, ob er
der grolsen moralischen Aufgabe, die er damit übernimmt, auch
moralisch gewachsen sei; welche Fragen jedoch nicht minder
liir die Sache überhaupt, also auch wenn Schuld der Eltern oder
des Vormundes behauptet wird, gelten. Wir wollen unter diesen Ge*
Sichtspunkten die ftir Preufsen beantragte Erweiterung der Zwangs-
erziehung prüfen.
Der „Entwurf eines Gresetzes über die Zwangserziehung Minder-
jähriger" der am 8. Januar d. J. dem preufsischen Herrenhause
unterbreitet wurde, enthält gcf^enüber dem geltenden Gesetze vom
13. März 1878 drei sehr bedeutende Neuerungen, die sich als prin-
/i]nelle Erweiterungen der mit dem Namen „Zwangserziehung" be-
hafteten Institution darstellen: I. Während bisher nur Kinder
zwischen 6 und 12 lalircn (denn die Fälle nach § 56 des Str.CTi.B.
lagen aulserhalb des iiesetzes) so können ihr, nach dem Entwürfe,
alle Minderjährigen , von der Geburt an bis zum vollendeten
18. Lebensjahre unterstellt werden. 2. Während bisher die Mal's-
rcr^el auf richterliche Feststellung einer von dem Kinde be-
gangenen, sonst strafbaren Handlung gebunden ist, so wird sie nach
dem Entwürfe da\-on gelöst; sie wird a u c Ii möglich, wenn dieser
Thatbcstand nicht gegeben ist, aber eine von zwei anderen X'oraus-
hct/.ungen vorliegt; Aj ein scluildhaftes X'erhalten des Vaters oder,
wenn ihr die elterliche Gewalt zusteht, der Mutter des Kindes, wo-
durch das geistige oder leibliche Wohl des Kindes gefährdet wird
(hierauf geht § 2, I des Entwurfes! ; IVi ,,wenn die Zwangserziehung
aufser diesen Fällen wegen l'nzulänglichkeit der erziehlichen Ein-
wirkung der Eltern oder sonstigen Erzieher, oder der Schule, zur
Verhütung des völligen sittlichen Verderbens notwendig ist". (Ent-
wurf 2, 3.)
Die vorgeschlagenen NeueiunL;cn fies preulsiscluii I^ndes-
gesetzes beruhen teils in Bestinnnungcn des B.G.B, teils in solchen
des Einführungsgesetzes dazu.
Im B.G.B, regelt § 1666 die Befugnis des Vormundschafts-
gerichtes, inbezug auf Kinder, die unter elterlicher Gewalt stehen,
§ 1838 inbezug auf bevormundete Kinder, erzieherische Anord-
Digitized by Google
462
GcMtzgebong: Preo&en.
nungen zu trctl'on. Xacli § 1838 ist diese Befugnis unbeschränkt,
sofern nicht dem N'ater oder der Mutter die Sorge für die Person
des Mündels zusteht. Wenn dies der Fall ist, so wird, ebenso wie
im § 1666 inbezug auf nicht bevormundete Kinder, die Befugnis
an die Konstatierun^ einer Gefahr für das Kind gebunden und zu-
gleich zu einer Pflicht erhoben. Wenn nämlich „das geistige oder
leibliche Wohl des Kindes dadurch gefährdet wird, dafs der Vater
das Recht der Sorge für die Person des Kindes milsbraucht, das
Kind vernachlässiL^t *oder sich eines ehrlosen oder unsitt-
lichen Verhaltens schuldig macht*, hat das \'ormund-
schaftsgericht die zur Abweiulung der Gefahr erlorderlichen MaU-
n\L;tln zu treffen. Das \'ormuiu]>chaftsgericht kann insbesondere
anordnen , dals da<; Kind zum Zwecke der Erziehung in einer ge-
eigneten Pamilie oder in einer Erziciiungsanstalt oder in einer
Besserungsanstalt untergei)racht wird." Dieselbe Befugnis inbezu<j
aui Mündel tritt in i: i!^3S als besondere Anwendung der allgemeinen
Pflicht des Vorinuiidstdiaftsgerichtes zur „Fürsorge und Aufsicht"
über geführte Vornuuidschaften auf.
Das Wort Zwangserziehung" konmU im B.G.B, selber nicht
vor. (In der That fehlt dem Vormundschaftsrichter, wie ein Er-
kenntnis des Reichsgerichts festgestellt hat. die unmiliclbare Zwangs-
gewalt.) Dagegen bestimmt das K i n f u Ii i u n g s g e s e tz zum
B.G.B, in seinem Art. 1 3 5 : „U n berührt bleiben die landes-
gesetzlichen X'orschriften über die Zwangserziehung Minderjähriger.
Die Zwangserziehung ist jedoch, unbeschadet der Vorschriften der
^§ 55' 56 des Stra%esetzbuchs nur zulässig, wenn sie von dem
Vormundschaftsgericht angeordnet wird. Die Anordnung kann,
aufs er den Fällen der §§ 1666, 1S38 des B.G.B. nur erfolgen,
wenn die Zwangserziehung zur Verhütung des völligen sittlichen
Verderbens notwendig ist"
Der hier gezogenen Richtlinie will nun der preufeiscbe Gesetz*
entwurf folgen. Auch früher, ja früher — nämlich ehe es ein
Reichs-Privatrecht, einschlielsend Vormundschaftsrecht, gab — auf
minderbedingte Weise, stand den Lande^esetzgebungen zu, diese
Materie zu ordnen, und sie haben es nach verschiedenen Prinzipien
' I Ks gehört zu ilcn technist hen Schönlieitci» <les B f r.H., <lit* selbst den g^"-
schulten Juriistenkopf zu cnnüdcn jjocigm-t sind, duls hier ülu rall wo etwas aus-
scliliefslich dem Vortnundschaiisgcricht zugewiesen wird, dies doch dahin ventiodeil
werden mufs, dafs die Landesfresette eine besondere Verwaltungsbchtitde an
dessen Stelle setzen können (Einflfhrungsgesetx Art. 147V
Digitized by Google
Fcrdinanü Tunnics, Die Erweiterung der Zwangserziehung.
gethan, nämlich teils, wie die preußische') in der eingeschränkten
Weise, dafs die R^elung nur als Ausführung von § 55 des Str.G.B.
sich darstellt, also an die sonst strafbare Handlung des Kindes ge-
knüpft bleibt; teils in der ausgedehnten Weise, wie es nunmehr durch
das Eiafuhningsgesetz ausdrücklich, wenn auch mit Limitierung,
freigegeben wird. Der vorliegende Entwurf will nun fiir Preu(sen
einmal (l) |,die Durchführung der vormundschaftlichen
Zwangserziehung in allen Fällen, wo sie sonst aus Mangel an mate«
riellen Mitteln unterbleiben mufste, sicherstellen";^ er will aber
zugleich, indem er Zwangserziehung überhaupt aus „die Erziehung . . .
Minderjähriger unter öffentlicher Aufisicht und auf öffentliche Kosten"
definiert (§ l) diese Art (die vormundschaftliche) an die „materielle
Bedingung" knüpfen, dais sie „als erforderlich" befunden werde „um
die sittliche Verwahrlosung des Minderjährigen zu \ erliüten" (§ 2, I
S. Begr. S. 13). Er will sodann (2) die geltenden Bestimmungen
über Zwangserziehung strafunmündiger Delinquenten in sich auf-
nehmen „mit Beseitigung der unteren Altersgrenze"; hier heilst es
wiederum, wie in dem bestehenden Gesetze ,wenn die Zwangs-
erziehung mit Rücksicht auf die Beschaffenheit der Handlung, die
Persönliciikeit der Eltern oder sonstigen firzieher und die übrigen
Lebensverhältnisse zur Verhütung weiterer sittlicher V^erwahrlosung
des Minderjährigen erforderlich ist." Kr will endlich, (3) von der.
Anweisung des 1 lafülirungsgesctzes (lebrauch machend, die Mafs-
regel auch dann zur Cieltung bringen, wenn aufs er den Fällen
ad 1 und 2 die Zwangserziehung „wegen rnzulänglichkcit der
erziehlichen Einwirkung der Ellern oder sonstigen Erzieher oder
der Schule zur Verhütung des völligen sitlliclica Verderbens not-
wendig ist".
In allen 3 Fällen oder Gruppen \on Italien handelt es sich
also um Verhütung: es ist aus keinem der Ge>etzc oder ihren
Begrüiuhnigen irgendwie ersichtlich, welchen Unterschied ihre Ur-
heber zwischen „sittlicher Verwahrlosung", „weiterer sitUicher \'er-
^) Soweit ab d» AUgemeine Landrecht galt, hatte fieilieh aufserdem das vor'
mundschafUiche Gericht ganz aUgemfin die Oblicgenheiti sidi T«rw:ihr1(^st> r Kinder
„von Amtswcßt-n'" un/unchmcn, wenn dir Eltern sie grausam mifshandeln, oder zum
Bosen \< rl'iu-n, »di r ihnen d>m nnt<lnrtti^'<n l iitcrhult versn*;cn*' 'A.L.R. II, 2 J; 90)
und war bcrochtigt solchen Eltern uie lir-iehung /.u nehmen, treilirh nur .,auf deren
Koiklen" sie in andere Hände zu geben ; ähnliche!» galt in anderen (JesetzbUchem.
^) .So drückt sich die Begründung aus b. 13. Ich halte zwar diese Au-sdrücke
filr jorutisdi iingcnaii, lasse sie aber auf sidi beruhen.
Digitized by Google
464
Gesetzgebung; PreofMn.
walirltjsiiUj^" iiihl „vulH^Liu sittlichem X'cnii i bcn" inarlien , wenn
aber bei dieser Manni<:,'fachlicit der Ausdrücke ire^end etwas fjed.icht
wortkii ist, so inufs es darin um das Schlimme, das Schlimmere
und das Schlimmste sich handeln, so dafs, wenn die Gefahr ersten
Grades besteht, erst bei schuldhaftem Verhalten der Erzieher (kraft
re>,'ulärer Obervormundschaft); wenn aber die Gefahr dritten
Grades vorliegt, schon bei ungünstigen Verhältnbsen diese „cin-
schneidendste Mafsrcgcl" (Begr. S. 13) verhängt werden darf resp.
soll. Der Fall eines die Verwahrlostheit zur Erscheinung bringenden
Delikts würde dann die mittlere (refahr "bezeichnen.
Für alle Falle ist mithin die Aufgabe gestellt, die Ge&hr zu
erkennen und Vorkehrungen gegen sie zu treffen. Eine höchst be-
deutende Aufgabe! Und eine höchst bedeutende Machtbefugnis —
die wer damit empfangt? Der königlich preulsische Amtsrichter.
Und wer hilft ihm zu jener wichtigen und folgenschweren Erkennt-
nis? »Das Vormundschaftsgericht beschliefst von Amtswegen oder
auf Antrag. Zur Stellung des Antrages ist der Landrat, in Stadt*
kreisen der Magistrat und der Vorstand der Königlichen Polizei-
Verwaltung berechtigt und verpflichtet. Vor der Beschlufs£i8sung soll
das Vormundschaftsgericht, soweit dies ohne erhebliche Schwierig-
keit geschehen kann, die Eltern, den gesetzlichen Vertreter des
' Minderjährigen, und in allen Fällen den Gemeindevorstand, den zu-
standigen Geistlichen und den Leiter oder Lehrer der Schule, welche
der Minderjäh ritje besucht oder zuletzt besucht hat, hören. Auch
hat, wenn die ßcschlufsfassung nicht auf Antrag erfolgt, das Vor-
mundschaftsgericht zuvor dem L^ndrate etc. unter Mitteilung der
Akten Gele;^'cnlicit zu einer Aeufscrung zu geben. . . . Gegen den
Beschlufs findet die sofortige Beschwerde statt. Die Beschwerde
hat aufscliicbcnde Wirkung": § 4 des Entwurfes. Nach geltendem
Rechte (in Preufsen) bestehen ähnliche Kautelen; aber als zur
Stellung des Antrages berechtigt ist keine besondere Kategorie von
Personen ausgezeichnet; die Staatsanwaltschaft aber ist ver-
pflichtet, von den „strafbaren I landiunt^n ti" 6 -12 jähriger Kinder,
die zu ihrer Kenntnis gekommen sind, Mitteilung an das Vormund-
schaftsgericiit zu maclien.
Ks flarf nun vielleiclit mit Grund erwartet werden, dafs —
weniL,slcns einstweilen -— in I'reulsen, wie in anderen Bundesstaaten,
wo schon ähnliches Recht besteht, Polizei und Gericht von diesen
sehr weitgchcnflcn Befugnis-^en, die so tief in die elementaren Ikstand-
teile des Privatrechts hineingreifen, einen diskreten, gewissenhaften
•
Digitized by Google
Ferdinand Tönnics, Die Erweiterung der Zwangsertiehung.
und vorsichtigen (icbrauch machen werden. Diese Krwartuntj kann
aber nicht davon abhalten, mit aller Schärfe darauf hinzuweisen,
welche neue Gefahren des Mi fs braue hs der Amtsgewalt hier
vor unseren Augen emporwachsen.
Gegen den Grandgedanken des Gesetzentwurfs , dafs man
Kinder» die in einer offenbar demoralisierenden Umgebung leben,
von Staatsw^^n und eventuell auf Staatskosten in eine bessere Um-
gebung bringen solle, wird nicht leicht ein bedeutender Einwand
sich geltend machen; auch darüber, dals zwar die Begehung mancher
strafbarer Handlungen, ünd die Art solcher Tbaten, einen guten
Erkenntnisgrund för das Vorhandensein solcher Gefahr, aber keines-
wegs den einzigen möglichen Erkenntnisgrund dafür al^be, dürfte
ziemlich allgemeines Einverständnis herrschen.
Was aber starken und entschiedenen Einspruch herausfordert,
ist die leichte, oberflächliche, äufserliche Art, in der sowohl im
RG.B., wie in diesem Gesetzentwurfe, ein so schwerwiegendes
sozaalethisches Firoblem behandelt und — keineswegs gelöst wird.
„Das EG.B. hat den Vormundschaftsrichter mit weitgehenden Be-
fugnissen ausgestattet; es hat ihn zum gesetzlichen Fürsorger und
Beschützer der ^finderjährigen gemacht und ihn zu dem tie&ten
Eingreifen in die elterliche und vormundschaftiirhe Gewalt zum
Schutze des Minderjährigen berechtigt und verpflichtet" so hei(st
es in der Begründung dieses Entwurfes S. 13. Ist denn aber auch
der durchschnittliche Vormundschaftsrichter zur Ausübung so tief*
gehender Befugnisse innerlich berufen, kann er den Befähigungs-
nachweis dafür bringen? macht ihn seine normale Thatigkeitr
die Entscheidung von Bagatellprozessen, macht ihn auch nur seine
aufserordentliche Thätigkcit, die Ueberwachung von vormundschaft-
lichen \' e r m öge 11 s V e r w a 1 1 u n ge n , sonderlich ^^a^cignct und ge-
schickt, jene seelsorgcrische Thätigkeit mit der hohen Ein-
sicht in die Thatsachen und Bedürfnisse des V^olkslebens, in die
Psychologie des Kindes, auszuüben, die dafür erforderlich ist?
Ist das, was wir über das Vorleben des jungen Juriston erfahren, ist
die ganze Art seiner Vorbildung, seil )St wenn er a u s n a h m s w eise
mit erheblichem Eifer und Fleifs ihr obliegen sollte, danach an-
getan, ein solches V^ertrauen in uns zu erwecken? Diese hragcn
situl von tlen Verfassern des H.Ci.B. ohne Zweifel nicht aufgeworfen
worden; sie waren ja selber Juristen, die es verfafsten, und durch
den Reichstag ist aus unruiinilich bekannten Gründen der Ent-
wurf des B.G.B. nur hindurchgejagt worden. Wer aber des
Digitized by Google
466
Geset^boag: pKnfsen.
Volkswohles sich annehmen will, darf an diesen Fragen nicht vor-
beij^elicn, wie unliebsam, wie unbequem sie auch erscheinen motten.
Ich habe persönlich, obgleich ich alle jene Fragen mehr oder minder
scharf verneinen mufs, gleichwohl von einem recht grofsen Teile
des deutschen Kiciiterstandes eine hohe Meinung; ich h^e auch zu
diesem Teile das volle Vertrauen, dafs sie der moralisch eo
O b e r V o r tn u n d s c h a f t in allen Stücken gewachsen sind ; allerdings
behaupte ich , dals d a m i t ihre Kigcnschaft als Richter sehr
wenig zu thun hat, dals diese befriedigende Thatsache vielmehr
allgemeiii-nicnschlichcn Qualitäten verdankt wird, die sie durch
Herkunft, Lrzieiiung, I.cbcnsrdlcr und durch die geachtete Lebens-
stellung des höheren Beamten besitzen. Ich leugne aber ganz und
gar, dafs für den D u r c h s c h n i 1 1 der oft sehr jugeiidliciicn Kin/.cl-
richter und sie vertretenden Assessoren irgendwelche Garantien
moralisciur Art gegeben sind, die für den unzweifclhafien Mangel
einer psychologischen, .s( )/,ial\vissenschaftlichen, piiilosopliisclien \'or-
bildung und ZurUstung entschädigen könnten, welcher Mangel ^c-
rade/u aU für den jungen Juristen charakteristisch bezeichnet werden
darf. Ich sehe dabei ganz ab von der nicht unerhebliciien Menge
solcher Herren, die ihrer ganzen rersönlichkeit und Qualifikation
n.icli unter diesem Durchschnitte stehen, die durch moralische
NiaisLrie, wo nicht gar durch hrivolil-U und Liederlichkeit sich in
auft'allender Weise bemerklich machen. ,,Ks giebt räudi'je .Schafe
in jedem Stalle". Gewils; aber man darf getrost sagen, dals in einer
SO aristokratischen, hochbegünstigten Berufsgruppe, w ie die Juristen
darstellen, die sogenannten aristokratischen Laster und die ebenso
pseudo-aristokratische Blasiertheit, zum mindesten aber der ethische
Indififerentismus und Stumpfsinn naturgemäß viel stärker vertreten
sind, als etwa in der an wissenschaftlicher Bildung zumeist über-
legenen, aber weit minder begünstigten Berufsgruppe der höheren
Lehrer oder gar in dem immer noch volkstümlichsten gelehrten
Stande, dem der Geistlichen.
Von den intellektuellen Vorzügen oder Mängeln der Richter
haben wir damit noch garnicht einmal reden wollen. „Es ist hier
nicht der Ort zu untersuchen, ob das Ansehen der Rechtspflege und
die Autorität der Gerichte in der letzten Zeit die vielfach behaup-
tete Verminderung in der That erfahren haben; zweifellos aber sind
manche der dahin gehenden Behauptungen gerade durch einzelne
unberechtigter Weise verallgemeinerte Fälle hervorgerufen, in denen
Ungeschicktheit, Taktlosigkeit und mangelnde Reife der Erfabning
Digitizedby Google
Fcrüiuand TuDuics, Die Erweiterung der Zwangserzicbuog.
bei Richtern zu Entscheidungen, welche dem öffentlichen Rechts*
geiiihl nicht entsprachen oder zu ungerechtfertigter Belästigung der
Rechtsuchenden gefiihrt haben." So heiist es in einem ofiizieHen
Aktenstücke des preulsischen Justizministeriums aus dem Jahre 1S96.')
Und in der Rede, womit der Justizminister den Gesetzentwurf ein*
führte, den diese Worte mitbegründen sollten, bekl^ er die un-
günstige Lage, in der sich die Justizverwaltung dadurch befinde, -
„dafs das beste Material (aus dem Vorbereitungsdienst) zu einem er-
heblichen Teile zu anderen Verwaltungen, zu anderen Verwendungen
über<^'cht, während das weniger hervorragende Material der Justiz
verbleibt" ') L'nd in der Beratiini; nannte der konservative Ab-
geordnete Schettler die Justiz „die Ablagerungsstelle aller der-
jenigen Elemente, die in anderen V^erwaltungsstellen nicht unter-
kommen können" und wollte „eines festhalten, dais wir den Richter-
stand etwas purifizieren müssen von den Elementen, die heute schon
hineingekommen sind und — ich spreche es als Richter ruhig offen
aus — überhaupt nicht hineingehören." Und derselbe Redner liefs
sich des weiteren aus über die Ursachen des Umstandcs, dafs die
Kritik sich immer rückhaltloser an die richterlichen Erkenntnisse
heranmache und des anderen Umstandcs, dafs die Furcht, von dem
kleinen Manne bis zum I löchst^^cstellten, so weit verbreitet sei, aufs
Cicricht zu ^ahcn . . . er fand <!ic Ursachen dieser Erscheinungen
in den Oualitäton und in der Art des Auftretens der Richter. Der
ParaL,'raph, tür den dieser Abgeordnete mit dem Justizminister ein-
trat, ist nicht Gesetz geworden, die Puritizierung des Richterstandes
hat nicht stattgefunden.- Und nun vergleiche man einmal die hier
teils implicierte, teils offen ausge>[.>rochene Charakteristik eines Teils
des Richterstandes mit denitieiste des vorliegenden ( iesetzentwurfs,
liei nit ht nur, wie schon das B.li.H., den .XmtMichter zumSitten-
riciiter macht (er hat über ehrloses oder inisiulh lu > Verhalten
v* <\\ X'ati rii und .MüUt iii zu befinden), sondern ihm dir Macht giebt
zu bewirken, dals selbst das — vielleicht nuilwillig-zu^cllose, oder
aber schwachsinnige — Kind „guter Leute", d. h. solcher, an denen
der Sittenrichter keinen Makel finden kann, gegen deren
Wunsch und Willen, in die Gesellschaft von Kindern, die sich
schwerer Verbrechen schuldig gemacht haben, einer sogenannten
') Anlagen zu den Sicno^^r.iph. Herichtcn über die Verhandlungen des llau:>es
der Abgeordneten 1896. Nr. 9b (III S. 1695).
'} VerhMidluDg des Hawei der Abgeordneten 1896 (II S. 1482).
Digitized by Google
468
Gesetzgebung : I'reufscn.
Besserungsanstalt überliefert wird; mit anderen Worten ein solches
Kind zur Zwangserziehung zu verurteilen, wie die landläufige
Rede lautet, wodurch diese bestehende Zwangserziehung ihrem Nameo
gemäls bezeichnet wird als das, was sie zum Teile auch ihrem
Wesen nach ist: eine Art des Strafvollzuges, ein Kinder-Zucht-
haus.')
Bei dieser Kritik haben wir von den erweiterten Beü^nntssea,
die der Polizei verliehen werden sollen, noch völlig abgesehen,
auch ist es niclit nötv^, darauf einzugehen; denn das liegt allzusehr
auf der Hand, dafs die königlichen Landräte und die köni^lichea
Polizeipräsidenten bei ihren Anträgen sich nicht ausschliefslich voo
staatspädagogischen Gesichtspunkten werden leiten lassen;
vielmehr liegen di« sc fast gänzlich aufserhalb ihrer Sphäre. Viel
eher würde ich solche Gesichtspunkte und eine in dieser Beziehung
strengsachliche Denkungsart etwa von den Kreisphysicis oder
anderen Aerzten erwarten, die zumeist eine persönliche An-
schauung und Kenntnis, sehr oft ein lebendiges Verständnis der
sittlichen und sozialen Zustände besitzen und nicht wie jene hohen
V^erwaltungsbeamten , auf die nicht selten in charakleristisoher
Pseudngraphic gesclirichciicii l^crichtc der Herren ( Jftizianten und
Gensdarnie aiiL^^ewiescn sintl, und sich daran >^fenügen lassen.
Aber die i^anzc Wucht des Unwillens uiul der Kritik muls sich
nicht ^v^cn die etwanige Beschaffenheit der Hehördcii richten, Herrn
M.iclitbcfugnis hier erweitert werden soll, sondern jgegen die Sache
selbst, gegen den Begriff der Z wa ngserzi e h vi n g. Den Be-
griff, nicht blofs den Xamen, der allerdings für diesen Be;::riff be-
zeichnend ist, wenn auch sein eigentlicher Sinn ein anderer sein
soll. Der Begriff der Zwangserziehung, der tliatsächlich iin Volks-
bcwulstscin lebendig ist, und der auch durch den l instand, dals
nur noch der V'orniundschaftürichter soll auf Zwangserziehung er*
') „Denn das versteht sieb gux von selbstt dafs dieBengcIsin den ZwsBp-
en^bungsanstalten die so beilsam wiikenden Prflgd bekommen" : Freth«r t. IbotealTd
bei Beratung dieses Gesetsentwnrfs, am ii. Jannar 1900, im prealsiKlieD
Herrenhause. Im stenogr. Berichte folgt dannf« scbr charakteristischer Weise: (..Sehr
richtig! Heiterkeit.")' — Die hcitt-rcn Herren hatten schon vergessen, dsf*
(l. rsrlben Sitzung der Minister des Innern Kindern ihres .Stand'"'*. '^'^^
\'\]':^tTn nobelster russionen, die Zwangserziehung, als Heilmittel gegen <5ie-'''
l'as<iionen, in Aussicht gestellt hatte. Dieselben Herren haben, in der 2. Lesung
(38. März 1900) den aller .^cheu spottenden Beschlul« gefafsl, solche Rinder UM
Vagabunden nnd Prostituierten in — Korrigendenanstalten Atsamnen sn sperren.
Digitized by Goog
Ferdinand Töniiies, Die Erweitening der Zwangserziehung.
kennen köiirtcn , in seinem Wesen nicht verändert wird, ist eben
der einer Strafe: und zwar einer Botralun^ nicht des etwanigen
ehrlosen oder unsittlichen Erziehers, sondern des verwahrlosten
oder der (lefahr ausgesetzten Kindes selber.
In der Begründung des vorlaufigen Entwurfes wird zugestanden :
dafs die im bestdienden Gesetze vorgesehene Zwangserziehung
„mehr unter dem Gesichtspunkte einer strafrechtlichen als einer
erziehlichen Malsregel aufgefalst wurde" (§ 14); darin, und weil
nach gemeinem Recht der infans nicht als strafbar galt, habe es
gelegen, dafs bisher mit dem 6. Lebensjahre eine untere Alters-
grenze gezogen war. Diese wird nunmehr in dem Absätze
des Entwurfes, der dem geltenden Gesetze entspricht, beseitigt;
nicht beseitigt wird darin, dals die Begehung einer strafbaren
Handlung eine der Veranlassungen zur Zwangserziehung geben
soll. Es wird also in dem Entwürfe unterstellt, dafs auch infantes
dafs selbst Säuglinge strafbare Handlungen begehen können: gewils-
lich eine Errungenschaft modernster Gesetzgebungskunst l — Dafs
„die Verwahrlosung eines Kindes sehr häufig schon vor dem
6. Jahre beginnt, zuerst die leibliche und geistige, aus der dann die
sittliche erwächst" (Begr. S. 14) wird kein Kundiger leugnen; für die
Erkenntnis dieser leiblichen und geistigen Verwahrlosung wird aber
die Thatsache, dafs ein 4 — 5 jähriges Kind etwas thut, was sonst
eine strafbare Handlung heifst, ziemlich gleichgültig sein; wenn
z. B. ein derber Junge mit einem Altersgenossen sich prügelt und
dem einige Kratzwunden beibringt; oder wenn ein solches Kind
als Zeitungsträger „erwerbsthätig" ist und bei der Gelegenheit eine
Schrippe aus dem Brotbeutel „stiehlt". Aus der Erwerbsthätigkeit,
aber nicht aus der Entwendung, wird man auf Verwahrlosung
schliefsen dürfen; vielleicht auch auf Verwahrlosung der Poli/ei, die
diese Erwerbsthätigkeit duldet, die so manches Unschuldige nicht
duldet. Wenn aber in der Begründung (a. a. O.) hinzugesetzt wirtl
(als „richtiger Gedanke";, ».dafs dieser V'erwahrlosung nur dann
erfolgreich entgegengetreten werden kann , wenn das Kind recht-
zeitig in Zwangserziehung '^^cnnmmen wird", so fliegt tlamit ein
Postulat wie aus der Pistole , dem wir mit aller Schärfe wider-
sprechen müssen. Einmal sind die , .Erfolge" der Zwangserziehung,
zumal der in Anstallen vollzogenen, oft sehr zweifelhafter Natur;
manche dieser Anstalten sind Schulen spezilisclier kindlicher leisten
Und sicherlich wird ein strenges und durchgeführtes Verbot aller
Kinderarbeit i>ehr viel nützlicher sein und nicht blols dem zufalliger-
Digitized by Google
470
GesetzgeboDg: Preo(sea.
weise in lMM"hciniin'^ getretenen ein/eliicn l alle, >ondcrn der Kinder«
Verwüstung' j:,'cncrcll entgegenwirken, die so wesentlich auf das
Conto des heutigen gewerblichen Lebens fallt. In Charlottenburij
hatten •) von 1026 Kindern 10 im Alter von 4 und 5 Jahren ihre
lirwerbsthätigkeit begonnen; wenn man sie in Zwangserziehung
genommen hätte, so wären vermutlich 10 andere an ihre Stelle ge-
treten 1 — Es ist aber ferner wie durch ein Vergrofserungsglas sicht>
bar, dafs jede Erhöhung der Ix>hnsatze, und ganz besonders die
Erhöhung jeder Art von Frauenlöhnen und die Verkürzungen der
Arbeitstage in unvergleichlich viel intensiverer Weise sur Verhütung
„leiblicher und geistiger Verwahrlosung" armer Kinder wirken mu(s,
als alle hochnotpeinlichen Aktionen der Herren Amtsrichter gegen
ein armes Kind, das der Herr Landrat oder der Herr Polizeiinspektor
wegen einer „strafbaren Handlung" angezeigt hat Wenn also der
preufsischen Regierung es so bitterlich ernst darum ist, der Ver*
wahrlosung von Kindern entgegenzuarbeiten ~ wohlan ! fordere sie
mit allen Mitteln, neinl entferne sie nur alle Hemmnisse einer
erfolgreichen Selbstorganisation der Arbeit, insonders der weiblicheD
Arbeit! Die Regierungen wissen, daCs Erziehung Geld kostet:
aus zahlreichen offiziellen Schriftstücken wird man ihnen nachweisen
können, dafs sie es wissen — oder gilt ihnen der Satz etwa nur
für Beamte und Bedienstete ^ während in der Arbeiterklasse Kr-
Ziehung oder V^erwahrlosung eine „rein sittliche Frage" wäre.'I
Aber ausdrücklich wird in der vorliegenden „Begründung" anerkannt,
dafs aus der leiblichen und geistigen Verwahrlosung „dann die sittliche
erwächst". Für wissenschaftlich denkende Menschen folgt daraus^
dafs man , um der sittlichen X'erwahrlosung erfolgreich entg^n-
zutreten, den Ursachen der leiblichen und geistigen Verwahr-
losung nachforschen und an diesen die Kur beginnen mufs. Jeder
praktische Arzt weils, dafs bei verwahrlosten Kindern sehr oft in
chronisch leeren Mägen oder in überreiztem Nerven- und Muskel
gcwcbe dci Sitz des Uebcls steckt. Soweit aber als Schuld der
Kit er n vorhanden ist, wollen wir auch den ungemein hohen
Wert nicht verkennen, den eine rem moralische Bcwegun^^, wie
die des Ck >nd rem})lar-Ordens, fin- das häusliche Leben, und also
für Erziehung der Kinder, gewinnen kann.
'1 Niii h einer trlit bunfj .-Xjjahd^, siehr* dessen veriüenstv 1! ■ Arbeit ,.üu- Er-
werbsth.Hti^keit sdiulpiliohtincr Kinder im Deutschen Reich*', Archiv fiir sox. Gesf»-
gebuQg etc. Ud. Xli S. 401.
Digitized by Google
Ferdinand Tönnies, Die Erweitcning der Zwangseniehmig.
In der That wird sicli Iciclit der Beweis fuhren lassen, dafs die
guten Erfolge sogenannter Zwangserziehung in a m i 1 i e n , /umal
auf dein Lande, /um guten Teile an normal- oder sogar gut-gearteten
Kindern, von denen ein kleinerer Teil auch normal- oder sogar gut-
geartete Eltern hat oder hatte, erzielt werden. Wenn diese Er*
Ziehung durch lebende und im geeigneten Alter stehende Pflege-
eltern Ktndem zu TeO wird, die sonst ganz- oder halbverwaist waren,
oder als uneheliche von der Mutter allein oder von hätschelnden
Grofseltem erzogen wurden, so lafet sich immer präsumieren, da&
diese Art der Waisen pflege — denn um nichts anderes handelt
es sich da — wohlthätigc Folgen haben wird; um so mehr, wenn
solche Kinder aus der GroGsstadt in den Dorffrieden versetzt werden»
Nicht selten werden sich auch lasterhafte Neigungen so im Keime
ersticken lassen, wenn auch dies gerade bei solchen Ne^ngen, die
spater zu Verbrechen föhren, ganz besonderen Schwierigkeiten
immer begegnen wird. Hingegen wirken grofsstadtische Um-
gebungen und Defektheit der Familie als ungünstige Faktoren zu-
sanmien, ganz abgesehen von der Beschaffenheit'der Erzieher,
abgesehen auch von der materiellen Not, die alle übrigen Wir-
kungen verschlimmert; abgesehen endlich von individuellen Anlagen
des Kindes, die fiir dessen Entwicklung, gerade in sittlicher Hin-
sicht, doch zuletzt eine entscheidende Bedeutui^r haben. Wenn man
also, in einem gegebenen Falle, diese 3 inneren Faktoren — dazu
gehört auch die Xot als Element des Familienlebens — sämtlich
oder doch ihre Kombination, als pemiciös erkennt, dann wird man
unter allen Umständen jene äufseren Faktoren dissociieren
müssen; und dies kann dadurch geschehen, dafs man die ganze
Familie oder dafs man das Kind allein in eine günstigere Um-
gebung bringt ; jenes wird angezeigter sein, wenn die Anlagen des
Kindes schlecht, die Beschaffenheit des oder der P"rziehcr relativ
gut, dieses angezeigter, wenn d^Ls entgegengesetzte X'erhältnis an-
getroffen wird. Ist endlich die materielle Not allein oder doch
wesentlich die matfnn pii-mm, so wird im einzelnen Palle eine
richtig differenzierende Armcnptlege den Zustand verbessern können;
hingegen wird gerade dann — und der i 'rill wird besonders oft vor-
liegen, wo „strafbare Handlungen ', nämlich Bettelei oder einfacher
Dieb.stahl die W^ranlassung zum Einschreiten geben — die gewalt-
same und auf Jahre hinaus verhängte l.osreiLsung des Kindes aus
seiner Familie als eine unangemessen schwere, mithin ungerechte
Bestrafung des Kindes empfunden werden, unter der die Eltern
Digitized by Google
472
G«!setigebiiiig: Frenfsea.
moralisch mitleiden, selbst wenn sie materiell — wcnin^stcns für den
Augejiblick — entlastet werden. Die ökonomischen Zustände der
Arbeiterfamilie, zinnal in der breiten und tiefen Schicht der Un-
gelernten, sind rasciicn X'erändcrungen unterworfen; teils durch in-
divichialc teils durch soziale Ursachen, und durch die Komplikationen
beider, heben iiii l renken sie sich, mit ihnen rej^jelmäfsig die Wohl-^
fahrt der in ihr aufwachseiulen Kinder. Daher können Z. B. die
schlecht versorgten Kinder des Witwers, wenn der Mann in der
Lage ist, eine r)euc Khe einzugchen, mit einem Schlage sich der
besten Pflege erfieuen; denn es i^nebt auch liebevolle und pflicht-
^etrene Stiefmütter, Ks kann eine entsetzliche 1 lärte darin liegen,
wenn ein Kind, das die Haushälterin, weil der Mann nichts \er-
diente, vernachlässigt und etwa zum Betteln auso;e.schickt hat, als
verwahrlost /.ur Zwangserziehung verurieilt wird, obgleich der X'ater
wciLs, dais er binnen kurzem alle Lebensbedingun.'en des Kindes
hätte reformieren können. Der Kntwurf hat allerdings solche Fälle
vorgesehen, wenn er bestimmt (i? lO Abs. 2): „In Ausführung einer
eingeleiteten Zwangserziehung kann die Erziehung in der eigenen
Familie des Zöglings ... widerruflich atigeordnct werden." Aber
mit keinem Worte i.->t es l)egründet, warum nicht unter l'mständen
von Anfang an eine befristete Aufsicht über die häusliche Er-
ziehung genügen soll. In der Theorie uL)l das X'ornuuidschafts-
gericht nach dem B.G.B, eine solche Aufsicht fortwährend; es ist
sogar verpflichtet, die „zur Abwendung der Gefahr" für das geistige
oder leibliche Wohl des Kindes „erforderlichen Malsregeln zu treticn .
Was die Praxis daraus gestaltet, mrd die Er&hrung lehren. Die
ausgesprochene Tendenz des vorliegenden Entwurfes ist es, die
Zwangserziehung nidit mehr unter dem Gesichtspunkt einer straf-
rechtlichen sondern einer erziehlichen Malsregel aufzufassen. Die
Ma(sregel wird als Ausführung des Vormundsctiafbrechts im B.G3.
in rein sittlicher Absicht gedacht: es soU die sittliche Verwahrlosung,
die weitere sittliche Verwahrlosung, das völlige sittliche Verderben
verhütet werden. Die Meinung ist: wo die Gefahr am gröisten, da
soll der energische Eingriff erfolgen, auf extreme Fälle soll die
harte Mafsregel beschränkt bleiben. Die Au%abe ist damit gegeben :
solche Fälle richtig herauszufinden, und d. b., da die Verwahrlosung
. und sittliches Verderben immer in Beziehung zum Verbrechertum
gesetzt werden, die Brutstatten des Verbrechertums herauszufinden.
Die sichtbaren Brutstatten des Verbrechertums sind teils durch
Vererbung von Eigenschaften, teils durch direkte und indirekte
Dlgitized by Google
Ferdinand Tönnies, Die Erweiterung der Zwangserziehung.
Finfliissc, die I'amilieii und Wohnstatten von V'erbrechcrn, von
liederlichen Weibern, Zuhältern u. dgl. Es liefee sich der gene-
relle Satz aufstellen, dafs solche Familien zur Aufzucht von
Kindern schlechterdings untauglich sollen gehalten, dals ihre
Kinder vom 6. Lebensjahre ab Staats- oder Kommunalkinder sein
und heilsen sollen. Der B^riff der Zwangserziehung als einer
gegen delinquirende oder lasterhafte Kinder gerichteten Malsregel
würde völlig verschwinden; es würde sich um eine grundsatzliche
öflfentliche Pflegerztehung fiir eine bestimmte Kategorie von
Menschen handeln. Das Recht der Erziehung müfete der Straf-
richter unter genau zu bestimmenden Voraussetzungen als ein
„menschliches Ehrenrecht" aberkennen können. Auf der anderen
Seite wäre auch der undurchführbare Gesichtspunkt einer allen
unter ungünstigen Verhältnissen lebenden Kindern zu erweisenden
Wohlthat nicht der leitende Gesichtspunkt. Vielmehr würde die
reine Zweckbestimmung der Kriminal'Politik auf ihren eigenen
Fülsen stehen, darauf ausgehend, die Gesellschaft vor der Aus-
bildung von Verbrechern, soweit sie nachweislich die bezeichnete
Ursache hat, zu beschützen. Was soll aber dann, wenn die Gesell-
schaftsordnung bleibt, und nach wie vor Massenarmut hervorbringt,
aus den anderen Kindern werden, denen wir die Wohlthat der
Zwangserziehung erweisen wollen? — Ich sage: die Sorge fiir sie,
soweit ihnen überhaupt geholfen werden soll und kann, gehört
teils der Armen- teils der Waisenpflege an; mit beiden in organischer
Verbindung müfste aber — wenigstens in gröfseren Städten —
eine besondere Erziehungsbehörde') wirken und eine päda-
gogische Autorität in jeder Familie geltend machen können; diese
würde unter der Vormundschaftsbehördc, also wo und solange als
diese gerichtlich ist, unter dem Vorniundschaflsrichtcr stehen, aber
so sehr als möglich selbständig sich zu entwickeln berufen sein;
sie würde Zuchtstrafen zu verhäiicfon bcfus^t sein und damit oft
die häusliche l^rziehung unterstützen (xhr moderieren können; sie
würde auch den Antrag auf Entmündigung der Eltern, wenn sie
*) Den Keim einer solchen bat das B.G.B. von der prenfsiscben Vonmndscbafts*
Ordnung als die InstiUition des „Waiscnrats** ttbemomincn. Wenn dieser Kdm ent-
wickelt werden soll^ so verstcbt sich, dafs ans dem kommunalen Ehrenamt ein be-
soldetes und fachmifsig zu besetzendes Staatsamt oder doch ein den ßröfscrcn Sclbst-
v»*rwaltun{;-~knrp<*rn zu unterstellendes Amt gemacht werden müisfe. Ks ist bezeichnend
ftir diesen ( leset/eiitwurf. da Ts er die im bestehenden Gesetze cntbaltcnen Befugnisse
des Waisenrais einfach gestrichen hat.
Archiv für lof. Getcugebung u. StutistiK. XV« 3'
Digitized by Google
474
Gesetzgetnmg: Preofsen.
diese zu genügender Erziehung unfähig hält, stellen dürfen, und die
Entmündigung, (ur die, ebensowohl wie itir Sachen, bei denen es
sich um gröfseren Geldwert handelt, nur Landgerichte zustan*
dig sein sollten, wäre die notwendige priwitrechtliche X'oraiissctzung
jeder zwangsweisen Trennunj^ der Kinder von den Eltern ; diese
aber dürfte, von der Erziehungsbehörde aus, niemals anders als
in Form der V ersetzung in eine andere Familie ^^eschehen; während
die zwangsweise \'crset/uni; in lu/ielum^'s- oder Besserunp^s- ) A n-
Stalten nur stralrechtlich, auf drund bestimmter Delikte, daher
auf Grund ausdrücklicher strafgesetzlicher Androhung, ausfchliefs-
lieli ^PL:en strafmündige Minderjährige — nach gcltentlem
Rechte also über zvvölfjährijije, wenn dieses verbessert sein wird,
hoffentlich nur j^fep^en schulentlassene — ausj^esprochen werden
sollte. Will man diese Strafe „Zwani;serziehun<i" nennen, sei es;
es wirtl sicii auch nichts da^'e<^en einwenden lassen, dafs bestininitc
Para«;raphen des Strafgesetzbuches aussprechen : wer als Minderjähriger
solches und solches X'erbrcchen begeht, wirtl mit Zwan^^>>er/iehl^v.^
bestraft; eine Strafe wäre die FreiheitsberaubuiVc:; für Knaben wie
für erwaclisi'iio MtiKchen immer, und dafs sie mit dem Zwecke
der Krziehung oiler bes.serui^^ unmittelbar verbunden wird, würde
sie j^rinzipiell nicht einmal von anderen hreiheitsstrafen, nach (K r
Auffassung, die die^en thatsächlich — wenigstens theoretisch —
witlmet wird, unterscheiden; dieser Zweck wvirde aber hier, in der
Anwendung auf iut^u'ndlirlie Personen, weil mehr in den X'ordei-
grund treten, er würde den Stralvollzu|^^ beherrschen. Je mehr
aber ilie-^ der lall w*ne. desto eher liefsc >\ch eine län<;ere
Freiheit-„Strafe" rechllertigen ; hat tloch schon vor etwa lO Jahren ein
Reskript des i>reursischen Justizministers die (iericlite dazu ange-
halten, gegen Jugendliche Personen, um den Zweck der Besserung
eher zu erreichen, längere Gefängnis-Strafen auszusprechen,
als sonst der Fall erheischen würde: ein Etngrifif der Verwaltung
in die Justiz, der um so weniger erspriefslich war, da er an der
Beschaffenheit der Gefängnisse, die sie von Erziehungsanstalten zu
ihrem Nachteil unterscheidet, nicht das Mindeste zu ändern unter»
nahm. Was wir also in dieser Hinsicht fordern, ist die Errichtung
von besonderen Anstalten zum pädagogisch geregelten Vollzug von
Freiheitstrafen an jugendlichen Personen'); dieser bleibt aber, was
>) Wie oft, wie lange, wie dringend — und wie vergeblich ist dies« Forvierung
erhoben worden!
Digitized by Google
Ferdinand Tönnies, Die Erwcitening der Zwangseraebndg.
er der Xatur der Sache nach ist, eine An-^^^elcgcnheit der Straf-
Justiz; HcLTt also aufscrhalb dieses C Tcsctzentwurfs. dessen „Be-
gründuiit;" wir noch einer besonderen l'rüfuii^ unterwerfen müssen.
Die Begründung sagt (S. 8j das desetz vom 13. März 1878
habe sich nicht als ausreichend erwiesen, um der stetig wachsenden
Kriminalität, Verwahrlosung und Verrohung unter den Jugendlichen ')
zu wehren. Mithin ist die Meinung, ein neues Gesetz herzu-
stellen, das diese Aufgrabe erfüllen werde. Dafs ein Gesetz von
dieser Art solche Wirkui^en haben könne, wird also vorausge-
setzt. Man müfste nun erwarten : wenn eine ausgedehnte Zwa 1 1 gs
erziehung grofse Wirkungen in dieser Richtung haben soll, so
müfste eine eingeschränkte Zwangserziehung entsprechend
kleinere Wirkungen doch auch haben, also gehabt haben. Es
scheint aber die Meinung, der bestehenden eingeschränkten Zwangs-
. erziehung, der vom i. Oktober 1878 bis Ende März 1899 dreifsig-
tausendachthundertliinfundachtzig Kinder in Preulsen unterstellt
wurden — samtlich in dem frühen Alter von weniger als 12 Jahren
— dieser gar keine Wirkungen zuzuschreiben; oder sogar ihr un-
günstige Wirkungen nachzusagen. Das letzte würde nun freilich
den Sinn des ganzen Entwurfes aufheben; die üblen Thatsachen
werden daher insgesamt auf die ungenügende Ausdehnung der
Zwangserziehung geschoben : „indem man, so (ahrt die Begründung
fort, die verwahrlosten nicht verbrecherischen Jugendlichen unter
12 Jahren und die Verwahrlosten über 12 Jahren sich selbst über-
liefs und gegen dir Irt/tenn nur strafrechtlich einschritt, wenn sie
eine strafbare Handlung begangen hatten (ofifenbar ein g^nz ver-
alteter Grundsatz : nuUa pofna sine le^ie), * i s t d i e " K r i m in a 1 i tä t
der Jugendl ichen in einer die Gesellschaftsordnung
ernstlich bedrohenden Weise g e s t i 0 <^ n Dies zu er-
härten dient dann eine s t a t i s t i > c h c Ausführung.
,.Nnch der Reichskriniinalstatistik für i8(>6 (Stat. DR. N. P\ Bd.
95 I S. 2S ff. sind Verurteilungen Jugentllicher wegen Verbrechen
und Vergehen gegen Reiclisgesetze ergangen
iSS2 . . . 30697
1896 . . . 43962
*) In einer Staatsschrift sollte nicht ein Jargon angewandt werden: „die Jagend-
lichen** schlechthin ist kein Deutsch; es müfste mindesten!» heifscn: . Verrohung
jugendlicher (otl<«r unmUndifier) Personen. Man kann jenen abgckiir/t. n Aus.lrurk an-
wcmlrn, im Vorlauti- cinor F.rorterung, nachdem durch den Zusammenhang der Sinn
jeuskcits alles Zweifels gestellt worden.
3»*
Digitized by Google
476
Gesetzgebung : l'reuiüen.
das bedeutet eine Steigerung um 43,2 Prozent; im Jahre 1897 betrug
die Zahl 45 327, die Steigerung gegen 1882 47,3 Prozent. Eine vor-
läufige Ermittelung weist för das Jahr 1898 eine weitere Steigerung
auC') Aber nicht nur absolut ist die Steigerung, sondern auch
relativ im Verhältnis zur Bevölkerung. Auf lOOooo Jugendliche
im Alter von 12 bis 18 Jahren entfielen im Jahre 1882 568 Ver-
urteilungen, 1896 697, Steigerung 22 Prozent Diese Thatsache ist um
so bedenklicher, als das Anwachsen der Kriminalität bei den Er-
wachsenen in demselben Zeitraum absolut nur 34, relativ nur 16
Prozent betrug.
Die Kriminalität also — das ist der Sinn dieser Ausführung —
in der Bcf^renzun}:,^, die ihr die Kriminalstatistik des Deutschen
Reiches triebt, ist ein unniittclljarrr Ausdruck der sittlichen Zustände,
in dem \'erstande, dafs jede Vermehrung jener „KriminaUtät" eine
\'crschlechlcrun<^ der sittlichen Zustände bedeutet. Diese Meinung
ist durchaus falsch und vöW'ii^ unhaltbar.
Zunächst sind alle ,Uebertretungen' des Reichs-Straf^esetzbuches
aufser acht gelassen ; innerhalb dieser manifestiert sich aber die
gerade in moralstatistischcr Hinsicht aufserordentlich wichtige Vaga-
bondage, an der auch Personen unter iH Jahren erheblichen An-
teil haben. Es fehlen ferner alle Vcrt^ohen i^ef;cn Landesgesetze:
dazu gehören lihcr die für die s<>/ialcn Zustäiide auf dem Lande,
zumal in Gutsbezirken, überaus charakteristisciien heid- und Forst-
dicbstiihle; el)cnso wie diese, sind aber viele andere Diebstähle
moralisch \t)ii >ehr wenig gravierender Bedeutung, im Vergleiche
mit unzähligen unbestraft bleibenden Handlungen. Dagegen ist die
Kriminahtät der Reichsslatistik bedingt dureh die R c i c hsg e s e t z -
gebung, die immer neue Handlungen unter Strafe stellt; von
den 1896 verurteilten Personen wurden 9024 wegen X'ergehen gegen
Gesetze verurteilt, die 1S82 noch nicht in Geltung waren.'-) Für
die Steigerung überhaupt fallen diese freilich wenig ins (lewicht, und
für die jugendlichen hat die Differenz nocli weniger zu bedeuten ;
gleich. \ Iii darf sie nicht ohne Erwähnung l)leiben: exakte \'cr-
gleichuiig kann nur nach .Abzug dieser \'ergehen geschehen. \"on
den übrigen X'erurtcilungen haben die Bearbeiter der iclisstatistik
von je diejenigen wegen Verletzung der Wehrpflicht aus-
Die Zahl i>i 47 975 nach Vicrtcljahrsh. zur Statistik des Deutschen Reich»
1899 IV. 76.
*) Stat des D«utBchen Reichs, Neue Folge, Bd. 95 n 8.
Digitized by Google
Ferdinand Tönnies, Die Erweitening der Zwangsersiehnng.
L,'enoinnicn , wenn sie die Kiitwicklung der Kriminalität heleiicliten
wollten , neuerdings nimmt die im Reichsjiistizamt ausgearbeitete
i'-riäuterung auch die Vergehen gegen die (Tcwerhconlnimg hcrnus
(a. O. I 27), tiimmt dagegen auf den olu-n bezeichneten lüiitluls lu-ucr
Gesetze keine Rücksicht. Die so gewonnenen Ziticrn hat imscre
Hcgrüntlung sich angeeignet. In Wahrheit sagen sie in ihrer lie-
samtheit für die Kntwicklung wirkHch verbrecherischer Ten-
denzen nichts, denn die darin enthaltenen X'erurteilungen sind
^ so aufserordfiitlich verschiedener Bedeutung, dals sclion wenn
Ulf /uiiahnie etwa ganz auf die eine (die leichtere 1 Seite fiele, bei
gleichzeitiger Abnahme oder doch Beharrung auf der anderen (der
schwereren) Seite, die Gesamtzunahme keineswegs eine ungünstige,
sondern durciiaus eine günstige Entwicklung bezeichnen würde; so-
weit sie für eine solche Tendenz der Entwicklung überhaupt
beweiskräftig wäre. Dafs die ZitlVm so nebeneinander gestellt,
nichts bewei.sen, hat der \'erfas>(, r der Begründung nicht erk.iunt;
dafs sie für sich allein nicht genügen, hat er wenigstens empfunden.
Daher fährt er fort: „Auch die Art der strafbaren Handlungen, an
denen die Jugendlichen beteiligt sind, giebt zu den schwersten Be-
denken Antefs. Während die Zahl der Verurteilungen wegen IMeb-
stahls relativ in dtesem Zeiträume annähernd gldchgeblieben ist —
auf 100000 Jugendliche entfielen 344 im Jahre 1882, 340 im Jahre
1896, ^Abnahme i Prozent*^ — ist die Verhältniszahl der Ver-
urteilungen wegen gefährlicher Körperverletzung von 48 auf t02 —
Zunahme von 112,5 Prozent — gestiegen; die Verurteilungen wegen
Sachbeschädigung haben sich um 48 Prozent vermehrt, die Verur-
teilungen wegen Nötigung und Bedrohung verdreifacht."
Diese Angaben sollen erhärten» dafe das preufsische
Zwangserziehungsgesetz vom 13. März 1878 „sich nicht als
ausreichend erwiesen hat, um der stetig wachsenden Kriminalität,
Verwahrlosung und Verrohung unter den Jugendlichen zu wehren".
Worauf beziehen sich aber die Angaben? auf das gesamte
DeutscheReich! Eine seltsame Methode, in der That Sie würde
allein genügen, um den Wert der ganzen Begründung als zweifelhaft
erscheinen zu lassen, weil es aber um ein amtliches Schriftstück, das
den gesetzgebenden Körperscfaafiten vorgelegt wird, sich handelt,
widmen wir ihm noch weitere kritische Achtung. Man bemerke!
Der Gesetzentwurf ist dazu bestimmt, der Zwangserziehung in
Preufsen dieselbe Ausdehnung zu geben, die sie in anderen Bundes-
staaten schon hat. Dies wird ausdrücklich hervorgehoben S. 16,
Digitized by Google
^jrS G«s«tsgebiing : Preufsen.
wo die Fr.v^'c erörtert wird, wie .^rofs in Zukunft die Zahl der
prcuisischen Zwani^s/o^linj^e sein werde einen Anhalt dafür
bieten die in Raden, Klsafs Lothrin^jen und Hessen ;^emnrhtcn Er-
fahruni^en, * t! e r e ii seit et w a I o J a h r e n i n Wirk > a ni k e i t
s t e h e n fl e (ic setze der Zwangserziehung ungefähr
dieselbe Ausdehnung gcj^eben haben, wie im Ent-
würfe beabsichtigt wir d". • Von der ausgedehnten Zwangs
erziehung werden Wirkungen erwartet . welche die eingeschränkte
nicht gehaln iiabc. Die Wukuii;^eii werden an der Kriminalität
iugendliclier l'ersoncn gemessen. Nun fordert die Methcide der In
«.lukliun, d.ils die Wirkungen der eingeschränkten niii ilenen der
ausgedehnten Zwangserziehung verglichen werden. Die VMr«
kungen des j)reuisischen (iesetzes miissen in erster Linie i n Preufsen
beobachtet werden, und auch Länder wie Baden und Hessen äni
grok genug, um in dieser Beziehung für sich betrachtet zu werden,
zumal wenn sie als NachbaHänder, die in lebhaftem Bei'Ölkerungs
austauscK stehen , zusammengefafst werden. Die in der Be-
gründung vorgeführten Ziffern für das ganze Reich können uns
jedenfalls gar nichts helfen. Nun hat freilich die Messung der jugend-
lichen Kriminalität in den einzelnen Bundesstaaten und Landestetlen
ihre besonderen Schwierigkeiten. Die Entwicklung der entsprechen-
den Altersklassen in der Bevölkerung kann nur von einer Volkszählung
zur anderen verfolgt werden. „Nach den bei der 1890 er und 1895 er
Volkszählung gemachten Erfahrungen stellen sich gerade bezi^idi
des Anteiles der 12 ~i 8 jährigen an der Zusammensetzung der Be-
völkerung zeitweise ganz besonders erhebliche Verschiebungen
heraus, deren Wirkungen weder im voraus berücksichtigt, noch auch
nachträglich, selbst wenn wieder die Ergebnisse einer neuen Volks-
zählung vorliegen, in entsprechender Weise auf die einzelnen Be-
zirke verteilt werden können".') Das Statistische Amt will daher
fortan nicht nur von jeder Zerlegung nach Staaten etc. absehen,
sondern auch vor allen Dingen auf jede Vorausberechnung überhaupt
verzichten , wie solche bisher geschehen sind. Es will also die
früher berechneten Relativ-ZifTem nicht mehr vertreten. Ich glaube
nun freili' h. wenn man den sogenannten Ergebnissen der Kriminal
Statistik überhaupt mit der gehörigen Menge \ on Skepsis hegtet
und sie nur als Beiträge zur Erkenntnis der Wirklichkeit auffafst.
so sind selbst jene ungenau berechneten Relativ-Ziffern nicht ganz
') Sut. de« Deutschen Reichs. Neue Folge. Bd. 95 11 6.
Digitized by Google
Ferdinand Tdnnies, Die Erweitemog der ZwangsernelMUiK. ^-j^
ohne Wert. Die hier uns interessierende Vergleichung zwischen
verschiedenen Biuidosstaaten können wir wenigstens auf folgende
\\ < ist- riTistellen. Wir nehmen je 2 Jahre, die sich um je eine
Volkszählung (1885, 1890. 1895) <:iruppiercn; wir beziehen den Durch*
schnitt der wegen bestimmter V'erbrcchcn verurteilten jugendlichen
Personen auf die entsprechenden Altersklassen dieser Zählungen. Dabei
werden Baden und Hessen zusammengenommen (von Elsass- Lothringen
sehen wir wegen des licvölkerungsaustausrhes mit Frankreich ab).
Ich sage: wenn die Wirkungen der ausgedehnten Zwangserziehung
in der jugendlichen Kriminalität sich zeigen sollen , so mufs die
Fntwicklung dieser in Baden und Hessen wesentlich günstiger, als
in IVcurscn sich darstellen. Ks cr^'chen sich aber folgende 2Lahlen
für die in der Begründung angeführten Delikte:
in Prenfsen in Baden nnd
Verurt«Mltt* 12—18 Jahre alt:
Mittel der Jahre 1885 86 . . .
r<-l;Uiv nr gleichalterigen Zivilbe-
völkerung vom I. Dez. 1885
(auf Zehntausend)
Mittel der Jabre 1890/91 . . .
relativ zur gleichaltrrigen Zivilbe-
völkerung vom I r)fv.- 1890
(auf ZehntauM-ud)
Mittel der Jahre 1S9596. . . .
relativ zur fjleiohalterigcn Zivilbe-
völkerung vom 2. IV-z. 1895 ,
(auf Zchotauseiiü)
Man sieht (aus den Relativ-Ziffem): sowohl in Preulsen als in Baden
und Hessen hat zwischen 1885/86 und l89a^t eine erhebliche
Steigerung stattgefunden, die freUich in Preufsen stärker ist (34 Pro-
zent gegen 18 Prozent) und sich hier, wenn auch nur in geringem
Mafse, bis 95'96 fortgesetzt hat» während in Baden und Hessen eine
Abnahme sich bemerklich macht: dort eine Zunahme um 3,6, hier
eine Abnahme um 7 Prozent der jedesmal vorausgehenden Relativ-
Ziffer.
(Siehe die omstebende Tabelle.)
Man gewahrt, dafs in diesen 3 Delikten die Entwicklung in
Baden und Hessen, den Ländern der seit t886 resp. 887 erweiterten
Zwangserziehung, weit ungünstiger ist, als in Preufsen. Die
I. ni.h-itahl
(-- cinfaclur Dich-
ätahl, auch im wieder-
holten Rückfalle ; tmd
schwerer Diebstahl,
auch im wiederholten
Rückfalle).
Hessen
93«i5
«»4,5
•
•4*9
1172
33.4
30,«
13037
983.5
34.6
aS,3
Digitized by Google
GescU^cbimg : i'rcuf^cn.
in Prenfsen
in Baden n. Hessen
A
B
C
A
B
C
N'cnirtciltP 12 tns
LS Julir . . .
*oi6,5
974.5
S5f5
ai2
05.5
»i»5
■i9
tt —
0»7
9»7
Verurt«-iUc 12 bis
i8 Jahr . . .
2681
1389
H5.5
364
163
«7.5
Mittel i89o;9i
(auf Zehntausend)
r.o
0,3
«0.4
4.0
0,5
Vemrteilte labis
iS Jahr . . .
3489.5
195.5
455
«64.5
30,5
Mittel 189596
(auf Zehntansend)
9*0
4.3
O.S
13*1
4*7
0^
II. Getiihrliclio
Korper-
verletsung (A).
Sachbeschädi-
gnng (B).
Nötigung nnd
Bedrohung (Q.
Steigung von 1885 86 Iiis 189091 in A (gefährlicher Kor{)crvcr-
Ictzung, dem numerisch bc<lculcndston dieser Delikte i dort 55,
hier 18 Prozent, von 189001 bis 189596 dort 26, hier 28; die
mittlere Steigung also dort 40,5, hier 23 Prozent. P^benso die
mittlere Steigung ni H dort 36, hier 21,5; in C dort 63, hier 5S
Prozent.
Ich lege indessen wenig oder gar kein Gewicht auf diese Ver-
mehrung der Bagatellkriminalität. Dafs es um diese insbesondere
bei den angeführten Vergehen gegen die Person sich handelt, lehrt
deutlidi genug, die Betrachtung der Entwiddtingr die in den Straf*
erkenntnissen stattgehabt hat Wegen „gefahrlicher Körperverletzung^
wurden von je looo verurteilten Jugendlichen zu Gefängnisstrafen
verurteilt: im Jahre 1889: 705; dieser Anteil hat sich fortwährend
vermindert bis auf 536 im Jahre 1896, insbesondere haben ebenso die
Verurteilungen zu Gefängnisstrafen von 3 Monaten und darüber sich
stetig vermindert von 121 auf 109; dagegen hat in der gleichen Zeit
der Anteil der Geldstrafen von 247 auf 379, der des »»Verweises"
von 48 auf 85 zugenommen. Auf „Verweis" darf, nach Vorschrift
des Strafgesetzbuches, nur in „besonders leichten Fällen" er-
kannt werden. Diese Entwicklung (sie ist ähnlich beim einfachen
Diebstahl, bei Unterschlagung, und bei Beleidigung, wahrscheinlich
auch bei „Nötigung und Bedrohung" der Jugendlichen), ^) zusammen-
' I I'.s hatulolt sich hier um Bedrohung, also am blofsc Schimpfwort«, in cn. 85
Prozent der Fälle bei Ju^jendliehfn > ; mit Gefängnis bestraft wurden von 1000 im
J.ihrc 1896 wejjen beider Delikte VcrurteiiteD nur 559. Stat. des Deutschen Reichs«
.Neue Folge, Bd. 95, I. 53.
Digitized by Google
Ferdinand Tönnies, Die Erwciterang der Zwangserziebang. 481
;^a'stellt mit der ;^'kichmär^i}4 wachsende!! Zahl <lcr zur Abur-
teilung gclangciKlcn i'älle, läfst keinen antle!en Schlufs zu, als
clals fürt während die Zahl der leichtesten I'^ällc sich ver-
mehrt und zwar xerniutlicli nicht ihrer Uet;ehuni^, sondern der
Wriolgung. Freilich kann die Polizei — ii.sonderheit die
unserer (Tiolsstädle — bei wirklichen Verbrechen, und gerade
bei schweren \ irbrcchen , ebenso glänzentler Mrfolgc sich nicht
rühmen ; und dies zu erwarten , wäre unbillig. W as aber die ge-
lährliche Kurperxerlctzung bctritift, so hat schon eine L iitersuchun'^
des Jahres 1886 festgestellt, dals von den X'erurteilungen, die duich
preulsische < lerichte ausgesprochen waren, nur li,t Prozent wegen
einer Sirafthat, die mit einem Messer oder einer anderen eigentlichen
Waffe verübt wai', erfolgten; dagegen in 35,0 Prozent der Pälle war
die gemeinsame Ausübung das Merkmal der ( iefährlichkcit, die
Verletzung selber also auch im Sinne des Gesetzes eine leichte.
Ferner bt es völlig unrichtig, diese Rohetts-Delikte (um sie so
zu nennen) als charakteristich (lir eine verwahrloste d. h. der
normalen Erziehung entbehrende Jugend aufzu&ssen. Nur zu einem
geringen Teile, und am ehesten noch bei der Sachbeschädigung,
wird das zutreffen. Im allgemeinen aber gilt der Satz: die ver>
wahrloste Jugend ist schlecht genährt, skrophulös, schwächlich und
arm an Mut; die zu Schlägereien und dergleichen geneigte Jugend
ist im Gegenteil kräftig und dreist. Jene ist überwiegend ein
Produkt der GroGsstädte, diese hat ihren natürlichen Boden immer
auf dem Lande; wenn sie auch in Städten sich sehr bemerklich
macht, so zahle man einmal, wie viele dieser derben und üppigen
Jungen beiderseits landgeborene Eltern haben, oder sogar selber noch
auf dem Lande geboren sind; wie viele an der Mutter Brust, und
wie lange, genährt worden sind, u. dgl. m. Ueber die leichteren
') Stat. «Ifs Deutschen Reichs, N.ue Folge Bd. 30, II. 10: „Die Zunahme dieser
Delikte in «kn letzten Jahren wird (in den diese Nachweise li.-^li iliinlcn amtlichen
F-erichten) mit darauf /.uriickgelührt, ilaK <]\,- st rafverfolgrndi-ii l'.. h"r(ien immer mehr
auch auf «lie f;. riii^" r<'n Fälle ihr Auj^i timerk richten und >.ie zur Ainirtcilunfj bring'*n;
feroer wird ilaraut hingewiesen, dals der BegrilT des gefahrlichen Werkzeugs" bei
den Gerichten eine alliidttilich erweiterte Ausdehnung erfahren Iwbe'*. — „Diese Er*
wägungen — so resamiert rieh der Reichsstatistikcr — können dam dienen, den bc-
unrahisenden Eindruck, welchen die Hinfigkeit md die Zunahme der „geftbrlichen"
Körpcrrerletzong «n und ßtr rieh nudien mttssen, abcascbwichen". — Die geflhr*
liehen Körperverletzungen der studierenden Jugend kommen nur xa einem Ter*
schwindenden Teile vor den Strafrichter.
Digitized by Go .,1^
482
GeseUgebong : Preufscn.
Delikte (iic->< r Art ein I.amciitc» zu erheben, ist unweise; sie doku-
mentieren auch die norh vorhandene ui u iichsit^^e \"olkskraft, wenn
sie j^leieh solchen nahe >tclicn, die auf lirutalc Ni'i;^un^'en und wilde
Tcnipcramcnlc, und mit solchen sich berulnen, die auf Exzesse der
Trunkenheit sich zurückführen lassen , zu denen .solche Naturen
wiederum den gefahrlichsten Hang haben. In beiden Hinsichten,
einigermafsen wohl auch durch urwüchsige Volkskraft, zeichnen be-
kanntlich teils die polnischen Elemente in PreuTsen, teils die Ge>
birgsbcwohner und Bewohner der Weingegenden im ^idliclieo
Deutschland sich aus; von denen jene (die Polen) fortwährend in
hervorragender Weise, sowohl durch Mehrgeburten, als durch Mdw-
Zuwanderungen im Reiche, und speziell in Preulsen, sich vermehren.
Dafs durch diesen Umstand die moralisch bedenkliche Seite der
Sache bezeichnet und verstärkt wird, liegt auf der Hand; viellekfat
auch aufserdem durch zunehmenden Alkohotismus» indessen dürfte
sich dies schwerlich beweisen lassen. Gegen Vermehrung der
eigentlichen kriminellen Roheit möchte ich auch hier anfuhren
(wie ich es bei Gelegenheit der sogenannten Zuchthaus- Vorlage g^
than: Soz. Praxis 5. Nov. X899), dafs die Verurteilungen wegen
schwerer Körperverletzung und wegen Beteiligung an Schlägerei,
die Tod oder schwere Körperverletzung zur Folge hatte, nicht
gestiegen, relativ sogar stark zurückgegangen sind. Dies gflt ins-
besondere auch inPreufsen von der Beteiligung Jugendlicher: die
ZifTern für beide zusammen in den drei hier betrachteten Bieonial-
Mitteln sind 30, 26,5, 27; die Relativzahlen 0,09 — ofiJ^OflJ-
Anderes bleibt hier der Untersuchung offen. — Ganz anders ver-
hält es sich mit dem Diebstahl. Dieser ist in Wahrheit das charak-
teristische Delikt jugendlicher Delinquenten überhaupt, und insonders
der verwahrlosten Juj^cnd, wcnnj^leich es auch hier in der
grofsen Mehrheit der P'ällc um höchst unbedeutende Vergehungen
sich handelt. Dafs aber auf die Frequenz dieser Vergeh uneben herab-
mindernd wirken mufs, wenn man eine c^ro^se Anzahl von hidivi-
duen, von denen mit holier W ahrscheinlichkeit, unter gleichbleibenden
Umständen, solche erwartet werden, in Umstände bringt, wodurch
entweder die X'ersuchunj; stark herabgesetzt wird — friinstii,^cre
häusliche Unistände — oder soi;ar, wie in Anstaltverwahrung, di^
Freiheit des Handelns eingeschränkt wird, dies liegt auf der Hand,
und insofern muls immer die Zwangserziehung dämpfend aul d'^"
jugendliche, daher besonders auf die Dieh<tahls-Kriminalität wirken.
Die tliatsächliclie Verminderung dieser mag in der That aut jene,
Digitized by Gopg
Ferdinand Tönnies, Die Enrdtening der /wangseruehimg.
wenn auch schwerlich aul sie allein, zurückfiihrbar sein; und hier
könnte mit Ri eht die von mir ermittelte Differenz der Bewegung
in den \"erurleihmgen Jugendlicher /wischen Preufsen einerseits,
Haden und I I e-s.se n andererseits, wenn diese Hitlercnz auch nur l'C-
tri
r\ni[ ist. /.u Gunsten der erweiterten Zw.mgscrziehung ins [''cid ge-
führt werden. Die Kmengung der Dichstahls-Fre(]uenz jugend-
licher l'ersonen ist gleichsam eine mechanische Wirkung
der Zwangserziehung überhaupt, daher auch ihrer Kr Weiterung;
dab auch diese dem Ciesamt -Phänomen gegenüber nieiit viel zu
beileuten hat, zeigt der Krfolg in Haden untl I lessen ofTcnbar. Die
moralische Wirkung aber mufste in ganz anderer Sphäre gesucht
werden: wemi irgendwo, so müfste sie in der Diebstahls-Kriminali-
tät Erwachsener sichtbar >cin, zumal da diese erfahrungsiTiäl->ig
in den ersten Lebensjahieii di r vollen „Strafmündigkeit" am inten-
siv.sten ist; mit anderen Worten, wie die Zwangszöglingc sich ver-
halten, nachdem sie dem Zwange entronnen sind und ihre
Freiheit wiedergewonnen haben, das ist die wahre Probe auf das
ExempeL Ich habe mir daher die Mühe gegeben, auch die relative
Häufigkeit, wegen Diebstahls Verurteilter, die über i8 Jahre alt
waren, in Preufsen einerseits, Baden und Hessen andererseits, für
die drei Biennien zu ermitteln und zu vei^leichen.
Das Ergebnis ist folgendes:
Preufen Baden und Hessen
Auf io<x;o über 18 jährige Zivil-
188586
23,6
14*4
einwobn«r kommen Verurteilte
1890 '91
27,0
17,6
wegen Diebstahb
189596
16,7
24.7
Die Steigerung betrug, in der ersten Spanne, in Preufsen 3,4
14 Prozent (der Anfangsziffer); in Baden und Hessen 3,2 22
Prozent (ebenso); die Abnahme in der zweiten Spanne dort 2,3
= 8,5 Prozent; hier nur 0,9 = 0,5 Prozent. Ich kann nicht finden,
dafs diese wesentlich ungünstigere Entwicklung in Baden
und Hessen zu Gunsten der erweiterten Zwangserziehung spricht.
Die „Begründung" giebt noch etliche Ziffern, aus denen er-
hellen soll, „wie wenig die strafrechtlichen Mafsnahmen geeignet
sind, dieser wachsenden Krirninalität * d e r Jugendlichen' ent-
gegen zu treten". Insofern als die Kriminalität überhaupt, die der
Jugendlichen insbesondere, ökonomische und sittlich-soziale LVsachen
hat, ist die Erwartung von vornherein falsch, sie mit strafrechtlichen
Mafsnahmen hemmen zu können. Auch die Zwangserziehung, die
Digitized by Google
484
Gcsetsgebmig: Fteübmn*
nur eine modifizierte, meinetw ej^eii l ine verbesserte strafrechtlicl c
Mafsre^a-I i^i, wird >ieh in dieser lluisi lit als ohninäiMitii,^ erwcisoii.
man darf sa*:en, hat sich als ohiimäcliiiL: erwiesen. Die Arten
und Ursachen der Kriminalität >iml bisiicr nacii wissenschaftlich
nüj^enden Methoden nicht untersucht worden. Die X'erhaadlun^cn
(.hiruber, in Siaat>>chriftcn, wie in rarlamentcn, sind dilettantisch.
— Die Be^^ründun^ meint noch besonders, der Mifserfol^^ des Strat
rechtes sj>reche sich ziffernmäfsig darin aus, dafs der Rückfall
unter den Jugendlichen von Jahr zu Jahr steige. So allgemein auch
diese Art des Denkens ist, so behaupte ich doch, dafs ihr ein
Urteilsfehler zu Grunde liegt Bei gleicher Häufigkeit der Ver-
urteilungen von gleicher moralischer Bedeutung (die hier, wie sonst
in der Begründung, keiner Rücksicht gewürdigt wird) ist der wach*
sende Anteil Vorbestrafter ein günstiges Zeichen der Ent-
wicklung — dies der Satz, den ich aufstelle. Umgekehrterweise
würde die relative Vermehrung der „frischen Falle" ein ungünstiges
Zeichen sein. Bei gewissen epidemischen Krankheiten sind bekannt*
lieh Rückfölle ebenso die Regel, wie bei gewissen Arten der Krimi-
nalität. Der Hygieniker muls und wird es für wichtiger halten,
neue Infektionen zu verhüten, als die neuen Symptome einer
alten zu bekämpfen. Dem Gesetzgeber kommt der Standpunkt
des Hygienikers, nicht der des praktischen Arztes zu ; der Stand-
punkt des Politikers und Ethikers, nicht der des Seelsorgers. Die
Auflassung des heutigen sozialen Lebens, die in der uns vorliegen-
den „Begründung" geltend gemacht wird, ist in der That die des
^) „Die wirtscbafUicbe und soiiale GestaUmis mueres Volkslebens htt dabin
gefilkrt, dafs jetzt efai weit gröfseter Teil der heranwachsenden Jugend den f«tt«*
fllgten Ordnungen des Hanscs, des Lehr- und Dienstverhiltmaaes, welche sie früher
schützend umgaben, entzopcn wird. Kaum der Schule entwachsen gehen sie •«t^^lt*-
stämlij; ihren Weg in Erwerb und Clcnufs; viele stürmen rügellos iti das l.'-brii
hinein, die jugendliche Kratt des Leibes und der Seele vergeudend. I )iiri Ii ■^chlcclitc
(Jesellscliaft vertlorben folgen sie willenlos den eigenen Tri»-b' ii ixler Ireiiider Ver-
führung. Um ein oft gaiu äinnlu^cs Begehren zu erfüllen, zu dem die Mittel febioi.
wird ohne Ueberlcgung gestohlen, betrogen, unterschlagen und vor cineni
Ranbsafdl
nicht znrtlckgeschreckt; um die nngetähmten geschlechtlichen Triebe su befriedigen,
werden skrupellos die schwersten Sittlichkeitsverbrechen begangen. Wo es sich am
eine Auflehnung gegen die staatliche Gewalt, um Auflauf oder Aufruhr handelt,
stellen m. ist die halbwüchsigen Burschen daxu das gröfste Kontingent, die gcwalt-
thätigsten Angreifer." Sollen also diese halbwüchsigen Burschen sämtlidi «i''"''
Zwangserziehung; gestellt werden? — Die leUten Sätze machen übrigens erst »ieot-
Digitized by Google
Entwurf eines GeseUes über Zwangserziehung Minderjähriger.
485
Sit;( n]trc(lii.fcrs und entlüfteten Staatsbürgers, nicht die des Soziologen
und l'Dlitikcrs.
Ich für nieinc Person bin weil davon entfernt, einem sogen.
Optimismus inbezug auf die Erscheinungen und Entwicklungs-
tendenzen des heutigen sozialen Lebens zu huldigen. Aber je mehr
ich diese mit Ernst und tiefen Bedenken anschaue, desto mehr
mufs ich davor warnen und dagegen Einspruch erheben, dafs man
sie mit Deklamationen ankla^ und mit illusorischen und zugleich
gefährlichen Mitteln verkleistert oder unter die Oberflache zurück-
treibt Das Gelegenheitsgesetzemachen, wovon wir eben mit
Schaudern die Beispiele erlebt haben, ist selber eines der Übelsten
Zeichen des Verfalles geistig-sittlicher Kräfte, ein Ausfluls ohnmäch-
tiger Verzweiflung. Ich weils wohl, dais die Ausdehnung der
Zwangserziehung nicht in diese Kategorie gehört. Aber in den
Motiven der Denkungsart, die ihr zu Grunde liegt, ist sie von
gleicher Art Man wUl die kapitalistisch zersetzte Gesellschaft gern
von gewissen auffallenden Flecken befreien. Aber, wie die in den
Zeitungen annoncierenden HeilgehUfen: brieflich, ohne jede Aende-
rung der Lebensweise.
Im folgenden geben wir den Wortlaut des Entwürfe eines Ge-
setzes über die Zwangserziehung Minderjähriger:
Entwurf einof OMetsM Qb«r Zwangseniahung Miiid«rjiUiffiger.
Auf Grand der AUerhöcfaatcn Ordre Tom 8. Jamuur 1900 u dem selben Tag dem
Herrenhaus durch den Minister des Imicm vorgelcgL
Wir Wilhalm, Ton Gottes Gnaden Kdnig von Prenlken etc. Terordnen, mit
Zustimmong beider Häuser des Lahdtags für den Umfing der Monarehie, was folgt:
§ t. Zwangseniehong im ^nne dieses Geseties ist die Ernebnng verwahr'*
lo!>tcr oder der Verwahrlosung; ausgesetltcr Mindeijihriger unter üfTentlicher Aufsidit
und auf öffentliche Kosten in einer geeigneten Familie oder in dner Eraiebong»*
oder Bci»serunganstalt.
i; 2. Der ZwanKS4T/ Irl Ulli;,' kann überwiesen werden ein Minderjähriger,
Welcher das 18. Lebensjahr nuch nicht vollendet hat, wenn
1. die Voraussetzungen des § 1666 oder des § 1838 des Bürgerlichen Gesetx»
bvcbs vorliegen and die Zwangsenidbong erforderlich ist, tun die sittlidie
Verwahrlommg des lUndeijibrigen m vcrbttlen;
2. wenn der Minderjihrige eine strafbare Handhmg begangen bat, wegen
der er in Anbetnebt seines jagendUchen Alters stmfrechtlidi nicht verfolgt
lieh, (l.us auch mit den ersten aussrhliefslich die Jagend der Arbeiterklasse, nidkt
etwa .Studenten und junge Oflixierc gemeint sind.
Dlgitized by Google
4S6
(jcs.ct/.gcbung : Prcul'scn.
werden kann, nnd die Zwanfj^seniehoag nit Rücksicht auf die Beschaffen-
heit der Handlung, die Persönlichkeit der Eltern oder MMUtj^en Erzieher
und die Übrigen I.rbrnsvcrliältnisse zur Verhütung weiterer rittlicher Ver>
wahrlosmi); des Minderjährigen erforderlich ut;
3. Wenn die ZwanpscrTiiihunp aufser di^-sen Fällen wepcn L'nzulänj,'lichkrit
ilcr «r/.uliliihin r.inwirkun^; der Klt'-rn i>d. r ^ntisti;:cn Erzieher oilcr «irr
Schule zur Verhiit\inp des volligen sittlichen \ erderben* notwendig i>t.
§ 3. Die Unterbringung zur Zwangscrziehuui; erlolgt, luubdcm das \ ormuiid-
schaftsgericht durch Bcschlufs daa Vorhandensein der Voranssetntngen des § 2 anter
Bezeichnung der fttr erwiesen eradttetcn TfaaUachen festgestellt und die Unter»
bringang angeordnet hat.
{$ 4. Das Vormondschaft^ericht beschliefst von Amtswegen oder aof Antrag.
Zur Stellung des Antrages ist der I.andrat (in den Mohen/.üllcmschcn Landen der
Oberamtmanni, in Stadtkreisen .h r Magistrat und der Vorstand der Königlichen
Poli/eiverwaltung herechti^'t und Mr]itlicVitet.
\'or der l'.r-sehlLilst.issung soll das V unnundscliaftsgericht, soweit dies ohne er-
hebliclie Sehwicrigkeil geschclieo kann, die Eltern, den gesetzlichen Vertreter de»
Minderjährigen und in allen Fallen den Gemeindevorstand, den znstSndigen Gcii««
liehen und den Leiter oder Lehrer der Schule, welche der MlndetjKlirige t>esiicht
oder zuletzt besucht hat, hören. Auch hat, wenn die Bcschlufsfassnng nicht anf An-
trag erfolgt, das Vormundschaftsgericht zuvor dem Landrate (Oberamtmann, Magistrate,
Polizeibehörde) unter Mitteilung der Akten Gelegenheit m einer Aeufserang zu gehen.
Der Beschlufs ist dem gesetzlichen Vertreter des Minderjährigen, diesem selbst
wenn er «las vierzehnte l,el)en>iahr vollendet hat, dem l.andrafe ' >l>eramtmaiin,
M 1 Mstratc, Fuliicibehordc) und dciu vcrptlicbtctcu Koromunalverbaudc 14) zuzu-
stellen.
Gegen den Beschlufs 6ndet die sofortige Beschwerde statt. Die Beschwerde
hat aufschiebende Wirkung.
§ 5. Bei Gefahr im Verzuge kam das Vormmdsdiaftsgericht eine TorlSnfige
Unterbringung des Minderjährigen anordnen. — Die Polizeibehörde des Aufenthalts»
Ortes hat in diesem Falle Ar die Unterbringui^ des MindeijSbrigen in einer Anstalt
oder in einer geeigneten Familie zu sorgen. —
l)ie daraus erwachsenden Kosten fallen, sofern die Leberweisung zur Zwangs-
erziehung demn.irhst end;,'tiltig angeordnet wird, dem verpflichteten Kommunal-
verbande andefenlalK demjenigen zur Last, welcher die Kosten der i rtliclten
I'olizeiveru ahung zu tragen hat. Die roli/.eibehorUc hat in allen tällen die durch
die vurläutigc Unterbringung entstehenden Kosten vorznschiefsen.
§ 6. Hat die in $ 4 angeordnete Anhörung der Eltern oder des gesetzlichen
Vertreter» nicht stattfinden können, so sind dieselben berechtigt, die Wiederanfhahme
des Verfahrens zu verlangen.
§ 7, Soweit nicht in diesem Gesetze ein anderes hcstin^mt, finden anf das
gt-richtliche Verfaliien die allgemeinen Vorschriften über die durch Landesgesetz den
ordentli(-hen Gerichten übertragenen Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit
Anwendung.
Digitized by Google
Entwurf eines GeseUes üb«r Zwangserziehung Minderjähriger.
§ 8, Die gerichtliehen Verhaodliiiigcn üad gcbObren- und stempdfn»; die
bwren Aoslagen fallen der Staatilcuse sv Last Vertrilge ttber die Unterforingtmg
von Zwangsiögliiigen tlnd ebenfall» stempdfrei.
§ 9. Die Aiuftthrang der Zwangserziehung liegt d>-m v< rpHichtetcn Kommunal'
verbandi- ob (jj I4;; er cntschcidrt darüber, in welcher Weise di-r Zugling unter-
^'ebrarht werden soll. Die [£inliefenuig der Zöglinge hat durch die PoUaeibebörde
des Aul' ntli.iltsortev tm erf(dj;;cn.
jj 10. i>if L iu< ri>rin}^ung der Zöglinge darf niclil in einem Arl)citshau.>e oder
Landarmenhause ertoigen, in Anstalten, welche für Kranke, Gebrechliche, Idiote,
Taubatumme und Blinde bestimmt sind, mr insoweit nnd 10 lange, als der körper-
liehe oder geistige Zustand des Zöglings dies erfordert.
In Ausführung einer eingeleiteten Zwangserziehung kann die Erziehung in der
eigenen Familie des Zöglings unter Aufsicht des Konnnunalverbnndes widerruflich
angeordnet werden,
jt II. Für jcdt-n in einer Familie unterjjebrachten Ziigling ist von dem Kom-
mvinalvrrbiindc » in«- jjt ri^^ncte I'"iir>orf,'«' zur Urlx-rw ichunf^ der Krzirhunj; und Pllcgc
des Zugling»» an/uordiicu. Die Fürsorge kann aucli FraiiLii tibcrt ragen werden.
12. Auf Antrag dcü verptlichtcteu Kommunalverbandt-s kann, unbeschadet
der Vorschriften des Art. 78 § 1 des AusAÜirungsgcsets zum Bürgerlichen Gesetz»
buche, der Vorstand einer unter staatlicher Aufsicht stehenden Erziehungsanstalt Tor
den nach § 1776 des Bfirgerlichen Gesetzbuchs als Vormfinder berufenen Personen
zum Vormunde der auf Grund der §§ j ff. in der Anstalt untergebrachten Zöglinge
bestellt werden.
Das Gleiche gilt für Zöglinge, die unter der Aufsicht des Vorstamles der An-
stalt in einer \nn ihm ausgewählten Familie er/i)}^< n werden ; liegt dii l'eaulsirhtigung
der /. •;;lin;^e einein von dem ver pniehte'.-n Koininnnalverli;»nde b<-^ti illen Beamten
ob, so kann dieser aut Antr.ag des komniunaUerbandes statt des Vorstandes der An-
stalt zum Vormunde bestellt werden.
Neben dem nach den Vorschriften der Abs. i, a bestellten Vormunde »t ein
Gegenvormund nicht zu bestellen. Dem Vormunde stehen die nach § 1853 des
Bürgerlichen Gesetzbuchs snISssigen Befreiungen zu.
§ 13. Die Aufhebung der Zwangserstebnng erfolgt durch Beschlufs des Kom-
munalverbandes von Amtswegen oder auf Antrag der Kltem oder des gesetzlichen
Vertreters des Minderjährigen, wenn der Zweck der Zwangserziehun*: errei( lit «Mier
die Frreic!itinf^ des Zweckes anderweit sichergestellt isL üic Aufhebung kann unter
Vorbehalt des Widerruf-« beschlo>sen wertien.
Gegen den ablelmendcu Beschlufs des Kommunalverbandcs kann der Antrag-
steller binnen einer Frist von zwei Wochen vom Tage der Zustellung ab die Ent-
scheidung des Vormundschaftsgerichts anrufen. Gegen den Beschlufs des Vormund-
Schaftsgerichts findet die Beschwerde statt. Die Beschwerde des Kommnnalverbandes
hat aufschiebende Wirkung.
Ein abgewiesener Antrag darf vor Ablauf von sechs Monaten nicht emeneit
werden.
§ 14. Die Provtnzial verbände, in der Provinz Hessen -Nassau die Bezirks-
Digitized by Google
488
Gesetzgebung: Preufscn.
verbälule der Rcgirrunghbozirke Wiesbaden und Kusel, der Lancnborgisdie Landcs-
komimmalverband, der LandeskommitiMlverbMid der Hohensollenisdieii Lande, sowie
der Stadtkreis Berlin sind Tcrpfliditet, die Untetbringnng der dordi Beschlafs des
VormundscfaaAsgerichts zur Zwangsenneliiin; flberwicseiien Hiadeiillirigen in einer
d«-n Vorsrliriftrn di<>« s r.csetse« entsprecbesdcn Weite m bewürfcen. Sie baben für
die Errichtung von 1 r/.irliuncs- und Pt>ssfninjisanstalt«*n zu sorgen, soweit o«; an Ge-
l<"Pfnluit It hlt, <lif /'>^linj;»' in ^'rripti<-t< ti Familien, sowie in ufTrntlichrn. kirchlichen
oder ]irivaU-n Anstulti-n iinterzubrinfjcn ; auc h soweit nötig für ein angemessene^
Intcrkummcn nach Ht oiidi^ung der Zwaußscr/.ichung zu !>orgen.
Zur Unterbringung verpflichtet ist derjenige Xonmaittlvefbaiid, in dessen Ge>
biete der Ort liegt, als dessen Vornnindsdiaftsgericht das Gericht Beacblols ge»
fafst hat.
§ 15. Die Kosten, welche dorch Einliefenmg in die Familie oder Anstalt und
die dabei nötige reglemcntsmifsige cr>to Ausstattung des Zöglings und durch die
Rückreise des Entlassenen erwachsen, fallen dem Ortsarnienver1>a!i'!.-. in welchem
d. r /■ ^:linf; seinen Unterstützuni'swohnsitz hat, alle übrigen Kosten des Unterhalts
und ilcr i'>/.iehung sowie der Fürsorge bei der Beendigung der Zwangserziehung den
Komniunalverbiinden zur Fast.
Letztere erhalten dazu aus der Staatskasse einen Znscbufs in der Höhe der
Hälfte dieser Ausgaben, dessen Betrag entweder im EinverstSndnisse mit den ein«
«einen Kommanalverbünden periodisch als Bansdismume oder, aowdt ein Eiaver-
stSndnis nicht erreicht ist, jShrlidi auf Liquidation der im Vorjahre anfeewendeten
Kosten vom Minister des Innern festgestellt wird.
§ 16. Die Kommunalverbiinde sind berechtigt, die Erstattung der Kosten des
Unterhalts eines /'»glings während der Zwangserziehung von diesem seihst und, so-
weit dies nicht möglich ist, von den zu seinem I ntt-rhult Verpflichtete n /u fordern.
Für die Frstattuiic^Torderung >iTid Tarife zu ( Jrunde zu legen, welche von dem
Minister des Innern nach Aui»<«rung der Konnnunalverbände festgesetzt werden.
Die Kosten der allgemeinen Verwaltung der Zwangserziehung, des Baues und der
Unterhaltung der von den Kommnnalverbinden errichteten Anstalten bleiben hierbei
anfser Ansatz. Wird gegen die Erstattungsforderung Widersprach erhoben, so be-
schliefst darttber auf Antrag des Kommunalverbandes der Kreisanssdiufs (Amtsnna»
schttfs), in Stadtkreisen der Siadtausschuf-. Der Beschlufs ist vorbehaltlich des
ordentlichen Rechtsweges endgiütig. Die Hälfte der von den Erstattni^spflicbtigcn
eingesogenen neträge ist auf <1 -ii P<i(r.xg des Staats anzurechnen.
§ 17. I )ie Kommunalvcrbäm!'' luibi-n liir die Aiisluhrung der 7wangserziehunc
und lur die Verwaltung der von ihnen errichteten Erziehuugs- unti Besäcrungs-
anstalten Reglements zu erlassen.
Dieselben bedürfen der Genehmigung der Minister des Innern und der geist-
lichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten inbetreff derjenigen Bestimmungen,
welche sich auf die Aufnahme, die Behandlung, den Unterricht und die Entlassung
der Zöglinge beziehen.
Inbetreff der Privatanstalten bebfilt es bei den bestehenden Vorschriften sdn
Bewenden.
Entwurf emes Gesetxet Aber Zmacseniebitiig Ifindcijihriger. 489
^ 18. Die gcscUlichcn Bestimmungen übrr dif relipiösc Krzichuiip der Kinder
linden auch auf die in diesem GeseUc },'oordinte Zwangserziehung Anwendung.
^ 19. Wenn scbnlpflicbtige Zwaughzugliuge d«r SITcndkheB VoUutcbnle ohne
erb«blklie sittlicbe G«i2bfdang der Übrigen die Scbnle besodiendcn Kinder nicht
sngewiesen werden können, so hat der KonunanalTerbuid dafür sn sorgen] dafs
dieten Zwangwöglingen wibrend des sdralpilicbtigen Alters der erforderliehe Sdml-
unterricht anderweitig zu Teü wird. Im Streit£slle entscheidet über die vorliegende
Frage der Oberpräsident.
j* .20. Die zustiindiijen staatlichen .\ufsichlsbehurden der Koinmunalvcrb.Hnde
und in liuhercr Instanz der .Minister des Innern haben die Oberaufsicht über die zur
Uuterbringtmg von Zöglingen gctrofFenen Veranstaltungen zu fuhren; sie sind befugt,
zu diesem Behufe Revisionen vorzunehmen.
$ ai. Wer, abgesehen von den Füllen der §§ lao, 335 des Stimfgewtibachs,
es unteminnnt, einen tfindeijübrigen, gegen den die Zwangienielmng eingeleitet ist,
dieser za entziehen, oder ihn an verleiten, sich der Zwangsenidning an entiidien,
oder wer ihm hierzu vorsätzlich behülflich ist, wird mit Gefängnis bis zu zwei
Jahren und mit Geldstrafe bis F.intausend Mark oder mit einer dieser Strafen bestraft,
22. Oer Minister des Innern- ist mit der Ausführung dieses Gesetzes be>
auftragt.
g 23. Dieses Gesetz tritt mit dem . in Kraft.
Mit dem gleichen Zeitpunkte wird das Gesetz vom 13. März 1878, betrelTend
die Unterbringung verwahrloster Kinder, anfgehobcn.
Beglaubigt
Der Minister des Innern.
Freiherr von Rheinbaben.
Archiv fiir wttt. G««eugebui>g u. Sutittik. XV. 3'
Digitized by Google
MISZKLLKN.
Die Statistik der Unfall-, Alters- und Invaliditäts-
versicherung im Deutschen Reich
für das Jahr 1897.
Von
Dr. ERNS r LANGE,
in Berlin.
Die folgenden Mitteilungen bilden die FortBCtsung der in den früheren
Jahrgängen des Archivs enthaltenen Abhandlungen über die Statistik der
deutsi hcn Arbeiterversicherung: Bd. II S. 639, IV S. 531, \' S. 677,
VI ij. 566, VII S. 694, IX S. 228, X S. 774. XI S. 474 und XII S. 551.
Die wichtigsten Quellen der Darstellung sind: die „Nachweisung-
uber die ge!>amteD Rechnuugscrgebnissc der Berufsgenossenschafteu u. s. w.
fttr das Jahr 1897" und die „Nachweisung der Geschäfts- und Rechnungs*
ergebnisse der auf Grund des Invaliditäts- und Altexsversicheningsgesetzes
errichteten Versicherungsanstalten für das Jahr 1897** hi Nr. i des
XV. Jahrgangs (1899 1 der ,,Aintli hen Xarhrichten des Reichs-Ver*
sicherungsamts", sowie die entsprechenden Fubliluitionen aus den vorher-
gehenden Jahren.
I. Unfallversicherung.
I. Organisation, l-ür das Jahr 1S97 vervollständigt, giebt unsere
frühere Zubainnicubicilung luigcades Bild:
Gewerbliche
1S88 l88y 1890 1S91 1892 1893 '^94 iSgy
Berufsgenossenschaften 6464646464646464 64 65
Sekrionen 366 365 358 358 358 358 3$8 358 358 358
Mitt:lif(l. r(l. rii-noss<-n
s<'ha)?>.vorstatul<-' .
Mif^lH-ttcr d. .Sektion»
vorstKode . . .
Vemrancasin&raier .
740 737 73» 734 73^ 73» 74» 74» 74a 747
a045 »009 1988 1987 1990 1989 »987 199a 1995 1996
73«> 8097 7498 7638 76$a 7739 7720 7731 7674 7861
L,y Googl
Ernst Lange, Statistik d. UnCaUversicbcning etc. im Deuuclicn Reich 1S97.
Gcwerblidie
tSSS ib89 1890 iS9a 11(93 1894 1895 1896 1S97
AngesL beioldete Be-
auftragte .... 1^4 IS» 146 163 1S7 168 ao5 198 aoi att
Schiedsgerichte . . . 414 413 411 409 404 409 409 409 409 415
Arbeiterveitreter . . 2951 a&36 2SS7 2837 2788 2784 3729 2780 2954 2966
1888 1889 1890 1891 1893 1893 1894 1895 1896 1897
Beruftgenossenschaften aa 48 48 48 48 48 48 48 48 48
^''^tyor^.n 549 552 553 555 556 556 $$6 556 559 56I
Mitglieder d. Cienosscn-
schaftsvorstände . . 189 352 352 352 353 354 354 355 355 355
Mitglieder d. Sektions-
vorstände .... 3229 325 1 3256 3260 3268 32A6 3266 3267 3256 3258
Vertraurnsm-inner . 8016 13324 1422$ I5157 155*5 »SSW »5739 >S7W »745« «759»
Angest. hesoldelc Be-
auftragte .... 1 5 2 2 I 2 4 4 4 3
Schiedsgerichte ... 559 588 589 591 593 593 593 593 59^ «Ol
Arbeitenreitrcter . . 960 I176 1185 ll8a II86 1186 1186 1186 II96 I20S
Auf^crdf-m waren für die Reichs-, Staats-, Provinzial- und Kommimal-
beiriebc in Thatigkeit:
1888 188g i8i)o 1891 ]8r)2 i8q3 1894 iS(j5 1896 1897
AusführuiiiJ^brliurdcn . 178 285 316 352 348 372 385 393 401 404
Sdiiedsgerichte ... 174 275 310 329 334 358 368 395 403 406
Arbetterveitreter . . 954 1275 1385 1445 1576 1643 1698 1857 1902 2109
bemerkenswert ist hier nur, dafs sich die Zahl der gewerblichen
Berufsgenossensrhaften um eine vermehrt hat, Ks handelt sirh dabei um
die Fleischerei-Berufsgenossenschaft, die sich am i. J.imiar 1897 von
der Nahrungsmittel' Kusine •Berttfiganossenschaft abgezweigt hat. Im
übrigen hat sich in der Organisation so gut wie nichts geändert
Die Zahl der versicherten Betriebe betrug bei den
t8tt 1889 1890 1891 1892
gcwerbl. Berufsgenossenschaften 350697 372236 39062a 405341 4^5335
landwirtsch. Bcnafsgenosseiiscb. 3046007 4753808 4843631 4776520 4859618
Data AutfUhmngsbehörden . . 178 285 316 352 348
«uunmen 3396883 5136339 5334559 5 183 113 5375301
1893 1894 1S95 1896 1897
gewerbl. Bernfsgenossenichiften 430874 436335 435137 443773 455 41 7
landwirtseh. Beniftgenoweasch. 4769343 4793356 4813573 4645057 4643130
Dam AuftlÜhnngshehördctt . . 373 385 393 401 404
annuDCB 5 190489 5219976 524910a 5088230 5 09795»
32*
492
Miszellen.
Dabei wurde als Zahl der versicherten Personen festgestellt bei den
1888 1880 1890 iSqi 1892
gewerbl. Berufsgenossen. 4320663 4742548 4926672 5093412 5078132
landwiit. Bcnifigenossen. 5576765 808S698 8088698 132S9415 12389415
Ansahrangsbdiördeii 446850 543 320 604380 633459 646733
xosammen 10343678 13374566 13619750 18015286 18014280
1893 1894 189s 1S96 1897
gewerbl. Berufsgenossen. 5168973 5243965 5409218 5734680 6042618
huidwirt. BcrafsgeooBBea 12289415 12289415 12289415 11189071 11 189071
Auftthrangsbehöideii 660462 658367 690835 681439 715758
nuunmen 18118850 18 191 747 18389468 17605190 17947447
lieber den statistischen Wert dieser Zahlen ist bereits früher f Hd. V
S. 679 und Bd. \T S. 568) das Notige gesagt worden. Danach dürfen
nur die Feststellungen der g e w e r b 1 i c h e n Berufsgenossenschaften über
die Zahl der versicherten Betriebe und der von der Versicherong er«
fafsten Personen einigen Wert beanspruchen. Bei den landwirtschaftlichen
Benifsgenosseaschafien ist seit 1896 die Zahl der Betriebe und der durdi-
schnittlich versicherten Personen unter Benutzung der Berufs« und Ge-
werbezählung vom Jahre 1895 ermittelt worden. Daher erklären sich
die bedeutenden Abweirhunpen siegen die vorhergehenden Jahre.
Zu den versicherten Personen gehören aufser den Hctriebsbearaten
und Arbeitern auch noch Betriebsunternehmer und andere l'ersonen, die
auf Grund des § 2 Abs. 2 des Unfallversicherungsgesetzes der Versiche-
rung unterworfen worden sind. Sieht man nun von den letzten beiden
Gruppen von Versicherten ab und betrachtet man nur die Arbeiter und
die Beamten, soweit auf diese die Versicherung durch Gesetz und Statut
ausgedehnt worden ist, so ergiebt sich fUr die gewerblichen Beruftgenossen-
Schäften folgende Entwickelung:
Zahl der
Zahl der
Tcrsicherten BeaiDteo und Arbeiter
Jahr
Betriebe
aberhMpt
tliircliiBJiiiUtliftl
Mf 1 Betrieb
1888
350697
43«30»
13,3
1889
372 236
4718 822
«»•7
1S90
390 622
4 888 790
".S
1891
405 241
5 036 963
t»A
1892
415 315
5017490
12.1
420 874
5 100 661
12,1
1894
426 335
5 178 786
13,1
1895
43S 137
5341007
i».3
1896
44377s
5666427
iM
1897
455417
5976046
»3.»
Digitized by Google
Ernst Lange, Statistik d. Unfallversichenuig etc. im Deutschen Reich 1897. ^^^^
Auch im Jahre 1897 ist also die Zahl der versicherten Betriebs-
beamten und Arbeiter stärker gewachsen als die der Betriebe. Der in-
dustrielle Aufschwung seit 1895 offenbar auch im Berichtsjahre noch
ein so bedeutendes Anwachsen der Arbeiterzahl in den bestehenden Be-
trieben mit sich gebracht, dafs trotz der im \ erbleich zu 1896 recht
lebhaften Gründung neuer, zweifellos meist kleiner Betriebe die Durch-
schnittszahl der auf einen Betrieb entfallenden beschäftigten Personen
noch etwas gestiegen ist Diese Steigerung ist aber, wie nicht anders
« zu erwarten war, weit geringer als von 1895 zu 1896. Im tlbrigen ist
hier das fraher, namentlich Bd. X S. 776 Gesagte zu vergleichen.
Die Zahl der Betriebsuntemehmer, die sich selbst bei den gewerb-
lichen Berufsgenossenschaften versichert hatten, ist im Jahre 1897
gesunken; sie betrug
1888 18S9 1890 1891 1892 1893 1894 1805 1896 1897
3909 18656 33678 51881 55878 63 131 59464 61764 61937 60030
Hiefvim entfielen im letzten Jahre über 55 500 allein auf 7 Bau-
gewerks-Beni^genossenschaften.
2. Unfälle und Entschädigungen. Unfallaiueigen wurden
erstattet
1897 dagegen 1896
bei den gewerblichen Bcruf^enosseni>chaftcn für 252 382 233 J19 Verletzte
„ „ landwirtach. „ „ 98363 91099 „
„ „ Ausfllhnmgsbefaördeii „ a86as 34970 „
I) ,, Versirht'rnngsanstahcn der 12 Bau»
gewerkä-Bcrufsgenossenschaften und der
Tiefban-Berofsgenoasciisdiaft „ 3750 3401 „
zusammen fBr 383 1 17 3$t 789 Verletzte
Die Gründe, weshall> wir diese statistisch ganz wertlosen Zahlen
(z. vergl. Bd. V S. 679— 680J hier mitteilen, sind bereits Bd. VI S. 568
auseinandergesetzt worden.
Ffir «deviel IfoMe 1897, im ganzen genommen, Entschädigungen
gezahlt wurden, zeigt die folgende Aufstellung:
Bestand aus Im Laufe d. Jahres 1897
denVorjahrea binsofdcoauneiienile
GewerbL B«nifsgeiMMMBscliaftai . 1 8a 143 41746 333888
Landwirisch. „ . 131983 45438 177 42«
Ansfithrunfr^^'honl.-n .... I9814 3987 3380I
Versicherungsansuiten der IsBau-
gewerfcs-B.G. md der Tlefbra-
• . • • 4 594 i »55 5 749
338533 93336 430859
Dagegen 1896: 388383 86403 374685
494
Hisselka.
Wiederum ist also die Zahl der erstmalig zur EntschädigUDg gelangten
UnßÜle bedeutend gewachsen, aber doch bei weitem nicht mehr so stark
wie von iSgS zu 1896, wenn auch in den industriellen Berufsgenossen-
schaften immer noch stärker als in den früheren Jahren. Seit 1SS8 be-
trug nämlich die Zahl der verletzten und getöteten Personen, für die
erstmalig Entschädigimgen festgestellt wurden, bei den
1S&8 1889 1890 1891 1892 1893 1894 1895 ^^9^ <^
gewcrbl. Beraft-
genosscDscb. 18809 29340 26403 28289 28619 3117t 32797 337a8 38538 41746
landwirtsch.
PcrufsKen. 8o8 6631 12573 I93S9 SS^JI 27S53 3^491 373S3 4S934 4S438
AiisfUhnings-
behörden
Baii«Veniche*
1 440 2 048
«79 430
2444
618
2859
702
2977 3 «50
827 855
3389
942
3356
1 060
3800 3987
1131 1155
Zusammen 21236 31449 42038 $1209 5S654 62729 69619 75527 86403 9*326
Ein dcrartit^es Ergebnis war nach unseren Darlegungen auf S. 555
bis 556 Bd. Xll des Arrhivs bei der fortdauernden Prosperität der In-
dustrie unil der dieser ents{)rL*( lieiiden Zunahme der versicherten Per-
sonen (S. 492) zu erwarten. Um uns nicht unnütz wiederholen zu müssen,
bitten wir, das an der angegebenen Stelle Gesagte nadiauksen.
Von den gezahlten Entschädigungen interessieien in erster
Linie die Renten. Im Berichtijalire besahlten Renten die
an
Verletzte
gewcrbl. Berufsgenossenschaften . . 1 92 3 1 4
landwirt&ch. „ . . 161 707
Aiiifli]iniiig»b«bördeii t8 704
Bttu-Venidiemiigiaiiitalten .... 4870
msamnun 377495
dag«fen 1896: 327270
Für diese Renten verausgabten die
Witven
Kinder Ai
G e t i, t r t e r
21 822
42457
>75S
10680
16457
246
3776
6225
272
715
1069
«3
36993
66208
2286
32982
60555
2141
an
gewerbl. Berufsgenos&ensch.
landwirtsch. „
Ausf Uhrangsbchörden . . .
fiau-Versichenu^MiistaUea .
VerleUte
Mk.
29698 153,09
11508240.04
4003274t47
660 399,06
zus.imraen 45870066,66
dagegen 1896: 40614670,70
Witwen
Mk.
3495298,84
829495*0^
536695,5»
95155.93
4 95'>Ö4S.37
4401 740.«7
Kinder
Getöteter
Mk.
5034743.42
«47547.5»
629484.77
100798,04
Anendtnlcn
255215.33
19203.94
34390,99
2019,16
6612573,74
6019730,17
310829,42
287 289,5s
Digltlzed by Google
Erns.t Lange, Statistik d. UnfiiUvenidienuf etc. im Deutschen Keicli 1897.
Auf den Kopf der Verletzten entnUlt somit durchschnittlich bei den
gewerblichen Berufsgenossenschaften 154,5 Mk. (1896: 155,5 Mk., 1895:
157,5 Mk. i, bei den landwirtsrhartlichen Berufsgenossenschaften 71,8 Mk.
(1896: 73,2 Mk., 1895 : 74,8 Mk.). Weshalb die landwirtschaftlichen
Invaliden soviel ungünstiger gestellt sind, ist bereits Bd. XI» S. 478 — 479
ansfÜhrlicH dargelegt wofden.
Ante den laufenden Renten wurden von sämtlichen Beruf^^enossen-
Schäften, AusfUhnmgsbehötden und Ban-Versicheningsanstalten susanunen
noch an einmaligen ond vorttbeigefaenden Eatsdiidigungen g^sahlt:
Kneten des Hrihcrfahrens Ar 49396 Pcnonen i6ao6$ifit Mk.
Kocten der Unterbringong in Kiaakenhlasem
a) Renten an Ekefnmen ,10417 „ «83360,19 „
b) „ Kinder 33049 » 414385.34 .*
, „ Aszendenten „ 233 „ 9501,29 „
d Kur- und Verpflegtmgskostcn . . . . „ 20104 „ 2854134,32 „
Beerdigungskosten „ 7894 '„ 378121,6$ „
Abfindungen an Witwen Getöteter bei Wieder-
Verheiratung „ 976 „ 464501,82 „
Abfindungen an AniUnder „ 315 „ 199766,36 „
Die Gesamtsumme der Entsdiüdignngen belief ach bei den
1897 1896 189s
geverbl. Bemfsgenon. auf 43996319,78 38707864,70 34493960^ Mk
landwirtschaftl. „ „ 14486407,98 13618917,46 10439059,81 „
AusfQhrungsbebörden „ 5539481,20 4951073,42 44S^99Si44 «
B»u-Ver»icherungsanst. „ 95133*^7 2 876541.95 751766.90 „
auammen auf 63973547,77 57 tS4i97i53 50 125782,22 Mk.
Von den Verletsungen hatten 1897 nach den Sdiätzungen der Fett*
stellungsorgane zur Folge bei den
danende voiflbeigdiende
Auf« Bedn» Anfkebng oder
hebung trächtigung Beeinträchtigung
Tod der Erwerbsfähigkeit
gewcrbl Berofigenowenscbaften . 4252 625 21247 15622
landwirtsrli. „ . . 2474 544 23260 19160
Austübrung^bebörden .... 561 283 1 982 1 161
Bau*Versicberungsanstalten . . 129 55 589 382
nuammen 7416 1507 47078 36325
dagegen 1896: 7101 1547 44982 32773
„ 1895: 6448 1706 41052 26321
„ 1894: 6361 1784 39487 31987
496
Mifitdlen.
Das Bild ist das alte: eine sehr frrofso Zunahme der Unfälle, die
vorübergehende Aufhebung oder Beeintrat hügung der Erwerbsfähig-
keit zur Folge hatten, eine geringere Zunahme der Unfälle mit dauern-
der Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit, eine unbedeutende Zu-
nahme der Todesfälle und dem gegenüber eine allmähliche Abnahme
der Unfätte, die die Betroffenen dauernd völlig erwerbsunfähig
machten. Zu neuen Betmchtnngea geben die Zahlen daher keinen An-
lafs, so dafs wie auf das früher an dieser Stelle — namentlich Bd. XU,
S. 558—559 — darüber Gesagte verweisen können.
Dem Alter und Gesdilecht nach waren unter den Verletzten bei den
Erwachsene Jugcndl. (unt. 16 Jahr.)
minnliche weibliche miniüiche weibliche
gcwcTbl. Bernfi^enosienfdHiften . .
3«78S
157«
1 909
«77
huidwirtaclk. „ • •
31 3S1
ia6os
1091
394
3893
«7
8
BMi'Vemdicrangniutidtai ....
1 isa
st
8
4
tanmmen
75 «53
14381
1316
dagegen 1S96:
71 148
2141
$08
Wiederum ist also die Zahl der UnGtUe m allen vier Gruppen von
Arbeitern gewachsen. Inwieweit Industrie und Landwirtschaft, gesondert
genommen, an der Vermehrung der UnfiUte in den letzten Jahren be-
tdligt sind, ei^giebt sich daraus, dafs entschädigten die
1896 Erwachsene Jugendhche
gewerbl. Berufsgcnoss. 36027 inännl. 1314 weibl. 1055 männl. 142 wcibl. Pcrs.
hmdwirtscb. „ 30286 „ 11220 „ 1067 „ 361 „ „
«895
gewcrbL BcrafigeiUMS. 31 510 „ 1907 911 „ 100 „ „
biMlwIrtsdi. „ 26485 „ 9629 9te „ 309
Man sieht deuthch, eine wieviel gröfsere Rolle die weibliche Arbeit
in der T-andwirtsrhaft spielt als in der Industrie. Andrerseits ist die Zu-
nahme der Zahl der juf;c-ndli(-hen Verletzten bei den gewerblichen Beruts-
genossenschaflen auffallend und weit liedeutender als hei den landwirt-
schaftlichen Berufsgenossenschaäeu und jedenfalls eine i'oige zunehmender
Verwendung jugendlicher Kräfte in den industriellen Betrieben.
Die Unfallursachen fafet die amtliche Statistik in 14 Gruppen
zusammen. Unter diesen heben wir — wie in den früheren Jahren — >
Ernst Lange, Statiitik <L Un&llvenidiennig etc. im DeotidteTi Reich 1897.
nur die folgenden 7 Gruppen hervor, die sich durch die weitaus grö&ten
Zahlen ausEeichnen:
durch
Es wurden Unfälle Ter>
omdit in den
2 h
■r i>
^ II»
§ e
Ii
2 ~
< c
o
vi ^
S Ii
T <
g
6
s e
3
gewcrhl. r.ftut
:>gcnossenscb.
9062
7185
6959
5206
2269
48 7
2978
landwirtsch.
3834
2939
13601
3378
7479
6091
373«
AusfUhningsbebördcn. . .
105
619
S73
588
»54
«4
41«
Bau-VersicheningMnrtalten .
6
3*4
413
116
39
4
»45
siuHunmen
13P07
11047
«»545
9288
9941
6606
736$
also Ton allen cntschidigten
UnftUeo pCL , . .
12^
33*3
10,1
10,8
7.«
7.9
dagegen 1896
t» • • •
13,8
«S.4
23,0
9.8
>i«3
7.3
8.1
«895
»1 • • •
>4iS
n.9
«3.3
9.8
II.3
6,6
7.6
„ 1894
11 • • •
I4i4
13,8
21,9
9,9
»'.5
6,2
7.5
*« 1S93
II • • •
14.7
12,8
22,0
9.7
1 1,1
6,1
7.«
„ 189a
H • • •
«5.7
13,2
21,4
9.8
n,4
5.5
7.1
n »«9»
II • • •
»7.4
18,0
11,1
5.9
6.2
ff • • •
18,5
14f6
18,3
10,0
IO,t
4.3
6,0
Beim A
nblick dieser Zah
enicihcn
fällt auf, dafs
die
letzte G
ruppe
die durt h den Gebrauch von Handwerkszeug und einfachen Ap])araten
veranlafsten Unfälle, zum ersten Mal seit 1890 im Verhältnis /.u den
übrigen (jrupi)en ein wenig an Bedeutung verloren, während die erste
Gruppe (Motoren, Transmissionen und Arbdtsmaschinen), gleichfalls gegen
die aUgemeine Tendenz, etwas gewonnen hat Ob es sich hier um etwas
anderes als blo&e bedeutungslose Zufölligkeiten handelt, werden erst die
folgenden Jahre zeigen. Einstwdlen haben wir unseren früheren Aus-
führungen an dieser Stelle, sowie dem in unserer Arbeit über ,,die
Ursachen der Betriebsunfälle in der deutschen liuhistrie und Land-
wirtschaft" (Bd. XI S. 143 — 160) Dargelegten noch nichts Wesentliches
hiozuzufugeu.
Digitized by Google
49R
Miszellen.
3. Verwaltungskosten. Aufser den Unfallentschädigungen
haben im Jahre 1897 an Ausgaben gehabt die
Kosten der Unfall-
untersuchungen u. Schieds- Unfall-
der Feststellung der gerichts- Verhütungs-
Entschädigungen kosten kosten
gewerblichen Berufs- Ifk. Mk. Ifk.
^scnschaften . 1184235,24 579895,47 1026205,98
Allgemeine
Verwaltungs-
kosten
Mk.
5 358 747,59 *)
321472.89
40438,99
67273,84
40079,13
2058926,19
14889,56
8.74
10636,60
J 44 195.55
l?3.5»
353 7 J 5.03
7786278,37
7401 372.21
Linen Verwal-
noch nicht
ten
Ernst Lange, Statistik d. Unfallvenictieruiig etc. im DeaUcbeo Reich 1897.
In der Ud)enictit H, die in den „Amtlichen Nachrichten des Reichs*
Versicheningsatnts" dem eigentlichen TaheUenwerk vorangestellt ist, sind
für die Jahre 1 890 — 1 896 Zahlen angegeben, die von den obigen direkt
aus den Tabellen entnommenen ein wenip abweichen. Eine Erklärung
dieser Abweichungen ist leider nicht gegeben.
Ueber die Art , wie das statistische Material , das über die Ver-
waltung der einzelnen Berufsgenossenschaften vorliegt, beurteilt werden
mufs, ist das Nötige bereits Bd. V S. 684 — 685 gesagt worden.
Unter den in unserer Zusammenstellung als Uufallverhutungs-
kosten bezeichneten Ausgaben befinden sich wiederum, der amtlichen
Statistik entsprechend, anch die Kosten der Fürsorge für Verletzte inner*
halb der ersten 13 Wochen nach dem Unfälle. Diese Beträge, die tbat*
sächlich nicht der Verhütung von Unfällen, sondern der Verringerang
der Unfallfolgen dienen, stellten sich 1897 auf 617065,28 Mk. gegen
1896 auf 499 133,63 Mk., 1895: 316 354,84 Mk., 1894: 219633.05 Mk.
und 1893: 114712,59 Mk., sodafs fiir die eigentliche Unfallverhütung
nur zur \'erwendung kamen 1897: 527130,27 Mk. gegen 1896:
530189,88 Mk., 1895; 462004,55 Mk., 1894: 441871,39 Mk. imd
1893; 454789.53 Mk,
Die wirklichen Ausgaben (Ur Zwecke der Unfiallverhütung haben
also im Berichtsjahre nicht nur nicht zugenommen, sondern sogar ein
wenig abgenonmien. Man sieht, wie richtig unser Bd. VI S. 573 und
Bd. XI S. 482-^483 auq;eq|)n>chenes Urteil war.
Den größten Aufwand haben 1897 für die Unfidlverhütung, d. h.
also in der Hauptsache fiir die Ueberwachung der Betriebe, die Beruft-
genossenschaft ticr chemischen Industrie, die Steinbruchs- und die Tiefbau-
Berufsgenossenschatt gemacht. Die landwirtschaftlichen Berufsgenossen-
schaften, die 1806 keinen Ftennig, 1895: 5 1,80 Mtc. tur die Ueber-
wachung der Betriebe ausgegeben hatten, haben sich 1897 zu einem
Aufwand von 875 Mk. fttr diese Zwecke aa%eschwungen ; hiervon
kommen 6,80 Mk. auf das Konto der Schlesischen landwirtsdiaftlichen
Benifi^enonenachaft, der Rest auf das der Anhaltischen land- und fors(t-
wirtschaftlichen Bemftgenossenschaft.
Angesichts dieser kläglichen Ergebnisse thut man ohne Zweifel
gut, an die Thätigkeit der Berufsgenossenschaften auf dem Gebiete der
Unfallverhütung auch in der Zukunft keine allzu grofsen Erwartungen
zu knüpfen.
Die Reservefonds der Rcnifsgenossenschaften und Hau-X'fr-
sicherungsanstalten endlich (die AusfuhrungsbehorUen sammehi keine
Reser>etonds an, die landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften nur aus-
nahmsweise) vergröfserten sich im Jalure 1897 folgendermafsen :
500
MiszeUcn.
GewerU. Ben^f^;cnowen^dlaftca
Luuhrirtadi. „
IteiipVeisicheniiigsaiistalten . .
Zusammen
Dag^en 1896:
Einla^'en in die
Reservefonds
Mk.
1378830,49
4»« 5*3.58
67981,10
1768335,17
4 997 575.» «
Bestand der koservc fonds
am Schlüsse des Jahres 1S97
Mk.
129853853,75
5569958,06
7l77ia,68 ^
136l415>4.49
>34493 135.3s
Eigentliche Entnahmen aus dem Reservefonds sind nur bei 5 land-
wiitsdufUicheo Berufsgcnossenschaften vorgekommen im Gesamtbeträge
von 43 7i4»62 Mk. und zwar wie im vorhergehenden Jahre bei derHessen*
Nassaukchen landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft und den vier
wflrttembeigischenlandwirtschnftlichcn Berufsgenossenscliaftcn. Attlserdem
waren die meisten gewerblichen Herufsgenossenschaften in der Lage, 1897
die Zinsen oder wenit^stens einen Teil der Zinsen des Reservefonds zur
Deckung ihres Jahresbedarfs mit zu verwerten; denn der 18 Abs. i des
Unfallvcrsicherungsgesetzes gestattet ihnen das, soweit der Reservefonds
den taufenden doppelten Jahresbedarf erreicht hat. Diese Zinsen beliefen
sich zusammen auf den recht bedeutenden Betrag von 4489 546,84 Mk.
4. Lohnstatistik. Wir enthalten tms auch in diei^em Jahre wiederum
aller näheren Mitteilungen über die in den Rechnungsergebnissen ent-
haltenen Lohnangaben, da sie aus den früher (B± U S. 645 und Bd. IV
S. 538) dargelegten Gründen jedes statistischen Werts entbehren. Die
Summe der ftir die Beitregsberechnung in Ansatz gebrachten Löhne und
Gehälter der in den gewerblichen Bcrnfsgenossensrhaften versicherten
Personen helief sich im Berichtsjahr auf 4253620601,92 Mk. gegen
3922996386,52 Mk. im Jahre 1896.
IX. Invaliditita- und Alteraveraicherung.
I. Organisation. Im Jahre 1807, dem siebenten seit dem Inkraft-
treten des Invaliditäts- und AUersvi rMi hcrungsgeset/es , bestanden wie
in den vorhergehenden Jahren 31 Versicherungsanstalten, die folgende
Organe hatten:
1897
1896
1895
1894
»54
«53
»5»
150
76
75
73
72
36
34
»4
«3
Bureau-, Kassen- und Kanzleibeamte .
. 1287
1186
1079
981
Unterbean-.tc
107
'05
99
87
Mit jrlicd'T (Jcr Au>>thu>se ....
610
bio
610
61S
. 66328
66274
66 205
65776
Digiii^icu b
Ernst Lange, Statistik d. UnfaUvcraicfaenuig etc. im Deutschen Reich 1897. joi
KontroUbeamte
Scbied^richte
Besondere MaikenTerkaufsstellen . . .
Mit der Beitragseiniiehimg iietrante
Krankenkassen
In gleicher Weise mitwirkende Gemeinde-
behörden und sonstige von den Landes-
Zentnlhehfirden bezeichnete Stellen
1897
1&96
1895
1894
333
393
35«
302
495
499
499
605
9113
9095
917«
9a8s
5334
5«»4
5014
4819
2 936
2940
2939
3936
Abgesehen von der Vermehrung der Bureau- und Kassenbeamten,
die der Natur der Dinge entspricht, sind also keine irgendwie nennens-
werten Veränderungen gegen das Jahr 1896 zu verzeichnen.
Atifser den Versicherungsanstalten waren an der Ausführung der
Invaliditäts- und Altersvenichening wie bereits in den Gkof vorhergehen-
den Jahren noch 9 besondere Kasseneinrichtungen beteiligt, nümlich
5 Eisenbahnpensionskassen — • die preufsischei bayerische, sächsische,
badische und die Reichscisenbahnpensionskasse — und 4 Kaappschafts-
]>ensioiiskasscn — die norddeutsche, Saarbrücker, Bochumer und die fUr
das Königreich Sachsen.
Die Zahl der versicherungspflichtigen Personen ist
nicht bekannt. Rechnet man 46 Beitragsmarken aut eine versicherte
Person, so waren rund 10,67 Millionen Personen versichert (gegen 1896:
10,42 Mill^ 1895: 9»S5 MiU. und 1894: 9,61 Mill.). Die Durchführung
des Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetzes läfit also nach wie vor
viel zu wünschen übrig (z. vergl. das Bd. VII S. 703 — 704 Dargelegte).
Das Reic hs -Versicherungsamt geht in den Vorbemerkungen zu dem Ta-
bellenwerk für 1897 ^OJ'i zwei versrhiedenen Annahmen aus: einmal nimmt
es an, dals die Zahl der versicherungspflichtigen Personen rund 1 1,23 Mill.
betrage, das andere Mal — unter Berücksichtigung der Ergebnisse der
Berufszählung vom 14. Juli 1895 ~" "»55 Mill. Bei der ersten An-
nahme kommen auf den Kopf der Versicherten 43,7, bei der zwdtoi
43,5 Wocfaenbeitiäge (Marken) g^gen 1896: 43,0, 1895: 40,9, 1894:
40,4, 1893: 39,8. Im übrigen bitten wir, das Bd. Xn S. 564 Gesagte
nachzulesen.
s. Leistungen der Versicherugsanstalten. Von den 31
Versicherungsanstalten wurden festgesetzt:
1897 1896
AUenrentcn. . . . 3i688 SS403
Iimlideweiiten. . . 71733 60562
nninmca . 93411 85964
Die ans den früheren Jahren nachgewiesenen Zahlen sind mit diesen
nicht vergleichbar, da sie nach etwas anderen Grundsätzen aufjg;estellt sind.
uiyiiizeo Dy Google
502
Miszellen.
Beitiagserstattungen wurden gewährt
mUe von Verheiratiing TodcsftUe zasammen
1897 . . . 99680 20197 119877
1896 . . . 63 812 14484 77696
1895 ... 833t 2075 10396
Wie nicht anders zu erwarten war, ist die Zunahme hier sdir be>
trächtlich.
Die v<»i den Versicfaerangsanstaht-n an Entschädigungen und Bei-
tragserstattungen gezahlten Beträge beliefen sich auf
Kai»tal-
Entattimg von BeitifccD
Allers-
rentcD
Invaliden-
renten
abfindoDgen
an Aus-
Kosten
des Heil-
in Fällen
diT W'T-
in Todes»
nUlen
länder
verfahren!»
heiratung
Mk.
Mk.
Mk.
Mk.
Mk.
Mk.
Mk.
■891
9048435.35
9.45
339.60
30J.99
9049086.39
1892
12318781,21
713600.19
64,60
31835,70
13064281,70
1893
13336163,55
2797596,06
963 —
107 179,2 t
16241 901,82
1894
14 177 586,05
5 388 486,88
907.01
362773,78
-■"Jo 753,72
1895
15630814.37
6396990,25
3 7 74.9. ^
62t> 759,40
158 294,95
S3 570.40
^4870213,32
1896
16 187 279,86
1 1 58S im ,36
1 470.34
1 164009,39
I 457099,14
447 568,50
30 845 528,59
1897
16 sog 83 1 .62
I 5 07 I ;6f 1.09
2007,54
• ^^2733956
2 5S5 946,48
711 994.10
y> 499579,39
zus.
97 192^892,01
10427,04
4120199,03
4201340,57
1 213 142,00
150 700344,93
Die Ausgaben (tir die Altersrenten haben sich gegen das vorher-
gehende Jahr also fast gar nicht mehr erhöht, die für Invalidenrenten
dagegen so betleiitend, dafs sie nunmehr der Summe der Altersrenten
beinahe gleich kommen. Die Anfwenduniien für das HoiK erfahren sind
wiedeniin beträchtlich angewachsen; ö.nch k^mmt aiuh jetzt noch diese
Art (icr Kiirsorge in den einzelnen \'erh.ichcruiiu^aiistaUcn in sehr ver-
schicdciiciu Maise zur Geltung. An der Spitze stehen m dieser Be-
ziehung nach wie vor die Hansestädte mit einem Aufwand von 204 705 Mk.,
dann Hannover mit 169756 Mk, Baden mit 155 411 Mk. und Berlin
mit 153620 Mk. Sehr wenig geschieht immer noch in Bayern fUr das
Heilverfahren : eine bayerische Versicherungsanstalt, Oberpfalz, hat sogar
keinen I'fennig für diesen Zweck ausgegeben.
T'ie ( 'Fes;in\tsnmnie der Entschädigungen (einschliefslicli der Auf-
wendungen tur da- Heilverfahren! und der BeitragserslaHungen, die von
den Versicherungsanstalten bis Ende 1Ö97 gezahlt worden ist, beläuft
sich, wie man sieht, bereits auf liber 150 Millionen Mark.
Ein Bild davon, was die Alters- und Invaliditätsversicherung Air die
Versicherten überhaupt geleistet hat, erhält man indes erst, wenn auch
die Leistungen des Reichs und der besonderen Kasseneinrichtungen mit
in Betracht gezogen werden. Es ergiebt sich alsdann, dafs auf An*
DigiiL j l y Coogle
Erntt Lange, Statistik ä. UnfiUlTemcfaenmg etc. im Deutschen Reidi 1897. J03
Weisung der 3 1 Versicherungsanstalten und der 9 Kasseneiarichtungen an
Renten und Beitragsersiattungen im ganzen gezahlt sind
Beitragscrstattungeu in
Atten-
Invaliden-
FlUlen Ton
TodeS'
fcntcn
renten
Verheiratong
fSUen
rosa Minen
Bfk.
Mk.
* Mk.
Mk.
Mk.
I89I
15 306 702,26
52,08
«5 30^7541 34
1892
21 071 602,06
" 353 433. »9
22425035,25
1893
22763337.03
5282850,42
28046 187,45
1894
24474443.49
10173 183,29
34647626.78
1895
26576369,93
15525632,49
158562,76
60806,32
42321 37 '.49
1896:
S7 412938,93
21 101 179^1
1 458 106,61
517251,79
50489476,60
1897
376a4893i4S
»7386315.36
3587433.7$
803599,81
58401643.37
sns
. 165829687,14
80822646,10
4304103,12
1381 657.9»
351 638094,88
Von diesen Summen ftelen dem Reich zur Last
Beitragserstattungen in
Altera-
Invaliden*
Fällen von
Todes«
tenten
renten
Verheiratung
aßen
Mk.
Mk.
Mk.
Mk.
Mk.
1891:
6049848,4 t
604984841
1892:
8410061,74
561 010,30
897*072,04
»893:
9052 ^^h, 71
2 209016,30
II 261 653,01
1894:
9682 iSd.^S
4 172710,29
13854806,57
1895:
10 4S ; >8o,3<j
6329679.35
158,11
11,36
16 813429,21
1896:
10 7 14 318,06
8405010,25
260,28
69,72
19119658,31
1887:
10742844,04
108536:9,17
192,92
•77.S2
31 596843.65
65 »35475.63
32 53' 055.66
611,31
358,60
97667401,30
Der Durchsrhnittsjahresbetrag der von den Versicherungs-
anstalten bewilligten Renten stellt sich einschliefsUch des Reichszuschusses
bei den Renten, deren B^inn fällt
Altersrenten
Invalidenrenten
Mk.
m.
in das Jahr
1891 aul
»23.57
i'3.39
1. 1«
1898
»27.34
114,70
II » H
1893 II
139,50
"7.99
n n M
«894 ..
135,68
131,3t
»* .. 1.
1895
13W
134,03
1. » II
1 8 06 „
«33.89
126,64
II n II
1897
»37,88 .
137,92
Als endgültig können diese Zahlen aber noch nicht angesehen
werden, da immer noch Renten bewilUgt werden, deren Beginn In
504
die früheren Jahre zurüdcfiült. Namentlich k&inen sich die für 1897
angegebenen Beträge noch wesentlich ändern.
In den einzelnen Versidierungsanstalten schwankt die durchschnitt-
liche Höhe der Jahresicnten im Jahre 1897 bei den Altersrenten von
174,13 Mk. in Berlin und 169,88 Mk. in den Hansestädten bis 120,58 Mk.
in Oslpreufsen und 119,44 Mk. in Oberfranken, bei den Invalidenrenten
von 139,22 Mk. in den Hansestädten und 138,97 Mk. in Berlin bis
122.56 Mk. in Schlesien und 121,83 Ostpreufsen.
Die vom Rechnungsbureau des Reichs-Versicherungsamts vorge-
DOmmene Verteilung der Renten auf die eansehien Vetndienmgsinstalteii
und Rasseneinrichtungen ergab, dals von d^ bis «un Schluls des Jahres
1897 verteilten Renten endgültig zur Last fielen
Da die Renten, an deren .Aufbringimg mehrere Versichenmgsan-
stalten und Kasseneinrichtungen beteiligt sind, hier mit jedem der An-
teile gezählt sind, so übersteigt die Zahl der Rentenaiiteile natürlich
bedeutend die der Renienemplanger, die von der Verteilung bis zum
Schlufs des Berichtsjahres bereits betioflRen worden sind.
Bei der Kapitafoierung der Renten ist von der VfMaitasetzung aus-
gegangen, daft sie lebenslänglich gezahlt werden. Wo an Stelle von
Altersrentenanteilen Invalidenrentenanteile treten oder umgekehrt, muls
daher der Kapitalwert der weggefallenen Alters- und Invalidenrenten -
anteile wieder ausgemerzt werden. Der auf diese Weise auszuscheidende
Kapitalwert wird im ganzen auf 1236087 Mk. antrepeben, so dafs
sich der Kapitalwert der Kentenanteile der Versicherungsanstalten ins-
gesamt auf
(136087 541 + 171903989 — 1 336 087) Mk. » 306754443 Mk.
Anzahl
Jahrcsbetrag K.apitalwert Darehtchn. Jähret*
betrag eines Anteils
Mk. iOL* Bfk.
I. den Vcrsichenin^
anstalti'n ;
AUersrenU-nantcile . . 3 1 S 79S
foTilidenrentenanteÜB . 295544
23574093.99 13^087541
19387572,18 171902989
73>95
65,60
2. den Kasscneinrich'
tungcn:
AltenKnteDantdle . . 6624
InvalidcnrentiaiuiteQe . ao 14S
Stellt
Von den Rentenanteilen waten bis zum Schlüsse des Jahres 1897
bereits wieder in Weg&U gekommen
Ernst Lange, Statistik d. UnfaUverrichemng etc. im Deutschtn Reich 1897. J05
1. bei den VeN
sicheniags*
Anstalten:
Altersrenten»
antdlc
Invalidenrenten-
anteüe . .
2. bei d. Kassen-
einriclitungcn:
Alteritrcnteu-
antcile . .
Invalidonrcnten*
antcilc , »
AnzaU Jahresbetng
Grund des Weglalls
Tod Kapital» Invali« Enrerba* Andere
aiifindnng ditit fibi^teit Grflnde
115746 83i537S«43 »«0053 23
89299 5703478,19 84870 47
5 135 — S«5
— 3018 1364
2248
6919
227283,
nicht angegeben.
Somit waren finde 1897 noch zahlbar
1. bei den Versicherungsanstalten :
AU<-r«-ri ni< iiant< ilc . . 203072 mit einem Jabresbctrag von l 5 25S 718,56 Mk
Invalidenrculcuamcile . 200245 „ „ „ „ io^^4093i99 n
2. bei den Kassenetnrichtangen :
Altersrentenanteile . . 4376 „ „ „ „ 4?7449i83 n
Ittvalidenrentenanteile . 13229 „ „ „ „ 9l3t»*77 n
Nach den Gehumjahren stellt sich der Bestand an Rentenanteilen
am Schlüsse des Jahres 1897 fotgendeimafsen:
I. Versicherungsanstalten.
Altersrentenaateile.
Jahresbetng
AniaU
pCL
Mk.
pCt
1827 jojlUirige Rentcnempflbiger) . . .
»0337
5.09
903 887,02
5.9*
1S26 (71 „ „ ) . . .
18409
9.07
I 497 591.28
9,8»
1825 172 ., ) . ■ .
21 467
10.57
I 682393,78
11,03
«824 '73 II ) • ■ •
21 752
10.71
1059407,71
10,88
1823 (74 „ „ ) . . .
21978
10,82
1646520,13
10,79
1822 (75 «t M ) • • •
20762
10,22
1537973.41
10,08
J821 — 1817 (76 — SojShr. Rentenempflnger)
68677
33.8a
4957301.75
32.49
1816—1812 (81—85 n n )
»7 «39
8,44
I 201 552,8s
7.87
181 1 — 1807 (86—90 „ „ )
«371
i.»7
160231.47
1,05
1806 u. früher ^91 jähr. u. ältere „ )
180
0,09
1 1 859,20
0,08
InTalidenrentenanteile.
Jahresbetrag
Anzahl
pCt.
Mk.
pCt.
1S77 — 1872 ,20 — 23 nhn^c kcntencmpfilngcr (
3 '97
1.55
189679,59
•-39
1871—1867 (a6— 30 „ „ )
5 759
2,79
318598,65
2i33
1866—1862 (31—35 )
6312
3.06
377617,27
2,76
1861—1857 (36—40 ** ». )
7819
3.79
483339.a3
3.53
Archiv ftir s«t, G«4eUgcbuag u. Statistik. XV.
33
Digitized by Google
5o6
Jabresbctrsg
Anahl
pCt
Mk.
pCt
1856—1852 (41—45 jähr. RentcneinpfSiiger ) 9333
4.53
593 4'®'^°
434
1 851 — 1847 (46 -50 „ „
1 13805
6,72
915 900,61
6.69
1846-1842 (51-55 M n
) 20941
10.15
t 409481,82
10,30
I84I 1S37 (56—60 „ „
) 39810
»4.45
202661 1,72
14,81
1836—1832 (61—65 »»
) 43108
30,43
2873442,01
3l,0O
1831— 1837 (66—70 „ „
) 45307
31,97
3070547,13
32,49
i8a6 n. früher (71 jihr. u. Ütere „
) "794
ff A
■4"95S^|6o
'o»37
2. Kasseneinrichtungeo.
AlteriTcntenanteile.
Jahresbetrag
Anahl
pCt.
Mlc.
pCt.
1827 f7ojährigc RcntenempräQgcrj . . .
• 450
10,29
48968,53
1 1.46
1826 (71 „ », ) • • •
. 608
13 80
61 313,06
»4.34
1825 (72 „ „ ) . . «
. 658
•5^04
61 298,34
14,34
1*34(73 M » ). • •
. 5«7
13i4t
5007«>tOo
i3»»o
1823 (74 „ ., ) . - .
• S09
II «63
48314,58
11,30
i8u (75 .. *. ) • • •
. 45»
>o>47
33S73i04
7,86
182 1— 1817 (76— 80 jihr. Renteoempftager) 940
21.48
99340,4»
23.24
1816— 1812 81—85 „ „
) 147
3.36
1 5 809,43
3.72
1811 — 1S07 1S6 — 90 „ „
) 18
0,41
1 9^0,75
0,46
1806 u. früher (91 jähr. u. ältere „
) »
0,02
85,00
0,02
InTalidenrenteiiaiitei]
c
Jabrcsbetiag
Anzahl
pCt.
Mk.
pCt.
1877 — 1872 (20 — 25 jähr. Rentenempfänger
) 76
o.;;7
4 231,20
0.46
187 1— 1867 (26—30 „ „
) 204
»»54
1,24
1866—1862 (31-35 „ „
) 354
3,68
90883.65
3,29
1861— 1857 (36—40 „ „
) 466
hS»
38937.53
3»>7
1856—1852 (4>^5 « H
) *93
SM
45906,38
5.03
1851—1847 (4Ä— 50 „ „
) 1133
8.56
77423,06
8.48
1846—184« (51—55 M
) 1834
I3»79
128713,99
14,10
1841 — 1837 (56—60 „ „
) 2644
19,99
»88333,39
20,62
1836 1832 161—65 „ „
) 2925
22,1 1
209 104,41
22,90
1831 — 1827 (60—70 „ „
) 2178
16.46
1 50 7S0.1 5
16,51
1836 u. früher (7 1 jähr. u. ältere „
) 733
5.54
47 445.64
5.20
Bei den Altersrenten kann das Gebuitsjalir 18:^7 ai Vergleidien
nicht mit herangezogen werden, weil naturgemäfs bis Ende 1897 erst ein
Teil der bewilligten .Mtersrenten aus diesem Jahrgange — etwa die
Hälfte — verteilt war.
Ernst Lange, Statistik d. Unfallversicherung etc. im Deutschen Reich 1897.
Die Rentenempfitnger, die fiber 70 Jahre alt sind, beriehen hnner
noch, auch soweit sie erwerbsunfähig sind, zum weitaus gröfsten Teil
Altersrenten. Dies wird sich erst sehr allmflhlidi im Laufe der Jahre
ändern.
3. Aufwand, Einnahmen und Vermögen der Versiche-
rungsanstalten.
Die Verwaltungskosten der Versicherungsanatahen stellten sich
folgendermaften
1897
1896
1895
1S94
Mk.
Mk.
Mk,
Mk.
Laufen«! c Vcrwaltungskosten
3 61 1 630,86
3387964,67
3205184,83
Kosten der Erhebungen vor
Gcwihntiiff von Renten .
396044,8s
316377,68
818891,53
143011,31
Schiedsgeriebtskoaten . . .
335311.W
398833,68
30745^39
Kosten der Pi itragserliebing
und der Kontrolle . . .
2 196 :r4S,!;S
2050338.30
1 814584,25
I 642495,31
Kosten der kcchbhillc . .
3814,20
3456x>6
327368
Andere nidit ^orgetebcne
78510.76
76958,87
115991.20
79 «44.77
Ztu. VerwahaoDgduwtcn
6690889,00
6171884,59
5686930,54
5<H<39«.—
Dazu I'ntsrhHdifjtingen
ein&chl. der Beitrags-
entatttuigen . . .
36499579,39 30845528,59 24870213,32
20 129753,79
Znsaminni AiwgrtwB
43 "0468,39 37017413,18 30557143.86
25 171 144,79
An Kinnahmen stehen diesen Ausgaben gegenüber:
1897
1896
1895
1894
Erlöi M» d«a Beitragt»
Mk.
Mk.
Mk.
Mk.
ni:\rkpn 104666538,71 101596395,51 95351893.17 99730431,38
Erstattung von Renten»
Zahlungen .... 30781,09 34107,60 36725,23 33173,88
Strafgelder and vertdiie*
dene EiuBahmen . . 197088,84 159231.25 941837.96 563333,65
Zinsen 1493^036,43 13783381,97 10356467,61 7984858,68
Miete und Pacht aas
GrundbesiU . . . 49050,26 34637.49 29563,37 19558,36
Zusammen : Einnahmen 119879491,33 114536753,82 106716487,34 101329354,85
Davon ab: Anagaben 43120468.39 37017 4i3t'8 30557 «43.86 25 171 144,72
Bleibt: Beataad 76759033,94 77519340,64 76 159343.48 76158210,13
Dayon ab: Bnlagen in
die Reservefonds') . 4696962,92 »691843,31 6745735.59 7340838.33
Bleibt veriUgbar 73063060^ 74837497^43 69413607,89 68817371,90
') Abzüglich der Entnahmen aus den Resenrefonds (1897: 35068,40 Bit.).
33»
50Ö
Mis2cllen.
Das Gesamtvermögen der Venichenmgsanstalten setite sich
am Schlüsse der dnzeinen Jahre aus folgenden Bestandteilen zasammeii:
1897 1896 1895 1894
Kusenbestand ein* Mk. Üfk. Mk. Hk.
schlicfiOkh der Gut-
haben bei BonUiEiiMni S494799i77 7 > 15368,36 8168821,04 9280380,7a
Weitpapiere and -Ur-
kunden (Ankaufspreise) 521950746,85 443189593,74 363392683.67 285702691,75
Grundstücke (Ankaufspr. j 10576796,11 9436455,99 9224301,88 8587897,24
Zusammen 53So2i342.73 459741 4iS,oo 38o7S;8q6,59 303570969,71
Hierzu Wert d. Inventar. 942183,98 897436,47 81)1464,18 741639,87
Gesamtvcrraogcn 538964526,71 460638854,56 381677360,77 304312609,58
Von dem Gesamtvermögen entfiiUra auf die Reservefonds
1897 S3 56*6^.44 Mk.
«896 43604314,99 „
»«95 35694105,21 „
1894 «789*780.»»
Die in Wertpapieren, Darlehen lt. 8. w. angelegten Kapitalien haben
sich durchsdmittlich verzinst
1891 m 3,67 pCt.
1892 „ 3,67 „
1893 M 3.66 „
1894 „ 3.65 „
"895 3.58
1896 3,53 „
i8ii7 3.49 1.
An Beitragsmarken wurden von allen Versicherungsanstalten ver-
kauft in der
Lohnklasse 1897 1896 1895 1S94
L 105135877 105830416 1029^4236 10I46S23S
n. 1856S6395 184740012 177391:74 174179022
m. I19271078 115436086 106698714 I02q:;7209
IV. 80586745 73505583 66128439 032^4909
zusammen 490680095 479512097 453202563 441859378
Unter den Beitragsmarken II. Lohnklaase befanden sich
1897 452783 Doppelmiuken
1896 411053
»895 373149 ..
»894 »73406
L.ivjM^L,j L,y Google
Erost Lange, Statistik d. UiifaUvenicbenmg etc. im Dcatschen Reich 1897. J09
Dem Prozentsatze nach entfielen aul die
von den Hcilragsmarkeu vom Gesamterlös
iSq7
1S96
1895
1894
1897
1896
1895
1894
pCt.
pCl.
pCt.
pCt.
pCt.
pCt.
pCt.
pCt.
L Lohnkhsf
SM}
aa,o7
",73
22,96
14^
14.59
15,12
»5.32
u.
37.84
3«.53
39.t4
3942
3S49
36.40
37.ai
37.57
(darantcr Doppel-
markin)
fo.OOi
(0,09)
(0.06)
(0,09)
(0,08)
(0,08)
(0,06)
III. Lohaklassc
24 3«
24,07
23.54
23.30
27.35
27.20
26,86
26,65
IV.
16,42
15.33
»4.59
14.32
23,10
21,72
2U,8l
20,40
Die durchschnittliche Höhe des einzdnen Wochenbeitzag» stellte sich
1S91 auf 20.81 Pfennige
1892 „ 20. S6 „
1803 ■• 20.97
1894 „ 20,99 .,
1895 „ 31,04 I.
1896 „ si,i7
1897 H 3i»33
ist also von Jahr zu Jahr ein wenig gestiegen.
LITTERATUR.
Asc hro it ^ Dr. P. F.y Laiidgerichtsrat in Berlin, Die ZwangserzieJtuug
Minderjähriger und der sur Zeit hierüber vorliegende Preußische
Geset»enfwur/. Berlin 1900. J. Guttentag, Verlagsbuchhdlg.
Ich habe diese Schrift erst kennen gelernt , nachdem ich meine
eigene Abhandlung, die in diesem Band, S. 45S tV des Archivs abgedruckt
ist, bis auf die Kink-itung und den slatisti?>clien leil vollendet hatte.
Herr Aschrott nimmt auf die zur Begründung verwertete Statistik kerne
Rücksicht^ er scheint auch sonst mit der Begründung im ganzen ein-
verstanden ZU sein. Seine Aufgabe setzt er zunächst darein, den Be-
griff und die rechtliche Stellung der Zwangserzidiung zu untersuchen —
eine, wie auch aus meiner juristisch geringeren Darstellung hervorgehen
dürfte, durch das Verhältnis der Landesgesetzgebung zum Reichsrecht
ziemlich verwickelte Sache. Er unterscheidet 4 Aufgaben , die der
Landesgesetzgcbung gestellt seien, und prüft, wie (K r Kutwurf jeder dieser
Aufgaben gerecht werde. Er steUt die Fnidrinutr (ad 1). die vorge-
sehenen Einschränkungen bezüghch der auf otlentliche Kosten er-
folgenden Zwangserziehung bei den Fällen der 5$ 1666 und 1838 B.G.B. zu
beseitigen; d* h. diese eigentlidie obervormundschaftliche Zwangserziehung
soll auch eintreten können, wenn eine erhebliche Gefährdung des leib-
liehen Wohles festgestellt wird, also nicht an den Zweck gebunden sein,
den ihr der £ntwurf S ' ' sittliche Verwahrlosung des
Minderjährigen zu verhüten. Da die Kompetenz des Amtsrichters, über
jede erzieherische Thätigkeit zu urteilen, hierdurch noch erweitert wird,
so sclrlicfst mein Einspruch gegen die Erweiterung, wie der Entwurf selber
sie enthält, einen um so schärferen Protest gegen diesen Vorschlag ein.
Unter II (S. 23 ff.) betrachtet er dann die auch ihrem Wesen nach
landesgeseizlichen Fälle; er begrtifst mit lebhaftem Beifall, dafs
die untere Altersgrenze beim Vorliegen einer sonst strafbaren Handlung
weggefallen ist ~> zur Begründung genügt auch ihm die allgemeine Rede:
•
Digitized by Google
Aschrott, P. F., Die Zwangseixiehuiig Minderjähriger etc.
„leider zeigen sich nidit sdlen bei einem Kinde verbiedieriadte Neigungen
schon vor dem vollendeten 6. Lebensjahre*' — ; mit ebensolchem Beifall,
dafs in Ziffer III die Zwangserziehung bis sum vollendeten i8. Lebens*
jähre zugcbssi n werde. Nfan sei nunmehr, unter gleichzeitiger Anwen-
dung des Allerhöchsten Erlasses vom 23. r)ktober 1895 in der Lai?e, . . .
bei einem zu Strafe verurteilten Jugendlichen die StralvoUstrec kun^ \ or-
läufig auszusetzen und *statt dessen* lH.*i dem Vormunds( hafisgcru lite
die Anordnung der Zwangserziehung zu beantragen (S. 25). *) i>ten ganzen
Uttiang der Gefahr, und der Ungerechtigkeit, der mit dieser Bestimmung
das Thor geö0het wird, habe ich in der That, ehe ich diesen Satz las,
mir nicht vogegenwirtigt. Sie bedeutet nicht weniger als: wenn ein
junger Bursche wegen einer Prttgdd zu 8 Tagen Gefängnis verurteilt
wird, so kann nach gesprochenem und ,, ausgesetztem" Urteil, also ent-
IXCiien den CIrundregeln alles Strafrechts, dafs Schuld und Strafe einander
rechtlich decken sollen, der Staatsanwalt (denn er hat ja die be-
dingte Begnadigung in seiner Hand, und der Landrat wird sich ihm
nicht versagen) den Jungen abermals {t^is in idem!) dem Richter über-
antworten, d^ ihn nun kraft Vormundsdiaflsrechtes zur Zwangserziehung
auf unbestimmte Zeit verdonnern kann und soll, wenn sie wegen Un-
Ufnglichkeit der erddierischen Einwirkung der Eltern etc. oder der
Schule zur Verhütung des völligen sittlichen Verderbens ihm notwendig
scheint. Wenn diese Befugnis auch nur mit fonnaler Gerechtigkeit an-
gewandt wird, so mufs sie relativ am häufigsten gegen junge Leute der
oberen Gesellschaftskl.i.ss(,n sich richten, denn nur solche unterstehen in
Civilvcrhältnissen regelmalsig noch als 15 — lüjalxrige er/iehensciien Ein-
wirkungen der Ehern etc. oder der Sehnig die allerdings auch redit oft
schlechthin unzuUtQglich sind, ihr vWiges sittliches Verderben zu verhüten.
Der Minister des Innern, Herr von Rhembaben, hat diesen Haken
des Gesetzentwurfes wahrgenommen tmd kühn befestigt, da er ba
der ersten Beratung im Herrenhause (am 11. Januar) auf die — „Harm-
losen" hinwies, als zukünftige Objekte der Zwangserziehung. ^) Ob er
Weniger bitte ich dagegen dntvweiiden, in anderen Füllen wo „wegen der
Schwere der stiafbMen Haadlong" zanicbat die Stimfe voUatreckt wird, gleich-
seitig einen Beadütifs des Vommndschftflaigerichles auf Zwangieniehiiiig herbeixiip
fOhren „und so dem JngendUclien nach vollstreckter Strafe eine geordnete Eiziehiuig sn
teil werden zu lassen". Wenn alx-r in einer Anro. hinzugefügt wird, solche Nach-
rrziclnmg bestehe in Hamburg umi habe sich dort ,,sehr bewährt", so möchte ich
die Dokumente kcnrirn, in donm liii.sc B< währung nachgewiestu wird.
-) V'crhaudluugcu des HcrrcnbauÄe& 1900 S. 15. Der Minister will sogar, oder
findet doch dnrdi jenen Proseb den Wmuch nahe gelegt, „Jugendliche, auch wenn
sie majorenn nnd (t), nnd swar gerade Jugendliche ans den oberen Stinden, der
Zwansx^^hmig tiberweisen su lUSonen**. IHe Geradheit, womit dies ansgesprochen
wird, ist durchaus rflbmenswert Wenn aber der tfuiister, am Schlosse seiner
Digitized by Google
512
Littentur.
den Hi rron des Herrenhauses damit die Sache empfohlen habe, ob dies
die wirkliche Meinun^j des Entwurfes, oh eine entsprechende f<mna\-
c:er(?chtc Anwcndnuf^ des Ciesetzes erwartet werden dürfe: dies alles
niugea wir dahingestellt sein la.ssen. Was unser Autor terner (suh III)
Uber das Verfahren vor dem Vormundschafisgerichte ausfuhrt, bni ich
In der I^ge zum guten Teile billigen su können: er hat starke Be-
denken dagegen, eine Ma®el, die einen so eiheblichen Eingriff in
die Freiheit der Familie mthalte, in die Hand eines Einzehien, des Amts-
richters, zu legen; er macht den entschiedensten Einspruch dagegen
gehend, dafs der Land rat als „politischer üeamter" in dem t^itwurfe
als fins geeignete Organ lur die Stellung des Antrages ciugefülirt wird,
und im-int ,.d:il's wir uns gerade bei der weiten Ausdehnung, die wir der
Zwangser/ichung jetzt geben, vor nichts so sehr zu hüten haben, als auch
nur den Verdacht aufkommen zu lassen, da(s die neue Mafsregel iu
irgend einer Weise mit der Politik, mit politischen Anschauungen ver>
quiekt werden könnte*' (S. 30). Dagegen nimmt Aschrott einen früher *)
von ihm verfochtenen Gedanken, für diese Funktion besondere ,Jugend-
anwälte" anzustellen, wieder auf und fiihrt ihn dahin aus, dafs diese der
Staatsanwaltschaft als deren Hilfsoronne zu imterstellen seien. Er
nimmt an, es würden pensionierte Offiziere fiir diesen Posten besonders
geeignet sein und sich bereit finden lassen, eine solche „ihren sozialen
Verhältnissen entsprechende uiid iiuien sympathische Beschäftigung an-
zunehmen, die ihnen neben der Pension eine kldne Nebeneinnahme
bringt*'. Dies ist gewils sehr wohlwollend gedacht — für die pensio-
nierten Offiziere ; andere Gründe werden schweriich dafür sprechen. Auch
will der Verfasser (in IV, wo er die Ausführung behandelt), aufserdem
noch besondere Erziehungsämter bilden, in denen „neben Venvaltungs-
beaniten und Juristen vor allem Pädagogen, aber auch Aerzte ihren Sitz
hai)en' sollen i^S. 35I Nach meinem schlechten Verstände gehören
in ein Krz.iehungsamt weder Verwaltungsbcamte noch Juristen als solche,
sondern, wenn ein LAienurtcü genügen soll, so ist jeder andere redliche
Mensch, wenn aber, — wie ich allerdings meine — eine fiu:hliche Quali-
fikation erfordert wird, so sind nur Pädagogen (männliche und weib>
Hche) dazu berufen, die nicht notwendigerweise als Lehrer, wohl aber
notwendigerweise als Erzieher, kundig und erfahren sein müssen. Be*
Rcrlr, TTK-int, es handle sich darum ,,srhwrr<- Sehlden des Volkslebens zo beseitigen
uml gcf;ilirdi-ti- Krt i- ■ nn«Tcs Volkes wieder unserem Volksleben und unserer Ge-
sittung; zurückzug<-winiK-n'' — «ItircJi ilii--' s <",<-s,tz'I ■ so muls man sirh hetrüheti
wieder einmal über dos Material vuu liluäioueu, womit die GeseUgebung:>ma.schine
geheizt wird.
'1 In der Silirili ,,Dic ßcluiadlung der verwahrlonUn und verbrecherischen
Jagend und Vorschläge zur Rcforni". Herlin, Liebraann, 1892.
^ i.y Google
A Schrott, P. F., Die ZwaugMrrnchuug Minderjähriger etc. 513
Stehen aber solche Erziehungsämter, so weifs ich nicht, was neben ihnen
noch ein Jugendanwalt soll; sie, die Eneiehungsbehäf den , oder ein
ihnen unterstellender pädagogischer Beamter, wären die gegebenen
Organe für diese pädagogisch-polizeiliche Thätigkeit. Ich habe, in diesem
Sinne, schon im Jahre iSoi. in einem Gutachten, da*^ der von A.
3-' 35 erwähnten Kommission der Internationalen kriminalistischen
^'ereinigung vorlag, den Gedanken ausgeführt, dafs „Krziehungsräte" als
Inhaber i>taatlicher besoldeter Einzelämter für mindestens je i Physikats-
bezirk ernannt werden möditen; und füge heute wie damals hinzu, dals
an deren Stelle für gröfsere Städte koll^alische Erziehungs-
ämter mit ihnen untergebenen Distriktsbeamten treten sollten; (der-
gleichen Aeratcr waren auch in den V'orschlägen jener Kommission an-
geregt worden). Ich gab einen Entwurf für die Abgrenzung der Thätigkeit
solcher Erziehungsräte. Ich wie«; am Ende darauf hin, dafs die Institution
dem Gedanken nacii sclion \orhanden sei: „zwar mit }?eschräiikung
auf Kinder, die unter Vormundschait stehen, aber als solche sogar für
jede politische Gemeinde vorgesehen". „Das ist die Institution des
Waisen rats. Sie entsprang demselbigen Bedttrfeisse, das wir heute
in tieferer Weise erkennen und erfüllen wollen. Hören wir Dembtirg
(Das Vormundschaftsrecht S. iiS): (die Uebertragung der ( )berv()rnumd-
schaft an die Gemeindebehörden empfahl sich nicht flir Freuisen j. „Da-
gegen ist es /iilassijr nnd wünschenswert, Gcraeindeorgane zur Obsorge
über die persönlichen Verhältnisse der Mvindel heranzuziehen. *Denn
die Erfahrung zeigt die {Berichte nach dieser Richtung
hin wenig geeignet*. Ist es doch eine traurige, aber kaum zu
Uberwindende Thatsache, dafs ein grofser Teil der vaterlosen, der ärmeren
Klasse angehörenden Minderjähr^;en sittlichem Verderben und Ver-
brechen anheimtellt. Zur Abhilfe sdilug der Regierungsentwnrf der
Vormundschaftsordnimg vor, für jede Gemeinde oder für einzelne Ge-
meindebezirke einen Waisen rat einzusetzen, welcher *in freier
L i c b c s t h ä t i k e i 1 * si« h der sittlichen Hebung der Waisen . insbe-
sondere der arnu icn Khisscn , annähme. Ik'i der Heratunir in den
Häusern des Landtags erhielt dieses Amt den (Charakter emes Gemeinde-
amts und wurde eingefugt in den ordentlichen Organismus der Verwaltung
der Gemeinde." Soweit Demburg. Was in Wirklichkeit aus dem unent-
geltlichen , in freier Liebesthätigkeit wirkenden Gemeindeamt geworden
sei, dafür verwies ich auf das Urteil Münsterbergs: er glaubte, als
Berichterstatter über den Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuchs im
Deutschen Verein für .Armenpflege und Wohlthätigkeit, ' I „darauf hin-
weisen zu sollen, welche Uebelstande io dieser Beziehung (Verbindung
*) Bericht Uber die lo. JahresTcmminlang in Schmollers Jahrbuch. XIV, s.
S. 345-
L.ivjM^L,j L,y Google
5H
Littemtur.
der Vormundschaftsbehörde mit der Gemeindebehörde) bestehen, wid
wie wenig die Wünsche Verwirklichung fi&nden, welche man namentlich
in Preufsen an die Einrichtung des Waisenrates geknüpft hatte; in der
That ist die Verbindung des Vormundschaftsrirhters und des Gemeinde-
waisenrats fast überall zu einem toten scliriftlirhen Verkehr über die
Namen der Vormünder herabgesunken , bezw. hieniber nicht hinau«;-
gekttnumu . Das amtliche Urteil freilich lautet anders. ..Nach den im
Gebiete der Preufsischen V'orraundschaftsordnung gemachten Erfahrungen
hat diese Einrichtung namentlich in den grüfseren Städten sich entwickelt
und woMthätig gewirkt" heilst es in der Denkschrift zum (3.) Entwurf
eines Bürgerlichen Gesetzbuchs (Berlin 1896 S. 360), um die Ueber*
nähme des Waisenrats in das Reichsvorniundschaftsrecht zu begründen.
Zur Unterstützung eines Kenners wie Münsterberg könnten aber noch
viele Zeugnisse angeführt werden. So sagt Badstübner Der Waisenrat
Berlin 1895 Vorwort 1, es habe sich gezeigt, dafs den \N'aisenräten . , .
„meistens das Bewufstsein für die Tragweite der ihnen eingeräumten Be-
fugnisse und der damit verbundenen Pflichten mangelt". Dies, nachdem
die Institution 20 Jahre lang, bestanden hatte! Ebenso Brückner (Er-
ziehung und Unterricht vom Standpunkt der Sozialpolitik Berim 1895
S. x6). „Meistens hat es übrigens auch der Waisenrat zu keiner wirk-
samen Pflege der Minderjährigen gebracht, auch bei bester Organisation
ist er nicht imstande, die Mangel der Vormundschaft auszugleichen."
Was würde man wohl \on Rcgieunipstisrhen aus sagen, weini etwa für
militärische Zwecke so unzulängliche, annselige und sehlecht bewahrte
Mittel empfohlen und die Geldbewilligungen für bessere Mittel verweigert
würden?! Aber ftir moralische Zwecke ist immer noch der Schein,
•die Phrase, die Selbsttäuschung gut genug! — Zum Beweise, dafs hier
auch das Wollen nur schwach, ja oft nur ein scheinbares ist, mt alt'
quid fecisse videamur! — Wenn in der That der ernste Wille vor-
handen wäre, aus dem Waisenrat eine lebendig wirksame Institution zu
machen, so wäre die Finstellung von 5 — 6 Millionen Mark in den ordent-
lichen Etat das Allcmiindestc, was vcrhngt werden inüfste. — Auf diese
Betrachtungen führten uns Herrn Aschrotts Jugendanwaltt-, und wir treuen
uns, wenigstens in der Negation des kritisierten ( iesetzentwurfes mit
ihm einig zu sein, Ja auch über die Richtung, in der eine wirkliche
Reform einsetzen müiste. So kann ich auch manchem zustimmen, was
der Verfasser gegen die hn Entwürfe vorgesehene Ausführung geltend
macht; insbesondere, wenn er verlangt, dafs Vorkehrungen getroffen
würden, damit das Kind nirht in eine Privatanstalt komme, die flir die
Zwecke der Zwangserziehung ungeeignet ist; werm er als „noch schlimmer''
(als dafs ts inhetroff der Privatanstalten ht-i den bi^herigen \'orsf hrifteii
sein Bewenden haben sollej eine Bestimmung, die von der Herrenhaus-
kommission in den Entwurf hineingebracht ist, bezeichnet; wonach (imd
zwar bis zum i. April 1903 ohne jede Einschränkung) die Kommunal-
Tugan-BAranowsky, 11, Geschichte der russischen Fabrik.
verbände Zwangszof^lin^e auch in einer Korrekiionsanstalt oder in einem
Lnndannenhausc unterbringen dürfen (S. 431; wenn er endlich meint,
wenn man den Zuwachs an Zöglingen nicht in gehöriger Weise unter-
bringen könne, so solle man lieber das bikrafltreten des Gesetzes „etwas
hinausschieben" (S. 44). Meinetwegen in Kaienäas Gratcas. Mit Recht
wird auch gerügt, dafs die Begründung ttber die Frage der Ausführung
so wenig enthalte, und sich eingehend nur mit dem Kostenpunkt und
mit Verteilung der Kosten beschäftige (S. 37). Was nun diese angeht,
so bin ich — wenn einmal dies Gesetz gemacht werden sollte — wieder-
um mit Herrn Aschroit einverstanden, dafs am l)esten den Schwierigkeiten
(der ungleichen Leistungsfähigkeit der Provinzen) sich begegnen liefse,
wenn der Staat einen festen Zuschufs pro Kopf dc.^ Zoglmgs zahlen
würde; ganz und gar nicht einverstanden aber, dafe der Staat selber
durch seine Bezirksr^ienmgen die Zwangserziehung in die Hand nehmen
solle. Die Sache würde dadurch voraussichtlich nur bureaukratischer
und seelenloser gemacht. Die Vorsteher und Beamten der provinziellen
Kommunalverbände sind durch Kenntnis von I and und Leuten, durch
gröfserc Freiheit und Fähigkeit der Anpassung an Sitten, Anschauungen,
Redeweise <1es X'ulkes. durch näheren Zusanimenhnng mit den lokalen
Hehurden weil besser geeignet, solchen moralischen Aufgaben innerlich
gerecht zu werden.
FERDINAND TÖNNIES.
Tugan'Baran0'Wsky^ GiuhiekU der russisehm Fabrik. Vom
Verfesser revidierte deutsche Ausgabe von Dr. B. Minsks.
(A. u. d. T. Sozialgeschichtliche Forschungen. Ergänzungs-
hefte zur Zeitschrift für Sozial* und Wirtschaftsgeschichte,
herausg^eben von Dr. Stephan Bauer und Dr. Ludo Moritz
Hartmann. Berlin 1900, Emil Felber. 8^ VI u. 636 S
Rufslands Wirtschaftsgeschichte bietet uns nicht nur Interesse an
und für sich, sondern auch als bedeutendes, in mancher Hinsicht
eigenartiges Glied der allgemeinen europäischen Wirtschaftsgeschichte.
Leider befindet sich der des Russischen nicht mächtige Spezialfbrscher,
vom Laien schon gar nicht zu reden, inbezug auf Rufilaiid in
einer sdtr mifsUchen Lage : er ist angewiesen entweder auf die Original*
Studien weniger nicht russischer Forscher, auf Uebersctzungen aus dem
Russischen oder auf mehr oder minder zuPällige und dalx-i kurze Be-
richte über neuere russische Spe/ialwerke. Da aber l)is auf den heutigen
Tag in der einschlägigen nuisischen Litteratur selbst hinsichtlich der
516
Litteratur.
allerwichtigsten Fragen ein „Streit der Parteien" herrscht und Uber den
„Entwicklungsgang** der russischen Sozialwirtschaft die Gelehrten uneinig
sind, so ist die Lage eines Berichterstatters umso mifslicher, als man in
der russischen Farhlitieratur auch „zwischen den Zeilen*' lesen mufs. In
Aiil>etracht der spezifisch russischen litternrisch-f^esoHst haftlichen Mifsvcr-
halttiisse (Zensur!! nitirste eigentlich i^ler Kritiker eines russischen „grimd-
legenden" Werkes auch die wohlweislich gedaiuplien „Zukunti^niusik-
Töne" berücksichtigen, liefe er nicht dabei Gefahr, dem Verfasser gerade
dort die Karten aufzudecken, wo dieser sie notgedrungen verhehlen mufs.
Diese „Töne" drückten besonders in den letzten Jahrzehnten der
russischen volkswirtschaftlichen Literatur einen charakteristischen Stempel
auf und könnten auch zum Verständnis der unaufhurlichen Kämpfe
zwis( hen den ..Narodniki" und „Marxisten" als Schlüssel dienen. Jene
erl)licken in dem „Volke" iNarod), das /um aUergrulsten Teil aus grund-
besit/enden Hauern besteht, diese in der j>roletarisierten Arbeiterklasse,
die zweifelsohne in Zunahme begritlen ist, den Haupthebel des russischeu
Fortschritts; jene sind der Meinung, dafs Kuisland, ftir den Weltmarict
ein Agrikulturstaat nun* i^oxßy» dank seinen Agrarverhältnissen und
wegen der Konkurrenz der bedeutend fortgeschritteneren Industriestaaten,
die Hauptaurga])e seiner So/.iali>olitik im Kampfe mit den Verhältnissen,
die zur Proletarisierung der Bevülkenmg führen , erblicken müsse und
k()nne . diese hegen die feste Uel)erzcugung , dafs Rufsland. einmal in
den Strom der kapilalistis( hen Produkt ions- und W irt-( liattsform hinein-
gerissen, notwendigerweise von den von Marx entdeckten Gesetzen
auch weiter beherrscht sein würde, um dann in Gemeinschaft mit den
westeuropäischen Industriestaaten in das breite Meer der Sozialisierang
hineinzumünden, was umso wünschenswerter sei, als hierin auch die
sicherste Bürgschaft für den Sieg der bestmöglichen Produktionsweise
liege. Fert unda nec regitur!
Die (jeschichte der russischen Fabrik , die mit der Geschichte der
arbeitenden Bevölkerung — der landlichen und städtischen — in so engem
Zusammenhang steht, ist wohl geeignet, zur Lösung der erwähnten Slreit-
tragcü das werlvoUsle Material zu liefern. Deshalb verdient das Werk
des Petersburger Universitätsdozenten Tugan>Baranowsky besondm be«
achtet zu werden, wie dürftig auch die Quellen, die ihm zur Verfügung
standen, in mancher Hinsicht sem mögen.
„Meine Aufgabe war'', sagt der Verfasser, „die allmählichen Verände-
nnigen der inneren Ordnung der russischen Falirik unter dem Eintlufs
der \ eninderungen <les sozialökonomischen Milieus deutlich genug, doch
ohne ubertlussigi- Kin/elheiten darzustellen. Ich wollte zeigen . wie die
ursprunglich kautmannische Fabrik auf der Hasis der ökonomischen \ er-
hältnisse des petrinischen Kufsiand entstanden, im I^ufe des XVIII. Jahr-
hunderts in die auf Zwangsarbeit fufsende Adelsfabrik sich verwandelte,
wie diese letztere in der nikolaitischen Epoche allmählich abstarb und
Ta£an*Baranowsky, M., Geaclrichte der russisclieii Fabrik. ^ij
durch die neue aus der Kustarhutte /um Teil entstandene kapitalistisc lie
Fabrik ersetzt wurde; wie sich endlich in den verschiedenen Ki)ochen
der Stand der Fabrikantenklasse veränderte, aus welchen Schichten sich die
Fabrikantenklasse zosammensetzte. Ich war bemttht, die Beziehungen
zwischen Grofs- und Kleingewerbe wlhrend der Epoche der Leibeigen*
Schaft, wo die russische Fabrik Maschinen kaum kannte, zu skizzieren.
Stets dessen eingedenk, dafs es nicht das Bewufst-ein des Menschen,
das ihr Sein, sondern «mi^ckehrt, ihr gesellscliaftlii lies Sein ist. das ihr
Bewufstsein bestimmt > , betrachtete ich die Fabrik;.;esetzgehung und die
in der Gcsellscliatt herrschenden Ansichten und Anscliauunj^^en über
Fragen des Fabrik wesens , als einen Ausdruck der gegebeneu wechsel-
seitigen Beziehung Twischcn den gesellschaftlichen Kräften. Bei der
Beurteilung der gesetzgeberischen Thätigkeit des Staates stellte ich mir
zur Aufgabe, nicht so sehr diese oder jene Mafsnahme vom Standpunkte
der Zweckmäfsipkeit zu kritisieren , als die wirklichen Ursachen aufzu*
hellen, infolge welcher diese Mafsnahmen ins Leben gerufen worden
waren. Ueberhatipt verfolgt dieses Ruch ein ausschliefslich wissenschaft-
liches Ziel — die wirklich vorhandenen Thatsachen zu erklären." (V'or>
wort S. 2.)
Des Hüttenwesens erwähnt der Verfasser nur sehr selten, der pol-
nischen Industrie gar nidit. Auch beschränkt er seine Untersuchung
auf den in indusirieUer Hinsicht typischen 2^tralrayon Ru&Iands.
Dieses Buch ist der erste ^md des Werkes. Hier versucht der
Verfasser, die Geschichte der russischen Fabrik in allgemeinen Zügen
7ti schildern. Die gegenwärtige Lage der Fabrik und des Fabrikarbeiters,
die geographisclie \'erteilung der russischen Fabrikindustrie, die Konkurrenz-
bedingungen verschiedener Gewerbetjebiete . das Konkiirrcn/x n haltnis
zwischen Fabrik und Kustarj, die liedeutung des Verhältnisses /wischen
Kustarj und Acker, die Arbeitsdauer in verschiedenen Gewerbezweigen,
Frauen' und Kinderarbeit, die ökonomische Lage des jetzigen Fabrik*
arbeiters und dergleichen mehr sollen erst im zweiten Bande untersucht
werden.
Der Gegenstand dieses ersten Bandes ist lediglich die Darstellung
der Fabrikgcschichte, die ineistentcils bis in die neueste '/.eit ihre F.nden
spinnt. Nur die Geschichte der Anschauungen untcrl)richt <ier X'erfas^er
mit den 70er Jahren, da die Untersuchung der neuesten Litteratur der
Fabrikfrage von der Charakteristik der jetzigen Lage des russischen
Fabrikwesens nicht getrennt werden könne.
In der „Einleitung" wird die russische Fabrik im XVIIL Jahr*
hundert behandelt. Auf Grund der Aussagen verschiedener Ausländer,
die Rufsland besn< lu hatten, und der Untersuchungen rus'>ischcr For-
scher, kommt der Verfasser ztini S< lilufs, dafs bereits im moskovitischen
Rufsland in dem Handel das Km] mal eine sehr grofse Rolle gespielt, in\
Gewerbe dagegen die Kleinmdustric unbeschränkt geherrscht hatte. Wiq
Digitizeo by LiOOgle
Littcratur.
in anderen Ländern, so ging auch in Ru&land dem Gewerbekapitalismus
der Handelskapitalismus voran. •
^Die russische althergebrachte kapitalistische Klasse — der Kauf-
mannsstand - äufserte gar keine Neigung, sich der Produktion zu be-
marhtiiren. Der Knufmniin zog es vor, den Markt beherrscliend , die
ArbeitspK uiukte di-r kleinen Produzenten aul/ukauf'eii und diesen in voll
kouimcner Abiiongigkeit zu halten , ohne ihn in einen Loiniarbciter zu
verwandeln.** Erst unter Peter entsteht die Grolsindustrie unter unmittel-
barer Mitwirkimg der Regierung.
Die Umbildung der kustarischen Produktion in eine fabrikmiUsige
war früher aus dem einfachen Grunde unmöglich, weil sich bei der da-
mals herrschenden primitiven Produktioustechnik , bei der Pänfachheit
und P>illiL;keit der hergestellten Waren, die Kleinprf>duktion mehr
rentierte Was aber die Produkte, die von den Kustaren nicht ver-
fertigt wurden. betritVt, wie /. 15. feine Tuchsorten, Leinwand. Seidenstoffe
und dergleichen, so standen der Organisation von speziellen i abnkuntcr-
nehmungen zur Herstellung dieser Produkte zwei Hindemisse im N\ egc :
das Fehlen geschulter, kunstfertiger Arbeiter imd die Absatzschwierigkeit,
, da auf solchen ausländischen Waren ein geringer Zoll lastete. Das
Imltistriegewerbe des moskovitischen Staates behielt, trotz der Entwicklung
des Handels, seinen primitiven Charakter, und es würde diesen noch
lange bewahrt haben, wenn nicht auf der Bühne der Volkswirtschaft ein
neuer Faktor aufgetreten wäre — der Staat und an dessen Spitze der
willensstarke, bahnbrechende Peter der Grofse, der m ^euien Bestrebungen,
in Rufsland eine Fabrikindustrie zu gtünden, energisch ans Werk guig.
Und es war ihm auch gelungen, eine Grolsindtistrie ins Leben zu rufen,
da es genug Vorbedingungen dazu gab, die ihrerseits kein Ergebnis von
Regierungsmafsnahmen , sondern das der natürlichen Handelsevolution
gewesen. Das Handelskapital war die Basis, auf welcher während der
Ej)oche Peters die Grofsindustrie emporwuchs. Dies ersieht man daraus,
dafs zunächst die meisten ersten Fabrikanten, zum allergröfsten Teil ge-
borene Russen, aus den Hesit/ern des Handelskapitals bestanden, und
dafs sodann trotz Regierungsunterstützung, die man übrigens nicht
Überschätzen darf, die Gründung einer Fabrik mit groften Angaben ver-
bunden war. Ueberhaupt wurden, laut offizieUeo Angaben, die m^ten
Fabriken ohne Geldsubvention von Seiten dor Regierung gi^iründet.
Die von Peter zu Gunsten der Grofsindustrie getroffenen Maüfsregeln
versetzten manchem kustarmäfsigen Gewerbezweig einen harten Schlag.
Diese Politik führte zur Entstehung der russischen ( trofsindustrie.
Nichtsdestoweniger kann Peter schon aus dem einlachen Giunde nicht
als der Schopter der ru^M^ In n kapitalistischen Industrie betrachtet werden,
da die von ihm ins Leben gerufenen Grofsgewerbe lücht kapitalistisch
waren. Rufslands damalige sozialen imd wirtschaftUchen Verhältnisse
machten überhaupt das Vorhandensein der kapitalistischen Produktion
Digitized by Google
Tugan-Baranowsky, M., Geschichte der russischen Fabrik.
5*9
unmöglidi. Dazu fehlte vor aUem ^e Hauptbedingimg — eine freie
Arbeiterklasse. Die Gesamtmasse der Dorfbewohner war unfrei: zum
Teil waren sie Leibeigene des Staates, zum Teil der Grundherren. Die
Stadtbevölkerung war nicht grofs und bestand in hohem Mafsc aus den-
selben leibeigenen Klemcnten. Dies führte dazu , dafs es den nicht
adeligen Fabrikanten gestattet wurde (18. Januar 1721), für ihre industri-
ellen Unternehnmngeu ganze Dörler aufzukaufen. Dem folgte der Ukaz
vom Jahre i 7 36, wonadi die freien Arbeiter an die Fabriken för ,,ewig"
gebunden wurden. Die Fabriken gingen also zur Zwangsarbeit über, und
in der russischen Gro(smdustrie bekam das Verhältnis zmschen Kapital
und Arbeit ganz andere Formen als in Westeuropa. Die Fabriken
machten indessen keine Fortschritte: der Unproduktivität des russischen
Arbeiters, durch die der Fabrikant sich vcranbfst fühlte, ihn in einen
unfreien zu verwandeln , vermochten die Zwangsverhältnisse erst recht
nicht entgegenzusteuern. Nach Peter erhebt der Adel sein Haupt, ge-
winnt an Einflufs und erwirkt endlicli, dafs man den Kaufleuten das
Recht nimmt, für die Fabriken Bauern au kaufiea Als Ergebnis all
dieser gesetzlichen Mafsnahmen ging in der ständischen Zusammensetzung
der Fabrikantenklaase eine bedeutende Veränderung vor sich. Hatte es
unter den petrinischen Fabrikant beinahe keine .Adeligen gegeben, so
finden wir während der Regierungszeit der Kaiserin Katharina II. adelige
Fabrikbesitzer, und im letzten Viertel des XVIII. Jahrhunderts findet ein
rascher Uebergang der Fabriken aus den Händen der Kauficute in die
der Adeligen statt.
In der Katharinaschen Kommission flir die Ausarbeitung eines neuen
Gesetzeskodex stimmte das Manufakturkoll^ mit den Ansichten des
Adels ttberein, indem es forderte^ man solle die Kustaigewerbe ermuntern,
die Fabrikmonopole und die unfreie Fabrikarbeit aufheben. Für die
Freiheit dtB bäuerlichen Gewerbes und Handels setzten die Adeligen ihre
F<irderungen energisch ein , da es in ihrem Interesse lag, und die
Lehren der Physiokraten waren nur Wasser auf ihre Mühle. Die Folge
davon war eine Reihe von Gesetzen zu Gunsten der Gewerbe- und
Handelsfreiheit, durch die der rasche Aufschwung der Industrie bewirkt
wurde. Als die Kaiserin (im Jahre 1726) den Thron bestieg, zählte
man in Rufiland 9S4 Fabriken (abgesehen von den Bergwerksbetrieben),
während ihres Todesjahres gab es solcher 316t. Schon ^ Vermehrung
der Stadtbevölkerung von 328000 (im Jahre 1724) bis auf i 301 000
(im Jahre 1796) mufste selbstverständlich den Fabrikanten erleichtert
baV)en, Lohnarbeiter zu finden. Jedoch die gröfste Rolle spielte dabei
der Umstand, dafs unter den grundherrlichen Leibeigenen der Fron-
dienst durch die Zinsabgaben ^übrokj immer mehr ersetzt wurde, was
die Bauern veranlafste, in der weiten Feme Verdienst zu suchen. Diese
zinspflichtigen Landleute lieferten das Hauptkontingent der freien Lohn*
arbeiter. Im XVUL Jahrhundert machte die russische Großindustrie
520
Litteratur.
gerade damals die meisten Fortschritte, wo sie am wenigsten durch
Schutzzölle begünstigt wurde (vgl. die Katharinaschen Zolltarife von den
Jahren 1766, 1782 und 1703!), obzwar auch unter dieser Kaiserin den
Fabrikanten einsi hneidende Privilegien und Begünstigungen zu teil
wurdi-n Kin interessantes Moment ist, dafs, wie wir (irund genug an-
zunehmen haben, /ur /aIi der Kaiserin Katharina nieht nur die Fabrik-
industrie einige Forisi liritte verzeiclmete, sontlern die bäuerUchen Cle-
werbe sich in noch bedeutenderem Mafse entwickelten. Diese Erfolge
der Kustargewerbe standen in einem gewissen Zusammenhange mit der
Vermehrung der Zahl der Fabriken und der Fabrikarbeiter. Die B'abrik
war im XVIII. Jahrhundert die einzige Schule der gewerblirhet) Technik.
Diese Fabriken waren indes einfache Manufakturen und wurden für die
Kustari zu einer praktist hen Schule. Die l""abrikarbeiter , gewöhnlich
Landleute, die sich niu- eine jjewisse Zeit in den Fabriken aufhieUen,
ptlcifteii in ihre lleiraat auf das flache Land zurückzukeliren, dort eigene
klenieii- Werkstätten lu gründen und auf solche Weise auch unter iliren
Dorfgenossen die in der Fabrik erworbenen technischen Kenntnisse
zu verbreiten. In dieser Epoche kam der Antagonismus zwischen den
Kustari und den Fabriken nur in sehr schwachem Grade zum Ausdruck»
da die bedeutendsten und gröfsten Fabriken solche Waren produrierten,
die in der Kustarliütte nicht hergestellt wurden. W o der Antagonismus
dennoch zum Durchbruch kam (z. B. bei der Konkurrenz der Kattun-
fabriken mit den liauerlichen Leinwanddrui kern 1 , pt1ep:te die f^)ualität
der Produkte der Fabrik und der Kustarhuiie derait \ erstliieden zu
sein, dafs eigentlich von keiner Konkurrenz die Rede sein konnte. Die
russische Fabrik des vorigen Jahrhunderts • produzierte hauptsächlich
yTaren, die fiir die Regierung geliefert oder für den Gebrauch der
höheren Bevölkenmgsklassen bestimmt wurden, dagegen verfertigten die
Kustari grobe Waren, die ihre Kunden unter der einfachen Bevölkerung
fanden.
Und nun geht der \ erlasser im ersten Buch, welches der (ieschichtc
der russischen Fabrik in den ersten bo Jahren unseres Jahrhunderts (also
vor der üauernbelremngj gewidmet ist, zu seuiem eigeuilicheu Thema Uber.
Im XVIIL Jahrhundert hatten sich die Gewerbezweige entwickelt,
die die Nachfrage des Staates befriedigten (Tuch>, Segeltuch*, Schreib-
papier-, Leinwandproduktion). Dagegen wird im XIX. Jahrhundert,
während der Vorreforinzeit, das staunenswerte rasche Wachstum der
Baumwollfabrikation, die von der Nachfrage der Regierung vollkommen
unabhängig war, zum Hauptfaktor. In allen Büchern, weh lie die Frage
des aufialtenden Wacli^tums der russischen Baumuuilwcl)erei in dem
zweiten V iertel des XIX. Jahrhunderts so oder anders behandeln, wird
dies irrtümlicherweise ausschliefsUch mit der Herausgabe des äufserst
schutzzöllnertschen Tarife vom Jahre 1S22 in ursächliche Beziehung ge>
bracht, wo doch der Grund davon in den während der Jahre 1825,
Digiiizeu by ^i.jyi\,L^
Tagan>Baranowsky', M., GcKbkhte der nuiiicheii Fabrik. ^21
1S36, 1839 — 40 in England stattgehabten Gewerbekrisen, die zur tech*
nischen Vervollkommnung der Garnproduktion, folglich zur Verbilligung
der (iarnpreise führten, liegt: trotz des Tarifs vom Jahre 1^22 fiel in
Riifsland der darnpreis rasch. Parallel hiermit sanken auch die Preise
des Perrais und des Kattuns, die Nachfrage n.irh HauinwoUgeweben
wuclis und die Produktion derselben nahm zu. Dasselbe wiederholte
sich im Jahre 1841 nach dem 'Inkrafttreten der erhöhten EinfuhtseoU-
Sätze auf englisches Baumwollgarn: in der ersten Hälfte der 40er Jahre
war der Preis des englischen Garns in Suja um 15^30 Procent billiger,
als während der vorhergehenden fünf Jahre.
Und so findet vor allem die Entwicklung des russischen Baumwoll*
gewebes in den allgemeinen Wcltvcrhältnissen der (iewerbeevolution
ihre Erklärung. Rufsland wurde in den Kreis der kapitalistis( hen Ent-
wicklung Englands hineingezogen und ei^niete sich die technisclicn Fort-
schritte des letzteren an. Selbstverständlich war dies nur dank dem
hohen russischen Schutzzoll möglich, denn sonst würde die russische
Baumwollweberei der im Vergleich zu ihr in technischer Hinsicht bei
weitem fortgesdiritteneren englischen unterlegen sein.
Erst seit den 40 er Jahren ftifst die ruasiadie BaumwoUsfMnnerei
feste Wurzeln, als ihr die Möglichkeit gewährt wurde, englische Maschi-
nen zu beziehen. Auch dürfte der hohe Schutzzoll (nach dem Jahre
1842 50 Prozent ad valorem) viel dazu l)eigetragen haben.
Das rasche Wachstum der liaumwollwcberei in Rufsland wie in den
anderen Staaten rief eine schwere Krise im Leiuengewerbe her\or.
Dieses alte bäuerliche (iewerbe hatte noch im raoskovitischen Rufsland
bedeutende Dimensionen erreicht. Im XVIL Jahrhundert exportierte
Rufiland groise Mengen Leinwand Im XVIII. Jahrhundert wuchs die
Ausfuhr der Leinwandfidsrikat^ im XDL veränderte sidi die Lage —
die Ausfuhr begann zu sinken. Die Ursachen dieses Sinkens waren
baupCsttcblich technischer Natur. Das russische Gewerbe mufste also
immermehr seinen Rückhalt auf dem inneren Markt suchen, da Rufs-
land, wegen seiner technischen Rückständigkeit, mit Wet>tetiroj>a nicht
konkurrieren konnte. Daher vermochten sich nur solche Gewerbe/weige
bedeutend zu entwickeln, die so billige Produkte herstellten, dais sie von
einer' so aimen Bevölkerung, wie es das russische Bauemvolk ist, gekauft
werden konnten.
Die Ttichfabiikation, dieses Hätschdkind der russischen Regierung,
machte im XVIIL Jahrhundert sehr schwache Fortschritte.
Und erst nach dem Jahre 18 16, wo die Tuchfabriken von jeder
Reglementierung, die ihren Fortschritt nur hemmten, befreit wurden, be*
ginnt sich die Tuchfabrikation 7\i entwickeln: im Jahre 1814 gab es 235,
1825 — 324, 1S50 — 492 Tuchfabriken.
Die unter der unmittelbaren Einwirkung der Regierung gegründeten
Archiv für soz. Ceseugebuug u. Statiitik. XV. 34
522
l.iUcratur.
Fabriken beruhten auf Zwanjisarbcit und waren grof^'- lletriebe, die
lihriu. n w iion ;ui Umfang kleiner, hatten die grosse Volksraassc /um
Abr.cIiiiuM il.ii i I■.t/L•u^I^is^o nm! ver/cit hiieton wrluiltiii^märsifi hedcutond
;rröf-.crc l oiisi hiiitc. relative /.ilil der unfreien Arln itcr Itct.ind
si« li in stetiger AImkiIuiu.' nn'l in ursiehlieheni /iN.nnnicnlKin<:e mit dem
Wachstum der ii;uuiiuo(lindustrie, des 1 U' iiL;e\veibe>, wo, bei Herstellung
feiner uod mittlerer Tuchsorten, freie Arbeiter vorzugsweise beschäftigt
wurden. Die Verminderung der Zahl der Fabriken mit leil)eigenen
Arbeitern ersiebt man aus der relativen Abnahme der Zahl adeliger
Fabriken.
Nach dem Moskauer Brande beginnt für das Zentiutn der liaum-
woUindustric, daN 1 )orf Ivnnovo, eine niiitezeit: die Profile stielten ins
iMiertnel>liehe, bis /um „funff.uhen Knltci"' (300 l'ro/ent 1 und eine An-
zahl kleiner Produzenten veiniochie sich zu bereiehern. Obschon aui
Anlange der /wanziger Jahre der Preis der Druckarbeit und des fertig
gedruckten Kattuns zu sinken l>eginnt, vermochten die kleinen Fabri»
kanten indes bescheidene Kapitalien anzuhäufen, die dann ungehindert
immer mehr und mehr wachsen konnten. Alle Ivanovoer Fabrikanten;
von denen viele Millionäre waren, entstammen dem Bauernstände. Die
Mehrzahl von ihnen waren gleicli den Sujaer Patirikhesitzern urs]>rnni^-
lieh selbständige Krzeuuer-Ku>tari ('der l'a'hrikarbeiter. Auch an anderen
Orten fantl der>elL)e L'eliergang iler KunI.uw crkstatt in die Fabrik, des
kleinen Kustar zum grulVen lai)riki)esuzer , so im indusineilen iJorfe
Paviovo. Die Gründer aller BaumwoUwebcreieu, die am Ende der 50 er
Jahre funktionierten, waren mit wenigen Ausnahmen gutsherrliche Bauern,
die zuerst kleine Kustarwerkstätten gehabt hatten. Das Erscheinen diesem
neuen Typus (der bäuerlichen Fabrik) zeugte von der Reife der rus.sischen
Gewerbe und da\'on, dafs dieses l;ereits dem Stadium des Handels-
kajjitalisnnis entwachsen und in das des indvistriellcn getreten war. Die
leibeigene I'ahrik lebte, infoluc fler ( lew erVicc olution, ihre Zeit aus; sie
wurde dur» h die neue kapitali^tix Iii' 1 al>rik eiset/t, die auf freiem Ver-
lrag zwischen Unternehmer- Kaj^atalisten und Arl)eUern miste. Die bauer-
lichen Fabriken konkurrierten mit den adeligen beinahe nicht, da sie
fast ausschliefslich billige Ware herstellten. Weder im Interesse der
Regierung noch des Adels lag es daher, der Entwicklung der bäuer-
lichen Fabrikindustrie entgegenzutreten.
Das Kapitel „Die Krbfjuts- und die Pos^ession^f aiuik" ist hau|)tsächlicb
na« h unverotl'entru heu (Jue'ilen aus dem Archiv des Departements für
Handel"und Manufaktur verfafst und bringt viel Neues l)esonders inbezug
auf die Streik Uevvegungen iler unitcieu .Arbeiter, sowie die von seilen
der Re-ierung getroffenen Mafsnahmen, bald durch Gewalt, bald durch
gesetzliche Verordnmigen und Reglements hier Ordnung zu schaffen.
Da sich aber die Reglementierungen auch auf das Produktionsverfahren
erstreckten, so mufsten sie, selbstredend, im XIX. Jahrhundert Air die
r u <; a u • U a r a no w > k y , M., Go.scliichtf der russischon Fabrik.
Entwicklung dieser Fabriken hemmend sein. Dieses Umstandes wurden
sich die Fabrikbesitzer und die Regierung des Kaisers Nikolaj bewufst.
Ohne es zu waL:cn. eine einschneidende RL'fonn ili rchzitführcn, modelte
die Regierung das Institut der Possession sfabrikeu allmählich um, indem
sie CS an die neuen te< hnis'-hen Dedin^ungon aiuny>a>.sen suchte. Auf
den Uot hluls des Reu hsiMtes hin, UKin Nolle aut j^e^ i/lii lieni We^^c
aihnahlit;h <lie Po>sessiunbfabriken nutUt-ben, erfi)l_i;t<.- da> C
18. Juni 1840, welches einen Markstein in der Cieschichte der Possessions-
fabrik bildet und von dem sehr viele Fabrikanten sofort Gebrauch
machten, indem sie ihren unfreien Arbeitern die Freiheit gaben. Ak
Grund dieser Freilassung gaben die Fabrikanten an: die Einführung
neuer MasiMi i -i. die Veränderungen drs allj,auieiiun (iinges der Ge-
werbe- und HaiidelsL'ex hafte. ilie Xa< liteiliükeit unlVeie .\il)eiter /u \er-
wciiden, nicht selten aber auch ilcii l'iiL'chnrNiin der Posscssionsarbeiter
uud ihre stetiuen Kla^jcn «ic^en tiie l'alinkln'^it/er.
Weiler behandelt der Verfasser die russis« lie tabiikL:esft/^ebuiig
nach der Bauernbefreiung, welche Gesetzgebung mit dem „Reglement"
vom 34. Mai 1S35 beginnt. Dieses war einseitig genug, da der Arbeiter
vor Ablauf das Mietstermins die Fabrik nicht verlassen durfte, dem Fabrik«
besitzer jedoch das Recht einReraunit wurde, den Arbeiter „wegen Nicht-
erfüllanLi seiner l ilichren oder schlechten Hetrai;ens" 2U entlassen.
1 )ie (Jes< hichte der He>tiiiuiiunL.' des .\rbei!s?a<^cs tuul der l?e-
si inankunu tit^r KunK-r.Trbcit beginnt in RuTsland nic' t rnil dem (lesetze
vom Jalire 1882, wie man e> an/r.nehinen [itlei;!. -.undcin mit dem vom
;. August 1845, ^vonach die Nachtarbeit von Kindern bis /.um Lebens-
jahre untersagt wurde. In Wirklichkeit blieb dieses Gesetz unbeachtet.
Das Revolutionsjahr 2848 Jagte auch der russischen Regierung Furcht
ein. Sich auf eine alte Gesetzesbestimmung berufend, reichte der Moskauer
General'f^cnueincur '/akre\skij dem Kaiser eine utnl;aiirreic he Denkschrift
ein, in welcbei n tlen \"t»rschlag machte, es solle ilie Krrit-hlung von neuen
l'abriken imd die Frweiterung der beriits vorhandenen in Moskau ver-
boten werden. Kaiser Nikolaj t'aiul diesen (iedanken sein gut und niai hte
aul" der Denkschrift die eigenii.uuiige ikinerkung; „scitr wu luig; es soll
vom Ministerkoraitee berücksichtigt werden". Die Folge davon war das
Gesetz vom 28. Juni 1849, welches, wie vieles anderes, auch ein toter
Buchstabe blieb. Gegen diese „Eingriffe" der Regierung trat der
Manufakturrat ganz energisch auf, und ihm schlofs sich auch das Finanz-
ministerium an.
'I'rotz cncrgisrher Hestrebungen soh h einlUifsreii her .StaatsmSnner
wie (loli< yn, Seeri)atov, /akrevskij, die (irundlage einer russischen i'abrik-
gcset/gebung zu schaffen, sc heiterten sie an dein Wideret. unle ilcr !• ibnk-
besit/.er, deren üpi^osition sich in Kufsland bedeutend eilt»lgieiciier er-
wies, als im Lande der Bourgeoisieherrschaft, England, wo bereits im
Jahre 1847 clcr Zehnstundenarbeitstag gesetzlich bestimmt wurde.
34*
524
Littcratur.
Wenn man die Geschichte der russischen Fabrikgesetsgebuog ebem
genaueren Studium unterriebt, bemerkt man Idcht, dafs ihre Ausarbeitung
von Tollenden Umständen beeinflulst wurde: i. Von häufigen Unruhen
und ( lärun;;cn unter den Arbeitern in rus-«isrVicn Fabriken, hervorgerufen
dun h die schweren Arbeitsbedingungen, den geringen Arbeitslohn, die
aufserst lan^n- Dauer des Arbeitstages und du- ganz unhaltbaren hygienischen
unci sanuaren Bedingungen der Arbeit. Obgleicli in Rufsland bis zur jUngsten
Zeit jede Organisation der Arbeiterklasse fehlte, wirkten diese Unruhen
gewöhnlich stark auf die Regierung, die nicht gewöhnt ist, auf irgend
einen Widerstand des Volkes zu stofsen. Die russischen Fabrikarbeiter
stehen schon seit dem vorigen Jahrhundert bei der Regierung im Rufe
eines im politischen Sinne sehr gefähilichen gesellschaftlichen Elements,
das /u jeglichen l'nruhestiftungen und Aufständen geneigt ist. 2. In An-
betrat ht dessen stand das Verhältnis tler russischen Regierung zu
den Kabrikar])citern stets unter dem sehr betiac htlidien Einflüsse von
Erwägungen politischen und polizeilichen Charalviers. Fast aJle Fabrik«
gesetxe in Rufsland sind ttnt«r der unmittelbaren Knwirkung von &•
wägungen dieser Art hervorgegangen. Und endlich 3. ein mächtiger
Faktor in der Entfaltung der nissischen Fabrikgesetzgebung war und ist
bis jetzt geblieben die Konkurrenz zwischen den Fabrikbesitzern Zentral-
rufslands und denen der westlichen Gren/gebiete Rufslands (hauptsächlich
Petersburgs). (Vgl. den vortrefflichen .Artikel „Die neue Fabrikgesetz-
gebung Rufslands" in diesem Archiv Bd. XII.)
Im Kajjitel „Der Arbeitslohn''' beschränkt sich der Verfasser auf die
Textilindustrie in drei Gouvernements des Gewerberayons — Moskau,
Vladimir, Jaroslarlj. Der Verfasser verwertet hier dn interessantes
sdiriftliches Material: die Kontorbficher der Possessionsfabriken und
die schriftlichen Angaben der Arbeiter. Diese Daten beziehen sich auf
die Zeit vom Anfange des XDC. Jahrhunderts bis zu den 40 er Jahren.
Vor allem ersieht man daraus, dafs der reale Lohn der freien Arbeiter
bedeutend höher war, als der der unfreien, auch war überhau|>t der
Arbeitslohn im zweiten Viertel unseres Jahrlnmderts . im Veru^leu h zu
der friiheren und der späteren Epoche, hoch; eine Ausnahme davon
bildet der Arbeitslohn in der Baumwollindustrie. Dieser hohe Arbeits-
lohn war durch folgende Ursachen bedingt : durch das rasche Wadistnni
der Fabrikindustrie und der Nachfrage nach Arbeitshänden; durch die
Hörigkeitsverhältnisse, die dem Angebote von Arbeitshänden hinderlich
waren, sowie durch das Gedeihen der Kustargewerbe, die den Fabriken
Arbeitskräfte entzogen.
Sehr interessant ist da- Ka;>itel „Die Fabrik und die Kustarhütte".
Das Verhältnis dieser zwei Gewerbeformen /u einander bildet einen der
Brennpunkte der volkswirtschattlichen I>iskussion in Ruisland. in seiner
„Entstehung der Volkswirtschaft" vertritt Bücher die Ansicht, die Haus-
industrie der osteuropäischen Länder sei aus dem Hauslleifs entstanden.
Tagan*Bar»aowsky, M., G«sdiichte der rnssbchcn Fabrik.
Dasselbe wirdci holen Biicher und Sombart im Artikel „Hausindustrie'*
(Handwörterbuch der Staatswissenschaltcn). Und in der That ist dies
mit den alten rassischen bäuerliclien Gewerben der FaD.
Allem nur zum TeUl Die Moskauer Statistiker, die die Kustar-
gewerbe des Moskauer Gouvernements erforschten» lenkten auf die That-
Sache die Aufmerksamkeit, dafs die meisten bäuerlichen Gewerbe jüngeren
Datums sind. Dasselbe wird auch hinsichtlich der anderen Gewerbe-
j;ouvemements — Vladimir, Jaroslavlj. Kostroma etc. — bestätifrt. Sehr
viele von ihnen stammen aus dem ,, französischen" Jahre (1812). In vielen
höchst bedeutenden Gewerbezweigen sehen wir, wie erst durch das
Verlagssystem der Fabrikindustrie die bäuerlichen (bewerbe ins Leben
gerufen werden ; wie wir es am klassischen Bei^iel der Entwicklung der
Baumwollindttstrie im Dorfe Ivanovo illustriert sehen, die dacn fUhrte»
dafs sich die Grofsfabrikanten bei der Regierung, wegen der Konkurrenz
der kleinen Produzenten, zu beschweren begannen. Dasselbe wiederholt
sich z. B. in der Evolution der Leinenindustric. Die kustarmäfsige
Seidenweberei war ein ausschliefsiiches Produkt der Fabrikindustrie.
Auch in vielen anderen Gewerbezweigen sehen wir , wie durrli den
fabrikmäfsigen Grofsbetrieb eine Menge kleiner Unternchmimgen ins
Leben gerufen wird. Die kleinen Betriebe ▼ermochten die gro&en aus
dem Sattel zu heben, da es der damalige Zustand der Technik zufieft.
Wenn die nikolaitische Epoche indes als Blütezeit der Kustaigewerbe
auch betrachtet werden darf, so blieben damals dennoch die meisten
Knstari in Abhä!i;:M<:rkeit vom Kapitalisten, und vollends begann eine
neue Aera, als die Fabrikanten zum Maschinenbetrieb Zuflucht
nahmen.
Obwohl man sich während der Regierung des Kaisers Nikolaj in
Regierungskreisen gegenüber Fabrikindustrie und Kapitalismus mit Anti-
pathie, inbezug auf die „Volksgewerfoe^ dagegen mit Sympathie veihidt,
beschrttnkte man sich nichts^stoweniger im groften und ganzen nur
darauf, der Entwicklung der letzteren keine Schranken in den Weg zu
setzen. Der Fabrikindustrie griff man jedoch durch „Fabrikgesetzgebung**,
ProhiV)itivzölle, Geldsubventionen und dergleichen mehr unter die Arme.
TikI (lies geschah eben darum, weil in der Realpolitik nicht moralische
Rücksichten und Sympathieen der Regierenden, sondern reale Wechsel-
beziehungen der gesellschaftlichen Kräfte den Ausschlag geben. In der
nikolaitischen Epoche verwandelte sich das Rufsland der Hörigkeit in
einen kapitalwirtschaftlichen Staat und demgemäls gewinnt die Kapitalisten*
klasse an Einflufs, deren Ausdruck die ganze Gewerbepolitik der Re-
gierang des Kaisers Nikolaj I war.
Zwar begann noch vor der Bauerobefreiung die Ablösung der Erb-
giitsfabrik, die bahnbrechende Reform vom 19. Februar t86i rief den-
noch eine, wenn auch vorübergehende Krise der Fabrikindustrie, be-
sonders in den Fabriken, die auf Zwangsarbeit beruhten, hervor: Die
526
l.illcralur.
Arbeiter verliefscn die Fabriken, die Produktion nahm ab, ja viele Be-
triebe wurden eingestellt.
Tm Ciogcnsatz zu IVof. Karysov und Prof. Srhult/t'-(;ä\ ernitz . der
üi seinen Suidion (Die Moskau-Madirairsclie HaumwtdliiKlusti ic ) ICary.sev5
Ansichten teilt, L:elaiii;t der Vcrfa^-ser, auf (iiund seiner Bereehniinp /um
Schlüsse, (lals in der nissis< lien Industrie eine Kon^entrierung und \'er-
griilserung der Betriehe vor sieh gehe.
Rulslaiid befindet sich auf dem Wege, ein kapitalwirtschaftlicher
Staat mit vorherrschender Grofsindustrie zu werden^ was aus dem Kapitel
,,Der Kampf der Fabrik mit dem Kustarj^' besonders hervorgeht, meint
der Verfasser. Wo die Fabrikindustrie ihre Krallen ausstrecke, müssen
die Kustartrewerbc zusammenschrumpfen, im ungleichen Kamiife mit den
billigen l'al>rikerze!!gnissen ihr trauriges Dasein iVisien bis endlich die
weiteren tcchinschen l"< •rts( hritte der ( irolsbctriebc, mithin der VerbiUigung
der Pkh Ulkte ihnen eleu daraus machen.
Kulsland icide niclit wegen Entwicklung der kapitalistisclien Produk-
tiunsweise, sondern wegen deren schwachen Entwicklung, da es ach in
den ersten Stadien dieser Evolution befinde. Diese Uebergangszeit bietet
freilich dem russischen Fabrikhistortker die gröfsten Schwierigkeiten, da
er sich mit einer sozusagen symptomatischen Diagnose und Prognose
begnügen mufs.
Das be.u htcjiswerte Werk Tugan-Baranowskys ist vor allem ein
Produkt der inneren russischen politisch - wissenschaftlichen Fehden.
Hat auch Marx' Lehre in vieler Hinsicht bei vielen der bedeutendsien
russischen Gelehrten Schule geniat ht, so weichen doch auch sie gerade
in der Auflassung der sozialpolitischen Aufgaben des russischen Staates
von dem Geiste dieser Lehre ab, zu deren überzeugten Jüngern Tugan«
Baranowsky sich offen bekennt, selbstverständlich, insofern es sich hier
tun streng w i s sc n s r ii ,i ft 1 i c h e Tragen der weiteren wirtschaftlichen
Entwicklung Rufslantis hantielt. einer Kntwickhuig, die, nach ihm, gleich-
sam von unüberwiiidb \ren u ii ts( haftlichcii Cieset/.en bedingt wird.
Mochte sich der \ crfas>er inl>e/:UL; auf \ u le Kin/elfragen seiner l'nter-
suchung auf tut litige \'organ'j;er gestüt/t haben, — seine Gesauilleisiung
ist selbständig und grundlegend. Al)gesehen von den zahlreichen Rinzel-
momenten seiner Arbeit, die selbstverständlich, dank dem anerkannten
Sammclfleifs des Verfassers, durch ihre tüchtige Beleuchtung und Grup*
pierung tms viele neue Gesichtspunkte hervorkehren, ist dieses W erk in
seiner Gesamtheit vor allern als erster umfassender Versuch, aus der
notwendigen Entwicklung der russischen Fabrikindustrie den s i e g' -
nie heil Lauf des Ka|iitali>inus , das stete Wachsttun des Fabrikprole-
tariais m Kuisland zu zeigen, ein \ ersuch, der umso ernster gememt ist,
als der \ erfasser, trotz seines jjolemischen Eifers, uns nicht nur einen
vollen Einblick in seine statistischen Vorarbeiten und Berechnungen ge-
währt, sondern auch sehr viele Erscheinungen der russischen Volks* und
1 ugan- Haranowsky, M., (ji.-»t:hicbtc der ru^äi^jhcn Fabrik.
527
Staatswirtschaft aufdeckt, die seinen Schlufsbetrachtungen einen Strich
durch die Rechnung machen, so z. B. wenn er uns den gewaltigen
Aufschwung der sUdrussiscben Eisenindustrie itn letzten Jahrzehnt schildert,
die doch unter enormen Beijünstigungeii der Regierung für westeuropäische
Verhältnisse fabelhafte Dividenden abwirft und die, mit ausländischem
(^elde geschalTen, so zu sagen den Stein] le! der „Kunden[)rodnktion"
tragt, l ud wenn sicli der Verfasser ati \iL'len Stellen gegen diejenigen
scharf wendet, die dieses „Grofs/.iehen" der russischen Fabrikindusirie
fitr eine «»künstliche" erklären, so giebt er dennoch selbst zu, dafs sich
dabei die Regierung von ihren Staatsinteressen, d. h. politisch-militäri-
schen leiten läfst: dem gewaltigen Ausbau des Eisenbahnnetzes! So ist
nun doch die schönste Blüte der nach dem Verfasser keine^u^ , .künst-
lichen" echt tuoderncn grol'ska[)italistischen Fabrikindustrie, der Eisen-
industrie, nirl;t> anders als die Sch<)i>fnFifr der im altpetrinischen (leiste
haiidehnien kegicrung, die im Hanne iiires staatli< lu-n ..Klasscn-
iieu u^^tNeins" befangen und um das Dasein und (irofhwcrden iiires m-
dustriellcn Pflegekindes besorgt, die wirtschaftlich bedeutendste und
zahlreichste Klasse, die politisch mtmdtote Landbevölkerung im grofsen
und ganzen einfach im Stiche läfst. Freilich nur bis die russische
Grofsindustrie auf ihren „eigenen" Beinen stehen würde, was allerdings
umso schwieriger ist, als die russische Fabrikindustrie nach der richtigen
An<i< ht de-^ Verfassers immermehr auf den inneren Markt angewiesen
wird und daher bei der Verarmung der grofsen Massen keine alUu rosige
Zukunft haben kann.
Sofia. BüRlb .\UNZ1-:S.
uiyiii^od by Google
Das
preufsische Gesetz betreffend die Warenhaussteuer.
\'on
Dr. HEINRICH COHN,
RecbtsaDwalt in Berlui.
I.
Das im Juni i<>oo endgültig beschlossene (icsctz betreffend
die W'arcnhausstcucr war in der Thronrede vom 9. Januar dieses
Jahres angekündigt worden, mit der Hoffnung, es werde „zur Er-
haltung und Stärkung des Mittelstandes in Handel und Gewerbe
beitragen". — Indem die Thronrede sich auf diese licgründung be-
schränkt, bringt sie klar zum Ausdruck, dals das Gesetz die Steuer
nicht zu fiskalischen Zwecken einführen soll, sondern mit dem Ziele
ausgleichender Gerechtigkeit. Der wirtschaftlich - technische Vor-
sprung, den das grofse Warenhaus vor dem kleineren Betriebe vor-
aus hat, soll dadurch eimgerma&en gut gemacht werden, dals der
gro(se Betrieb mit der Steuer belastet wird. Dieser unfiskalischen'
Tendenz entsprechend, fiberlalst das Gesetz die Ertragnisse aus der
Steuer den beteiligten Gemeinden, und zu einer gesetzlichen Re-
gelung griflr man nur deshalb, weil nach den der Regierung ge-
wordenen Nachrichten die „Annahme begründet erschien" : „dals die
Gemeinden sich zu einem autonomen Voi^hen in der Richtung einer
gegenüber derjenigen der kleineren Konkurrenten eriieblich höheren
gewetbesteuerlichen Belastung der Grofsbetriebe im Detailhandel in
absehbarer 2^t in genügend weitem Umfiuige nicht bereit finden
lassen würden" (S. Ii 12 der Motive).
Die R^ening will also das Geld nicht für sich. Da die Ge-
meinden es aber auch nicht haben wollen, wird ihnen das Bencficium
dieser Steuer obtrudiert. Damit ist ebenso scharf wie in der Thron-
Afchiv tat tot. OtmifbMin «. Statistik. XV. 35
Digitized by Google
530
Heinrich Cohn,
rede zum Ausdruck ^^cbraclit, dals die Steuer der Sozialpolitik und
nicht Stcuerzweckeu dienen soll.
Die GesetZL,'ebuu*^ hat damit einen N olli^; neui n W eint^^e-
schlat^^en. Allerdini^s handelte es sich auch hei ein/einen früheren
(icsetzeii darum, ,.den Sclnvachen L,'eL^en d'^n Starken zu schützen";
docli ^ehtjrlen hier der Starke und der Schuaciie nicht dem i^leichon
I'crsonenkreise an. .So schützt das W'ucheri^esetz den Darlelms-
nehmer ^ei^en tkn I)arlehn>^cber, die Arheiterschutz^fesetze den
Arbeiter 'f^ei^en den Uiilcrneinner. Bei der W'arenhausstcucr ist aber
das Ziel des (icsetzes, den schwachen Konk urrenten ^e^^en den
stärkeren zu schützen, und damit setzt es sich in Widerspruch zu
dem herrschenden Wirtschaftssystem. Dieses beruht auf dem
Grundsatz der freien Konkurrenz, einer Art Anwendung der Dar-
win'schen Theorie auf das Wirtschaftsleben. Der stärkere Konkurrent
verdrängt den schwächeren zum Besten des Gemeinwohls^ denn nur
der kann der stärkere sein, welcher seinen Kunden mehr leistet,
als der, den er verdrangt. So verdrängte die Eisenbahn die Post-
kutsche, die Webemaschine die Hand weberei. ^ Der Staat hat aller-
dings andrerseits ein berechtigtes Interesse, daCs nicht eine gröisere
Zahl von Menschen brotlos wird. Wiederholt hat er die Folgen
des Konkurrenzkampfs den Unterlegenen zu erleichtem gesucht —
sei es durch Notstandsarbeiten, sei es durch Bestrebungen, einer öko-
nomisch zu schwachen Schicht die Ergreifuni,' anderer Ik-rufszweigc
zu erleichtern. Niemais aber suchte man die Hilfe für den Schwachen
darin, den Starken zu schädigen. Zu Unreclit wurde bei der Be-
ratung des Gesetzentwurfs versucht, die Schutzzölle als ein Präjudiz
in dieser Riciitung anzuführen. Will man selbst die falsche Theorie
waln- haben, dals das j'roduktcnreiche Ausland den Zoll zahlt, so
stände hier tler starke Konkurrent, dem man das (ieschiift zu er-
schweren sucht, doch aul>erhal!) lu :>erer \\ irtschaftsi;enR'inschaft.
Ks wurden in der Disku>isi(jn Hiaiintwcin- und Zuckersteuer ziun
Vergleich heran;^'ezoi;cn. — So erklärte /. H. der l^inanzminister
Miquel in der Sitzung des AbJ^cordnelenhau^es vom 26. I'cbruar ioot).
um flie HesteueruuL; der „(irolsen" zu rechtfertigen: „hätten wir ii.x>
Milliunen M.uk neue Steuern \on diesem (iewcrlie iBrennereii ver-
langt und einfach eine f^leichmäfsigc Steuer von allen ik'trieben er-
holx:n, ohne Rücksicht darauf, ob der Branntwein in grolsen ge-
werblichen oder in kleinen landwirtschaftlichen Betrieben hergestellt
wird ..."
Der Vergleich hinkt. Es ist nicht richtig, die „grolsen gewerb-
Das prcubiüchc (icsicu bttrclltnd die Warenliaussioucr.
liehen" Brennereien den „kleinen landwirischaftltcbcn" gegenüberzu-
stellen. In vielen Fällen sind die landwirtschaftlichen grofs und die
gewerblichen klein. In allen Fällen haben aber die gewerblichen
den Zuschlag zur Verbrauchsal^be zu zahlen, die landwirtschaft-
lichen dagegen nicht. Die vom Abgeordneten Gamp zum Vergleich
Herangezogene Brennsteuer ist als progressive Ertragssteuer (d. h. als
Steuer auf das produzierte Quantum) ein Ausgleich für die Maisch-
raumsteuer, welche eine Steuer auf das Quantum des verbrauchten
Rohmaterials und daher im Verhältnis zur technischen Leistungs-
nihiL^'kcit des Betriebes eine degressive Steuer ist. Es war — wie
bei der Ziickersleucr — nicht die Absicht vorhanden, den Grolsen
zu Gunsten der Kleinen Sclnvieri^kciten ZU machen. Ks handelt
sich vielmehr um sehr komplizierte Steuersystcnic, die den Zweck
verfolgen, den Export tu steigern, eine erhebliche Steuer einzu-
bringen lind die Preise hoch zu halten.
Der Staat hat niemals daran fjrcdacht, im Interesse des Mittel-
statids der Haiidwchcr die Maschinenwehcrci diirrh hesotidcrc Steiu rn
zu beschweren oder im Interesse des Mittelstands der h'uhrlcute den
i'-isenbahnen das Leben sauer nia<"lirii /u udllen. Ktwas derartiifes
auf dem (lebiet des W'arenhandcl^ /.u thun, ist aber der in iler
Tliroiirede feierlich aus^^rsprochene Zweck der W'arcnhaiisstcuer. Dem
ent.s|jrechend j^eht die ,.Hei;riindun»^" von dem Gedanken aus, dals
das Warenhaus dem altmodischen Detailh. uuk 1 entschieiien überlegen
sei, sie hebt fast liebevoll die Vorzüge der Warenhäuser hervor.
Dieser Teil der Begründung ist so trefflich, dals wir ihn wörtlich
wiedergeben.
„Iiurch ihre Küpitalkrail und die Gröfsc ihres L'niüaUi's sind jene He-
triebe in den Stand gesetzt, sich einen billigeren Einkaur ibrer Waren zu
verschaffen als ihre kleineren Konkurrenten. Sie vcrrodgen gröisere, eine
reichere Auswahl bietende I.äger zu halten und dabei doch ihr Kapital
rascher umzusetzen, das Prinup des Verkaufes mir gegen Barzahlung durch-
zuführen, brauchen nicht mit Zins und Kapitalverlusten an Aufscnständen
711 recliniMi und k<>nnen sich mit rincni ^jerinficren Nutzen im ein/i-lnrn
lir^iiti)4«-n «uler sojjar oIuk- ( 'H liilirdunj^ ihrer r.xi-.ten/ l.nifjiT«- Zeit oline
Kcincrtr;i>^ arheiten. Sie sind in der Lu^je, ihre Gesehaltshauver his in
die höchsten Klagen zu Verkaufsräumen zu benutzen, während der kleine
und mittlere Dctailtist nicht daran denken kann, als Verkaufsräume höhere
und deshalb billigere Etagen zu mieten. Wie in den Räumen so ist auch
bei dem grofsen Umsatz und der infolgedessen durchtufllhrenden Arbeits-
teilung eine lukrativere Ausnutzung des Personals nuijjlirh.
Sind diese Vorteile mehr oder minder jedem Grofsbethebe im Detail-
35*
532
Heinrich Cohn,
handel eigca, so poteiizieren sie sich und werden noch durch besondere
wcsf-titüch verstärkt für diejenigen Warcnliuustr rtc, die Waren der Tcr-
si liicilcnartifjstcn Hranclu-n fuhren. In dit>or Hiii-i< hi sei nur darauf hin-
j;c-\virsi-n , dals sirli wuhl in i<'>lrm ^T'it^rri ( icsi-h.ilt-shausc Kauinc bc-
tindfti, <lic als W-rkauls- ndi-r Laj^irrauiu wuld tur Waren der einen,
nicht al»er der anderen (latlunj; verwertbar sind, und die daher, wenn
crstere Warengattung niclit geführt wird, nicht oder doch nur unvoU-
kommen ausgenutzt werden Icönnenf daCt der langsamere Kapitalumschlag
in einer Branche durch den rascheren in einer anderen ausgeglichen wird,
Absatzstockungen in einzelnen I'ranchcn weniger empfindlich werden und
di'- MM.^Ii.-hkri; gegeben ist, einzelne Artikel ohne Verdienst, ja mit Verlust
ab/ii^;i I" ti unfl vjeh dafür ihiri h den Verdienst an anderen /.u erholen, und
dals eniilich die (Gelegenheit, die versehieilni.irli'^i n l inkaule in einem
(iesi lüilt ni bewerkstelligen, einen starken Anreiz aiit das Publikum ausübt."
Mit anderen Worten, der Grrofsbctrieh im Dctailhruidel ist dem
Kleinbetrieb eV)etiso überlegen, wie die Fabrik dem kleinen Haod-
werker — die liisenbahn dem Fuhrmann etc. Diese l'eberlegen«
heit ist aber nicht erwünscht, denn sie führt nach Ansicht der Be-
gründung zum Niedergang des Mittelstandes in Handel und Gewerbe
und zu einem Rückgang in den Steuern. Dahingestellt mag bleiben,
ob diese Reliauptung in allen Punkten zutrifft, klar ist, dafs sich
genau da.sselhr zur Botcuerung aller (rrofsuntcrnehmungen sagen
lälst. Der \ ersuch der Motive, sich um diesen logischen Schluls
licrumzudrücken , ist durchaus misslungcn, wie ein näheres Kin-
gehen auf den hihalt des üesetzes und der Motive ergiebt.
II.
Der Warenhaussteuer sind unterworfen Hctrirhc des Kleinhandels,
welche, sei es im offenen Laden, sei es als \ ei^andtgeschäfte einen
jährlichen Umsatz von mehr als 400000 Mark ^) erzielen und den
Handel in mehr als einer der im § 6 dieses Gesetzes unterschiedenen
Warengruppen betreiben. Die Steuer beträgt progressiv steigend
1^9—2% des Umsatzes. Die in § 6 normierten Gruppen kann man
kurz folgendermalsen bezeichnen:
a) Gegenstande des Nahrungsmittel-Gewerbes,
b) Gegenstande der Textilindustrie nebst Möbeln,
c) Gegenstände des Hausrats nebst Mobein,
*) Im Regierungsentwurf 500000 Mk., im Abgeordnctenbat» nuf 300000 Mk.
abgeändert, im Tierrenhaus auf 400000 Mk. normiert und sodann von R^erung
und Abgeordnetenbaus in dieser Höhe gut gebeilsen.
j _ d by Google
Das preui'sischc Gesetz betreffend die Warenhausstcuer.
533
d) Galantriewaren» Instrumente, Sportartikel, Spielwaren,
Juwelierwaren etc.
Bei der Eintheilung in diese vier Gruppen fällt sofort au( dals
Möbel sowohl zur Klasse b als zur Klasse c gehören. Man darf
in Klasse b einen Lutherstuhl zugleich mit einem Unterrock und
in Klasse c zugleich mit einer Giefskanne verkaufen, ohne sich der
Strafe der Steuer auszusetzen. Dadurch werden Geschäfte mit
grolsen Umsätzen, wie Rudolf Hertzog, N. Israel etc., von der Steuer
nicht getroffen, sie ist nur gegen die cigentliclieii < v.u imnnlen
Warenhäuser gericlitet, es ist eine „lex Wertheim", wie der X'olks-
mund sie richtig be/.eiclinet hat. Den angegebenen Zweck , den
Mittelstand in Handel und Gewerbe 7.u schützen, kann das Gesetz
somit kaum erfüllen. Rudolph Hcrt/.og ist dem Mittelstand in
Handel und Gewerbe ebenso verhängnisvoll wie Wertheim oder
Tietz, es kann sich im günstigsten l*"all um einen kleinen Grad-
unterschied handeln. Wenn das Gesetz hier einen L'nterschied
macht, so sind nicht Gründe der Logik oder (ierechtigkeit mals-
gebend gewesen, sondern Rueksichtcn auf die öffentliche Meinung
bestimmter Schichten. Dem Kleinhändler ist es nicht gleichgültig,
von wem seine Lxistenz vernichtet wird. Leuten wie Hertzog oder
Israel erkennt er in dieser Beziehung eine gewisse Berechtigung
zu. Diese Geschäfte sind vor ihm da gewesen, wenn er neben
ihnen nicht bestehen kann, so ist das sein Unglück, er hat aber
keilt Recht, sich darüber zu beklagen. Wertheim ist aber nach
ihm gekommen, er kann formlich die Kunden zahlen, die ihm
durch diesen entz<^en wurden, während die Konkurrenz der vor
ihm an Ort und Stelle gewesenen Geschäfte mehr latent bleibt.
Geföblc dieser Art, welche mehr oder weniger anch von dem
unbeteiligten Publikum gehegt werden, haben bei der Abfessung
des Gesetzes ihren Einflufs geübt
Hertzog c/a Wertheim bedeutet, auf den Kleinhandel ange-
wendet, das Prinzip der Legitimität, und es ist vielleicht mehr als
ein blofser Wortanklang, wenn die Antipathie gegen die Waren-
häuser ihre Rechtfertigung darin sucht, dass diese „illegitime" Ge-
schäfte machen. Sie sollen angeblich bestinunte .Artikel ohne Ge>
winn oder gar mit Verlust verkaufen, um so das Publikum anzu-
locken und bei anderen Waren desto mehr zu verdienen. In den
Motiven ist dieser Vorwurf nur leicht gestreift, eine um so
gröfsere Rolle s|)ielt er in der öffentlirhcn Meinung, in welcher er das
Um und An der gegen die Warenhäuser erhobenen Vorwürfe bildet.
534
M e i n r i c h C o Ii n ,
Man mag zugeben, dafs die Warenhäuser in einigen Artikeln
besonders wohlfeil sind, um die Gunst des Publikums zu gewinnen.
Indessen ist das nicht eine besondere Gepflogenheit der Warenhäuser,
vielmehr eine Gewohnheit, die unser wirtschaftliches Leben weit
mehr durchdringt, als gewöhnlich angenommen wird. In dem Be-
trieb der Gastwirtschaften ist das Essen' ein Nebenartikel geworden,
welcher keinen Gewinn oder gar Verlust bringt, der Wirt erholt
sich beim Verkauf der Getränke. Aehnlicli verkaufen, wie der
Abg. V. d. Borcjlit in der Sitzung vom 27. Februar d. J. ausführte,
die Kleinhändler häufig Kaffee, Petroleum etc. nlme Nutzen. Im
Bankwesen ist die Provision, die X'ergütung, welche der Bankier
für seine Miibewaltung erhält, nicht ausreichend, seine Kosten zu
decken. Er iiat dafür indirekte \'orteile \on seiner Kundschaft, für
deren bare (hithaben er zum Beispiel weniger Zinsen entrichtet,
als er lösen kann. Im Zeitungswesen ist das Abonnement wirt-
schaltlich zur Nebensache geworden und lagcn den l\rl<)s der
Insernte an /.weite Stelle gerückt. Andererseits soll e> schon \-or
fünf/.ig Jahren vorgekommen seiii, dals Kaufleute den lieben Kleinen,
die in Begleitung ihrer Eltern in den 1 .aden kamen, Zuckeri)lätzchen
gaben und so mit Lockmitteln (Waren, wel« lie gratis utkr unter
dem Kostenpreis verabfolgt wurden) unlauteren Wettbewerb trieben.
Ein innerer, (irund, gerade die Warenhäuser besonders zu besteuern,
liegt also in ihrer Geschäftsgebahrung nicht, die Verhandlungen
im Parlament haben die Warenhäuser moralisch nicht belastet, man
kann vielmehr als ihr Ergebnis den Ausspruch des Abg. v. d. Borght
betrachten: „der Kampf zwischen den Warenhäusern und dem
Ladenhandel ist keineswegs ein Kampf zwischen berechtigten und
unberechtigten Betriebsformen."
Es ist nicht verwunderlich, da(s die nach Schutz vor den
Warenhausern rufenden Kleingewerbetreibenden logischer Weise nach
und nach dazu kamen, einen solchen Schutz auch gegenüber den
grofsen Spezialgeschäften zu verlangen. Vor dieser Lc^ik ist dem
Verfasser des Gesetzentwurfs nicht wohl zu Mute, durchaus richtig
iiihrt er folgendes aus:
.,Ncucr(liii;:> trcilich haben »ch die Stimmen ^i-mehrt, welche eine
auf die grofsen, sich nur auf eine Warengmppc beschrinkendeu Spczial-
grschälle ausgedehnte Umsatzsteuer fordern. Eine derartige Ausdehnung
der Umsatzsteuer würde lediglieh in der Gröfse des Betriebes ihre Be-
jjriiinUin;,' Michrn können. Wäre al»fr einmal die Gröfse de»; Betriebes
alü hinrcicliendcr (irund für eine Sonücrl>csteuerung anerkannt, so würde
pHvjij^cu L.y Google
Das prcuf&ische Gesetz bctrclTcnd die Warenhauüstcucr.
555
es auf die Dauer nicht möglich sein, hicnnit bei den Kleinhandels*
betrieben Halt su machen. Es würde an stichhaltigen Gründen fehlen«
was man den kleineren Handetstreibenden gewährt hStte, den kleineren
Industriellen, Handwerkern. Ttanki<-rs, »MilicNlich auch den kleinen L;ind-
wirten zu verNUgen. Die Fulj;e w äre Jas Verlanpen na» !i ;;leiclien Mafs-
naluuen (jejjeii ilie (Irolsindu^lrir, dif ^rciNcti I^aiiki n und den grol'si-n
(»runiUiesilz. Sclum jetzt siml ja ilu- klcwurea Muller und Hrauer mit
der Kurderung einer „gestaffelten L m*iil^!»teuer" für il>re grolsea Konkur-
renten hervorgetreten. Es bedarf keiner weiteren AusfQhrung, dals unser
Wirtschaftsleben eine solche Belastung des Grofsbetriebcs nicht su er*
tragen vermöchte. Schon die durch Einftlhrung einer Umsatzsteuer aut
Spezialgeschäfte im Kleinhandel wachgerufene Besorgnis vor einer gleichen
Malsnalime auf anderen Gebieten wür<le lähmen«! auf Han*lel und Verkehr
wirken und die Xonkurrenzfäbigkcit auf dem Weltmarkt gefährden.
Worauf dann der einzige logische Schlufs wäre, dafs die Waren*
haussteuer sich nicht rechtfertigen läfst Der Verfasser der Motive
lälst beinahe durchblicken, dafs dies seine Ansicht ist. Er ist durchaus
Gegner einer Umsatzsteuer und hätte eine anderweite Regelung
der Gewerbesteuer vorgezogen. Indessen hätte die Durcharbeitung
einer solchen längere Zeit erfordert, und man wollte solanc^e mit
einer Hesteuerung der Warenhäuser nicht warten (S. 14 a. E.).
Deshalb griff man trotzdem zu der Umsatzsteuer, weil .,eine auf
einer anderen Grundlag^e als der des Umsatzes aufj^ebaute Waren-
hnussteuer kaum Aussicht hat, eine Mehrheit im Abgeordnetenbause
auf sich zu vereini^i^cn".
Zu (Tiitistcn der Warenhausstcuer sprechen nach den Motiven
folfjcndc Momente, i) Dafs in Ba\ ern eine solche Besteuerung der
Warenhäuser einLjefijhrt , in Sachsen in Vorbereit un;:j sei, man
also vor der (iefahr stehe, dals l irolslictriebe der tredachten Art
nach Preulsen übersiedeln S. 161. 2) Dais eine Umsatzsteuer ein
Warenhaus nicht su schwer treffe wie Spezialgeschäfte. Denn in den
einzelnen Branchen bleibe je nachdem ein gröfserer udei geringerer
Prozentsatz des Umsatzes als Ertrag. Bei Warenhäusern, die viele
Branchen (liiiren, gleiche sich der geringe prozentuale Ertrag in der
einen Branche mit dem gröfseren in der anderen aus. Nicht so
bei Spezialgeschäften, die dann sich veranlaCst sehen könnten, sich
möglichst viele und namentlich die „einen höheren Prozentsatz des
Umsatzes als Nettonutzen abwerfenden Branchen beizulegen'"), (die
') Als ob es nicht ohnehin in dem Bestreben jedes Kaufmanns liegt, Waren
tu fähren, die einen möglichst hohen Nettonutzen lassen.
536
Heinrich Colin,
Umsatzsteuer) „führt also nur zu weiterer Schädigung der kleineren
Betriebe" (S. 17). 3) Es sei aber auch billig, diese (jrofebetriebe
stärker zu besteuern, „die insbesonck-rc auch an einer grofsen Anzahl
von Gemetndeveranstaltungen wie den W-rkehrsanlagcn, dem Feuer-
lösclnvc'^t n u. s. \v. ein vorzügliches Interesse haben . . . (S. 12).
Die I'adcnsclieinii^kcit (k-r Argumentation wird cinigermafsen durch
den Ausdruck „Spczial^a^schäft" verdeckt. Indessen sollte man doch
Geschäfte, in welchen man sämtliche Gc^'cnstände der Damen-
und I lerrcukleitlun;.^, also Wäsche, Handschuhe, I lüte, Kleider, Pelz-
waren, daneben Betten und Ikttstellen, \'orhän^a% Teppiche, Mfibcl-
sloft'e, rolslermöbel, (iarn. Zwirn und Po^anienlierwaren etc. etc.
kaufen kann (>j 6 Iii nicht ai> ,,Spe/iai;^csciiäfle" beschönii::^cn. Es
wären das im Ciej^enteil ( iesi hdlte, die mindestens ein Dutzend
Spezial;4t>chiifte darstellen, also genüj^'cnd Branchen, um einen
normalen Durchschnitt des P>tra<7es zu j^eben. Diese Geschäfte
h.iben von den Wraust altun^en der (iemeinde — wie dem er-
wähnten Feuerlöschwesen ■ — die gleichen X'urteile, wie die Waren-
häuser, vielleicht sogar gröfeere. Denn auf Waren liegt mehr
Feuersge£ihr, wenn sie ausschlielslich der Textilbranche angehören,
als wenn ein grofser Teil davon auf Oefen, Glas, Porzellan, Steingut,
Thonwaren, Haus- und Küchengerätschaften etc. entfällt Schlecht-
hin unsinnig ist das Argument bei Versandtgeschäften. Kann man
von Warenhäusern wenigstens s^en, dafs sie die gleichen Vorteile
von den Veranstaltungen der Gemeinde haben, wie Grofsgeschäftte
nach Art von Hertzog und Israel, so ist es sicher, dafs die Ver>
sandtgeschäfte an diesen Vorteilen weniger teilnehmen. Sie sind
denn auch nicht an den grofsen Ort gebunden und befinden sich wohl
überwiegend an kleineren Orten oder Vororten, welchen sie erheb*
• liehe Vorteile durch Einkommensteuer etc. schaffen, während der
Nachteil ihrer Konkurrenz gerade nur in anderen Gemeinden füiilbar
wird. Im Herrenhaus trat die innere Unwahrheit dieser Begründung
deutlich darin zu Tage, dafs die X'crtreter der Städte einmütig sich
gegen die Steuer erklärten. Wäre es thatsächlich wahr, dafs die
Warenhäuser von den W ranstaltungcn der Gemeinde grofscren Vor-
teil hätten als z. B. die Spezialgeschäfte, so wären die Büp^M-rmeistcr
zweifellos die ersten c^ewesen, einer solchen Steuer zuzustimmen.
Die Gef.ihi endlich, dals Gescl)äfte vor einer Warenhaussteuer
in anderen lUnuK^-^taalen nach l'reuiscn flüchten, mag ein (irund
sein, Wertheim oder Tietz zu besteuern, abci sicherlich keiner,
. liertzog geringer zu besteuern, als Werlheim.
uiyiiizeo Dy Google
Das preußische (jcscU bclrctlcnd die WarcnhauÄStcucr.
537
Von jenseits der preufsischen Grenze scheint eher eine andere
Gefahr zu drohen. P^fsen kann nur diejenigen Betriebe besteuern,
welche in Preulsen ihren Sitz oder einen Nebenbetrieb haben. Es
kann aber niemals an die Versandtgeschäfte heran, die aus einem
anderen Bundesstaate ihre Ware nach Preulsen senden. Die preutsische
Steuer wäre also eine Prämie iiir die aufserpreulsischen Versandt-
geschäfte in Deutschland.
Irgend ein halbw^ einleuchtender Grund, gerade die Waren-
häuser zu besteuern, ist weder aus dem Gesetz noch den Motiven
zu ersehen, man war mit Bcwufstsein unlogisch und ungerecht, weil
die logische Ausdehnung der Steuer auf alle rTrofsbetriebe mit der
„be.stehendeu Wirtschaftsordnung" sich allzu schlecht vertragen hätte.
Und da man logisch und gerecht nicht sein konnte. s< Inif man die
mechanische Scheidung der vier W arongruppen ^) des ^ 6.
III.
Zwischen dem Standpunkt des Entwurfs und der Haltung der
Regierung bei dessen Beratung im Abgeordnetenhaus besteht
ein auffälliger Widerspruch. I latte die „Begründung" des Entwurfs
die Besteuerung anderer Grofsgeschäfle als der Warenhäuser für ein
Pudendum erklärt, so lud der Finanzminister Miquel die Kommunen
zur Besteuerung dieser Grofsbetriebe geradezu ein. So erklärte er
in der Sitzung des Abgeordnetenhauses vom 26. Februar 1900:
..Nua t'r.mi man. wohin ;<nll cl.is führt'n? können d.inn nit iit an<l' re
durrli (IroKhctrielie hedriickti- Klassen koninirn nn<\ sajjen: wir tiuis>.fn
aucli (Mitiastot werden gtj;cnul>» r clu-si n ( iroisln-trifbcn.' (Zunil links» : die
werden auch schon kommen !) Gewifs meine Herren, die können auch
kommen, die sind auch schon da, und mit Recbt, meine Herren •
Ebenso ist das Prinzip der Staflelbesteuerung auch in der indirekten Steuer
an sich durchaus berechtigt; es ist nur nicht Aber all klar und bestimmt
und radikal durchzuüBhren. In manchen Fallen kann es aber wenigstens
annähernd geschehen; wo es möglich ist, mag es geschehen."
Und ähnlich im Herrenhaus 12. Juni d. J.:
„Aber nichtsdestoweniger wUrr eine St affclbc Steuerung der
(^rofsen Brauereien gegenüber den kleineren durchaus berechtigt,
*) Wie willkOrlich diese ist, dafllr folgendes Beispiel. In Gruppe b hatte das
Herrenhaus noch die Möbel eingefUgt. Der Berichterstatter Graf Stolberg begrOndete
dies folgendermafsen: „Es war uns bekannt, dafs insbesondere einige Herren vom
Rhein im .\1>);eordnetenhausc d-irauf Wert legten, namentlich wegen eines altrenom-
mierten in Köln bestehenden Ge$chäAs." (!)
53S
Heinrich Cohn,
denn wenn man die l^iMuDg^nihickeit nur cinigcrmafiicn inbrtracht zieht, mufk
m in sagrn, tluis es s, hon eine U' nprre i-b t i k r i t Ix-drutct, einen
( i r II 1 - !i ( t r i ( It in der I'.i.uuTi'i mit .1 1 1 r n \' <i r 1 1- i 1 <■ n <l'-r m«>-
i!i rn<n \V i > - f n s > Ii .1 1 1 nur tlun si> li»>cJi zu besteuern wie
einen K 1 e i n 1> e l r i e b u u 1 tl e m u n <1 v."
Also in der „Begründung" des Gesetzes heifst es
,,Schon jetzt sind ja die kleineren Müller und Brauer
(sie!) mit der Forderung einer gestaffelten Umsatz*
steuerfür ihre grofscn Konkurrenten hervorgetreten.
Es bedarf keiner weitereii Ausführung, dafs unser
Wirtschaftsleben eine solche Belastung des Grofsbe-
triebcs nicht zu ertragen vermochte" ^ und der Fi-
nanzminister erklärt es geradezu für eine Ungerech-
tigkeit, c\:\{'< eine S t a ffel b esteuer u ng im den Braüe-
reien'nicht besteht!
Der Richter, der verurteilt wäre, hier den „Willen des Gesetz-
gebere" zu ergründen, befände sich einer unlösbaren Aufgabe gegen-
über. Von dem Standpunkt des Ministers ist das Gesetz erst recht
unsinni},'. Meint er, dafs alle ( irofslictriebe — zum mindesten des
Handels — durch eine Steuer belastet werden müssen, so war die
künstliche Gruppen! )i1<lun.; des (icscizes nicht nötig, und man kam
einfach zur Umsat/.bestriu rung. In etwas zwcidculij^or Weise \e^e
der Minister den Konununen nahe, die Hesteuerun^ auf aTiderc Be-
triet )C :\U Warenhäuser auszudehnen. Er erklärte (Herrenhaus
13. Juni d. J.):
„Wenn es so enUctzlich ungerecht wäre, einen Heitxoe hier von der
Steuer XU befreien und ein Warmhaus zu besteuern, so mag der Flcrr
I ii>i rhiirj^ernieister nur in seine St.nlt\ erordnetenversammlung gehen und
li( ;intr.i^;en, den Ili rt/o;; na< li il^niscllx n l'riii/ip 7u iM li.inilcln, was frei-
lich nicht ganz richtij; wäre ; einen \Vider.>t.»iul wird er wohl nuht linUen."
Hierzu bemerkte Abgeordneter Barth zutreffend (15. Juni):
„Nun könnte man sich ja mit dem Gedanken trösten, wenn ein
solcher Kommunalsteuerbeschlufs an die Aufsichtsbehörde, an die Re-
gierung kommt, so hat es die Regierung immer in der Hand, zu
sagen, darauf hissen wir uns nicht ein. Wenn der Finanzminister diesen
Ilintcrgcdiink. M ^i h.il.t h.ih'>n -<«Ilte. so glanl>e ich, w.'ire er verpflichtet
jjrwes<'n. ihn i '!i< >> r ( lele^jenlu it mit /um AiiMlrui k zu hrinpen. r>a-
liut w.ir i' < r .»In r ^em ganzes Art;umen( von vorn herein wieder zcr-
schmetUrt li.iben."
I>as prcuülsche Gesetz betreffend die Warenhausstcucr.
539
Nach Replik und Duplik fafste der Regierungskommtssar Ge^
heimer Rat Stnitz das Ergebnis der Diskussion dahin zusammen:
„Der ganze Streit be/uglich der Sjiczialgiscliiilit Im nilii aut lolgendem.
Wut haben erklärt, wir lehnen es ah, durch ein Staat s^e>etz im Rahmen
dieses Gesetzes die Spczia1|^schSfle heranauziehen. Das ist etwas ganz
anderes als wenn eine einzelne Gemeinde sich ein Steuerreguiativ nach
einem Mafiistabe, der ihr angemessen erscheint, zarecht macht, das auf die
Spczialgesehfifte Anwendung findet"
Eine schlüssige Antwort, ob die Regierung einem solchen Steuer«
entwurf zustimmen würde, und weshalb sie lediglich die Besteuerung
der Warenhäuser von Staats wegen will, ist nicht erfolgt. Beim
besten Willen, zum Verständnis der Intentionen der Regierung zu
gelangen, mufs man eingestehen, dals sie um so dunkler erscheinen,
je mehr sie von der Jlegierung klar gemacht wurden.
Verständlicher war die Haltung der Freunde des Gesetzes im
Zentrum und der konservativen Partei. Sie sind fiir die Besteue-
rung der Spezialgeschäfte, nehmen aber Abstand, weil die Regierung
nicht dafür zu haben war. Die Konsequenz, dafs die Grofsbetriebe
in Landwirtschaft und Industrie mit dem gleichen Recht steuerlich
zu belasten seien, wie Grofsbetriebe im Handel lehnen sie mit dem
alten Scherze ab, dafs der Handel nicht produktiv sei. Von diesem
Standpunkt hätte man erst recht zur Ablehnung der Warenhaus-
steuer gelangen müssen. Denn, wenn es sozialpolitisch richtig sein
mag, dem kleinen Produzenten das Leben mögjlich zu machen —
so wäre, den kleinen Schmarotzer zu erhalten, jedenfalls nicht Auf-
gabe der Gesetzgebung.
IV.
Wer feierlich versichert, jemand erhalten und stärken zu wollen,
der hat ihn fiir krank erklärt Die Thronrede, welche der Hoffnung
Ausdruck gab, die Warenhaussteuer werde „zur Erhaltung und Stär-
kung des Mittelstands in Handel und Gewerbe beitragen" ^ hat
damit zweifellos zugegeben, dals ihrer Meinung nach dieser Mittel-
stand aus sich heraus, ohne Hülfe der Gesetzgebung, sich voraus-
sichtlich nicht |Tesund erhalten ko/ine. Geht thatsächlich der Mittel-
stand im Handel zurück und zwar durch die Warenhäuser? Kine
wissenschaftliche Beantwortun^j dieser Frage würde über den Rahmen
dieser Ausführunci^cn hinausführen , immerhin gewährt schon eine
oberflächliche Vergleichung der statistischen Erhebungen von 1882
. j _ ^ y Google
540
Heinrich Cohn,
und 1895 einen Linl)lick in die Entwicklung, welche der Handel,
beziehentlich cini'^^c Handelszweige genommen haben.')
Die Selbständigen in Handel und X'erkehr, (iruppe C. der amt-
lichen Statistik, machen 1882 = 44,25 Proz., 1895 = 35,73 Proz. der
im Gewerbe Tliätii^en aus, sodals ein relativ er Rückgang von 8,52 Proz.
v orliegt, welclicr nahezu el)en.so gr< »Ts ist wie der cnt.sprechende Rück-
gang in der Inciu>trie von 0.51 Pro/. Dieser Rückgang ist in Stadt
und I^nd verschieden groiä, und i:war machen die Selbständigen
aus in:
(irols-
MiUel-
Klein-
L.iiid-
auf dem
s-tadten
stiidtcn
städten
stadlcn
])Utlcn Lande
l'r..z.
Proz.
I*roz.
Proz.
34.88
38. »4
43.50
SM«
54,67
30,65
32.43
36t75
41.47
44.01
4t33
5.71
6.75
9.69
10,66
1882
i89S_ _
also Rflckfranj;
Der relative Rückgang der Selbständigen ist daher in der (.Trofs-
stadt am kleinsten, am stärksten auf dem platten Laiule, sicherlich
ein unerwartetes Ergebnis. — In absoluten Zahlen betrug die Zahl
der in Handel und Gewerbe Thätigen :
I.
GroiÄstudlc
a) ttber- b) selb-
Jl.
MittcUladtc
a) Über« b) selb-
III.
Klciu.studte
a) fiber> b) selb»
1882
1895
haupt
346098
77523»
ständig
120709
237581
haupt
287433
400046
ständig
109612
129737
haupt
29S4S7
393391
ständig
129813
»44575
1882
1895
VI.
Landstädte
:« I uhrr- sclh-
liaujit >t:in<li^
21779S 111427
281433 116711
V.
Plattes Land
;i I üIkt- l>j sfll)-
h.uipl sliindijj
420569 229947
48S409 214 953
Aufdeni platten Lande hat danach SOgar eine absolute .Abnahme
der Selbständigen stattgefunden, "wetche von der Zunahme in Land-
städten und Kleinstädten kaum wett gemacht wird. In Prozenten
betrug die Zu- bezw. .Abnahme der a) überhaupt bezw. b) selb*
ständig im Handel und Gewerbe Thätigen in den Gruppen:
'1 Fs ist rin M.in^'rl, dals si.)ti-UM-lu' N.ichwcisf dieser Art in dir Ih ^rütiduiij»
des Kutwurls, sowie im Komniii>s;un.slicricht des Abgeordnetcnhauscä vt>il:.iandig
fehlen.
Digitized by Google
Das preußische Gesetz betrctfcnd die Warenliausstcuer.
54»
I. II. lU. IV. V.
a)Uber« b)selb> a}aber- b)Mlb- «) über- b)s«lb- •) Aber- b) selb- a) Uber- b)selb-
haupt ständig haupt ständig haupt ständig hau|)t ständig haupt ständig
Pniz. Proi. Proz. ^r<)^. Proz.
+ 124 +97,5 -i-39.5 +18.3 +3'. 9 +«4.6 +30 +4.5 +*« —6.5
wogegen die Bevölkerung von 1882 bis 1895 in diesen Gruppen um
+ ilt,S9 + 39,6a +24,33 +10,16 — 1,31 Proz.
ZU- bczw. ahn. ihm.
Zuweitgehende Schlüsse wird man aus den angegebenen
Ziffern fiir unsere Zwecke nicht ziehen dürfen, da unter der Rubrik
Handel niclu nur Waren- und rroduktenhantiel figuriert, sondern
z. B. auch der I lauMt rliandel, clcssen Rückgang sicherlich an der
Abnahme der selbständigen Handelsleute auf dem Lande grofsen
Anteil hat. Andererseits machen die im Waren- und Produktenhandel
werbenden 41 Proz. aller im Handel und Verkehr Thätigen aus,
also eine so grofse Zahl, dafs gerdde die Bewegungen in dieser
Gruppe in den GesamtzifTem für Handel und Verkehr stark zum
Ausdruck kommen müssen. Auch ist die Progression in der Zu-
nahme der Selbständigen vom platten Land bis zur Grofsstadt durch
alle Stadien so regelmälsig, dafs die gro&en Ziffern der im Waren-
und Produktenhandel Thätigen ihre Wirkung geäulsert haben müssen.
Man muls^ch mit dieser Vermutung begnügen, da die amtliche
Statistik nicht angiebt, wie der Waren- und Produktenhandel sich
in den verschieden Städtegruppen, beziehentlich auf dem platten
Lande entwickelt hat. Dagegen sind die betreffenden Ziffern
für das ganze Reich und für die Grofsstädte aus den Veröffent-
Hebungen des statistischen Amts zu ersehen.
Im Waren- und Produktenhandel betrug dfe Zahl
1882
in ganz Dcutsriiland 380228
in Berlin .... 22399
a) der Selbständigen
1895 1895:1882 »
476624 +96.396 = -j- 25,4 Pro«.
34620 -f 12,221 = +54,5 „
b'l der Arbeiter und Angestellten
in ganz. Deutscbland 294626 520646 226040 = +76.6 Pros,
in Berlin .... 30833 58840 2S007 ss 90 „
die Selbständigen machten danach in Deutschland tSSS ss 56,3 Pros., 1895 = 4^ Pros.
in.Beriin . . t88s»44 „ 1895 » 19.3 »
der im Waren» nnd Produktenhandel Oberhaupt Tbfltigen aus.
542
Heinrich Cohn,
Die Znlil der SelbstäiidiL^on nahm tlaher im X'crhältnis erheblich
ah, in In;!;!! Sogar nicht im L^leichcn M.ifse wie in Deutschland
Übcrliaupt. l'line Veriileichun-j,; der einzelnen ( irörsenklasscn der
Geschäfte ist kaum mö^jUch, da die Rubriken der Aufnahme von
1895 ') "^'^ denen von 18S2 nicht übereinstimmen.
£5 arbeiteten in Berlin uhne üeliilfen
Die Betriebe ohne Gehilfen vermehrten sich daher um 5990,
die Hetriebe mit (lehilfen von 0645 auf 15876 um 6331. Auf
einen Betrieb mit Gehilfen kamen im Durchschnitt 1S82 3.2, im
Jalire 1895 3,7 Arbeiter und Angestellte. Man wird folgende That-
sachen feststellen dürfen :
1) Wie in Handel und Gewerbe überhaupt h.it im Waren* und
Produktenhandel die Zahl der Selbständi^'en relativ abgenommen,
in ganz DeutM hland so;_;;ir schneller als in llerlin.
2) Von neuen Hetru hen enttällt eine un\ ei hähnlsmäisig grolse
Zahl (in licrlin die llällle) aut Im triebe ohne (iehilfen.
Diese beiden Thatsachen hi>sL ii in der That die \ ermutun^
^^erechtfcrtijjt erscheinen, dafs der Mittel>tand im Handel zurücksteht.
Die starke Zimahme der Zwert^bctrielu- s|iricht für die von den
( iegnern der \\ ai riili.ui>>teuer geltend <^rmachte Anschauun?^, dafs
nicht i?owolil ^Vw Zunalime tler Warenhäust r als die rapide Zu-
nahme der Kleinbelriel>e an dem Ruckj^an^^ des Mittelstands schuld
ist. Aber die Ghfofsbctriebe und insbesondere auch die Warenhäuser
haben an diesem Rück^an^^ doch auch ihren beträchtlichen An-
teil. Die Warenhauser mit ihren ^rofsen Umsätzen können nur zum
kleinsten Teil zur Befriedig utig neu «^cschaiTener Bedürfnisse wirken;
den Hauptabsatz erzielen sie dadurch, dafs sie im Verhältnis zu
ihren Konkurrenten erfolgreich um die Gunst des Publikums be-
müht, sind. Es steht aufser Zweifel, dafs die Warenhäuser,
wie alle grofsen Betriebe eine Anzahl selbständiger Elemente
deklassieren, die nunmehr zumeist in abhängiger Stellung ihr Brot
suchen müssen. Demgegenüber ist darauf hingewiesen worden,
dafs diese Angestellten besser daran sind als früher, dafs ihr Ein-
>) 1S95 sind die Inhaber mitgezählt, 1882 nur die Gehilfen berechnet
1.S95 die kubnkcn: 2^5, 6 10, II — 20. 3t 50. 51 200 n' .r 200 Köpfe
16S2 „ „ 1 — 5, 6-10, 11—50, 51 — 2C», uliir 200 KujjIc.
1882
1895
12754 Betriebe von 22399
»8744 n H 346ao.
^ ij . .-Lo Ly Google
Das prcttfsUchc GcseUc betreffend die Warenhaassteuer.
543
kommen sicherer, häufig auch höher ist als früher, dafs sie ge-
wissermafsen einen neuen Mittelstand bilden.
Das Wertheimsche Warenhaus hat gegen die Warenhaussteuer,
einen Protest \crötTcntliclit , aus welclicm hervorgeht, dafs es für
gleiche Stellen absolut höhere Gehälter zahlt als die „Branchen-Ge-
schäfte". Dr. Walter Borgius hat intlesscn in einer Abhandlung
über den Eisenwarenhandel in Breslau (in diesem Archi\ Bd. XUI,
später abjredruckt in der von der Handelskammer zu Hannover
heraus^Ci^ebenen (iutachten-Sammlun<:j über die l-a^^c des Klein-
handels in Deutschland Bd. II S. 32 ff 1 mit Recht darauf hin-
gewiesen, dafs trotz absolut hohcier Löhiie in den Hazaren und
Warenhäusern deren Au^^Mben für die AnL^eslcUten im Durciiäciinitt
beträchtlich nietlri^er sind als im Branclieii;^'eschäft.
Die \ ervollkomnmete Arbeitsteilung im ( uolsl)etrieb bringt es
eben mit sich, dals derselben Zahl geschulter Kräfte eine weit
'^'rtifsere Zahl uii|^^e>chulter ents[tricht. l'm an einem einfach
lie^'enden GeschäUs/weig, dem Bankgeschält, den X'urgang klar zu
machen. In dem mittleren (ieschäft mufs der Kassierer auch ein
Buch fuhren, ein Buchhalter gelegentlich den Kassierer vertreten.
Ein solches Geschäft mufs daher, abgesehen von Lehrlingen, durch-
gehends kaufmännisch geschultes Personal fuhren, das auch eine
Vertrauensstellung ausfüllen kann. In den grolsen Banken finden
dagegen auf einen Kaufmann immer mehrere Leute Verwendung,
die nichts anderes als eine bessere Art Schreiber sind und jahraus
jahrein dieselbe Art Arbeit verrichten. Sowohl der Kassierer in der
großen Bank als ihr Schreiber mag absolut besser bezahlt sein
als die betreffenden Angestellten im kleinen Geschäft. Da bei ihr
auf eine geschulte Kraft aber vielleicht zehn ungeschulte kommen,
im kleinen und mittleren vielleicht nur einer, so ist trotzdem das
Durchschnitts-Gehalt pro Kopf in der I^ank meist kleiner als im
mittleren Privatgeschäft. Dies gilt allerdings nur von den älteren, .
welche durch ein traditionelles Renommee den wirtschaftlichen
Vorsprung der Banken in der Gunst des Publikums einigermalsen
ausgleichen können und ein altes Personal haben; in den neuen
Geschäften dagegen , welche versuchen müssen , durch Billigkeit
neben der Bank zu bestehen, sind die Gehälter pro Kopf eher
nicdrif^er als bei der droistjank. — So wirkt jeder ( irofsbetrieb
auf die L()hiie doppelt ungünstig, da er nicht nur in diesen Ge-
schäften selbst sondern auch in den Konkurrenzi^fesrhältcn eine Pendenz
zum Sinken des Durchschnittsgehalts pro Kopf bewirkt.
Digitized by Google
544
Heiarieh Cohn,
Der Kaufmaniii der bei einem Warenhaus gute Stellung findet,
mag sich in besserer Lage befinden als in der Zeit seiner fiüheren
Selbständigkeit. Wird so das Warenhaus seine Rettung, so darf
man andererseits nicht vergessen, dafs das Waretihaus beziehentlich
der Grofsbetrieb überhaupt häufig eben die Gefahr war, vor der
er Rettung suchen mufstc. Nicht das ist die Frage, ob es fiir einen
Deklassierten eine Wohlthat ist, im Grofsbetrieb Anstellung zu finden,
sondern ob der Grolsbetrieb den Mann flcklassiert hat. Sicher ist,
dafs von den Vielen, welche als Selbständige sich nicht erhalten
können, nur ein kleiner Teil eine entsprechend gute Stellung im
(irofsbetrieb findet. Der ökonomische Nut/on der Arbeitsteilung
besteht wesentlich auch darin, dafs in hohem Mafse an Stelle ge-
schulter Kräfte ungesrhulle treten. Je gröfser die Betriebe werden,
um so besser kann das Prinzip der Arbeitsteilung durchgeführt
werden, um so geringer wird relativ die Zahl der geschulten Kräfte,
d. h. um so mehr muls der Mittelstand in dem betrclienden Ge-
schäftszweig abnehmen.
V.
Mit den Warenhäusern verfallen auch die Konsumvereine 'j der
Strafe der Steuer. Nicht etwa durch einen Zufall, wie solcher bei
Gesetzen gelegentlich vorkommt Die Konsumvereine sind vielmehr
in hohem Mafse der Gegenstand der Angrifife und des Hasses der
Kleinhändler. — In klassischer Weise hat diesem Hafs eine Resolution
des Deutschen Handwerkertages vom 2}. April 1895 Ausdruck ge-
geben : •)
,J>er Vm. Allgemeine deutsche Handwerkertag
verurteilt die Konsumvereine als einen Uebergriff
nackter Selbstsucht in die Existenz und das Recht
des Nächsten (1), er sieht in ihnen den Keim zur völligen Zer-
Störung unserer gegenwärtigen Gesellschaftsordnung und Unter-
grabung der Monarchie infolge ihrer sozialistischen und kommu-
nistischen Tendenz" (1).
*) Wcnißstcn.s diojcnigcn, welche Gewerbesteuer zahlen. Darunter befinden
sich gerade die Bedeotendstco.
*) Abgedruckt und zwar anscheinend beiföllig in einem Bericht: „Licht- und
Schattenseiten der Konsumvereine*', erstattet vom deutschnationalen Handluagsgehilfen«
V -1. Mul Hamburg, der in di-r erwähnten Publikation der Handelskammer zu Hannover
Autnuhmc gefunden hat. Die hicf gesperrt gedruckt« Stelle ist in der PuUikatioa
cbcnlalls gesperrt gedruckt.
by Google
Das iireulsuchc (Jl-^cU bolrclYcnd die \Varcuhauj».slfUfr.
545
Hs wäre Schade» die monumentale Wirkung dieser Sätze durch
«ine Besprechung abzuschwächen. Nur daran darf erinnert werden,
dafs der Konsumverein als ein Produkt der Selt>sthilfe bisher für
unsozialistisch galt — geradezu als ein Präventivmittel gegen den
sozialen Staat Diese Annahme ist ebenso ad acta gelegt wie der
Glaube an die Erhaltung des Mittelstands.
Die Mittelstandsfrage ist In den letzten Jahrbn das A und O
der Diskussionen über die soziale Fraj:,'e f^cwesen. Es war gewisser-
mafsen die Citadelle der „bestehenden (Tcseil-rhiftsordnung". Jetzt
hat die Rc-icrunfj kapituliert. Sie erklärt selbst, dals der Mittel-
stand zumindest auf dem Gebiet des Handels sich von selbst nicht
haltr-n könne — , und der Konsunncrcin, welcher als Schutz der be-
stclierulen Gesellschaftsordnun;^' dienen sollte, hat verräterisch dazu
beigetraL^en, sie dem I'einde auszuliefern.
Die Animosität ^e^jjen die Kon.sunn ercinc hat sogar dazu i^e-
fülirt. diese schlechter zu stclkti als die \Varenhäu--er. l)ie \'cr-
j^l^ünsti^urv^', dafs für einen Hctiieb die Steuer, soweit sie 20 iVoz.
des F.rtrai^cs übersteigt, auf diesen Hetr v.; I jezw. die Hälfte des Steuer-
satzes herabzu>el/en ist, hndet auf Koii^unvvereine keine Anwendung.
Welchen Standi)Uiikt man auch zum(Tesetz eiiiiielimcn nu')ge, diese
Bestimmung muls doch zu recht lebhalten Bedenken \'erati!a>sung
geben. Soll einmal der Grofsbetrieb über den Kleinbetrieb tlen
Sieg da\on tragen — und der wirtschaftliche Fortschritt führt doch
dahin — so ist es zweifellos vorzuziehen, wenn dieser Grofsbetrieb
kollektiv ist, als einem Einzelnen eignet.
In merkwürdigem Widerspruch zu dieser Bestimmung in 3
Absatz 2 des Gesetzes hätte ein vom Herrenhaus zu § 1 beigefügter
Absatz 5 gestanden, welcher vom Abgeordnetenhaus wieder gestrichen
wurde und Gesetzeskraft nicht erlangt hat. Danach sollten die
Minister des Handels, der Finanzen und des Innern ermächtigt
sein,') „för gemeinnützige Unternehmungen, welche unter Aus«
schlufs eines die Verzinsung von vier vom Hundert des Anlage-
und Betriebskapitals übersteigenden Grewinnes für die Unternehmer,
den Kleinhandel ausschließlich auf den Kreis der zur Kaufberechti-
gung zugelassenen Angehörigen einzelner bestimmter Berufe be-
schränken, Befreiung von der W'arenhaussteuer zu gewähren."
Worin liegt das Gemeinnützige solcher Unternehmungen?
Diese Bestimmung widerspricht der W-rfassung, welche in § lOt bestimmt:
dal^ St(iirr{icv(>rziißiing< n nicht st;»tttindrri dürfen.
Aichiv für sni. GcfcUgebuDg u. Statistik. XV. 36
Digitized by Google
I
Heinrich Cohn,
•
Darin, dafs sie dem Konsumenten einen billigeren Bezug der ge-
brauchten Waren ermöglichen, was natürlich auf Konsumvereine
(und Warenhäuser) ebenfalls zutrifft. — Dafs nicht mehr als 4 Proz.
.auf das Kapital verteilt werden dürfen kann das Institut nicht
gemeinnützig:: niaclien, wenn dessen Hauptzweck nicht f^emein-
nützig ist. Heisi)iols\veisc wäre die Krri( litini;:: von Spielklubs auch
dann nicht gcmeinnüt/iL;, wenn das Anlage- Kapital mit höchstens
4 Proz. zu verzinsen ist. Das Motiv der Steucrbefrciunij wäre al-o die
Aiischauunc:. dafs billii^er Warcnbezut: dem (remcinwohl dient. Das
(ie>et/ betretlend die Warenhaussteuer teilt — «jelinde rroa^'t —
die>en Staiidjninkt nicht und t^laubt dieieni'^en mit einer .Steuer bc-
lei^en /.u müs-rn, die /u l)ilh<.: wrkaufen kemncn. Fs war daher
\"(M1 den l-ieunden tles desetzes vcrsiandi'^, die Steuerbetreiun^
dit >i r ^cmeinnüt/.i;4en l 'nternehmunL^en ab/ulehnen, bei denen he-
Sdiuicrs an die Warenhäuser für Armee und Marine gedacht war.
Hau|:>tsächlich lialien indessen puhtische üiünde zur X'erwerfung
des 1 lerrcnhauslie^chlusse.s geführt. Die Steuerbefreiung der W'aren-
iiaux 1 tur .\rmce uml Marine und für IkanUc neben einer (Quali-
fizierten Besteuerung tler Konsumvereine für Arbeiter wäre bei
Wahlen zu eindrucksvoll gewesen.
Die Belastung der Konsumvereine würde es genügend erklären^
dafs die Arbeiterpartei Gegnerin des Gesetzes ist Im Uebrigen hat
man über die Frage, ob das Gesetz sozialistisch sei, gestritten.
Hierbei wurde von den Freunden des Gesetzes geltend gemacht,
dafs die Erhaltung der selbständigen kleinen Leute den Wünschen
und Interessen der sozialdemokratischen Partei zuwiderlaufe, das
Gesetz somit nicht sozialistisch sei. Der Schluls ist nicht zwingend,
man mufs wohl zwischen Grundsätzen und taktischen Gesichtspunkten
unterscheiden. Beispielsweise kann in concreto einer Arbeiterpartei
die an sich sozialistische Verstaatlichung eines Betriebes bei einem
Wahlrechte mit öffentlicher Abstimmung zuwider sein. Dafs das
Gesetz der sozialdemokratischen Partei aus Parteigründen zuwider-
läuft, würde also an sich einen soziaHstischcn Charakter des Gesetzes
* nicht aussrliliesscn. Wohl aber scheint das Gesetz, welches im Ziel,
dem Schutz <lcr Schwachen gegen die (irolsen, die Sympathieen
der Sozialisten hätte, deren wirt- -Ii 'ftlichcr Auffassung darin zu
widerstreiten, dafs es einen Ausgleich durch Hemmungen im Pro-
' \'<r\ (ir 11 Koii«univfr« in<'n frillt si ll.st diese Af)^,\l>c von 4 l'rnz. an dttt
auf!>ci)>tchcndcn Kapitalisten furt ; sie mulstcn also erst recht, gemeinnützig sein.
Digitized by Google
Das prcufsbchc üoxetz bctrcfTend die Warenhauüstcucr.
<luktioiisi>ro/t'is sucht, während die soziaKlernokrnti<chc Partei che
tjrr)isere Produktivität de< ( irolshctrielies au sich nicht hindern wilk
Ini l'ebrii^en haben der P" i n a n /. minister und Gcneralsteucr-
dircktor Buridiart seiner Zi it selh>t Hedenken «gehabt, ob ein solches
< resetz sich mit der „botchenden Wirtschaftsordnung" vers: iiUL;cn
läist. Der AbL^. (lothein citierie in dieser Bczichunj^ folgende lir-
klärungen der beiden I lerren :
„Am 14. Ajiril 1896 sagte der Finanzminister:
„ t,Wir werden uns nach allen Richtungen bin besinnen mQssen, nb wir
nicht durch Kingriflc auf diesem Gebiete schwere, bedenkliche Kon-
sequenzen herbeinihren und Grundsätze verletzen, auf denen unsere ganze
Wirtschaft heute beruht.""
Der Herr Generaldirektor der direkten Steuern, Herr Burghart, fUhrte am
9. Juni 1896 nus ;
..(l.Us ih r < <c(l.i!»k( ii^ai);^, mit der l'.c>U ucrim^j der \ul>-vm.:i!n'^ dor kli incn
\virt.s(')t.iHiichcii I .\i^t" ii/t n tliiri li das K.ijiital t iiu'ii Hamm t-ntj^i
zusctzi-n, zu kolu»alni Kunscijuenzcn fülirc, und dat's die Kru);i' d» r Be-
steuerung der Warenhäuser dabei nur ein ganz kleines Partikelchen sei." "
VI.
Das groise Aufsehen, welches das Gesetz betr. die Warenhaus-
steuer erre<jt hat, ist nicht in der voraussichtlichsn praktischen Trag-
weite des Gesetzes begründet, sondern in seiner ^grundsätzlichen Be-
deutuu}^. hmnerhin verlohnt es zu prüfen, welche P'olgen das Gesetz
voraussichtlich haben wird. I )ir Steuer bezahlen , dürfte nicht
leicht inö<^'lich sein, — sie ist that.^richlich eine P-rdrosselun<:jssteiier.
Nach § 5 sollte allerdin'^s die Warenhausstcuer 20 IVoz. des nach
dem (icsctzc \"om 24. luni 1891 <^ewerl)e>teueri.)flichtij,a-n Krtra^es
nicht ubersteii^en, be/w. auf diesen Hetra<^ herabzusetzen sein. Nach
tler \oni .Abj^eordnetcnhaus getroffenen Acndcrun^j ist in einem
-olchen hall die Steuer aber eventuell nur bis zur Hälfte zu er-
inälsiLien. Indessen laj^H^ei den pji^'entümlichkeiten unserer Gewerbe-
steuer schon nach dem I-.nlwurf der Ke^icrun^ eine trdro.ssclungs-
steuer vor. Gewerbesteuern sind an und für sich nicht gerade
lobenswert, sie bedeuten eine Depression zu Gunsten der Rentiers.
Das Umgekehrte wäre viel richtiger, denn bei gleichem Einkommen
ist das Einkommen aus Renten sicherer und bequemer. Zudem
darf die Gewerbesteuer nicht von dem Einkommen abgezogen werden.
Hat also z. B. jemand Mk. lOOOO Einkommen aus Renten, so zahlt
er Einkommensteuer auf lOOOO Mk. Hat er aber Mark lOOOO
Ueberschufs aus Gewerbebetrieb und befinden sich in seinen
36*
uiyiii^od by Google
Hoinricli Cohn,
Geschäftsspesen lOOO Mark Gewerbesteuer, so mufs er Ein-
kommensteuer auf II 000 Mark zahlen. Wer Gewerbesteuer
zahlt, hat also nicht nur diese Steuer selbst zu entrichten, sondern
sie als Einkommen zu fingieren und davon noch aufserdem Ein-
kommensteuer zu bezahlen. Er wird also zwiefach dafür bestraft,
dafs er nicht Rentier ist. Es ist ein eigen Ding diese Gewerbe-
steuer. Sie ist nach der Erklärung des Ministers eine Realsteuer,
bei der es nicht auf Leistungsfähigkeit, sondern auf das Verhältnis
von Leistung und Gegenleistung ankommt. Woraus natürlich folgt,
dafs der Rentier der nützlichste Mann ist. Da von ihm eine Steuer
ül)crhaupt nicht erfordert wird, ist es klar, dafs er für die Leistungen
der Kommune die £:^rörste Ge<;enleistung liefert — ganz im Gegen-
satz zu den faulenzenden Fabrikbesitzern oder anderen zur Ge-
\vcrl)esteucr ln^r angezogenen Pcrisonen. Es ist nicht recht verständ-
lich, dafs hei <li ri Gef^nern des (leselzes — den Kür;j^ermcistcrn —
die ( ic\vcrl)e^ti iier , beziehunf:;s\veisc die Mi')r^lichkeit ihrer allge-
meinen Krhöhunt; meist symj)athi^rhe liesjuechun;^ fand.
An und für sich sc!i( »n n"u ht ideal, kann die ( «ewerbcsteuer
durch die Art der IkMerhiiun;^ eine tCxlthche l ast werden. Als
oewerbcsteiierlicher Krtra^^ i^ilt nicht, wa> dem < le-chäftseii^entümer
verbleibt, 'Sondern die Summe, welche der Iktrieb alvvviiTt, bevor die
Zinsen aul an;4eliehenc Ivaiulalien L;e/.ahlt sind. Gerade bei greisen
Betrieben (wie die \Varenhäuser\ die mit beträchtlichen fremden
Kapitalien arbeiten, wirkt die (iewerbesteuer — die im übrigen
prozentual ist — deshalb häufig progrc.ssi\ , und es ist nicht ver-
ständlich, wie Minister Miquel davon sprechen durfte (im Abgeord-
netenhaus am 15. Juni), dafs die unglcichmäfsige Verteilung^ der
Gewerbesteuer zum Vorteil der Grofsbetriebe (I) die Regierung im
Interesse der Gerechtigkeit zur Warenhaussteuer gedrängt habe.
Der Minister erklärte in dieser Beziehung im Herrenhaus
(am 12. Juni):
„Ich nehme einma] an, dafs in Berlin ein Geschäft besteht, ein Waren-
haus mit 33 Millionen Umsatz; das trägt einen Steuersatz hier in Berlin
von 15000 Mark, will sagen in Prozenten des Umsatzes 0,05 Plroz. Da-
gegen, meine Herren, ein üewcrbe von 80000 Mk. Umsatz bezahlt schon
1.6 I'roz."
Aehnlich im Abgeordnetenhaus (am 15. Juni):
„Ich habe nachgewiesen, dafs in Hcrlin ein Umsatz von 32 Millionen
tu-stcurrt wird mit 15500 Mk. und umgekehrt ein Haus mit 100000 Mk.
Umsutz mit dem 2,16 fachen dieses l*rozentsatzes."
j _ d by Google
DiUt prcuiiti.sclic Gcäclz bctreficad die Warenhau&ütcucr.
549
Im ersten Beispiel hätten bei 80000 Mk. Umsatz 128000 Mk.
Gewinn erzielt sein müssen, im zweiten bei 100 000 Mk. Umsatz
sogar 216000 Mk. Gewinn. Nach Adam Riese dürfte das nicht
möglich sein, vielleicht soll es in dem einen Fall statt 1,6 »0,16
und in dem anderen statt 2,16 = 0,316 heifsen. Das hiefse wäh-
rend das Warenhaus nur 5 Proz. als Gewinn vom Umsatz erzielte,
hätten die anderen erwähnten Häuser 16 und bezw. 2t, 6 Proz. des
Umsatzes als Gewinn übrig behalten.
Nach der Meinung des Ministers ist es eine Ungerechtigkeit,
dafs je 10000 Mk., welche das Warenhaus gewinnt, nicht mehr
Steuer zahlen als lOOOO Mk., die das kleine Geschäft Ueberschuls
hat. Weit eher ist das umgekehrte wahr, denn um diesen Gewinn
zu erzielen, wäre heim Warenliaus f]i 1 3 Ix zw. 5 fache Umsatz
nötig gewesen wie bei tlen im licispiel erwähnten kleinen I läiisern.
Bleiben wir, um die Wirkung tier V\'arcnhau.sstcuer darzulegen, bei
dem vom Minister '^^cwähltc 11 Hi isjMc 1 des Warenhauses von 32 Mil-
lionen Umsatz und 15 500 Mk. < iewerlx. . Steuer.
Der Gewinn hätte danach, da l i'roz. des Einkonmicn.s aus
detn Gewerbe als Steuer ge/.ahlt wird = l 550000 Mk. au^L^cmacht.
Die Steuer würde betrai^an 2 Proz. von 32 Millionen = 640000 Mk.,
ist nach i; 5 auf 20 Pro/., von l 55OÜOO .Mk. ~ 310000 Mk. herab-
zusetzen, beziehungsweise da sie nicht weniger als die Hälfte von
640000 .\lk. bctragcfi darf, auf 320000 Mk. Das werbende Kai)ilal
nuiisle man auf mindestens 16 Millionen .Mk. annehmen, da bei
solchen (le^chäflcn sicher 8 .Millionen rund als Wert der Ininutl)ihca
anzu.NClzen sind. Das mobile Kaj)ital von 8 Millionen hätte alsdann
einen Umsatz von 32 Millionen, einen Gewinn von i 550000 Mk.
(« ca. 19 ProZ.) ergeben, also ein anormal günstiges Verhältnis.
Nimmt man an, dafs »der Eigentümer die Hälfte des Kapitals
besitzt, während er die andere Hälfte mit rund 6 Proz. verzinst, so
zahlt er
an Einkommen- und Ei|;änzungssteuer zu entrichten hatte. Das
heifst, er zahlt an Warenhaussteuer 30 Proz. und mit Einkommen-
steuer etc. 38,5 Proz. seines Einkommens als Steuer. Hier sind
sehr günstige X'crhältnisse zu Grunde gelegt, nämlich < itu' \''er-
zinsung des Anlagekapitals von 9,7 Proz. (l 5 50 000 auf 16 Millionen).
Ziiuen
Steuer .....
und bdiiclte selbst .
von denen er noch ca.
480000 Mk.
320000 „
750000 „
90000 „
L.ivjij^Lu L.y Google
550
Ileinricb Cohn,
Bei einer Verzinsung von 7 Proz. (der Bazar Gcrson hatte als
Aktiengcsellsrliaft Im Durchschnitt 6 Proz. erbracht) würde das
Kapital von 16 Millionen ertragen
1200000 Mk.
wiivoii Zinsen wie oben ^'■oooo Mk.
Stt -jcr ., „ 320 ouo
l'i lii r-> hu/^ al>o nur 4000CO
von denen der Eii^enluiner nocli 65000 Mk. Pcr-^nnalstcuern zu
zahlen hat, so dals er selh-t nur 335003 Mk. Inhalt und 385COoMk.
also 53,5 Proz. Steuer entrichtet. St in K.ipital verzinst sich aK
dann mit 4 Proz., er thut also sicher bes>er, das (icschafl autzu-
^'eben. Träj::jt das werbende Kapital von i() .Nhllionen aber nur
6 Proz. (wie am Bei.^j'iel (lersmi /u ersehen, ist dies nicht abnorm
niedrii^l und l)esitzt er \oii dem Kapital nur 5 Millionen selbst, so
zahlt er von einem Lrtraj^nis von
960000 Mk.
an Xini«en 660000 Mk.
an Steuern 320000 ,.
980000 Mk.
also mehr als er einnimmt Abgesehen davon, da(s er auf sein
Kapital von 5 Millionen keine Zinsen bezieht. Er mufs aber von
dem Einkommen, das er nicht hat, noch aufeerdem etwa 24 oc» Mk.
Einkommensteuer zahlen — , da die Warenhaussteucr nicht abzugs-
fähig ist! Dals die Warenhaussteuer den Namen einer Erdrosselungs-
steuer verdient, ist danach nicht zweifelhaft.
Einer Umgehung des Gesetzes durch 2:erlegung des Betriebes
in mehrere Betriebe hat ein vom Abgeordnetenhaus ein;^erü>4tcr § 7
vorzubeugen gesucht Beim Konsumverein und Versandtgeschäft,
bei welchen es nicht so sehr auf die Gescjiäftsräume ankommt, kann
man der Steuer leicht ausweichen. Die Konsumvereine namentlich
werden sich nach Gruppen leicht spezialisieren lassen. Da die
Verwaltung getrennt wäre, sich bald auch eine Differenzierung der
Mitglieder ergeben würde, könnte das als eine Um-^ehunj^ nicht auf-
gefafst werden. Im Gegenteil, der Zweck des Ciesctzes wäie er-
reicht, statt eines Vereins ^abc es vier „Spezial^e.sch<äftc" — wobei
allerdings sehr zweifelhaft bleibt, ob dem Mittelstand iu Handel und
Gewerlic damit sehr gedient wäre.
Anders beim eigentlichen Warenhau.s. — iJiescs ist in schlechterer
I^nge, als der Konsumverein, der auf den Eifer seiner Mitglieder
rechnen kann und zu dessen Gunsten der Konsument selbst eine
uiyiiizeo Dy Google
Das prcufsiüche GesrU betreffend die Warenbaussteuer.
Unbc<|ucinlichkcit in den Kauf nimmt. Das W arenhaus muls ilahcr
möglichst suchen, den V'orteil der räumlichen Zusammenbringung
aller im Hat^alt gebrauchten Waren auszunutzen. Das Warenhaus
Werthetm hat erklart, sich in Zukunft auf die Branche in 6 b -des
Gesetzes beschränken zu wollen. Andererseits werden nicht alle
Warenhausbesitzer so denken, und jedenfalls ist der ökonomische
Vorteil der Bequemlichkeit, den die räumliche Vereinigung der ver-
schiedenen Warengattungen bietet, so grofs, dafs er bei einigen Ge-
schäften fortbestehen wkd. Dies kann in der Form geschehen, dafs
entweder eine Gesellschaft oder ein Besitzer nur den Bau stellt und
unterhält und Teile davon an eine genügende Anzahl Spezialgeschäfte
vermietet — vielleicht ist das überhaupt die Zukunft der Bazare —
oder dais ein Kaufmann eine Gruppe von Waren (in Frage kommt
hauptsächlich die Gruppe b) in seinen Geschäftsräumen feil hält,
von denen er Teile g^en feste Miete an Spezialgeschäfte ab-
giebt. Günsti^'sten oder ungünsti;^^f;ten Falls wird ein Warenhaus,
das sich infolge des Gesetzes auf eine Warengnippe beschränkt,
sich auf diese mit um so gröfscrer Kraft legen und dadurch den
Mittcl>tand um so sicherer schädigen. Wieweit eine Abwälzung
auf habrikanten uiul TubUkum moirlich ist, ist wohl eine Fra«^c des
Kinzelfalls. (ian/, oluie Mühe kaim sich eins Versan(lti:,'^csrhäft der
Steuer entziehen, welches für die (icschiifte in den nüttleren und
kleinen Städten min(ie>tens ebenso \ erhanL^nisvoU ist, wie das
Warenhaus für die (ie.schäfle in den ^rolsen Städteti. Das V'er-
samhL;LSchäft braucht z, B. nur über die preufsische 1 .aiides-^rrcnze
zu ^elien. Auch hat der erwähnte J; 7 nur den I-.ill im Auj^e,
dals ein Betrieb brluits X'erdeckunf^ des W'areiiliau^ln t; u bes zer-
Icj^t wird. Wird von vornherein ein solches I Luis in der \\'ei>e
be-^ründet, dafs fürmcU soviel Rechtssubjekie wie (jruj»i»en vor-
handen sind, so ist es mit der Warenhaussteucr nichts, wie aus der
Diskussion zu § 7, insbesondere der Erklärung des Generaldirektors
der direkten Steuern Burghart (19. Mai), hervorgeht. Nachdem
fernerhin die Besteuerung der Filialgcschäfte, die auch nur eine
Warengrupi)e fuhren, abgelehnt ist, darf man sagen, dafe das Gesetz
irgend wie wesentliche Folgen nicht haben wird. Jedem Kaufmann
schadet nur die Konkurrenz, die in seiner Branche gemacht wird,
nicht die in anderen Geschäftszweigen. Es ist deshalb z. B. für die
Zigarrenhändler die Firma Loeser & WolfT oder Boenike & Eichner ein
unangenehmerer Konkurrent als ein Zigarren verkaufendes Warenhaus.
Nicht auf das multa sondern das multum, nicht ob ein Konkurrent
Digitized by Google
Heinrich Cohn,
viele Branchen fuhrt, sondern ob er in seiner Branche viel verkauft,
darauf kommt es dem Kleinhändler an. Vom Standpunkte der
Mittelstandspolitik ist daher das einzig Vernünftige die progressive
Umsatzsteuer, L(leicli.4Ühi<,% ob der Betrieb in einer oder mehreren
Gru|>i)cii ;^aliihrt wird. Eine solche Steuer W.irc ebenso verfehlt,
wie die VVarcnhaussteuer, aber hätte vor dieser den Vorzug ehrlich
und wirksam zu sein.
Eine unliebsame Folp^e des Gesetzes wird dann bestehen, dals
eine Anzahl von Spt /inl.M srhäflcn ;:;etroffen wird. So ist darauf
hingewiesen worden, dals tlie Firmen Hmma Bette , Bud 6c Lach*
mann, \ on denen jene Kinderspielzeug führte, diese Kinderkleidvmgetc,
ihre (leschäftc vcrcInifTt hatten, um die Konkurrenz der Waren-
häuser besser zu bestehen. Jetzt wird ihr (ie^chäft, welches wirk-
lich ein Spezialgeschäft ist, von der U'arcnhaussteuer {getroffen.
.Aehnlirh krtnn es cle<::anten Mode^eschäften Miellen. Dcrarticrc
tieschäfte führen häutiL; auch französische Schokolade, ReitL^ertcn,
Tennisutensilien, — sie führen als<» nach dem (iesetz scj.c drei
\\'arcngrupj)cn i6 a, b, d'. Oa^^ ;:(leiche f^^ilt, wie im Herienhans
Herr w Lucius au>luhrtc, von den l-.rfurtcr (lärtnereien, dir- ('cit!]l"n-
artikeL \'asen und der<j^leichen zu führen pflepfen , v on Spe/ial-
ge-.(-häften für etvTlivolie Luxuswaren, die t^'cwohnheil^i^emäis Zi-
garetten und I\.auchulen^ilien etc. verkaulen.' l Derartii^e dcschäfte
werden eines Tages aus der Stcnor, die man von ihnen erfordern
wird, erfahren, dafs sie Warenhäuser sind. Lnd mc werden dafür
um SU weniger X'erständnis haben, wenn sie hören, dafs die grofscti
Bazare keine Warenhäuser sondern Spezialgeschäfte sind.
Sell)st weiui es al)er den Benuiiiinigen dc> Minister> gelänge,
die Weltgeschichte auf/uhaUen und den ( Trofsbetrieb tot zu machen,
hätte er den Mittelstand noch innner nicht gerettet. Ks wäre
immer noch die Konkurrenz der Kleinen, der Zwergbetriebe, zu
beseitigen, welche dem Mittelstand ebenso verderblich sind, wie
die Grofscn. Ks müfste eine Erdrosselung>steuer auch auf alle
neuen Betriebe gelegt oder die vier Gruppen des § 6 möfeten zu
Zünften erklärt werden, mit dem Recht, die Errichtung neuer Be-
triebe wegen mangelnden Bedürfnisses zu untersagen. In dieser
Beziehung war das Zunftwesen des Mittelalters, welches die Er-
— «
') Es macht diesen Geschäften natürlich nichts aus, diese Artikel aufzugeben,
aber einige wonlni .mi' dir Stt m r ln-n ini.iilt n. weil «-ir ;:.ir nirlit auf den Gedanken
kommen werden, duf« »ie Warenhäuser im i>inne des Gesetze» sind.
Digili^üu by Google
Das jirculsiM-hc («mIz hctrtlKiiU «Jic Warcnbaussicucr.
553
richtung neuer Betriebe hinderte, durchaus folgerichtig und not-
wendig, um einen gesunden Mittelstand zu erzielen.
Ist so ein erheblicher wirtschaftlicher Nutzen von dem Gesetz
nicht zu erwarten, so hat das Gesetz zweifellos eine unliebsame
politische Folge. Es greift, wie niemand bestreitet in die Autonomie
der Kommunen ein. Bestritten ist, ob das Gesetz g^en die Ge-
werbeordnung verstöfst. Dies ist keine blofse Doktorfrage. Da
Reichsrecht vor Landrecht geht, wäre in diesem Fall das Gesetz
ungültig. — § I der Gewerbeordnung lautet:
„Der Iktrieb eines Gewerbes ist jedermann gestattet, soweit
nicht durch dieses Geseti Ausnahmen oder Beschränkungen vor-
geschrieben oder zugelassen sind."
Es ist von Seiten der Regierung hchaujtt' t ^^ ordcn, dafs eine
Steuer keine Beschränkung sei. Eine Suiur sciilcchthin vielleicht
nicht, eine Steuer, deren einziger Zwe( k i Iah in gehl, die Errichtung
einer Art von ( icsrhäftcn -/u hindern und die errichteten zu schwächen
ist eine lieschränkuiig. Macht man sich zahlenmäßig die Wirkung
des Gesetzes klar, der Text des Gesetzt'-; 'äfst die Sache /u vo-ig
erscheinen, da*" man immer nur an eine Steuer \on ' fie> Keiii-
gcwiims denkt - — , ul)etlegt man sich, dals die Erdrosselung gerade
das Ziel der Steuer ist. so niufs man doch wohl zu der l el)er-
zeugung gelangen, dals diese Warenhausstcuer gegen die Gewerbe-
ordnung verstölst.
Die Landwirtschaft im Deutschen Reich.
Nach der landwirtschaftticbcn Betriebstäbliiiig im D«iAscheii Reich vom 14. Juni 1895.
Von
Prof. Dr. H. RAUCHBERG
in Prag.
Ebenso wie die Bcrufszähliing von 1SS2 ist auch jene von lJ>95
da/u henut/.t wonlcn , um eine Stati'^tik <\cr landwirtschaftlichen
Betriebe .uifzu^tclk n. Welche dt ^cn^tämlc dic^t- l'-ihcbun-^ unifalsl,
und wie >ie technisch einj^crichtct war, habe ich scliun früher aus-
einandrr^fc^ctzt,') Ich kann daher oiinc weiteres daran, gehen, ihre
materiellen hrgebnisse vorzuführen.
I. Zahl und Fläche der landwirtschaftlichen Betriebe.
Zunächst handelt es sich dabei um die Zahl und Fläche
der landwirtschaftlichen lietricbe. Es wurden im Deutsclien Reich
ermittelt
1895 iSSa
Landwirtschaftsbetriebe^) 55583>7 5^76344
mit einer rein tandwirtschaftlich*) benutzten
Fläche von ha 3S5I7941 31868972
und mit einer Gesamtfläche ^'on ha 4328474a 4017868«
Durchschnittlich entfallen auf einen Betrieb
1895 1S83
an landwirtschaftlich benutzter Fläche . 5,9 ha 6^ ha
an Gesamtfläche 7i8 „ 7.6
II
>) Siebe den XIV. Band dieses Archivs S. 247 ff.
*) Ohne die reinen Forstbetriebe, welche erst 1895 *b Betriebsstatistik ein-
bezogen worden sind.
") Auch Garten* und Weinbau.
Digitized by Gc^
Die Landw irLM hall mi Dculsciicn Reich.
555
Seit 1882 haben sowohl die Betriebe als auch ihre Flachen
erheblich zugenommen, die Betriebe um 281973 ha oder 5,34 Proz.,
die landwirtschaftlich benutzten Flächen um 648969 ha oder 2,03 Proz.,
die Gesamtflächen um 3 106 061 ha oder 7,73 Proz.
Die Verschiebungen erklären sich zum Teil aus Aenderuogen
in der Art und Weise der Erhebung, wodurch nach mancher Richtung
hin groisere Vollständigkeit erzielt worden ist. Von besonderem
Belant/ ist flabci, dafs 1895 ticbcn den landwirtschaftlicbcn Betrieben,
auch die reinen Forstbetriebe erfragt worden sind. Bei dieser
Gelegenheit mag eine Anzahl von Forstbetrieben entdeckt worden
sein, welche auch andere Kulturen in sich schliefsen. Derartige Be-
triebe zählen nunmehr mit ihrer gesamten l-läche zu den landwirt-
schaftlichen Betrieben. In der That finden wir die forstwirtschaft-
lich benutzte Fläche der Landwirtschaftsbetriebe 1S82 mit 495 i c>7; ha,
1895 aber mit 7 5S2276 ha angrgel)cri. Ob diese riesige DiMcrenz
hiermit hall)W(v.;s erklärt ist, muls ich freilich dahin gestellt lassen.
Für 1895 kommen hier/u noch 22041 reine Im )rstl)etriei)e mit einer
Fläche von 6 ^43 00<7 ha, ' 1 die in den bisher mitgeteilten Zahlen
nicht cnthalleu sind uiul später ahgoondert erörtert werden sollen.*)
l iiner war mit der Zahlung \()n 1S95 eine Erhebung über die
Allmenden veilHuuien. Ohne dais die .Misicht ursprünglich darauf
gerichtet gewesen wäre, hat diese SpeziaK 1 hi bung eine .Anzahl von
Betrieben entdecken geholfen, die der F.rhebung von 1882 gänzlich
entgangen waren. Sie bestehen in jener landwirtschaftlichen Aus-
nutzung von Gemeindeland, die nicht von irgend einer Hauswirt-
schaft, sondern unmittelbar von den Gemeinden als solchen aus-
geht, wie z. B. Heugewinnung auf Gemeindeland im Eigenbetrieb
der Gemeinde. Insbesondere fiir die Verschiebungen in den Gröfsen-
klassen der Betriebe dürfte derartiges Kammergut der Gemeinden
hie und da von Einflufs gewesen sein.') Endlich sind 1895 jene Be-
triebe vollständiger erfragt worden, die weder auf Eigentum noch
auf Pacht, sondern auf dem kontraktlichen Arbeitsverhältnis oder
auf der Mitgliedschaft an einer Realgemeinde beruhen. Alle diese
Momente wirken zusammen, um sowohl die Zahl der Betriel^ als
auch ihr Gebiet 1895 erheblich gröfser erscheinen zu lassen wie 1882.
*) Die Erbel>ang erstreckt sieb somit im ganzen auf eine FlScbe voa 49627 751 ba,
wekbe gegeoOber der Gesamtflicbe des Deutschen Rcicbs — 54065 760 bn — nicbt
nnerbeblicb sorllckbleibt.
'1 Siehe unten S. 587 f.
*) VgL weiter oben 5S3 f.
556
II. Kaucli l>or)',
Abgesehen von diesen formalen Momenten hat wohl auch die
thatsächliche Entwicklung^ die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe
vermehrt : Parzcllirungen, Erbteitungen, Abtrennung von neuen Pacht-
gütern, Errichtung von RentengUtem in den östlichen Pronnzen
Preufscns. Inwieweit diese matcrielk-n X'eranlassungen neben jenen
formalen an der Zunahme der Betriebe l>ctoiligt sind, läfst sich
allerdings nicht näher feststellen. Alles in allem genommen, be-
stellt wohl eine Tcmlenz zur Vcrnit liriinc^ , nicht auch zur Ver-
kleinerung der landwirtschaftlichen Betriebe. Denn die (icsamt-
flache eines Betriebs ist seit 1S82 von durcliM-hnittlich 7,6 auf
7,8 ha j^esticLjcn. Der Durchschnitt der landwirtschaftlich benutzten
l'lächc ist allerdings um ein Geringes — von 6,0 auf 5,9 ha —
zurückgc;^ a n l^c 11 .
Be\or ich darauf eiii^a'he, die In u t ^^uhl,' nach nach (irölsen-
kli'^sen der Betriel)C zu untersuchen, Wiil ich nur noch kurz darauf
auhiierksain tnachcn . dals die Zahlen uii-eiei Statistik Ictli^-
lich B e t r i e b s einheilen , nicht auch B e s i t / eiuheiten betreffen.
Allcrdini^s jiähcrn >ich die Angabt 11 tler lanihviitbchatllichen Be-
triebsstatistik insofern einer ( irundbesitzstatislik als 86,11 Proz. der
»gesamten Wirtschaftstläche im liij^entum der Betriebsinhaber stehen.
Indessen greift die Benutzung von fremdem Land doch tief und in
weitem Umfange in die Bctriebsvcrhältnissc ein — nur 40,68 Proz.
aller Betriebe beschranken sich ausschliefslich auf eigenes Land — ,
so dafs aus den Veränderungen der Zahlen über die Betriebe
keineswegs auf die Entwicklungstendenz des Grundeigentums
zurückgeschlossen werden kann. Ich werde vielmehr späterhin
zeigen, da(s die Besitzverhältnisse sich eher nach der entgegenge-
setzten Richtung hin verschieben wie die Betriebsverhältnisse: hier
überwiegend Zerlegung, dort Konzentration.')
Genauerer Einblick kann indessen nur, wie bereits bemerkt,
durch die Untersuchung nach Gröfsenklassen der landwirt-
schaftlichen Betriebe gewonnen werden. Zu diesem Zwecke
emp5eh]t es sich, die Betriebe nicht nach der Gesamtfläche, son-
dern nach der landwirtschaftlichen Mäche,-) wovon ja der
Erfolg und der Charakter der Betrielie abhän^n, in Gruppen einzu-
teilen. Die Gliederung geht 1895 v iti 1 wie 1 882, indem nunmehr
die Betriebe unter i ha, sowie die iktriebe mit 2—5 ha landwirt-
' iHi- Au-fülirunj,-< II auf S. 580 u. 5S1.
-) Gartea, Weinberg, Acker, Wiese, bessere Weide etc.
Digitized by Google
Die Landwiruchaft im Deutschen Reich.
557
schaftlicher Fläche nach feineren Abstufungen unterschieden werden.
Darnacli gelangt man zu folgender Au&tellung:
L;uuiwirlbchalllich
Anxahl der beouttte FUlche GeaamtfliEcbe
Gröfsenklassen Betriebe Hektare
18S2
1S05
18S3
1895
1882
Ab sol Ute Zahlen
unter 2
Ar
76 SS6
of) 143
760
658
3 14>^
1 <t6o
2
Ar
5
»1
212331
195 2ijS
6 629
5994
10 526
5
1»
»»
ao
n
656 193
82797
72860
140 027
93504
ao
II
»♦
1
ha
I 491 363
1405683
730446
698446
96515a
817316
1
ha
II
3
II
707335
997803
1 047 980
1375786
I 336 153
3
II
5
»♦
I016318
981407
3385984
3190303
4143071
3832903
5
t«
II
10
II
605814
554 174
4333656
3906947
5 355 "3«
4780980
lO
n
M
20
392 9Q0
5 4SS 2 ! 0
5 2^US'
7 182 522
6711037
30
11
II
50
II
239
239 SS7
7 «13231
7 176 129
9 45») 240
90S0545
50
»»
1'
100
II
42 124
41 623
2 756 (>o6
2 732041
3697901
33349«^
100
>i
11
200
II
II 250
• 1 «33
' 545245
1 521 191
2 349 2S4
I 927 09<)
soo
•1
II
500
»I
9031
9S14
3079014
3 '59900
43118X0
4 126325
500.
II
II
1000
II
3639
3405427
3397071
3 301 1 18
3300643
1000
>i
und darüber
573
802 115
708 101
1 159674
I 024884
zusamtnen
•
55S»3«7
5376344"
3*5»794«
31868972
43384743
40178681
Auf
die
einzeln
en Gröfse
nklassen
treffen Prozente
unter a Ar
0,00
0,00
0,01
0,00
a
Ar bis
S
»1
3,83
3,70
0,03
0,03
0,06
0,03
5
ti
tt
30
II
13.47
12,44
0.26
0.23
0.33
0.23
20
II
I
ha
26,83
26.64
2.21
2,19
2.23
2,03
I
ha
»1
3
1 1
12-73
14,00
:^.o7
329
2.95
3.08
2
II
II
5
II
iä.28
18,60
iO,I I
9.57
9.54
5
II
II
10
II
10,90
10,50
13,03
13,36
12.37
11,90
10
II
»f
so
ti
7,07
7i06
16,88
1648
»6,59
16,70
ao
II
II
50
II
4f3»
4.55
ai,87
33,53
31,86
33,60
50
II
M
100
II
0,76
0,79
8,48
«,57
8.54
8,30
100
>i
n
SOG
II
0,20
0,21
4i75
4J7
4.43
4.80
200
•f
♦«
II
0,17
o,iS
9,47
9.92
9,75
10.27
500
J Dl Kl
M
0.07
0.07
7.40
7v^2
7.<''3
7.97
1000
(Liriibi
r
O.ül
0,01
2. 40
2 ZZ
2,68
2. > >
im j
L;atucu
100
lüO
100
lUO
100
100
In formeller Hinsicht ermöglicht diese Tabelle zunächst ein
Urteil darüber, inwiefern das Ei^ebnis der Erhebung dadurch bectn*
flufst wird, dals man es vermieden hat, den Begriff des Betriebs
nach unten hin zu begrenzen. In England und in den Vereinigten
Digitized by Google
558
II. Rau c h ii (• r R,
Staaten z. B. lälVit mnn nur Betriebe, die ein {gewisses Minimal«
ausmafs überschreiten, als solche gelten. Atierdings läfst sich eine
solche Untergrenze in sachlich zutreffender Weise kaum ziehen.
Selbst Zwergwirtschaften unter 20 Ar mögen noch immer Hir die
Lebenshaltung ihrer Besitzer von Wichtigkeit sein und können
demnach nicht unbeachtet bleiben, wenn man die Bedeutung des
Landwirtschaftsbetriebs för die gesamte Volkswirtschaft richtig be-
urteilen will. Auf solche Betriebe kleinsten L'infangs entlallt nur
* 4 Proz. der landwirtschaftli» Iion und nicht viel mehr als Vg Proz. der
Gcsanittlrh'ho ; aber sie niarlicii 18,67 I*''«'/. — 1882 ii'ir I7,"<> Vmz. —
aller laiiclwirtseliaftlichen Betriebe aus, sind also immerhin von Belang
für die ülicderuiij:,' der i.;' - imtcii Landwirisriiai't nach GrÖfsenstufen.
Allerdings häiv^un die trgcbnis.>e hinsichtlich jener Zwergbetriebe
in so hohem Mal>o von der Krhchun-^sweise und von mancherlei
Zufallii^kciten l>ri der Aufnahme ab, tlal-^ sie nur mit der äulsersten
X'orsicht zu '^'ebrauchen sind. Wenn fite Hetrichr unter 20 Ar seit
1SS3 um 120236 oder 13.1 Vro/... die lietriel>e nut 20 Ar bis i ha
noch inuner um 8;,3So oder 6.1 Pro/. zuL^cnoiumen haben, ^o ist
das zweifelst »hne ^inz übcrwie-fend au'; der «'enaueren HeantworUuiij
der hra^'cn, in>bc>ondere hinsichtlieh <!<•:■ * iartnereibelriei)e zu er-
klären. Ich halle es aUo nicht für zutreffend, daraus auf eine
I cndenz zu extremer H< »dcnzcrspliit .rutiL: zurvickzuschliefsen. ( ileich
die nächste Stufe — voti 1—2 ha ^ weist wieder eine Abnahme
auf. Für den Ver^deich mit der Erhebung von 1882, sowie für
die Untersuchung der ^een^raijhischen Verbreitung der Landwirt-
Schaftsbetriebe bleiben jene. Betriebe kleinsten Umfangs vielleicht
besser aufser Anschlag, denn die Schwankungen der Zahlen von
Jahr zu Jahr und von Ort zu Ort sind gewifs in hohem Mafse be-
dingt durch die Ungleichmäfsigkeit der Erhebung.
Zum Zwecke eines orientierenden Ueberblicks über die Ent-
wicklung seit der Betriebszählung von 1882 und über die
geographische Gestaltung der landwirtschaftlichen Betriebsverhält-
nisse empfiehlt es sich, die oben unterschiedenen Grofsenklassen zu
gewissen, in sozialer Hinsicht charakteristischen Gruppen zusammen-
zuziehen. Freilich 'kann das, wie ich früher schon bei anderer
Gelegenheit ausL^cfiihrt habe,'; nicht ohne einige Willkür ^^eschehen.
Je nach der Güte des Bodens, der (iunst der Lai^e und der Intensität
der Bewirtschaftung ist die Bedeutung der Winschaftsflächen in
*) Vgl. di« be£ügl. ErörteruDK«n im XIV. Bande dieses Archivs S. 631 ff.
Die Landwirtschaft im iJcutsclicn Reich.
559
den einzelnen Gebieten des Deutschen Reichs eine selir verschiedene.
Es ist daher unmöglich» an der Hand der Betriebsflächen allein
durchwegs zutreffende Scheidelinien zu ziehen. Von vorneherein
hat man damit zu rechnen, dafs sie die sozialen Schichten und die
Wirtschaftsstufen, die man damit umschreiben will» nur ganz bei*
laufig und nicht überall in gleicher Weise zu kennzeichnen geeignet
sind. Mit diesen Vorbehalten können wir uns der im 2^hlungs-
werke*) getroffenen Gruppierung anschliefsen, wonach die Betriebe
mit einer landwirtschaftlich benutzten Flache von
w
unter 2 b« als Parz<rlleiibrtri«be
2 bis 5 „ „ kleme'}
5 ,, 20 ,, mittloro
20 ,. ICO ,. f^roNcre
100 ., u. darüber „ Cirolsbetriebc
Ltauemwirtscbaften
bezeichnet worden.
Danach gelangt man zu folgender Aufstellung:
Landwirt^
chaftlich
(_i r ö I s 0 n -
Anzahl der
benutzte
Kliirhe
k 1 a s s e u
llctriebe
ha
ha
ha
ha
189s
i88a
1895
1882
»895
1882
unter aha 3236367
3061 831
1 808444
182S93S
2415914
a<5935«
2ba bis s
IOI631S
981407
3285984
3190203
414207t
3832902
5 t» M 2o „
91 )S So \
926 605
9 7-2 1 S75
12537660
11492017
20 „ „ ICO „
2S1 767
2S1 5 10
9 008 1 70
13 157 201
12415463
100 „ u. darüber
25 061
24091
7S31801
7786263 *
I lOJI 896
10278941
A u (■ d i 0
einzelnen Gröfsenklassen treffen Prozente
untir 2 !»a
. 5.73
5.58
5.37
2 ha bis 5 „
ib,;i>
1 8.''>o
10. 1 1
10.01
9,57
9.54
5 n " 20 ,,
«7,97
i7öt>
20. yo
iS.74
28.96
2S.60
20 „ „ ICO „
5.07
5>34
30,35
31,09
30,40
30 00
100 „ und darüber
0.45
0,47
24,08
24.43
«5,49
-5.59
Der Zahl nach überwiegen die Par/ellcnbetriebe ganz ent-
schieden. Wesentlich anders gestaltet sich schon das Bild, wenn
'1 Unter dem /ahluny>\vt ik«- wird in da.sk m Ab.-,i hnitt«- immer der 112. Band
der Suti^tik des Deutschen Reichs N. V. verstanden: Die Landwirb-clialt im Deutschen
Reich nach der landwirtschaftlichen Betriebszählung vom 14. Juni 1895. \'gl. da>
selbst S. 10 *
*) Dafs höchstens die Hälfte der Inhaber der Betriebe mit 2—5 ha landwirt«
sdiaftlicher Fläche zum Mittelstand, die andere Hälfte aber zur unbemittelten Klasse
in sählcn sei, habe ich schon früher ansgeftthrt Vgl. den XIV. Bd. S. 623.
H. Raucbberg,
man die 1 037 870 Zwergwirtschaften ausscheidet, deren laodwirt*
schaftliche Fläche nicht einmal 20 Ar erreicht, und welche kaum
noch als Landwirtscliaft.sbctriehc im \ olk>\virtschaftlichen Sinne gelten
können. Denn ihr Ertrag langt bei weitem nicht /ur Ernährung
der Inhaber aus, die, wie später ziAermälsi^' beie;:(t werden
Süll,') auf andei-\vciti«:;en Erwerb angewiesen bleiben, l^lst man
also <lic Zwergbetriebe unter 20 Ar beiseite, so ermälsi^ sich die
Zahl eigentliehcn i'arzclienbetriebe auf 2198497 und ihr
Prozentaiiteil auf 39,56. Die ( irof'^iHnriebe mit mehr als 103 ha
machen kaum ' . Prozent au-;. \)vr l\e>i eiitfalli .luf die liäuerlichen
tschaften, unter welchen hinwiederum die kleinbäuerlichen am
stärksten hervortreten.
(ianz ander> ist der Anteil der oben uiiterscliiedenen Cirölsen-
Wassen an der landwirtschaftlichen IJetriel >>tläciie. Kaum mehr als
5 Proz. davon ctufallen auf Parzellcnbetriebc , rund ein X'icrtel ge-
hört dem (irol-^betricb an, und mehr als 70 Proz. werden in über-
wic^i^end bäuerlielien iK'trieben bestellt. Die X'crteilun;^ der (ic-
samtflache ist so ziemlich dieselbe, wie jene der landwirtschalllich
benutzten, nur dals der Anteil der gröfscren Betriebe an der (ic-
samtfläche vergleichswci.se höher steht, ein Anzeichen daiiir, dafs die
kleineren Betriebe ihr Gebiet intensiver ausnutzen wie die grolsen.
Welche Veränderungen sind in der Besetzung der einzelnen
Gröfsenklassen während der 1 3 Jahre zwischen den beiden Betriebs*
Zählungen eingetreten? Und dürfen wir hoffen, hierdurch gewisse
Einblicke in die Entwicklungstendenzen der deutschen Landwirt-
Schaft überhaupt zu erlangen?
Es haben zugenommen, bezw. abgenommen ( — )
die Betriebe di^landwirtschaft* die Gesamt-
liche FUche fUcbe
Gröfsenklassen
Zahl
Proa.
ha
ha
ha
ha
unter 2 Ija
174 536
?.7
— 17494
— o,u
256 556
11,8
2 bis 5 „
34 911
3.5
9; 62 1
2.CJ
,>oo 1 6g
So
5 .1 20 „
72 19')
7-7
563477
0,1
I 045 043
9.1
20 „ 100 „
257
o,i
— 3J>333
— 0,3
741 15^
5-9
100 ha n. darüber
70
0,2
45 558
0,5
752955
7.3
Die Eingangs dieses Abschnitts fest^^estellte Zunahme der Be-
trielte erstreckt sich demnach Über alle (in'ilsenklassen und hat
durciiaus die Gesamtflächen erweitert; die landwirtschaftlich be*
') Vgl. weiter unten b. 572.
Die i^aadwirl.scliatt im OtuUclKU Kticli.
nutzten Flächen haben gleichfalls in allen Gröfsenklassen zugenommen
mit Ausnahme der Parzellenbetriebe unter 2 ha und der grö(seren
fiauemwirtschaften von 20 — xoo ha. Bei weitem am meisten haben
an Flache die kleineren Bauernwirtschaften von 5 — 20 ha gewonnen.
Was besagen diese Zahlen über die Entwicklungstendenzen in
der deutschen Landwirtschaft? Ich meine, dais Rückschlüsse daraus
mir sehr behutsam gezogen werden dürfen. Die Veränderungen
sind zum «^^uUm Teil formaler Art und ganz danach angcthan, den *
statistischen Dilettanten irre zu führen, der nicht wcils, wie grofs der
Einfluis der formalen Behandlungsweise auf die Gestaltung der Er*
gebnisse ist
Aus zwei Quollen können hier Irrtümer entspringen: aus der
Unsicherheit über den BegritT des Betriebs und dann aus der Art
und W eise der Klassifikation nach Grölsenstufen.
Die crstcrwrihntc Fehlerquelle ist insbesondere für die Zu-
nahm«; ilcr Par/.cUenbetriebe \on Belanj^. Icli hal)C srlion weiter
oben darauf hingewiesen, dals die WrmehruiiL; in diocr Katt i^orlc
hauptsächlich auf Zwerj^wirtschaften allerkleinstcn Lmt.iii^^s iiurück-
zuiuhicn ist. Wenn i"so5 ilie Zahl der Zwerj,d)etriebe unter 20 Ar
um 1 20 oder I'roz. ji^rölser ausgewiesen wirtl wie 1882,
-SO i-t bei der l ii>icherhrit, die darüber besteht, ob so geringe
Fkichcu überli.uiiJl nucli als Betriebe anzusjirechen sind, anzu-
nehmen, dals die Zunahme hauptsächlich aus einer geänderten Auf-
fassung und genaueren Beantwortung der Fragen zu erklären sei.
Das wird dadurch bestätigt, dals in der Klasse der Pärzellenbetriebe
zwar die Gesamtflachen, nicht aber auch die landwirtschaftlich be<
nutzten Flächen seit 1882 zugenommen haben. Von Belang können
also die Aenderungen trotz der scheinbaren Vermehrung der Be-
triebe nicht sein. Aber auch bei grofsen Wirtschaften steht der
Begriff des Betriebs keineswegs fest. Ob dieses oder jenes Vorwerk
als selbständiger Betrieb gelten solle oder nicht, ist häufig zweifei-
haft und 1895 in manchen Fällen wohl anders entschieden worden
wie 1882, ohne dafs sich in der Wirtschaftsweise selbst das Mindeste
geändert hätte. Aehnlich verhält es sich, wie oben auseinander-
gesetzt worden ist, mit der Registrierung der unmittelbaren Ge-
nieindebet riebe. Bei der verhältnismälsig geringen Besetzung der
höheren Gröfsenstufcn erlangen derartige Schwankungen Ii i In l in-
flufs auf die materiellen Ergebnisse. In der That zeigt die Be-
wegung in den höheren Gröfsenklasscn sowohl der Zaiü als auch
dem Umfang der Betriebe nach von Stufe zu Stufe eine verscliiedene
Archiv für Ml. G«fleUgebunf u. Statutik. XV. 37
Digitized by Google
562
H. Rauclihcri;,
Kiclilun- — bald Zunahme, bald Abnahme.') Aus einem einheil-
liciiL-n rriii/.ip luraus können diese Verschiebungen in materieiler
Hinsicht nicht erklärt werden.
Für diese Schwankuncfcn von Stufe zu Stufe kommt nun ins-
besondere die zweite der beiden oben erwähnten X'eranlassungen
zu .Mii"s\erstrnuhi!S<eii iiibctraclil: die Cirun(ila;.^e der Klassifikation
nach (tröl>en,st'.ileii. ist nämiirh in dieser 1 iinsiclit sor^fiiltiL; zu
crwä'jeti. was die I'.in/.i( !iuti<' eines Ik-triebs in eine be<tininite (in^lsen-
kla->c tlialsächlich bedeutet. Wie ich oben !)ereit> erwäiint habe, erfc>i;^t
die Kla'-^ilikation nach dem AusmnKc der lnndwirt--rhaftli'^!i Ite-
nutzten 1' lache. Nun L;enut;t .iber, in^! u sondere bei den iietriebcn,
liie nahe an den (.TrenzHnien ihrer ( ir« '^Nt-iiklasse L^eiet^en sind, eine
^'erint;e ( icl)iets.inderut u;, oder selb-^t ohne (icbietstinderuni^ auch
rnn' eine Ausdi-Iinuiv^f odtn* häiisehränkun'^r der lntensi\ kuUuren,
(U-ren i 'ä< li< nausstattunL; der Klassilik.itioii ja zu (uuude hej^^t,
um den lieirieb, und zwar mit seiner ( icsamttläclie , \ (»n der
einen Cirorsenklasse zur anderen üi^ertretcn /u lassen. liei der '^c-
ringen Besetzung der höheren (iröfsenstufen können also an sich
belanglose materielle Aenderun^en zu formal recht erheblichen Ver-
schiebungen fuhren.
Diese Schw ieri;^keiten .^.ind schon durch die Beschattenheil der
Materialien bedingt. Sie müssen bei der wissenschaftlichen Be-
arbeitung derselben berücksichtigt, können aber dabei nicht be-
seitigt werden. Schon deswegen sind die weiter oben S. 559 mit-
geteilten Zahlen über die Verschiebungen in der Besetzung und
Flächenausstattung der einzelnen Gröfscnkategorien wenig geeignet,
uns über die Hntwicklungstendeqzen der deutschen Landwirtschaft
aufzuklären. Noch aus einer anderen Ursache taugen sie dazu nicht :
es sind nämlich Beziehungszahlen. Aber nicht solche, sondern nur
Gliederungszahlen sind hier am Platze.^ Gewi(s muls die Unter-
suchung damit beginnen, die formalen Verschiebungen seit 1882-
festzustellen, indem man die Differenzen zwischen der Besetzung
jeder Gröfsenklasse in den Jahren 1882 und 1895 berechnet. Diese
Differenzen spiegeln jedoch die thatsächlichc Kntwicklung nur ver-
zerrt w^ider. Es wäre irreführend, sie mit dem Anfangsstande zu
0 ^E^* li^^cUc auf ^. 564 im Zusammenhalte mit iicr tcbcrsicht auf.
S. 557-
Vgl. V. Mayr, Statistik und GesellMihaliblchrc, i. iki., .S. 1.
Die Lun(iwirt:>cli;it'l im ncutschcn Reich.
\ ( : L;lciclieii uiul aus den j ini/( uiu.ilcn Scluvaiikun^i 11 aiti d\c seither
cin<;etretenc Rcu c^'un^' /.urückzu.schliefsen. ^) Denn die Verände-
rungen in der Zahl und der Fläche jeder einzelnen Gröfsenklasse
sind nicht durch eine Entwicklung^ innerhalb der betreffenden
(iröfsenktassc entstanden, sondern ganz im Gc<;cnteil durch den
Austausch von Betriebseinheiten zwischen verschiedenen Gröfsen-
klassen, je nachdem nämlich die landwirtschaftlich benutzte Fläche die
Obergrenze überschritten hat oder unter die Untergrenze gesunken *
ist. Es ist daher unstatthaft, die Besetzung der einzelnen Gröfsen-
klassen in den Jahren 1882 und 1895 in direkte Beziehung zu
einander zu bringen. Die richtige Berechnungsweise mufe vielmehr
damit beginnen, für jede der beiden Zählungen die Gesamtzahl
der Betriebe und der dazugehörigen Flächen nach Gröfsenklassen zu
gliedern, Krst die Differenzen zwischen den < il' lerungszahlcn für
1882 und 1895 lassen Richtung und Mafs der Bewegung richtig
erkennen.
Die zu dieser Berechnung erforderlichen GHederungszahlen sind
557 und in ilen bereits auf S. 559 niit;^^eteihen Uel )ersichten ent-
halten. Ks erübrii;! demnach hier nocli die X'ersehiebun^cn darzu-
stellen, die in den Prozentsätzen der einzehten Gröfsenklassen ein-
getreten sind. K> sind das die folgenden:
Während der Jahre 1882 — 189S bctrii-t tlie Zunahme (+)
bezw. Abnahme ( — ) in den Prozentanteilen der nebenbezeichneten
Grössenklassen an der Summe too) der
*) I'. Kollmann hn* in ^'-in-^r «.rlinjif^n Besprerluing dt-r hindwirtschattlichcn
Betriebsziililun); im Iahrl)in ii Itir ( -. ti^< bung, V'crwaltiinp um] VnIkN\virt>cli.itt,
23. Jahrg. S. IM fl'. jene \on mir aul S, 5O0 mitgctcillcn /aiilcn glcichlalls ^e-
bracht, aber ebenso wie ich, 1' iliglich am die formalen Verscbiebong«» aofnucigcn.
Materielle Folgonngen daran tu knUpfen, hat er gaas richtig «aterlassen. Hingegen
verHillt Kautsky in seinem Buche Uber die Agrarfrage, Stuttgart 1899, S. 173 if.
in diesen Fehler. Und er vcrschXrflt ihn noch dadurch, dafs er die im Quellen-
ni.itcrial untorschi<"d<-ncn Gn>r>cnkla>><on nach Giitdünkcn wmbiMr't, um' stati>(isdie
r.<K-;,'e für sein- Auffassung: li«T/nstfll<Mi l'i'- Kiitik, dir Riilf:ak(iff im XIII TM.\
difses Archivs, S. 710 ff. an tli<-scm \ nro.itii,'!- f;<*iibt hat, ist liurch.itH brjjriiiidct.
Vgl. dazu auch die Ausführungca von Vtof. M. Sering iu „Die .Ajirarlra^;«- und
der Sozialismus", Jahrbuch flir Gesetzgebung, Verwaltung u. Statistik, 33. jaiirg.
S. 1493 f^' insbes. S. 298 ff. Eine %'öUige sachgemSfse Behandlong de« statiatiscben
Materials findet sich bei Buchenberger, Grundfragen der deutschen Agrarpolitik,
a. Aufl., Berlin 1899, S. 21 f. und v. d. Golts, Vorlesungen ttber Agrarwesen und
Agrarpolitik. Jena 1899, S. 84 AT.
37* •
uiyiii^od by Google
H, Kauchhcrgf
<3röfs«tt>
landwirtscbaßlkben
landwirtschaftlich
Gesamt-
klassen
Betriebe
bemttxten Flächen
flichen
unter 2
Ar
+ o,>3
—
+ 0,01
2
Ar bis
5
II
+ 0,12
—
+ 0.03
5
if
II
20
+ 1.03
4- 0.03
+ O.IO
ao
ff
■1
I
ha
+ 0.1
4- O.U2
-l- 0,20
I
ba
•1
2
»»
— 1,27
— 0,22
3
tt
I«
5
•»
— 0,33
+ 0,10
4- 0^3
5
tt
II
10
II
4- 0,40
+ 0,76
+ 0,47
lO
ti
•>
30
»»
+ 0,01
— o,it
ao
tt
?»
50
II
— 0,34
— 0.74.
so
II
100
tf
0.09
— 0.09
+ 0|^
lOO
II
n
300
tl
0,01
— ü,02
+ 0.63
TT
M
500
?»
— 0,01
— 0.45
tl
>l
1000
II
— 0,12
— ^'.34
1000
II
ond darüber
-1- 0.24
4- 0, i ;
oder auf fünf (jr<>i\rnklaäscii
zusammengezogen:
unter 2
ha
-f 0,20
— 0.17
2
ha
bi;
' 5
II
- - 0.32
-f- 0,10
+ 0,03
s
II
n
20
»»
+ Oi4«
-f 1.16
+ 0,36
20
II
«•
100
II
~ 0,27
— «-'.74
— 0,50
100
>f
und darüber
— 0,02
- 0,35
— 0,10
Betrachten wir die \'cränderLin»;cn in (Icr landwirtschaftlich be-
niit/tcn l-'läche als dir nial--,.^fbendcn, so criT[iel)t sich aus den \or-
stehcntlen Bercclimin^^cii, dai^ dir Bctricljc niiltlcrer Ui"lsc ') von 5 bis
20 ha sich zumeist vcrnichn hiilti n iiinl zwar auf Kosten der Parzcllcn-
iHirl der ( irorsbetriebc. Zwar haben auch die Par/ellenbetriebe unter
1 lia an Zahl /ugenonnnen ; aiirin das erklai l -ich, wie bereits dar-
f^ethan, aus der ^^lulseren \'olNtäiuliL,d<i.'it der la hebunji;. Die Betriebe
im Ausniafsc \on 50- 100 ha tn ti n iiunuRlti zwar nicht mit ihrer
laiidwi' l>.chaltlichcn, wohl abi:r nui iiirer ( ie>.inutlürhr starker her\"or
und cberivo sind die Liitifundien über 1000 lia nuumeiu- mit etwas
höheren J'rozentsälzen vertreten. Aber diese Ausnahmen sind nur
geringfü^di^' und verschwinden, sobald man die einzelnen Stufen auf
die 5 grofsen, sozialpolitisch charakteristischen Gröfsenklassen zu-
sammenzieht Von einer Konzentrationstendenz des Landwirt-
schaftsbetriebs kann also, alles in allem genommen, nicht die
>) Nor von den Betrieben nicht anch vom Grandbesitz gilt das. ^Venn
das Zählungswerk S 1 1 * vom Grundbesitz spricht, so sind damit wohl die Betriebe
gemeint •
Digitized by Google
Die I^andwirtechaft im Deutseben Reich.
Rede sein. Der hervorstechendste Zug der gesamten Entwicklung
ist vielmehr die Verstärkung der mittleren Bauemwirtschaften.
Bisher ist die Gliederung der Landwirtschaftsbetriebe nach
Gröfsenklasscn blofs für das Reich im ganzen erörtert worden.
Hinter den Durchschnitten, die für das Reich im ganzen [gelten,
vcrberj^en sich aber gewaltige Unterschiede in den Betriebs-
verhältnis s c ii der einzelnen G e b i c t s a h s c h n i 1 1 c. Zeigt
der Rcichsdurchschnitt eine glückliche Mischung der verschiedenen
(irofsenklasscn, so belehrt uns die Untersuchung der geog^raphischcn
(iestaltunfj darüber, dafs dieser Durchschnitt zum guten Teile
.lediglich als der rechnerische Ausgleich sehr verschiedenartiger Ver-
hältnisse in den einzelnen ( iebietsabschnitten aufzufassen ist. An
Stelle jener glückliclicn Mischung begegnen wir hier häufig einer
<ehr einseitigen Au>l)iidung der einzelnen Helriebsgrölsen und
•I'onnen : östlich der Klbe dein < iroi^ljctrieb , westlich der Elbe
dem Kleinbetriclj. I-"reilich ist die <ie.->taUung in den einzelnen fic-
bictsabschnitten eine sehr mannigfaltige; nur durch eine eiiuli mgende
Analyse (les geogi aj »hi-clien Details kann sie völlig erschlossen
werden. Die hierzu erforderlichen tabellarischen Behelfe können an
dieser Stelle nicht beigebracht werden. Ich mufs mich darauf be-
schränken, in der nachfolgenden Tabelle die Verhältnisse in den
grofsen Grebietrabsdinitten darzustellen, in welche das Deutsche
Reich nach den hervorstechendsten Merkmalen seiner Agrarverfas»
sung zerlegt werden kann. ') Nach diesen Gebietsabschnitten sollen
för jede der oben unterschiedenen Gröfsenklasscn der Betriebe die
Prozentanteile an der Gesamtzahl der Landwirtschaftsbetriebe und
an der gesamten landwirtschaftlich benutzten Fläche angewiesen .
werden.^ In der letzten Spalte der Tabelle füge ich die ZUTem
über die spezifische Dichtigkeit der landwirtschaftlichen Bevölkerung
hinzu.
Siehe die Uebersicht auf S. 566.
Das Östliche Deutschland wird mit 44 Prozenten seiner land-
wirtschaftlichen Fläche als der Sitz der eigentlichen Großbetriebe
gekennzeichnet. Für die Parzellenbetriebe, die kleinen und mittleren
Bauemwirtschaften erübrigen daselbst nur 27,6 Proz. der eigentlich
') Im Anschlüsse an Sering. V$;l. den Art. Grundbesitz im Wörterbuch der
Volkswirtschaft lifT:ui'<f;--;;.'l»rn von 1,. Elster. Hd. I, S. 956.
^ I > i < - Zahlen eninehroe ich den eiogebenden Berecbaongen Kollmaiinsa.a.O.
S. 116 — 125.
;66
11. Kauclil)crg,
: ?:
7;
* U M ><
T.r. 'i z
v. y. >: c
r' 5' c 'S
c # r ? H.=-
75
3
C
H. - r
C S: 3
C 3
i 3
c
t/1
3
g
3
3
p
R
7^
3
«St
a.
0»
*%
3
I
V. ?
—
S r, ^
■
N
?:
Vi
V,
ir
n
§
>
3
C
-1
7^
3
7;
U
3
O.
V. 5; 2 i
? ? ^ o
?^ :r — 3 ,
ic 5 —
^ - r c 21
I c r ^ ? ^
— T f-
er
5 E: r- 1. S
TT
O O O O
— — IJ —
j3 f* ~ ^ y«
^ v3 ^ Vi
- - IJ IJ
p * p p
O 'o>'*9>«4 iu» 4« O
OJ
o
ÖJ
u. ^ o
Cn 'c v< 4» ^ O
4. 4* 4» Ul M —
P^T^
i. i «j — V
M x IJ («J 4^ K>
o — o 00
"w •Ij "O vO *• 'Cn
U> IJ U U< 4- u
000- C«vC
M OJ vO O Vi
M Ut M o p
— Cn ^ Vj V>
GA Ca ^4 'oa 'm 'öo
'S
s
N
c e o- '^
C> ©"Jd Cr» ^
4» v/1 0> 9«
— A pSV^ ^ p
0 4^ "ij "b *o "6 IJ
WS
W IJ - — — —
"V» 6j i> M btij
- IJ M — — — —
zr. >»i 4k 'y< 4»
I Öj Vi u> "oc *o i
>5
c
c-
M — — X — —
Ol c 4» "b 4»
-I4 j>obJ p*Ui p»
0 *— o ^oc ■»-I
fc. —
- 4. p>>i
■y» IJ
- 4. V]
"a 'y. 'c 33
p
4-
p p
p p p -
- 4fc "m -
P
p p
P p p -
— 4> Cm
00
jj *j
oevn yi 4>
ffi 0 *y
4» WS IJ 00
er
p
C
CA
rt
I oe
vO
00
cc
u
er-
1 Wt
w:
cc
M
8 —
c
'S
r.
r»
B
cc
IJ
O
Vyi
V5
IJ
VC
00
00
IJ
II
r» 3
3
n
3
9
3
O.
3
n
d
M
s
§
3
3
I
c
g" o.
2 - «=
= 8^
2
£i S 5-
3^ =1 -• 3* « >r " 2.
Digitized
Die Landwirtschaft im Deutschen Reich.
landwirtschaftlichen Mäche. Am meisten, mit 6ü rroz., überwiest
der Grofsbetrieb in Mecklenburg. Aber auch noch die Provinz
Sachsen (mit Ausnahme des Regierungsbezirks Erfurt), sowie
Braunschweig und Anhalt, die zu Mittelf leutschland zahlen, ragen
durch eine überdurchschnittliche Besetzun- der Grolsbetriebe —
29i3 und 264 Proz. der landwirtschaftlichen Fläche — hervor. Nord-
Westdeutschland, in erster Linie Schleswig-Holstein, ist das Gebiet
der gröberen Bauernwirtschaften mit 20 bis lOOha; 47,4 Proz., in
Schleswig-Holstein sogar 6t, 6 Proz., der landwirtschaftlichen Fläche
gehören daselbst dieser Kategorie an. Mittel- und Südwestdeutschland,
sowie der Südosten zeichnen sich durch die grofste Vertretung der
mittleren Bauemwirtschaften und durch die geringste Vertretling
der Grofsbetriebe aus. Für den Südosten sind daneben noch die
gröfseren Bauernwirtschaften charakteristisch, welche in Oberbayem
mit 47 Proz. der landwirtschaftlichen I'läche am stärksten hervor-
treten, für den mittleren und südlichen Westen die Parzellenbetriebe,
die im Landeskommissariats-Bezirk Karlsruhe mit 26,45 Proz. der
landwirtschaftlichen Fläche ihren Höhepunkt erreichen.
, Dafs die spezifische r3ichtigkeit der landwirtschaftlichen Be-
völkerung im umgekehrten \'erhältnisse zur durchschnittlichen
üröl'se der landwirtschaftlichen Hetriebe stehe, habe ich schon im
IV. Abschnitte des zweiten Hauptteiles die ser I7nt(M >uchunL;en dar-
gelhan. ') Durch die letzte .Spalte der \ orstehenilen l abclle wird
das Itestatiijt. In erster Linie sind es die ( irolsbetriebe, welche
die Fntw ickliuu^ der X'olkschehli'rkeit hemmen. .Sic steht im Osten
mit 45 auf je lOO ha landwirtschaftlicher Fläche am tiefsten und
sinkt speziell in .McckU-n[)ur^ his auf 31,1 herab. Aber auch die
geschlossene l-Olge grofser HauciuL^uU r li.tt du- gleiche Wirkung.
Das zeigt das lkisj)iel Schleswig- Holsteins, woselbst 61,8 Proz. der
landwirtschaftlichen P'läche der Gröfscnklasse von 20 — 100 ha an-
gehören und die spezifische Dichtigkeit der landwirtschaftlichen
Bevölkerung mit 31,3 auf das ha sich kaum über jene Mecklen-
burgs erhebt. Hingegen wächst die spezifische Dichtigkeit (»rallel
mit der Parzellirung und erreicht zugleich mit dieser im mittleren
Westen den höchsten Stand. Noch viel dichter erschiene daselbst
die landwirtschaftliche Bevölkerung, wenn man ihr auch die Personen
mit Nebenerwerb in der Landwirtschaft zuzählte. Denn wie die
alsbald folgende Untersuchung der Berufeverhältnisse der landlichen
>) Vgl. den XIV. Bd. dieses Archivs S. 297 ff.
568
Ii. RaucKberg,
Betriebsinhaber zeigen wird, gehört nur die Minderzahl der Parzellen-
besitzer mit ihrem Hauptberufe der Landwirtschaft an. Verhältnis-
mäfsig am häufigsten - finden sie ihren eigentlichen Erwerb in der
Industrie. In Gegenden mit höherer Wirtschaftscntüütung ist somit
das rc!)LT\vii.';^ani der I'arzcncnl)ct riebe niclit etwa als ein Symptom
der W-relondun;^ der I.aiidwirlscliaft zu deuten, sondern \iclinchr
ein erfreulirlics Anzeichen dafür, dafs ein erheblicher Teil der
industriellen Bevölkerung einen gewissen Rückhalt an cjo^enem
Grundbesitz liat, der für die Deckung des Nahrungsbedarfs vieler
Arbeitt rh.iushaltungcn v»>ii Hol.ing ist.
I)ie iMitwickluniJf seit 1882 bcweLjt sich in den eiiv/elncn, in
der'übij^en Tabelle unter>chiedenen ( iel)ietsal)schnittcn in verschie*-
denor RichtiuiL:. Im Rdrhsdurch^chnitte erscheinen die ^e^^en-
sätzlichen BeweLjun^^stc mlcn/en so ziemlich kompensiert. Die Be-
trachtung des geograi>hischcn Details lehrt nun, dals die lintwick-
lung in den beiden grofson agrarischen liebieten des Deutschen
Reichs die entL;e;^enfj«'set/te ist: im ( »sten und Norden, den (iej^enden
des überwiej^enden (irol>belriebs. anteiKweisc Abnahme der tnoN-
l)etricbc und X'erstärkun-^ der Parzellenbeti iel)e, sowie insl)esor)derc
der ei;4entlichen 15.uiern\virischaften '), im Westen und Süden Ab-
nahme der l'arzellenbetriebe, hingegen Ausbreitung der Grols-
betricbc. Die mittleren Bauernwirtschaften aber — 5 — 20 ha —
haben durchaus an Bedeutung, und Umfang gewonnen. So wäre
denn die Entwicklung danach angethan, den klaflTenden Gegensatz
zwischen den beiden grolsen agrarischen Gebieten des Deutschen
Reichs einigermafsen zu mildem, wenn sie nur durch die ermittelten
Zahlen richtig gekennzeichnet würde. Von welchem Einflufs dabei
die formalen Momente sind, habe ich schon früher hervorgehoben.
In der That scheint mir die Zunahme der Großbetriebe im Westen
und Südosten hauptsächlich auf derartigen formalen Verschiebungen
'1 Die nr-hauptunp Kautskys, dafs die Znnahni ■ odt-r Intcnsifizirrung des
r.roisbetri» dm rar/cllnihctricb iüclit«-. wird durch iiit hts bi sliitifjt. Im östlichen
I >cut-cidand, als dc-m rif^< ntliclicn tiriiii't'- dos Grolsbetriohs. simi di-- Umtriebe mit
100 ba laiidwirtschaftlirliiT Fläclir uiul ilariibrr niclil nur, v, u dii L i-bi-r>iclit auf
S. 566 ^cißt, aulriläwi-ihc sontlcni sugar absolut /-uruckyo^aiigcn, die Par^itllen-
betriebe und kleinbitterlichen Betriebe hftben nur ganz unweseatlich an Gebiet ge-
wonnen und fast die ganze Verschiebong ist gerade den mittleren Banerowiit»
Schäften zognte gekommen. Ihr« Zahl ist im östlidhen Deutschland von 333 733 im
Jahre 1882 auf 270120 im Jalirc 1895 ß.-stic^i-n, ihre landwirtschaftliche FlSche hat
sich von 340893S auf 270S821 ha, also rund um 300000 ha erweitert.
Die LaiKhvirtschati im iJtuLschcn Kcicli. . S^9
ZU beruhen: teils darauf, dafs nunmehr der Besitz juristischer Per>
sonen vollständiger verzeichnet wurde als früher, teils darauf, dafs
Waldwirtschaften, die auch mit anderen Kulturen durchsetzt sind,
nunmehr erfafst und mit ihrer gesamten Fläche zu den Landwirt'
schaftsbetrieben gezahlt wurden. Darauf deuten auch die gewaltigen
Unterschiede in der V^erteilung der Kulturen hin. In den Grofs-
betrieben des Westens und Südostens hat der Anteil der landwirt'
schaftlich Ixinutzten Fläche an der gesamten Betriebsflache seit
1882 auffallend abgenommen, im Osten und Norden dn^'c^'en nur
um ein gerin«:;;es. l mgckehrt ist die Bewec^un;::^ im Waldland. ')
So betrug die landwirtschaftlich benutzte Fläche Prozente der Ge-
samtfläche
1805
1882
94.2
• • • 57.2
91,8
65,7
89,4
584
dagegen
78.5
74,7
84,«
Für den Grofsbetrieb des Westens und Südostens ist nunmehr die
breite Vertretung der Extensivkulturen, insbesondere des Waldlandes
charakteristisch, wogegen die Extensivkulturen von den Grofsbetrieben
des Ostens nur ausnahmsweise mehr als den vierten Teil der Betriebs«
fläche ausmachen. Hier sind die Grofsbctriebe ganz überwiegend
reine Landwirtschaftsbetriebe, wogegen sie im Westen und Süd*
Osten durch eine hinter dem Reichsdurchschnittc — 75,13 T';<v/. —
weit zurückbleibende X'crtretung der eigentlich, landwirtsclialthchen
Fläche gekennzeichnet werden. VV'ic die oben angeführten Beispiele
zeigen, hat sich dieser frapjiicreiidc riitei -^c liied erst bei der
Zählung von 1895 herausgestellt. So in ttachlliche Verschicbungen,
wie in den angeführten süddeutschen hita.iten k<innen offenbar nur*
aus Schwankungen in tler Ii.rhebuiiL,'>weise und in der dadurch be-
dingten Beschaflenheit der iMaterialicu erklärt werden. *) Es ist
*) Vgl. weiter unten S. 5S5 f.
*) Nocb gröfser ist der Einllurs der Erhcbnngsweiic bei der Vergleicbung
internationaler Materialien. Die Venchiedcnhdten gehen hier snmeist so weit,
dafs munittelbare Vergleichvng aosgescblossen erscheint kh glaube daher anf die
L.ivjM^L,j L,y Google
5/0
II. Kauclil'C-r^,
daher höchst wahrscheinlich, dafs die Erhöhunp; der Zahlen über
die Grofsbetriebe im Süden und Westen hauptsächlich auf derartige
formale Veranlassungen zurückzufuhren ist, und da(s daselbst in
Wirklichkeit keine oder doch keine entschieden überwiegende Ten-
denz zur Ausbildung von landwirtschaftlichen Grofsbctriebcn besteht.
Wohl aber zeigen daselbst die Parzetlenbetriebe Neigung, in der
nächst höheren GrÖfscnklasse aufzugehen.
Das Ergebnis dieser Untersuchung ist also, dafs der erste Ein-
druck, den wir emp6ngen, nur verstärkt wird: die Betriebe mitt-
leren Umfangs breiten >\ch aus, sowohl auf Kosten der Parisellen-
bctriebe als auch der Grofslx triebe; die Richtung der Entwicklung^
in den beiden «i^rofsen, a;;^raiisch ;_;e;,;eii>ätzlieh ^'eslalteten Gebieten'
des DeuLselien Reiclis scheint einer allniählielien MildcrunL^ dvv bis-
her schroüfen Gegensätze in den landwirtschaftlichen Betriebsverhält-
nissen nicht ungünstig zu sein.
II. Die H e r u f s \ e r 1) ä 1 1 ti i s s e der B e t r i e b s i n h a b e r und
die 1 a n d w i r l s e h a f 1 1 i r Ii e II X e b e n ^ e w erb e.
W elche Hi di iitun|T haben die Landwirtschaftsbetriebe für die
Be r u f s i e d e r un des deut-ehen X'olkesr
Icli habe schon (riilicr darauf hint;ewiesen, dafs die landwirt-
scbnftliclu^ Ht.triel)sauh>ahine beträchtlich melir Landwirtschafts-
betriel)e ergeben hat, als \on der Berufs/ähhin^ selbständige I.atul-
wirte, sei es im I lauj>tlieruf oder im Nebem rwr; b, ermittelt worden
sind, 'j Das ist damit erklärt wtirden, da^> nicht jeder I.andwirt-
schaftsbctriel) für >eincn Inhaber derartige berufliche HedeuiuuL: hat,
als dafs er sich als selbständiger Landwirt fühlte und bezeichnete.
\ H Inn hr gt hol eil x on den Inhabern der c ; V»7 Landwirtschafts-
betriebe, welche unsere Zählung ergeben hat, nur 3210167 oder
57»86 Proz. mit ihrem Hauptberuf der eigentlichen Landwirtschaft
an, 2342 130 oder 42,14 Proz. aber anderen Berufen. Wie sich die
Inhaber der I^ndwirtschaftsbetriebe auf die wichtigsten hierbei in
Venutunig des im Quellenverfce niu^^cteilten Materials Tür das Ausland be»er ver*
ziehten ztt sollen.
I) Vgl. dazu die Aosnibrungen im XV. Band dieses Archivs S. 149 tt. u. 167 IT.
Es wurden ermittelt: 2 522 $39 selbständige Landwirte im Hauptberaf und 2 159606
im Nebenerwerb, zusammen 4682 14$. Die Zahl der Landwirtschaftsbetriebe b^tr>
5558367; sie aberragt somit jene der selbständigen Landwirte nm 876172.
Digiiized by Google
Die LaadmrUcliafl im Deutschen Reich.
57«
l^ctrachl koiiitneiulcii Bcriirs^rui)j)Cii \erteilcn, /eii{l die iiaclisteheiide
Uel«. rsicht, worin die Hctriel)sinhaber fenicihin tiaiiach in zwei
Gruppen j:,'escliicden werden, je nachdem sie iliren 1 lauptberuf in
selbständiger oder in unselbständiger SteJIunf»^ ausüben:
Inhaber von Liin(IwirtschaÜ.sbctrit.-l>en
Hauptberufsgruppen Personen darunter
ttberhaupt Selbständige Unselbständige
Landwiitscbaft ........ 3316 167 3499130 717037
Gärtnrrri, I i rtucht, ForstwirtSCboA,
Fischerei 09356 3' 7?' 67605
Industrie 1 495 240 704200 790950
Han>i«-1 14344' lio'>Ü2 1-2 759
Verkehr I.U 773 32992 loi 7S1
Gast- nnd Scbankwirtscbaft .... ;3 53 7- ^'7 ^3^
Wecbsebde Lohnarbeit 36737 — —
Andere Berufsarten ') 359 550 — —
Die nachsteiieiK len X'erhalinis/.ahlen verdcutlieben zunäciisl die
IdiLclerunc^ der lantlwirtschai'tliclien Hetriebsinhaljcr narli Haujit-
berufsL,nui)peii und dann den Anteil jeder dieser Uruppen an der
gesamten lantlwirlNchaftlich benutzten Mäclie;
Auf die nachbczcicinieten I^erufsi^^ruppcn entfallen von je 100
Inhat)crn vuu Land- ha landwirtächafilich
wirtäcbaftsbetricben benutxter Flüche
aber* und zwar ttber> und twar in
hanpt Selb- Unselb- baupt selbstän* unselb-
ständige ständige Hij^-T ■.t-imlit^i-r
Slrllun^ Wwirtsrlialtet
Lamlwiruchaft .... 57,86 44,96 12,90 ^^,79 87,20 1.39
Gärtnerei, Tierxncht, Forst*
Wirtschaft, Fischerei . 1,79 0,57 1,2a 0,70 0,35 0,35
Industrie 26,90 13,67 I4>23 5i93 4^9
Haiidi-1 2,58 2.35 0,23 0,73 0,70 003
Verktlir 2.43 0,60 I.83 0,47 0.22 0.25
(j.nst- u. Si haiikwirtschaft 1.31 1,30 0,0l 0,76 0,76 0,002
VVechscIudc Lohnarbeit . 0,66 — — 0,07 — —
Andere Benifsarten . . . 647 — - - 2.55 — —
Wie nicht anders zu erwarten , gehört natürlich die Mehr-
zahl aller Inhaber landwirtschaftlicher lielriebe dem Hauptberuf
nach der eigentlichen Landwirtschaft an. Nahezu neun Zehntel der
') Darunter öffentlicher Dienst, freie Bemfsaiten, selbständige Berufslose, häus-
liche Dienstboten, Familienangehörige nnd juristische Personen.
Digitized by Google
572
II. Rauchbcri;,
gesamten landwirtsrhaftHrh benutzten Fläche wird von Berufsland-
wirtcn bestellt. Fast der vierte Teil von iiinen ist im Hauptberuf
unselbständi^^ Daneben stellt aber aurh die bidustrie mehr als
den vierten Teil der landwirtschaftlichen Betriebsinhaber, und zwar
sind flaran die Unsclbständi^aMi ^'>:' ir nnrli stärker beteilif:;t als die
SelbständiL^cn. Freilich bleibt die I'Uichenausstattun^ der l'n-
sell)>tändi^'i'n hier, wie in allen aiulercn beruf^L;riii>[icn, i^anz aulscr-
ordentlich ^;eL,H'n jene der Sell)ständi'^;en zuiuck. An dritter Stelle
ist die am Fnde der obi^^t n l el)ersicluen anL;elii!ii tr Saninu lix »--itiön
andere Herufsartcii" /u erwähnen, welche in>l)t >()[Rlere desiialb
lietiierkenswert ist, weil ihr auch alle i"anulienanL;ehöri<^en zugezählt
wurden, die ohne einen eii^enen Hauptberuf auszuüben, doch
hihalier \on I .aiKlwirtschaftsbetrieben sind.
Nach ( irolsenkate^orien der Betriebe Irelfcn von je lOO Be-
triebsinhabern jeder Gröl^tMikla^se auf
üroUenk lassen
die 1-
iilli<"}ic
die
andere
der
Landwirtschaft
Industrie
Berufe
Landwirtschafb«
Selb.
Unselb.
Selb-
Unselb-
betriebe
ständige
ständige
ständige
ständige
unter 2 ha
17,43
21,30
16^1
3.24
ha bis 5
72,20
2,48
",93
J.70
1 J /19
5
«» II "
0,2 1
4,43
0.75
20
.. loo „
Qö, 1 6
0,05
I 53
0,2s
1,98
lOO
„ und tUiriibcr
.,3 S6
0,72
0,17
5.20
im ganzen
44.9<i
12,90
14,23
2.35
Es zeigt sich also, dafs die Beteiligung sowohl der industriellen
als auch aller anderen nicht landwirtschaftlichen Berufe am land-
wirtschaftlichen Betrieb im all-^'cmeinen im umgekehrten \*erhält-
nisse zum Betriebsumfansj steht. Blols am Grolsbctrieb sind die
,, anderen Heruf< irten" stärker beteiligt als an allen anderen Gröfsen»
klassen, die Parzellenhctriebe au'f^^enommcn. Demzufolge treten die
eigentlichen Berufslandwirte in der Kate;:^orie der gröfseren Bauern-
wirtschaften xcrhältnismäfsi«^ am meisten hervor und nimmt ihre
X'ertrctnn;^ unter ^len Betriel)sinhabern 'Sowohl mit steigender als
auch mit fallenricr Ik-triebsi^rtiKc ah. Uas ist eine Reflexwirkung
der Hctcili'^aHiL: aller anderen Berufe am Landwirtschaftsbetriel)e.
Nicht tlamit zu verwechseln ist die B e t e i I i <^ u n 5:;^ der be-
ruf s m ;i l's i g e n I . a n d w i r t e a m N e 1 ) euer w e r b in jenen
anderen Berufen. Was zunächst die selbständigen Landwirte anbe-
langt, so sind in jeder Gröisenklussc
j _ d by Google
Die I^ndwirUichail im Deutschen Reich.
573
Gröfsenklasse sellMtSiidige unter je lOO selbständigen
der
Landwirte
Landwirten solche
Landwirtschafts-
obne
mit
ohne
mit
betriebe
Nebe
n b c r u f
unti-r 2 ha
147 094
73.92
26,08
2 lui bis 5 „
187452
74,46
25.54
5 » II *o 1»
76S440
138346
84.74
i5.a6
ao II II too II
247037
«3894
91,18
8,82
lOO „ und darüber
17986
5537
76.46
23.54
im ganzen
1996807
50*333 ♦
79,90
20,10
Tnimerhii) zeii^'t sich auch hier, selbst bei der Untersuchung
nacii feineren .\b>lufuir_^'^eii, die j^deiche KrscheinunjTj: gcrijij.jste neben-
berulliche Bethaii^u; l>ei den Inhabern der f^rüfseren Bauernwirt-
schaften — mit 5 20 ha — , zunehmender Nebenerwerb so-
wohl bei fallendem als auch bei wachsendem Betriebsumfanf;. Ins-
besondere brinijt es die X'erwertunfr der eit;eiien Produkte in den
soj^enannti ri laiidwntsrhaillichcn Industrialicn mit sich, dals aul* der
oberNtrn ( irürsciistufc soLjar die Mehrzahl der Betriebsinhabei einen
Xel)enl)eruf anL;et^el)en hat: in der Klasse \(>i) ^00 — lOOO iia
41,09, in der Klasse von lOOO und nu lir ha S^-'^7 I'roz.
Aulserdem wurden 717037 landwirtsrliaftlielic Betriebe j^^ezähit,
deren Inhaber ihrem Hau|)tberuf nach der Landwirtschaft in un-
selbständiLier Stellun^r an^rehörcn. Die «ranz über\v ie<n'nde Mehrzahl
derselben, 639703. sind Ta;^'clöhncr oder sonstige landwirtschaftliche
Arbeiter. 575 873, mehr als zwei Drittel aller Betriebsinhaber dieser
Kategorie, bewirtschaften kleine Betriebe mit einer landwirtschaft-
lich benutzten Fläche von 5 Ar bis i ha. AuCserdem werden 57 574
Betriebe von Knechten oder Mägden und 19700 Betriebe von Ver-
waltungs- oder Aufsichtspersonen betrieben. Insofern diese letzteren
grölseren Betrieben vorstehen, ist allerdings anzunehmen, dafs der *
Betrieb auf Rechnung des Besitzers oder Dienstgebers erfolge.
Auch der Landwirtschaftsbetrieb der Industriellen beschränkt
sich zumeist auf die unteren Gröfsenklassen. Von den selbständigen
Industriellen mit I.andwirtscha(bbetrieb gehören mehr als zwei
Drittel — 534323 — der Grötscnldasse unter 2 ha an, von der
ihnen allerdings 16,5 t Proz. zueilen, während weiterhin ihr Anteil
mit steigendem Betriebsumfang rasch abnimmt Bemerkenswert ist
dabei insbesondere die Ausstattung der Hausindustriellen mit land«
wirtschaftlichen Betrieben kleinsten Umlangs. Von 287448 selb*
ständigen Hausindustriellen im Hauptberuf haben 53308, 15,07 Proz.,
Kaucliherg,
landwirtschaftliche Hctricbc imic, von denen fn ilirh die gröfsere
Hälfte, 3 1 9<13 unter 50 Ar lnn(!v, ;i !-< liafiliehcr Fläche bleibt. Noch
/ahheirhor ,'1 die selbständigen hulu.sti iellen treten die industriellen
Arbeiter als Inhaber \ ' I.andwir* Ii, itsl )t trie ben auf. In 753953
Fällen wurden sie als solche verzet' lirn t. aueli hier ganz übervviei:^end
niif (Irii U'it'-r^ten Grörscfistufeii i]v> I u irie b^utnfan;^s. Vnr !7.^i''>0
Iiuii:-.ti irai b( ih r "der 17,; I'ru/. bcwirtschaflen mehr als i ha iand-
wirls<"liaftlii li iiemit/tiT M.irlie.
\\'a> ist (Jas I'.: .;i bi'is dicM-r L nler-^ih lumL^en ' Ich habe es
srh'Mi lri!livr ;.;ek ;^(. ntlich duv Im ' irleriii..;- tK s landwirtsrliaftlichen
Nebene! werbs aiisL',e'>j)r< ichcn : d.xis durchaus icder I andwirt-
.schall>l)cti it l) \ <»n solcher Hedi utuiiL; für da> \\ irl^l:haU^sul )iekt ist,
als dals er lür >t iiien nau[)tberuf «xli-r in vielen bällen auch nur
für den Nebeiu rwer!) tnal^L;eb(•nd w äre. W ir st-lien nuiunehr, in
WH- weitem L'n'.lai)L;e I .andwirl>i liatt wm l iiier anderen als der
agrarischen IJerufsbasis aus betrieben wird. Und indem wir . die
den verschiedenen Hauptberufsgruppen angehörigen Inhaber von
Landwirtschaftsbetrieben nach den Gröfsenkategorien dieses letzteren
gliederten, haben wir auch gesehen, ein wie beträchtlicher Teil der
Betriebe überhaupt objektiv ungeeignet ist, für sich allein Unterhalt
und Lebensstellung zu gewähren. Die agrarischen Interessen im
deutschen Volke werden, um auf die schon früher berührte Kontro*
verse abschlicfsend zurückzukommen, ') nicht etwa durch die Berufs-
statistik in zu schwacher Besetzung dargestellt, wohl aber würden
sie nach der Zahl der Landwirtschaftsbetriebe allein beurteilt, viel
zu breit erscheinen. So wichtig auch jene Betriebe, denen keine
landwirtschaftliche Berufsangabe entspricht, (ur die Lebenshaltung
und Hauswirtschaft des Inhabers sein mögen, fiir ihre Bedeutung
in dem rietriebe der volkswirtschaftlichen Interessen bleibt doch der
Kinflufs nial>>;ebend, den sie auf 1^ Herufsbewufstsein des W irts
au>übrri. Das i^crufsbewufstsein findet aber in der Her ufsangabe seinen
.Ausdruck. Darum kr»nnen wir uns bei der W'iirdii^unL^ der agrarischen
Interessen ruhig auf die Angaben iler Bcrulsstati>tik verlassen.
Die \'er;:::;leichuni^ der einschläi^ii^en Eri;ebni-se von 1895 mit
jenen vnn 1892 i>t nicht ohne weiteres durchführbar, weil bei
iler Bearbeitun;' der lai.dwirtsrliaftlj« hen IV'triebsstatistik von 1SS2
tiie Iktriebsleiter niclit nach ilii em 1 laujitberuf au-^'e<chieden worden
sind. Wohl aber ist damals — nicht auch 1695 — untersucht
*j Im XV. tan«] iliocs Archivs b>. J50.
. .j,.i_i,ci by G
Die Landwirtschaft im Deutschen Reich.
575
worden, wie oft selbständiger Landwirtschaftsbetrieb mit einer anderen
Erwerbthätigkeit hanpi oder ncl)enberunich verbunden ward. Damals
zeigte CS sich, dafs das in nicht weniger als 3 220 2/0 Fällen, bei
61 Proz. aller I.and\virt>cliaft>bctriebc, der Fall v Hiervon
kommen 87 [047 I-älle in Alv.ug, welche lafuhvirt>;ci)ariiiclu- l'a-^'-
lölnier mit Grundbesitz betrefien, denn hier handelt es sich in Wirk-
lichkeit ja nicht um zwei verschiedene Heruf>artcn, sondern lun
zwei verschiedene Beruts-^tellunj^en in derselben Ik-ruf^art. Dann
eriihi i.;i ri alier noch immer 2.350323 I.atidwirte oder 44,5 l'roz.
der Inliaher \on landwirtschatllirhen fVtiitl i n als solche, welche
i^^lcirli/ciliL; auch anderen als lan<lvvirt-chaltliclicn lli tufen anj:j^elu*tren.
Au,-, den Aur^lelh'.n-i ii .;ufS. 571 eriMebl >ich, dafs 1S95 tlcr land-
wirlschaltlichen iktricbslciier mit einem anderen al.-> einem land-
wirtschaftlichen II ,1 u ])t bcrnf 23422CO oder 42,141^02. aller land-
wiit>chaltlichen In tricbslciter sinil.
T)ie>c Daten stimmen mit jee.eii \on 1882 annähernd überein.
Dafs der Prozcnt.salz der nicht landwirtschaftlichen Berufe 1895
i^cn jenen von 1882 einigermalsen zurückbleibt, erklärt sich daraus,
dafs 1895 der — nicht landwirtschaftliche — Nebenberuf nicht mit-
berücksichtigt worden ist. Xun hat die Berufszählung von 1895
gezeigt, dafs 450272 ihrem Hauptberuf nach selbständige Landwirte
einen Nebenerwerb aufserhalb der Landwirtschaft haben. Um die
Vergleichbarkeit mit den oben angeführten Ergebnissen von 1882
herzustellen, müssen diese zu den 2 342 200 landwirtschaftlichen Be*
triebsleitern hinzugezählt werden, die ihren Hauptberuf aufserhalb
der Landwirtschaft finden. Dann kommen wir für 1895 im ganzen
zu 2 792 472 Inhabern von Landwirtschaftsbetrieben, welche haupt*
oder nebenberuflich einen anderen Beruf als wie Landwirtschaft
ausüben. Es' sind das 50,24 Proz. aller Hctriebsleiter, also 1895 er-
heblich mehr wie 1882. Die Zunahme ist ^ruiz übrrwieL^end auf
Rechnunnr des Hauptberufs zu Stellen, da die Zahl der von
selbständigen Landwirten ausgeübten Nebenberufe seit 18S2 im
ganzen') nur um 1 14452 gestiegen ist. Ks kami also kein Zweifel
darüber bestehen, dai"s 1895 die Landwirtschaft in nodi weit höhcrem
Mafsc von anderen Berufen aus hctriel)en wird als 1882. Noch viel
me!ir Inhal )cr von bandwirtschaftsbctrieben haben sich nuimiehr
nicht ruir mit ihrem Nebenerwerb .sondern mit ihrem Hauptberuf
nicht zur Landwirtschaft, sondern zu einem anderen Beruf bekannt.
'j EinschUcfülich der Nebenberufe iu der LandwirUchafl selbst.
^^t) H. Rauchberg,
Die berufliche Bedeutung der Landwirtschaft geht also zurück, nicht
nur im Verhältnis zur Berufsgliederung des ganzen Volkes, sondern
auch innerhalb des engeren Kreises der Inhaber von Landvirt*
schaftsbetrieben. Es ist jedoch höchst fraglich, ob das zujrleich eine
Einbufse an alli^cincincr Geltung bedeutet. Driiv^cn doch spe/.ifl-ch
landwiiisch.ifilichc Interessen immer mehr in jene anderen, auf-
blülieiuk'ii Hcrufc ein, unter deren An«^chörigcn die Inhaber der
Landwirtschaftsbetriebe sich vermehrt haben.
Hat man 1895 darauf verzichtet, die mit dem I^ndwirtschafts-
betrieb verbundenen andcrw l itiujen Haupt- iniil Nebenberufe zu er-
mitteln, so sind d.ifür die landwirtschaftlichen Nebenbe*
triebe aus den Ergebnissen der ( Tewerbezähkni;^^ mit horan<^ezogcn
worden zur Kennzeichnung auch der landwirtschaftlichen Betriebs-
Verhältnisse. N'ur solche Gewerbe konnten dabei berücksichtigt
werden, für die nach den Hestimmun^a*n der (lewerbezahlun^ de-
werbebogen aiis^^cstcllt worden waren.') Auf solche Weise sind
ermittelt worden:
350 Betriebe mit Zuckerfabriken gegenflber 456 Zockerfabriken '
5922 „ „ Branntwdnbreimereien „ 10950 Braimtwein»
breimeieten
439 >t Stärkefabriken „ 578 Stärkefabriken
4709S t, „ Getreidemühlen „ 52389 Getreidemühlen
9255 „ „ Bierbrauereien „ ^3233 Bierbrauereien
mich Aiu-
weis der
Gewerbe-
statistik.
Demnach sind von je 1000 Landwirt-charisl;cti leben O.I mit
Znr'kci fabriki- a , 1,1 mit Hranntweinbrennct eien , 0,1 n]it Stfirkc-
fabriken, ^,5 mit ( ietreidemühlcn und 1,7 mit Bierbrauereien ver-
bunden. Nicht minder charakteristisch ist für die betreffenden Gc-
w^erbezweige ihre Verbindung mit dem Landwirtschaftsbetrieb.
Diese wurde festgestellt för 76,7 Proz. der Zucker&briken, 54,1 Proz.
der Branntweinbrennereien, 74,2 Proz. der Stärkefabriken, 90,0 Proz,
der Getreidemühlen und 69,9 Proz. der Bierbrauereien. Liegen
diese Gewerbe also ganz überwiegend im Bereiche der landwirt-
schaftlichen Interessensphäre, so haben doch die verschiedenen
Grölsenklassen der Landwtrtschahsbetricbe einen sehr ungleichen
Anteil daran. Denn es entfallen auf die nebenbezeichneten Gröfsen-
klassen von je 100 landwirtschaftlichen Betrieben mit
'j Vgl. die bezügliclisn Austühninjjcn im XIV. Bd. dieses Archivs S. 258 fif.
j i- oj by Googlcf
Die Landwtrtscbaft im Deutschen Reich.
■
Zucker-
Branntw«'in-
Stärke-
(ictrcide-
Bier-
Gröfsenklas.sen
fabriken
brennerciea
fabriken
inühlen
brauereien
unter 2 ha
44,oo
11.63
i8.7§
•7.73
2 ha bis 5 ,.
0.72
6.55
6.6 [
24, 1 5
18,57
5 .1 n 20 „
14.80
10,25
44.30
41,86
30 „ „ lOO „
9Jt
17.60
11,29
19,70
lOO „ und darüber
21,71
46,64
62,41
a,»4
Der Zusammenhang zwischen den oIkmi hozcichnctcn Gewcrbe-
nrtcn und den Gröfscnklnsscn der Landwirtschaftsbetriebe ist insofern
kein ganz klarer, al.s durchau.s nicht immer die Landwirtschaft die
Hauptsache und das Gewerbe der Xebenbetrieb ist, sondern häufig
wohl auch das um^^ckehrte Verhältnis platzgreift. So insliesonderc
bei tlcn Zuckerfabriken, die nicht gerade mit landwirtscliafthchcn »
Grofsbelriebcn verbunden sind, so auch bei den Bierbrauereien auf
l'arzellcnlietriebcn. Hiervon abgcsclicn, stehen (.TCtreidemülilen und
Bicrbraut reien vorzugsweise mit mittleren und kleineren Landwirt-
schaftsbetrieben in W^rbinckmg , Stärkefabriken und Branntwein-
brennereien mit landwirtschafthchen Grofsbetrieben.
.Aul^er den erwähnten landwirtschaftlichen Xebengewerberi wurden
in \'eii)indLnig mit der Hctriebs/ählung aucli noch ermittelt der Anbau
\()n Ruhen zur Zuckerfabrikalion und von Kartotteln zu Brennerei-
zwecken oder zur Stärkefabrikation, ferner der Betrieb von Milch-
handel oder Molkerei.
Rüben zur Z u c k e r f a b r i k a t i o n winden \'on 113 244 Be-
trieben, 2,04 I'ruz. aller Betriebe, auf einer Fläche \on 391 289 ha
ge!)aut, Kartoffeln zu Brennereizwecken oder zur
St ä r k c fa b r i k a t i o n von 14023 Betrieben oder 0,35 Proz. aller
Betriebe. Nach ( irofsi nklassen der Betriebe verteilen sich diese
Kulturen folgendermalsen :
Auf die < inzfln<ni Grofsen-
Anbau von kla&sen cntlallen von je lOO
^rufsenklasscn Kuben 2ur Zucker» Kar- Betrieben
fabrikation
tofTeln
mit Zucker-
mit
Uber«
Betriebe
Rflbenfl. ha
rüben
Kartoffeln
baupt
unter 2 ha 10781
3781
56$
9.S«
4*03
58,^3
2 ha bis 5 „ 21 413
12693
947
18,91
6,7S
18,28
5 it 1» 20 „ 47I4S
48213
3023
41,63
21,56
1797
20 „ ., 100 .. 26643
97782
4293
2303
30,61
5.07
100 „ unii tl.irlil'.'r 7 263
233 S20
5 »05
6,41
37.o;
Of45
itn ;:.uui !i 1 1 3 244
396 2S9
14023
100
100
100
Archiv für «o/. Cieset/gebung u.
SutUtik. XV,
38
. j _ ^ y Google
57»
II. Rauchhcrü,
Aus den X'crhältniszahkn erhellt, dal's die Produktion von
KartofTeln zu Brennerei? wecken hauj)tsäclilich Sache der GrolM>e-
triebe ist. Die I\ii!)eii]irodukti<)n tritt zwar in den ci^rentlichen
Hauernwirtschalten anteilsweisc am meisten hervor; hinsichtlicli der
Anbaullii( In sind ihnen aber in dieser Hinsicht die Groisbetricbe
bedeutend uh( rle;.;en.
Was endlich die Fra^^'c nach dem Milchhandel nder
M ( > 1 k e r e i b e t r i e b aiibelaiv^t, so ist die la hehuiiL^ iu) .ill^riiu iin n
milslunt;en, vujd i>t die Bearbeitung^ der Daten auf (irutid .s]K/icllcr
l'eberpriifun;^ nur für die < Vte mit iibcr 5000, also von überwieL^'cnd
städtischem ( iiaraktcr. (hm ij^;cführt worden. Hierfür w urden 41930
derani*;e Betriebe mit 215S71 Kühen ermittelt, <;anz überwiegend
den unteren Gröfscnklassen angehörig. 6718 Betriebe waren nur
mit I Kuh, 10338 mit 2 Kühen daran beteiligt. Im Durchschnitt
treflfen etwas mehr als 5 Kühe auf einen Betrieb. Groüsartig ist
die Beteiligung an den Molkereigenossenschaften und
Sammelmolkereien. Eine solche wurde von 148082 Betrieben
oder 2»66 Proz. aller landwirtschaftlichen Betriebe und zwar för
1 082 946 Kühe angegeben. Ueber ein Drittel dieser Betriebe sind
eigentliche Bauernwirtschaften mit 5 bis 50 ha landwirtschaftlicher
Flache. Oertlich am meisten ausgebreitet ^nd die Molkerei-
genossenschaften in Schleswig-Holstein, Hannover und Württembeig;
diese Gebiete umfassen allein mehr als die Hälfte aller an den
Molkereigenossenschaften beteiligten Betriebe.
Bcsontlerc Sorj^^falt ist i)ei der landwirtschaftliehen Bctrici^s-
erhebuni^ \'on 1S05 auf die Ermittelun<,f der B e s i t z v c r h ä 1 1 n i s s c
viTWcndct worden. Hatte man sich 18S2 in dieser Hinsicht tlarauf
l)eschrankt, die Bclriefie mit Pachtland be>onilers auszuweisen, so
sind 1895 die in der naclistehenden l ebersiciit angeführten feineren
Unterscheidungen getrohen worden :
\'on den 5558317 Landwirtschaftsbetrieben, auf die unsere Er-
hebung sich erstreckt, haben
III. Die Besitz Verhältnisse.
Betriebe
ausschlicfblich eigenes Land
aii-scMiefslich
im-lir \ ^ . F
1 als zar Hälfte
absolut
2260990
Prosent
40,68
«6.43
weniger J
Pachtland
9 ! 2 f»?9
I i(>0 943
^».59
20,8^
j _ d by Googl
l>ic Landwirtschaft im Dcutsclicn Reich.
579
Betriebe
ah>olut Prozent
ausschlictislich ) g'gen Krtra^aantcil bcwirtscbaf» 10034 o.iS
}
teilweise f tdtM Land . 28362 0.51
au:>»chlicülich \ 36U343 6,50
.... > Oepatfttland
teilweise | *^ 9*245 1,66
auäijclilicblich \ . 6;o6S 1,13
.... 1 Dienstluid ^
teilweise j 40032 0.83
auaschliclslich \ , ^ , ' 12 667 0,23
^ . } Anteil am Gerne indeland
teilweis« / 370166 6,66
Die Verteilung der Gesamtfläche der landwirtschaftlichen Be-
triebe im Ausmafs von 43 2S4 742 ha auf diese Kategorien ist die
folgende:
absolut ha Proz.
«i^'.ii. s Land * 37270380 86, tl
Pacbtland 5360041 12,38
gegen Ertragsanteil bewirtschaftetes Land 48735 0,11
Depatatlaud 159776 0,37
Dtcnstland 377713
Anteil an Gemeindeland 168097 0,39
Wie von vornherein nicht anders zu erwarten, nimmt die Eigen»
Wirtschaft den breitesten Raum ein. Zwar bebauen nur 40,68 Proz.
aller Betriebe ausschliefslich eigenes Land, aber von der Gesamt-
fläche aller Betriebe macht es 86,11 Proz. aus. Immerhin ist die
Thatsache bemerkenswert, dals unter je 1 00 Betrieben 59,32 fremdes
Land neben* dem eigenen oder ausschliefslich bewirtschaften. Die
ganz überwiej^cndc Mehrzahl derselben, 2607210 oder 46,91 Proz.
aller Iktriebe, sind Pachtbetriebe, und zwar überwiegen unter diesen
wieder diejenigen, welche neben dem eigenen auch noch dazu-
gepachtetes Land verwenden.
Ueber die geographische Gestaltung der hier erörterten Ver*
hältnisse soll, soweit dies ohne breilere tabellarische Unterlassen
durchführbar ist, die nachstehende Uebersicht Auskunft erteilen.^)
') Die Zahlen verdanke ich der oben angemerkten Bearbeitung von K oll mann
«. a. O. S. 139.
38»
üiyiiized by Google
58o
II. Kauclibcrg,
Von je too Betrieben Von je loo ha der
haben Gesamtfläche
Gebietsabschnitte
aussrlilicfsl.
auss<lili<fbl.
s i n
d
eigenes
oder teilweise ge-
cigoue:>
gepachte
Land ■
pachtetes Land
Land
Land
Oestliches Deutschland . .
40,13
36.02
86.48
11,71
Nr>ri1\v<--t(l<'Ut>rlil.ind . .
3». 50
65.27
S2.7S
16,30
Mittrli|r-utM-lil:Uui ....
36,90
54.«7
«^.39
i6.;8
Miltclwcittdeutbchland . .
36,20
57-74
78.63
19.20
Südwestdeutschland . . .
41.38
47,00
86,13
11,89
Südost-Deotschland . . .
62.07
26,58
95.44
$AS
im ganxen .
40,68
46,9»
86,11
12,38
Der Südosten ist das Gebiet der ganz überwieg^enden Eigen-
bewirtschaftung. Insbesondere in Bayern lassen die geschlossenen
Bauernhöfe keinen Spielraum för Pachtbetriebe; 66,59 Proz. der
Betriebe und 93,82 Proz. ihrer Fläche bestehen daselbst aus eigenem
Land. Aber auch in Sachsen und Württemberg, um nur die gröfseren
Staaten zu nennen, hält sich der Eigenbetrieb weit über dem
Reichsdurchschnitt Hingegen ist der Norden und Westen das
Hauptgebiet der Pachtbetriebe.') Sie erreichen in Mecklenburg-
Strelitz mit 58,45 Proz. der Betriebe und 43,14 Proz. der Fläche
ihre weiteste Verbreitung. Dafs die Deputatbetriebc und Dienst*
ländereien hauptsächlich in der Arbeitsverfassung des Ostens eine
wichtige Rolle s|»iclen, ist bekannt und ncucrdinp^s durch die l'ntcr-
suchunj^jen des Vereins für Sozialpolitik klargestellt woidc; .-)
Wirtschaft auf Ertragsanteil ist insbesondere in Mittelwcstdcutscliland
üblich, während die Bewirtschaftung von Gemeindeland am liäuhg-
Sten im Süden, dann aber auch im Rheinland \orkomint.
Kin \'ep_^Icii h mit den Ergebnissen von 1882 ist nur hinsicht-
lich des Paciul iiuics möglich. Damals wurden im gan/,t ii 2^r2Sr)i)
Pachtbetriebe ermitlelt, darunter 829 1 37 reine Pachtbetncl>c, k rncr
546957 Betriebe, die mehr als zur Hälfte aus Pachtland bestanden,
und 946 S05 Betriebe, in welchen das l'achtland nicht die Hälfte
der Betricbsflärhc nusmachte. 5 1 73 122 ha oder 12,9 Proz. der
(icsanUilachc cnthcU n auf das Pachtland. Danach haben die
I'achtbetricbc 1S82 — 1S95 um 284 311 fider 12,34. die Pachtdächen
aber nur um 1 8691 9 ha oder 3.61 Pro/, /ugenommcn. rrui/dcm die
'1 L i-lxT den Zusamni.'iili.iiif; nut «li-m Itoil/, dc^ St.uits- und der üfieutlicb-
rechilii li-n Kurporationen vgl. Kolinianti a. a. *..>. S. 141.
*) V^l. darüber insbes. die ausgezeichnete Bearbeitung von Mas Weber, Enl-
▼icklungstendenzen in der Lage der ostelbiscben Landarbeiter, in diesem Archiv,
Bd. VII, S. t f.
j _ d by Google
Die Landwirtschaft im Deutschen Reich.
581
Zahl der Betriebe ohne Pachtland seit 1882 um 2338 sich ver-
mindert hat, erscheint deren bewirtschaftete Fläche nunmehr von
35005559 auf 37924701, also um 8,34 Proz. erweitert Nun ragen,
wie die Ucbersicht auf S. 578 f. erkennen läfst, unter den Betrieben
ohne PachtlaiKi die Eigenbetriebe sowohl der Zahl als auch ins-
besondere der Fläche nach so außerordentlich hervor, dals wir fast
den ganzen Zuwachs au Fläche für dic>c letzteren in Anspruch
nehmen können. Es besteht also kein Zweifel darüber, dafs die
Flächenausstattung der Eigenbetriebe zugenommen hat und dais
demnach eher eine Tendenz zur Erweiterung als wie zur Ein-
schränkung der B e s i t z einheiten vorhanden ist. Da/u komirit noch,
dafs ja auch ein grolser, wenngleich zitiernniälsig nicht näher be-
siiniinhnrer Teil der l'a< htlläche den Besitzern anderer Betriebe in
ilir Kigeiituni einzurerlmen i>t. Allerdini;> bleibt es fraglich, welchen
Anteil an ilieser BeweLjuiiL: die schon früher erörterten formalen
X'erscln'cbungen haben. ') auf welche die erhöhten .Angaben über
die Bell icbstläche übei iiaupt zum guten Teile zurück/ Litulu cn sind.
Genaueren Kini)liek in dii- wirlsehafllichc und soziale Bedeutung
der hier erörterten üesitzkalcgorieii erlangen wir erst durch die
Kombination mit den Gröfsenklassen der Betriebe. Was zunächst
die Eigen- und die Pachtbetriebe anbelangt, so haben von je lOO
Betrieben jeder Grofsenklasse:
im Jahr 1895 i88a
ausscUiefs-
ansscbliefs*
mehr
welliger
ttber-
überhaupt
GröfscB» lieh eigenes
lieh
ab zur Hälfte
hanpt
Pacht-
kla^^t-n Land
Pachtland
land
uulcr 2 hä. 31,18
25,68
11,65
»4,32
5^65
49,94
2 ha bis 5 „ 43,6»
35,49
49,55
44,79
5 „ 90 „ 58,51
1,97
5,«o
>8.84
35,91
31.44
20 „ „ 100 „ 74,06
3,54
2.91
!6. 17
21,62
100 „ u. fhirüb. r 6t,.<q
10.02
4.<X)
12"'
36,77
im ßan/.< n 40. oS
9..S9
20. S9
40.91
44,02
Und es sind von je lOO ha der (resanufläche jeder Grölsenklasse:
i m
Jahr
I S n ;
1882
Grolscnklassen
eigeoes Land
Pachtland
Tachtland
unter 2 ha
65,2a
24,79
27,71
2 ha bis s „
81,23
15.93
14,61
5 »I ti 1*
90,55
8,17
7,aS
20 ,, 100 ,,
91.98
7.30
7.09
100 „ Uliti iljrüb'T
80.45
10,18
22.39
tni ^anzou
Sö,i t
12,38
'12,88
'} Vgl. ob«u S. 561 f.
582
H. Rauchlicrg,
Die Häufigkeit und Flächenausstattung der Pachtbetriebe steht
demnach im allgemeinen in umgekehrtem Verhältnis zu den Grölsen*
klassen. Und umL^i-Kchrt : je '^rofser die Betriebe, desto eher ist es
niciji^lich, sie auf ciL;enes Land zu beschränken. Kiiie Ausnahme
bildet die oberste Gröfscnstufc - lOO ha und dariil)er — , welche
verhältnismafsig s^L^ar mehr Paelnlaiifi benutzt, wie die Kleinbetriebe.
Darin äiifsert "^ieli der iunflurs der Kitter«;utsi)ar!iimVj^en im Norden
und Osten, welche /war der Zahl nach nicht auHalhj:^ hervortreten,
für die X'erteilun^ der I*"Iärhen narii Besitzkate«;orien in manchen
( jebicten aber ^aTadezu enlscheiilend sind. .*^o entfallen in .Mecklei -
bur^f-.Schwerin 7? 4') l'roz. der »^esamteii l'achtfiächc auf die Grörsen-
klassr \on loo ha und darüber, in der Provinz Posen 74,59, in
Ponnnern 68,09, ( )st}>rcurscn 63,^^0 Proz.
Im \'erhältnis zu den Krc^ebni^^en \on l<SS2 haben die Pacht-
bctrielte in sämtliclu n GrölsenkateLuirien sowohl absolut wie auch
anteil>wcise der Z.ihl nach zuj:;en<)nMne!i. I)er I hn he nach haben
sie zwar, mit Aufnahme der Grolsbetriebc, absolut L^leichfalls zu-
genommen;') verhältnismafsig aber sind die Prozentanteile des
Pachtlandes in der Katci^orie sowohl der Parzellen- als auch der
Grofsbetriebe zurückge^^an^^en. Allerdings ist das mehr eine Reflex-
Wirkung der Veränderungen in der Flächenausstattung der Eigen*
betriebe, weshalb hier nicht so sehr die Verhaltniszahlen als viel-
mehr die unten angemerkten absoluten Zahlen als maf^ebend be-
trachtet werden müssen. Aber auch nach den absoluten Zahlen ist
die Fachtfläche der Parzellenbetriebe eigentlich unverändert ge-
blieben, jene der Grofsbetriebe ist um 184 91 2 ha zurückgegangen
und die Erweiterung ist hauptsachlich den kleineren und mittleren
Bauernwirtschaften zu statten gekommen, die auch der 2^hl nach
die gröfsten Fortschritte aufweisen. Wir sehen also, dafs sich auch
die Entwicklung der Pachtbetriebe der allgemeinen Bewegungs-
tendenz einfügt, wonach die Bedeutung der mittleren Wirtschaften
den Parzellen- und Grol'sbetrieben gegenüber gehoben erscheint
■) Es betrog die in Pacht bewirtschaftete Fläche in ha
Gröfsenklassen
unter a ha
1S95
598851
659894
1024S81
<)6o 200
2 11(>2I5
1882
598297
559995
833 U3
880 ;6o
100
und darüber
2301 127
Digltized by Google
Die I.MindwirU>chaft im DcuUclicn Reich.
Wenn diese Bewegung bei den Pachtbetrieben sogar noch dcut-
hcher zutage tritt als bei den Kigcnbctricbcn, so erklärt sich das
daraus, dal's hier die Eigentumsverhältnisse retardierend wirken,
wohingegen die Verpachtung eben eine Handhabe bietet» um die
Belriebsverhältnisse ohne Aenderung im Eigentum in einer den wirt-
schaftlichen Bedüffnissen entsprechenden Weise umzugestalten.
Was endlich noch die anderen Besitzlcategorien anbelangt so
ist die — im a%emeinen wenig belangreiche — Bewirtschaftung gegen
Ertragsanteil häufiger bei kleinen als bei gröfseren Betrieben. Als
Deputatland und Dienstland werden ganz überwiegend Parzellen-
betriebe bewirtschaftet So bestehen 11,05 Prco. aller Parzellen-
betriebe ausschliefslich und 2,64 Proz. teilweise aus Deputatland
und es entfallen in diesen Gröfsenlcategorien $,^4 Proz. der Flache
auf das Deputatland.
Hingegen kommt die Benutzung von Gemeindeland hauptsäch>
lieh den kleineren und mittleren Bauernwirtschaften zu statten.
Es haben
von 100 ha
»OSScMirf'-Üih
tfihvriNC
von je 100 Ht-trieben
der ( le'^amt-
in der
Gemeint!
c 1 ü u U
ausächliclV
teil-
(läche sind
Grofsenklasse
Betriebe
lieh
weise
Gemeindeland
unter 2 ha
13519
160662
0.39
4,96
3,03
a ba bis $ „
74
130031
0,01
11,81
«,«5
5 »» T» 1»
64
79353
ox>i
7,93
0,41
20 „ „ 100 „
8
9917
0.00
3,5a
0,11
100 „ und darttber
2
303
0,01
1.21
0»03
fan ganzen
13667
370166
0,33
6,66
0.39
Iii Krgänzung
zu tlicscn .^
ingaben
ül>cr dit
intli\ iiluf
llc Nutzung
von Gemeindeland ist in der Landwirtschaftskarte auch der Anteil
an gemeinsamer Nutzung von ungeteilter Weide oder von un-
geteilter Waldflache erfragt worden, die im Besitz einer Gemeinde
oder Korporation stehen. Endlich ist versucht worden, direkt bei
den Gemeinden den Allmendbesitz zu gemeinsamer Nutzung
sowie an aufgeteiltem Land zu ermitteln. So interessant und wichtig
die Feststellung des Allmendbesitzes sowie der Nutzungsverhält-
nisse auch wären, so stehen ihr doch sehr erhebliche Schwierig*
ketten entgegen. Denn es handelt sich dabei um die Scheidung
der Allmend von dem Kammergut der Gemeinden, dann um den
Unterschied zwischen der gemeinsamen Nutzung von Allmendland
und gewissen Weide* und Forstservituten an herrschafitlichem,
Digitized by Google
584
11. Kauchbcrg,
Staats-, Gemeinde- oder sonstigem ofTentltchen Korporationsbesitz,
Unterscheidungen, die den befragten Gemeinden nicht immer ge*
läufig sind. Ja selbst die Verwechslung von Gemeindeland, das
zu persönlicher Nutzung aufgeteilt ist, mit Deputat-, Dienst*
oder Pachttand ist nicht ausgeschlossen. W^aussetzun^r für das
Gelingen der P'rliebung ist es also, dafs die rechtlichf Natur der
bezii^Iiclieti Hcsitz- und .\utzunL,fsverhältnisse klarcjestcUt werde.
Das ist aber bei einer bloü ;< legenllichen rmfraj^c im Anhange
an eine grofse anderweitige Aufnahme unthunlich. Nur eine Spezial-
erliebung könnte damit zurechtkommen.
Es ist daher nicht zu verwundern, wenn (Hcser Teil der Er-
hebung, wie auch das Zählungswerk zugicbt, ') nian^eiliaü ausLjc-
falleii ist, weüii auch i^.icht so sehr, (lafs auf die Bearbeitung und
Darstellun- der KrL;cbnisse hätte verzichtet werden müssen.
ts wurde AUniendbesitz ermittelt:
mit ongetcilter W«ide
mit aageteiltem Wald
mit aofgcteiltcm Land
7M <!er
Gcmoiniicn
. 12386
8560
llu lu- lia
44"
1340160
Z:ihl (It-r nutzuDgs-
biTcchtigten Betriebe
429 468
510846
3643091 382833
Die Betriebe, die zur Nutzung an ungeteilter Weide oder un*
geteiltem Wald berechtigt sind, voteilen sich folgendermafsen auf
die einzelnen Gröfscnklassen :
In jeder Grölscnklassc haben .\nteil an gemeinsamer Nutzung von
Weide
Waldllächc
Wolde
WaldHäche
Gröfscnklassen
absolut
▼CO je 100 landwiitschafto
lidien Betrieben
unter t ha
153539
»77*95
4.74
5.48
2 ha bis 5 „
107408
145236
10.57
»4,29
5 »1 »» 20 „
135376
158022
«3,55
15,82
ao „ „ 100
32548
29 726
1 1.55
»0,55
100 1, und dariibi-r
607
2,42
2,26
im {^aiucn
429 4()S
5 10 S^o
7.73
9.19
V.'i sind also ^^ln/ überwiej^^end bauerliche Wirtschaften und
zwar vorzugsweise solche mittleren Ümiangs, welchen die Nutzung
0 S. 43.»
*) Von den Natzungsberecbtigten selbst sind nur 168097 ^ Anteil am Ge>
meindcland angegeben wordrn. Der Unterschied erkKHrt sich teils aus IrrtUmem
über die rcchtliclic Qualität d'-r I x trctTmiien Parzellen, teils datans, dafs manche Lose
sich im Besitz der Gemeinde selbst belinden.
j _ by Goog
LauUwiriachait im Deutschen Reich.
58S
am AHmendgute vorzugsweise zusteht. Die geographische Ver-
breitung desselben ist je nach der Gesetzgebung über die Gemein-
heitsteilu Ilgen in den einzelnen Staaten und Gebietsabschnitten sehr
verschieden. In den alten preuisischen Provinzen, sowie überhaupt
im Norden und Osten, sind die Allmenden, soweit sie überhaupt -
neben der gutsherrlichen Verfassung Bestand hatten, durch jene Ge-
setzgebung der Hauptsache nach beseitigt worden. Hingegen haben
sie sich im Rheinland und Hannover, hauptsächlich aber im Süden,
in Bayern, Württemberg, Baden und Elsa(s>Lothringen erhalten.
IV. Die Bodenbenutzung.
In landwirtschaftlich-technischer Hinsicht sollten die Betriebe
gekennzeichnet werden durch die Angaben über die Benutzung
der landwirtschaftlichen Fläche, über den Viehstand
undüberdieVerwendunglandwirtschaftlicherMaschinen.
Was zunächst die Benutzung des Landes anbelangt, so
wurden von der Gesamtfläche der landwirtschaftlichen Betriebe im
Ausmafse von 43284742 ha benutzt
ha
Prozent
32 062 49 1
74,08
329 34 1
0,76
:\\- WoUij^.irttrii odiT Weinberg , .
126 109
0,29
forstwirtschaftlich 'l
7582276
»7.52
erübrigen als
2256786
5.21
927 739
Vergleich mit den Ergebnissen
von 1882
betrug
1895
1882
t» landwirtsclKiftliih benutzte Fläche
32517041
e torstwirtschalthch ,, „
7582276
4 95 1 97 ■
die sonstige Fläche -) 31 84 525 3 357 734
Das hervorstechendste Ergebnis ist die Zunahme der Wald-
fläche. Die rein formalen Ursachen davon sind schon früher dar-
*) Rechnet man noch dun die mit 6l43654hft bezifferte Fläche der reinen
Fontbetriebe, 90 «tdU sich die fontwiitsdwAlkh bcnntite Flidie im gMuen auf
13 7*5 930 ha, und bebtet mehr als ein Viertel des kmd- oder fontwirtschaAlich
benntsten Gebiets.
*) dnschlierslieh Oed« oder Vnhnd.
j85 Kauchbcrg,
gethan worden.*) In auflallendem Gegensatz dazu steht, dats die
Betriebe mit Waldland von 968947 auf 931 834« also um 3,8 Proz.
zuruckg^angen sind. 1882 machten sie 18,36, 1895 nur noch
16,76 Proz. aller landwirtschaftlichen Betriebe aus. Hingegen haben
die Betriebe ohne Waldland um 74 Proz. zugenommen. Ob diese
Verschiebung aus grösserer Intensität der Bewirtschaftung, oder ge*
Steigerter industrieller Verwendung der Holdi^tände zu erklären,
oder als ein S>'mptom der Notlage mancher Waldbesitzer zu deuten,
oder endlich rein formal auf die fortschreitende Zusammenfassung
kleinerer Besitzeinheiten zu einheitlicher Bewirtschaftung zurück-
zuführen ist, miifs dahingestellt bleiben.
Nach Grölscnklassen war die Verteilung der Kulturen die
folgende :
Von je 100 ha der Gesamtfläche jeder Größenklasse wurden
benutzt
G röfsen*
landwirt-
(järttif
als
Uborliaupt forstwirt-
Oed- u.
sonstige
klassen
scbaftlidi
riscb
Wein-
latulwirt-
Unland
Fläche
berg
M-lialtlicl»
licli
unter 2 ha
60.25
4,10
'-50
74, S5
17,10
4.52
3
ha bis 5 „
77.12
1,22
0,99
79,33
13,20
4,97
2.50
5
H »» 11
76,61
0,63
0,30
77,54
14,76
6,13
«,57
ao
II t> iOO n
74,5«
0,33
0,07
75,0a
16,70
6,87
Ml
100
„ tt. darüber
70,58
0.39
0,02
70,99
23.34
2,66
3.01
im ganzen
74,08
0,76
0,29
75» »3
17.52
l'ur die ( Te.staltunL;
der
W'rhältni.Nzahlen
sind in erste
r Linie
die
Ziffern über das W
aidla
nd ma
isgebend.
Fäll
rein formales
Moment spielt dabei mit. Wir miisscn bedenken, dals die Bildung
der GröfscKiklassen lediglich nach der landwirtächaftlichen Fläche,
also mit Ausschluß der forstwirtschaftlich benutzten und sonstigen
Fläche erfolgt ist Demzufolge wurden Betriebe mit ausgedehnter
Wald» oder sonstwer Fläche, aber mit gerin^reti Intensivkulturen
lediglich nach diesen letzteren den unteren Gröfsenklassen, auch dem
Parzellenbetrieb zugerechnet, obwohl sie ja technisch und sozial
keineswegs dahin gehören. So erklärt sich der verhältnismaTsig
hohe Anteil des Waldlandes und der „sonstigen Fläche" an den
Gröfsenklassen unter 5 ha. Wird dem Rechnung getragen, so sind
es die mittleren Bauernwirtschaften, welche sich durch die stärkste
Vertretung der eigentlich landwirtschaftlichen Fläche auszeichnen.
*) Siehe oben S. 555.
Die LunüwirtbcUalt im Deutschen Reich.
Waldland und „sonstige Fläclie" gewinnen mit zunehmendem Be-
triebsumfang an Bedeutung.
Von je 100 Betrieben jeder Gröfsenklasse verfugten über Holzland
Gröfsenklassen
iS95
I$S2
unter 2 ha
4t57
5.33
2 bft bis 5 „
21, 9a
«3.75
5 »T »1 ^ tf
40,10
43.54
20 „ „ 100 „
52.17
5 5 "9
100 „ n. darüber
54.88
56,4Ä
Wir sehen zugleich, dafs der oben festgestellte scheinbare
Rückgang in der Ausstattunj^ mit Holzland sich durch sämtliche
Gröfsenkategoricn der Betriebe hindurch fortsetzt. Was ejidlich den
Garten- *) und Weinbau -) anbelanf^t, so rächen sie, wie nicht anders
zu erwarten, am meisten im Parzellenbetrieb her\'or. So sind
11,35 Pioz. der Betriebe unter 2 ha ausschliefsUch gärtnerische; von
den Zweigbetrieben unter 5 Ar ist es sogar die gröfscre Hälfte.
Die forstwirtschaftlichen Betriebe sind 1S95 ^'"^
gehender dargestellt worden. Zunächst ist die diesbezÜLjIichc .Statistik
vollständiger als jene \on 1882, iiidcm diesmal auch die reinen —
nicht mit Landwirtschaftsl)ctrieb veibnivleiicn — I-\>!Stbetriebe er-
mittelt worden sind. Sic sind allertlin''.-> sehr in der Minderzahl:
22041 oder 2,31 Proz. aller Forstbetriebe, während 931833 oder
97,69 proz. zugleich mit der Landwirtschaft betrieben werden.
Jn der LaadwirtBclmfbkarte ist der Betrieb von Kunst- und Handels-
gärtncrei besonders erfragt worden. Hierfiir worden 32540 Betriebe mit einer
spezifU zu Kunst- und Handel sg-Hrtncrcizwccken benutzten Fl.Hchc von 23570 ha er-
mittelt. Danfben haben jene Betriebe aber auch nocl» 53S I07 ha an sonstiger laiid-
wirt^chiUtUchiT Mäclu-. x) d.ifs von dif^er b.l/.ttTcii 10 22,83 ha auf 'l ha Gartcti-
tläche cntiaUen. bic sind ganz überwiegend Parzellenbetricbc. Bei 23,91 i'roa. d«r-
•etbeB bleibt die Gartenflidie VBter 10 Ar, bei 59,71 Pros, betiigt de lo Ar bis
t ba, bei 10,44 Proz- 1 bis 3 ha; nur 5,94 Pros, sind gröfser.
*) Mit Weinbau wurden 344^5** Betriebe mit einer Weinbauflficbe von
126 109 ha und einer sonstigen landwirtschaAHchen Flache von 1 242 1S7 ha ermittelt,
auch diese überwiegend Kleinwirtschaften. Denn von je 100 derartigen Betrieben
haben 25.62 ciiiin Wtinparten unter IG Ar, und 67.53 eint» WcinbauflSche von
IG Ar bis I ha, und von ii<-m fjo^amtcn Wringeliinile entfallen 63,40 Proz. auf Be-
triebe mit einer Weintlächo von unter l ha. — 74.34 Proz., nahezu drei Viertel der In-
haber von Weinbaubetrieben geliuren ihrem Hauptberuf nach der Landwirtschaft an,
verhlltiiismBftig am meisten in den mittleren Gröfseakkssen, während sowohl in
den oberen als auch insbesondere in den unteren Gröfsenstufen die anderen Berufe
etwas stSrker hervortreten.
Digitized by Google
588
11. R ;» u c Ii I) f r j; ,
Nicht nur vom forstwirtschaftlichen, sondern auch vom sozial*
politischen Standpunkte aus ist es von Interesse, die Forstbetriebe
nach Mafsgabe der forstwirtschaftlich benutzten Fläche in Gröisen«
klassen einzuteilen und für jede derselben die wichtigsten Betriebs*
momente darzustellen. Es wurden ermittelt
m\t oint-r
GrfiKi'Tikla^sen ii.nh der
forbtwirtiscliaftlich
benutztea Fläche
antcr lo ha
lo ha bis lOO „
lOO „ ., UKX5 .,
looo „ und dariibi-r
im t;aiuen
Daraus siiul die fol<::^fcndeii Vt rhäluii^/.ihlcn ;il)/.uleiten
Gr«'iscnkla»scn Aul die einzelnen Grulsen- \'ou je icx) Forsil- VonjeioobA
klassen entfallen betrieben jeder der Gesamt-
von loo von je icx> ha
Forst- Gesamt- Forst-
Gesamt-
forstwirt>cliaftlicl)
Betriebe
Häche
benutzten flache
ha
hn
857 164
II 764183
1626093
««531
618S002
1944290
•1 1 730
5 640441
3422 503
2449
7 254601
6733044
953^^74
3" ^47 317
13725930 ^)
nach der
forBtwiftschaftlich
benutzten
Fläche
betrieben fläche
unter 10 ha
10 ha Ins 100
100 „ „ 1000
1000 „ und darüber
im fjaiizen
n
89,86
8,65
lr23
0.26
100
18.29
23.52
100
Und
11,85
14.17
24.93
_49.o5
1C3U
Grörsenkl. sind flSche jeder
mit ohne Gröfsonklasse
landw. benutzte sind Forst-
Fläche land
99,00 1,00 13,82
92^8 7,5a 31^
49.79 50.21 6o,6.S
42.S7 57, 13 _ JJ2,8l ^
u7.<M) 2.:,i 44,50
Der Zahl nach überwiesen also bei weilem die kleinen Forst-
betriebe i^iit einer forstwirt.schaftlich benut/.lcn Mäche von unter
10 ha; sie machen fast 9 Zehntel aller for;>t\virtschaftlichen Betriebe,
aus, ja suL^Mr die Bi triebe mit unter i ha I'orstfläche noch 42,3
Proz. Anders nach lier Fläche. \'on der (icsamtfläche der forst-
wirtschaftlichen Betriebe entfallen auf die ( irörsenklasse unter 10 ha
Forst tlärhc nur noch 38. 13, von der ei<^entlichen Forslrtächc nur
noch Il.Sj Proz. N.iluvu die Hälfte des. l-'orsllandes gehört den
grol'en Forsteien mit iojo ha und d.uul^er an."') Je grölser die
' Hin<3>-p< n wurde bei der Anbauerhebutif; von 1893 forstwirts« hattlichc
Fliiilic \on 13956827 ha festgestellt. I>ic DifTcre!)/, ist in erster Linir au> der
Vcrächicdcnhcit der Erhebungsweise zu erklären und deutet darauf hin, dali> die
Zählung von 1895 die Forstbetriebe nicht vollstindig erfa(st hat.
*) Der gröfste Teil dieser Riesenbetriebe sind Staats- oder Kronforsten.
Es wurden deren 2215 mit einer Gesanit6Jlche von 4998802 ha and einer Forst*
fläche von 4741 422 ha ermittelt. 93,34 Proz. der Fläche fallen in die GröfsenUasse
von iber 1000 ha.
Digitized by Googl^
Die Lundwimchal't im DcuUchcn Kcich.
589
forstwirtschaftliche Betriebsfläche» desto schärfer tst auch der
Qiarakter der Betriebe als reine Forstbetriebe atis^eprä^a und desto
seltener wird die Verbindung mit dem Landwirtschaftsbetrieb,
welche allerdings bei den Forstbetrieben bis zu lOO ha noch die
Regel bildet.^)
V. Die Nutzviehhaltung.
Auch die Nutzviehhaltung ist gclc^cntUch der landwirt-
schaftlichen Betriebsaufnahme ermittelt worden. Nicht um eine
förmliche Viehzählung konnte es sich dabei handeln, sondern led^-
lich um die Kennzeichnung der Betrieb'e durch ihren Viehstand.
Die hier in Betracht kommenden Gesichtspunkte sind hauptsächlich:
die Viehproduktion, die Arbeitsleistung des Nutzviehs, die Dung«
gewinnung, der Kapitalswert des Viehstandes. Gänzlich ausge-
schlössen von der Erhebung war jener Teil des Viehstands, der
nicht zu landwirtschaftlichen Betriebszwecken gehalten wird.-)
Im ganzen wurden 46892^4 Beiriebe, 84,35 Proz. aller land-
wirtschaftlichen Betriebe mit Nutzvieh ermittelt. 869736 landwirt-
schaftliche Betriebe iiatten kein Nutzvieh.
Hierfür kommen folgende Vieharten in Betracht:
Zu (-f-) o(\cT Von ]c 100 Pctricben
Betriebe
Abnahme ( - - 1
hi<-U.-n
Xu(/.vieh
Es hielten
seit 18S2 m
voi bezeichneter Art
1895
1882
Proienten
1895
1882
Pferde und Rindvieh . . .
1057502
996244
+ 6.15
19,02
18,88
Pferde aber kein Rindvieh .
•
73271
42180
+ 73,71
l>3'
0,80
Rindvieh aber krinc Pferde
2084677
3217463
— 5.99
37,50
42,03
Grotsvieb überhaupt .
3315450
3255887
— 1.14
57^
6t.7i
543741
749217
— 27.43
9.7S
i4,ao
3707441
295038S
66,09
5 5 92
1 720948
« 505357
-r I i i-!
30,96
-^'53_
Nutzvieh ülx-rli.vuj l
4 oScj 244
4441 90;
+ 5.57
5^4-33
84,19
kein Nutzvieh . . .
-t9 736
S34441
+ 4,^3
»5,05
15,81
*) Auch die forstwirtschaftlichen Nehcngcwcrbe werden bei weitem
häufiger mit kleinen iiIs mit ^^rolM ii Forstbetri« l>en verbunden. In er-^ter I.ini.- kommt
dabei die Gewerbeart, Ilolz/.iirirlituii^' und Ronserv ierunp (Säj^emiihb n i in l'.etracht.
.Sie wurde in Vcrbindunf; mit 5^44 1 orsibetrieben ennitti !t. wovon 39^6 unter lO ha
lind U4Ö 10 bis 100 ha an Furüttläche ausgewiesen hatten.
^ Nur die Külte za Milchhandel und Mdkereiswedcen wurden auch von
sokhcn Betrieben erbobcn, die keine landwirtschaftliche Fläche aufweisen. Es sind
aber nur 663 derartige Betriebe veneichnet worden.
Digitized by Google
590
II. Rauchhorg,
Also im allgemeinen zwar weitere Verbreitung der Viehhaltung,
aber Abnahme in der wichtigsten Kategorie: bei den Betrieben
mit Rindvieh, demzufolge auch bei den Betrieben, die überhaupt
Grofsvich halten.
Der Viehbestand beträgt*)
Zunahme (4-), oder
auf je 100 ha land*
Sfiifkzahl
Abnahm r (- ) gesell
wirt^cliaftlichcr
Fläche
»«95
1895
1S83
in l'nuenun
rferdc . . ,
3307298
+ 8,12
10,36
9,77
Rindvieh . .
17053642
52.44
48,49
Schilfe . . .
12593870
— 40.37
38.73
66,26
Schweine . .
13562642
+ ^.86
4lJt
26,46
Ziegen . . .
3105251
+ 26,6 t
9.55
7.70
Auf Rind
Ivich reduziert
, hat der gesamte
Viehstand di
^r Land-
wirtscliaftsbetriebe seit 1882 um IO,6 Proz. zugenommen, ist also
hinter der Vermehrung der Bevölkerung, die 14,5 Proz. betrug,
nicht unerheblich zurückgeblieben.^) Freilich kann bei derartigen
Berechnungen die mittlerweile erzielte Verbesserung in der Be-
schafTenheit des Nutzviehs nicht in Anschlag gebracht werden. Ob
dadurch die Differenz gegenüber der Volkszunahme thatsächlich
wettgemacht wird, mufs freilich dahingestellt bleiben.
Was die Viehhaltung nach den einzelnen Gröfsenklassen der
Landwirtschaftsbetriebe anbelangt, so hatten im Jahre 1895
Nutzvieh drr nebi:nlK£cichuclen Art von je loo Uetriebcn mit einer UnUwirt-
schaftlichen FlSdie von ha
unter 2 2 bis 5 5bis20 20 bis 100 looa.darttber
Pferde und Rindvieh . . .
0,89
15,00
58,53
94.83
97. »9
l'fcrdc abor kein Rindvieh .
1,24
2.06
1,06
0,52
o,S9
Rindvieh aber keine Pferde .
«7.70
77.41
39, 1 2
3,77
0.33
'•rorsvieh Uberhaupt. .
29.S',
" r
oS,7i
00.12
9S.31
4.37
18.49
43.47
60,14
5,;.;o
78,70
SS.S;
94.43
88,67
1 6, 10
12,18
10,41
Nutzvieh überhaupt . .
99,09
99,35
kein Nutzvieh ....
25,70
2,62
0,91
0.65
1,52
*) Der Vergleich mit den Viehzählungen von 1. Dezember 189' und 1897
ui'bt, dafii Schweine utui Ziegen fast gänzlich, Pferde, Rinder und Schafe aber bei*
läuiiK lu neun Zehnteln in landwirtschaftlichen Betrieben gehalten werden.
Kollmann a.a.O. S. 1507.
uiyiiizeo Dy Google
l>ie Landwirtsrliaft im Deutschen Reich.
591
Diese Zahlen hedürfcn keiner weiteren Erläuterungen. Im
X'erj^leicli zu den Erijcbnissen von 1S82 inte ressieren uns insbesondere
die X'eräiulerimgen in der Rinderhaltung. r)anial> hesafsen von den
Paizellenbctriehcn noch 35. 20, von den kleinen Bancrtuvirtsohaften
noch 93,71 Proz. Rinder; jetzt sind die bezü<,dioheii I'rozentsätze auf
28,59 und 92,41 hcral)L:cgangen, während die Rinderhaltung in den
anderen Grörsenklassen kaum seltener 'geworden ist. Der Ausfall
trifft also aus^chliefslich die Iktriebe kleinster Art. Allcrdins^s er-
scheint er 'gerade hier durch die tj^nilscre Iläutii^keit der Schweine-
und Ziet^enhaltun^r bis zu einem ^rc^\ ;^-^cn liradc ausgci^lichcn.
Noch deutlicher tritt diese Hcu e^uii^^ zu 1 a'^e , wenn wir das
X'crhalltus de< X'ichstands zur landwirtschaftlich benutzten Fläche
nach Gruisenklassen untersuchen :
Auf je 100 ha landwirtschaftlich benotzter Fläche kommen
im Jahre 1895
Pferde
Kinder
Schafe
Schweine
Ziegen
nntcr 2 lui
4i9l
7S,a6'
31.39
191,66
137.43
2
bis s „
6,88
85.30
14.89
7l.«7
8.98
s
.11,80
64.05
»9.«5
43»3i
a.59
ao
»«,7»
47,12
35.4S
«6,93
0,65
100
n
und darüber
8.31
24t99
78,73
»t.JS
0,11
im ganzen
10,36
53t44
38,73
41,7»
9:55
im Jahre 1882
unter 2 ha
3,11
SS, 44
4..1S
1 14.12
108,2 1
2
ha
bis 5 „
6.38
SiSo
46,64
7,06
5
»
1 1
<'0.24
29.3S
2S.90
2,12
20
II
12.13
42.14
55.46
•7,49
0.53
100
M
und dar&ber
7u>4
'9.75
«47.07
6,17
0,07
im ganzen
9,77
48,49
66,36
26,46
7.70
Es hat also die spezifische Dichti|;keit aller hier berücksichtigten
Arten von Nutzvieh in sämtlichen ( iröfscnklassen zugenommen, nur
der Rinderbestand der Parzellen! )etri«"be ist relativ zurückgcfjangen.
Im allLfcinrinen aber Steht die Intensität der X'ichhaltung im
umgckehrlcn X'erhältnisse zum Betriebsumfang. Am auffälli}^sten
ist das hinsichtlich der Schweine und Ziejüjen. .Aber auch bei den
Rimiern trifft das zu nut alieinii^'cr Ausnahme der Parzelleni)etriel)e ;
hier kommen etwas weniger Stück Rindvieh auf je ic>o lia I^ctriel)S-
fläche wie bei den kleinl)äuerlichen Wirtschaften, welche sich durch
die relati\' stärkste Rinderhaltung auszeichnen. Hingci^a n wächst die
l^ferdehaltung von Stufe zu Stufe an und erreicht in den groü-
Digitized by Google
592 H. Raucliberg,
bäuerlichen Retrlchcn den höchsten Stand, um darüber hinaus, in
der Klasse der (irorslietriehc, rasch abzunehmen. Blofs die Schaf-
haltung, die weite Weidcrtächen voraus .-t/t. ist in den Grofsbe-
trieben am intensivsten. Es kann aUu kein Zweifei darüber !)e-
stehen, dafs die kleineren und mittleren Ik^trit l)^kate<^orien die \'ieh-
haltung und -Produktion am meisten befjünsti*^en. Soweit die Fleisrh-
versorj;'ung der deutschen \'olk>wirt<chaft , sDwic die Intensität der
I.andwirtsrhaft überhaupt von <ier X'iehiialtun-^ abhängen, wertlen
sie oflenbar durch die oben konstatierte \'crschiebunf:j in dem
'^Gegenseitigen X'erhältnis der einzelnen Betriebsklassen begünstigt,
wonach die mittleren Betriebe den Grolsbetrieben gegenüber an
Boden gewonnen haben.')
Ks ist schon weiter oben Ijcmei kl worden , dafs die Betriclie,
welclic (irolsvieh hallen, trotz der im übrigen allgemeinen \'er-
breitutig urul Steigerung der N'k'hhallung 1882 gegenül)er einigt r-
m.ilsen zurückgegangen sind, insbesondere infolge der Abnahme
des Rinderstandes bei den Parzellcnbetrieben. J^och schärfer ge-
langt diese Bewegung zum Ausdruck, wenn man untersucht, von
wievielen Betrieben und in welchem Umfang Vieh zur Acker>
arbeit gehalten wird. Es wurden derartige Betriebe ermittelt,
1895 1SS2
welche hielten absolut Proz. absolnt Proz.
nur Pferde 850187 37,67 ^
Pferde und Ochsen f aber keine Köhe . 267374 11,85 f * ^^9985 51.8*
oder nur Oclison . y und aufserden KUhe 114 691 5,oS ^
I'frrdo und Kühe 80609 3,58 | '4^329 6.57
nur Kühe 943781 41. 82 039483 41,61
im ganzen. . . 2256732 40,00 2257797 42,79
Wie im ganzen, ist die Verwendung von Vieh zur Ackerarbeit
auch in jeder einzelnen Grofsenklasse der Betriebe zurückgegangen,
denn von je IOO landwirtschaftlichen Betrieben verwendeten Vieh
zur Ackerarbeit
Gröfsenklassen 1895 1883
unttT 2 ha 0 46 10,61
2 ha bis 5 y, 7i.3'> 74-79
5 „ ., 20 „ 02,62 96,56
20 ^ „ 100 „ 97,08 09,21
100 , und darüber 97 jo 99,42
Vfjl. ilariiluT iii>lKs. 1. ('onra<i, Di.- I ..indwirt^chalt im iJcutsi-hon Retcb.
Jahrbüclier für ^ationalokonumic und Statistik, III. Folge, l6. Bd. S. 508 ff.
Digitized by Google
iJic I^ndwirUchali im iJcuUclicn Kiicli.
593
Hand in Hand damit geht insofern eine qualitative Ver-
schlechterung des Zugmaterials, als die Betriebe, welche nur Kühe
zur Ackerarbeit verwenden, 1895 in allen Gröfsenklassen mit Aus-
nahme der Parzellenbetriebe stärker hervortreten wie 1S82. Die
bezüglichen Prozentsätze haben sich speziell bei den kleinen Bauern-
wirtschaften von 68,29 auf 69,42, bei den mittleren von 184^9 ^^f
20,30, im ganzen aber von 41,61 auf 41,82 Proz. erhöht.
Zur Spannteistung verwendet wurden 1895 2646603 Pferde,
1006253 Ochsen und 2352406 Kühe, somit 78,60 Proz. des ge-
samten Pferdebestands und 19,69 Proz. des gesamten Rinderbestands«
Die Verschiebungen gegen 1882, sowie die Verteilung des Acker-
viehs nach Gröfsenklassen ist aus den Vcrhältniszahlen der nach-
stehenden Uebersicht zu entnehmen:
Auf je 100 ha der landwirtschafdich benutzten Fläche jeder
Gröfsenklasse treffen zur Ackerarbeit verwendete
IT
.• r .1
Ocli
sen
K ii Ii »■
Gröfsenklasbcn
1S82
1S95
iS.,5
18S2
unter 2 ha
a,7o
2,60
1,«4
0,84
21,56
24,00
2 lia bis 5 n
5,37
5.77
3.83
3,89
33,77
33,77
S n n »> «"
9,83
10,04
4,S9
.5,66
. 8,15
7,08
9,94
9,54
»,77
2,36
o,S9
100 „ uad darüber
6,20
5,67
2,68
3,68
0,04
0,00
im ganzen
7,96
3,09
3,42
7,23
6.87
Danach hat sich
die
SpannHil
lij^kt it
des
Grorshclric
bs etwas
gehoben, ilci <lcii Baucmwirtschafleii erscheint sie gemindert, bei
den Parzellenbetricben gleiclifalls, aber doch qualitativ einiger-
malsen verbessert Sehen wir von der mehr gelegentlichen Ver-
wendung von Kühen zu Zugleistungen ab'), so sind es die
mittleren und gröiseren Bauemwirtschaften, welche verhältnismäfsig
am besten mit Zugvieh versehen sind, weit besser als die Grofe-
betriebe. Wenn die Durchschnitte bei diesen letzteren . wesentlich
niedriger bleiben, so erklärt sich das nicht nur aus der intensiveren
Ausnutzung der Gespanne auf der weiteren Fläche, sondern auch
aus der häufigeren Verwendung von landwirtschaftlichen Maschinen,
>) Von den Betrieben, die ttberbanpt Vieb zor Acketarbeit halten, verwenden
in jeder Gröfsenklasse ausschltefslidi Ktthe: von den Pancllenbetrieben 8s,io Prox.,
von den kleinen BauemwirtKbaften 69,12, von den mittleren 20,30, von den grofsen
nur 0,28 Pros., von den Grofsbetrieben endlich 0,03 Pros.
AfchiT für MI. G«Mttt«lMiag u. Statittik. XV. 39
uiyiii^od by Google
594
II. Kaue Ii l> erg.
wodurch nicht nur an menschlicher Arbeit, sondern — wenigstens
bis zu einem gewissen Grade — auch an Acker\-ieh gespart wird.
Bevor ich auf diesen Gesichtspunkt des näheren eingehe, will
ich nur kurz noch das Ergebnis der Berechnungen mitteilen, die
über den Ka gitalswert des Viehbestandes angestellt worden
sind. Legt man der Berechnung die Verkauiswerte zu Grunde, die
anlälslich der Viehzählungen von 1883 und 1893 ermittelt worden
sind, so betrug der Wert des Mehstands der landwirtschaftlichen
Betriebe
189s 1893
in ticn
Millionen
auf l lui
Millionen
auf I lia
Zuiialimc d«--i
G r 1 > r s !• u -
Mark
landwiit.
Mark
lamhvirt.
\Vrrti-> pr«t lia
klauben
Fläche
Fläche
1SS2 - 1S95
Mark
Mark
Mark
unter a ba
STA
316
49*,o
369
47
3 ha bis 5
830,4
347
698,4
319
38
5 n n *0 „
3089,9
213
1 7<>7.4
193
31
30 „ „ l<x> ..
I 760,0
178
I $66,3
15S
20
100 ,f D. darüber
862,8
110
103
8
im ganz«»
6 105,5
188
•73
Haben schon irüher
die absoluten Aiij^abcii ui)er den
X'ichstand,
sowie die BcrccI
nuiiiL^cii
über die spt
•x.i fische
Wichtij^keit
de> \"ieh-
Stapels nach Ciröfsenklassen der Betriebe gezeigt, dafs die Viehhaltung
im allgemeinen im umgekehrten Verhältnisse zur BetnebsgrÖfse
• steht, so wird diese gegensätzliche Progression einheitlich in der
Wertquote au^edrückt, die durchschnittlich auf i ha landwirtschaft>
lieh benutzter Fläche entfallt. Vielleicht sind die Unterschiede in
Wirklichkeit nicht ganz so grofs wie die Ziffern angeben, weil die
Qualität des Viehs in den gröfseren Betrieben eine bessere sein
dürfte wie in den kleineren. Um aber die Wertsätze nach Gröfsen-
klassen der Betriebe abzustufen, dafür fehlen die Unterlagen. Jeden-
falls kann an der Grundthatsache selbst nicht gezweifelt werden,
dafs der Viehstand für den kleineren Landwirt von noch viel höherer
wirtschaftlicher Bedeutung ist als für den gröfseren, und dafs das
Scliwergewicht der gesamten Vichhaltunnr und des darin begründeten
Verni<")i;ens i)ei den niitllcrrn Hauernu irisrhafteii i^elcLjeii isi. Auf
sie entfallen iS Proz. der Betriebe und 30 Proz. der landwirtschaft-
lichen 1-läche aber 34.4 Pro/., des Kapitalsvverts des Viehstai»els.
Im Wr-leich /u <\vn lüvrebnisscn von 1882 hat sich der Wert
des \ tel)stands von 3312 aut Ol 06 Millionen, also um 794 Millionen
Digitized by Google
Die Landwirtschaft im Deutschen Reich.
595
erhöht. Der Zuwachs ist. wie sich aus den Differenzen z.wischen
den ol)en mitgeteilten ^[)c/.ihs<-hcn Weilijuotcn der ein/chicn
Grtifsv'nklassen er^^iebt, den kleineren Bctriel)cn in höherem Malse
zu^^etlo.ssen wie den grulscrcn. Die kleinen untl mittleren Betriebe
also sind es. die mit dem j^frölscren Krfolg an der Hebung' ihre.s
Viehstands gearbeitet haben. In diesem einen Punkte wenigstens
hat die Betriebsstatistik einen exakten Beleg für ihre Ueberlegen-
heit dem Grofsbetrieb gegenüber erbracht. Damit ist eine der
Ursachen klargelegt, weshalb die kleineren und mittleren Betriebe
sich besser behauptet und den grofsen gegenüber an Boden ge-
wonnen haben.
Zugleich ergiebt sich daraus, dafs die oben festgestellten
Aenderungen in der Zusammensetzung des Viehstands, ^insbesondere
der Uebergang der Parzellenbetriebe von der Rinderhaltung zur
Schweine» und Ziegenhaltung, doch ganz Uberwiegend dem Interesse
der betrefifenden Betriebsklassen entsprach. Denn es entfallt auf je
I ha landwirtschaftlich benutzter Fläche durchschnittlich ein Wert-
betrag in Mark für
in den
Pferde
Rinder
Schafe
Schweine
Ziegen
Gröfsenklasscn
1895 1&82
1895 1881
1895 1882
189$ 1882
1895 1882
unter 2 ha
15
158 17a
5
7
107-
59
23 16
3 ha bis 5 „
30
172 160
2
4
39
24
1 t
S n » «0 «
57
55
I 29 117
5
24
15
20 ^ ^ lOO ^
62
5S
95 S2
6
9
15
9
lOO „ u. darül)er
41
36
13
24
6
3
im ganzen
5»
47
106 95
6
»3
23
14
2 1
Es ist also der Ausfall in der Rinderhaltung beim Parzellen-
betrieb reichlich wettgemacht worden durch die Vermehrung der
Schweine und Ziegen und des dadurch repräsentierten Werts. Aber
auch in den mittleren Betriebsklassen hat die Schweinehaltung neben
der X'ermehrung des Rinderstands ganz erheblich zur Erhöhung
des Vermögens beigetragen.
VI. Verwendung von landwirtschaftlichen Maschinen.
Zur näheren Kennzeichnung der Betriebsverhältnisse ist endlich
auch die Benutzung gewisser landwirtschaftlicher Masch inen
erfragt worden. Schon die Erhebung von 1882 hat diesen Ge-
sichtspunkt aufgestellt; 1895 weiter verfolgt worden,
39*
596
Ii. Kuuchlicr^,
indem man mehr Maschinenarten in die Erhebung einbezog.
Nicht um den Besitz» sondern lediglich um die Benutzung der
Maschinen handelt es sich dabei. Jede Maschine ist so oft ge-
zählt, als sie in dem der Zählung \'orhergehenden Jahre von ver-
schiedenen Betrieben verwendet worden ist Die Zahl der Maschinen
selbst wird also nicht angegeben. Im ganzen ist die Benutzung
von Maschinen für 909239 Betriebe, das sind 16^36 Proz. aller land-
wirtschaftlichen Betriebe, angegeben worden. Allerdings ist die Er-
hebung nicht durchaus befriedigend ausgefallen. Insbesondere sind
die Fragen nach der Wrwendung von Hackmaschinen und Milch-
/i ntrifugcii In so weitem Umfange mifsversiändlicli aufgefafet worden,
ctafs die Ergebnisse nur mit äulserster Vorsicht benutzt werden
können.
Es wurden verwendet
von Betrieben
über-
Pro/rnt nlb r laud-
bau] >t
wirtschaltl. Betriebe
gcwohiiliclic 1 >rc-,chinaschin^n . . .
590 809
»0,74
364
4,67
140792
«154
35084
0,63
breitwüifige Sikmoschineii ....
a8673
0,5a
18649
0.34
1696
0,03
1,31
fniit II;iii<lbotrit-b .
MilcbMiitnfiigcn < . , ,
1 nut Dainpl betrieb
25 ^^3
1,13
<N45
Nach Größenklassen der Betriebe war die Verwendung von
landwirtschaftlichen Maschinen die folgende:
Von je 100 Landwirtschaftsbetrieben
mit einer landwirtschaftlichen Fläche von ha
benutzten
unter 2
2~5
5—20
20—IOO
100 u. da
O.CK.)
0,01
0.10
5.iu
brritwiirtijjr >:iemast'!iinf
. . . O.Ol
0,05
4,29
50.14
1,29
7,88
17,69
57.32
0,03
0,19
a,49
6t06
0,68
6,93
3t,7S
Dampfdresdimascbinen
. . . i,o8
5,30
10,95
16,60
61,32
andere Dreschmaschinen .
. . . 6,49
6,56
31,89
64.09
bndwirtich. Maschinen Überhaupt 2,03
13.81
45,80
78,79
94tt6
Die Landwirtschaft im Deulsclicn Kcich.
597
Wie nicht anders zu erwarten, werden landwirtschaftliche
Maschinen desto häufiger benutzt, je gpröCser der Umfang der Be-
triebe ist. Wenn gleichwohl mancherlei Maschinen, insbesondere
Dreschmaschinen, auch in kleineren und mittleren Betrieben ver^
briltiusniäfsig häufig an<^c\vendet werden, so erklärt sich das daraus,
dafs "ft eine und dieselbe Maschine von einer c^nnzcn Reihe von
Wirtscliaflen der Reihe nach benutzt und von jeder derselben an-
<^:c<^'el)en wird. Immerhin kann in der zunehmenden Häufigkeit der
Masciunen von < Ttt jücnklassc zu Grörsenklasse cni Symptom für
die Steigerung des kapitahstischen Charakters erbUckt werden.
In der gleichen Weise i>t es zu deuten, wenn die Benutzunfj der
Maschinen seit ltS,S2 rasche F(»rtscliritte f^emacht Iiat. Damals
hatten angegeben die Benutzung von Dampfpfliigcn 836 Betriebe,
Von S.K maschinen 63 S42, von Mähmaschinen 19634, von Damjjf-
drc-chniavrhiiirn 7569O und von anderen Dreschmaschinen 20836;;
ik'lriebe. Die X'erwendun}^ von anderen landwirtschaltlichen
Maschinen war 1S82 nicht erfragt worden. Der VcrLrIeich mit den
oben an^^egebenen Zahlen für 1805 er-^^nebt für alk Wr< )lsenklas^en
und für alle Arten von Ma^^hiIK■n eine sehr ei hcliHi lic Zunahme,
aust^'enommcn die Sc'iemaschincn, an ileren Stelle von zalilrcichcn Be-
trieben nunmehr Drillmaschinen verwendet werden.
Die Ergebnisse der landwirtschaftlichen Betriebsaufnahme unter
dem Gesichtspunkte der gesamten wirtschaftlichen und gesellschaft-
lichen Entwicklung zu würdigen , behalte ich mir für eine spätere
Untersuchung Über die Entwicklungstendenzen der deutschen \'olks-
wirtschaft vor, in welcher ich die Hauptergebnisse der Berufs-
zählung, sowie der landwirtschaftlichen und je werblichen Betriebs-
zählung abschliefsend zusammenzufassen gedenke.
*) Zutreffende Bcnicrkuugen darüber, um wieviel geringer der Eintlul!» der Ma-
schinen in der Landwirtschaft wie in der Industrie ist, bei Se ring a. a. O. S. 305 ff.
Digitized by Google
t
Ueber Schiedsverträge der Arbeitgeber und Arbeit-
nehmer nach dem deutschen Gewerbegerichtsgesetz
und der Reichscivilprozefsordnung.
Von
M. VON SCHULZ,
Gewerb«ricbter and VorsiUendein des Gewerbegerichts Berlin.
Während der Beratungen der VIL Reichstagskommission über
den Antrag der Alj^eordnetcn Trimborn und Dr. Hitze betreffend
dieGc\vcrhc;:jcnchte 'j wurde vorgoschla^cn, im GewcrbegcrichtsgcsctE
eine X'ereinbarung der l'artcicn, dafs die Entscheiduii^ einer ge-
werblichen Rechtsstreiligkeit durch einen oder mehrere Schieds-
richter erfolgen solle» für nichtig zu erklären. Nachdem dieser Vor-
schlag abgelehnt worden, wurde in zweiter Lesung angeregt,
wenigstens die in den Arbeitsordnungen festgesetzten Schieds-
verträge als nichtige zu bezeichnen und zur Gültigkeit sonstiger
Schiedsverträge zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer Schriftlich-
keit zu crf. irtiern. ^)
Diese Anträge teilten das Schicksal des V'orschlages der ersten
Lesung. Auch ^^ie wukIch abgelehnt.
In der K(unmis>iun wurde zu dem ui>|>riinglichen Antrage aus-
geführt, dal's mit Rücksicht auf die Zwangslage, in welcher su ii der
Ar heiter vielfarli heim I'-ngagcmenl befinde, der Brauch, tlie aus
dem Arbeitsveiliakiiis sich etwa ergebenden Streitigkeiten durch
' t Berit lit d<?r Kommission Nr. 85 ZitT. 2 der Drucksachen - - Xr. 2S6
Rci« !l^UlJ^ 10. I.' j:i>l;itiir]>criudc, I. So>sioii iSaS iicj.
* Sirii,- {! 10-7 Se; ;, R c.i'.o. und diuu Kohler in Grochots Beiträgen,
Hil. 31 S. 504 a. A. und Anm. 143.
Digitized by Google
Uebcr Schiedsverträge der Arbeitgeber und Arbeitnehmer etc.
»
Schiedsvertrag dem Gewerbegericht zu entziehen, ein durchaus ver-
werflicher sei.
Bei der zweiten Lesung wollten die Gegner des gewerblichen
Schiedsvertrages diesen für den fiestimmten Einzelfall zwar nicht
ausschlicfseti. Sie erachteten es jedoch für unzulässig, wenn „der-
selbe durch die Arbeitsordnung generell iiir alle Streitfalle ge-
wissermafscn au foktro viert werde". .
Die Mehrheit der Kommission ging bei ihrem ablehnenden
Verhalten davon aus, dafs, sobald ein ZAvanc^ beim Abschlufs des
Schiedsvertrages nachweisbar sei, die bczvigliche X'ercinbarung schon
nach allgemeinen Recht-^grundsätzen nichtig sein wiirflc Allerdings
könne dieser Nachweis woiil meist in völlig schliissigcr \\ eise nicht
erbracht werden. Mit Rücksicht h i er a u f c r s c h e i n c es an
sich nicht u na n gezeigt, dem gerügten Mifsbrauch
durch eine besondere gesetzliche Bestimmung ent-
gegenzutreten. Im übrigen iialte man es, wie im geschäflliciien
I.eben, so auch Ijeim gewerblichen Ari)eits\ eriiaknis für vernünftig •
und den hrieden fördernd, statt vor Gericht zu streiten, irgend eine
Person, die sich des beiderseitigen Vertrauens erfreut, entscheiden
zu lassen. Eine derartige .Abmachung sei einwandsfrei, wenn in
dem vereinbarten Schiedsgericht Arbeitgeber und
Arbeiter in gleicher Zahl vertreten seien.
Zum zweiten Antrage wurde bemerkt, dafs für Fälle, in denen
es sich um untergeordnete DiiTerenzen handle, wie sie der Betrieb
tagtäglich mit sich bringe, die Bestimmung einer Schiedsrichter«
liehen Instanz in der Arbeitsordnung sehr verstandig wäre. Was
endlich die Forderung nach- Schriftlichkeit der Schiedsverträge be-
trifft, so erklarte man, dafs ein Schiedsvertrag, welcher nach Lage
der Verhältnisse zweckmäfsig sein könne, dadurch an seiner Be-
rechtigung nicht verliere, dafs er nur mündlich geschlossen
worden sei. -)
Die Kommission hält es somit nicht für ratsam, die Gültigkeit
Zar Beilegung solcher nntergcoidnetai MifsbcUigkeiten und snr Verhütung
von Strikes und Ausspemmgen haben die Berliner Maurer, Tischler, Tapexierer
und Dekorateure in ihren Vergleichen vor dem Einigungsamte paritätisch
aosammengesetzte Kommissionen geschaffen (9 Arbeitgeber und 9 Arbeiter, bei den
TiachlerD, Tapezierern und Dekorateuren unter dem V^orsitz eines Gewerbericliters).
*! Schriftliche Schiedsveriräpp sind in Treu füen stempeipÜichlig (Gesetz vom
31. Juli ii>95). Siebe auch Kohl er a. a. O. S. 4S5.
Digitized by Google
6oo
M. Von Schule,
der Schiedsverträge für die Gewerbetreibenden den gestellten An-
trägen entsprechend zu beseiti'j^^en resp. zu beschränken. W'olil aber
wnr dieselbe >iclitli. Ii ni« ht al );^reneigt, zum Schutze der Wirtschaft*
lieh schwa< licn Arbeiter Vorschriften über den Srhicdsvertrag auf-
zustellen. Leider wurde unterlassen, daliin/t l't :ule Bcstimmunc^en
zu formulieren. Die Notwendigkeit, Rcj^aln über den Schieds-
vertraf:^ in dem Gewerbe;;erirhts;^fesctz zu .;ibcn. ist \orhandcn.
An einem l'n ./« r< \\cl<-!irr \ > »r licm Rcrliner ( iewerbegericht >_:e-
führt worden ist, gedenken wir, dies darzuthun. Der Thatbestand ist
folgender:
Kläi^er, ein Weber, machte Dezember 1899 eine Lohnforderung
{:^CL,fcn seinen Arbeitjijeber s^eltend. Bekla;4ter, welcher im ersten
1 ermiii vun seinem W'erkführcr X. vertreten wurde, beaiitrac^tc Ab-
weisun;j[, weil Parteien inhaltlich des vorzulehnenden schriftlichen
Schiedsvertrat^s die Hntscheiduntf ihrer Sircilii^kcitcn aus dem
ArbeitSN crhaltnis dem i^cnannlcn Werkführer mit seinem Einver-
ständnis Übertrafjen hatten. Vom Kläger wurde das Bestehen eines
derartigen Vertrages abgeleugnet. wurde deswegen in dem
zweiten Termin vom Beklagten in Person ein von ihm und dem
Kläger unterzeichnetes Schriftstück produziert, nach welchem
Parteien unter dem 20, November v. J. beschlossen haben, dafe der
beklagte Werkfuhrer X. alle ihre aus dem gewerblichen Arbeits-
verhältnis entspringenden Differenzen „unter Ausschlufs der Zu-
ständigkeit des Gewerbegerichts" schlichten solle.') Kläger gab
zwar zu, die fragliche Urkunde unterschrieben zu haben. Als ihm
seinerzeit der Werkfuhrer das Schriftstück hingereicht habe, sei ihm
gess^, dafs er von dem Inhalte desselben nicht Kenntnis zu nehmen
brauche. Kläger will infolgedessen dasjenige, was er unterzeichnet
habe, gar nicht durchgelesen haben. Demgegenüber bekundete der
Werkfuhrer X. nunmehr als Zeuge des Beklagten, Kläger ausdrück-
lich darauf aufmerksam gemacht zu hal)en, dafs er den Vertrags-
entwurf lesen müsse. Wenn er mit dem Inhalte des Schriftstückes
nicht einverstanden sei und daher nicht unterzeichne, würde er vom
Beklaj^ften nicht beschäftigt werden.
Das Gewerbegericht hat den Kilver abgewiesen, weil durch
Beklagter behauptet, b« der Vereinbamiig des Schiedsvertrages von der Er-
wäjjiuifj pe leitct zu srin. rine Entscheidung des G<"werbef;cricht> zu vermeiden. Er
beabsichtige in Zukuntt mit sdnen siiintbrlicn .\rh<Mt<'m S< liifii^vcrlriige einzugehen,
um nicht immer „nach dem Gewerbcgerichl laufen" zu müssen.
Digitized by Google
Vcber Schiedsverträge der Arbeitfrelicr and Arbeitnehmer etc. (3oi
das Vorhandensein des Schiedsvertrages es zur Zeit an einer £nt*
Scheidung in der Sache selbst behindert werde. ^) In der Tagespresse
ist dieses Urteil als ein verfehltes hingcsteUt worden. Die Zu>
standigkeit des Gewerbegerichts könne durcli Vertrag nicht auf-
gehoben werden. Femer widerspreche der hier \ orliegcnde Schieds-
vertrag den guten Sitten und sei deshalb nichtig.'^)
Zunächst mzg zugestanden werden, dafs vor Erlafs des Ge-
werbegerichtsgesetzes das schiedsrichterliche Verfahren der R.C.P.O.
auf besondere Gerichte, wie dies die Gewerbegerichte sind, nicht
Anwendung zu finden halte."') § 3 des KinRihrun'jjsc^esetzes zur
R.C.P.Ü. beschränkt den Geltun<;sbereich der R.C.r.O. auf alle
bürji^erliclicii Reclit.sstreiti^keiten. welche vor die < > r f 1 e n 1 1 i c h e n
Gerichte gehören. Daher ist im 871 (jetzt 1045) R.CI'A ). Abs. i
auch nur vom Amtsgericht und Land;.^ericht die Rede; ilie be-
sonderen Gerichte werden dort Tiiit keinem Worte erwähnt.
Dieser Zustand wurde durch das Gewerbci^erichts^^esetz j^eändert.
Nach § 24 da>ell)>t sind auf das Verf.ihren vor den (icwerbc-
{Tericliten, >^oueit im (iewerbei^erichtsj^csetz nicht besondere Ik'stiiii-
mungen enthalten sind, die für das amtsgcrichtlichc Wrtalncn
geltenden Vorschriften der Civilprozefsordnun;:^ entsprechend an-
zuwenden. Da sich das Gewerbe<jerichtsgesetz über das schieds-
richterUche Ver&hren ausschweigt, so sind die Paragraphen der
Civilprozelsordnung über das letztgenannte Verfahren, wie für die
Amtsgerichte, so auch für die Gewerbegerichte massgebend. Die
Vereinbarung des Arbeitgebers mit dem Arbeitnehmer, dals die
Entscheidung einer Rechtsstreitigkeit aus dem Arbeitsverhältnis
durch eiaen oder mehrere Schiedsrichter erfolgen solle, hat also
insoweit rechtliche Wirkung, als die Parteien befugt sind, über den
Gegenstand des Streites einen Vergleich zu schliefsen (§851 [jetzt
1025] R.CP.O.). Es ist demnach nicht anzuzweifeln, dafs Arbeit-
geber und Arbeitnehmer zur Beseitigung von Streitigkeiten Schieds«
richter bestellen dürfen. *) § 5 des Gewerbegerichtsgesetzes, welcher
Vi Soziale I'ruxis vom S. Februar 1900 Sp. 485.
Siehe auch Schalhorn in der Sozialen Praxis vom S. Februar 1900 und
JaitTow im Gcwerbegeridit vom i. l^fSrz 1900.
'} Wilmowsky n. Levy, Kommentar snr R.C.P.O. 6. Aufl. Vorbemerkang
zum 10. Bach S. 1119. A. A. Meyer, Die Verembarang adiiedsriditerlicher Rechts-
cnttcheidnng. Erlangen 18S8 S. 5.
*) Haas, Kommentar zum Gewerbcgcrichtsgcsctz Anm. 2 zum § 24 S. 164 a. F.
u. Anm. 5 tum §38. 30; VVilhelmi u. Fürst, Kommentar zum Gewerbegericbts-
Digitized by Google
602
M. von Schulz,
verordnet, dafs durch die Zuständigkeit der Gewerbegerichte die
Zuständit^keit der ordentlichen Gerichte aus£:^eschlosscn werde,
ändert nichts an dieser Thatsache. Denn das durch X^ertraj^ be-
gründete Srliieds;^'ericht zählt nicht zu den ordentlichen Gerichten
und übt übcrhau[>t nicht Gerichtsbarkeit aus,') ^.f.iti/ ab^^esehen
da\on, dafs das Ge\vcrbt L:cricht durch Verabredung eines Schieds-
gerichts n i r h t u n zuhtiirn li^^ wird. -')
Der Arbeitji^cber ist aber nur in der La^'c, mit jedem einzehien
Arl)citcr einen Schiedsvertrag cinzut^ehen ; es ist ihm nicht frei-
gegeben, ein für alle Male in der Arbeitsordnung seine Arbeiter für
ent>teheiidc Kcchtsstreitigkeiten an einen Schiedsvertra«g zu binden,
wie dies in einem Urteile des Gewerbegericlits zu Leipzig ange-
nommen wird.
In dem Berichte der VlI. Reiciistagskommission wird bereits
bemerkt, dafs die in dem besagten Urteile ausgesprochene Ansicht
eine bestrittene ist. Wir haben hierzu folgendes anzuführen:
Dem Besitzer einer Fabrik ist nach § 134 b der Reichsgewerbe*
Ordnung nur übeiiassen, neben den im Abs. i unter 1—5 be-
zeichneten noch weitere „die Ordnung des Betriebes" und „des
Verhaltens der Arbeiter im Betriebe" betreffende Bestimmungen in
die Arbeitsordnung aufeunehmen. Ein derartiger Inhalt, soweit er
sonst nicht den Gesetzen zuwiderlauft, ist (tir Arbeitgeber und
Arbeitnehmer rechtsverbindlich, för letztere selbst ohne Kenntnis
des Inhalts.^)
Diese immerhin ungewöhnlichen, dem freien Arbeitsvertrage
entgegenwirkenden Vorschriften der R.G.O. sind erlassen, weil die
in der Ar beitsordnung enthaltene „bestimmte und klare Kundgebung
der Bedingungen des Arbeitsvertrages die zahlreichen
gesctz Anm. 3 zam § 5 S. 38 ; M u pd an - Cu no . Kommentar zum Gewcrbegerichts-
gf sHz S. 45 Anm. zum i? ' : ^ rh'u- k c r , Kninni<n(nr zur keiclisge\verl>ror<!nunp
S. 342 .\iun. 2; Jabrobcncht Uer Gewerbegerichte der budt Ucm pro 1898 6. 26
und 27.
Förster, KoiiiiD«ntar m R.CP.O. Bd. 2 S. 691 Anm. 3 «um § 851;
Meyer a. a. O. S. 97 n. 107; Kohler a. a. O. S. 320; Laband, Staatsrecht,
III. Ad)., n. Bd. S. 336 tt. 337.
•) Meyer a. a. O. S. lo n. 32.
') Gewerbegericht Nr. 2 vom 4. November 1897, lU. Jahrig. Sp. 19 u. ao n.
Nr. 3 vom 2. I^ezemlier 1S07 Sp. 25 u. ff.
Blankenstein im Archiv tür utTentlichts K.-ilit IM. XIII I, S. 128; sieh«
hierzu Gewerbcgcricht vom 4. Februar 1897, II. Jabrg. Nr. 5 Sp. 37 ff.
Vcber Sehiedsvrrtr.i^e der Arbeitgeber und Arbehneliincr etc. 603
Streitigkeiten! die erfahrungsgema(s aus der UnvoHständigkeit und
Unklarheit der Arbeitsverträge entstehen, abschneidet und somit
zur Erhaltung eines friedlichen Verhältnisses zwischen Arbeitgeber
und Arbeitnehmer beizutragen geeignet ist".*) Ein Schiedsvertrag,
welcher Streitigkeiten der im § 3 Gew erbej^crichtsgesetzes ge-
nannten Art zur Entsolicidun^ einem Schiedsgericht überweist, ge-
hört deswegen nach dem Wortlaut der R.(i.O. und den Motiven
nicht in die Arbeitsordnun;:; hinein. Infolgedessen wird ein Schicds-
vertragsentwurf durch die Tliatsaclie, dafs er sich in der Arbeits-
ordnung befindet, nicht für die Arbeiter rechlsvcrbindHch. Noch
wenisrer wird ein solcher Scliieds\crtrag durch seine zufäUige Auf-
nahme in che Arbeitsordnung verwandelt in einen Bestandteil des
Arbeitsvertrages, dessen irundlage'' die Arbeitsordnung bildet. Der
Schiedsvertrag kann niemals in den Arbeitsvertrag auigehen. Wäre
dies möglich, so müfstc der Schiedsvertrag mit der Beendigung des
Arbeitsvertrages elienfalls enden. Dieses wird kaum jemals die Ab-
sicht der rarieien sein, da Streitigkeiten regelmafsig erst bei und
durch die Losuug des .Arbeitsvertrages entstehen. Zur Beilej^un^
derseU)en soll aber das Schied.-gericiit in Wirksamkeit treten.
.Aus dem Wirgetragenen leiten wir die Pflicht der unteren Ver*
wakungsbchörde her, einzuschreiten und in Gemäfsheit der §§ 134 f.
a. a. O. vom Arbei^ber eventuell zu verlangen, da& er die Be-
stimmungen über das Schiedsgericht aus der Arbeitsordnung ent-
ferne. Ungeachtet dessen sind diese Bestimmungen, solange sie noch
in der Arbeitsordnung existieren, keineswegs untauglich, dem Arbeit-
geber und Arbeitnehmer als Unterlage zum Abschluß eines Schieds-
vertrages zu dienen. Der Arbeitgeber muGs allerdings bei der
Annahme des Arbeiters in jedem einzelnen Falle erklären , dals er
und der Arbeiter sich bei vorkommenden Streitigkeiten der Ent-
scheidung eines Schiedsgerichts zu unterwerfen hätten. Alsdann
genügt für die Details des Vertrages ein Hinweis auf die Arbeits-
ordnung. Ferner wird es ausreichen, wenn bei dem Engagement
des Arbeiters diesem ein Kxcmplar der Arbeitsordnung behändigt
und ihm dabei eröffnet wird, dafs der Inhalt derselben für üin und
den Arbeitgeber rechtsverbindlich sei. Mag dann selbst der Inhalt
') Motive «in Entwurf eines Gesettcs t»etr. Abündeninc der Gewerbeordnung
Nr. 4, Reicbstag, S. Legislaturperiode, I. Session 1890 S. 43. Lotntar (Die Tarif«
vertrage zwischen Arboitgebem und Arbeitnehmern in diesem Arcbiv Bd. XV S. II2)
bezeichnet die Arbeitsordnung als eine einseitige Verfügung.
6ü4
M. von Sclialz,
der eigentlichen Arbeitsordnung aus ii^nd einem Grunde
ungültig sein, die GültiL^keit des Schicds\ ertraores würde hierdurch
nicht berührt werden.') F.iidlirli >oi noc!i auf die Sitte aufmerksam
gemacht, dnfs heim Eintritt des Arbeiters ihm die Arbeitsordnung
zur Kenntnisnahme vorgelegt und er aufgefordert wird, nach Durch-
sicht der Arln itsordnung unter dieselbe seinen X.inv-n zu setzen.
Mit der Unterschrift des Arbeiters dürfte, wenn die Arbeitsordnung
Vorschriften über tlie schiedsrichterhche Entscheidunj^ der ( rewerbe-
st reitif^keiten ciUhäU, ein rechts';:jültif:jer schrifthcher Schiedsvcrtra;:^
zustande ^ckonimcti sein. Auf diese Weise können ein l 'nternehnier
und seine sämtlichen Arbeiter der Rcchts])rechuMj^ der dewerbe-
gerichte aus dem Wet^e ^cheii. Der ArlieitL^ebcr ist nicht darauf
bcscliränkt, wie Cuno meint,'-) nur mit ein/cliicn Ari)eitcrn aus
besonderen (i runden einen Schic(kvcrtra^ 7.u verabreden. Mit
Unrecht sucht ( "uiio seine Atisicht <Uircli die Vorschriften der R.G.O.
über die Arbeil^oidnung zu beii^riiiulcn. Die Arbeitsonlnung ist
ein Bestandteil des ArbeitsverlraL;<'^. Der Schiedsvertrag gehört
aber nicht der Arbeitsordnung, auch tiicht dem Arbeitsverträge an.^i
Aufserdem will uns nicht einleuchten, warum die besonderen (iründe,
welche dem .Arbeitgeber gestatten, mit einzelnen Arbeitern einen
Schiedsvertrag zu schliefsen, für ihn nicht auch bei allen seinen
übrigeti Arbeitern vorwalten und zu einem Vertragsschlu& berechtigen
sollen.
Wenn aus den bisherigen Erörterungen erhellt, da(s das schieds*
richterliche Verfahren der R.C.P.O. auch auf die gewerblichen Ver-
hältnisse von Arbeitgeber und Arbeitnehmer anwendbar ist, so
können Bedenken irgend welcher Art nicht erhoben werden gegen
') In Shnlicher Weise Muraert sich Sclienkel, Kommentar zur R.G.O. Anm. 13
nun 9 I34n S. 438: Ebenso können, falls ein Aashang nach § 134a Abs. i nnd
■§ 134a .\bs. 2 nicht stattgefunden oder durch Arbeitsordnung in anHi^rt-r Weise, ins-
besondere durch Miftcilutij; oinrs Abdrucks an den .Arbeiter, den in der
Fabrik Heschältigti'n kundjje>;ebt'n worden wciiit;>trii> di> nni<;cn Bestimmungen
der Arlx itsordnunj;, welche nicht nach J; 134 c .-Xbs. 2 uusm iiiit fshch einer nach
dem Gesetze erlai^scnen Arbeitsordnung vorbehalten sind, aU gültige Vereinbarungen
Über die Bedingungen des ArbeitsverhilUiisses privatrechtliche Wirksamkat gewinnen.
*) Gcwerbfgericht vom a. Dezember 1897 Sp. 27,
*) Es liegt also nicht in der Gewalt des Arbeitgebers, wie dies bd den Be-
ratung-.n der VII. Reichstag-skommission behauptet wurde, durch die Arbeitsordnung
seine Arbeiter ;;an/. allgenv in und ohne deren Zuthun dem Gewerbcgericfat oder dem
ordcuüicbcn Gericht zu entziehen.
Leber SjchicdsvcrIrUge der Arbeitgeber und Arbcnuehmer clc. 605
' den Abschlufs eines Schiedsvertrages an und für sich durch die
genannten Gewerbetreibenden. Es sei denn, dals es dabei ^egcn die
guten Sitten ginge.
Man hat nun behauptet, dafs der von uns oben erwähnte
Schiedsvertrag des Webers mit seinem Arbeitgeber gegen die guten
Sitten verstofse. Es wird ausgeführt, dafs der Arbeiter nur infolge
einer gewissen Notlage sich zur Abschliefsung des Schiedsvertrages
bereits gefunden habe und dafs es ferner nicht den guten Sittea
entspreche, einen Angestellten und daher Abhängigen zum Schieds-
richter zu bestellen.') Von Jastrow^ wird eingewendet, dafs „dit
Absicht des Schiedsvertrages" dahin gehe, nicht einen un-
parteiischen Richter zu beschaffen, sondern einen, der von einer
Partei abhängig sei. Dieser Zweck widerspreche aber der sittlichen
Auffassung richterlicher I'hätigkcit. 'l
£s dürfte schwierig sein, nachzuweisen, dafs die beiden Parteien
oder wenigstens eine derselben bezweckten, zur Entscheidung
ihrer etwaigen '^^cwcrbliclien Rechtsstreitigkeiten „einen nicht un-
parteiischen Riciitcr" zu bestellen. Auch würde es unverständlich,
sein . dals der Arbeitgeber zu seinen Ungunsten ein parteiisches
L rteil anstrel)i\ Ebensowenig ist anzunehmen, dafs der Arbeiter
der mit seinem W ilsen lediglich dem Interesse des Arbeil;^el)ers
dienenden Willkür des Schieflsrichters sich überliefern wollte, jastrow
hat deswegen vielleicht gemeint, dals der Arbeitgeber von dem er-
wählten Schiedsrichter erwartete, dieser werde seine, des .Arbeit-
gebers, Vorteile wahrnehmen, gleichgültig ob er oder der Arbeit-
nehmer im i\et iite wäre. Er hält nämlich die Abhängigkeit des
Werkmeisters für erheblich genug, ,,um im grofsen und gruizen
diese Person anders zu stellen, als es bei einem Richler sein soll".
Es ist aber zunächst luir eine Mutmalsung,^ 1 dals der Schieds-
richter sich durch seine Abhängigkeit beeinflussen und zu Ungerech-
tigkeiten verleiten lassen wird Die dem Arbeitgeber zugeschriebene
nicht anständige Denkungsart kann gleichfalls nur vermutet werden.
Warum sollte nicht der Arbeitgeber den ernsten Wunsch haben^
'1 Schal hörn in der Sozialen Praxis vom S. Februar 1900 Sp. 485.
') Gewcrbcgericht vom l. März IQOO Sp. iiq.
Fraglich erscheint, ob die von Jastrow angegebene „Absicht des Scbieds«
vertrage»" mit dem, was detten Parteien bezweckten, identisch srein soll, oder ob
vielmehr diese Absiebt Toa dem, was die Parteien im Auge hatten, verschieden ist.
*) Gewifsheit kaum natllrltch hier nicht erbracht werden.
. j _ ^ y Google
6o6
M. V u n S c Ii u 1 £ ,
dafs sein Angestellter nach seinem besten Wissen und Gewissen die
Entscheidung at^ebe.^) Möglicherweise bringen Arbeitgeber und
Arbeitnehmer dem Werkmeister, welcher so wie so bei vielen Ge-
legenheiten die Vermittlerrolle zwischen ihnen hat, beiderseits gleich
grofses Vertrauen entgegen, so dafs sie ihn zu ihrem Schiedsrichter
für geeignet halten. Dennoch soll infolge der Wahl eines Arbeiters
der einen Partei zum Schiedsrichter der Schiedsvertrag ein unsitt-
Uicher >cin. Der Werkmeister resj>. Arbeiter sei auf Grund setner
AbhäiiLii^^kcil als Schiedsrichter anders gestellt wie jede tlritte
Person.-) Durch die „Absicht des Schiedsvertrages" (seinen Inhalt?)
werdr ri- parteiischer Schiedsrichter bestellt. Es kommt hier zum
Ausdruck dasselbe AHfstrauen ') gegen Angestellte als S -Iiicdsrichter,
welchem wir bei ihren Vernehmunf^en als Zeuci^en so oil be-^^ei^nen.
S''lion wenn sie als ZeiiL^en vorLi^esrhlac^cn werden, hört man häufiL,^:
,,I)ie nrbeiten ja bei dem Kläger oder dem }iekla>,'tcn ; tlie nehmen
wir nicht an; was die sn^rcn das p;ilt nicht; die schwören falsch."
Diese Bedenken i^e^cn die W ahrlicitsliebe der .Arbeitnehmer sind
ebenso uiij^erecht wie die ;ii)sprcchenden Urteile über ihre Qualifikation
zum .Schiedsrichterami. Die lirfahrunt^ bei den Gewerbegerichten
lehrt, dafs die .Arbeitnehmerbeisitzer wohl ohne Ausnahme — selbst
wenn Prozefssachen ihrer Arbeit<^eber zur X'erhandlung stehen^* —
durch ihre Arbcitnchmerpoüition sich nicht beirren lassen. W ie wu' be-
Auf Vorhalten des Vorsitzenden d^r Kammer II des Gewcrbrgericht&, dafs
in dem Prozefs des Webers der Werkmeister io die für ihn mi&licbe Lage kommen
könne, za Ungunsten seines Arbeitgebers den Scbiedsspni«h zu flUlen, erklSrte der
Beklagte, dafs er bei reiflicher Ueberlegong flir die Wahl eines anderen Schicds*
richters gewesen sein würde.
*) Fttr das Dasein eines unmoralischen Vertrages kommt es im übrigen nicht
tl;ir:iuf ;ui, ob beim M chliifs ilcNs.-lbi-n busc .\bsiolitcn der P.irtcien im Spiele waren
oder nicht. NN'- «kr die ronii^iclieii (^>i!.-ll. ti noch das Iiiirfjerlic!ic Geriet /rbiidi machen
die Nicliti^keil tie> unni!iraH>chen \"e;tr,iL;''^ liavon utiliiini,'!^'. il.iN <he kontrahonten
die Muralwidrigkeit kcuncu (Lotmar. iJer unmoralische \ ertrag .S. 54 und .\n-
merkung 183 S. 171). Ikis, Gegenteil nimmt an das Urteil bei Seuffert, Archir
XXI Nr. 3«-
") Zugegeben mag werden, dafs der Arbeiter leicht in einen Konflikt der
Pflichten geraten kann, indem er einerseits objektiv urteilen soll, andererseits mit
Rücksicht auf die ihm vielleicht drohende Entlassung dem Interesse des Arbeit«
gebers geneigt gemacht wird.
In diesem Falle würden die Arbeitnehmerbesitzer wegen Besorgnis der Be-
fangenheit ablehnbar sein.
Ucbcr üchicdsvcrlrägc der Arbeitgeber und Arbcilnehnicr etc.
reits anderwärts oftmals bemerkt haben, lassen auch die Arbeitnehmer-
beisitzer bei den zu fallenden Urteilen, sogut wie es eben Menschen
vermögen, auf sich die Klassengegensätze nicht einwirken. Sie
stehen in dieser Beziehung den ordentlichen Richtern nicht nach,
welche gleichfalls bei ihrer Thätigkeit unter den Einflufs ihrer
gesellschaftlichen Anschauungen geraten können. Der Arbeiter,
welcher durch das Vertrauen seiner Kameraden zum Oewerberichter
berufen werden kann und, sobald er erwählt ist, seine volle Pflicht
. thut, ist an und iiir sich auch zum Schiedsrichter geeignet^)
Freilich liegt, wie Meyer ^ mit Recht ausfuhrt, in der Unter-
werfung unter die Entscheidung eines Schiedsrichters überhaupt ein
gewisses Wagnis. Es ist dies jedoch nicht so schlimm, da der
Schiedsrichter nach objektiven Grundsätzen*) entscheiden mufs
und hierzu durch die X'orschrift der Begründunn; seiner Ent-
scheidung und durch die Strafgesetze angehalten wird, l-erner hat
er ja auch seinen Spruch zu hinterlegen. Unter diesen Umständen
läfst die R.C.P.Ü. im Gegensatz zu dem früheren, insbesondere
römischen Recht fast schrankenlos jeden als Schiedsrichter zu, V(
danach auch aiijTcstcllte, \on ilircm Prinzi|)ale abhäncn^^e Personen.
Bereits das römische Recht fand niciUs Ar^cs darin, dafs ein Haus-
sohn in Sachen des X'aters zum Schiedsrichter Ix-stelll wurde. Ks
war selbst dcmii cu;^a-n, welcher ein I^terL•^sc am Ausgange des
Rechtsstreites hatte, gestattet, das Schiedsrichteramt zu über-
nehmen. '')
Die Gesetzgebung hat hiernach nicht die MiVlichkcit für vor-
liegend gehalten, dafs die Bestellung gewisser Personen als Schieds-
') Siehe bienu Soziale Praxis vom 30. November 1899 Nr. 9 Sp. 213.
*) Meyer R. a. O. S. 92, 94, 103, I3I und R.St.G.B. $§ 334 tu 33^.
•) Xatilrlich ist hier ein Spielraum für subjektives Ermessen nicht ausge-
schlossen. Dies triflfl aber t;leichmäi"sig zu bei allen Scbiedsrichte-rn. Seintsr hidi-
vidualilät wird stell auch der ordentliche Kiclit-^r nicht inini<r cnt/ielien können; an
einen Schiedsrichter wird man aber nur die .\napruche. welche man an den ordent-
lichen Richter stellt, erlieben wolleu. Vor wirklichen Thorhcitcu und Uugcrcchlig-
kciten schlitzt den Arbeiter seine Intelligenz (s. auch Schalborn in derSoz. Praxis
vom 10. Hai 1900 Sp. 828).
Die einzige Aumahme bilden Wahnsinnige nnd Kinder. Meyer a.a.O.
s. 57.
^) I. 6 und L 7 pr. D. 4, 8; Meyer a. a. O. S. 53. 54, 55 nnd Kobler
a. a. O. S. 498 (Entsch. des R.O.H.G. Bd. VIIS. 329, 332).
Digitized by Google
6o8
M. von Schulz,
richter iiir unmoralisch erachtet werden könnte. Wenn das Recht
derart entscheidet, so ist man berechtig, darauf zu schlieCsen, dafs
im allgemeinen auch die moralische Anschauung dieselben Bahnen
verfolgt.
Weder nach romischer noch nach heutiger Moral ') ist es des-
halb als nicht anstandig oder gar als unsittlich zu bezeichnen, dafs
Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich auf einen Angestellten des
Arbeitgebers als Schiedsrichter einigen.*)
Da das Büi^rliche Gesetzbuch eine Definition des unsittlichen '
Vertrages nicht bringt, wollen wir schliefslich zur Prüfung da(iir,
ob der Inhalt unseres Schiedsvertrages als ein unmoralischer zu er-
achten ist, noch die von Lotmar^} aus dem römischen Recht zur
Bestimmung des unmoralischen Vertrages gefundene Regel in Be>
nutzung ziehen. Sie besagt, dafs ein Vertrag, um unmoralisch und
danach nichtig zu sein, eine Handlung, Duldiin[^ otlcr Unterlassung
vercinlxircn niuN, die entweder an und für ^'wh oder deren Auf-
nahme in einen Vertrag oder deren k.i ; ili X'crknüpfiing (im Ver-
tri^) mit einer pekuniären l^tstung der Moral widerstreitet.
Bei Anwendung dieser Regel werden wir es nicht vermögen»
den von dem VVdier niit dem Arbeitgeber geschlossenen Schieds-
vertrag der aufj^estellten Regel anzupassen, alsn dafs jener als ein
unsittlicher befunden werden müfste. Denn die vereinbarte
„Duldung", dals an Stelle des Ge Werbegerichts der Werkmeister
entscheide, '-t nach unseren Ausführun<;en keine unsittliche, eben-
sowenig ist ilirc Aufnahme in den Schiedsvertrag ein Verstofs gegen
Das Recht entscheidet nicm:ils, ob etwas anständig, unsittlich ist oder
nicht. Die panzc Tra^jc ist eine Moralfragc. Ob damit, <l:\\\ tU-m AfbfitT im Ver-
traßsi*nt\vurt anj^ebof . n %vur<K', <ich oincn antb-rr-n Arli- itni-lin'.rr si incs Arbeitgebers
al> Solii'.-<bri<. Iit> r t.ill« is m las-cn. eine Duliluiig \ creinbarl werden i>ollte, die von
MoralweKL'i» niciii vertraglich 2uj;csiciicrt werden darf, ist nur durch die Moral zu
beantworten (Lot mar, Der onmoralische Vertrag S 76).
*} In der von Schalhorn cHicrten übcrtribunalsent^cheidung handelt es sich
darum, dafs eine Partei resp. Generolrersammlmi^ der Mitglieder der PeDsions»
zuscfaufskasse der Mnstknieisler des Preufütchen Heeres (nur Organ einer Putei?)
zum Schiedsrichter ernannt ist. Ein derartiger Schiedsrichter ist «blehnbar. Siehe
Kohler a. a. O. S. 497 and Meyer a. a. O. S. 55. Nach röm. Recht war eine
Partei xiun Schiedsrichteramt unfähig I. 51 D. 4, 8.
*) Lotmar a. a. O. S. 65, 77, 80.
Digitized by Google
L'cl'i-'r hclücdsvcrtragc der ArbcitgcU-r und Arbeitnehmer etc. 609
die Moral.') Eine K^usalbeziehung einer geldwerten Leistung zu
dieser Duldung koniint endlich überhaupt nicht in Frage.
Nach alledem müssen wir uns dahin erklären, dafs die objek-
tiven Umstände, unter denen der Schiedsvertrag vorgenommen
wurde und insbesondere sein Inhalt nicht so beschaffen sind, dals
sie in Verbindung mit den oben naher behandelten Beweggründen
des Arbeitgebers ein Vorgehen gegen die guten Sitten in Gemafs-
heit des § 138 Abs. i ECB. enthalten.
Zu demselben Ergebnis fuhrt die Betrachtung der „Notlage"
des Arbeiters. Nach Schalhorn ist „unter Ausbeutung einer gewissen
Notlage des Arbeiters, der in erster Linie auf Gewinnung seines
Lebensunterhaltes sehen mufste", dessen Kinversländnis zum Schieds-
verträge erzielt worden. ^) Diese Ansicht deckt sich bald niit der
Ansicht, dafs der \'crtra;^ des Arhritcrs mit dem Unternehmer
immer unter „Ausbeutung der Xotlai^c" des ersteren zustande kommt.*)
Bekannt ist, dals beim Arbeitsvertia^sschluls fast rcgelmälsi;^ der
Arbeitsgeber dem .Arbeitnehmer die Bedingungen diktiert und des-
wej^a-n der Arbeitnehmer auch dem etwaif^en \'orschla;^e eines
.^chic<isvcrtra'^fcs zuzustimmen ^'enötigt ist.*) Alle diese X'erträge
müKten nach ."^chalhorn nirhtiL^ sein. Doch tnulet zur Zeit die
mals^ebende all^'emeinc \'nlk>.tiiscliauuiitj[ darin nichts Aiisl« «Isi^es,
wenn der .Arbeit'^^ebcr in der L^rschildertc ii Weise seine Lebermacht
gegen den Arbeiter mtj4licli->t hervortreten lafst.
Der anf^efeindete Schie(l>vcrtrac^ ist daher nicht nichtig. In-
direkt ist dies auch .lus der Thatsache zu folgern, dals die R.C.P.O.
der Partei durch das Recht, den Schiedsrichter abzulehnen, ge-
wissermaßen nur ein Anfechtungsrecht in die Hand gtebt. § 1032
*) Sdner Form nach wttrde der vorliegend« Vertrag des Untemclimers mit dem
Weber in diese zweite Fonn des nnroonliscben Vertrages gehören.
*) Plank, Kommentar zmn B.G.B. L Bd. 2. Aufl. S. 189 Anm. 1 smn § 138;
Motive zu dem Entwnrfe eines BUrgerl. Gesetzbncbes für das Deutsche Reich Bd. I
Allgcm. Teil, amtl. .\usgabc S. 211 u. Lotmar a. a. O. S. 56 u Si.
^1 Der Sc h ;ilho rn sehe Satz ist auch dahin /ii vrr^t« h- n. ilaCs ein solcher
Vertra<;. «irr an sich rtwas direkt L'nmorali»chcä enthält, durch die bcwufste BUligoag
des Arbeiters nicht Riihij; wird.
*) Siebe das Nähere darüber Lotmar a. a. O. S. 93 und Blame in Iheriqgs
Jahrbttchem fttr die Dogmatik des bürgert. Reclits XXXVm. Bd., 3. Folge, IL Bd.
S. 363; Lotmar in diesem Archiv Bd. XV S. 38 und Anmerk. l.
*) Starke Arbeiterorganisationen, vielleicht schon paritStische Arbeitsnachweise,
vor allem Tarifverträge (s. hierüber Lotmar a. a. O. S. t IT.) brSchten Hilfe.
Archiv (ur los. Ge«etcgebinic u. Statistik. XV. 4*^
uiyiii^od by Google
6io
M. V Oll Sc hu Ii,
a. a. O. bestinnnt nämlich, dafe ein Schiedsrichter aus denselben
Gründen und unter denselben Voraussetzungen abgelehnt n'erden
kann, welche zur Ablehnung eines Richters berechtigen. Das,
was beim ordentlichen Richter gesetzlicher Ausschliefeungsgrund ist,
gestaltet sich för den Schiedsrichter zum Ablehnuogsgninde schon
weil auch der ordentliche Richer wc^^^en dieser Ausschliefeungs*
gründe ablclinbar ist 42 Abs. i R.C.P.O.). Malsgebend waren
also für den klagehden Arbeiter <iic §§ 41 — 43 a. a. O. Dies ist
dem Weber in dem al)\veisenden Erkenntnis bemerkt worden»
Jasirow sagt, dafs die Ablehnungsgründe aus § 41 hier nicht zu-
trett'en. Der erwählte Schieilsrirliter ist jedoch, wie wir gesehen
haben, nicht blols Prozcfsbevollmächtiti^tcr des .Arbeitgebers, sondern
auch sein Zeuge in dem l'ro/.els vor dem Gewerbegericht gewesen.
r)a;4Cgcn stimmen wir dem Schriftsteller zu. dafs die Ablclmung
des Werkmeisters wc^^cii der Besorgnis seiner Hcfaii;.:;ciihcit durch-
greift. Der (irund aber, welcher geeignet ist, Milstraiicn gogen die
l'nparteilichkeit des Werkmeisters /u rerlufcrtigcn, ist nic!U in
seiner abhäti'figcn Lage zu suehen, sondern darin, dals er bereits
als Iknollnuii litigter und Zeuge in dem Pro/f->^c .niü^^tnrctcn ist. ')
Der Kläge r iiat nun den .Schiedsriehtcr .ujs diocn (nuiidcn ab-
gelehnt und bei dem (iewerbegericht eine Entscheidung über sein
Ablchnungsgesuch und über das Erlöschen des Schiedsvertrages be-
antragt. ') Beklagter hat demnächst die Ablehnungsgründe fiir ge-
rechtfertigt anerkannt und in die Lösung des Schiedsvertrages ge-
willigt Es erübrigte sich deswegen eine Entscheidung, welche
eventuell in Gemäfsheit des § 1045 (87 1} R.C.P.O. zu üllen gewesen
wäre. Die erwähnten Ablehnungsgründe, welche dem Kläger aus
der R.C.P.O. zur Seite standen und bei ihrer Anwendung den
Schiedsvertrag hinfallig machten, haben sich erst nach Schlufs dieses
Vertrages entwickelt. Sie konnten somit den Schiedsvertrag, selbst
wenn derselbe durch Entscheidung för ungültig erachtet worden
wäre, nicht nachtr^lich zu einem unsittlichen machen.
Dem gegenüber ftihrt uns der Minweis von Schalhorn auf die
Die Gegner unserer Anncht werden den Arbeitenchicdsriefater schäm wegen
Besorgnis der Befangenheit «blehnes, selbst wenn er nidit BevoUmScfatigter oder
Zeuge gewesen wäre. '
*\ Das Recht der Ablehnung hat auch die ernennende Partei. Meyera.a.O.
S. 5S. Dagegen Wilmowski u. Lewy, Kommentar xnr K.C.P.O., 6. Aufl.,
Anmerk. I zum § 858 (jetzt lojau
Ucber Schiedsverträge der Arbeitgeber uod Arbeitnehmer etc. (
Stets mehr oder minder vorhandene Notlage der Arbeiter tlazii,
aufzuklären, ob nicht die von dem Zeugen bekundete, kurz vor dem Ab-
kommen von ihnen ausgesprochene Drohung, dem Kläger, falls er nicht
den Schiedsvertragsentwurf unterschreiben würde, Arbeit nicht zu ge-
wahren, dne widerrechtliche genannt werden mufs. Damit würde der
Schiedsvertrag mit Un^tttichkeit durchtränkt und anfechtbar sein.
Er gehörte dann zu der Speeles von unmoralischen Vertragen, „die
es gewissermafsen nur von aufsen her sind". Wur haben umsomehr
Veranlassung, uns noch mit der Bedrohung des klagenden Webers
zu beschäftigen, als bereits während der Beratungen der VH Reichs*
tagskommission von dem Zwange, welchem häufig die Arbeiter
unterliegen, und dessen Folgen die Rede gewesen ist.
Der hier inbetracht kommende § 123 Abs. i B.G.B, lautet:
„Wer zur Abgabe einer W illenserklärung durch arglistige Täuschung
oder widerrechtlich durch Drohung bestimmt worden ist,
kann die Erklärung anfechten."
Wie steht es nun mit dem Begriffe des Widerrechtlichen?
Nach V. Blume,* 1 dem wir fol;^eii, ist
1. die Dn .luin>^' an sich niclit widerrechtlich, wcnn der Drohende
bcrechtij^t wäre, sie auszuiuhren;
2. die Drohung stets \er\verflich und insofern auch wider-
rechtlich, wenn ihre AnwendunL,^ /nni Zwecke der Herhei-
führunL: der konkreten Willenserklärung gegen die guten
Sitten ') verslofst.
I'erncr erklärt genannter .Schriftsteller, dafs der Drohende dann
an und für .sich nicht widerreclulich L^fhandclt hat, wenn er ein
Recht hatte, dem Bedrohten das an^ediuhtc l el)el /u/ufü^fen.
Wir müssen verneinen, dafs der von dem Werkmeister auf den
Weber ausgeübte Druck, um denselben zur Unterschrift zu be-
wegen, als eine unsittliche Drohung aufzu&ssen ist Sicher würde
der Weber dem Schiedsverträge nicht zugestimmt haben, wenn er
hoffen konnte, mit Leichtigkeit anderwärts Arbeit zu finden. Da
es aber den sogen. Handwebem heutzutage schwer fallt, ihre Arbeits-
kraft ausgiebig zu verwerten, so befand sich der Kläger zwar that«
sächlich in der von Schalhorn beschriebenen Notlage. Es wird aber
tleider nicht durchweg — insbesondere nicht überwiegend in Arbeit-
') Lotmar a. «. O. S. 65.
') V. Blume a. a. O. S. «53.
*) Lotmar a. a. O. S» a9, 30 o. 59*
40*
Digitized by Google
6l2
M. von h eil u 1 z ,
geberkreisen — als unmoralisch empfunden, wenn der Arbeitgeber
aus einer solchen Situation des Arbeiters selbst durch das von dem
Beklagten angewendete Mittel der Drohung Vorteile zu ziehen sucht.
Diese Vorteile waren aufserdem, in Anbetracht des Schiedsvertrages
nicht einmal ökonomische. Aufserdem hatte de» Arbeitgeber das
zweifellose Recht, seine Drohung wahr zu machen und den Arbeiter
nicht zu beschäftigen. Ebenso war er befugt, dem Arbeiter bekannt
zu geben, dafs er im Falle der \\'ei;^^crung ihm Arbeiten nicht zu-
teilen werde. Demzufolge ist der Schiedsvertrag ebensowenig an-
fechtbar wegen Zwanges wie etwa d;\< \'ers])rerlieii einer Ijohn-
Crhöliun^^ an Arbeiter, utn einen Streik abzuwenden. ' i
So\ iel über das mehrerwähnte Urteil des Gewerbegerichts und
seine Auslc<;ini^.
Unsere Ausfülirunc^en tmi^en lioffentlich dazu bei, tlen Gesetz-
}:(eber /u \rranlassen, BestiiniiuniL,aMi über den Schieds\crtra'^f in die
\ovelle zum ( Trwcrl)e^'cricht-v.:esetz aufzunehmen. Hier wäre zu
beiiicksichlii^tn. dals die Vorschi iticn der R.(".l*.(^. ülicr den Sclneds-
\ertra^ anfanL;s für die Geweri)i tici ichte nicht berechnet waren und
dals s? 1045 (Sji a. a. <X Abs. I (Worte: .\mi>;.;ericht l.iiid-
f^ericht) immerliin zu h riumern X'eranlassun»^ ^^eben kann. W .is
al>dann den \'c»r«:rhlai^ von Ja>tr()W anlanj^t, den Schiedsvertrag für
gewerbliche Reciit>streiti<^keiten zwar fortbestehen zu lassen, ihn
al)er \on der Cienehmii^un^ der (icwerbej^a^richte aljhtui'^i^ zu
machen, .so sind wir mit demselben nicht völli<T cinvcrstanilen.
Wenn man nun einmal den Parteien die Freiheit lassen will, sich
Schiedsrichter zu erwählen, so darf man diese Freiheit nicht
durch eine bevormundende Aufsicht des Gewerbe-
gerichts einengen. Es ist zudem klar, da(s die Gewerbe«
gerichte der Regel nach die Genehmigung versagen würden,' es
sei denn, dafs man genau die Bedingungen auistellte, unter denen
die Versagung stattzufinden hätte. Letzteres wird aber nicht durch-
führbar sein.
Hat man die Absicht, die Parteien in ihrer Wahl zu be-
schränken, so wäre es angebracht, ihnen ähnlich, wie bei der
Zusammensetzung des Einigungsamtes, es zu überlassen, die
Schiedsrichter aus den Vorsitzenden und Beisitzern
des Gewerbegerichts zu entnehmen. Es würde nicht be*
'1 V. Blume a. a. O. .S. 356 und Loewenfeld in diesem Archiv Bd. XIV
S. 495 IT. Siehe aber Entsch, des R.G. in Strafs. Bd. 21 S. 1 14 f(.
Digitized by Google
I l iu r Schii-ilsvorlrUgc <Ut Art« itjji l.cr usul Ari<riiiu-liiiu r i ic.
613
mangelt werden können, wenn man den Parteien auferlegt,
in das vereinbarte Schiedsgericht Arbeitgeber und
Arbeitnehmer von gleicher Zahl zu senden.*) Den
Vorsitz hätte ein Gewerberichter zu führen. Um jedoch
den privaten Charakter des Schiedsgerichts zu wahren, mü&tc es
den Parteien freistehen, zu verfugen, ob öffentlich verhandelt werden
soll. Damit die Wahlen von SchiedsrirlUoni sich nicht liäufen und
um den Arbeiter dem gebietenden Einfluls di > Arlieiti^abcrs mög-
lichst zu entziehen, würde es vorteilhaft sein, die Parteien
anzuhalten, das Schiedsgericht gemeinsam vor dem
Gewerbc<::ericht zu ernennen.
Bis jitzt erschien es übric^ens nicht angän^io-. den Prozcls mit
dem X crlahreii wc^'cn der AhlehnunL^ eines Sciiiedstichters 7.11 ver-
binden und über l)cide Ani^u]'";.fenhc!tcn in einem Urteile zu be-
findef), da la-i^en che Lntseliridun;^ uskt \l>l(hmuu; eines Schieds-
richters nach ^; 1045 (871 R,C.l'.( ). ^«it'.nloc lioehwerdc statt-
hall i>t und die Parteien (heses Rec htsnuttels durcii das l'rteil des
CieweriuL'crirhts xerlusti;^ s^inL;eii. Pei ObjcUten utiter lOO Mk.
zumal wurde ihnen auch che Ik-rufuni^'' \ erschh'^^rii M.in. Natur-
j^'emäls verlangsamt sich bei der heuii-eu getrennten Hehantilung
die end^ülti^e hjitseheidun^ des Rechtsstreites. So ist es c'c-
kommen, dafs der Prozefs des Webers gej^cn seinen Arbeit'^nbcr
wochenlang gedauert hat und erst jüngst durch Vergleich beendet
ist. Es dürfte sich also empfehlen, für die Zukunft im Gewerbe»
gerichtsgcsetz festzusetzen, dafs der G^werberichter er-
mächtigt ist, zugleich über den Prozefs und die Ein-
reden einer Partei, welche auf Ablehnung eines
Schiedsrichters hinzielen, abzuurteilen. Während aller-
dings auf der einen Seite damit die sofortige Beschwerde verloren
ginge, wird andererseits — und dieses ist sehr wichtig — dem ge-
werbegerichtlichen Verfahren seine Schnelligkeit erhalten.
Zum Schlufs wollen wir nicht unterlassen, noch darauf hinzu-
weisen, tlafs das Gewerbegericht in seiner Besetzung das beste
.Schiedsgericht bildet und hierdurch das Schiedsgericht der R.C.P.O.
eigentlich entbehrlich macht. *) Soll doch das paritätische Schieds-
' Bericht der VII. ReicbstagskommiiakMi 6. 16 Man bat za venndden, dafs
Werkmeister tmd Arbeiter des Unteraebmers Mitglieder des Scbiedsgericbts werden.
*) Für den von uns mehrmals rrwSboten Prozefs war z. B. das Gewerbegricbt
nur mit sacbversUindigen Heisiuem besetzt.
6l4
M. von Schulz,
gericht der Gewerbetreibenden nichts weiter sein als ein Gewerbe»
gericht für den speziellen Fall und Betrieb. Dem Vertrauen, welches
man dem Schiedsrichter entgegenbringt, verdanken auch die Ge-
werbegerichtsbeisitzer ihr Amt. Hierzu kotinnt, dafs der Arbeiter
im allgemeinen zum Gcwerbej^ericht unbedingtes Vertrauen ge-
wonnen hat, ein \'ertrauen, welches er dem privaten Gericht kaum
in dem Mafse ent^a'^enbrinj^en wird. Es wird dies bezeug durch
den Artikel eines Arbeiters über die Rechtsi^ülti^keit gewerblicher
Schiedsverträi^e in der Zeitschrift „dewerbcLjericht". ^)
I'iir die Al)scliaffun^ des Srhiecls\ crtrai^i s lic/üf^lich der Ge-
werbetreibendeii ist jedoch Aussii hl norh nicht vorhanden. Was
die Mehrheit der Miti^heder der Rcichsta<^fskommission darüber
denkt, ist bereits ol)en registriert \v<:irden. Ferticr wurde bisher
norii von keiner Pro/elskodilikaiioii <]:<.< s> hiedsrifhterhciie \"er-
fahren Ix-sc itiL^t. -'l Hiernach werden auch (he Bedenken, welche
Jastrow ■"') mitteilt, zu berücksichtigen sein. P^r schreibt: ..W'iiui sich
im Anschluls an l'latzordnun^en, Tarifvertr«ä;^^e u. a. die l'arteien
KiniLiun^sämler zur Verhütung von Streiks und Aussperrun^^en
schaffen, so läge es durchaus nicht im Interesse einer sachgemälsen
F<ntentwidclung, wenn man ihnen die Möglichkeit nehme, sich auch
für den einzelnen Streitfall ähnliche Instanzen einzurichten".^)
Sollte man endlich das Institut der Schiedsgerichte in der
einen oder anderen Form für die Gewerbetreibenden beibehalten,
so wird in Erwägung zu ziehen sein, ob nicht den Parteien*
vorzuschreiben ist, dafs sie diese Verträge schriftlich
(vielleicht vor dem Grewerbegericht) schliefsen. Die Grunde der
Gegner der Schriftlichkeit in der VIL Reichstagskommission sind
nicht durchschlagend. Wie sich die Gewerbetreibenden zu einem
' i vom 6. Januar 189S Nr. 4 Sp. 47 u. 48.
- j M c y «• r a. a. O. S. j 2 1 . Derselbe erklärt e» fUr einen M i f s g r i f f , das Schieds»
},'eri< lit ah . liatTon /u wollen, selbst wenn dieses Institut nicht blofs unnötig, sondern
üügar ilbcriliis.sig sei.
Gewerbcjjcricht vom 1. März 1900 Sp. 120 a. E.
*) „Fahrikschiedsgeridite'*, wie sie Jastrow nennt, mUfstm aber unter aUen
Umständen verboten werden. Bei der Besetzung solcher Sthiedsgerichte sind die
Arbeiter vor dem Belieben des Arbeitgebers nidit genOgend gesdiUtzt. Die Fabrik-
Schiedsgerichte werden deswegen vielfach Anstofs erregen, sei es, dafs nur ein Ar»
bcitnchmcr (in unM-rcm Falle ein Werlimoistcr) zur Entscheidung berufen wird, sei
es, (lal>, wie in (Irr Kensterralimentubrik zu Leip/if; (( 'ie\verbep<-! 'i h' \r. 2 vom
4. >iovcn)bfr li>97 Sp. 19) 3 Arbeitnehmer zu Scbicdärichtem besümml werden.
^ ij . .-Lo Ly Google
Ceber Schiedsverträge der Arbeitgeber und Arbeitnehmer etc. 615
groisen Teil bereits damit befreundet haben, die Arbeitsverträge
schriftlich abzufossen (Arbeitszettel), würde sich auch die Schriftlich-
keit för Schiedsverträge einbürgern lassen. Notwendigerweise
müfsten diese schriftlichen Schiedsverträge ebenso
wie die schriftlichen Lehrverträge stempelfrei sein.
An der Hand unserer mehrjährii,ren Prozefspraxis behaupten wir,
dafs erst durch die schriftlichen Arbeitsverträge ( Arbeitszettcl) mehr
Klarheit in die Arbeitsverhältnisse, welche bespnders von kleineren
Unternehmern und Handwerksmeistern m^t Arbeitern cingc..7angen
werden, gekommen ist. Wir sehen nicht ein, warum nicht auch
die Schiedsverträge, wcIcIh- wie unsere Aljhandlung J^eigt, schwierige
Verhältnisse zeitigen, schriftlich fixiert werden sollten.
Digitized by Google
Der gegenwärtige Stand der Wohnungsfrage
in England.
\'nn
EDUARD BERNSTEIN,
in LondoD.
*
Keine l ia-^o der Sozialpolitik nimmt zur Zeit die öti'entlichc
Aufmerksamkeit iti Knj^land so in Anspruch wie die Wohnungs-
frage. Alle sonstigen Fragen dieses Gebiets sind unter der Wirkung
des nun schon seit Jahren andauernden günstigen Geschäftsganges
entweder in den Hintergrund gedräi^ worden oder spielen nur
als Spezialfragen lokalen oder partikulären Charakters eine Rolle.
Einzig die Frage der Alterspensionen nimmt noch einen breiteren
Raum in den öfTentlichen Diskussionen ein. Aber wenn sie auch
keine lokalen und beruflichen Abgrenzungen kennt, sondern alle
Glieder der Nation in der einen oder anderen Form angeht, so er-
scheint doch selbst sie zur Zeit nicht so dringend wie die Wohnungs*
frage. Denn die Wohnungsfrage ist die soziale Frage der guten
Geschäftsjahre. Zu allen Zeiten den Arbeiter und die sonstigen
kleinen Leute bedrückend, wird sie, sobald andauernd guter Ge-
schäftsu,Miv^' neue \VandcrunL,'cn in die Städte verursacht und vielen
die Möglichkeit erhöhten Komforts sich eröffnet, jedesmal von
neuem akut.
Man kann es in einem Pü 1 ausdrücken. Die Masse der
ärmeren Bc\ (ilkcrun;^^ lebt zu allen Zcitrn in zu en^jen Wnlmungen!
eine flutf udc Meiv^^c. die im Durchschiütl i^eradc soxiel Raum ein-
nimmt, um notdiirfti;^ atmen zu k('»nnen. Nun koiiinien von diesen
Millionen 1 luiukt ttau>ende in die I-a;^^e, etwas tiefer Aiem schöpfen
iw kunm-n. Sie holen aus - - und was sie dadurch mehr an Raum
in Anspruch nehmen, erzeugt an anderen Plätzen ein Defizit, eine
Digitized by Google
Drr gopciiwärtii^c Stand der Wohnuii^^ir.'^c ia I n^Lcul.
617
erstickende Enge. Als die Veröffentlicliungen des britischen Ar*
beitsamts von Monat zu Monat Lohnaufbesserungen verzeichneten,
denen so gut wie keine Lohnkürzungen gegenüberstanden, über-
raschte eines Tages die Ixindoner „Daily News" ihre Leser mit
einer Serie von Artikeln, die die Ueberschrift trugen: "Xo Room
to live", und grauenhafte Beispiele von Wohnungsnot und Wohnungs>
jammer enthüllten.
„Kein Wohnraum I" Und doch ist die Wohnungsfrage keine
neue Frage. Und doch hat es nicht an Enqueten über sie f lilt
und fehlt es nicht an Gesetzen zu ihrer Bckämpfun;:^. Und doch
sind, wie der fabianische Sozialist, Mr. Sidney Webb. in einer am
I. März zu London aliL,'ehaltencn otYentlichcn Konferenz über die
Wohnunpjsira^e ausluhrtc. im Laufe der Jahre in iMv^land \'on (le-
mctndcn uml Privati^escllschaflen mindestens 10 .Miiiiouen Pfund
Sterlin<^' für die Beliausung der arbeitenden Klassen ausgegeben
worden.
Es sei mir j^a-stattet, an diese Konferenz, die \on X'ertretern
aller Parteien besucht war, bei Erörterung,' der derzeitii,^en Wohnun<^s-
zustände und W«>hnungsgesetzgebung, bezw. Wohnungspolitik in
England anzuknüpfen.
L Die Wohn.ungsfrage auf dem Lande.
Die Wohnungsfrage ist, wie anderwärts, auch in England nicht
nur eine Frage für die .Arbeiterklasse, und ebensowenig ist sie eine
auf die .Städte oder gar nur die Grofsstäche beschränkte l'ragc.
Alle l'ebel der städtischen W ohnungsnot — sanil.ii>\\ nhigc Woh-
nungen, l 'fberfüllung der Wohnräume, Wohnungswurher — sind
auch auf dem I.andc zu tlndeii, und zwar oft in ihrer sciiHmm.^ten
Form. Mr. Clement P^dwards, der die Wohnung.>eniiuelc der „Daily
News" in Stadt und Land geleitet, gab auf der Konferenz in einem
Referat über „Schlechte Häuser auf dem Lande" drastische Bei-
spiele dafiir.
„In vielen der Kotten liegt der jnlcnc Fubboden mehrere Zoll
tiefer als <üe ThOrschwelle. Die Wolmnmmer sind oft weniger als (Hilf
Fufs neon Zoll hoch, and sehr viele Scblafränine sind blofsc .Dacliböden.
Ihr Fafsboden beginnt oberhalb der Dachrinne und die schrägen Seiten
des Daches bilden ihre WSnde. In verschiedenen Schlafräumen von
Kotten konnte ich nur gerade nnterlialb der T.inie. wo die beiden Dach*
Partien znsammentrafen , aufrechutehen. Die Ventilation war etwas au
Digitized by Google
6i8
Eduard Bernstein,
viel des Gntea. Sie schien, wie Topsy, „gewscbsen" zu sein. Man findet
sie unterschirdsl"- zwischen den Dielen, Tentärkt durch breit«- Ritzen in
d< n IXTi hcrti. und aut ihri r H ihc , wenn ein starker Wind die Wider«
standkkralt der papienicu Fcustcr-„Scbetbcn" Uberkommen hat."
Verfallen und reparaturbedürftig, sind diese Kotten oft grauen-
haft überfüllt.
„Allein in einem Teile von Wiltsbire') sttefe ich wfthrend metner
notgedrungen kurzen Unterrachungstour auf fünfzehn Fälle, wo mehr
als filnf Personen in einem engen Schlafraum hausten. In sehn Fällen
waren es nxdir ;il> seclis. in acht melir als sieben, in >'-rh> mehr al>
acht, in drei im lir al-; n -tm. in /.wci mehr als zehn, und in ciix-ni l allt
schlieten elf rcrsuucn — Vater, Mutler und neun Kinder, dn^ älteste
davon ein Mädchen von filnfzehn Jahren, in einer einzigen Schlafkammer,"
Dafs diese Benuikiitv^'cn niclu iilx rtrieben sind, bestätigt der
zusammenfassende Bericht des Mr. William C. Little, erster Hilfs-
koniiiiissar der könitjjliclien rntersucluini^skominission von i8q2 über
.Arl)eitcr\crhältnissc, wo es am Schluls heilst, dais der Zustand der
\\'n!inun;^en, in denen ein i^'rolser Teil der 1 ..iiidaiheitcr /u wohnen
haben, che „am weiii-^^ten betrieilii^cnde Seit« " ihrer I .t bensv erhält-
nisse iiiide. L'nd an einer anderen Stelle --eines Hcrichts 'i? 48)
charaktrrisiert Mi. I.iltle die Ani^abcn der Spe/.ialkoniniissare über
diesen Punkt wie ful^i; ,.Ks ist unmo^dich, diese Ik'richte zu lesen,
ohne den [)cinlichi ii Iviiulruck zu empfangen, dafs der Laiularbeiter
zu häufig und zu allgemein unter Bedingungen Icljt. die ])h\ sisch und
moraliseh ungesund und al)stolsend sind." (hil'th and i inal Report
of tlie Royal Commission of I^abour I, p. 2091.
In diesem Bericht finden sich aucii schon alle die Umstände
angezeigt, die einer Verbesserung der Wohnverhältnisse auf dem
Lande entgegenstehen. Interessengegensätze, Tragheitswiderstande
— darunter auch solche der Arbeiter selbst — und in einem Teil
der Fälle auch Mangel an Mitteln sind die Ursachen, weshalb in
diesem Punkt der Fortschritt sich langsamer als in anderen voll-
zieht.
Die besten Arbetterwohnungen ünden sich auf den Gütern
einer Reihe grofer Landlords.
„In England und Schottland sind die Verbesserungen und die An-
erkennung eines höheren (\Vohn*)Ideals in hohem Grade dem Beispiel
geschuldet welches eine Aniahl Grundbesitzer geliefeft haben, die viele
LandwirUchaftUchc Grafschaft in Süd-England.
Der ^c^cuwärlißc Stand der Wohnun^-it.i^«- in Kngland.
619
Jahre hiudiirch konsequent sich die Verbesserung der Lage der Arbeiter
auf iliroii Gttteni lur Aufgabe gemacht haben. In vielen Fällen sind diese
Grundbesitzer über die Wünsche und Ansprüche ihrer Arbeitt-r hinaus»
{jeganfjen und haben l)esscre Häuser für sie gebaut, als »ie sie xur Zeit
/.u schät/.en wissen." Mr. I.ittle, ^ 43.^
Dafs die Landarbeiter \ ielfach erst zur Würdigung eines ordent-
lichen und gesunden Heims erzogen werden müssen, ist ohne
weiteres zuzugeben. Es ^iebt aber noch einen zweiten Umstand,
der die Arbeiter abhält, die von solchen I^ndlords errichteten
Häuser zu benutzen. Es ist das System der Bindung dieser Häuser
an Pacht;4Üter. Die Pächter, die von den Grundbesitzern Boden
pachten, bestehen darauf, d.iW ilinen nnt diesem Boden eine [ge-
wisse .Anzahl von Kotten zm Wrfui^un^ ^esteUt werden, so dafs
sie die Mietsherrn ihrer .Arbeiter werden. W'as das für diese be-
deutet. Hegt auf der Hand. „Aulscr .Arbeit, aufser der Wohnung;",
erklärten die Eniui.u Initer dem Mr. Edwards. „Der .Arbeiter zieht
es ents( Iiifdcn \or, direkt beim Pligcnlüincr zur Miete zu wohnen",
heifst OS im Bericht des Mr. I.ittle 50. Der .\rbeiter will für
seine Wohnung; nicht von seinem unmittelbaren l.nhnhcrrn ab-
hängen. Er zieht es oft vor, weit entfernt eine elende Baracke
oder cinijj^e Kammern in einer solchen zu mieten, als die bessere
und billigere Kotte zu beziehen, die ihm der Gutspächter bietet.
Er schätzt seine Unabhän^Mgkcit höher als den Wohnungskomfort.
Was aber vor allem auf dem Lande fehlt, sind freihändig erhältliche
Wohnungen. Vom Bauen auf Spekulation ist bei der Unsicherheit
der Verhältnisse auf dem Lande wenig zu erwarten, und in den
Gemeinde* und Distriktsräten, wo die Bauern, bezw. Pächter über*
wiegen» fehlt es teils an dem nötigen Gemeinsinn, den Bau von
Häusern selbst in die Hand zu nehmen, teils sind auch die Voll-
machten dieser Körperschaften zu beengt
So stellt sich, trotz der sonstigen Verschiedenheit der Verhält- *
ntsse, das Wohnungsproblem auf dem I^nde in den Hauptpunkten
ähnlich wie das in den Städten und weist auf gleichartige Mittel
der Abhilfe: Stärkung der Position der Sanitätsbeamten (die heute
in viel zu grofser Abhängigkeit von den Bauern und Pächtern sind,
um ihnen energisch entgegentreten zu können), Ausübung stärkeren
Drucks auf die Gemeinden und Distrikts(Kreis)- Vertretungen, um
sie zur Erfüllung ihrer Pflichten zu bewegen, Aufhebung lästiger X'or-
schriften, die den Gcmcinflen das Aufnehmen einer guten Baujjolitik
zu umständlich und kostspielig maclien. Da wir diesen Vorschlägen
620
Kduard Rcrniitcin,
auch bei Behandlung der städtischen Wohniingsfraf^c be^^^cL^nen, er-
übrigt es sich, hier genauer auf >ic cin/u-clu n. Fc'^t;4t■-^t(llt sei
dagejjen noch, dats }*älle, wo wirkliche 1 nularbeiter eigene Häus-
chen besitzen, nach dem Bericht des Mr. Little nur vereinzelt vor-
kommen.
II. Die städtische Wohnungsfrage.
Ks licj^t auf der liand, dats die \Vohnuiu,'sl'ra^'e in <lcn Städten
je nach deren (ir'il>e in .uulcrcn !-if iiuii auftritt. Aber nur in
(janz \crciii/.cllcn I Tillen sind tlie n inuntei -eliietlc von solchen der
Art bc:^loitet. iJals in einer kkintn Statit die Rnunucrhältiiisse
nicht die ideiehe RmHc spielen wie in tler ( ir« iissiadt. d. h. dafs
auf die räunilielie < i i uj •] »lenui^ der Mauser weni^ ankoiunit, weils
ein jeder. .Aber nicht )eiler weii>. dals selbst das scheinbar .spezi-
fische Leltlcn der ( irolsstädte, die L^rolse I'.nllernun^ vier .Arbeits-
stätte von der Wohnsiätte, auch Ln kleinen Städten nicht unbekannt
ist Wohl spielt es sich da nicht im Rahmen eines Orts aK Aber
häufig genu^ zwingen die Wohnverhältnisse den Arbeiter, an einem
anderen Ort zu wohnen, als wo er arbeitet. Wohnungswucher,
UeberfüUung der Wohnungen und sanitätswidrige Beschaffenheit
' der Wohnungen sind, wie jeder Fachkenner weifs, nicht von der
Gröfse des Orts abhängig.
Es kann daher iiir den Zweck dieses Artikels von der separaten
Behandlung der Grofs-, Mittel- und Kleinstädte abgesehen werden.
In den Hauptpunkten fuhrt die Wohnungsfrage überall äuf die
gleichen Grundfragen. Es sind nur Xebenfr^en oder die Gradver-
hältnissc, die differieren. Und da zeigen Orte der gleichen Gröfsen-
stufe oft stärkere Unterschiede auf, wie der T)Lnchschnitt der einen
Gröfsenkl 1V--C zu dem andrer, rnterschieile der Lage, der Boden\ er-
teiluii.:, des Wohlstands, der Klassen- und Berufsgruppierung, der
Ueberlieferungen u.s. w. schaffen überall gewisse Besonderheiten und
lassen hier eine bestimmte Seile des lV<tblems stärker hervortreten
als dort, oder eine andere \öllig zurücktreten. Im konkreten ball
gilt es tlaher. diese lokalen lk'>underheiten zu erkeiuien uikI nach
ihnen die Methoden der .Abhille ein/urichten. bür die piin/if)ielle
Betrachtung kann von solchen l^i 'iiderheilen abgesehen werden.
Was >ie l)raucht, sinfl tvpische Jjei^j'iele für die Grundfragen des
W'ohiumgsiiroblenjs be/\v. der W'ohnungsjiolitik.
hl dieser Hinsicht ist nun die Kiesenstadt Lontlon eine wahre
j _ d by Google
Der gegenwärtige Stund der Wuhnungslragc in Kngland.
621
Musterkarte der Wohnungsfrage. Es giebt kaum einen Tyi>u.s, der
hier nicht vertreten wäre. Keine zweite Grofsstadt der Wdt ist so
differenziert und dezentralisiert wie London. Handelsstadt und
Fabrikstadt, Luxusstadt und Gartenstadt finden wir in London in
variierenden Typen bald fast streng gesondert nebeneinander, bald
als Konglomerat zusammengewtrbelt, Ueberreste aus allen Jahr«
hunderten neben modernsten Schöpfungen. London ist bekannt ab
die Stadt der gröfsten Kontraste. Aber nicht das ist der bedeut-
samste seiner Kontraste, dals es zugleich den gröfsten Reichtum *
und die bitterste Armut birgt. Mit nur wenig Modifikationen zeigen
das andere Grofsstädte auch. Aber nirgendwo anders in der
Welt fitidct man gleich grolsi- Kontraste in der Lebensweise von
Angehörigen der gleichen X'olkskiasse, der gleichen Berufsschicht.
Und diese Kontraste sind im hohen (irade Produkt tlcr verschieden-
artigen Wohnunc^^x crhähnisse Londons. Mehr als das Kleid, ist es
die Wohnung, (hc den Menschen macht. Bei derselben Lohnhöhe
wird der Arbeiter , der in gewissen X'ierteln der inneren Stadt
Wohnung nimmt und behält, mit so und viel grölserer Wahr-
scheinlichkeit zum Säufer, >i ine I'Vau zur Schmut/.finkin, seine Kinder
an das Tragen zerri^^t iur Kleider gewöhnt, als wenn er ein Häus-
chen in einer der X'orstäilte iKväeht. Keine < inilsstadt der Welt
vereint so \icl Stoll zu einer, wenn nicht re\ nkitionären. so doch
radikalen Arbeiterbewegung. wi( London. Wenn aber in London
die Arbeiteii)ewegung scliwächer, zur andauernden selbständigen
Bethätigung unfähiger ist wie die jeder anderen ('irofsstadi, so tragen •
die Loiulotur Wohin erhältnisse hieran den \ornchmstcn Anteil,
l nmensciiliche Höhlen, die im Laufe tler Zeil alle Spannkraft des
Geistes ertöten, oder unmensciilichc Entfernungen, die zwischen
denen, die zusammengehören, keinen intimen Verkehr erlauben,
das sind die Scylla und Charybdis der Wohngelegenheiten der
Londoner Arbeiter. Mit dem, was zwischen ihnen liegt, umfassen
sie alle Probleme der Wohnungsfrage der Neuzeit
Man kann diese Probleme, die natürlich mannigfach inein-
andergreifen, in vier Gruppen verteilen, und zwar:
1. Sanierung und Instandhaltung der Wohnquartiere, sanitäre
Beaufsichtigung der Wohnungen und Mafsregeln gegen ihre
UeberfUUung;
2. Fürsorge iiir ausreichende Wohngelegenheit;
3. Schutz gegen Wohnungswucher;
4. Fürsorge für ausreichende und billige Verkehrsmittel.
Digltlzed by Google
622
F. duard Bern. stein,
Was die erste Gruppe betrifft, so weichen die sie betreffenden
Gesetze nicht wesentlich von denen des Festlands ab. Die Grund-
sätze für die Zusammensetzung, Rechte und Pflichten der Sanitäts-
behörden sind durch verschiedene allgemeine Gesetze festgelegt
(Public Health Acts), während für die Baupolizei meist Spezialgesetze
oder örtliche Verordnungen soi^en. Zu Beschwerden geben hier
weniger die au%estellten Grundsatze der Wohnungshygiene Anlafs,*)
die rationell genug sind, als die mangelhafte Durchführung derselben.
• Es sind zu wenip; Beamte dafür da, ihre Rechte sind nicht aus^jedehnt
genug, und sie sind auch oft nicht unabhängig genug. Dir Sanitäts-
liehörtlen sind Organe der Selbstverwaltung, und wo diese in den
Händen der Grundbesitzer ist, sind die Aufsichtsbeamten, die ihre
Pflicht zu streng nehmen, Mafsregelungen aller Art (Xichtwieder-
wahl etc.) aus^jesetzt. Dies gilt, wie wir sahen. namcntHch von den
ländlichen Sanitätsl)ehörden. Xarh dem Public Hcahh Act von 1875
bilden auf dem L.andc die Aniu iii iiie die Sanitätskommission ihres
Distrikts, und bis 1803 waren diese ausschliclslirli aus der Klasse
der Rcsit/eii(icn zusamniciv^esetzt. Imsi in jenem Jahre hob der
Minister Fowler durch einen Rr;^^icruni^sakt den W'ahl/.ensus auf,
so dafs jetzt alle scll>sländi<:jen Mieter — auch Frauen — (ia^ aktive
und passive Wahlrecht liabcn. Das liat tlen Räten schon vielfach
frisches Blut zugeführt, du(^h ist noch zu kurze Zeit verstrichen, als
die Rückwirkung jenes Akte> sich im vollen M.ifsc hätte geltend
machen können. In den Städten sind die Gemeindevertretungen die
Sanitätsbehörde, und da gilt so ziemlich diis gleiche. Die Demo-
kratisierung des Wahlrechts ist noch zu neuen Datums und nicht
weitgehend genug, als dats sie jenen Vertretungen den Charakter
der Vertretung der Besitzenden schon völlig hätte nehmen können.
Aber England hat wenigstens keine spezielle Klassenvertretung der
Grund> oder Hauseigentümer, das Wahlrecht ist vielmehr durch-
gängig ein solches der Wohnungsinhaber, so dafe das Mieterinteresse
fast überall den Ausschlag giebt
Die Sanitätsbehörden unterstehen, ebenso wie die Gemeinde*
vertretur^en in ihren sonstigen Funktionen, der Aufsicht des Mi*
nisteriums für die Ortsverwaltui^en („Local Government Board").
Es überwacht die Innehaltung der diesen Behörden gesetzlich zu-
') Indes wird bebftuptet, d*fs die Londoner Bawerordnoag von 1894 ittr »>•
genannt«- I^lockhäuscr (^rnr<;e massive Gebinde mit vielen Stockwerken) nkfat ge*
nVscnd Luftraam sicher stellt.
^ ij . .-Lo Ly Google
Dir jjtj;t n\vuriij»o Slaiul der Wulmungslra^c in Kngland. 02 J
gemessenen Vollmachten und kann sie gegebenenfalls zur Beob*
achtung ihrer Pflichten anhalten.
Wo es sich lediglich um Anlegung neuer Wohnquartiere bezw.
den Bau neuer Wohnungen handelt, stehen der Ausübung der Sa-
nitätspolizei keinerlei nennenswerte Schwierigkeiten gegenüber.
Ihre Vorschriften werden da meist ohne Anstand befolgt Die
Schwierigkeit ist der Kampf mit der Ueberföllung und Verrottung
bestehender Wohnhäuser und der Verseuchung von Wohnquartieren.
Hier ist die englische Freiheit vielfach ein Hemmnis des Fort-
Schritts, indem sie dem p a s s i \' e n Widerstand zu gute kommt,
den nur zu viele Mieter den Anordnungen der Sanitätsbeamten ent-
gegensetzen, sofern sie sich nicht überhaupt deren Konirolle ent-
ziehen. Das zweite Hemmnis ist die UmständUchkeit und Kost-
spiclii^'kcit des R n t e i g n u n g s v e r f a h r e n s I )ei der Lichtung bczw.
Niederlegung ungesunder und übervölkerter Ouartierc. I'iir London
biklet eine dritte SchwieriL^kcit die \'nrschritl des Gesetzes von
l8r;o ül)er die Ik'hau->utiL,' der arltcitciideii Kla^^en, dafs durl l)ei
jedci- snlrhcr XiederltL^img che l)ttret1entie Hehi)rde itn gleichen
Distrikt uuiulcstens ebensoviel neue \V o h n u n c n für Arbeiter
herstellen oder lierstellen lassen niufs, als durch das Lichten be-
seitigt werden.')
Wir sind daniit an einem Punkte aiiL^ciaiiL^t, wo der Kanijtf
gegen samlätswiiirii^fes Wohnen mit dem Problem der Sorge für
ausreichende V\'ohngelcgenheit /.usanimenfällt , be/.w. in dasselbe
übergeht. Lichten von Quartieren iieifst Erweiterung des Luftraums.
Die Stra&e oder Strafsen werden erwettert, die Höfe oder sonstigen
Räume hinter den Häusern* desgleichen, neue Stra(sen werden
durchgebrochen, neue Plätze angelegt. Sollen also dieselbe Zahl
Wohnungen erstellt werden, die vernichtet wurden, so müssen ent-
weder die neuen Häuser erheblich höher gebaut werden als die
alten, oder es mufs auf noch gröfserer Fläche operiert werden als
sonst nötig gewesen wäre. Denn leere Häuser oder Grundstücke
sind gerade in der Nachbarschaft solcher Quartiere Londons selten
aulzutreiben.
Gut gemeint, wie die Vorschrift war, hat sie so das Lichten
*) Art. 1 1 des Honsing of tbe working classes Act. 1890. Nach AbsaU 3 des-
selben Pangrapben kami auch fttr Lichtungsprojekte in anderen Städten diese Be-
dingung vorgeschrieben werden. Aber hier ist es dem I^r^le^scn der Aufsichtsbehörde
anbetmgesteUt, ob die örUicben Verb<nissc die Verfügung nötig machen oder nicht.
624
l. d u a r <l Iii: r n » l f I n ,
sanitätswidriger Quartiere zu einer überaus kostspieligen Sache -ge-
macht, die allerhand neue Uebel nach sich zieht. Die neuen
Wohnungen, welche die Behörde — d. h. also in London der
Grafschaftsrat — erstellt» sind für die Masse der aus den alten aus-
quartierten Mieter gewöhnlich von keinem Nutzen. Denn die Be-
hörde verlangt von den Mietern Einhaltung der Sanitätsvorschriften,
wie sie dem Gesetz zu Grunde liegen, und bietet ihnen einen
Komfort» für den sie, so bescheiden er ist, teils nicht die Mittel,
teils aber auch noch nicht den Sinn haben. Es ist über jeden
Zweifel hinaus festgestellt, dals stets eine andere Klasse von Mietern
in die neuen I Tanger ( iiizieht als aus den alten ausc|uartiert wurde.
In (1cm Cläre Market Quartier, unweit Drury I.ane, das vor einigen
J.ihren mit Li^rofscm Kostenaufwand ^^^oliclitct wurde, sind in den afi
Stelle der alten erbauten neuen Arbeitcrwolinungen noch nicht 2o
Familicti '^-fuiulen worden, die in den niedcrj:,a"nssenen Mäusern i:je-
wohnt hatten. In die W'ohnujf^'cn, die der Londoner Grafschaftsrat
in H()undar\- Strct i, i^rthnal < noon 'Kastetid) errichtet hat und die
am 3. Marz ti. J. nnt einer Ansprache des l'rin/en von Wales er-
öffnet wurden, welciie die>eni selbst <.lcn iieifall sozialistischer
Blatter eintrul,^ sollen, wie auf einer ani 30. März in der Ij uidoner
^ (luildiiall abi^chaltenen Konferenz von .Xrnienräten erklärt wurde,
nur sechs der ursprünt^lichen Mieter ein^ezo^en sein. Diese Woh-
nuni^en, die auf 5 3S0 Personen berechnet sind, kosteten den ( iraf-
schaftsrat über 12'^ Millionen Mark — auf die funfkojjtige 1-aniiHc
eine Ausgabe von tlurchschnittlich i2 500 Mark. Dafür kann man
aber in den Londoner Vororten schon eine ganz nette kleine Villa
haben. In dem Cläre Market Distrikt bei Drury Lane (Mittel London)
stellt sich aber der Kostpreis noch viel höher. Hier wäre es billiger
gekommen, jedem Mieter eine recht anständige Villa in einem der
Vororte zu bauen, statt Arbeiterwohnungen auf Boden zu errichten»
auf dem eine hohe Vorzugsrente ruht. Diese Rente wird jetzt den
neuen Mietern» die einer ganz anderen Klasse wie die alten ange-
hören» mit in den Kauf gegeben. Wohl dem» dem sie zufallt, aber
eine rationelle Wohnungspolitik ist das nicht. Zumal unter der
Hand doch voraussichtlich alle möglichen Geschäfte mit dieser
Rente werden gemacht werden und in ihr ein starker Anreiz zur
Bestechung der betr. Verwaltungsbeamten und zu anderer Korrupt
tion liegt.
Wo aber bleil)en die aus(::fcmieteten Bewohner der zerstörten
Häuser? Nun, sie ziehen nicht in die X'ororte» sondern suchen meist
Digitized by Google
Der gegenwärtige Stand der Wubnungstragc in England.
625
SO nahe ihrer alten Wolinungen wie nur möglich irgend welche
Unterkunft zu finden, da sie dort ihren kärglichen Verdienst haben.
Und da sie an Reinlichkeit, Komfort, Raum die denkbar geringsten
Anforderungen stellen, so finden sie auch neue Unterkunft, denn es
ist ein gutes Geschäft, durch „Zerschlagen'* grofserer Wohnungen
Wohnhöhlen — „slums" — zu fabrizieren. Und so bildet sich bald
in der Nähe des eben beseitigten ein neues Höhlenquartier.
Ueber die Einträglk^hkeit der Verwandlung menschlicher Woh>
nungen in Wohnhöhlen schreibt Mr. Haw, einer der Kommissare
der „Daily News", in der Schrift „No Room to live", die die Woh*
nungszustände Londons behandelt:
* „Manches in einer Seitengass« von Bennondsey oder'dnem der Hüte
von Betknal Green (eng bevölkerte Arbeiterviertel Londons) gelegene
Hiuschen von sechs Räumen tr%t fiir jeden Raum sechs Schillinge die
Woctir chIit 93 Pfd. Stcrlg. das Jalir, während auf den Anhöhen vot»
Highgal'- <»1'T in dm Allron von Dnlwidi dio Mi.-f>_' rin<T klrini-n Vilhi
von acht Kaiinn ii mit Badcvurrichturi;,' uii l ( i.irtm vorn und liint' ii s;init
der Steuer 50 I'ld. im Jahr nicht übersti igt. Wie der (christlicii-^'^/ial.-)
KanoEÜkas Scott Hollaad bemerkt liat, scheint es die Regel zu sein, d iu
.das Gesetz der Rente sich unter heutigen VerhiUtnissen so gestaltet, dafs
je inner ein Distrikt wird, seine Renten um so höher steigen'.'*
Mit Bczu^ auf die X ilh n in den ;^n ti.uinteti X'orortcn hat der
Verfasser vielleicht etwas zu ojjtiinistisch ^n->elien; man findet sie
wohl zu jenem Preis, alier dann sind (lürten und Zinimcr sehr klein.
Indes kann man für wenii^c Pfund mehr in der Tliat in den X'or-
ortcn I.oiulons ein wohnliciics Flaiis hal)en. Aber das mit dem
Steigen der Reute in den ul)cr\ ulkerti ri Distrikten ist niciit ul)cr- •
trieben. In den verschiedensten Formen, die dem Oekonomie
Studierenden Anscliaulichkeitsbeispiele ersten Ranges bieten, bricht
sich das Gesetz der Vorzugsrente daselbst durch.
Es ist keineswegs immer der Eigentümer des Grund und Bodens
oder der des darauf erbauten Hauses, der die Zuwachsrente ein-
streicht Das eigenartige Bodenbesitzs)'stem Englands bewirkt es,
dals sich zwischen dem wirklichen Grundeigentümer und dem
wirklichen Insassen einer Wohnung eine ganze Reihe von Zwischen«
Pächtern schiebt« so dafs es oft ein schier unlösbares Problem ist,
festzustellen, wer nun eigentlich für die Oeflentlichkeit der haftbare
Vermieter ist Der Grundbesitzer hat gewöhnlich den Boden zu
einem bestimmten Pachtsatz auf 99 Jahre oder länger verpachtet,
der Pächter hat nun den Boden entweder bebaut oder unbebaut
Archiv für toi. Gc«eisge1>niic n. StMwtik. XV. 4t
uiyiiizeo Dy Google
626
I . tl u a r d Ii c r ii s l c i n ,
parzelliert und weiter verpachtet, auf Bau- oder Reparaturpacht-
verträge hin,') und diese Verträge haben mehrmals die Hand ge-
wechselt, bis endlich ein Kaufer zwar das Haus behält, es aber auf
längere Pachtfristen (3 Jahre oder mehr) weiter vermietet. Der
letzte Mieter des ganzen Hauses mag es seinerseits „parzelliert", d. h.
es in Teilwohnungen auf kürzere Fristen vermietet haben, w^o dann
auch noch weitere L'iitervermietung möglich ist. Inzwischen mag
der urspriin^lirhc Grundtitel auch einige Uebertra^un;_,fcn durch-
gemaclit liahcn oder verhypotcziert worden sein, (k<;4l( ichen das
Heinifallrecht des Bau Pachtvertrages, und so ist ein Ratten!« »ni-; von
Rechtsverhältnissen cntstamloii, wie er verwickelter kaum denkbar
ist. Der all'^emeine Ruf hl denn auch nach Anlage und Führung
oftizieller Rej^ister tier haflbcircii ( irundhcrrcii.
Auf der vorerwähnten l- ruitnunL^sfeier in Hcthnal Cireen gab
ihm der Prinz \on Wales in t<ilL;etulen Worten Ausdruck:
,,IlotY«:ntlirh wird 'li<- < i' -.i t/.f;pbunt; bald in <i<"r I/.i;;-- si in, in 'Sa<'l)i-n
derjenigen, die für gcsundlicitswidriges (\Voljn-;L,igcntum vcranlworilKh
sind, Beschlüsse zu fassen. Nienumd kennt besser als ich die Schwierig-
keiten, die den Besitzer von Londoner Freigut nmgeben. Ich bin der
Nominaleigentilmer von einigem Grundbesitz in Lambeth (ein Arbeiterviertel
südlich von der Themse), aber ich habe leider keine Verfilgung darüber,
wenn auch das Publikum glaubt, es gehöre mir. Thats.-ichlirh bin ich
zur Zi'it ohnmächtig, denn om Teil dics< > T'oil. n- i-t in Form von I^au-
]);\chtcn lür L<il)rfntfn vrr;)acht(t, und d<T ändert- uiU'-r l iin-m bc->oiuKrcn
l'arlanientsikt , der erst 1909 abläuft." (,i,Thc Municipal Journal" vom
0. M:ir/. 1000.)
In ahnlicher Lage wie der Prinz befindet sich die bekannte
Führerin der Tempcrcnzbcwc^'uii^', Lady I lenry Somerset. Die sehr
philanthropische Dame kann absolut nichts dagegen thun, da(s auf
ihr gehörigem Boden im Bezirk St. Pancras, Nord London, ein
Höhlenquartier schlimmster Art steht. Und so in unzahligen an-
deren Fällen. Wohl mochte daher der Prinz in der vorerwähnten
Rede fortfahren:
„Ich würde mit Frenden ein Gesetz willkommen heifsen, das den
Grandbesittem die Verfügung Uber ihren Besitz, die sie niemals hSttot
aus der Hand geben snllcn, unter gehörigen Bedingungen zarückgäbe, so
daf'i ich in die Lage käme, dafür zu »iorf^r-n, dal-> die Mieter auf meinem
(.irundbeMt/. in Lanibeth ebenso bctjucm und wohlversorgt wohnen, wie
ich sagen kann, dafs es in Norlolk der Fall."
^) Building-, bexw. Repairing Lease. Bei der letsteren verpflichtet sich der
Mieter zu bestimmten Reparaturen.
Der gcgcnwiirtißc St.ind diT \Vt>linun;;s!i.im- iti l.nj;i.uul.
627
Die gute Absicht des Prinzen, der als Gutsherr in Norfolk be-
greiflicherweise Musterlandlord ist, in allen Ehren, und die Kot-
n'cndtgkeit der von ihm verlangten Reform unbedingt zugegeben,
i>t es nach dem Vorstehenden klar, dafs, wenn er in der Lage wäre,
seine Absicht auszuführen, die Mieter, die jetzt auf seinem Boden
wohnen, einfach das Vei^nügen hätten, ihr Quartier in Lambeth
wechseln 7.11 müssen.
„< i ^ >e Blockwohniin^xn", schreibt Mr. Haw, sind den Armen
unzugänglich, wenn sie sich nicht entsclilicfscn, den Hauswart zu
bestechen". In vielen Distriklen il( ^ 1 »^thchen London ist es Sitte
i^ewordcn, unter der Finna dc> liüher blofs nominellen „Schlüssel-
j^eldes", hohe rrUmien für die l eberlassuni^ von \Vohnun;^en zu er-
pressen, äiinlich wie sich heute in hlaiul Bauern, tlcren Pachtsatz
\'on den A^'rarLjerichten ,.;e>i t/lich fixiert ist, '^'^c^n-hciu nfalls von den
l'ärhtern, denen sie ihre Stelle aljtrclc n, Abslandsprämien zahlen
lassen. In der einen I'orm bcsciti'^l, taucht die Rente in ir^^end
einer anderen wieder auf. Nun lic^^^t es in der Xatur der .'^nchc,
dals sich die X'iirzuj^srenti' niemals vollief wird 1 ie--.eitiu(en lassen, so-
l.in^e man nii^ht zum absnluten Kommuiüsmus auf umfassendster
( jrundlagi' ubei|;(. ht, und selbst daru» sind noch X'erluiltnissc möt^lich.
ilic \'orzu«.,'spositioncn .schatten; die Menschen koiuicn nicht alle auf
einem Platz sitzen. Aber unter allen gesellschaftlichen Zuständen
lassen sich Mafsregeln treffen, welche die unvermeidlichen Vorzugs»
renten auf das geringste Mals reduzieren und die gröfstmögliche Aus>
^deichung schaffen, die mit dem wirtschaftlichen Gedeihen des ganzen
Gemeinwesens verträglich ist. Aus dem Vorherentwickelten wird
zur Genüge erhellen, dafs eine gesunde städtische Wohnungspolizei
gleichzeitig ein Kampf gegen die städtischen Vorzugsrenten sein
mufs. Es giebt denn auch keinen Wohnungsreformer, der
diesem Erfordernis nicht in der einen oder anderen Weise Rech>
nung trüge.
III. Bisherit^'c A b h i 1 f c ve r s u c h c.
Dals inbezug auf das Wohnungswesen die Manchesterpolitik
»igcw<^en und zu leicht befunden" ist, bedarf keines besonderen Be>
weises. Freie Konkurren/ und Angebot und Nachfrage sind gegen
eine Reihe von rel)clständen ohnmächtig. An unternehmungslustigen
Baumeistern fehlt es durchaus nicht, die spekulative Bauthätigkcit
rastet ganz und gar nicht. .'\ber sie schafft oft nur neue Uebel
41*
Digitized by Google
628
Eduard Bernstein,
Statt die altea zu beseitigen. Wohnungsnot und leerstehende Woh-
nungen finden sich überall nebeneinander. Hs werden nicht zu
wenig Wohnungen gebaut, es werden aber zu wenig Wohnungen
fiir die Klassen von Mietern gebaut, die am meisten unter der W'oh-
miii^'snot leiden. Was die private üntemchmerthätigkeit in dieser
Hinsicht leistet, schafft entweder zu teure oder zu schlechte Wohn-
häuser.
Auch die von gemeinnützigen Gesellschaften oder
Stiftungen ausgehende Hilfe hat ^irli als unzulänglich erwiesen.
London hat eine j^'an/e Reihe solcher Institute. So den weltbe-
kannten Peabody Trust, den Guinness Trust, verschiede rx- Aktien-
gesellschaften für den Bau von Wohnungen für die ^anverlisthätigen
Klassen (Industrial Dwellinr^s Companics) und die von Lord Rowton
gegründete Gesellschaft für den Bau und Betrieb von Loj^ierhäusern,
bezw. Herbcrt,'cti. Daneben bestehen unzählii^e Bau;^esellschaften,
che Arbeitern, kleinen Beamten etc. Mittel zum Bau oder Ankauf
kleiner Häuser x-orschielsen. Neuerdin^^'s sind auch \ir-.rliiedene
Konsuiüi^t iK issenschaften dazu über^< .^^Tni'en, Baugrund anzukaufen
und in r.u/ellen zu mäl-i<^en Siitzen an kleine Leute zu verpachten,
die sich ihr ci-^enes Haus erstellen wollen. X'iele Konsuni;^eTu>'<sen-
schatt<Mi haben aulscrdem Bauvorschulskassen, ') des-j^ieichcn eine
Reihi- von freien Hilfskassen, sowie auch verschiedene ("icuerk-
veieinc (u. a. der grolse (icwerkverein tlcr Maschinenbauei (. Im
vorigen Jahre (iJ:>99l hat die Regierung ein Gesetz ausgearbeitet
und zur Annahme gebracht, dafs die Grafechafts-, Stadt- oder Be-
zirksvertretungen ermächtigt, kleinen I^ten sokhen Bau- oder Haus-
erwerbsvorschufs zu machen und zu diesem Zweck gegebenenfalls
Anleihen aufzunehmen. Das Gesetz, das den Titel trägt: „Small
Dwellings Acquisition Act, 1899 (62 u. 63 Vict.^ Chap. 44)**, ist ein
Werk des Ministers Chamberlain und bestimmt, da(s
I) der Marktwert des lu erwerbenden Hauses 400 Pfd. Sterl. nicht über-
steigen darf;
3) der Vorschufs bis an vier Fünftel des Marktwerts liehen darf, aber
240 Pfd. Sterl. oder, im Fall mit dem Hanslcauf der Erwerb einer Boden»
packt von mindestens 99 Jahren Dauer verknüpft ist, 300 Pfd. SterL nicht
übersteigen soll;
3) der Erwerbende das Haus selbst bewohnen und in gutem Stand erhalten
') Nach ein<T neutrrcn S!ati-;tik haben di«- britischen Konsumgenossenschaften
bis jeut 5 147 536 Pfd. SterL, d. b. gegen 103 Millionen Mark in Häusern angelegt.
Der gegenwärtige Stand der Wohnungsfrage in l^ngiand. 639
mar»; (von der Verpflichtung des Sclbctbewobnens kann nntcr bestimmten
Umstünden zeitweise Abstand genommen werden.)
4) der Zins (ttr das Dnrleben nm nicht mehr als Proz. höher sein darf als
der Zinssatz, den di<> brtrcfTt-ndc nenu-inde selbst an das Staatsamt f&r Be«
triebsvorschüsse zu zaldrn haben würde .
5) der Termin fiir i1i>' Ahz;ddung des Vorschu'^vr-^ iln if-iii:; Jahre nicht iiher-
srlireiten, die Abzahlung in mindestens halbjiilirigen Katen erfolgen soll.
Andere Bestimmungen trcfifcn Fürsorge für rchcrtnigung des
liitrentumstitels im Falle von X'eräufserimg, Tod etc., für Rücküber- "
nähme und \>räufscrung durch die betreffende Behörde im Falle
von Zahlungsuiifähij^kcit, sowie für die nötige Kontrolle und die
Form des \'^crfahrens.
Fs ist kaum anzunehmenT'dnrs dieses Gesetz Wesentliches zur
Milderung des \\'ohnuiigs|)r<>blems beitragen wird. Nichts ist heute
leichter zu erlangen als ein solcher Bauvorschufs , sofern man nur
die erforderten mälsigen Bürgschaften zu bieten vermag. Die kapi-
talistischen und ganz oder halb genossenschaftlichen Bauvereinc über-
laufen die kleinen Leute mit ihren .\nerbietungen. Der sefshalte,
besser situierte Teil der Arbeiterschaft braucht diese Art Staatshilfe
heute nicht, und die wirklichen Opfer der Wohnungsnot erreicht
sie nicht. Allenfalls kann sie im X'erein mit den kai)ilalisu.schen,
philanthropischen uml genossenschaftlichen Schöpfungen ähnlicher
Art dazu beitragen, einen besseren Mafsstab für eine gewisse Klasse
von Arbeiterwohnungen zu schaffen und auch einen Malsstab für
den Normalpreis solcher auszubilden, aber auch das wird, da die
Malsregel /akultativ ist, sehr viel Zeit beanspruchen.
Die Bau vereine, die sich in England früher als antlerwärts
ausgebildet haben, stellen sicher heute eine sehr ansehnliche Kapital-
macht dar. Im Jahre 1898 gab es im Vereinigten Königreich nicht
weniger als 2586 eingetragene Bauvereine, von denen 2495
gistrieramt Bericht gaben. Danach war ihr Mitgliederbestand 612 S74,
ihr Anteilskapital 34,6 Millionen Pfd. Sterl., neben 21,5 Millionen
Pfd. SterL Einlagen und sonstigen Guthaben, sowie 3,3 Millionen
Pfd. nicht erhobener Dividenden — in Mark insgesamt Weit über
eine Milliarde durch Hypotheken, sonstige Forderungen und Bank-
bestände repräsentiertes Vermögen. Und das sind nur die einge-
tragenen Bauvereine. Aber bei weitem nicht alle Mitglieder der
Bauvereine sind Arbeiter, und ebensowenig sind alle Einleger Haus-
erwerber. Für viele ist der Bauverein nur eine Art Sparbank, da
die Postsparkassen blofs bis zu eiAem gewissen Betrag Einlagen an-
Digitized by Google
^ l'^ il u a r d H <: r n > l im n ,
nehmen. Jedenfalls lösen die Bauvereine nur fiir einen Teil der
besser gestellten Arbeiter die Wohnungsfrage, und auch dies eher
in Klein- und Mittelstädten als in London und den grofsen Emporien
des Nordens.
Die von den früher genannten Wohlthätigkeits-^Trusts", den
halbkapitalistischen gemeinnütz^en Wohnungsv'ereinen und dem
Londoner Grafschaftssatz erbauten Block- Wohnhäuser beher-
bergen im Verein mit den rein spekulativen Block-Wohnhäusem
ins^'csanit kaum 25000O Einwohner. Das allein zeigt, wie wenig
sie in der Millionenstadt an der Wohnuii;:^sfrage geändert haben.
An der Stelle früherer Slunis errichtet, haben sie nieist nur andere,
aber nirlit lir Wohngele<;cnheit geschaflfcn. Und das ewige Lied
der Blockwohnunjren ist, dafs sie, wenn die Zimmer j^eraumig und
hell sind, den schlechter be/.ahlten Arbeitern zu teuer, wenn aber
im Preise deren Verhältnissen nn;^feixirst , in der (Qualität für Ar-
beiter, die etwas auf sich ^eben, unertriii^lich sind. \'iele .Arbeiter
luliincii liel)cr Zimmer in den, in ..Taubcnschlät^e*' \erwandelten
Häusern L^rcwis^cr , \ on den l)esit/.eii(len Klassen als nicht mehr
>tandes^em.ils \erl,i-senen X'iertcl, als in den , .Muster" (mudcli-
Blocks. Da> dichte Wohnen dort ist ihnen weniger widerwärtig
als Hausen in den von vornherein zu Masscnijuarlieren be-
stimmten .SteinungcluHierii mit ihren engen Treppen und Oängen.
Aber >elbst wenn ilas alles nicht wäre, >.ü ist der Gedanke, immer
mehr in die Höhe zu bauen, für eine so kolossale Stadt wie London
geradezu mörderisch. ') Es würde entschieden die Luft in der
inneren Stadt noch verschlechtem. *
') In der ,,Ethical World" vom 31. März erzählt ein Einsender, dafs in einer
Versammlung des radikftlen Vereins von Muylebone (West-London), wo der ndilcale
ParteifDbrer Renwick Seager über die Wohnungspolilik des Grafschaftsrats sprach,
die Mitglieder erklärten, „die gewöhnlichen (4uidlords dem Grafschafisrat, dem
IVabenlv Trust, der Pliilantliropie ond den so und so viel Pro/.ent-HiTren vorzu»
/.ii licn." l )er l'.insi ik1<t st't/.t hinzu, er selbst halte schon lange aliiili< li pid irlit, i*s
habe ihn aber iiberra->tht, von Arlteitem dies I rtr-il zu huren. Al-> (.jnind ihrer Al>-
nei^;uii^ hätten die Arbeiti-r die /u liohen Mi« t>b;kt/.e. die vielen I'.csehrankuujjen ihrer
Freiheit und das strenge Bestehen auf Vorausl)c/;alilung angegeben, welche let/.tere
Satzung zur Folge habe, dafs die Sterblichkeitsrate in jenen Wohnungen niedriger
erscheine, als sie wirklich sei. Die krSnkelnden, zablungsmiflUiigen Mieter ziehen
ans, bevor es zum Sussersten kommt
I)irs belrifTt die gutj^eli.iltenen, besteiiit;erichteten Blockwohnh:iu^er. Selbst da
fühlt der englische Arbeiter sich nicht 4rohl. Mr. Haw teilt mit, dafs man von
Ikr i;igeawartij;o Staiui der \V<tlinung>tra';c in Knglaiid. 63 1
Ohnehin werden iiir gewerbliche und öflentliche Zwecke aller
Art immer mehr kleine Häuser niedergerissen und durch Kolossal«
bauten ersetzt
Ueber die Thätigkeit, welche der Londoner Grafschafts-
rat in den zehn Jahren seines Daseins mit Bezug auf die Ver-
besserung und Vermehrung der Wohngelegenheit entfidtet bat, giebt
die nachstehende Zusammenstellung Auskunft, die wir der soeben
erschienenen Schrift „The Housing Question" von Alfred Smith')
entnehmen. Mr. Smith war jahrelang Vorsitzender des Hausungs-
ausschusses des Londoner Grafschaftsrats.
Der Grafschaftsrat hat bauen lassen, bezw. beschlossen zu be-
bauen oder umzubauen:
♦
A. Auf Grund der Abteilungen i und 2 des Arbeiter-
Wohnungsgesetzes von 1890 (Sanierung ungesunder Häuser
oder Distrikte):
1. In Boundary Street, Bethnal Green und Shoreditch, 1 5 Acre
[6 Hektar] Baugrund, der mit verfallenen und durchseuchten
Häusern bedeckt war. Jetzt stehen dort, um einen Garten-
platz gruppiert, 23 fiinlstöckige Blockhäuser besserer Art,
mit Waschhaus etc. lur die Bewohner, wozu noch 77 Werk-
stätten kommen sollen. Wohngclegenheit für 5380 Personen;
2. Cable Street und Brook Street, Limehouse. Je zwei Block-
häuser errichtet für zusammen 720 Personen;
3. Cläre Market, Stranddistrikt. Wohngelegenheit för 750
Personen;
4. Churchway, St. Pancrasdistrikt. Wohngel^enheit (ur 580
Personen;
5. Mill Lane, Deptford. Wolin^rlc-cnheit für 5|;o rcrsonen;
6. Shelton Street, St. Giles. ininf Blockhäuser, die VVohngelegen-
lieit für 292 Personen enthalten;
7. Ann Street, Poplar. Woliii^alef^enlieit für 180 Personen;
8. Brooke's Market Ein Blockhaus für 60 Personen.
Bewolm«ni der BlockwolmhSiuer selten das Wort „daheim** oder „zn Hause" höre,
rie seien fast iouner nur „im Gebinde'* (Vin the bnildings"). Das Blockwohnliaus
UUst bei dem Engländer, dessen Sinn flir die Znritckgeaogenheit des PrivaUebens so
stark entwickelt ist, das Gefühl des Dahtimseins nicht aufkommen. Freilich darf
man das I'lockswuhnhaus nicht mit dem tostländiscben Etagenwobnbaos verwechseln.
London, öwan bonnenscbein & Co. 1900.
Digiiized by Google
632
Eduard Bernstein,
B. Auf Grund von Abteilung 3 des A.-W. Gesetzes
von 1890:
1. Millhank. (Truiidstück (früher Stätte des gleichnamigen
Zuchthauses) in W estminster: 16 Blockhäuser im Bau mit
Wobiv^clcgcnlicit für 4300 Personen;
2. Green Street. Horough Road und Gun Street in Southwark.
\Volin^ele<;enheit für 920 rcrsoncn.
C. Aus Anlals von S t r a fs o n d u r c h I) r ü ch e n etc.:
.1. Beim Blackwall I iuhk I i I untu l unter der Themse). Block-
hauswohiuin'^'cii tvir 24O iVM -^onen ;
2. Stralsendurciibruch \oii Ilolborn zum Strand. BlockhauS'
\vohnun<^cn itn Entwurf für 3300 Personen;
3. Lon^ LatK Ke-ulierung. Blockliauswohaunj^cn im Entwurf
für 500 Personen.
Auisculcni hat der Grafsciiatlsrat auf vier Stellen kleine W'ohn-
häuser (Cottages) errichtet, die Wohnraum für 1640 Personen ent-
halten, ein Logierhaus iür 324 Personen erbaut und, neben der
Bebauung eines Terrains in Tooting (Slid-Ijondou) mit Cott^e*
Wohnungen lur 10 bis 12000 Personen, die Bebauung von fönf
kleineren Grundstücken mit Cottage Wohnungen für zusammen 5295
Personen beschlossen. Insgesamt sind demnach (ur rund 36000
Personen Wohnungen teils schon errichtet, teib im Werden, woför
rund zwei Millionen Pfund Sterling aufgewendet bezw. ausgesetzt
worden sind. Das ist liir eine so junge Körperschaft keine geringe
Leistung, für das Bedürfnis Londons aber durchaus ungenügend.
Nach dem Zensus von 1891 wurden in London 830000 Personen
gezählt, die in zu enger bezw. überföllter Behausung leben. Bei
gleichem Wachstum mit der der Gesamtbevdlkerung würde die Zahl
bis 1899 auf 890000 gestiegen sein, und es liegt kein Grund vor
anzunehmen, dafs dies nicht der Fall gewesen ist.
Die Zahl Icr Häuser im Gebiet der Grafschaft London wächst
langsamer als die Zahl der Einwohner. Das Gebiet, das jetzt die
Grafschaft London bildet, zählte
Einwohner
Zunahme
in troi.
Hänser
Zunahme
in Proz.
1871
3266987
45» »13
1881
3834194
»7,3Ä
526 US
16.35
I89I
4 232 I iS
10,38
587002
• 11.57
iSq6
4433018
4.75
596 030
1,54
von 1S91 au
f 1896 ist
: besondc
r'? chnr ikt
Zieht man nur die bewohnten Häuser inbetracht, so ergiebt sich
Digitized by Google
1
l>cr gegenwärtige ht.iiul der \\ «ihnungslrage in Knglund.
ein noch gröfseres Mißverständnis zwischen Bevölkeningszunahme
und Häuserzunahme. Von den gezählten Häusern waren
bewohnt Zvnaliine imbewobnt Zunahme
in Pros. in Pros.
1891 547 lao — 3988» ~<
1896 553119 i,lo 42911 7,59
Im Jahre 1891 kamen auf das Haus 7,74, im Jahre 1896 dagegen
8^01 Bewohner, die Zahl pro Acre (40 Ar) war 1891 56,10, 1896
aber 58,76. Hierbei sind indes die Villenquartiere, Parks, die grofsen
Plätze etc. miteingerechnet In den volkreichen Distrikten stieg
die Dichtigtwit 1896 bis auf 300 und 400 Personen pro Acre. Nicht
weniger als 2333152 Personen wohnten 1896 in sog. Tenements,
d. h. Hausabteilen von i — 4 Zimmern, und zwar entfiel je ein
Raum auf
3 bis ge^en 3 Personen bei 76*417 Personen
3 II II 4 II II
299074
11
4 11 II 5 II II i'4 7'4 II
5 n II 6 II II 43 443 »
6 „ „ 7 n '7 9 54
7 .» »8 „ „ 6153 „
* »f .1 9 it n 1848 I«
9 nnd mehr „ „ 1 03a „
Und das ist immer nur erst ein Teil des überfüllt wohnenden
Londons!')
Da die Mieten in London unter dem Einflufs der Ver-
teuerung des Baumaterials und der Erhöhung der Arbeitslöhne eine
bestandige Steigerung erfahren haben, ist eine fernere Zunahme
des zu engen Wohnens aulser Zweifel. D^nn die Masse der kleinen
Leute machen eine Erhöhung des Mietszinses, wo dies nur irgend
möglich, durch Abvermieten wett Wir müssen annehmen, da&
heute in London 900009 — nemunalhunderttausend Menschen
zu eng behaust sind.
,J>ie durch die Bemühungen der Gewerkschaften erzielten
Erfolge", schreibt Mr. Alfred Smith, sind ernstlich in Frage gestellt
Die Steigerung der Mieten hat die der Löhne be*
Die Zahlen, die der amtlichen Statistik des Londoner Gralscbaltsrats ettt«
nommen sind, finden sich im gednidcten Referat der Mrs R. C. Phillimofc an die
LondoBer Konferenx der Wohnangsfirsg«. (VgL die treffliche Braschflie der Fabian
Sodcty „Tht Harnt Famine** 1900, die eine sehr gnte Bibliographie der Frage ans,
der Feder Sidncy Webbs bietet.)
L.ivjM^L,j L,y Google
634
Ii <i u a r (1 lU- r n s t c i n ,
trächtlich überschritten, — die Wohlthat erhöhter Lohne
wird durch unmärsige Forderungen der Hauseigentümer \'erschlungen.
(A. a. O. S. 15). „Wir haben nur erst gerade den äufseren Saum
des Problems berührt", erklärte der derzeitige Vorsitzende des Graf-
schaftsrats, Lord Welby, in seiner Ansprache an den Prinzen von
Wales bei Eröfihung der Blockhäuser in Boundaiy Street. Die
Verwaltungen der Baustiftungen (ur Blockwohnungen haben in den
letzten Jahren sogar weniger gebaut wie in früheren Jahren. Die
erhöhten Baukosten und die Schwierigkeit, im inneren London
passenden Grund und Btuk-n zu niäfsi^en Preisen aufzuticil>en,
schrecken sie nach Mr. Smith, der die Steigerung der blofsen
Baukosten auf 30 Prozent veranschlagt, vom Kauen ab.
Sie können unter diesen rmständcn für diejenige Klasse der Be-
völkerung, der sie nach ihren Satzungen Wohnungen erstellen sollen,
keijie den moderncti hygienischen Ans])riichen entsprechenden
Wohnungen herstellen, die ihren Mitteln entsprechen.
Sr>\\cit das innere London inbetracht kommt, ist untir deti
der/( it!.;en W'iiuiUiiissen eine \'erbesserung der W < ihiumgsbe-
dingunj;cn dci atbcitrndcn Kl.l-^-'rIl nicht /u erwarten. Für
Cottagewohnungen k'unnit der Huden, für bcN-^erc )ck\vohnutigen
das Hauen dort zu teuer. lane Einsendung in der ..Review of the
Wcek" vom 7. .-\pril giebt über die X'erhältni -sc i[n westlichen
Zentrum \on London. — der Distrikt /wis<dien City und \\'e>tcnd —
folgende Schilderung, die durchaus den Hei ih.irhtungen des Schreibers
dieser Zeilen entspricht, der längere Zeit dort gewohnt hat:
y Der gcwöbnlidie ungtlemte Aibeiter hat in diesem Teil von LondoDt
wenn er regelmirsige BescbSflignne bat, 22 — 38 Scbillinge Wochenlobn.
Dies begreift in sieb; Fabrleutc, Speieberarbeiter, Ladendiener, mindere
Bncbbalter n. s. w. . . . In den ungebeuren Blockwobnmigen in Kcmble
Street. Dnif)" L.inr, niuf.s d.-r .\rheitfr aber für ein einzige-. Zimmer
6 Schillinge 6 Penco di<- Woclic £;ilil< n, in d< r L 'm{;'*lning von Tll^•l)iKll<l^»
Road kann i-r rin.- \\'r>hnuTii,' von drei Räumen nirlit unter lo Schillinge
6 rem e die Wuclie 550 Mk. i:»li rlich ' I l)al)en. Will er weniger geben
oder kann er nicht so viel befahlen, so mul> er iu (Quartiere xieben, die
Auge und Nase beleidigen, die Gesundbcit und die Moral seiner Kinder
zerstören und durcb die blofse lifacbt der BerQbrung ihm die letzten
Reste von Selbstachtung und «nfacbem Anstandsgefühl austreiben.
Ich habe hierzu nur zu bemerken, da(s auch die erwähnten
Wohnungen bei Theobalds Road weit entfernt sind, den Ansprüchen
.an ein nur einigerniafsen einladendes Heim zu entsprechen.
Was geschieht, wenn irgend jemand aus Menschlichkeit^rnlnden
Digitized by Google
DtT gcgfnwärugc Stand ücr \\olinunj;>lragc iu Engiaud.
versucht, den Mafs^tab der Wohnungen 2u erhöhen, zeigt in
drastischer Weise ein von dem gleichen Einsender mitgeteiltes
Beispiel.
„Lassen Sie mich Ihnen ein Beispiel so ansgezeichneter Absichten
geben, wie sie Tor ediclien Jahren ein gewisser edler Earl (Graf) hatte.
Mit den besten Absiebten von der Welt baute er in dieser Gegend Block-
häuser lUr achtbare gelernte Arbeiter und Handwerker. Die Zimmer
waren grofst die sanitären F.inrichtung<-n ausgezeichnet, und ein Bekannter
von mir. ein tji'l'Tntcr ArVicidr, miftcte eine ab^ji-sclilossüiie Wohnung
von fiint Kimnirn für 12 hihilliiii,-!« 6 r.*iico die Woche. Fr wohnte «Jort
scchä Jahre. Als ihn aber sein Gest halt notigto. die Wohnung zu wechseln,
w^rd dem Mieter, der nach ihm kam, die Miete auf eine Guinee (21 Sch.)
die Woche erhöht. Die Sache war, dafs im Laufe der sechs Jahre die
Klasse der Mieter eine total andere geworden war. Die
Klasse der gelernten Arbeiter war verschwunden. Die neuen Mieter, die
durch ihre Fähigkeit, eine höhere Miete zn zahlen, diejenigen verdrKngt
hatten, für welche die Wolinungen ur.sprün;,'lich errichtet waren, waren
höhere Buchhalter, Cieschäftslciter. kleine < ioschattsleute un<l .Xn^jelmrige der
freien Berufe. .Sell)7.t philanthropische, die besten ,\bsichtcii von der Welt
hegende Grafen können Verfuhrungen dieser Art nicht widerstehen, und
^ was als Anlage nt vielleicht vier Prozent erbaut worden war, ward ein
gutes Gesehfift — abzüglich der Philanthropie.**
Der Kinsender will mit ditscni Beisi)icl nur zeigen, mit welchen
Schwieri;^keiten der Get^enst.uid l)esäct ist. „F,s ist sehr scIumi',
schreiWt er in Antwort auf die BcliauinunL^, die Kosteiifrai^e >ei l)ei
dem Bau von X'nlkswohnimi^'en untcrj^eurdncl, mit den \Hetcn
wijrden aucii die Löhne steigen — „es ist .sehr schön, grofse Aus-
gaben für den Bau von Wohnungen für unsere gelernten Arbeiter
zu empfehlen. Aber bei dem verhältnismäfsig geringen Raum, der
zu haben ist, wird die Wirkung nicht die sein, die Löhne zu heben,
sondern diese Klassen weiter von ihrer Arbeit hinweg oder tn
kleinere und ungesundere Wohnungen zu treiben." Die besseren
Wohnungen würden von denen besetzt, die „in den Vororten
wohnen könnten und dort wohnen würden, wenn die ihnen in der
Nähe ihrer Berufsthätigkeit gebotenen Bequemlichkeiten weniger
anziehend wären*'.
Das ist ganz richtig. Bei der ungeheuren Zahl von Leuten,
• die gern in gutgehaltene Wohnungen in der inneren Stadt ziehen,
sobald sie solche nur zu leidlichen Preisen haben können, hat die
Errichtung solcher Wohnungen, wenn sie nicht auf geradezu riesen«
haftem Umfange erfolgt, iUr die Masse der Arbeiter nur Ver-
Digitlzed by Google
636
Kduurd Bernstein,
schlechterung zur Folge. Unternehmungen, vrit die des bezeichneten
Aristokraten, schaffen bestenfalls fiir eine kleine Schar Auserlesener
ein Privilegium. Eine Guinee die Woche ist für eine gutgehaltene
Wohnung der geschilderten Grölse in jener Gegend Londons noch
ein sehr mafstger Preis — bei 12 Schilling 6 Pence emp6ng der
Mieter vom Vcrtnicter faktisch ein Geschenk von 400 — Soo Mark
jährlich, und sicherlich konnte der Aristokrat nur so billig^ ver-
mieten, weil er auf eigenem oder billig ^gepachtetem Boden gebaut
hatte. Fr v.ar offenbar einer der Pioniere in dem wohlgemeinten
Werk der Errichtung anständiger I\lai:^cn\vohnungen für kleinere
Mieter gewesen. Seitdem liat sicli das Baugeschäft auf die Sache
geworfen und einen Normalpreis geschaffen, der Vorzugs- und
Zuw.ichsrenlc einschlielst. Den können aber Arbeiter nicht be-
zahlen. Eine (luince die Woche macht i 100 Mark im Jahr.
Der hall illustriert drastisch die Unzulänglichkeit des guten
Willens Kinzelncr. Der jetzige Marquis von Xorthampton , der im
nordwestlichen (iebiet der City und rmgebung viel (irund und
Bt)dcn eignet, \'erparhtete gröfsere Stücke d.u on zu mäfsigen Preisen
für den Erbau vow W ohnungen für kleine Leute. Der Effekt war
nicht, dals die kleinen Leute billiger wohnten, sondern dals Zwischen-
spekulanten die Zuwachsrente wegfischten.') Die .Agenten des
Marquis und die des Herzogs von Westminster, dem ein grofscr Teil
des Bodens im Westend gehört, wiesen vor der Königlichen Unter-
suchungskommission von 1884 über die Wohnui^sverhältnisse der
Arbeiterklasse nach, dafs die Zwischenunternehmer im Grundstücks-
und Häusergeschäft bis zu hundertiunfeig Prozent Profit machten.
Auf diese Verhältnisse bezieht sich offenbar die oben zitierte Be-
merkung des Prinzen von Wales, dafs die Grundbesitzer die Ver«
fiigung über ihren Boden nie hätten aus der Hand geben sollen.
Die Vereinfachung der Grund- und Bodenfrage durch das Grof»*
grundeigentum ist nur eine scheinbare. Durch die üblichen langen
Pachtvertrage und Uebertragungen solcher werden Legionen von
Mit-Interessenten geschaffen, von den Hypothekeneignern gar nicht
zu sprechen. Zudem giebt es in London auch eine Unzahl von
mittleren und kleineren Bodeneigentümern. So ist das Eigentümer-
interesse noch ungemein stark und macht sich an entscheidender
*) Spiter bat der Marqnis durdi Spezi«I«ertrSge einigen MiftMiiehen einen
Riegel Toigeschoh' n Abrr er hat auf diese Weise nur eine kleine Iniel in einem
Ozean verrotteter WoboverhällniMe sdiaffea können.
Der gegcnM'ärtigc Stand der Wohnungsfrage in tiingland.
637
Stelle stets wirksam ^ijcltciid. Diejenigen Rctormvorschlä<je, die das
Eigeniuin uiiterschiedslos angreifen, haben zur Zeit absolut keine
Aussicht auf Verwirklichung.
IV. Die neuesten Reformvorschläge.
Dem immer stärkeren Andrang der öflTentlichen Meinung fol*
gend, hat nun die englische Regierung, bezw. der Minister für die
Lokalverwaltungen, Mr. H. Chaplin, in der gegenwärtigen Parla-
mentssession einen Zusatz zum Hausungsgesetz von 1890 bean-
tragt, der
die Distriktsrätc auf dein Lande ermächtigt, mit Zustim-
mung des betreffenden (irafschaftsrats , die nur unter be-
stimmten Bedinguni^cn vorenthalten werden darf, eine Hau-
sunjü^spolitik auf (irund jenes Gesetzes selbständig durch-
zuführen, und weiter die I .anddistriktsräte und die Graf-
schaftsräle selbst bevollmächtigt, W o Ii 11 Ii ä u s e r für Ar-
beiter auch aufserhalb ihres \ Crwaltungsge-
biets /u erwerben oder zu errichten.
Die letztere Bestimmung hat namentlich London im Auge.
Ohne das Recht, aufserhalb seines ("iel)iets \\'ohnun;.;en herzustellen,
ist der (irafschaftsrat bei dem jetzigen Lx})r()|»riati«>ns\erfnhren auf
die kostspieligsten lirwerbsmethoden und eine wahre Sisyphusar-
beit im Hausungswesen angrwiosen.
Indes eröffnet der Re^iicruntisantrag nur erst eine schmale
Thür. Nicht mir die Sozialisten und die Lil)cralen, smulcrn auch
viele konservatix'c und libcralunioni^ti-'rlK' Ai)geor(incte erklären ihn
für durchaus ungenügend. h.r ial^l das li.vprüpriationsproblem ganz
unberührt, desgleichen das rrotilem des Iii)denl)c<itzes und die He-
steuerungsfrage. Iis sind denn auch eine ganze Anzalil tiegen- und
Ergänzungsanträge eingebracht oder in Aussicht >tellt worden,
die das in diesen Punkten und sonst Erforderte nachholen sollen.
Der weitestgehende dieser Gegenanträge ist vom Abgeordneten
W. Steadman, Vertreter der Arbeiter und Radikalen von Stepnev
Ost-London, eingebracht, und von den Arbeiterabgeordneten John
Bums und S. Woods, sowie dem liberalen Abgeordneten, Kapitän
Norton, mitunterzeichnet. Er berücksichtigt so ziemlich alle Vor-
schule, die von Wohnungs- und Bodenbesitzreformern mit Bezug
auf die vorliegende Frage bisher gemacht worden sind , und zwar
meist in recht drastischen Forderungen. Als Zusammenfassung der
üigiuztio by Google
638
V. d u a r d H c r n .s t c i n ,
von der radikalen Demokratie und den Bodenbesitzreformern Eng-
lands hinsichtlich der Wohnungsfrage gestellten Anträge hat er ein
allgemeines Interesse.
Der Gesetzentwurf stellt zunSchst (§3) das Recht der Zwang»«
enteignung von Grundstücken auf. Nach vorhergcgai^Ber secbs-
mouatlicher Kündigung sollen die Ortsbehörden (Gemeindevertretungen etc.
das Recht habm, Grandstfirke awangsweiiie xu erwerben. Der Preis beim
Zwangskauf sull auf d.\s fün Tundzwanzigfaclie (tweoty five years purchase}
des finnrscli:it/'' ii :i]irlichen. SteuenvrN li- mossen Werden. ' 1
l'alls der oi|< r die Kij;L-ntiinior il> s (irimdstiicks unl)t>kannt sind, soll
i'. .ils ;:<:iii;^i-iid rraclitft worden, wenn die Kiindi^ung an den Mieter lür
den 'nlor die I].ij,'<niuni<T fin^cluindi;:t word<-Ti i>t.
Ftrut-r sollen die ( 'itsbtli'jrdcn das Kccht haben t«; 4.1, fUr Zwecke
der Wohnungsverbur^ung Boden aufserhalb ihres Gebiets auf
Gmnd der vorstehenden Bestimmungen au er««rben. Das 'Einspruchs-
recht der Gemeinden, zu deren Gebiet der Boden gehört, soll keine Kraft
haben, wenn die erwerbende Behörde nachweisen kann, dafs auf ihrem
Gebiet nicht •:;enit^ond r>o<lcn für Arbeiterwohnungen zu haben oder der
xngUngi$;r ilovii-n /u tini< r ist.
Pas Staa{>amt tiir I*ctrirbsvorscliijs-.t* soll 51 £:"halt< n «ein . den
( lrt'>b. hurdi-n für die Austuliruiii,' von \Vohnunj,'-iie>cli.iftunj,;-pläu> n, die
die Zustimmung des Mmii>tcriums crhultcu haben, Darlehen rurzuslreckeo,
die mit höchstens zweiProzcat zn verzinsen söntolkn; die Rttek«
Zahlung soll in auf hundert Jahre verteilten Raten geschehen.
Die Ortsbehörden sollen das Recht haben ($ 6), die jährliche Til-
gnngsquote solcher Anleihen aus den Lokalsteuern zu decken.
Die Ortsbehörden sollen femer das Recht haben {§ 10), Uebenchüsse
aus Gcmcindeuntcnichmungen irgend WLdclier Art für Wohnuugszwcckc zu
verwenden, dii' l>/.fu;^ung des Materials lür die Iläusor selbst in die
Hand zvi nehmen und das fllr diese Produktion erforderte Land zu er*
werben.
Sind (^rundsttu ke oder auf ihnen st< hende HäU'^er von den zu^tändijjcn
Instanztjn tür s a n i t ä t s w i d r i g erklärt worden, so »ollen die ürtsbeborden
das Recht haben f§ 7), nach gebährcnder Ankündigung die Eigner der
betreffenden Grundstöcke zur Lichtung derselben auf eigene, Kosten
und Gefahr anzuhalten. Sind die Eigner nicht bekannt, so soll auch
hier Uebeigabc der Kündigung: an die Mieter genügen. N.u Ii erfolgter
Lichtung sollen die Ortebehörden das Recht haben, die Grundstücke zum
Dies unterstellt, da die Einschätzung stets etwas hinter der wirklidien
Jahresrente zurttckbleibt, einen Zinsertrag des Bodenkapitals von vier Prozent und
daräber.
Digitized by Google
«
Der pcßcinvärti};f Si.uul «itr WUlinungNlragc in Kitgiand. 639
Alnfun<kwaiuigfacb«ii Betrag der vor der Lichtung in Kraft gtwcsenen
jäbrlichen Gmndrfixte zwangsweise anzukaufen.
Die Ortsbebörden sollen das Recht haben (§ S). für die Zwecke des
vor1ii'^<nc!oii flc-ct/f> odt-r sonstiger tjcM-tztiiäfNi^ur Zwtckc von allen
Grundstiukcn, -i'" !>-(til siini oder nicht, unter Zumund. leguug ihres
volli-n Mi'ls- unil M.uktwirt> eine SorniirsdiKT m frlul'cn.
Alle Lokjlsteuern (die in Ijigland siinithcl) als Mittastcucr bewohnter
Mäuser erhoben werden) sollen (§ 9) mit dem Inkraftreten des Gesetzes
auf leerstehende Häuser in gleicher Weise umgelegt werden, wie auf be-
wohnte Häuser.
In allen Gemeinden oder Verwaltungseinheiten sollen (§ 11) Ge-
richtshöfe zur Fcstsetznnp por»i lif. r Mi fiMi — »Fair Rent
courls-' — crriclitrl w< rd<'n. I.nnflon soll si ih>, ncli- andi r«* Gfni •in<!>*
rinon »idoli«-u tirrichtshor halt- n. I ». r-i-lhi- snl! atK dr<-i Mitgliedern be-
sti lii ii, \,,u detn-n das eine von dem Gew . rk • li.ut>rat d«-»- < >rt5 oder, wo
ein solclicr nicht lutslehl, von den Mietern jener lläuscr gewählt werden
soll, die nicht tnebr als 20 Pfd. Sterl. Miete im Jahr kosten. Das
zweite Mitglied soll von der Handelskammer oder, wo eine solche nicht
besteht, von den Friedensrichtern in der Qnartalssttzung ernannt werden.
Das dritte Mitglied soll von d< n ersten beiden oder, falls sie sich nicht
einigen können, vom (iewerl>emini>terium ernannt werden.
Diese Ri. hter, deren Amtsdaiur drei J,ihr > währen soll, sollen so oft
^ii^amnien kommen aU eiiij^elaulene F>e.Mliwerden iil)er die Holio von
Mieten dies erfordern. Sic sollen das Recht haben, Bcwei^^aufnahmen an-
zustellen, Einschätzungen vornehmen zu lassen, und sollen bei Ermittlung
gerechter Renten, nach Abrechnung der Durchschnittsansgaben (ttr Repara*
turen und Verwaltung nicht mehr als einen Nettogewinn von jährlich
drei Prozent der ursprünglichen , Kosten zulassen. Ihr Erkenntnis soll
fÖr alle Bcteilifjlen bindend sein, und von seinem Datum ab während der
fol«,'enden fünf (ahre weder Steigerunjj der Miete, noch Fxmittierunp de«;
be>Ji\vi rdr fulir -nd. n Mieters zulässig, jede Zuwiderhandlung als Unge-
horsam zu bestrafen sein.
Bei jedem Hausuii^^plan soU Ar jede erwachsene Person 12) ein
Lnftranm von mindestens sechshundert Knbikfnfs nach Ab-
zug des Raumes (Br Möbel angesetzt, und sollen je zwei Kinder immer
nir einen Erwachsenen gerechnet werden. Diese Bestimmung soll auch
für alle Logierhäuser (Herbergen) gelteo.
An Annahme dieses Entwurfs von Seiten des jetztigen Parta>
ments ist natürlich nicht zu denken. Einzelne Punkte sind auch
mangelhaft ausgearbeitet. So z. B. die Bestimmungen über die Ex-
propriationen, bczw. Zwangsankftufe. Jedes Gesetz, so radikal es
ist, mufe doch im Rahmen seines Grundprinzips gleichmalsig zu
treffen suchen. Nun ist aber nichts ungleichmatsiger normiert als
Digitized by Google
640
Lduaril licrnütein,
die Nennbeträge der derzeitigen Grundrenten, weil ihnen ganz ver-
schiedene Zeitverhältnisse und ganz verschiedene RechtszVecke zu
Grunde liegen. Es giebt in England viele Pachtverhältnisse, wo nur
eine Nominalrente (das berühmte Pfefferkorn) angesetzt wird, um
den Heimfall des Pachtobjeckts nach gewisser Zeit sicherzustellen,
und je nach der Zeitdauer des Pachtvertrags variiert auch sonst die
Rente. Unterschiedsloser Zwangsankauf nach dem obigen Schema
würde in dem einen Fall Konfiskation heifsen, in einem anderen
aber kann er ein Geschenk an den Grundeigner auf Kosten der
Steuerzahler oder der Pächter bedeuten. Das würden die Juristen
im englisclien Parlament nicht zulasscti. selbst wenn kein Grund-
besitzer- und Kapila] ist cninteresse sich tlaj^egen sträubte. So ein-
fach kann man die Sache nun doch nicht formulieren.
Die verschicdenarlige Bemessung der Zinsraten, je nachdem es
sich um Slaatsvorschüsse, KnteignunL^s^ät/.e und gerechte Mieten
handelt, läfst sich zwar prinzipiell mit guten Gründen rechtfertigen,
bietet aber, wie hier geschehen, matiche Angriffspunkte dar. Die
Festset/urii; eines Ziusmaxiinunis von zwei Prozent fiir Staatsvor-
schiissr, wo der Staat sowohl seinen kapitalistischen ( iläubigei n wie
seinen (iläubigern aus der Arbeiterklasse: Sparcinlegern, den freien
Ililfskassen und -- wie jetzt beantragt wird — auch den (lewerk-
Schäften lioheie Zinsen zu zahlen hat, wird als falsch angewendeter
Radikalisiinis bezeichnet werden miissen. l'm eine Zinsreform nach
sich zu zielien ist der degenstand zu unbedeutend, und .im l'reis
der Wohnungen spielt die \eil.uigte Zinsditterenz keine so grolse
Rolle, dafs es nötig wäre, auf ein tinanztechni.^ch so wider-
sinniges Mittel zurückzugreifen. Viel eher liefsc es sich recht-
fertigen, für die Gemeinden das Recht der Ausgabe von Hypotheken-
scheinen auf ihren Grund- und Häuserbesitz zu fordern und es
ihnen zu überlassen, den Zinsfufs dieser so niedrig als nur möglich
zu bemessen.
Schließlich könnte noch die Frage aufgeworfen werden, oder
wird vielmehr von einigen Leuten aufgeworfen, ob nicht die
Schaffung billigerer Wohnungen aus Staats- oder Gemeindemitteln
schliefslich doch blofs auf eine Prämie an die Unternehmer hinaus-
laufe, indem sie eines der konstituierenden Elemente des Arbeits-
lohns — die Wohnungskosten — unter seinen natürlichen Preb her-
abdrückten. Das wird man aber auf sich beruhen lassen können. Es
braucht hier nicht erst ausgeführt zu werden, dafs es stets eine
Vielheit von Faktoren sind, welche die Lohnrate bestimmen, und
Digitized by Google
Der t;f;;cn\variit;o Stand der Wohiiunj:>lraj;c in En};Iaiid. 54 1
dafs die 'Faktoren, die mit dem Sinken der Lebensmittelpreise ein
korrespondierendes Sinken der Ulhne herbeiführen, durch die mo-
derne Entwicklung immer mehr entkräftet werden. Eine im übrigen
rationelle WohnungspoHtik braucht sich durch diese Möglichkeit
nicht beirren zu lassen.
Dag^cn ist es klar, clafs fast jede der im Stendmanschen Ent-
wurf vorgeschlagenen Mafsrcr^eln, wenn einzeln ins Werk gesetzt,
sehr leicht neue Ungerechtigkeiten und Mttsstände zur Fol<,'e haben
kann. Wie bei anderen Fragen, giebt es auch in der Wohnungs-
(r^<^c eine Solidarität, einen starken inneren Zusammenhang der sie
/usaminensetzenden Tcilfraj^en, und uimicthodisclies einseitiges Vor-
j^ehen kann daher oft zur X'crcitclunL,^ des (iewolltcn oder \'cr-
schlimmerun^ des zu X^erbesserndcn führen. In dieser Hinsicht
zeichnet sich der Antiat; der Arbeitervertreter sehr vorteilhaft von
allen anderen Antra<^rcn zur Wolinuii^^fsfra^fe aus.
Einem sehr wichtigen Punkt trägt er freilich nur unj^cnü^'cnd
Rechnung: dem Problem der möglichsten Ausgleichung der Vor-
teile der Lage. Iiidin kl wird es durch die Forderung der Besteue-
rung der Grundrenten und der unbebauten (Trundstiickc und leeren
Häuser berührt, aber wie diese Mafsregeln auf die Mietspreise zurück-
wirken würden, ist vorläufig noch ein ungelöi>tes Rätsel. Die im
Entwurf vorgesehenen Miets-Gerichtshdfe würden sogar die Aus-
gleichung wieder aufheben, wenn sie, wie dort voi^eschrieben, bei
Bemessung der Mietssätze nur die ursprünglichen Produktionskosten
inbetracht aehen dürften. Die Verfasser des Entwurfs haben sich
an das Muster der von Gladstone 1881 Air Irland* geschaffenen
agrarischen Gerichtshöfe gehalten, aber deren Erfahrungen nicht ge-
nügend berücksichtigt.
Alle Hausungsprojekte, die auf eine weitere Dezentralisierung
der Bevölkerung Londons und anderer Grolsstädte abzielen — und
das thut auch der Entwurf der Arbeiter mit seinen Bestimmungen
über den Erwerb von Bodengrund aufserhalb des städtischen Ge-
biets — schaffen neue Verschiedenheiten und damit auch neue
V^orteile und Nachteile der l äge. .Sie möglichst auszugleichen, ist
u. a. eine der Hauptaufgaben der städtischen Verkehrsjiolitik. In
London ist das eine besonders wichtige I-Vage — ja, die Wolmungs*
frage wird in London stets i'lickwerk bleiben ohne eine völlige
Reorganisation des dortigen X'erkehrswescns. Heute liegt dies noch
sehr im .\rgen . da es an jeder iMiiht-itlichkrit der (/Organisation
fehlt. Im äulseren Lmkrei.s, der sich unheimlich schnell erweitert,
Archiv für »ojt. Ucscu^ebung u. SUUslik. XV. 4'
•
. j _ ^ y Google
9
Kduard Bernstein,
fehlt ( s Mitteln des Verkehrs von X'orort zu X'oiort; fast alles
mufs durch das Zentrum, was di^n Bewohnern der X'ororte ^rofse
Kosten und Zeitverluste, tlcni ZLutrum selbst aber steiL^entlc Hem-
mungen und StöruHLjcn dc.s Vet kclir> verursacht. Die Bahngesell*
Schäften "greifen /u den \er/Aveifchsteii Nhtleln, che Auf«;abe, jeden
Mor'jen x.u be^tinunteii Stunden huiHltTttau^-iide von Menschen
rechtzeitig unti bc(|uciii ins /.entruni zu betordern, leidHch zu losen.
<i(^ l)cifitet ihnen aber immer wieder neue Schwicri;^keiten, Die
\"i riiicliruii^ ihrer ( leleise und die AnliL,'«" neuer Linien heilst jedes-
mal neues Nietlcrrciisen von Wohnhausern, neue Austreibung von
Mietern.
So stellt sich (l.i^ 1 otidonci Wohnun^^jirol ileni al> eine Mydra
dar, der tur uden alt^ochlagenen Kopl immer neue anw.ichsen.
und es bleibt die I'Vaj^e, ob es nicht ujöj^lich ist, die Dezentrali-
sierung lierart zu betreiben, dafs statt neuer Vororte der Stadt neue
selbständige Städte geschaffen werden. Eine Gesellschaft, die sich
"Garden City Association" nennt, hat diese Frage in die Hand ge-
nommen und einen sehr interessanten Plan ihrer Lösung ausgear-
beitet. Der Plan enthält nicht Unrationelles oder Utopisches, aber
die Schwierigkeiten seiner Verwirklichung sind ungeheuer, und es
ist sehr fraglich, ob der Eifer seiner Urheber ihnen wird stand-
halten können. Es ist unglaublich, wie viel Enthusiasnius diese
Menschenwüste London ertötet.
Indefs das Uebel ist zu schreiend, als dafs es ganz beim Alten
bleiben konnte. Die Regierungsvorlage wird, so weit sie geht, ohne
• Umstände angenommen, wahrscheinlich aber noch durch Zusätze er-
weitert werden. Es ist widersinniges ( lemeindeverwaltungen den Er-
werb von Häusern aufserhalb ihrer Domätie zu gestatten, ihnen aber
den von Bauv^rund vorzuciithalten. Der Grafschaftsrat wird also
wahrscheinlich die Möglichkeit erhalten, eine wcitaus«T|-eifende muni-
zipale Hausungspolitik in die Hand zu nehmen. Die drastischen
Enteignungsvorschläji^e des Entwurfs der Arbeiter haben zur Zeit
auf Annahme nicht zu rechnen, daj^ei^en findet der \'orschlai::f, den
KiL;entümern \ (>n Ihlusei ii und ( fruiulstücken in sanitälswidrii^en CJuar-
ticren die l'tlicht und event. die Ko'-ten der IJchtun;^' un<l .Sanierung *
solularisch aiit/ucrleLjcn. lebhafte Zu.slinnrjung l)urgerliclier b'achleute.
hs wurde oben i^e/ei^t, wie k* i-ts|)ielig und zweckwjdri;^ «lie jetzt
L:jeltende Re'.;el ist, dafs die Beluirde in demselben Distrikt die
gleiche \\ uhn;^ek '^enheit für die AusL^emietelen erstellen soll, um
die ihr Lichtungsplan ihn verkürzt. Haben die betretVenden Eigen-
Digitized by Google
Der gegenwärtige Stand der WolinungsfR^e in England.
Ö43
tümer die Kosten der Lichtung selbst zu trafen, so kann die Be-
hörde den alten Bewohnern der zu vernii litriidcn ..Slunis" mit weniger
Auslagen bessere Hilfe brinf^cn als dies bei den Umbauten des
Londoner Grafschaftsrats bisher der Fall <^'e\vesen.
Am 10. und 17, Mai kam die von der Regierung eingebrachte
Vorlage zur Krwciterung des Hausungsgesetzes von 1890 (s.S. 637)
im Haus der (Gemeinen zur zwcitei. I.csunj^. Dazu hatte der liberale
Abgeordnete Robson ein Amendement beantragt, das erklärt:
„Keine Gesetiesvorlagf Ix-trcffend die BcliauMUi^'en der arbeitenden
Klassen k.mn als ponit};enil Ixtnuhtct werden, die nur die At-nd rtinäj
eines Teils des Gest l/e> von über die Haiisung der arb<-i',i-iui.-n
Kla>sen vorsieht; die dii .\bäiidening des (iesetzcs über die Ab~i liät/.ung
der Entscbädiguu^'^ansprüche für sanitäUwidrige Wohnhäuser übcri^eht, and
die keine Bestimmungca enthält, kraft deren Vertretongskörper, die Wohn»
hittser aufserhalb ihres Distrikts errichten, in den Stand gesetzt werden,
angemessene Eisenbahnen oder sonstige Verbindung zwischen ihren
Distrikten und den betreffenden Hänsem zu »langen."
Nach einer sehr lebhaften Debatte, an der sich mehrere
Minister beteiligten, ward das Amendement zurückgezogen, um das
Zustandekommen des Gesetzes in der gegenwärtigen Session nicht
zu gefährden, und darauf die zweite Lesung der Vorlage ohne
Widerspruch genehmigt.
Aus der Debatte sind besonders hervorzuheben die Reden des
Arbeiterabgeordneten Steadman, des liberalen At^eordneten Sir
Robert Reid und der Minister Chaplin und Balfour.
Mr. Steadman, dessen Antrag weiter oben mitgeteilt ist, gab
ein eindrucksvolles Bild von dem Wohnungselend im Londoner
Eastend. Auf Grund eigener Erfahrungen in seinem Wahlkreis
teilte er mit, dafs in den letzten zwei Jahren Mictssteigerungen von
13 Sh. auf 18 Sh., Ii'., Sh. auf 16 Sh., 9'!„ Sh. auf 16 Sh., 5' .. ^^h.
auf lo'/j Sh. — d.h. also bis um fast loc Proz.! — von ihm fest-
gestellt worden seien. £s sei so weit gekommen, dals W ohiiräume
oder vielmehr Schlafräume nirht nur nach dem beriilmiten Schicht-
system von Tag- und Nachtbenutzung, .sondern selbst nach dem
Acht.stundenschichtsv.stem vermietet worden seien. Um alle die-
jenigen, die nach amtlicher Fcsisteliiiiig in London sanitätswidrig
wohnten. geh<irig unterzubringen, sei eine \'ermehrung der
j e t z i e II Wo h n g e 1 e g c n h e i t um s e r h 7. i g t a u s e n d . acht
Räume enthaltende Häuser erfordert. Das zeige, wie
wenig mit kleinen Mitteln auszurichten sei.
42.
644
Eduard Bernstein,
Steadmaiis Rede, die in einer Bep^riindun|T seiner Vorschläg;e auf
Afiuicrnng der Kiitci}jjnun^s<;csctze und Kinsctzun^:,' von Miets-
iiericht<li<»fen auslief und dessen Schilderungen tler Wohnungsnot
von iil)er.ilcii und konscr\ati\cii X'crtrttcni Londoner Arbeiterviertel
bestäiii:i wurden, wird vom X'erein der l'abier als Traktat heraus-
gegeben werden.
Sir Robert Rcid, der unter der let/.ien Hberalen Regierung
Kronjutisl war, bheb \n seinen \'or.>chlägeii nur wenig hinter
Stea(hnan zurück. Audi er erklärte die .Aenderung des I*"nteiiMiun;4>-
\ertahrens fui- tlringend erfordert. Der Zwangsenteigiuin;^ niii^sc
ilie Selb>tcinschät/.ung der I-,ii^^cnliinier iür die Steuerveranlagung /u
( irundc gelegt werden. Er sähe auch keinen Grund, der Einsetzung
von Mietsgerichtshöfen zu widersprechen, würde vielmehr ebenso
daför stimmen, wie er für die irischen Facht^richtshöfe gestimmt
habe. Ferner sei er für drastische Marsregein gegen die UeberfÜlle
I^ndons, Verbot der Errichtung neuer Werkstätten in den inneren
Distrikten Londons ((ur welche Mafsregel sich u. a. auch der liberale
Abgeordnete Professor Bryce ausgesprochen hat) und eine radikale
Verkehrspolitik.
Neben den liberalen Rednern erklarte auch eine Anzahl kon-
servativer At^eordneter, darunter der bekannte Sozialpolittker
Mr. Geoffroy Drage, dafs das Amendement Robson das Mindeste
enthielte, was die Bekämpfung des Uebels erfordere.
Von den R^ierungsvertrctern zeigte sich der Minister für die
Lokalverwaltungen, Mr. Chaplin, den Reformern ziemlich ent-
gegenkommend. Seine \\>rlage, erklärte er, SoUc keinen .\bschlufs
der einschlägigen Gesetzgebung bilden, .sondern nur einen Schritt nach
vorwärts. Man müsse aber nun erst ihre Wirkungen abwarten..
Allenfalls wolle -er, der Minister, noch die V'orscliläge in Erwägung
ziehen, die darauf abzielten, die Tilgung.sraten der kommunalen Bau-
font^ls zu ermälsigen. Im üliriL^en seien die X'ollmachten der I.ckal-
l)eli"rden heute schon sehr weitgehende, sie würden nur nicht in
ihrem \ullen l'nifati "c aus^eruitzt.
Letzteres liehauptete auch Minister J. .A. l^alfour, dessen Rede
die 1 )el)atte ab>chlors. Kr wies darauf hin, dals die tiemeinden das
Recht hätten, die l^esitx.er von sanitätswidrigen Häusern für jeden
lag, wo ihr Haus noch fernerhin in dem Zustand verl)leibc, mit
2 I'fd. .Sterling lkil>e zu belegen, und was brauche man mehr? Strafe
man den Slum-Kigentümer — er, der Minister, würde sich keine
Augen ausweinen, wenn jeder Eigner von sanitätswidrigen Häusera
Digitized by Google
Der gegenwärtige Stand der Wohnungsfrage in England.
645
vor (iertii Tlnir aufL^chätv^t würde. Aber die Scliukl dafür, dafs
sanitäre L'cbel forlbeständei), lie^e bei den Ortsbehörden und nicht
beim Gesetz. X'on den \'nrschlä<::jen auf Erleichterung und Vcv-
billigung des Fnlei^iiun^sv erlahreiis wollte Mr. Balfour jetioch nichts
wissen. Kr erklärte sie für Einbruch in c^as Ic^jitinic (ieschäfts-
leben. Der X'orschlacr des Mr. Reid, den Bau von neuen Werk-
stätten in den inneren Di>trikicn I.ondun> /u verbieten, sei das
.\Utcni.stc, was nian je «gehört. Kr hiclsc, die einen Eigentümer
von Grund und Boden zu Gunsten anderer berauben, den jetzigen
Eignem von Werkstätten ein Monopol, verleihen. Ebenso abge-
schmackt sei der Vorschlag auf Einsetzung von Mietsgerichtshöfen.
Den Vogel schicfsc die Idee des Professor Brycc ab, auf die Ver-
ringerung des Umfangs von London hinzuwirken. Mit diesem
Problem habe sich bekanntlich schon die Königin Elisabeth abge-
quält. Der eimige praktische Vorschlag sei der Regterungs-
vorschlag, und im übrigen müsse man seine Hoffnung auf die Ver-
besserung der Verkehrsmittel setzen. Wir standen am Vorabend
ungeheurer Vermehrung der Verkehrsmittel. Gebe man den
Munizipalitäten alle Möglichkeiten, die Wissenschaft und Erfindungs-
gäbe für diesen Zweck auszunutzen. Sein, Mr. Balfours, Traum sei,
neben Trambahnen und Eisenbahnen besondere W'e^^e für schnellen
motorischen Verkehr errichtet zu sehen, der die Möglichkeit biete,
die Arbeiter mit gröfserer Geschwindigkeit als jene von Haus zu
Haus zu befördern.
Der Gedanke ist unzweifelhaft schön, wenn nur niclit gerade
die Regierung es wäre, die auch hier jede Gelegenheit wahrnimmt,
der Verschleppun;4sj)olitik der in Frasjc kommenden Ikhörden und
Institute \"orschub zu leisten. Gerade am laj^e zuvor halte im
Parlament ein von den Londoncf ( Icwerkschaftcn ansf^ehcndcr und
von tlem I.iltetaUii l.ou^h vertrcUMur Antra;j^ zur X'erliaii« lluiv^ ;.;<-■-
standen, die l'ascnbahn'^cscllschafien zur X'crmclu uik; uikI Au>-
dehnung der biili;^en l',isen})ah!i/,ii^rc zwischen Eondon und den \'or-
orten anzuhalten, .^ber trot/tlem ihn auch viele Konser\ati\e unter-
stützten, l)raclite ihn die Regierung, unter Austuitzung eines
Verslolses in .seinem W ortlaut, zu Fall, und eine \<in der Eontioner
Arbeiterschaft erstrcl)tc Reform ward, wenn niclit \ereilelt, so doch
auf die lange Bank geschoben.
Die Sache ist die, dafs im Haus der Gemeinen in seiner der-
zeitigen Zusammensetzung das Interesse der Etsenbahngesellschaften
und der Grundeigentümer noch aufserordentlich stark vertreten ist. Die
Digitized by Google
646
K d u a r d Bernstein,
L,'an/c Rcilc Minister Ballour.s atmete Rücksichten auf das Grund-
eigentumsinteresse, vor allem auf das städtische Grundeigentum, das
heute in England viel mehr zu bedeuten hat« als das ländliche. So
radikal der Minister mit Bezug auf die Eigner von Slum-Hausern
sprach, so energisch wies er den Gedanken ab, die städtischen
Grundeigner für die auf ihrem Boden stehenden Häuser verantworte
lieh zu machen. Und wenn sich dafür, soweit es sich um rück-
wirkende Verantwortung handelt, noch mancherlei sagen läfst, so
waren die Grunde für die Zurückweisung der auf Reform des Ent*
eignungsverfahrens und auf planmäfsige Dezentralisierung Londons
abzielenden AntrS^e Zeugnisse übermäfsiger Rück»cht auf Eigen-
tümerinteressen.
Der Gedanke einer Einschränkung des Rechts auf
Errichtung neuer Fabriken im inneren London wird
durchaus nicin als so unvernünftig betrachtet werden können, als
wie ihn Mr. Halfour hinstellte. Solche Einschränkungen wurden
auch vr.nst srli^n verfügt, ohne dafs man sich durch die Furcht, ein
Monopol zu schaffen, hat beirren lassen. Der geschaticne Monoi>ol-
wert kann durch eine zweckniäfsigc Steuerpohtik wieder, eingeholt
werden, l'nd frrner kann ein rntcr.schied gemacht werden zwischen
Fabrikt n fiir Artikel des ortlichen Bedarfs und solchen, die weder inhezug
auf ihren Ah-.it/ noch •enu'lfs der N'atur ihrer l'roiluklion>l)edin''uni[en
örtlich gebuiulen >intl. l'.in X'orM'hl.iL; aut iMitlastuiiL; ! undons \ (>n
einem Teil seiner Fabriken, der aut ilk^t r 1 nterscheiiiung zwischen
örtlich gebundenen und örtlich unabhängigen Werstätten fufste,
ward \or einiger Zeit sehr detailliert im redaktionellen Teil der
kons« r\ rn ..['.ill Mall (i.a/.ette" entwickelt. Mit grofsciri Recht
ward dort au>gctuhrt, dals es unsinnig sei, eine Abnaliine oder auch
nur einen Stillstand in der l'eberfüllung der \'olks»|uartiere Londons
zu erwarten, solange die Arbeitsgelegenheiten sich dort zusammen-
drängen.
Dieser Gedanke ist um so mehr im Auge zu halten, als die
blofse Verwirklichung von Mr. Balfours Traum einer Revolutionierung
der Verkehrsmittel, soweit London inbetracht kommt, noch keine
sichere .Abhülfe verspricht. Die Entfernungen sind hier so grols,
dafs immer ein wesentlicher Teil der Arbeiter das Hinausziehen in
die weniger beengten Vororte scheuen wird. Der das innere
London umgebende Gürtel ist, soweit er nicht von ViUenquartieren
belegt ist, in sehr erheblicher Breite teils ebenso, teils fast noch mehr
übervölkert wie die zum inneren Teil gehörenden Arbeiterdistrikte.
Der j»fj;fawärtigi- .Stund di-r \Vidinunj;slragc in l.ngland.
647
In dieser Verbindung sei noch bemerkt, dafs der auf dem Pro-
gramm der meisten Bodenreformer stehende Vorschlag, die un-
bebauten städtischen Grundstücke so hoch zu be-
steuern, dafs ihre Besitzer genötigt werden, sie zu bebauen oder
bebauen zu lassen, in London von vielen Reformern, die sonst dem
privaten Grundeigentum nicht sehr gewogen sind, mit dem Hinweis
darauf bekämpft wird, dafs London schon jetzt viel zu dicht bebaut
sei und jedes leere Plätzchen 'im G^enteil erhalten werden müsse.
Neuerdings hat der Londoner Grafschaftsrat die Errichtung von
Arbeiterliäusern in die Hand genommen, zu der ihn kein Lichtungs-
plan nötigte, sondern nur das Verlangen, die Wohngclegenheit zu
vermehren. Er hat in dem Vorort Tooting, wie erwähnt, ein grofses
Stück Land erworben, und wird dort Wohnhäuschen für Arbeiter
erbauen, die 12 0(X) Menschen modernen .Ansprüchen entsprechende
Unterkunft bieten sollen. In dieser ToHtik des tn ihändigcn Mrrichtens
von Wohnungen für Arl>eiter und andere Leute in gleichen \'er-
m< vgcnsverhäknis<en sind ihm indes v iele Städte des vereinigten
Königreichs vorausgegangen, und zwar fast ausnalunlov mit guteni
hrlolg. \'on grölseren Städten sintI da in<hr-<nuKre Birniiiighani,
(rlasgow und Liverpool, von kleineren Richin(»nd. (ircenock und
Ooydon zu nennen. .Xbcr mcibt scheitern die Pläne an den vorher
aufgezählten .Schwieri:;keiten.
Die Stadt M a n c Ii e > t c r hat bei ciiK in von ihr beabsichtigten An-
kauf eines grölseren .Areals fiir I >eliauMiii:;-./\\ ^ ckc mit der Oj^position
verschiedener Pri\ alinteressenlen zu k.ini|«len. l:> li.uuielt sich um
237 Acre (95 Hektare) Land bei Hlackle\ iin Süden von Manchester,
das die Stadt für 36 oOO Pfund Sterling ankaufen will, um 1 87 Acres
mit Arbeiterhäusern zu bebauen und 50 Acres fUr Arbeitergärten
(„Allotments") auszulegen. Ein Bauplan fiir Hausungszwecke im grofsen
Stil, den der in seiner Mehrheit aus Sozialisten und Gewerkschafts-
Vertretern bestehende Gemeinderat von VVestham bei London— ^
ein hochindustrieller Bezirk mit etwa 250000 Einw^ohnem — aus-
gearbeitet hatte, ist am 6. April d. J. in direkter Abstimmung von
den Gemeindewählem verworfen worden. Nach dem Plan sollte
eine Million Pfund Sterling fiir den Ankauf von Land und den Bau
von Arbeiterwohnungen ausgelegt werden. Die verwerfende Mehr-
heit war nicht sehr grofs und soll nur dadurch zustande gekommen
sein, dafs viele Pluralstimmen abgegeben wurden.*) Indefs würden
') Dft in England der Mieter qua hticter Stimmrecht hat, kann, wer zwei Lo*
Digitized by Google
648
s
Eduard Bernstein,
die Pluralstimmen zur Erzietung der Mehrheit nicht ausgereicht
haben, wenn nicht die Tdlnahme an der Abstimmung, trotz einer
aufscrordentlich intensiven Agitation, eine sehr geringe — noch nicht
40 Proz. der Stimmbercchti^en — gewesen wäre.
Klassenprivile^ium, Klasscnvnruitcil, Klassenträi^licit — das sind
die drei gröfsten Feinde einer durciigreifenden Verbesserung der
Wolinungsverliältnisse. und es Ist schwer zu sn«:jcn, welcher davon
der gröfsere ist. Mr. Sidney \\ <M'. einer der besten Kenner der
einsrh]äj:^i5:jcn Verliältnisse , erklärte auf der Einp^angs erwähnten
Konferenz unter allseitii^er Zustinmiunf^ den Trä;^dicitswiderstand
derjeniL,'( n, für welrlic die W'olmunf^^sretormcn Ijetrielu-n würden, für
den sc!iliinnib.ten ihrer Feinde. I'.s ist unendhch schwer, Klassen,
die (iener.iliunen hindurch an nienschcnunwvirdij^es Wohnen ;j^cwöhnt
worden sind, zur vollen \\'iir(1i<^un|^^ ^esutiden und aiisländiL^en
WOhnens zu erziehen. Die Stadl GlasL^DW hat vielleicht nielu als
irj:jend eine zweite Stadt des \ ereini^^ten Königreichs für die Hcsserunv;^
der W'ohnungsverhältnisse der ärmeren Bevülkerungsklassen ^i than.
Sie hat u. A. neben I .ogierhäusern für Einzelpersonen auch ein
Logierhaus für Familien (Witwen oder Witwer mit Kindern) errichtet.
Aber, wie der sozialistische Gemeinderat P. G.Stewart am 16. April d. J.
auf einer Konferenz von sozialistischen und gewerkschaftlichen Ge-
meindevertretem ausführte, — so gut die Idee war, so mache die
Stadt doch bei diesem Logierhaus jährlich 700 — 800 Pfund Sterlii^
Verlust. Viele Angehörige der ärmsten Bevölkerungsschicht wohnten •
lieber in den Slums als sich der Bequemlichkeiten zu> bedienen,
welche ihnen das F'amilienheim biete, es scheine manchmal hoffhungs*
los, ihnen beizukommen. „Die ärmeren Klassen", fiihrte auf der
Hausungskonferenz der sozialistische Gemeinderat Lawson Dodd aus»
„wollen und müssen billige Wohnungen haben; sie verstehen, was
sechs Pence die Woche weniger Miete meint, aber sie verstehen
nicht, welchen Vorteil solide Fundamente, staric verbundene Abzugs-
rohren und Spülklosetts bedeuten. Sie stehen nicht an, in ein schon
übcrfüUtes Heim norli ein paar Aftermietcr /u nehmen, aber sie
verstellen nicht, ilals jeder Inwohner eines .Schlafzimmers mindestens
ir)Do Kubikfufs Luftraum 1; i!i 11 sollte. So haben die ötTcntlichen
Behörden denen, die sowohl arm wie unwissend sind, einen ge-
sunderen Artikel unter den gegenwärtigen Gesetzen ebenso teurer
oder noch teurer darzubieten wie der Markt"
kalitiit. n f;omietet bat — etwa ine Wohnung und ein GeschXflslokml — bei ge-
wi«»«n Abstimmungen flir jede derselben Stimmrecht aosttben.
Digitized by Google
Der gegenwärtige Stand der Wohnungslragc in i.ngland.
Mr. Dodd teilt in seinem» auch sonst sehr instruktiven Referat
einen eigentümlichen Plan mit, nach dem der Gemeinderat eines
der Vororte im Norden Londons — Hornsey — eine Schwierigkeit
munizipaler Hausungspolttik zu überwinden sucht, nämlich das
Problem, auch (tir den individuellen Fall die Wohngelegen*
heit möglichst dem Wohnbedürfnis anzupassen. Ein
schlechtbezahlter Arbeiter mit viel Kindern braucht offenbar mehr
Wohnraum als ein gutbezahlter Arbeiter mit wenigen Kindern.
Wird aber die Wohnungsmiete streng nach dem Kostpreb berechnet,
so wird natürlich bei der Wahl der Wohnung die Zahlungsfähigkeit
über den faktischen Bedarf entscheiden. Man ist nun in Hornsey
auf den Ausweg verfallen, die Mietssätze der gröfsten urul kleinsten
Wohnungen etwas höher anzusetzen, als der wirkliche Kostpreis,
um dafür tlie Wohnungen mittlerer (xröfse, für die der gröGste
üiktische Bedarf ist, etwas billiger liefern zu können. Es ist un>
schwer, in dieser Anordnung die Anwendung eines durchaus
sozialistischen Prinzips zu erkennen, und es ist um so merkwürdiger,
dafs man gerade in Hornsey darauf verfallen ist, als der ( leincinde-
rat dieses ( )rtcs keinc'^'.vcgs besonders radikal i>l. Freilich darf
nicht übersclu ii werden, dals die^^es ganze Arrangement sich nur
auf die von der deiiieinde ( i>tellteii Arheiterliäu-^clien l)c/ieht, der
Ausgleicii zwi-chen iSedarl und l'reis sieh ><>niii nur innerhalb der
Arbeiterklasse abspielt. Doch sind die Häu.schen gut eing<.ri<-htet
und bewirkt, wie Mr. Dodd schreibt, ,.die gegebene lendciiz der
menschlichen Natur, einen Gegen>l ind nach seinem Preis zu werten,
dals alle Beteiligten mit dem Arran.4enient zulricdi-n sind."
Die Preise der kommunalen WUhnungen weichen nirgends
sehr von den Durchschnitt.si>reisen der Wohnungen von gleicher
Gröfsc ab, doch wird in den meisten Fällen Besseres in der
(Qualität geboten. So z. B. in Richmond, wo die munizipale
Bauthätigkeit so erfolgreich ausgefallen ist, da(s alsbald die Ver-
mehrung der Kommunalwohnungen beschlossen wurde. Eine Be-
schreibung der Wohnungen selbst fallt nicht in den Rahmen dieses
Artikels. Doch sei soviel bemerkt, da(s, wie übrigens selbstver-
ständlich, mit dem Fortgang der Bewegung auch die Wohnungen
— ob Blockwohnungen oder Ein- und Zwei • Familienhäuser —
immer zweckmäßiger und gefalliger hergestellt werden. Das gilt
z. B. auch von den zuletzt gebauten Blockwohnungen des Londoner
Grafschaftsrats. Früher gemachte Fehler werden vermieden, ander-
wärts erprobte Neuerungen aufgenommen die Wünsche der Mieter
L.ivjM^L,j L,y Google
Eduard Bi- rn s t <■ i n ,
selbst besser berücksiclnigt. Was diePreisbemessung anbetrifft,
so wird heute vielfach darüber gestritten, ob man die jährliche
Tilgungsquote bei ihr mit in Ansatz bringen oder, statt aus den Mieten
aus den Steuereinnahmen decken soll. Nach den Einen gehört die
Tilgungsquote zu den Selbstkosten und bedeutet ihr Erlafs eine Unter-
stützung der Mieter und je nachdem ihrer Lohnherren. Dagegen
wenden die Verteidiger der Gegenansicht ein, dafs die Mitansetzung
der Tilgungsquote bei der der Mietshöhe eine ungerechte Be-
1a>tun;4 der Mieter zu (nnistcn iler übrigen Steuerzahler bedeute.
Denn die Häuser fielen ja doch schliefsiich der ("lenieindc als freies
fcigentUTTi /.u. Wie aus dem ttitu iuT der Arbeiterabj^enrdnclen er-
sichtlich, haben diese sich auf den letzteren Standpunkt gestellt.
Im übri«:fen schlagen sie eine so weite Ausdehnung tier Tilgungsfrist
vor, dafs die Frnge viel von ihrer praktischen Bedeutung verliert.
Und hierin, in dem X'erlangen nach Ausdehnung der Tilgung>fristen,
werden «ii- von den meisten bürgcrlirlu n Reformern unterstützt.
Aui einer in den l'tingsttagcii in l)ublin abgehaltenen Koii-
fcrenz des Bundes städtischer \' e r t r e t u n g e n . auf der
alle bedeutenderen Städte des vereinigten Königreichs ».»lli/icll \ er- ■
treten waren, beantraL;ten die Vertreter für Dublin folgende Reso-
lution zur Hausungsfrage :
. l)];- ( i. -i t/.^-rVnitij,' üb r d. n Frwt rU von Badcu durch örtliche Behörden
bctiurl in lol^t mler Rirlitung d«. r Abänderung :
1. Vereinfachung und Abkürzung dtfS Verfahrens;
2. Bestimmungen, welche den Erwerb des Freilebens von GnuBdstOcken and
GebSuden erleichtern, und Bcseitif;ung der so hSiixüg auftauchenden
Schwierigkeiten mit Bezug auf übersehene lntert s>i-n ;
3. Redoktion der Kosten, dir li.-ut*- v. rursacht wt rd. n ilurcli . ;i dir An-
S'-f/.nng eines liktivrn Wert» lur ( irinuKstvi« . .Jir Sur 'ttVntliclic Zwi ckf
j^'rhr.iuilit w.nlcn ; In dir l'c\villi;;unf: von unm-l>uhi In ht-n AulVcldä^'- n
bei Zwan^sv crkaulcn ; c.i die AiiNct/unj; eines \Verte> (iir Gebäude. «!if zu
menschlichen Wohnungen nn^ct i^nei sind; d) die ungi iicure Kostspielig-
keit de* gregenwärtigen Systems der Prüfung der Kechtstitel;
4. Ausdehnung der Bestimmungen der Agrargesetzgebung auf Erbxinse, Krön«
renten, Zehnten, Zehnttitel und Meliorationslasten ;
5. II. -i hränkung d<-r Zubilli^utit; \-on Zins< n auf Ankaufspreise auf solche
F.nlle, wo willkürliche Verschleppung seitens der Loltalbebörden vorliegt."
Auf Vorschlag des Rechtsberaters der Londoner City ward die
Resolution einstimmig durch eine einfacher g^efafste ersetzt, die nur
fjenerell Abänderung der deseize ül». r den Bodenerwerb von Ge-
meinden verlangt und den Ausschuls des Bundes beauftragt, einen
Dcr^ gcffcnw&rtif^e Stand der Wuhnungsfragc in Kurland.
entsprcchcfHlfii Gcsct/.ciitwurf auszuarl iciten. Prinzipiell sprach sich
jedoch nieniarul i^ci^^cn den l)ul)IiiKr AnUa;^^ aus.
Es ^iebl überliaupl keinen einzigen namhaften l'tjliliker, der
den jetzigen Zustand hinsichtlich der Wohnungs/.ustände untl der
damit in Verbindung stehenden Gesetzgebung nicht als unhaltbar
bezeichnete. So erklärte vor einigen Monaten Lord Roseber>- bei
der Eröffnung kommunaler Arbeiterwohnungen in Shoreditch (Nordost-
London), in I^ndon erheische die Wohnungsfrage einen Diktator,
der mit eiserner Hand dreinfahre, und demselben Gedanken äufserte
am 31. Marz auf einer Versammlung des christlich-sozialen Bundes
der Abgeordnete Haidane, ein sehr einflufsreiches Mitglied der libe-
ralen Partei. Mr. Haidane, ein Jurist, der besonders die englischen
Bodetirechtsprobleme gründlich beherrscht, erklarte es ftir das beste,
erst einen General Kitcheiier oder Roberts zu beauftragen, alle Slums
niederzulegen, und .dann die Rechtstitel zu untersuchen. Im übrigen
betonte auch er die Notwendigkeit, sich nicht auf ein einziges Heil-
mittel zu l)escliränken, sondern die Frage von allen Seiten anzu-
packen, im die Wohnungsfrage gruppiere sich die ganze soziale
Frage. In den X'ordergrund gehöre indes zur 7a \\ die Erweiterung
der Gemeindevollmachten und die Reform der Bodenbestcucrung —
ohne sie keine wirksame Hausungs- und Verkclnspolitik.
Ueherblicken wir noch einmal das (icsamtbild, welches die Hc-
wegung für die bessere Behausung des X'olkes in Kngland darstellt,
so läfst sich nicht verkennen, dafs sowohl in der (iesetzge!)ung wie
in der Praxis der ( ienieindcn und ähnlicher KTirj^erschaftcn mancherlei
Fortschritte zu verzeichnen sind, die l-lcwei^un;^ üheihaupt sich stetig
ausbreitet. .Aber den l 'ehelständcn gegenülK-r, die zu l)ckcänij»feü
sind, ist das bisher (leleistele — einzelne, niei^t klriiu re Orte aus-
genommen — immer noch sehr wenig, l-.s bedarf noch unendlich
vieler Aufk]äiimg->- vnid .Agitationsarl)eit, um eine gründliche Reform
herl)cizufühicn. In dieser luki-nntnis haben sich allerhand Komitees
gcliildct, die Agitation uiul .\ktion in (lang zu erhalten. Die wicii-
tigsten von ihnen sind der A r b e i t e r ha u s u n g s a u s sc Ii u i s
in London, der aus Delegierten gewerkschaftlich und politiscii
organisierter' Arbeiter zusammengesetzt ist, und das nationale
Komitee für die Hausungs frage, dem Reformer aller Art,
darunter eine ganze Reihe Parlamentsmitglieder, angehören. Beide
Komitees, bezw. die sie vertretenden Parlamentarier, wollen jetzt ihr
Möglichstes aufbieten, die R^ierungsvorlage über die Wohnungs-
reform in der Kommissionsberatung durch Zusatzanträge zu er-
L.ivjM^L,j L,y Google
652 Bernstein, L)cr gegenwärtige Stand der Wuhnungsürage in England.
weitem, wobei als nächste Ziele Vcrbilli^^uii^ der BodenbescliatiuiiL;
und Verlängefung der Tilt;uii-sfristen kommunaler Bauanleihcn in
Aussicht genommen sind. Begründet wird die letzte Forderung
mit dem Hinweis auf die gröfsere Solidität der von den Gemeinden
erstellten Wohnhäuser. Wo nicht abnorme Bodenrenten gezahlt
werden, bildet der Zins für die Baukosten und den Tilgungsfond
bei kurzer Tilgungsfrist den gröfsten Posten in der Reihe der Ele-
mente, aus denen der Mietspreis sich zusammensetzt
üiyiiized by Google
GESETZGEBUNG.
DEUTSCHES REICH.
Die Novelle zur Gewerbeordnung. 0
(Vom 30. Juni 1900.)
Von
HERMANN MOI.KENBUHR,
Mitglied des Kcichsta^vs.
Manche That der ticset/gcbun|^' ist für den fcrnstchciulcii volli;^
unverständlich. Plötzlich werden einige Spe/ialfr.i^cn aul^cj^M iiicii
und gesetzgeberisch geregelt, während man andere Dinge, oft schrei-
ende Milsstände, völlig unbeachtet lafst Am häufigsten wurden
die Gewerbegesetze von der Gelegenheitsgesetzmacherel betroffen.
Hier kämpfen veraltete und moderne Ansichten miteinander, und
wenn dann scheinbar unerwartete Ereignisse hinzutreten, dann hält
man den Augenblick gekommen, um gesetzgeberisch einzugreifen.
Dem Geschichtsschreiber wird es schwer werden, die Gründe zu
finden, die zu den vielen Abänderungen der deutschen Gewerbe*
Ordnung geführt haben. Nur teilweise werden sie in den Motiven
angeführt. Ja es kommt vor, dafs die wirklichen Gründe nicht
nur verschwiegen, sondern oft direkt in ihr Gegenteil verdreht
werden.
Wer z. B. die Begründung der neuesten Gewerbeordnungsnovelle
liest, mufs zu der l"ebcr/A Ui;ung kommen, dafs die Aenderungen,
betreffend die Stellenvermittking nur dadurch herbeigeführt sind,
dafs man die Stellenvcrmittler als unzuverlässige Leute erkannt hat.
In der That liegen die Gründe auf einem ganz anderen (Tcbict. Die
Klagen der ostelbischen Grundbesitzer über die Leutenot haben .der
*) Vgl. meine Besprechung der Norelle in ilirer «m 2. März 1899 dvm Kriclis*
tag vorgelegten Gestalt, in diesem Archiv, Bd. XIV, S. 191 ff.
Digitized by Google
654
(rr>ctig<.'l>ung: Deutsches Reich.
Rej^ierung schon manch schwere Sorge gemacht. Die Grunclbesiucr
verlangen Beseitigung der Frei/ü«:jigkcit für ländliclie Arbeiter.
Diesem Wrlan-^^cn kann die Regierung aus Rücksiclit auf die In«
dustrie nicht nachgeben. Kann man die Freizügigkeit niclit besei-
tigen, so soll wenigstens der Versuch gemaclit werden, dem Land'-
arbciter das I'ortzichen zu erschweren. Da <:ch der Landarbeiter
vielfach an SiellcnveTmittler wendet, uni Arbeit in den Zucker-
fabriken oder bei Kanal- und hüsenbahnbautcn zu erlangen, so glaubt
man die Wanderlust der Landarlu-itcr t inschränken zu können, \\enn
man tler Thäligkeit der Stellen\ 1 1 niiuler Schranken setzt. Uic Aeii-
derungen der ijij ;^4. 3" und der ( iewerbeonlnung sind haupi-
sächiicli dun Ii die Klai;cn der Landwirte hervorgerufen. 1 )a man
.sich eiinn.il mit den Stellenvermittlern beschäftigte, nuilste man
• auch Riicksicht auf die Klagen der ( iastwirtsgehilfen, Schaus{)ieler,
The;iterange>tellten u. s. w. nehmen und versuchen, diese vor Aus-
beutung zu schützen; daraus ei\tstand der i; 73a.
Noch zwei aulsere rmstände wirkten auf die Kinbrinj/ung und den
Inhalt der Novelle ein. Die Bestimmungen über die Ladengeschäfte
wurden nötig, als die Kommission für Arbeiterstatistik durch ihre
im Herbst 1892 eingeleiteten Erhebungen festgestellt hatte, dals in
Ladengeschäften die Gesundheit der Angestellten, durch übermäßig
lange Arbeitszeit, schwer geschädigt wird. Wenn in anderen iCre-
werben ähnliche Zustände festgestellt werden, dann hat der Bundes-
rat das Recht, auf Grund des § I20e der üewerbeordhung durch
Verordnung eine Regelung der Arbeitszeit herbeizufuhren. Auf
dem Wege der Verordnung konnte hier nicht vorgegangen werden,
weil der § i2oe der Gewerbeordnung für das Handelsgewerbe nicht
gilt und das Handelsgesetzbuch eine gleichlautende Bestimmung
nicht hat.
Der dritte äufsere Anlafs zu dieser Novelle wurde im Februar
1896 durch den Strike der Konfektionsarbeiter gegeben. .\ls infolge
des Strikes die X'crhältnisse dieser Arlx iter näher beobachtet wur-
den, fand man solch schreiende Mifsstände. dafs sie ein Eingreifen
der ( iesetzgebung dringend erforderten. Die .Abgeordneten Hey!
zu Hernsheim und Prinz zu Schocnai' h-Carolath brachten infolge-
dessen im Reichstage eine Interpellation ein, um die Verhältnisse
zu besprechen und stellten im .Anschlufs an diese Interpellation eine
Reihr Min Anträgen, durch welche die 1 lewerbeordnung tlerart ab-
geändert werden sollte, dafs viele Mifsstände beseitigt wurden, l'eber
die Anträge konnte nicht verhandelt und abgestimmt werden, da es
HcMuaiiu MMlkcaliuhr, Die Novelle zur GcwcrbcordnuDg. (j^^
nach der Getehaftsordnung des Reichstages unzulässig ist, an eine
Interpellation Anträge zu knüpfen. Statt direkt Beschlüsse zu fassen,
wurde die Kommission für Arbeiterstatistik beauftragt, die N'erhält'
nisse der Konfektionsarbeiter näher zu untersuchen. Diese Unter-
suchungen kamen im Frühjahr 1897 zum Abschiuls und bewirkten,
dafs die Regierung, durch eine am 18. Mai 1897 eingebrachte
Novelle zur Gewerbeordnung, eini<,'cn Mifsstämlcn cntL^egentreten
wollte. Die Novelle wurde wegen Sclilufs der Session des Rei< lis-
tages nicht crltdi'^'t und erscliien zum Teil als drittes Glied in der *
jetzigen Xo\ <11< Die verschiedenen Materien erschwerten die rasche
Erledigung der Novelle im Reichstage.
Ks gehvirt wohl zu den .Seltetiheitcn in der (.jeschiclitc der Ge-
setzgebung des Dcutx hcn Reiches, dals eine Novelle von so ge-
ringcni l'mfaiig, wie die < it \vcrhcordnungsiio\elle, so lange Zeit ge-
braucht hat, bis -ie \ > im Keichstai^i' \ rrab>chicili i wnidc Arn
2. März 1899 kam die Noxelle .in den Reichstag, sie wurde am
19. und 20. April in erster L.esung beraten und an eine Kom-
mission \erwiesen. Mitte Juni gelangte der Kommissioi',si)eiicht
an das 1 laus und gleich nach den grofsen Ferien wurde die No-
velle in zweiter Lesung thnchbci att 11 , so dals am 5. Dezember
schon die dritte Lesung sl.itttuulen komilc. Wegen schwacher
Besetzung des Hauses uufl Drohungen mit Bczwcitlung der He-
schlufsfahigkeit mul'ste die Beratung abgebrochen, und konnte dann
erst am 23. Mai 1900 beendigt werden. Also nicht weniger als
volle vierzehn Monate ist diese Novelle „Gegenstand reiflicher Er-
wägungen" gewesen.
Alle Erörterungen hatten nur die Folge, einige Vorschläge
der Regierung konsequenter durchzuluhren, aber in wesentlichen
Punkten blieb der Reichstag hinter den Vorschlägen ' der Re*
gierung zurück. Auch seine Mehrheit erblickte in der Thätigkeit
der Stellenvermittler eine der Quellen, durch welche die Leute-
not auf dem Lande verursacht wird. Deshalb wurde dem § 38
des Entwurfs ein neuer Absatz hinzugefögt, welcher den Zentral-
behörden das Recht giebt, den Stellenvermittlern die Ausübung
ihres Gewerbes im Umherziehen, sowie den gleichzeitigen Betrieb
des Gast- und Schankwirtschaftsgewerbes zu beschränken oder zu
untersagen. Für die erstere Bestimmung wurde angeführt, dafs oft
Leute, tlie gar nicht daran denken ihren Arbeitsplatz zu verlassen,
von den Stellenvermittlem aufgesucht und zum I'ortziehen überredet
werden. Es mag ja vorkommen, dafs der Wandertrieb durch um-
Digitized by Google
656
OesetZ|;e)>ung : Drutscbes Reich.
herziehende Agenten angeregt wird, aber dieser Uebelstand wird
kaum durch die neue Bestimmung beseitigt werden. Wenn auch
in Gegenden, wo Mangel an Landarbeitern und Dienstboten ist,
kein Steilem trmiitler konzessioniert wird und es dem in der Stadt
wohnenden Vermittler auch untcrsaqt ist. selbst hinauszugehen und
Leute nn/inverben, so kann es doch <;e\viss nicht v erhindert werden,
dals Arbeiter in <!cn Dörfern des (Ostens, die Lage der Erdarbeiter,
der Bergleute und der Arbeiter in den Rübcnfeldern in den rosigsten
Karben schildern untl den unzufriedenen Landarbeitern die Adresse
lies X'ermiitlers sagen, der in der Lage ist, besser bezahlte Arbeit
nachzuweisen.
Das \'erbot oder die BeschränkunL: des Gast- und Sch.itikwirt-
scliaftsbctriebes für Stcllcnvermittler soll ein Schutz \uv die Arbeits-
losen <cin. Bei Sceschirtern. Kellnern und einit;cri antleren (iewerbcn
wird (larulicr <^'ekla;^'t, dafs der .Stellenvcrmittler, welcher ^ieich/.eilig
(last- oder Sch.uikwirt ist, nach t4Ut<:^el< »hiitcii Stellen nur solche
Leute hinschickt, die ihr f^an/.es Geld bei dem Stellenvermittler
\er/,chiLii. Iii diesen f'ällen ist die L;e/ahUe \'ernnttluiii^st,abühr
nur ein Bruchteil der Summe, welche der Arbeitslf^^e für die Stelle
auszugeben hat. Schitislcutc will die Reichsregierung besonders
schützen. Für diese ist der Entwurf eines Spezialgesetzes ausge-
arbeitet worden, das sich insoweit von den Bestimmungen der Ge-
werbeordnung unterscheidet, als es vorschreibt, dafs die Taxen von
deif Landesregierungen festgesetzt und von dem SchiiTsmann
und Rheder je zur Hälfte zu bezahlen sind. Ferner wurden eine
Anzahl Kautelen vorgeschlagen, den Schiflfsmann vor Ausbeutung
durch Vermittler, oder deren Helfer zu schützen. In der Gewerbe-
ordnung ist man aber nicht soweit gegangen, und da das Gesetz
„betreffend die Stellenvermittlung für SchifTsleute" nicht erledigt ist,
wird ein grofser Teil der Uebelstände auch lur SchifTsleute fortbe-
stehen. Würde die Regierung zunächst ein scharf umrissenes Ziel
vor Augen haben und dieses durch positive Organisationen zu er-
reichen suchen, dann könnte ein grofser Teil der Uebelstände ohne
polizeiliche KeglenienticrunL; beseitigt werden. Aber ein Ziel ge-
nügt der Regierung in der Regel nicht, sie will gleichzeitig mehrere
Ziele erreichen und erreicht dann gar keins. So wurden hier die
Klagen der Landwirte über die Lt utcnot mit den Beschwerden
der .Arbeiter vermengt und da blieb kein anderer Ausweg als der
Appell an die l'oli/ei.
Diese soll dafür sorgen, dafs nicht zu viel Stellenvennittler kon-
Digitized by Google
Her mann Molkenbuhr, Di«.- .Ni»vt'llc ^Uf (jcwcrbcordnung.
zessioniert werden; sie soll verhindern, dafe unzuverlässige Leute
das Geschäft betreiben; sie soll auch verhüten, dafs durch Betreiben
des Gewerbes im Umherziehen oder durch den gleichzeitigen Be-
trieb einer Gast- und Schankwirtschaft Mtlsbrauch getrieben wird
Würde das bunte wirtschaftliche Leben sich nun in den polizeilich
vorgeschriebenen Grenzen bewegen, dann wäre auf diesem Wege
etwas zu erreichen, da aber heute noch, genau so wie zu Sliake-
spcares Zeiten, es mehr Dinge im Hinunel und auf Erden giebt,
als unsere Schulweisheit sich träumen iäfst, so werden trotz allen
Reglementierens die alten Mifssiände fortbestehen.
Den Petitionen der Barbier- und Friseurinnungen, in denen
darum gebeten wurde, dafs die Cieschäfte dann an Sonn- und Fest-
tagen geschlossen sein sollen, wenn keine Gehilfen und Lehrlinge
beschäftigt werden dürfen, ist durch den neugeschaifenen § 41b
Rechnung getragen.
Ein solcher Schluls der Geschäfte soll eintreten, weini zwei
Drittel der beleiligten Gewerl)etreibenden es beantragen. Da es
aufser den Harbier- und IViscurgeschäften noch (iescliäfte geben
kann, in welchen die \'erhältnis>e ähnlich liegen, so hat man die
Worte: ,,in Barbier- und h riseurgeschäften" wie es in dem .Antrage
der Kommission hiefs, durch die Worte : „in bcstininiUMi t u \\ erben"
ersetzt Hier wird es einer Mehrheit uberlas.sen Beschlüsse zu
fassen, die, wenn sie gefafst sind, von den Behörden durchgeführt
werden müssen. Der Verstols gegen solche rechtsgiltig gewordenen
Beschlüsse wird mit Geldstrafe bis zu 600 Mk. bestraft. Die Ver-
letzung dieser Beschlüsse wird abo schärfer geahndet als eine
Uebertretung.
Der hier in die Geset^ebung eingeführte Grundsatz könnte,
wenn er weiter ausgebaut würde, zu wirklichen Reformen des
Arbeiterschutzes fuhren. Man brauchte nur den Arbeitern gleiche
Rechte zu geben, z. B. indem ein Maximalarbeitstag in einem
Gewerbe eingeführt werden soll, sobald mindestens zwei Drittel,
der in dem Gewerbe beschäftigten Arbeiter dies beschliefsen. Aehn-
lich könnte man den Arbeitern Rechte geben zur Einfuhrung von
Unfall- und Krankheitsverhütungs\orschriften. Die durch solche
Beschlüsse eingeführten Schutzbestimmungen würden vom Tage
ihrer Einführung an populär sein, und deren Durchführung würde
auf wenig Schwierigkeit stofsen, weil die übcrgrofse Mehrheit der
Arbeiter die Durchfuhrung selbstgeschaffener Gesetze kontrollieren
würde.
Archiv für w<. CcMttgebung u. Statiilik. XV. 43
Digitized by Google
6^8 Gesetzgebung: Deutsches Reich.
Die Durchführung des § 1 05 e hat zu berechtigten Klagen An-
lafs g^eben. da einzelne Landesregierun;^^cn Sonntai^sarbcit in Be-
trichen, wclclic mit durch unregelmäfsige Wasserkraft bcwc^'tea
Triebwerken arbeiten, <;estattetcn, während sie in anderen Bundes-
staaten gleicharti;; n Betrieben VLiboten ist. Speziell klagten die
rheinischen Papiertabrikantcn darüber, dafs <ie ihre Werke still-
stehen lassen müssen, während in Sachsen und Bayern das Arbeiten
gestattrt ist.
L in diesen lVl)clstanil zu beseitigen, ist ein neuer Absatz in
i? 105 e eirv^efüi^'t, nach ^velrheIn der Bnndcsrnt nälicrc Hcstini-
niiinL^cn über »Ik Vorausscizunj^cn und Btdinj^^unj^cn trclicn soll,
lUiter wclclu'ii ilic Ausnaiimen zulassig sein sollen.
T).is Sfliiiicr/enskind des Kntwurfes sind <lie Iksimnnungen
über tlic 1 l.iu-.irbeit. Durch diese wurde die bciilulsabstimniung
auch so lange liinansgeschobcn.
Zwar w ird allseitig anerkannt, dafs hier grobe Mifsstände be-
stehen. Aller die Hausarbeit ist bis jetzt das Freij^cbict, wo die
schützende Hand des (iesetzes nicht hinreicht. Daher werden gegen
den Schutz der Hausarbeiter alle Einwendungen geltend gemacht,
die sonst gegen den Arbetterschutz überhaupt ins Feld geführt
wurden. Von allen gutgemeinten Anläufen, die im Februar 1896
in dem Antrag Heyl zu Hernsheim, in der Novelle vom 18. Mai
1897 und in dem jetzigen Regierungsentwurf gemacht wurden, bt
nur Lohnbuch resp. Lohnzettel übrig geblieben. Das Lohnbuch
soll den Arbeitsvertrag klarstellen und dem Arbeiter AufechluCi da-
rüber geben, welche Arbeit er zu liefern und welchen Lohn er zu
beanspruchen hat. Der Reichstag hat hinzugefugt, daCs für den
Fall, wenn Kost und Wohnung gewährt wird, auch die hierüber
geltenden Bedingungen im Lohnbuch aufgeführt, ferner dafs die Be-
stimmungen der Gewerbeordnung über Lohnzahlungen in dem Lohn-
buch abgedruckt werden nuissen.
Das Lohnbuch wurde auch gleichzeitig für in Fabriken be-
schäftigte minderjährige Arbeiter vorgeschrieben, falls in den
1 abriken dasselbe Gewerbe betrieben wird, für welche das Lohn-
buch für Hausarbeiter \ < >rgeschrieben ist. Ferner wurde in S 134 b
ein Zusatz eingefügt, nach welchem es \'erl)oten ist in Fabriken
den Arbeitslohn an einem .'Sonntag auszuzahlen.
Der \ ()n der Regierung vorgeschlagene und \ on der Kommission
angenommene i? 137 a und iler Zusatz zu 154 b wurden in flritter
Lesung von» Kcich.stagc abyelehnl. Mit diesen Bestinunuugen.
Digitized by Google
Hermann Molkcnbultr, Die Nuvclle /.ur iicwcrbcordnung.
659
wollte die Regierung nur die Durchfuhrung der §§ 135 bis 137
ermöglichen. Hs ist eine völlig falsche AufEissung, wenn man an-
nimmt, da(s hierdurch der Versuch gemacht werden sollte, die Ver-
haltnisse in der Hausarbeit zu regeln. Auch wenn diese Bestimmungen
Gesetz geworden wären, hätten die Frauen als Hausarbeiterinnen
täglich 24 Stunden beschäftigt werden dürfen, ebenso hätte es keine
Schranke für Kinderausbeutung gegeben. Nur für den Fall, dafs
der weibliche oder jugendliche Arbeiter in der Fabrik oder Werk-
statte bereits zehn resp. elf Stunden beschäftigt war, sollte es ver-
boten werden, die in der Fabrik al^brochene Arbeit zu Hause für
dasselbe Geschäft, fortzusetzen. Praktische Bedeutung würde die
Bestimmung für Wäschefabriken gehabt haben, in denen es vielfach
üblich ist, dafs I<rauen die elf Stunden in der Fabrik mit Maschinen-
nähen beschäftigt waren, die zugeschnittenen Sachen mit nach
Hause nehmen und dort die \"orbcreitungen für das Maschinennäben
wie Kleben u. s. w. für die Arbeiten des nächsten Tages besorgen.
Gegen den Paragraphen des Kntwurfs sowie der Kommissions-
beschlüsse war eine umfangreiche, von Berliner Konfektionsfirmen
veranlalste, Petition eingelaufen, in welcher <!ic Hausarbeit als
idyllischer Zustand geschildert und als besonders gute f^igcn-
schaft für die Arbeiter der l'mstand gepriesen wurde, tiafs die
Frauen länger als elf Stunden arbeiten dürfen. ( lanz offen wurde
anerkannt, dals die Löhne nicht au>rcic iifii . um bei elfstündiger
Arbeit eine Grundlage für die Existenz /.u bieten. Kine längere
als elfstündigc tägliche Arbeit soll deshalb nötig sein, weil das
Konfektionsgeschäft ein Saisongeschäft ist und die Arbeiter zwei
mal im Jahre eine arbeitslose Zeit haben. Die Frage, ob es nicht
möglich sei, die Arbeit mehr über das ganze Jahr zu verteilen, wurde
garnicht berührt. Und doch wird kein Kenner des Geschäfts be-
streiten, dafs ein gewisser Ausgleich möglich ist. In jedem Ge-
schäft werden Stapelartikel angefertigt, die ganz gut das Lagern ver-
tragen können. Die Anfertigung dieser Stapelartikel könnte sehr
wohl in die flaue 2^it verlegt werden. Aber so lange der Kon-
fektionär in der Saison hinreichend Arbeitskräfte findet, die bei
sehr intensiver Arbeit, die verlangten Stücke fertig stellen,' so lange
werden die Sachen erst dann in Arbeit gegeben werden, wenn der
Kunde auf Ablieferung dringt. Wenn es nur gelänge die Perioden
der Arbeitslosigkeit abzukürzen, wäre den Arbeitern schon viel ge-
holfen. Das Bewufstsein, zweimal im Jahre längere Zeit arbeitslos
zu sein, zwingt die Arbeiterinnen zu übermenschlicher Anstrengung
43*
uiyiii^od by Google
66o
(j< si i/^cbung : DfUUchi's Keu h.
und zur Zerstörui^g ihrer Gesundheit Die Annahme des § 137 a
würde thatsächüch wenig geändert haben. Aber einen indirekten
Nutzen von nicht zu unterschätzender Tragweite hätte er gehabt.
Durch seine Annahme wäre der Teil der Hausarbeit, för welche
diese Bestimmung gelten sollte, der Gewerbeaufeicht unteistellt
worden, jedes Jahr hätten die Gewerbeaufeichtsbeamten in ihren
Berichten Ihre Wahrnehmungen mitteilen müssen und da lälst sich
annehmen, dafs dauin solches Material an das Tageslicht gefördert
worden wäre, dafs man schliefslich die Gcsetzj,'ebun<T gezwungen
hätte, weitere Schritte zur Beseitigung der Mifsstände zu thun.
Die wenigen Augcnblicksbilder, die bei dem Strike der Konfektions-
arbeiter im Februar 1896 ans Licht gebracht wurden, wirkten schon
so aufregend, dafs ni.m mit einiger Sicherheit sagen kann, eine
stets erneuerte, sj-steniatische, amthche Darstellung der \'crhältnis?;e
würde bald vollständigen Wandel schaften. Auf die Dauer hätten
die verbohrtesten ManclRstcrleutc dem Drängen nicht widerstehen
können. Die Scheu vor dem Betreten eines neuen Gebietes war so
iiiachiig, dals man da zurückwich, wo man glaubte, die Grenz-
gebiete der ]laiHarl)eit berühren zu nuisscn.
Ein I 'ni-^'-liwung in den Ansichten tritt bei Beurteilung der
weihHchen Arbeiter zu Tage. Wälirend 1890 die Ansicht, dais
weibliche Arbeiter auch I-'ortbildungsschvilen besuchen miifsten, auf
heftigen Widerspruch stiefs, hat man jetzt durch eine Kinschaltung
in 120 herbeigeführt, dafs weibliche Hantlluiigsgehilfen und Lelir-
linge durch statutarische Bestimmung zum Besuch der Fortbildungs-
schule gezwungen werden können. 1890 kämpfte der verstorbene
Kleist • Retzow mit wahrem Heroismus für seine Ansicht, nach
welcher Mädchen höchstens im Strümpfestricken, Nähen und Kochen
unterrichtet werden dürfen, und er fand in diesem Kampfe das
Zentrum in seiner Gefolgschaft Aber mit Kleist -Retzow scheint
auch diese Ansicht begraben zu sein.
Die neuen hinter dem § 133 a der Gewerbeordnung einge-
schalteten drei Paragraphen sind ihrem Wortlaute nach dem Handels-
gesetzbuch entnonmien und sollen itii* Betriebsbeamte, Werkmeister
und Techniker dieselben Kündigungsfristen schaffen, die fiir Handels*
angestellte gelten.
Die Zusätze zu § 136 und § 138 a schaffen keine Neuerungen,
sondern sollen nur Mifsverständnisse, die aus der buchstäblichen
Anwendung des § 136 hervorgegangen sind, beseitigen. Die .Aende«
ning in § 138 a soll nur bezwecken, dalis eine erteilte Erlaubnis für
Digitized by Google
Hermann Molkcnbuhr, Die Novelle zur (»cwcrbconlnunj;. 56l
Ueberarbeit weiblicher Arbeiter auch zur Kenntnis der Arbeiterinnen
gebracht werden mufs. Von wesentlicher Bedeutung sind die Zu*
.Satzparagraphen zu § 159. Hier tritt zum ersten Male eine Be-
schränkung der Arbeitszeit (iir erwachsene mannliche Arbeiter durch
die deutsche Gesetzgebung^ ein. Zum ersten Male hat man hier
den sonst l)cobaclitcten Grundsatz männliche und weibliche Arbeiter
vcrschicilcn zu behandeln, verlassen. Nur für juj^cndliche Arbeiter
unter 18 Jahren und auch hier gleichartig für männliche wie für
weibliche, bat man die Bestimmung <;etrofTen, dafs man ihnen Zeit
zum Besucii der Fortbildungsschule gewähren mufs. Zwei Unter-
schiede sind gemaciit worden, aber nicht nach Art iles (icschäfts, des
(leschlechts oder Ahers der Arheitor, -sondern nacli (irftise iles Ortes
und des Geschäftsbetriebes. Hiertür war die Ansicht malsgcbend,
dafs in der Regel die Arbeit in greisen ( hu n und grot'scn ( le-
schäften weit inteti-siv cr ist als in kleinen Orten oder kicirR-n Ge-
^cliäften, und daher das Bedürtni> nach längerer Ruhe für die .Arbeiter
111 den letztgenannten nicht m» dringend ist, wie für Arbeiter die
in lirol>städlen uikI lmoIscicu Grschaltm beschäftigt sind. Für die
kleinen (ie.schäftc kam die Krwä'.'un^ hinzu, dafs es hiei nicht so
leicht miiglieh sein wird. .Ablösung zu beschatten, i.uie Al>lö^>ung
mufs stattfinden, da die l.aden/.eit länger ist als die zulässige Ar-
beitszeit. Die Abkürzung der Arbeitszeit wird trotz der X'erschieden-
heit ziemlich gleichmäfsig wirken, da gegenwärtig die längste Ar-
beitszeit am häutigsten in Kleinstädten und in kleinen Geschäften
vorkommt Nach den von der Kommission für Arbeiterstatistik im
Herbst 1892 angestellten Erhebungen, stellte sich die Ladenzeit wie
folgt:
Von je 100 Betrieben sind solche, in denen die
Ladenzeit dauert
12 St. 13 13 13—14 14 -'5 i.^^itj Tiit lir
utul ätuuUcn Stunden Stunden Stunden .ils
In < 'rten mit \vtni;;iT l6St.
lOotKJO und iiH iir I-inw.
26.7
27,7
lb,l
«2,3
",4
Orten mit 20000 Iiis 10000 1 inw.
13,1
.27.6
19,2
iS,5
17.J
4,2
„ 5000 „ aoooo £iaw.
4.0
14,6
20,1
»4.8
30,1
6,4
„ „ 3 000 „ 5000 Finw.
4.6
7,9
I4,a
20,9
39.1
i4,a
„ „ weniger als 2000 Einw.
3t4
6,5
11,8
a»,5
41,9
H.9
Digitized by Google
662
(jßsct/^'cbung : Deutsches Reich.
Nach GröHsenklassen der Geschäfte geordnet, ergiebt sich folgen-
des Bild:
Von je 100 Betrieben sind solche, in denen die
Ladenzeit dauert
12 -^v
12 13
13 14
14 15
15 — 16
mehr
n;;ii
Munden
Stunden
htundcn
Stunden
als
16 St.
hei 1 Hilfsperson. . . .
12,5
'7.1
1C.9
20,9
34.6
8.0
„ 2 oder 3 Hilfspersonen
M.a
30.8
17.I
17.4
23.1
7.4
„ 4 bis 9 Hilfspersonen
18,9
30,1
19.3
«5.5
13.0
3.2
IG bis 19 Hilfspersonen
24.7
42,8
31,1
8,8
2.6
„ 30 u. mehr Hilfspersonen
30.4
423
»7.9
8.9
Diese Ladenzeitet) sind iin Soinincr üblich. Im VViiiler sind
sie in der Rej^^el elw.i.s kui/ci. W ."Ihi eiul nach obi<^er Tabelle 03.2
Proz. des Peisonals in den t^rfilM icn (icschäfteii schon eine elf-
stünd!<^fe Kulu/rit li.ii, hat von ilein Personal in dcschäiten niit
eint i l >is di t i I lilfspcrsc »nen nur 49,3 Proz. eine zeiuislüntli^c Ruhe-
zeit. .Wso trotz der .Schonuns.^ füi' die kleinen deschäfte, werden
diese docli starker getrotVen als die grolsen. Während man nach
der geltenden Gewerbeordnung nur lur in Fabriken beschäftigte,
weibliche und jugendliche Arbeiter eine Mittagspause von einer
Stunde vorgeschrieben hat, ist (tir samtliche in Ladengeschäften
beschäftigte Personen, die nicht im Hause wo sich das Geschäft
befindet, essen, eine Pause von i Vt Stunden voigeschrieben. Auch
diese Vorschrift ist ein Erfolg der Erhebui^en der Kommission für
Arbeiterstatistik. Nach Aussage vieler Kassenärzte gehören Magen-
leiden zu den häufig unter Kaufleuten vorkommenden Krankheiten.
Die Aerzte behaupten, dals die Ursache dieser Krankheiten häufig
in dem Mangel einer ausreichenden Mittagspause zu suchen ist.
Ferner hat man die für Fabriken mit mehr als zwanzig Arbeitern
geltenden Bestininuuii^en über .Arbeitsordnungen nach cnt.si)rechenden
Abänderungen für I adengeschüfte mit mehr als 20 Hilfspersonen
g v(M-L:;csclirieben, und den für Handwerker geltenden § 128 über das
l^hrlingshalten auf das Handelsgewerbe ausgei!« !v.t
Von allen .Arbeiten der Kommission für Ai bt iterstatistik hat
die. über die Regelung der X'erhältnisse der .Xiigestclltcn in oflfenen
I .adengfsrhällen. d* 11 i^roi^ten Krfnlg gehabt. l nd doch wurde
gerade diise .\rl)eit .un heftigsten angegritteti. Kaum waren die
Ueschlüssc' in der Kommission gefafst, da er<>tTnete Herr H. W . X'ogis
in iicrlii) eine Agitation gegen den einheitlichen i^adenschluU und
Digitized by Google
Hermann M u 1 k c n b u U r , Die Novelle zur (jcwcrUcordnung.
er hatte den Erfolg, die Mehrheit der Abgeordneten in einer grofsen
Anzahl von Bundesstaaten zu seiner Gefolgschaft zu zählen. Im
preußischen Landtage hatten die Abgeordneten Brütt und Freiherr
von Zedlitz einen Antrag eingebracht, der sich in der denkbar
schroffsten Form g^en die Beschlüsse der Kommission ausspradi.
Selten hat ein Antrag so allgemeine Zustimmung gefunden wie der
Antra Ikütt vom 7. Mai 1806. In der Debatte wetteiferte man
in Kraftausdrücken gegen das Schablonisiercn. Da aufser dem An-
tragsteller die Abgeordneten v. F.} ncrn . Gothein, Hueck, Richter,
Möller, Cahensly, Sciiall und \. Kanl^tT sich für den Antrag aus-
sprachen, fiele n die Retlen der Herren Stötzel, Stöcker und des
Freiherrn v. Berlepsch kaum ins Gewicht. Aehnlichc Scenen
spielten sich in den Landtat^en anderer Staaten ab. Die von der
Kommission für Arbeilcrstatistik vorgeschIaL,'eiie einheitliche Rc^e-
luui,' schien so angreifbar, dafs kaum noch I loffnunj:; vorhanden war,
in dieser Richtun«^ cinr KcL^chmL; hci Ijcizuführen. Jetzt hat der
Reichsta;4 l.^^'^'k^i'ti den W illcn der Re^icruiT^' den einheitlichen Laden-
schluis verfÜL^t. l-'ieilich ist statt des X'orschlaycs der Kommission
für Arbeitcrstaiisiik. welche Achtuhrschluls verlangte, neun l hr als
Schlufsstun'le gesetzt. Aber alle Hinwendungen des Herrn \'ogts und
seiner (iesinnuiigsgetios>;en treftcn für jeden einheitlichen baden-
schlufs zu. Nun hat der Reichstag auch noch den Achtuhrschluls zu-
gelassen, derselbe soll eintreten, werui mindestens zwei Drittel der
beteiligten Geschäftsinhaber es bcschliefsen. Hier ist auch eine Ein-
teilung nach Branchen möglich und es ist anzunehmen, dafs min-
destens för eine Reihe von Orten und Brancl^n von dem §
Gebrauch gemacht wird, sobald man sich überzeugt hat, dafs ein
ÜrUherer Schlufs wohl Ersparnisse in den S^jescn, aber keinen oder
doch nur ganz minimalen Ausfall in den Einnahmen bringt. In
einer Richtung ist der Reichstag noch über die Vorschläge der
Kommission lur Arbeiterstatistik hinaus gegangen. Nach diesen
sollte Ladenzeit und Arbeitszeit des Personals gleich sein und
nur eine Mittagspause innerhalb der Arbeitszeit gewährt werden.
Damach war aber die Ruhezeit auf neun Stunden bemessen,
an deren Stelle hat der Reichsts^ zehn resp. elf Stunden
gesetzt.
Dieser Vorgang ist psychologisch von grofsem Interesse und
beweist, daOs veraltete Anschauungen, auch dort wo sie rein äufser*
lieh noch ganz zeitgcmäfs erscheinen, sich nicht mehr halten können.
' Bis in die neueste Zeit hatte man den Begriff „Arbeiterschutz"
664
Gesetzgebttn^: Deutsches Reich.
immer nur mit dem Bc<:^riflf „Fabrikarbeiter" verbunden. Die Vor- .
schläj^^e der Kommission für Arbeiterstatistik wirkten nun als vcr-
bliiftende Neuheit, weil sie den Arbeiterschutz auf Angestellte in
Ladengeschäften niiwf'nden wollten, da brachen mit elementarer
Gewalt alle matu hcsterlichcn Ansichten wieder her\'or. Der Sturm
war heftig, aber die Rcichstagsdcbatten über diese Bestimmungen
haben bewiesen, dafs er völlig ausgetobt hat. Hatte man 1896 den
Versuch gemaciit, die X'orschlägc gesctz^^cbcrisch zu verwerten,
waren sie aucli im Rcicli<t;!'^e si hroll abi^ewic^rti worden, wäh-
rend sie jct/t eine crdruckcntic Mehrheit fanden. Selbst die Ab-
ge( >r( hü ten, die im Landtage ihre Kraftausdrücke gegen die Kom-
mission für Arbciterstati.stik schleuderten, stimmten zum Teil für
\'orschläge, die sie \'or vier Jahren als den ( ii)>felj)unkt bureau-
kiati^chen Schabionisierens und starren Doktrinarismus bezeichnet
hatten.
Die Krgän7unj^ der Straf be>linunungen waren nötig wegen der
Krweiterung des ( iesetzes. Man hat nur für neugeschafifene Verbote
entsprechende Straf bestimmungcn ^chafTen , aber überall die
Strafen gewählt, die für ähnliche Vergehen schon vorgesehen waren.
Diese Acnderungen treten am i. Oktober 1900 in Kraft. Sie
werden schon Gesetzeskraft haben bevor die Novelle vom i. Juni
1891 ganz durchgeführt ist Die kaiserliche Verordnung, durch
welche die §§ 155 bis 139 b auf solche Werkstätten in denen durch
elementare Kraft getriebene Triebwerke verwendet werden, An*
Wendung finden sollen, ist am 9. Juli fertig, gestellt worden und
treten die Bestimmungen mit den entsprechenden Ausnahmen und
Abänderungen am I. Januar 1901 in Kraft.
Endlich sind drei Resolutionen beschlossen werden. Die erste
charakterisiert die Stimmung des Reichstages ganz verblüffend.
Nachdem der Versuch der Regierung, die §§ 135 bis 139 b da durch-
zuführen, wo Fabrik- und Mausarbeit zusammentrifft, vom Reichs-
tage abgewiesen ist, beschliefst derselbe Reichstag in derselben
Sitzung, die verbündeten Regierungen zu ersuchen, die ijs^ 135 bis
139b durch \'erordnungen oder Gesetz auf die Hausarbeit anzu-
W' rtdrn. Em (ircset/ wäre hier schon notig, weil § 154 Abs. 4
direkt verbietet, die Schutzbestimmungen durch Veronlnungen auf
die Kleinunternehmer und Hausarbeiter auszudehnen. Durcli die
.Annahme der er>len RcNolution werden die HcdlnuiiL^en wieder neu
belebt, die durch .Ablehnung des ij 137a zcrstr>rl wurden.
In der zweiten Resolution wird der Kommission für Arbeiter-
Hermann Molkenbuhr, Die Novell« zur (kwcrbeordnung.
Statistik Arbeit zugewiesen. Sie soll die Erhebungen über die Lage
der Handlung^ehilfen eigänzen, indem nun die Teile erforscht
werden sollen, die 1892 ausgeschlossen wurden. Schon 1892, als
die Erhebungen über die in. offenen Verkaufsstellen beschäftigten
Personen gemacht wunlcii, wurde \ielfach erwähnt, dafs die Lage
der in anderen kaufmännischen B tti Inn peziell in Speditions-
geschäften ani^cstelhen Personen mindestens ebenso reformbedürftig
sei wie die des Personals in Ladengeschäften. Damals wurde von der
Ausdehnung der Erhcbun-^en auf diese Retriciie Abstand genommen,
weil man sich sagte, dafs diese Betrielic vielfach in engerer Verbindung
mit dem X'erkehrs-^'ewcrbe als mit dem Kleinhandel ständen. Die
Re^eluiii; der X'erli.iltnisse der im X'erkelirsi^ewerbe beschäfiif:^ten Per-
sonen durcti ein SonderLjeset/ wurde aber sch"ii am 18. l eljriiar iS<)I
durch den i)reulsi>clien Handelsminister hreiherrn v. Perle|)sch in
Aussicht gestellt. .Aber hier ist bis jetzt garnichts geschehen und
wird es auch sclnver fallen, hier durch die ( iewerbcortlnung etwas
zu erreichen, l ur die beirlen wichtigsten Zweige des X'crkehr.s-
gewerbes, Kisenljahneii und SeescliitT.ihrt, gilt die ( lewerbeordnung
nicht. F.twaige \'er>uehe hie! \ or/ugelicn, werden sofort Kotupt tenz-
einrcden hervorrufen. .-\ls der .Abgeordnete Dr. Hitze in der letzten
Sitzung der Kommission für .\rbcitcrstatistik einen Antrag einbrachte,
nach welchem Untersuchungen über die Lage der im Verkehrsge-
werbe beschäftigten Personen vorgenommen werden sollten, erwähnte
er bei dessen Begründung, dafs diese Materie ja besonders aktuell
sei, wie die Strikes der Stralsenbahnarbeiter beweisen. Da wurde
sofort von mehreren Regierungsvertretem gesagt, dais hier die
Kommission nicht zuständig sei.
Die Kommission dürfe ach, so wurde behauptet, nur mit
solchen Fragen beschäftigen, die auf die Gewerbeordnung Bezug
haben. Durch § 6 der Gewerbeordnung sei deren Giltigkeit für
Eisenbahnen, und hierzu gehören auch die Strafsenbahnen, direkt
ausgeschlossen. Dr. Hitze nahm darauf eine Einschränkung in
seinem Antrage auf^ indem er hinter dem Worte „Verkehrsgewerbe"
die Worte: „soweit die Gewerbeordnung für dasselbe Giltigkeit
hat", einschaltete, l'reilich kann die Sache durch ein Reichsgesetz
geregelt werden, da nach .\rt. 4 Ziffer 8 der Reichsxerfassung die
Reichsgesetzgebung auch für das Eisenbahnwesen zuständig ist.
Endlich will die dritte Resolution einem dringenden Bedürfnis
abhelfen, da hier eine grofse Klasse von Personen genannt i>t. für
deren Arbeitsverhältnis keinerlei Reichsgesetze gelten. Höchstens
Digitized by Google
606
(««setzgchung : Deutsches Reich.
kommen hier die allgemeinen Bestimmungen des Bürgerlichen Ge*
setzbuchs, über den Dienstvertrag in Frage. Aehnliche Bestimmungen
wie für Handlungsgehilfen im Handelsgesetzbuch könnten auch liir
die Gehilfen der Rechtsanwälte, Notare und Gerichtsvollzieher ge-
schaffen werden. \n den bestehenden Organisationen der Bureau-
gehilfen sind vielfach Wrsuche gemacht worden, durch statistische
Aufnahmen die Las^c der Bureauangestellten zu schildern. Jede
dieser Aufnahmen hat bewieseti. d.ifs hier himmelschreiende Zu-
stände vorhanden sind. Wenn da die Gesetzgebung bessern will,
findet sie ein weites Feld für segensreiche Thätigkeit.
Wir la.ssen < nunmehr den Wortlaut der Novelle folgen:
Qeiett, betreffend die Ablodenmg der Oewerbeordnunir.
Vom 30. Juni 1900.
Wir Wilbetm, von GoUes Gnaden Deutscher Kaiser, König von Preufscnetc.
verordnen im Namen des Reichs nach erfolgter Zustimmung des Bundesrats und des
Reichstags, was folgt:
Artikel i.
I. Hinter § 19 der Gewerbeordnung wird ein^cscli.'iltct:
§ 19:1. In tli ni Kcschcidc kann dem L'ntiTnehmer aiM" svinv Gefahr,
unln-Ncli.uli t <lr> Kt Utir>v<Tf'alirfns r§ 2o\ di>' uri\ <'r/ii;jlii lic .\ii-.t'üliruni;
der li.iulii lu n .\nl.iu,'' :i ;^' «.t.ittrt wrrdi'ti, wriui er ilirs vnr So!ihil> Arr I r-
I »rit t 11:1;: ht aiitr.ij;:. I )ir (n >l.nuiiij; kann v«n einer .Siclu rlicitskislung .ib-
hatij;ij> ;:eniacht werden.
II, Hinter g a: der Gewerbeordnung wird eingeschaltet:
9 aia. Die Sachverständigen (§ 31 Ziffer 1) haben Uber die That-
sachen, welche durch das Verfahren m ihrer Kenntnis kommen, Ver-
schwiegenheit zu beol.a. litt u Und sich der Nachahmung der von dem
L'iitt rnelimfr ^-i lu im ;^i li.ilti neu , 7\\ ihrer Kfiiiitnis ^elan^tmi Helricl»-
« iiiri« litimm n uik! bctricb.suciacu, solange als diese Bctricbagchcimnisitc
<>ind, lu enUiallen.
Artikri 2.
I. i>cr ^ 23 2 il'T ( i' Wi r! ii-i )r<ltiun^ '-rhiill lol^i ndc l-a»uni;;
I)er i^aiidi >^<M t/.j^i l>uiij; liii ibl vurlu lialic n , dii- leineie Bcuutzuni;
bestehender und die Anlage neuer Ptivatschlächtereicn in solchen Orten,
für welche «iflTrntlirhe Schlachthäuser in genügendem Umfange vorhanden
sind oder "errichtet werden, zu untersagen.
II. Der g ^3 Abs. 3 diT Gcwerheordnung erhält folgende Faiwung:
Soweit durch landcsr^^liiliclc- N'tirschriften Bestimmunjjcn t;>tt(.ri''ii
werden, wonach gewisse Anlagen oder gewisse Arten von Anlagen in
Digitized by Google
Gesetz, bctrclicnü üic Al>utuU-rung der liewcrbcorduung vom 30. Juni 1900. 667
einzelnen Ortsteiicn gar nicht oder nur unter besonderen BesehrSnkungen
zugelwsHen sind, finden diese Bestimmungen auch auf Anlagen der im
§ ih erwähnten Art Anwendung.
Artikel 3.
!• Im § 34 Abs. I der Gewerbeordnung werden nach den Worten „Geschäft
eines Pfandleihers" im ersten Satze die Worte: „Pfandvermittlers, Gesindevermieters
oder Stetlenvermitticrs" und nach den Worten „die ErlaubnisV im dritten Satze die
Worte: ,./um Betriebe des Pfandleili};i'\vrr!><>>" cin};r-;cl(alt«t.
II. Im ersten S:^t/r (lr> ^ 35 Alis. 3 der Gcworhcordiiun;; werden nuch den
Worten ..srliriltlirlicii AuN:it/e" dir \\''>rte: ..von der i^ewi-rlisniiilsii^en .\uskuntl-
erleiiiin;; iihcr X'ermr ■■^i ti^verludliii^si imIit | ht»« «nliclie .\ii;:' lt>^' tdieiten" ein^e>rli.dlet
untl «lif Worte . „von dem Gesi ltatte eines Gesimlcvemjielcrs und eines Stelicn-
vermittlers" gestrichen.
III. An Stelle des {f 38 Abs. I der Gewerbeordnung treten folgende Be>
Stimmungen :
Die .Zentnilhehdrden sind befugt, über den Umfang der Befugnisse
unfl VerptUclitiuv^en ^nwl'- iilicr den Clcschäftsbetrii Ii der Pfandleiher,
l'f.uid\ erniittler . ( "n ^iiKlcM (inieter , Stelli n\ ermittler und Auktionatoren,
ii iliiriilier die I.andes};e.<4eUe nicht Kc!>titnmuugen treffen, Vorschritu-a
zu erlaben.
Die* in dieser Beziehung hinsirhtlich der I'tandieihcr bestehenden
lande «voKotzlichen Bestimmungen finden auf den im § 34 Abs. 3 be-
zeichr.o'.en (jeschäfbtbetrieb Anwendung. Soweit es sich um diesen Ge>
schäl ./* ..r: 'o handelt, gilt die Zahlung des Kaufpreises als Hingabe des
Darlelu-.is, «Itr L';.. «eliied /\vi>eiien dem K.uif|'rei> und dem verahredi-ten
Riickkaut ; •• iv .iN Ii Inn-' :ic Verjjütun'^ für I);irleht-n und die Uebcr-
gahe di'i .^.iclie \ « rpt.indun'j der-celln ri lür d.H I>arlelien.
Iliti>i lulirli der ( le^itxlevermieter untl St' llenverniitler sind die Zeii-
tralbehonlcn mshesomlere belunl, die Ausübung des (»ewcrbes "im Um-
herziehen sowie die gleichzeitige Ausübung deti Gast- und Scliankwirt-
schaftsgewerhes zu beschränken oder zu untersagen.
IV. Im ersten Satze des § 53 Abs. 3 der Gewerbeordnung werden nach den
Worten „begonnen haben", die Worie: „sowie Pfandvermittlem, Cicsindcvermicteni
und Stellenvrrmittlem, weK lie vor dem I. Oktober 1900 den Gewerbebetrieb be>
gönnen haben", einfre^i h.dtet.
V. Hinter § 75 der ( iewei In ..rihnin^ wird ein;;e,eli.iltet ;
§ 75 a. Die ( iesindevermieler und Steilenvermitller sind verptliclitet,
das Verzeichnis der von ihnen für ihre gewerblichen Leistungen auf^^c-
stellten Taxen der Ort&polizeibehArde einzureichen und in ihren Geschäfts-
räumen an einer in die Augen fallenden Stelle anzusehlagen. Diese Taxen
darfen zwar jederzeit abgeändert werden, bleiben aber solange in Kraft,
bis die Abänderung der Polizeibehörde angezeigt und das abgeänderte
Verzeichnis in den Geschätlsräumen angeschlagen ist.
uigui^uü oy Google
668
Gesetzgebung: Deubtches Reich.
Dit" (icsinilr . ( rmii tcr un<l Strlli rn < rniittlt«r sind frrtKT \rr|iHic}itct,
(Inn S?t ll.-~.!,-li( iid, II vor AIim IiIuIs drs VcrtuittclungiigeitcbäfUs die liir iba
zur Aawxiuluri}; kt'nimcndc l axe mitzuteilen.
Artikel 4.
Im J? 3b I di r ( ii'wcrbcordnung wird nach dem Worte „Auktionatoren"
cingelügt : „BiiclierrcviNuren".
Artikel 5.
Hinter § 41a wird rinm-srlialtct :
55 41 l». Aul Antrag von niiiulf>icns zwei Dritteln der beteiligten (Ic-
vrerbetrcibcnden kann Air eine Gemeinde oder mehrere örtlich zusammen-
hängende Gemeinden durch die höhere VcrwnUaogsbchörde, vorgeschrieben
werden, dafs an Sonn- und Festtagen in bestimmten Gewerben, deren
vollständige oder teilweise Ausübung zur Befriedigung täglicher oder an
diesen Tagen besonders hervortretender Bedürfni->M- der IVvoikerung er-
fortlerlich ist, ein lUtriel» nur iriMiweit stattfinden darf, als Ausnahmen
von den in\ lo^h Abs. I ;;etrolt<ncn HolininiUngen /ugelas>en sind.
1 »er Humlesrat ist V>etugt. Kotimniungi n darüber zu irla^en, web he
Gewerbetreibende als beteiligt anzusehen sind unil in welchem Verlahren
die erforderliche Zahl von Gewerbetreibenden festzustellen ist.
Artikel 6.
Der Ziffer 9 di> § 56 Abs. 2 der Gewerbeordnung werden die Worte: „sowie
Bruchbänder" hinzugefügt.
Artikel 7.
Dem § 105 c der Gewerbeordnung wird als Abs. 2 eingeiügt:
Der Bundesrat trifft (Iber die Voraussetzungen und Bedingungen der
Zulassung von Ausnahmen nähere Bestimmungen; dieselben sind dem
Reichstt^e bei seinem nächsten Zusammentritte zur Kenntnisnahme mitzu-
teilen.
Artikel S.
I. Hinter § 114 der Gewerbeordnung wird eingeschaltet:
§ 114a. Für b( ~-tinin(!r (Icivrr)"- kann der Bundesrat I.uhnbücher
oder Arl» it>/'t ttel vors. hr« ilx n. In diese sind von dem Arbeitgeber oder
dein da/u Hevollniaclitigten t in/iitru^i n :
1. Art und L'mtang der übertragenen Arbeit, bei Akkord.-irbeit die
Stückzahl;
2. die Lohnsätze;
3. die Bedingungen (Ur die Lieferung von Werkzeugen und Stoffen
zu den übertragenen Arbeiten.
Der Bunch srat kann bestimmen, dafs in die Lohnhürher «der .\rbeits-
Zettel am Ii du- ltrdin^un;x<'n für «lie (lewälirung v<ui Kii>t und Wohnung
I iii/'utri;;. ri Mild. >ot<rii K-.st odcr WohnuDg aiü Lohn oder Teil des
Lulines gewahrt werden sollen.
i^iy u^c^ Ly Google
Gesetz, bctrcttcnü die Abänderung der Oewcrbcurdnung vum 30. Juni 1900. 669
Auf die Eintragtingcn finden die Vorschriften des § Iii Abs. 2 bis 4
entsprechende Anwendung.
Das Lohnbuch oder der Arbeitszettel ist von dem Arbeitgeber auf
seine Kosten zu hcscbaffen und dem Arbeiter nach Vollzieluiii}^ der vor-
jjeschriebenen F.intra;:un|»en vor oder bei der Uebcrgabc der Arbeit
kostenfrei aus/iiluindifien.
nie I.<»lml)üclK'r sind nul «im ni Ahdrueke der lUstinimun^en der
§^ 115 bi:i 119 a Abs. 1 und des ^ 119 b 2u verschen. Im übrigen wird
die Einrichtung der Lohnbücher durch den Reichskander bestimmt.
Auf die von dem Bundesrate getroffenen Anordnungen findet die Be^
Stimmung im § i2oe Abs. 4 Anwendung,
n. Im § 119 b wird statt ,.§S 115 bis 119a" geseUt: „$| tl4a bu 119a".
Artikel 9.
Im § 120 Abs. 3 der Gewerbe, .rdnuiiß wird hinter den Worten ..acbtaehn
Jahren" ein^elii^: „sowie flir weibliche Handlungsgehilfen und -Lehrlinge unter
achtzehn Jahren ^ ,
Artikel 10.
Hinter sj 133.1 dt r ( ie\v<-rhei>r<inunjj wiril einfjescliiiltet:
§ 1333. Wird durch Vertrag eine kür/.ere oder laogere Kündigungs-
frist bedungen, so mufs sie f&r beide Teile gleich sein; sie darf nicht
weniger als einen Monat betragen.
Die Kündigung kann nur ftir den Schlufi» eines Kalendermonats zu-
gelassen werden.
Die Vorsehrilteii des \l)s. I finden auch in dem Falle Anwendung,
wenn da:> Dienstverhältnis lur Ix stininili- Zeit mit der Vereinbarung ein-
gejjanjjen wird. d.Us i s in !"rnianj,'i'lun^ einer vor dem Ablaute der Ver-
Irajj^/.eit erfoijjten Kundigunjj als verlungert gelten s»ill.
lüne Vereinbarung, die diesen Vorschriften zuwiderluui), ist nichtig.
§ 133 ab. Die Vorschriften des § iJSaa finden keine Anwendtuig,
wenn der Angestellte ein Gehalt von mindestens filnftausend Mark fUr
das Jahr bezieht.
Sie bleiben ferner aulser Anwendung, wenn der An^^estellte lür eine
aul'sereuropiiisehc Niederlussunfj angenommen ist und nach dem Vertrage
df-r \rb< it^r her für den Fall, er das I >ienstverhältnis kündigt, die
Ki>~l<n il'T Ktirkrt'isc des Ari;^i-si(-llti-n /ii tra^rn iiat.
§ 133 ac. Wird cm Angestellter nur zur vorübergehenden AushiUe
genommen, so finden die Vorschriften des § 133 >ia keine Anwendung, es
sei denn, dafs das Dienstverhältnis ttber die Zeit von drei Monaten hinaus
fortgesetzt wird. Die Ktlndigungsfrist muls jedoch auch in einem solchen
Falle ftir beide Teile gleich sein.
Artikel 11.
■I. Im § 134 der Gewerbeordnung wird als Abs. 3 eingeschaltet:
In Fabriken, ftir welche besondere Bestimmungen auf Grund des
Digitized by Google
djQ (icseUgol'unt; : Dratwhcs Reich.
§ It4a AI«. I nicht erliwsen sind, ist auf Kostt n des .\rl>< it>;< ln r> fiir
jeden minderjährigen Arhi itcr ein I.ohn/alilun^-lnul) ein/iirirhtcn. In das
Lol>n/.i!ilun;:^l.u<li i^l lici jeiler l..ilui/aiili:n- drr l'.elra^; des verdienten
!.olHie> cin/utra^:! n . e>i i^t l>ei tU r I .••liiualilu i'rni Min<l« r|.ihri<:'-ii oder
seinem M t/iieiien X'erlreter aus<cuiiandi}(en und vdu tleiu l.nijilanjier \or
der niiclislon Lohnzahlung larttclotureicken. Auf das Lohaxabiungsbuch
linden die BestimmunfSea des $ lio Satz i und des § III Abs. 2 bis 4
Anwendung.
Im § 134 b Abs. I Zifler a der GewcrbcardnunK wird am Schlüsse hinzu-
gefilgt:
mit der Malspahe, tl ils die re^elmäl'-i;;«- I .ulin/aliluii); nirlit um Sunntage
statttitidt'M (lait. Ausnahmen können von der unteren Verwaltungsbehörde
/ugeia.Nsen weiden.
Artikel \i.
Der 136 I tl' r < irvverlx'driln'Hi'^ ••rli!ilt tnlm-iuieii Zii-at^ :
I'aii'- \'<»r- und \.irliiiiitta|;N[iau^c iu.uuht nielit j^evv.ilirl /u werden.
lern die jujjeiidii« iie n Arl)eiler täglich nicht langer als acht Stunden be-
' schäftigt werden, und die Dauer ihrer durch eine Pause nicht unter-
brochenen Arbeitszeit am Vor- und Nachmittage je vier Stunden nicht
übersteigt
Artikel 13.
Der letzte Absatz des i( ijSa der Gewerbeordnung erhält folgende Fassung:
Die untere Verwaltungsbehörde kann die BeschSAigung von Arbeite-
rinnen aber sechzehn Jahre, welche kein Hauswesen zu besorgen haben
und eine Fortbildungsschule nicht besuchen, bei den im § 1050 AI», i
unter '/itT»'r 3 und 4 bezeirlin<-t'-n Arbeiten an Snnnabcrid'-n uiul \'or-
abeiuieii v<(n l-'esttajjen na- Imiiti.s^js nach I linli-inhalb I hr. je<l4>ch ni> lit
über achteinli.db L'lir abi-iui> liinatis ^e>(.iUi n. l>ie I'rlaidmi^ ist srlirili-
licb i\x erteilen, l'.ine .\bsclirill dt r^elbi ii i>t in den Kabrikrumneii, in
' welchen die Arbeiterinnen beschiiiligt werden, an einer in die Augen
fallenden Stelle auszuhSngen.
.\rtik«l 14.
I. Ilinti r I ,>y b (irr ( it v^t rix-ordnun^ wird eiii^t hallt ! :
\'l. (leliiltcn, l.t hrliiic und .\rbciter in oHenen
\' e r k a u I N s t >• 1 1 e n.
si 1390. In offenen Verkaufsstellen und den daxu gehörenden Schreib-
stuben (Kumtorc) und Lagerräumen ist den (jehilfen, Lehrlingen und .\r-
beitern nach Beendigung der täglichen Arbeitszeit eine ununterbrochene
Ruhezeit von mindestens zehn Stunden zu gewähren.
In (jcnieinden, welche na. h der jeweili;^ li t/T'-n \'«.ik^/ iblun;;; mehr
als /w in/i;:tau-! nd l'inwoliner haben, imils dit- Kuhe/i u in otit ni-n Ver-
kuulsstellen, in denen zwei oder mehr Gehilfen und Lehrlinge beschüftigt
L.y Google
Cie&ctz, bcireli'cnd die Abundcrunj; der ( icwcrbcordnuug vimi 30. Juni lycx). 0^1
werden, fiir diese mindcsteiu elf Stunden betragen; fllr kleinere Ort-
scbaAen kann diese Ruhezeit durch C>rtsstatut vorgeschrieben werden.
Innerhalb der Arbeitszeit mufs den <iehilfcn, Lehrlingen und Ar-
bfitiTH finr ;\n<;fnif««srnc Mitta;^sj>:iusf fjcwiüirt werden. 1' ilr (Icliilfcn,
I.flirliivj''- und Arbeilrr, die ihn- i lauptnialil^eit aulserlialh des die \'cr-
k.niN-ti Iii t ntli.ilti iiden (iel).iuiles einnehmen, muis diese l*au.>»c niui<leslcns
ein und < nie li;dl)e Siuntlc In traj^en.
§ I39d. Die Bestimmungen des ^ 1390 finden keine Anwendung
1. auf Arbeiten, die zur Verhütung di*s Verderbens vun Waren un-
verzüglich vorgenommen werden müssen,
2. für die Aufnahme der gesetzlich vorgeschriebenen Inventur sowie
hei Neueinrichtungen und L"ni/ii;;cn,
3. aulM rih-in an i.dirlii-!i li'>t h^len^ «IreifVi^ von der ' )rt-|)idi/eilit li.irde
all^^eniein ixler lur ein/eine ( leschLitt^zwei^e /u tii->tinmienden Ta^en.
§ 1 39 e. Von neun L hr abends his luni L hr nu»rgeii> müssen oUi-nt:
VerkaufsHtellen itir den ge.tchuftlichen Verkehr geschlossen sein. Die beim
Ladenschlufs im Laden schon anwesenden Kunden dürfen noch bedient
werden.
Ueber neun Uhr abends dürfen Verkaufsstellen fiir den geschäftlichen
Verkehr geöffnet sein
1. für unvorhergesehene Nottidle,
2. an höchstens v i« r/i;: mn der < )rls[Kdi/eilielh.rde zu bestimmenden
'la^en, )e(i<n ii Ins i[i.itestens zehn L'lir a!)ends,
3. nacli näherer Kestnnniung der höheren \ crwaltun^>l>i Ip.rde in
Städten, welche nach der jeweilig letzten Volkszäldimg weniger
als zweitausend Einwohner haben, sowie in ländlichen (temein-
den, sofern in denselben der Geschäftsverkehr sich vornehmlich
auf einzelne Tage der Woche oder auf einzelne Stunden des Tages
beschränkt.
Die Hesiimmungen d<T Sfi; J39'' ""d 139d werden durch die vor»
stehenden l^estininiunfjen rn(-!«( Ixruhrt.
Wahrenil d<'r Zeil, wi» die \ (■rkaiils>telien -.rldossen s< ui imiN^en,
ist das Feilbieten von Waren auf öfTenllichen Wegen, Slralsen, i^lätzcn
oder an anderen öffentlichen Orten oder ohne vorherige Bestellung von
Haus zu Haus im stehenden Gewerbebetriebe (§ 42 b Abs. i Ziffer i)
sowie im Gewerbebetriebe im Umherziehen (§55 Abs. i Ziffer 1) vcr-
boten. Ausnahmen können von der Ortspolizeibehörde zugelassen werden.
Die l'estinmuni;: des 5^ 55 a Abs, 2 Satz 2 findet .\nwendun;:.
ji l3<)t. Aul .Antra;; \««n niiiKl' -iens /wej Dritti ln der ;> :!ij'trn
(ieselKiÜsinhaber kann lur rnn ( i. ni< hkIi odi-r niehrrre «»rtlioh »itiniitl' il .ir
icu:>ammcnhangende (icmeinden durch Anordnung tier htdieren Verwal-
tungsbehörde nach Anhörung der Gemelndeliehörden filr alle oder ein»
xelne Cirschäftszweige angeor<lnet werden, dafs die «tffenen Vcrkaufsstrllen
während bestimmter Zeithiume . oder während des ganzen Jahres auch in
Digitized by Google
GcseUj:;« l>ung : Deutsches Reich.
ilrr '/.fix «wischen acht und neun L*lir alxmis und /wisrlim fönf ttod
sieben l lir morgens lür «Ion ;;<"S(*li;ittliclu-ti X'i'rkflir g< >clili>v«.-fi sein
tiui>^<-ti. Die Be»limmuRgcn Uer §^ 139c und I39d werden hierdurch nicht
lierulirt.
Aui Antrag vun mindestens oitu lu Linllol der beteiligten Gesoliatts-
inhaber hat die höhere V'erwaltunj^.sbehörde die beteiligten Geschäfts»
Inhaber durch ortsübliche Bekanntmachung oder besondere Mitteilung au
einer Aeufserung ftir oder gegen die Etnflthrung des Ladenschlusses im
Skinne des vorstehenden Absatzes aufzufordern. Erklären sich zwei Drittel
der Abstimmenden für die Finfuhrun^. s<> kann die höhere Verwaltungs«
bcli'irdc die entspreclieiule Anordnung treffen.
1 )iT lUitid' sr.it i>t liefu^t, Heslimnmnjjt n djrii'u r erl;i>'»<'n. in
welrliem \ erfaiiren die crtorderiiciie Zaiil vt^n ( iescliaiusinliabcrn »esizu-
stellcn ist.
Während der Zeit, wo Verkaufsstellen auf Grund des Abs. i gc-
schlössen sein müssen, ist der Verkauf von Waren der in diesen Verkaufs-
stellen geführten Art sowie das Feilbieten von solchen Waren auf Öffent-
lichen Wegen, Strafscn, Plätzen oder an antleren 'ifTentlirlien ' >rten .>d<T
<»hne vorherige Bestellung von Il.ui«; /u Haus im -.uht-ntlen tiewerbe-
hetrielic (§ 4-'' Al'>. I /.itfer l s<>\\ii' im ( jewi i i" iM tru b it:i L'ndn r-
/ielien i§ 55 Ai)>. 1 /ifÜT Ii verboten. .\usinhniin k'iniini von der
Ort.spoli/.cibclior«le /ug< lassen werden. Die Hestimniung de» §55a Abs. 2
Satz 9 findet Anwendung.
S 139 g. Die Polizeibehörden sind befugt, im Wege der VcrfUgung
fttr einzelne offene Verkaufsstellen diejenigen Ma&nahmen anzuordnen,
welche zur Durchführung der im $ 6a Abs. i des Handelsgesetzbuchs
enthaltenen Orundsiitze in Ansehung der Einrichtung und Unterhaltung der
( ieM-liaftsraume und der fiir den < it seli;ift>be(rieh bestimmten X'orrieli-
tungen und ( 'r'-rat^rdiifii n s<i\vi>- in .VnM-hung iler Regelung des tiesrlnfts-
betriehs erlorderlich und nacii der Beschatleuheit der .Anlage auäiuhrbar
erscheinen.
Die Bestimmungen im § 120 d Abs. 2 bis 4 finden entsprechende
Anwendung.
§ 139 h. Durch Beschlufs des Bundesrats können Vorschriften dar-
über erlassen werden, wdi hcn .\nfortlerungrn die Laden-, Arbeits- und
I^gerräume un<l tieren ICinrichtung sowie die Maseliiii'n und <ierlit>eliaften
zum '/werke d>T Duffli fülirung der itn 62 I des liandelsgeset/.lnu-hs
eiith.iiii neu ( o un<ts.it/c /u genügen haben. Die Bestimmung im § I20c
.\bs. 4 lindel Anwendung.
Sow^eit solche Vorschriften durch Beschlufs des Bundesrats nicht er-
lassen sind, können sie durch Anwendung der Im § t2oe Abs. a bezeich-
neten Behörden erlassen werden.
§ 139 >• Di« durch §76 Abs. 4 des Handelsgesetzbuchs sowie durch
§ 120 Abs. I begründete Vcrpllichtung des Geschäftsinhabers findet an
Digitized by Google
Gcsctt, bctrcllcnd die Abänderung; der licwcrhcordnung vom 30. Juni 1900. 673
Orten, wo eine vom Staate oder der Gemeindebehörde anerkannte Fach-
schule besteht, hinsichtlich des Besuchs dieser Schule entsprechende An»
Wendung.
Der Grs<-1i;iftsinli;il>iT hat <lie Gcbilifcn und ! ' hrün^«- unter a< lit/< !ni
Jahren 7un^ tirsurix der I-Ortbildungü- und Fachschule anzuhalten und den
Schulbesuch zu überwachen.
§ 139 k- l' ür j< <li- iiftVnc \'i rl<.uit">sti lle. in \v« l< lu r in der Rt '^'-l
minil>v>tens /wan/ij; Culnilliti und f.iiiilin;^i' bi->ili;i(u^t uird<n. i-; inncr-
lialb vier Wochen n.n li bikraiur« teti tlioes (jeset/.es oder nach dir Er-
ütTnunji des l?«-triebs eine Arh< ilMir<lnunp zu erhisscn.
Aul die Arbeil.-ordnuiij; liiiden die Vor^chrillen der Jji; 1^411, 134b
Abs. I Ziffer 1 bis 4, Abs. 2, Ab>. 3 Sau i, des 4j ij4c Abs. 1, .\bs. 2
Satz 2 und 3. des § 134 d .Abs. 1 und der §§ I34e, I34f entsprechende
Anwendung.
Andere als die in der Arbeitsordnung oder in den §§ 71 und 72
des Handelsgesetzbuchs vorgesehenen GrOnde der Entlassung und des
Austritts aus der .-Vrlwit dürfen im Arbeitsvertrage nferht vereinbart
werden.
!'!'■ • ■ 'li iti'.,'!''!! (;L!d>traren sind in ein Ver/.eichnis cin/utra;:en, weh lu s
lien Nanu n des Üestratlen, den I .i^ der Heslralunfj sowie den (irund und
die Holl«' der Str.ile er;;» l>en und auf l>tordern der UrLspolizcibcliordc
jederzeit zur l'iiisiclit \or^f|<t;t weiden ninis.
Auf .\,rbeitsordnun;^i 11, welche vor (hin Inkrafltn len diesis (iesetzes
erlassen wi>rdcn sind, linden die Bestimmungen der I34^i< 134'' Ab.s. i
Ziffer t bis 4, Abs. 3, A1>s. 3 Satx I, des § 134 c Ahe. I, .\bs. 2 S.ttz 2
und 3, des § 1346 Abs. 2 und des § 134 f entsprechende Anwendung«
Dieselben sind binnen vier Wochen der unteren Verwaltungsbehörde in
twei Ausfertigungen cinzurcirlien. \nf .s[.:itere AV>ändeningcn dieser Ar-
beit<;nrdnungen und aut ilie seit dem i. < )ktober 1899 erstmalig erlassenen
.'\rbeitsordnun«:« ii tin.len der § I34d Abs. I und der § 134c Abs. l ent-
sprechende Anwi'n<lung.
§ 139I. Auf das Halten von Lehrlingen in offenen V'erkaulsslellen
sowie in aiiih n ti r.rtiielten de.N ilandclsgewerbes tinUet die Kcslimmuug
des g 12S Anwentlung.
§ 139 m. Die ne^timmungen der Jj^ 139 c bis 1301 tindi n ;\ul den
GeschiiÜsbelrieb der Konsum- und anderer Vereine entsjirechende An-
wendung.
U. Im § 154 Abs. 1 der Gewerbeordnung wird anstatt 105 lii^ 133c"
fcsetlt: „§g 105 bis I33e, 139c bis 139m" und hinter „§§ 103, 106 bis 119b"
cittgeichaltet: „sowie, vorbehaHlicb des § 139 g Abs. 1 und der §§13911, 139I«
13910, die Bestimmungen der §§**.
Archiv fiir 101. GescKgebuiiK u. SutUdk. XV. 44
Digitlzed by Google
GcscUgcbung: Deutsches Rfich.
Artikel 15.
I. Im § J45 Abs. I der GcwerbeordnUDg wird statt „§§ 146 und IS3" ge>
sctit: ,,§§145». »46 und 153 '.
II. Hinter 55 145 ilcr ( \vi 'iM .inlniinjj wir<l <'inpi-M liait«'t :
J; 145;!. I »u- in lic ri l .Jli n (1> r l6, 24 und 25 gcmäf« § 31
Zilü i 1 /u^i -'Miellen S.u livcrstunrli^t n wrrdrn bcstrait,
I. wenn »ic unbefugt Betriebsgeheimnisse offenbaren, welche durch
das Wfabren xu ihrer Kenntnis gelangt sind, mit Geldstrafe bi*
zu eintausenfiinfliundert Mark oder mit Geftngnis bis su drei Mo-
naten ;
a. wenn sie absichtlich zum N'arbteile der Betriebsunteriiehmcr Be-
trieb'«^<'hciiiuii>-<'. welche durrli das Verfahren zu ihrer Kenntnis
jjr l.in^^t sind, uflenliaren i)der pelieiin >;ehaltene Betriebscinrichtunjjen
<id<r r.ctritliswciscn, wtlfhe durch das Verfahren zu ihrer Kennt-
nis );elangt sinil, -•"> hinjie als diese Bctnebsj;eiieimni»se sind, nach-
ahmen, mit Gefiingnis, aeben welchem auf Verlust der bttrgcrlicben
Ehrenrechte erkannt werden kann. Thun sie dies, um sich oder
einem anderen einen Vermögensvorteil su Terscbaffen, so kann
neben der Geßingnisstrafe auf Geldstrafe bis zu dreitausend Mark
erkannt werden.
Im l alle (h r Ziff« r i tritt die Verfolgung nur auf Antrag des Be-
trielountiTncdimers < iti
III. Im § 147 Ab.s. 1 der Gewerbeordnung erhalten djc ZiH'cro 2 und 3 fol-
gende Kussung:
3. Gewerbetreibende^ welche den 135, 136, 137, 139c oder den aut
Grund der §§ 139, 139a getroffenen Verfügungen zuwiderhandeln;
3. Gewerbetreibende, welche dem § iti Abs. 3« § 113 Abs. 3 oder dem
§ 114a .W». 3, soweit tiaselbst die Bestimmungen des § III Abs. 3 fOr
anwcndbcr erklärt worrlen sind, zuwiderhandeln.
IV. Im 4? 146 a der r.ew. rlM ..rdnung wird der Scbluls nacb den Worten „Be-
schäftigung yirbt" wie fol^t ab^cmiicrt :
oder den 41a, 55 a, 139c, § I39f Ab.s. 4 oder den auf Grund des
§ 105 b Abs. 2 erlassenen statutarischen Bestimmungen oder den «ut
Grund des $ 41b oder des § I39f Abs. i getroffenen Anordnungen tu-
widerhandelt.
V. 1. Im I 147 Abs. I Ziffer 4 der Gewerbeordnung werden die Worte «,aut
Grund des § 1 20 ! iur. Ii die Worte: ..auf Grund der J^;^ i2od, 139g*' und die
Worte „auf Grund des § I20e" durch die Worte: „auf Grund der §§ laoe, 139 h"
ersetzt.
2. Uic /iiicr 5 drs 147 .\b-. i erli.ilt fol^undc Fassung:
1. wer eine I-'abrtk betreibt oder eine offene Vcrkauf^stclle hall, für
welche eine Arlieitsordnung (§§ 134 a, 139 k) nicht besteht, oder
wer der endgültigen .Anordnung der Behörde wegen Ersetzung oder
Abänderung der Arbeitsordnung nicht nachkommt.
Digitized by Google
<icscu, bcUrcffcad die Abänderung der Gcwcrbeurdaung vom 30. Juni 1900.
VI. Der § 14S Abs. I der Gewerbeordirang wird wie folgt abgeändert:
1. Hinter Sffier 4 wird ciogcscbaltet:
4 a. wer aufser den Fällen de« § 360 Nr. la, § 367 Nr. 16 des Straf-
gesetzbuchs den auf Grund des § 38 erlassenen Vorschriften xu-
wirlt rliandclt ;
2. Di«^ '/iffor 8 « rliiilt fi-l^. ndi- Kassunj;;
wrr )n-\ «Icni Ilflnotic srint-s < i<'\V'Tl)cs <lic «iuriii 'Iii- OhfirjUcil
oder durch Aiuci^c bei (U rsi-nK ii it -.tgclogten Taxen überschreitet
oder es unterläßt, das gcmäD» ^ 75 oder § 75 a vurgeschricbcne
Verzeichnis einsureicben ;
3. Die Ziffer 12 erhfilt folgende Fassung:
Wer es unterläfst, der durch § 134c Abs. 1, § 134g, | 139k
Abs. 5 für ihn bc;;ründctcn Verpflichtung zur Riareichung der
Arlu-itsiirdnuag, ihrer Abänderungen und Nachträge nacfaxn>
kommen.
VII. Per jj 149 .\b>. 1 der ( ;i w«'rbe..rdnunj; wird wie folgt abgeändert:
Hinter Zilfer 7 wird ein^;eschaltet :
7 a. wer es unterläfiit, jemals 75, 75 a das Verzeichnis anxuschlagca
oder dem StcHcsuchenden vor Abscblufs des VcrmittltingsgeschfiAs die
für ihn zur Anwendung kommende Taxe mitzuteilen.
VIIL Im % 150 Abs. I ZifTcr 3 der Gewerbeordnung werden die Worte „in .
Ansehuitg der Arbeitsbücher" durch die Worte: „in Ansehung der ArbeitsbQcber,
Lohnbücher oder .\rl>eit^/e^leI•' ersetet.
IX. Im § 150 Alls. 1 /iiVer 4 der f lewerbeonhuinj; winieu du- Worte „des
•§ 120 Abs. 1" durch die Worte: „des {; 120 Abs. I, des § IS^f ersetzt.
X. ^ »50 Abs. I Ziffer 5 der Gewerbeordnung erhält folgende Fassung: wer
CS unterläfst, den durch § 134 c Abs. 3, § 139 k Abs. 4 flir ihn begrün-
deten Verpflichtungen nachzuliommen.
Artikel 16.
Dieses Gesetz tritt mit dem i. Oktober I900 in Kraft
Artikel 17.
Der Reichskanzler wird ermächtigt, den Text der Gewerbeordnung, wie er sieh
.aus den Aenderungen eq;iebt, welche in diesem Gesetz und den Gesetzen vom
15. Juni i8$3, Retchs-Gcsctzbl. S. 73,
I. Juni 1891, „ „ „ 261,
19. Juni 1S93, „ „ „ 197,
6. .Xujjust I.S96, „ „ ,. 685.
18. August 1S96, „ „ ,, 604,
10. Mai 1S97, „ „ „ 437,
und vom
96. Juli 18971 .1 »t » 663
sowie durch die am 13. Juli 1884, 31. Januar 1885, 1$. Februar 1886^ 16. Juni
j886, 16. Juli 1888, 9. Februar 1898 und 3t. Oktober 1899 bekannt gemachten,
44*
ijiyiiized by Google
676
Gesetzgebung: Deutsches Reich.
v«iB ReichsU^ genehmigten BescblOsae des Bandesrats (Reichs-Gesetzbl. von 1884
S. 118» von 1885 S. 8, von 1886 S. 38 und S. 304, von 1888 S. 3t8, von 1898
S. 37 nnd von 1899 S. 664) festgestellt dnd, durch das RcichsoGcsctzblatt bekannt
so maclien.
Urktitvllicli unter Unserer HöchstcigcnbüQdigcn Unterschrift und bcigcUrucktcm
Kaiserlichen Insirgcl.
Gegeben Travemünde, den 30. Jan! 1900.
(L. S.)
Wilhehn.
Graf von Posadowsky.
^ kj . ..Lo i.y Google
DÄNEMARK.
Das Gesetz über das Recht zu Zeugenvernehmungen
für gewerbliche Schiedsgerichte vom 3. April 1900.
Von
ADOIJ»H JENSEN.
SckrctSr des statUtuichen Amtes, ia Kopenhagen.
Das ohcti^enaimtc Gesetz, welches vom Reichstage im März 1900
angenommen wurde und am 3. April königliche Bestätigung^ er-
hielt, verdient auch aulVerhall) Dänemarks zur Kenntnis Derjenigen zu
gelangen, die sich für 'Soziale Probleme interessieren. Die tlänischc
Sozialgeset/gebung hat hier einen Weg eingeschlagen, den — so-
weit mir bekannt — bisher kein anderes Land zu betreten versucht
hat. Um das vorliegende Kxperiment zu verstehen, ist es nötig,
seine Vorgeschiclite zu keimen.
Das Verlangen nach Einrichtungen zur Beilegung von Arbcitcr-
konfliktcn ist in Dänemark verhältnismäfsig älteren Datums. In den
fiiniziger Jahren schon erschienen Vorsclilägc, welche die BSdung
von Fabriksgerichten empfahlen. Später wurde die Sache von
der Arbeiterkommission des Jahres 1875 in Erwägung gezogen,
welche einen in allen Einzelheiten ausgearbeiteten Entwurf zur Ein-
führung von Arbeitsgerichten vorlegte. Der Grundgedanke
dieses Entwurfs war, dals jeder Gemeindevorstand Manner aus
dem Kreise der Arbeitgeber und Arbeiter wählen sollte, welche
im Verein mit dem Polizeirichter in der betreffenden Stadt über
gewerbliche Streitigkeiten entscheiden sollten.
Dieser Kommissionsvorschlag blieb ohne Ergebnis, und eine Reihe
von Jahren vergingen, be\ er die Oeffentlichkeit sk:h wieder mit der
Sache beschäftigte. Dals die Frage auls neue behandelt wurde, ist
dem Minister des Innern Bramsen zu verdanken, der die Sache 1S93
L.ivjM^L,j L,y Google
6;8
Gesetzgebung: Dänemark.
auf einem grofsen Kongrcfs der Industrictrcibenden in Kopeohagen
zur Sprache brachte. Weil der Gedanke Anklang zu finden schien»
brachte Bramsen, der damals Mitglied des Reichstages war, einen
Gesetzentwurf über Gewer bc^'eric lue und Kl ni<^u ngskam-
mern ein, dessen wesentlichster Inhalt folgendermafsen lautete.
Wenn die Arbeitgeber und Arbeiter in einer Kommune bei
deren Vorstand auf Errichtung eines Ciewerbegerichtes antragen, kann
der (iemeindevorstand mit Zustimmung des Justizministeriums ein
solches bilden. Für die Wirksamkeit des Arbciisgcrichtes bestimmt
dieser Regeln, welches in jt dt in einzelnen I'^allc einer (uitheifsung
des Justijrministerivmis bedurien. Der \'orsit/ende des (.lerichts wird
vom König ernannt, die Beisitzer weiilen in gleich grofser Anzahl
von und unter tlcn Arbeitgebeiii und Arbeitern in der Kommune
gewählt. l-"alls Differenzen zwischen Arbeitgebern iniil deren Ar-
beitern innerhalb des Gebiets iles Gewei l>ergerichtes sieh ergeben,
kann dieses als fcinigungskannner angerufen werden. l indel keine
iMiii 'un<: statt, so wirtl die Kainnur ein Urteil über die .Sache
fällen, indem sie nach ihrem Gutdünken eine angemesse Ordnung
der Streitfragen bezeichnet. Erreicht man weder Einigung noch
Urteil, so kann auf Verlangen ein einzelner Schiedsrichter von der
Obrigkeit ernannt werden, dem alle von der Einigungskammer ge<
-sammelten Materialien zur Verfügung gestellt werden sollen.
Dieser Vorschlag erfuhr ein sehr merkwürdiges Schicksal. Er
gewann gleich einen bedeutenden Anhang im Reichstage, wurde
sogar im Folketing angenommen, und dennoch mufste er er-
leben, nachem er in drei verschiedenen Rcichstagstagungen vorgelegt
worden war, schlielslich in aller Stille zu verschwinden.
Die Ursachen dieses traurigen Schicksals waren freilich teilweise
politischer Natur, allein auch sachliche Umstände bewirkten das
negative Resultat. Schon ganz kurze Zeit nach dem Erscheinen
des Gesetzentwurfs wurde von selten der praktischen Industric-
trcibenden die prinzipielle Einwendung erhoben, die öflfentUchen
Gewerbegerichte könnten die bestehenden und heranwachsenden
privaten Schiedsgerichte verdrängen. AnCings tnelnte man diese Ge-
fahr abwehren zu können, wenn im Gesetz Hestimmungen aufge-
nommen würden, welche die privaten Schiedsgerichte als erste
Instanz konstituierten, während die ötfentlichen ( iewerbegerichte als
zweite In>tan/ ul)er sie gestellt würden. Dieser (iedankc wurde
jedoch bald als unpiaklisch angesehen, und der Wunsch, der l\ef».)rm
von oben die rechte Leben.skraft zu verleilien durch Verbindung mit
Adolph Jensen, Das Gcset« Ober das Recht zu Zeugenvernehmungen etc. 6/9
der Entwicklung von unten, wurde bald au%egeben. Indessen wurde
im Herbst 1893 eine Gewerbenovelle vorgelegt, und diese be*
schäftigte sich mit der Bildung &clilicher Meisterorganisationen,
welche verschiedenen sozialen Aufgaben obliegen sollten, unter
anderem auch der, eine Schlichtung fachlicher Streitigkeiten herbei-
zufuhren. Die Industrietreibendeii meinten jetzt, die Fra^^e wäre
am leichtesten und natürlichsten gelöst, wenn innn clcn in l'eber-
einstimmun^ mit dem Gewerbegesetz errichteten Schiedsgerichten
die Autorisation des Staates verleihen würde.
Die anfanj^s ganz günstige Stimmung für den obengenannten
Entwurf betr. öffentliche Gcwerbcgcriclitc hatte sich im Laufe
von ein paar Jahren gänzlich geändert: der Ik'Uri-. hierfür trat
zutage, als die Repräsentant cp der Indu>trie auf dem I\eicli>tage
im Jahre 1896 geradezu gegen die Förderung des ( lesct/csx or-
schlags stimmten, „um nicht die von unten heranwachsende natür-
liche Entwicklung zu stören".
Die Industrietreibenden knüjiften also ihre Hoffnung einer zu-
friedenstellenden Losung der I'Vage an die Mrjglichkeit , welche
der Abschnitt tler (iewerbeno\ eile über Innungen, Korporationen
und X'ereiric in sich schlols. Die politischen Verhältnisse bewirkten
indessen, dafs etliche Jahre vergingen, bevor der Reichstag im
Emst anfing, sich mit der Revision der Gewerbegesetzgebung zu
beschäftigen. Erst in der Session 1898—99 erschien ein Gutachten
vom Landsting, und nach dem Inhalte desselben, konnte man mit
einigem Recht erwarten, dafs in organischer Verbindung mit dem
Gewerbegesetze eine Form zuwege gebracht würde, in welche sich
die freiwUligeo Organisationen einlugen und eine Grundlage ftir In-
stitutionen zur Ausgleichung fachlicher Streitigkeiten bilden würden.
So verhielt sich die Sache vor einem Jahre. Inzwischen hat
sich die Situation völlig geändert.
Die Gewerbenovelle wurde im Herbst 1899 meder im Lands-
ting eingebracht, und hier geschah unter anderen merkwürdigen
Dingen auch dies, dafis der ganze Abschnitt über Korporationen u. dgl.
aus dem Vorschlage entfernt wurde , weil man es nun bedenklich
fand, derartige Organisationen in Verbindung mit dem Gewerbe-
gesetze zu fordern und zu regulieren. Nach der Entwicklung zu
urteilen, welche diese Frage zur Zeit in Dänemark erreicht hatte,
meinte man richtig zu handeln, wenn man ihre Lösung zum Gegen-
stand einer besonderen Gesetzgebung machte.
Um diese so merkwürdige Wendung verstehen zu können,
Digitized by Google
68o
GesetzgebuDi;: Dänemark.
niufs man sich in Kriniicrung rufen, wie die Verhältnisse im Laufe
der Zeit sich draufsen im praktischen Leben gestaltet hatten.
Das wesentlichste Hindernis, zu einem Resultat zu kommen,
7.cv^u- sich ursprünglich darin, dafs es detn selbständigen Industrie^
treibenden — im Gegensatz zu den Arbeitern — an Organisation
fehlte. I'Veilich sind die Handwerker- und Industrievercine älteren
Datums in Dänemark, und gcwils existiert eine gemeinschaftliche
X'ertrctung für die diuiische Industrie und da> dänische Hand-
werk, tlie auf eine mehr als zwanzigjährige Wirksamkeit zurück-
blicken kann. Teils aber waren die älteren X'ereinc der Industrie
treibenden nicht fachliclie, teils hat (lie Bewegung zu einem Zu-
sammenschlufs cr>i m späteren Jahren die grofse Masse der
Industrietreiberalen im ganzen Lanile er^riften. Die gemeinschaft-
liche Wrtrelung umfafste l886 73 X'ereine mit 2IOOO Mit-
gliedern, 1S92 126 X'ereinc mit jSooo Mitgliedern, 1899 aber 201
Vereine mit 40000 Mitglietlern. Diese Zahlen zeugen von dem
starken Organisatioiisdrangc, welcher den letzten 10 Jahren seinen
Stempel aufgedrückt hat, aber erst von der Mitte der neunziger
Jahre an eine praktische Wirkung zeitigte, indem man auf einen
wirklichen fachlichen Zusammenschlufs hinarbeitete. Der Gedanke
eines solchen war schon viel früher entstanden, und man hoffte, da(s
der Organisationsgedanke von seiten des Staates unterstützt, und
die Gesetzgebung Formen fiir die Organisationen darbieten würde.
Als diese Erwartung aber fehlschlug, fing man resolut an, das Haus
von unten aufzubauen. Die erwähnte gemeinschaftliche Vertretung
für Industrie und Handwerk nahm 1896 die Sache in die Hand,
und im Lauf von ein paar Jahren gelang es durch energische Agi-
tation, eine Zentralorganisation aller fachlichen Meister und Fabri-
kantenvercine im Lande zu bilden. Dieser Zcntralverein begann seine
Wirksamkeit am i. Januar 1899 unter dem Namen „Dänischer Meister-
und . \ r bc i tgebc r \ c re in".
Ohne irgendwelche Aufmunterung von Seiten der Gesetzgebung
war diese Organisation vor sich gegangen. Der Endz\\ t k des
Zentralvcrcins war Sicherung des Friedens zwischen Arbeitgebern
und Arl)eitern. und der Vorsitzende der gemeinschaftlichen Ver-
tretung charakterisierte im Jahre 1898 deren Bedeutung durch
f<>l;^'Lt.(lc Worte: „Können wir die grofse einträchtige ( 'rganisation
der Arbeitgeber durchführen , dann l<)sen wir zugleich auf frei-
willi;^cm Wege die Aufgabe, welche seinerzeit die Gcsetzvorüciiläge,
betrertend Gcwerbegerichte und Eiiiigungskammern, sich zum Ziele
Adolph Jensen, Das Gesetz Uber das Recht zu Zeugenvernehmungen etc. 58 X
gesetzt haben, und hofTentlich wird dadurch die Auljg^be in einer
besseren Weise gelöst, als ein Gesetz dies hätte können. Das
Zusammenwirken der grofsen Organisationen der Arbeiter und Ar-
beitgeber wird ein System von Schiedsgerichten bilden, welche
sich von unten entwickeln aus den praktischen Verhaltnissen des
Lebens, wie sie sich zwischen Arbeiter und Arbeitgeber gestalten,
und man wird sicher dadurch sowohl nutzlosen unpraktischen
Theorieen entgehen, als auch jedem fremdländischen Beigeschmack."
Zur Sicherung des Friedens — des sozialen Friedens — war
diese grofse Assoziationsarbeit zuwege gebracht worden. Und wc«
nige Monate später empfing ^e die Feuertaufe in einem sozialen
Kampfe von so umfassendem, langwierigem und heftigem Charakter,
dafs er in der Geschichte seinesgleichen sucht')
Nach dem Abschlufs des grofeen Lockouts Hegt indessen die
Frage der Arbeitsgerichte wesentlicli anders als bisher.
Der L^cbereinkunft zur Wiederaufnahme der Arbeit wurde
folgende Bestimmung hinzugefügt: Bei der Ordnung praktischer
Arbeitsverhältnisse darf von keiner Seite der ilnuptorganisationen
irgendwelche Bestimmung festgestellt oder gutgchcilsen werden,
welche gegen die l'cl)ereinkunft streitet; und ferner: falls irgendeine
der 1 lauj)türganisationen meint, dals diese Regel übertreten ist,
darf sie die I'Vage vor das Mof- und Stadlgericht in K<)i)enha;^cn
bringen, bis sie an ein pcrniancntes Schiedsgericht verwiesen werden
kann, bei welchem dicsell)e Zeugenpflicht gesetzlich festgestellt ist
wie bei den übrigen (ierichten des Landes.
Diese Bestimnuingen haben das Zustandekommen des de-
s e t z c s vom 3. April 1900 über das Recht zu Zeugen-
vernehmungen für gewerbliche Schiedsgerichte vcr-
anlalst.
Die zwei Hauptorganisationen „Der Meister- und Arbeitgeber-
verein" und „Die zusammenwirkenden Fachverbande" haben ein
permanentes Schted^ericht gebildet, welches aus 7 Mitgliedern be-
') ^^^^ gro&e I.ockoiU im Summer 1899 ruhte in 15 Woclu ii mit Mcicrncr
Scliwcro .-luf cir>rm sehr l)i-(lcin> n !> n I i il di r Frwcrblliiiti^ikcit des Landes. In
13 Wiichen Wiirt ii unfjelahr 35000 .XiUriti r .uiNjjcspcrrt, in den l<'/ttri 2 Wodien
ungeluhr 50000. Die ganze Anzahl verlorener Arbeitstage betrug c.i. 3'^, .Nlilhoncn.
Die normale Arbeiterstärke der Industrie in Di&enotfk belicf sich 1899 auf ca. 18000O;
diese 180000 Arbeiter wOrdeo zusammen in den 1$ Lockovt -Wochen normalerweise
Millionen Arbeitstag gearbeitet haben; der Verlast bei dieser Arbeitsstockung
betrag also etwas Uber '/^ der normalen Arbeitskraft.
Digiiizeü by LiOOgle
682
(.icsel/gcbunt; : Danemark.
Steht, von denen jeder Teil 3 Mitglieder gewählt hat, die nicht zu
den Vorsitzenden der Organisationen gehören, und diese 6 Mitglieder
haben dann wieder den Vorsitzenden gewählt. Unter der Voraus-
setzung, dafs dieser in seiner Person die Erfordernisse besitzt, die
ein gewöhnlicher Richter haben muls, verhelfst das Gesetz nun
diesem Schiedsgerichte eine B^^nst^ng, welche noch keiner an*
deren bestehenden privaten Institution im Lande zuteil wurde, näm-
lich das Recht der Zeugenvernehmung narli wesentlich gleiclien
Grundsätzen, wie sie Tür die übrigen Gerichtshöfe gelten. Die
Hauptre^eln lauten folgendermafsen.
Das Schiedsgericht, welches in Kopenhagen seinen Sitz haben
mufs, ist wie jedes Gericht befugt, jeden Zeugen zu verhören, der
sich freiwillig einfindet, ohne inbetracht zu ziehen, wo der
Zeuge wohnt. Die Pflicht, vor das Schk'dsc^'^cricht als Zeu^c zu
erscheinen, haben dagegen nur die Bewc)liner von Kopenhagen u;.d
der angrenzenden Gcriehtskreise. Sollte aulserhall) ilieser (iren/.c eine
Zeugenvernehmung vorgenonunen werden, so hat dies vor dem ei-
genen Gerichtshof des Hetrert'enden zu geschehen. Der \'or>itzciKle
des Schiedsgerichtes leitet die Zeugenvernehmung und ist dafür
verantwortlich, dafs sie in geliörigcr Weise geschieht. Hinsichtlich
der abgegebenen Zeuge ru i klärung ist der Zeuge, was Strafen anlangt,
ebenso gestellt, als wäre die Erklärung vor einem >tändigen ücnclits-
hof abgegeben worden.
Auf eine ganz eigentümliche Weise hat die Gesetzgebung hier
die Sache angefafst. Ohne sach damit abzugeben, Regeln iiir die
Bildung des Schiedsgerichtes festzustellen, oder auf die Wahl des
«Gerichtsvorsitzenden Einflufs üben zu wollen, ohne danach zu
fragen, unter welchen Formen das Gericht wirken wird, giebt die
Staatsmacht einer solchen ganz privaten Institution eine weit'
greifende Befugnis, die sonst ausschliefslich den Gerichten des
Staates vorbehalten Ist')
Das neue Prinzip, das man hier befolgt hat, ist jedoch nur
auf einem sehr engen Gebiete angewendet worden, nämlich zur
Schlichtung der Streitigkeiten zwischen Zentralvereinen der
') MaD bemerke hier, dafs während der Verhandlungen wegen einer Revision
des geltenden Fabrikgesetzes die Frage erörtert wurde, ob nicht die oberste Leitung
der Gewerbeaufsicht einem Arbeitsrate anvertraut werden mUsste, den die zwei
grofM-ii Zentralorganisationen der Arbeitgeber und Arbeiter zu schaffen das Recht
erhalten sollten.
uiyiiiz^cHj by Google
Adolph Jensen, Das Gesetz über das Recht zu Zeugenvernehmungen etc.
Arbeitgeber und Arbeiter. Schiedsgerichte, die nur für ein einzelnes
Fach gelten, können also nicht das Recht erlangen, Zeugen zu ver-
nehmen, und dasselbe gilt fiir lokale Gewerbegerichte, wenn solche
künftighin in verschiedenen Teilen 4es Landes errichtet werden
sollten. Praktisch findet das Gesetz jedenfalls augenblicklich nur
Anwendung (lir das Schiedsgericht, welches vom Arbeitgeber-
verein und den zusammenwirkenden Fachverbänden gebildet ist
zur Austragung von Streitigkeiten zwischen diesen zwei Zentral-
vereinen.
Durch das Gesetz vom 5. April 1900 hat der Staat den zwei
Zentralvereinen eine Art indirekter Anerkennung erteilt, welche
ihre gro(se prinzipielle Bedeutung hat Dieses kleine Gesetz von
4 Paragraphen, dessen Inhalt vielleicht nur von einem engen Kreis
von juristix h und sozial interessierten Personen gehörig beachtet
wurde, ist ein wesentlicher Behelf zur Erreichung friedlicher sozialer
Zustände in Dänemark. Während der Behandlung (U - rit sctzes im
Reichstag hielt man mit gröfster Sorgfalt alle Nebenfragen fern,
ebenso jede Betrachtung über die ferneren Konsequenzen des Ge-
setzes. Man that dies nach dem ausdrücklichen Wunsche der zwei
Zcntralvcreine, und man handelte sicher klug, als iiiaii diesem
Wunsche I'olge leistete. Ks ist aber kaum ohne starke Re>ignatinn
geschehen, denn mit Xachdrurk drängt sich die Frage auf, wie die
begonnene Arbeit weiter gefuhrt werden soll.
Man bcfiiKkt sich jetzt wesentlich anderen Voraussetzungen
gegenüber wie v or sieben Jahren , als der Gesctzvorschlag über Ge-
werbegerichte zum ersten Mal im Reichstag v orgebracht ^vurde. In
den vergangenen Jahren ist der Oganisatioiisprozefs inncrlialb des
Kreises der Arbeitgeber und Arbeiter vollzogen worden, und die
Assoziationen haben durch eigene Kraft eine Stärke erhalten, von
der damals niemand träumte.^) Die indirekte Sanktion, welche sie
jüngst von Seiten des Staates erhalten haben, legt ihnen sehr um-
fassende Verpflichtungen auf, deren Erföllung vermutlich bedeutsame,
über den unmittelbaren Zweck des Gesetzes hinausgehende sozial-
. politische Folgen in sich schliefsen dürfte.
') Die Arbeiterorganisationen zählen ca. tooooo Mitglieder oder ca. 80 Prozent
sämtlicher erwachsenen Industriearbeiter.
uiyiii^od by Google
f
MISZELLEN.
Die Ergebnisse der schweizerischen
Wohnungsenquiten.
Von
Dh. KMfl. UOFM ANN.
Nationalrul in FraucntL'ld.
Dem gegen das Ende der achtziger Jahre in der Schweiz erwachten
Eifer mit Erforschung und Verbesserung städtischer Wohnungsvcrhiiltnisse
liegen andere Motive zu Grunde als seinem V orgänger in früheren Jahren.
Ty])lnis. Cholera und andere epideniiscjie Krankheiten, welrhf entweder
ausgehrochen oder in hodrohlii he Nahe geiutkl waren, ^Nihcn nielinnais
das Sitrual zu WolnninL:>erhel)ungen oder dorli A\'ohnungsinsj)eklionen.
W ar die (jelahr vorüber, hegaiin auch dei auf ihoein Gebiete entbrannte
Eifer sofort zu erkalten. Die Berichte wurden um so kursorischer und
die polizeilichen und gesetzlichen Mafsnahmen um so zahmer und müder,
je rascher die Gefahr vorüber gezogen war. ^) Später and die ge>
nannten Motive in den Hintergrund gekommen. An Stelle der Gelegen-
heitsenqueten sind die Enqueten ,4snger Dauer" getreten, um einen
Ausdruck des Bearbeiters der Lausanner Wohnungserhebung zu ge-
brauchen. Sie wollen nicht blofs dem Augenblicke dienen, sondern
sollen eine feste (irundlage für die Wohnungsgesetzgebung etc. der Zu-
kunft l)ilden. Die Ursachen, welche die Wohnungserhebungen dieser
Art veranlafsten, liegen in der Wohnungsnot der arl)eitenden Kla>sen
und den damit verbundenen hygienischen und moralischen Milsstaiiden
sowie in dem üpi>ig sich entfallenden Grund- und Bauwucher, dessen
krasse Auswüchse ungeschminkt an die Oeffentlichkeit traten. Der Aus-
gangspunkt dieser Wohnungserhebungen ist darum auch meistens bei der
*) Vgl. hierzu: Enqtifte m Ics conditions da logement Aiiii6e 1894. Memoire
pr^senti ä hi mtmicipaliti de Laasaone par Andri Sehne ttter Avoc&t, Prirat-
docent rUniverMt^ de Lauianne. Lansuiic (Imprimerie Luden ViDgent) 1896. p. 10 ST.
Digitized by Google
Emil Hofmann, Die Ergebnisse der schweizerisclien Wohnungsenqu^cn.
Arbeiterschaft oder deren Vertretern in den kommunalen l'.eliurden zu
suchen. In Basel wurde die Wolmungserhebung durcli einen sozial-
demokratischen Abgeordneten in Foim eines Antrags im Grofsen Rate
veranlafst. In Lausanne hat die Thatsa^he, dafs die Arbeiterschaft diese
Frage auf ihr Programm genommen» die Vornahme der Erhebung zum
mindesten begünstigt und beschleunigt In Bern ist dasselbe noch aus-
drücklicher geschehen, in l. in dort die öffentliche Meinung immer ener-
gischer die Untersuchung der VVohnungsverliältnissc fnnierte, welche vom
Gcmeinderrtte entgegen dem Antrag der Polizeidirekiion und Sanitats-
. koininission auf die lange Bank geschoben werden wollte. In Aarau
machte die Aibeilerunion durch Zuschrift vom 15. Mai iSqö die An-
regung „es niui lile durch die stadtlsclie Behörde eine Wuhnungsenquete
veranstaltet mid zu diesem Behuf Erhebungen über die Wohnungen der
Gemeinde und insbesondere darüber gemacht werden, ob and in wie
weit solche den hygieinischen Anforderungen, dem Bedürfnis von Licht
und Raum etc. entsprechen, wobei es sich auch empfehlen dürfte, kon-
statieren 20 lassen, ob nicht bei vielen Wohnungen ein Mifsverhältnis
zwischen den Mieteinsen und der Qualität der Wohnräume bestehe". ')
In Solotliurn gelangte der Gnitlivcrein an den Einwolmergemeinderat
mit dem (»csuch um Vornahme einer Wohnungsen(|Uete.
In Luzern gab den eisten Anstofs 7m Wohnungserhebung, die von
der Schweiz, gemeinnützigen (n seiisi haft \ ersuc hte Durchfulirung einer
Erhebung über die Wohnverhaltnisse der unbciuittclten Klassen. "-)
Die erwähnte Erhebung der Schweiz, gemeinnützigen Gesellschaft,
welche die Kommission für Hygieine im Jahre ZS95 begann, hat noch
ein schlimmeres Schicksal erfahren, als wir derselben voraussagten. ") Wir
sweifelten von Anfong am Erfolge dieser Untersuchung und glaubten
nicht, dafs diescll^e die gemeinnützige Gesellschaft in die Lage versetzen
werde, ihre Mithilfe auf dem Gebiete der Wohnungsfrage anzubieten.
Doch hofften wir, dafs wenigstens das eingegangene Material richtig ver-
wertet werde. Leider ist nicht einmal das geschehen. Fabrikinspektor
Dr. Schuler hatte keine Zeit, das sehr lückenhafte aber zum Teil recht
intercs-sante Material, welches der von ihm geleiteten Kommission für
Hygieine zugegangen war, selber zu verarbeiten. Er leitete diisselbe an
die Gesellschaft mit dem Bemerken weiter, dafs daraus kein Bild ftir
') RccbeuclMflsbericbt des Gcmdiiderales ttber die Geniciiide<Verwalta]ig der
Stadt Aaran f&r 1896. Aanui (Bndidnickcrd tob H. R. SaoerUadcr u. Cie.) i897> i^- >3*
*) Die Wohnungsenqu£te in der Stadt Lnaera vom lo. Mai bis 3. Juli 1897.
Im Aalltagtt des Stadtrates bearbeitet von Heinrich Pietscker. Lusem (Bndi*
dmckerei H. Keller) 1898. S. 1.
*) Die Wohanngseiiqolten m der Schweis. Arcbiv Ar sodale Gesetzgebung
n. Statistik. HerMMsegeben von Dr. Heinrich-Braaii. Bedin 1896. S. 6iOb
686
Mis/cHl-ii.
die ganze Schweiz sondern nur recht wertvolle Einzelbilder zu gewinnen
seien. Wahrscheinlich hat man aber auch auf die Gewinnung dieser
Einzelbilder verzichtet. Wenigstens ist seitdem nie mehr etwas Ober
diese Elrhebung in die Oeifentlichkeit gedrungen.
Als Ersatz für diese \Vohnungserliel)ung, welche eine möglichst
j^ründliche Kenntnis aller auf dem Gebiete des Wohnungswesens in Fra^^e
kommenden \'erhältnisse im ganzen Schueiicrland sich als Ziel gesetzt
hat, sowit' als uiltkonunene Kri^änzunjr zu den wirklich durch^etührten
\Vohnunu:icn<iucten , kann eine Frhebun^' tk-r cidi;en()ssischen I'abrik-
inspektoren und eme solche des Sekretärs des schweizerischen Ge-
werbevereins ^) betrachtet werden.
I^e Anlage der genannten stidtischoi Erhebungoi ist ohne Aus-
nahme wesentlich von der Baseler Wohnungsenqudte beeinfluist worden.
Die dortigen ErhebungsFormulare dienten durchweg zum Muster, das
an einigen Orten ergänzt und erweitert, an anderen noch wesentlich be-
schnitten wurde.
Die Aufiirbeitung des Materials wurde meistens durch städtische
Beamte, die wissenschaftliche Darstellung desselljcn durch Fachleute be-
sorgt. Dies mochte da ohne besonders schlimme Folgen bleiben, wo
der zur wissenschaftlichen Darstellung berufene Fachmann die Aufarbei-
tung zu leiten und zu überwachen in der Lage war. Wurde aber dem-
selben das technisch aufgearbeitete Material ohne weiteres zugestellt, so
mufste er sich um so mehr gebunden und beengt fühlen, wenn er, wie
in den allermeisten Fällen, der Anlage der Erhebung völlig femgestanden
war. Einzig Bern und Zttrich machen hievon eine Ausnahme. Dort
wurde die Aufarbeitung des Materials unter Leitung des Bearbeiters der
Wohnungserhebtuig ausgeführt, hier war Anlage und Bearbeitung der
Enquete dem städtischen statistischen Bureau als Aufgabe überwiesen.
Nicht zuletzt infolge dieser Zersplitterung hat die \'ollcndung dieser
Erhebungen länger auf sich warten lassen, als nach den Erfahnmgen
von Baselstadt vorgesehen war. Dort waren von der Vornalime der
Erhebung bis zur Publikation der Bearbeitung ungefähr zwei Jahre ver-
strichen. In Lausaime genügte ebenfalls eine zweijährige Frist hierfür.
Luzcrn, welches wie Lausanne Erhebung samt Bearbeitung ziemlich
ängstlich dem Baal« Vorbild anzupassen botrebt war, kam damit noch
Die FabrikwohabSuser ia der Schweis. Nadi den Erbehungea der eid-
genössischen Fabrikinspektoren bearbeitet von Dr. F. Schüler, Inspdctor, Dr.
H. Wegmann, Adjunkt, lageoieur W. Wilhelm, Aasisteat Zeitschrift fOr
schweizerische Statistik. Jahrgang 1896 S. 333 fr.
•) Statistik über die BauthKtigkcit in den schweizerischen Gemeinden mit mehr
ah 10000 F.inwohticin im I)c/.L-miium 1SS9 — 1S9S. Neunzehnter Jahresbericht des
schweizcrischcu Gcvverbevereins. Bern (Buchdruckerei BUcbler u. Co.) 1899 S. 41 ff.
L-iyui^L.j cy Google
Emil Huf mann, Die Ergcbnisüc der &cliweizcrisclicn Wobnungsenquetcn. 68/
ia kürzerer Zeit zu Ende. Bern benötigte etwas mehr als 3 Jahre, bis
die umfangreiche Publikation seiner Wohnungserhebung ^) erscheinen
konnte und darf der Vorwurf gegen Behörden und Presse nicht erhoben
werden, irgend ein Mittel unversucht gelassen m haben, den Bearbeiter
zum Kilmarscli zu nötigen.
Zürich, welches seine Wohnungserhebung in der Zeit vom 15. Ok-
tober bis 21. November 1896 unternahm, wälirend die anderen Städte
'die Aufnahme mehr in die Zeit pegen den Frühling vcrlcfrten, hat bei
der \'i'r<)ftVntlicl»uiig der Wohnungs- und (jrundstiickserhebung den Weg
ein;:esi Iii. igen, die Krtjebnisse unmittelbar nncli ihrer Ferti;^stelhmg al)-
schniitweise, zunaciist ohne erläuternden Text der Ueticnllitiikcit mit-
zuteilen. ^ Winterthur , welches die Wohnungsuntersuchung im Marz
1896 und St. Gallen^), welche dieselbe im April 1897 vornahm^ haben
bis jetzt nur vorläufige Ergebnisse publiziert. Doch ist die Verarbeitung
des Zahlenmaterials an beiden Orten dem Bearbeiter der Bemer Woh>
nungscrhebung iil)ertiairen worden und steht die Vollendung beider
F.n([ueten wohl bald in Aussicht. Wenigstens meldet der jüngste Bericht
der Gesinidheitskonimission der Statlt St. Gallen, „dafs die X'erarbeitung
des gesammelten Zahlenmaterials der W'ohnungsenciuete ihren ungestörten
Fortgatig nehme und unter LeitunL,-^ des Statistikers Carl Landolt aus
rJern unter Aufsicht der Poli/eidiicktion durch Dr. Hans Meyer und
einen Poli/.eigehulfen bereits bis zur Aufstellung der statistischen Ta-
bellen vorgeschritten sei". In Winterthur Uifst der endgültige Abschluis
der Arbeit wohl noch etwas länger auf sich warten, weil der anßbiglich
mit der .Bearbeitung Betraute, sich als unfähig erwies und durch den
eben genannten Statistiker ersetzt werden mu&te, nachdem die Arbeit
mehrere Jahre sozu.sagen auf dem gleichen Flecke stehen geblieben war.*)
Aarau liat die Ergebnisse seiner Wohnungserhebung zusammengestellt
und das Material dem mit Arbeit mancherlei Art l>elasteten Kantons-
statistiker am 2S. Mai 1897 mit dein Ersuchen überniiltcU, die wesent-
lichen Krgcbnisse in geeigneter Weise zur üti'entlichca Kenntnis zu
*) Die ^\ uhiiuiigscrhebuiig iu der Stadt Bcru vom 17. Februar bis 11. März
1896. Im Auftrage der stÄdti^ben Hehordea bearbeitet von Carl Laodolt. Bern
Dmck v. Kommissioiuverlas YonNeukomm u. Zimmermano j 1S99. LV u. 712 Seiten.
') Mitteilungeu aus den Ergebnissen der Wohnungs- und Gnmdstttckierhebuag
in der Stadt Zttrich im Oktober/November 1896. Heransgegeben vom statistischen
Amt der Stadt Zürich. Kr. i. August 1898. Vm n. 34 Seiten. — Nr. 2, Juli 1899.
IV tt. 88 Seiten. Nr. 3. 3. April 1900, III u. 40 Seiten.
*) Berichte n. Jabresreclinnngen der politischen Gemeinde St. Gallen vom i. Juli
1897 hl* 30, Juni 1898. St. Gallen (Buchdmckerei Victor Schmid; 1898. S. 17.
*) Geschlftsberichte der Verwaltungsbehörden der Stadt Winterthur vom Jahre
1897. Winterthur (Bucbdruckerei Geschwister Ziegler) 1898. S. 149.
Digitized by Google
688
MiäzclU-n.
bringen.') Dieser Wunsch wird um so länger unerfüllt bleiben, als die
seiner IZeit von der Polizei durcfagefährte Erhebung ziemlich mangelhaft
und mit zahlreichen Irrtümern behaftet sein soll.
Freiburg, welches mit seiner im November 1898 begonnenen und
in zwei Quartieren dtiirhfiefuhrten W'ohntmgscnciuetc mehr j>raktische
Zwecke verfoli^te, luu auf eine Veröffenthchunfj: der ..Rapporte" ver-
zichtet. Ks he^aui^te sich damit, dafs die Inspektoren ihre Üeobach-
tun;:en über sanituiische Zustaiule etc. der Wohnungspulizei mitteilten
und mit oder ohoe Verfügung derselben für Abhilfe sorgten.
Solothum ^ mit der Bearbeitung seiner Wohnungsenquete ebenfalls
noch nicht zu Ende gekommen und scheint dieselbe noch geraume Zeit
in Anspruch zu nehmen.^)
Die Kosten dieser Erhebungen haben das gemeinsam, dafs sie die
vorausgesehenen Beträge meist in erkleckh'chem Mafse überschritten.
An dieser Ueberschreitung der budgelierten Summen trägt wohl der
Umstand die Hatiiits<hiild. dafs die cii^entriinlichen Verhältnisse der
Basler W ohnungsencpiete und deren unvollständig wiedcrgci,'ebene Kosten-
note zu wenig gewürdigt wurden. Nach liuclur beliefen sich die Kr-
hebungskoslen in Basel auf 6087,25 Frs. und die Hcrsiellung>ko>trn des
schwarzen Buchs auf 374 Frs., während „die gesamten Konten der
statistischen Aufbereitung (Vorarbeiten, Tabellierung und gröbere kal-
kulatorische Arbeiten zusammen) 4342,75 Frs. betrugen.
Nach dem Berichte des Regierungsrates *} setzen sich die i63o8»75 Frs.
betragenden Kosten der Wohnungsenquite m Basel folgendermafsen zu-
sammen :
Kosten der statistischen Bearbeitung . . 5300 Frs. — Cts.
Kosten der Bearbeitnng durch HilfskrSfte 4500 „ —
Far kleinere Auslagen des Herrn Bticher 243 „ 75 „
Dnickko>,trn 3166 „ — „
Honorar des Verfiissers 4000 „ — „
in Luzern überschritten schon die Kosten der Wohnungsauiuatnue
den budgetierten Kredit von 6000 Frs. um 601,8 Frs. und erforderte die
gesamte Erhebung 18551,45 Frs. Die Lausanner Enquete, ftir welche
ursprünglich ein Kredit von 5000 Frs. bewilligt worden war, hatte schon
Ende 1894 einen Betrag von 13533 Frs. erfordert, obwohl die statts*
*) Recbenscbaftsbericbt des Gemcindemtes Uber die Geraeindevcnraltnng der
Stadt Aaratt Ox 1897. Aaran (Buchdmckerel v. H. R. Sauerlinder n. Cie.) 1898 S. x $ f.
*} Mitteilung des Stadtscbrribers von Solothnm.
'1 57. Verwaltaagsbcricht des Regienmgsrates n. 44. Bericht des A]>]>ellation»-
(icrichts über die Ju<>tizTerwaltang nun Jahre 1897 an den Grofsen Rat des Kantons
Basel-Sudt. VIIL S. 37.
Emil ilulinunn, llrjjclmis.'jc der scliwci/crisclicu \Volinung.>cuqueUa. 689
tischen Arbeiten erst im August 1895 vollendet wmden. Die Zürcher
Erhebung hat Ende des vorigen Jahres den bewilligten Kredit von
30 000 Frs. bereits um 1 5 000 Frs. Überschritten. Die Kosten der
fiemer WohnungsenquSte stellen sich nach Abschlufs sämtlicher Arbeiten
wie folgt:
GewimniDg des statistisebcn Matcriak (Erhebung) 5760 Fn. — Cts.
Bearbettniic:
Für BesoUungen .... 25 012 Frs. 10 Cts.
„ Bareaiiaa»gaben . . . 656 „ 85 „
„ Dmckarbciten .... 1014 ,. 45
26683 Fn. 40 Cts..
Pttblikation :
Für den Druck des Werkes Ii 520 Fr> — Cts.
.. ihr Pläne 1208 .. 65 „
„ Buchbindcrarbeiten . . 632 50
13 361 Fr>. 15 Cts.
Total der Konten für die Wobuuagäcnquete .... 45 Ö04 Fr». 55 Cts.
Die Kosten der Erhebungen betragen per Wohnhaus in:
Lnsem 4,14 Frs.
Basel 1,65
Bern 1,4
Als Ursache dieser Differenz mag angeführt werden, dafs Luzern
bei der Wohinin[i'iaufnahme etwas zw kornpli/iert verfahren ist, wie
übrigens schon aus dt-r Zeit, welche hierfür gel>raurht wurde, hervorgeben
dürfte. Die DurchlilhruDg der Enqueten dauerte in:
HHuser Wohnungen
Basel vom I. — 21. Februar iSS'i und erstreckte sich auf 3618 u. 13377
Bern vom 17. Februar bis 11. M.=irz 1S96 „ „ „ „ 3394 10679
Lausunne vom 7. März bis 3. A]iril iS94 „ „ „ „ lOOi 73'9
Liuem vom 12. Mai bis 3, Juli 1897 ,. .. ,. ,. 1586 4*^'38
Zttrich „ 15. Okt. bb 21. Not. 1896 „ „ „ „ 8692 „ 2903?
Wintertbur*) vom 9.-26. MSn 1896 „ „ „ „ 1745 .» 4345
St. Gallen*) vom 3 i.Itttrz bis April 1897 u •> n n f 6871
Wesentlich anders gestaltet sich das Bild, wenn nian die Gesamt-
' Goschärtsberichte der Verwaltungsbehörden der Stadt Winterthiur vom Jahre
1896. VVinterthur 1897. S. 98.
Bericht u. Jahresrechnungen der politischen Gemeinde St. Gallen vom I. Jttli
1897 bi« 30- Juni iSoS. St. Gallen 1898. S. 17.
Archiv Iliv «ot. Geseugebuns u. SutistiK. XV. 45
biyiiizeü by Google
690
Miszellen.
kosten dieser Wobnongsenquöten ins Auge fa&t Diesdben betrugen per
Haus in:
Bern 13,33 Fn.
Lazem 1 1*64 „
Basel 4,41 „
Der niedrige Betrag, weldier in Basel fiir die Wohnungsenqu^
aufgewendet werden mulste, erklärt sich vor allem daraus, da& eine An>
zahl Arbeiten durch Studenten ausgeführt wurde, welche etwas niedriger
entlohnt werden konnten als Arbeiter, die auf ihren Arbeitsverdienst an-
^'ewiesen sind. D.i/u kommt in zweiter Linie der Umstand, dafs der
Bearbeiter der Enijuete zugleii li als Professor an der Basier Hochschule
lehrte, wahrend in Bern ein Statistiker und in Lu/ern ein Kavallerie-
otftzier der Bearbeitung der Entjuete sozusagen bcrufsmäfsig ihre ganze
Zeit zu widmen batten. Femer darf nicbt vergessen werden, dafs in
Basel die Näbe der Volkszählung vom i. Dezember 1888 die Arbeit
etwas erleichterte und die der Wohnungsenquite unterworfenen Häuser
an sich nicht einen Gegenstand der Aufnahme bildeten. J£benso muß
darauf hingewiesen werden, dafs namentlic!) io Bern die Bearbeitung
eine viel einiäf>lirhcre gewesen ist als in Basel, was sich unter anderein
schon rein äufscilich aus dem ungefähr doppelt so grofsen Umfang der
Berner V^eröiVetulichung der \V()hnungsenc|uete ersieht, wahrend die
Lausanne! und Luzerner Frliebiuig auch in dieser Bezielmng hinter
ihrem Basler Vorbild etwas /uru( kgeblirben sind.
Diese Verschiedenheit in der Durchdringung des Unuaterials, .>u>vie
die ungleichartige IkschatTenheit des letzteren selbst setzen einer ver-
gleichenden Zusammenstellung der Ergebnisse der schweizerischen Woh>
nungsenquöten und einer kritischen Würdigung der Methode und des
praktischen Erfolges derselben Schwierigkeiten und gewisse Schranken
entgegen. Zudem möchte man versucht sein, die Verallgemeinerung
des aus einer solchen Vergleichung gewonnenen BÜiK ^ fiir unzulässig zu
halten wegen des allzugeringen Umfanges des Vergleichsniaterials. Man
möchte fra>;en, was bedci.Hct die Zahl der rliiK h die WohnungseiiMuC-ten
untersuchtfii Hauser Lregenuber der srhwei/erischen (iesamtzahl derselben?
Wurden ja im Jahre 1888 400 121 bewohnte Wohnhäuser mit im
ganzen f>37'^,P H iushaltuni:en und 2917 754 Emwohneni gezahlt. Die
\Voiinungseni|ueien aber beziehen sich auf;
*) Schweueriscbe Statistik. 84. Liefenmg. Die Ergebnisse der eidgenöuischea
Volkszählung vom 1. Di zcmber 1888. I. Bd. Zahl di r Häuser, der Haiishaltangcn,
der Gesamtbevulkcruiijj, letztere UDtcrschicden nach den IleinuUsverhältnissrn. dem
Geburtsort, nacli der Konfession und der Muttersprache. Vom statistischen Bureau
des cidgfn. wsischen Departements des Innern. Bern. Art. Institut OrcU FUssU in
Zürich. i^'j2. Ü. 39.
uiyuiiiL,..
cy Google
Emil HofmanDi Die Ergebnisse der schwcizcrisciien Wohnungsenqu^cn.
Häui«r
llaushaliungen
Eiiiwoliiipr
in B«sel
3618
58 Ü07
„ LftUMnae
asii
36834
„ Lnsero
1315
23098
yf Bern
3551
52493
„ Zürich
8692
138 4O8
„ St. GallMi
2272
30520
„ WinterÜMur
1745
2oSTr
„ Aarau
778
•
7273
Dazu kommen die untersuchten 3026 FabrikwohnhäuseTf wovon aber
' ungefähr die Hälfte schon in (len genannten Wohnungsenquöten mit ein-
bezogen sein dürfte mul He von der Stati'^tik des schweizerischen Ge-
werbevereinssekretärs berührten Städte ohne Wohnungsenqu6ten :
mit Häitsem
Einwohnern
Genf
1 0 500
112750
La Chaux-de-Fonds 1826
32053
Ncuchätel
1532
20177
Biel
1350
10027
l-ribourg
1185
Herisau
»504
1 5 320
Sduffhansen
1388
13021
Le Locic
821
12532
Cuwifs ist diese Zahl gering im Verhältnis zur Cicsamtzahl der
Wohnhau>cr in der Schwei/. Allein, wenn man die Stäthc allein ins
Auge fafst, so durfte man wenigstens geuugcnü Anhaltspunkte zur Kenn-
zeichnung der städtischen Wohnungsverhältntsse in der Schweiz besitzen,
die im nachstehoiden hinsichtlich der allgemeinen Wohnungsdichti|^it,
der Wohnungsmängel, der Eigentumsverhältnisse» der Mietpreise, der bau-
lichen und populationistischen Entwicklutig sowie der Folgen der Woh-
nungsenqu^en untersucht werden sollen.
I. Die Wohnungsdichtigkeit
Die Behausungsziffer betrug
in
Lau>annc
iS,4 Froz.
l lucrn
17.5
Zürich
15
•»
Bern
M.9 „
!f
Basel
«3.6 „
)*
St. Gallen
13,4 »
*•
Winterthnr
11*9 »
»
Aaran
9.3
45*
Digitized by Google
^2 Miszellen.
Selbstvdstäiullirh winl (lie>f r>ehau;>uiit;s/.it1er wesentlich davon 1>ecin-
rtiifst, ob alle /um nornialcn Bewohnen ht^stiinnUen Wohnhäuser und die
in ihnen wohnenden Bewohner hibetracht gebogen oder ob blol's die
normal und vollständig bewohnten Wohnhäuser mit der Zahl ihrer Be-
wohner berücksichtigt werden.
Die Bemer Wohnungsenqudte hält daiUr, dafs tur Feststellung der
thatsächlichen Wohnungsdichtigkeit das letztere Verfahren das allein rieh-
tige sei. Bücher I n iie unbewohnten Häuser weggelassen und zwischen
normal und anormal bewohnten Gebäuden, d. h. Privathäusern und An-
staltsi^ebäuderj eint-u Unterschied geniaclu. Die Luzemer Krhebung
scheidet 271 (Ic^audo oder 17 Pro/., aller aufi^enoinmenen (leltaude für
die cigentlirhe staii-iische Berechnung aus, weil diese entweder leer
stehen oder teils (Jeschuflsgebäude teils öffentliche Gebäude sind, welche
nicht als eigentliche Wohnhäuser sich qualifizieren. Die Folgen dieser
ungleichartigen Auflassung und Behandlung zeigen sich unter anderem
darin, dafs z. B. in Basel die Behausungszifier 13,6, wenn die Anstalts-
gebäude mit einbezogen sind, und 15,3 beträgt, wenn blofe die bewohnten
Privathäuser inbetracht gezogen werden. In Bern macht sich diese
Differenz ganz in derselben Weise bemerkbar. Die normal und voU-
stÄndii: bewohnten und vollständig untersuchten Wohnhäuser zeigen eine
dur» lischniitliche Bewohnung von 15,2 Personen, während die unter-
suchten Wohnhäuser überhaupt eine Behausungsziflfer von 14,9 Be-
wohnern aufweisen.
Noch deutlicher treten die Folgen verschiedener Auffassung zu
Tage, wenn man die Ergebnisse der Statistik des Sekretärs des Schwei*
zerischen Gewerbevereins mit denjenigen der Wohnungsenqudten ins
Auge fafst, wie aus folgender Zusammenstellung ersichtlich ist:
Bchftumngsaffer
Behansongszifl'er
nach der
nach der
Wobnongsenquite
Statistik drs Owerbevcreiiis
Zürich
15
16,8
Basel
12,6
Genr
«0,7
Bern
14.9
12,8
Lausanne
14,6
St. Oallcn
16
l.a Ciiaux de
Fouds —
«7,3
i.uzern
«7,5
«3.1
Wiaterthar
»»,9
11,6
NettchAtel
12,7
Biel
14.7
Fn-iburp
»3.6
llcn.suu
10.2
Scbaffhaiisen
9,2
Le Locle
14.4
Digitized by Google
Eiuil llofniann, iJic Ergcbni^c der schweizerischen \Vuhnung!>L-nquclen.
Allerdings liegt bei diesen Zahlen die Versuchung nahe, die Re-
duktion der BehausungszifTar auf die zwischen dem Zeitpunkt der W<^o
Dungsenqudte und demjenigen der Statistik des Gewerbevereins aus*
geführten Neubauten und Häusererweiterungen zurückzuführen. Altein
selbst in Lu/ern, wo diese Diffcrin^ ntn gröfsten ist, hat die Bautliritig-
keit larij^e nicht ein so rasches Tempo eingenommen, dafs dadurch die
Reduktion der Behausungszifier nur einigermalsen motiviert werden
konnte.
Unter diesem (icsiclitswinkcl bttinchtet, lassen die Behaiisungs-
zitTern von Chaux de Fonds mit 17,3, M'U liiel mit 14,7 und von Lui.le
mit 14,4 darauf schliefsen, dafs dun die \Volmungsverhältni!>se zum
mindesten die Vornahme einer Wohnungserhebung vollauf rechtfertigten.
Dieselbe Forderung ergiebt sich auch aus der Thatsache, da& an den
genannten Orten in dem Zeiträume von 1889 — 1898 die prozentuale
Vermehrung der Wohnhäuser mit derjenigen der Bevölkerung sozusagen
ziemlich gleichmäfsig Schritt ^'ehalten Iku, wahrend in Bern, Basel und
Luzern die prozentuale Vermehnuiu der Wohnhäuser diejenige der I>e-
völkeruii^' weit übertroffen hat. Die durchschniltlir.he Zunahme der
Wohnhauser der genannten 15 Ortschaften itn erwähnten Zeitraum be-
trägt 32, Pro/-, diejenifie der Wolinbev olkerung 32,0 Pro/, l'iesem
Durchschnitt stein Lausanne mit emer V'ermeiirung der Wohnhau.ser um
33,6 Proz. und einer Bevölkerungszunahme um 31,3 Proz. am nächsten.
Weichet Gegensätze treten in dieser Reihe zu Tage. Bern erstellte
51,5 Proz. Wohnhäuser mehr für nur 19,4 Proz. Wohnbevölkerungs*
zunähme. In Herisau entspricht einer Wohnbevölkerungszunahme von
18,5 Proz. eine Hauservermehrung von 1,5 Proz. Und dennoch ist die
durchschnittliche Behausungsdichtigkeit in Bern noch bedeutend gröfser
als in Herisau.
Uebrigeii'^ ^enMal^ die P.chausungs/ifl'er kaum ein richtiges Hild von
der Ik"' olkeruiiusdii hügkeit in den Wohnhäusern zu geben. Dies wird
erst ein X'ergleich der P>ehausuuL;>/ilVer der Wohnhäuser mit ihrer ab-
soluten Wohnungsgröfse thun. Wir verzichten darum auf die Darstellung
der BehausungszifTer nach Eigentümer-, Miet> imd Freiwohnungshäusem
und beschränken uns auf die Bemerkung, dafs im allgemeinen unsere
gröfseren Schweizerstädte die Behausungszifferverhältnisse der mittel»
deutschen Städte aufweisen. Ebenso verzichten wir darauf, die Zahl der
Bewohner auf die Zahl der Wohnungen oder die Zahl der Zimmer zu-
rückzubeziehen und wenden uns der Ermittelung des kubischen Inhalts
der eigentlichen Wohnräume imd der Berechnung des Anteils am Luft-
raum zu, welcher auf den Kopf i nttallt.
Erschwert wiril die Vergleichung dadurch, dafs Wa^cI alle Einfamilien-
häuser weggelassen hat und der Kubikraura der Kuchen aufser Üetraciit
fiel. Unter dieser Einschränkung beträgt der durchschnittliche Raum*
gehalt aller Wohnungen in:
Digitized by Google
694
Miszcllen.
Bern
Zürich
Bax-1
Laxem
183 cbm
164 »
164 „
127 ,.
In den MietuDlimui^cn ist. der Raiitncehalt bedeulend gerinffer. Der-
selbe betrai^t in iiascl loCt rbin, in licrn 147 » hm und in Luzern 164 (I)ni.
Die Berner £rliebung geht noch weiter. Sie kombiniert den Raumgehait
der Wohnangen mit Einschlufs der Küchen mit. der sozialen Gruppen -
Zugehörigkeit. Die kleinsten Wohnungen haben die Bauarbeiter mid die
. Arbeiter in Verkehrsanstalten. Ihre Wohnungen sind durchschnittlich
81 cbm bezw. 90 cbm grofs. Die gröfsten Wohnungen treffen wir bei
Bierbrauern und Grofsgewerbemeistem, Grofshändlern und Bankiers u. dgL,
Fürsprechern, .'\erzten, Ingenieuren, Notaren. Ihre Wohnungen enthalten
dur<'h'^( imittlic Ii 533 bc/.\v. 40S bczvv. 392 cbm. Der durchschnittlii he
Kubikraum der \S ohnungen <ler mittleren sozialen Schicht ist genau noch
einmal so grofs als derjenige der W oiinun^rn der unteren sozialen Schicht.
Die Wohnungen der oberen sozialen Schicht sind etwa um ein \'iertel
gröfser als diejenigen der mittleren und beinahe ums Dreifache gröfser
als diejenigen der unteren sozialen Schicht.
Auf einen Bewohner entfallen durchschnittlich in:
Lttzem weist denselben Luftraum auf wie Bern bei den Figen-
tünierwohntmgen, während derselbe bei den Mietwohnungen 33 cbm be«
trägt. Diese nicht gerade glanzenden Verhältnisse modifizieren sich
naturlich innerhalb der emzelnen sozialen (inippen und Schichten so
wesentlich, dafs das I>ild unvollständig uaie, wenn dasselbe nicht durch
einen Hinweis Incrauf ergänzt würde. So kommen in Bern in 2203
Wohnungen zu einem Zimmer mit 6326 Bewohnern durchschnittlich 14 cbm
Luftraum und in 2803 Wohnungen zu zwei Zimmern mit 12041 Be-
wohnern durchschnittlich 18 cbm Luftraum. In Luzem trifft es in
1,8 Proz. der Wohnungen auf den Kopf blois i — xo cbm Luftraum,
in 11,4 Proz. 11 —ao cbm. In Basel trifft das erstere Verhältnis sogar
bei 5,5 Proz. der Wohnungen und das letztere bei 30,5 Proz. zu. In
Zürich (titft es in »,^ Prc»z. der Mietwohnungen mit 4220 Bewohnern
4^ — 10 < bm Luftraum und in 27,3 Proz. nüt 36 924 Bewohnern 10 — 20 ("Inn.
Nach (kr Krlielning des Fabrikiiis[it.'kttnats scheinen die \*erhaltnisse in
den l abrikhaiwern ungefäiir ähnlic h zu sein. 2,16 Wohnungen gewahren
pro Kopi einen Gesamt-Kubikraum von 4 — 10 cbm, und 34,0 Proz.
einen solchen von 10 — 20 cbm.
'1 Mitif ilunf,'' !! aus 'J< ti I .i j^tIhüssi ii <1. r \\ < 'hnungs- u. ( iriincistiicksorhcbnng in
<lcr .Sudt Zürich. ii<^rausge|;cbcn v. Statislibchcii Amt der. Sudt Zürich. Juli 1S99. i>. 54.
Lausanne 37,4 «bm Luftiaiim
Bern 36 „ „
Zürich») 33,a „ „
L/'iyiki<_cCi Ly
Lmil Hofmann, Die Lrgcbni^iic der !>chwcucri&chea Wolmungseu^urlcn.
IL Wohnungsmängel.
Neben dem zu geringen Luftraum bestehen noch eine ganze Anzahl
von WohnuDgsmängeln. Hier/u f^ehört vor allem das Fehlen einer Küche
für eine selbstandit;c Haushaltung oder die Kemit/nug einer solchen
durch mehrere Haushaltungen. Mit vollem Recht bemerkt Fabrikinspektor
Dr. Schuler hierül»er folgendes:
..Wir verlangen für jede NVohnuiii^ nicht nur eine Ruche ul)erhau|jt
zur Benuizung, sondern eine eigene Küche. Es giebt wohl wenig Arbeiter-
frauen, die unsere Forderung nicht unterstützen. Die Küche ist ein
RaunOf dessen Geheimnisse man nicht gern einem Fremden anvertraut
Wollen ja unzählige Fabrikarbeiter nicht anmal im gemeinsamen £fs-
Zimmer ihr mitgebrachtes oder zugetragenes Essen verzehren; „niemand
braucht zu wissen, was wir essen, wie wir leben'*. Aber die Ktlche ist
auch ein Reich, das nur eine Herrscherin haben sollte; tausend Kleinig-
keiten lassen den Krieg entbrennen, wenn zwei im Regiment sich teilen
sollen. Das Feuer aber, das von der Küche ausgeht, von den Köchinnen
entzündet wird, ergreift rasch das ganze Haus, beide l\amiben. Kine
Wohnung mit gemeinsamer Ruche ist selten oder nie ein l)ehagli( lirs Heim."
Deshalb haben die meisten Wohtumgserhebungen aui h nat h dieser
Seite hin mit mehr oder weniger Geschick Aufschlufs zu geben versucht
Bebtehende Tabelle soll über diese Verhältnisse Aufschlufs geben. Es
waren Wohnungen
Leider findet sich derjenige enttäuscht, welcher annimmt, es gebe
in den neueren Häusern keine Wohnungen mehr ohne Küchen oder
mit gemeinschaftlichen Küchen. Wenigstens deutet die P)asler F.rhcbung
dies durch folgende Worte an: „Angesichts der l'ebelstäude dieser im-
provisierten Küchen richtet man suchend den Ulick nach den neuen
Häusern, welche der Vermehrung der Rüchen Widerstand entgegen-
setzen. Aber wenn nur dieser Widerstand auch ein Hindernis abgäbe flir
die Vennehrung der Wohnungen." Die Bemer Wohnungsenquete ist dem
Zusanmienhang dieser Verhältnisse mit dem Alter der Häuser noch näher
auf die Spur gerückt und hat gefunden, dals es gerade in den neuesten
Häusern, neben denjenigen, die in den sechziger und siebziger Jahren
erbaut wurden, eine ganze Reihe von Wohnungen ohne oder mit ge-
meinschaftlichen Küchen giebt
ohne KUche
in Aarau
mit gemeinsamer KQche
„ Basel 9,8 Proz.
„ Bern 5,1 „
„ Lnzcjrn a,4 „
„ Zürich 2,26 „
„ den Fabrikhäusem 0,2 „
5 Proz.
1.6 ..
4t9 „
ff
6q6 Mi.s/.tUcn.
Der bauliche Zustand der Küchen läfst ebenfiills oft sehr viel ta
wünschen übrig. Leider ist hier durch die cinzekien Wohnungserhebungen
wiederum so verschieden verfahren worden« dafs die Vergleichung dieser
Verhältnisse nur sehr unvoUkcnnmen möglich ist. Die Basler Erhebung
Kumigt sich, in den S( hlufsberichten der Erhebungsbearaten auf die
wahrhaft beklagenswerte Beschaffenheit der Küchen in alten Häusern im
allgemeinen hinweisen 7\\ lassen. Born bezeichnet als K'irlicnmangel :
FetirhticrVicit. Dnnk<'lheit, rnmo^'lichkeit tler Ventilation und l»,uiiich un-
befrietligendcn Zustaiul. Tiiter diesetn Gesichtswinkel wurdi-n 2g,S Proz.
Wohnunfren konstatiert, deren Kuchen einen oder mehrere Mängel auf-
weisen. Davon waren:
22<j'j Küclit-n odi-r 33,3 Vtoz. mit 1 Mangel
511 „ „ 5,2 „ „ 2 Mängeln
«07 «• „ «,l » t, 3 11
Ziirich, das merkwürdigerweise nach dieser Seite hin nicht besonders
tief eindringt und z. B. die Krmittelung des Raimiinhahs bei Kuchen
unterläfst, notiert unter den baulichen und sanitarischen Mangeln 15S2 in-
direkt beleuchtete Küchen. In Basel leiden 2990 Küchen oder 36,6 Proz.
der untersuchten Räume und in Luxem 679 der Küchen oder 15,4 Pioz.
unter indirekter Beleuchtung. Luzem ist hierbei nicht stehen geblieben.
Dasselbe liefs auch die Mafsverhältnisse der Küchen konstatiewn und
fand dabei 29 Proz. der Küchen mit einem Kubikinhalt unter 20 cbm.
Die grofse Mehrzahl der Küchen, nämlich 25 Proz., enthalt nicht einmal
12 cbm Luftraum. 8,7 Proz. lier Kuchen ül>crliau])t hntton eine Boden-
flache von weniger als 6 ( hiadratmetei. Auf diese Art werden feste Anhalts-
punkte vermittelt, wahrend die Fragen iles Berner Erhelaungsformulars
nach die.scr Seite hin nicht besonders glucklich gestellt sind. Aiicrduigs
wird den Erhebnngsbeamten anbdbhlen, die Feuchtigkeit z. B. durch
Auflegen der Hand zu konstatieren und der Schimmelbildung besondere
Aufmerksamkeit zu widmen.') Allein die Erhebungsbeamten stammten
auch in Bern gröfstenteils aus Volksschichten, die nicht an luxuriöse oder
auch nur behagliche Wohnverhältnisse gewöhnt sind tmd deshalb die \'er-
häitnisse günstiger beurteilten. Es ist deshalb sehr zu bedauern, da£s
die Bearbeitung der Berner Wohnungsenfiuete blofs diese allgemeinen
Merkmale verwertet und die ebenfalls erhobenen Maf:>verhältnisse der
Kuchen unt'erücksichtiut liefs.
Als \\ oinumgsm.Tngel i^t ferner ilas Fehlen eines eigenen .\biriits
zu l)etrachten. Mit Rei ht weist die Berner Wohnuugsentiuete darauf hin,
dafs Wohnungen ohne Abort oder mit gemetnschaftlichem Abort nur
^} Instruktion fllr die Erhebungsbeunten der WohnimgsenquSte in Bern (voin
10. Februar 1896) S. 5.
Digitized by Google
«
Emil Hofmann, Die I-lrgflmisite der schwcizrriHcben Wohnunjjscnqurtrn. ^97
unter ganz bestimmten Aiisnaiiineverhaltuihsen die Bcuohnnu^^ ^^estattet
werden sollte. „Wenn der Hauseigentümer eine Wohnung ohne Küche
inne hat, so ist das schliefslich seine Sache; er schädigt nur sich allein
in seiner Häuslichkeit. Aber wenn er an mehrere Wohnparteien einen
Abort 2ur gemeinschaftlichen Verwendung zuweist, so gefUhrdet er damit
unter Umständen die öfTentliche Sicherheit.'* Ebenso richtig ist die
folgende Aeusseruni; von Fabrikinspektor Schuler über diesen Gegenstand :
„Die Nachteile der Geraeinsamkeit liegen auf- der Hand. eine
Gefahr für Sitte und Anstand, so ist sie es noch mehr fiir die Aufrecht-
erhaltunu von Ordnung und Reinlichkeit. l;iese ist sozusagen verun-
mogli( hl, wenn aiu h nur die Bewohner der einen Woimung derselben
al>geneigt oder au( h mit nicht daran gewöhnt sind."
Trotzdem fiiulen wir gemeinsam benutzte Abtritte
in Basel bei 54,6 Prot, der Haushaltungen
., Htm .. 34 „ „
,. Lausanne ,. 31.6 ..
n Luiern ., 2o,j ,, ., „
„ den Fabrikhäosem 23,9 Prox. der
„ Aaiau l>ei 11,« „ „ „
I, eider ist Bern allein dem V'orbilde Basels gefolgt, das sich nicht
blofs mit der Konstatierung gemeinschaftlicher .\btrittlienut/ung begnügte,
sondern aucli dii' lutensiiai gemeinsamer l!enut/-ung zu « rt« rsi hen strebte.
Hiemach dienten von den gemeinschaitlich benutzten Abtritten
in Bern in Basel
2 Haushaltungen 184 Proz. 23,6 Proz.
4 n 4i3 M 7.2
5 ».7 51
6 „ 0,8 „ 3,9 „
mehr ab 6 „ i,S „ 3,2 „
Bei der Besprechung der mangelhaften Beschafilenheit der Abtritte
selbst gebührt der Art der Ableitung die wichtigste Stelle. Hucher weist
mit Nachdruck darauf hin. dafs in Basel im Februar 1889 noch nicht
der vierte Teil der Abtritte Knnalcn angeschlossen sei, während bei mehr
als drei Vierteln Gruben oder Dohlen ohne S]»ulung im Ciebrauch seien.
In Luzern geschah zur Zeit der Wohnungsentju^te ungefähr in -'5 i'roz.
aller Häuser die Entleerung der Fäkalstoffe durch Grubenentleerung. In
Bern münden die Aborte von 1667 (55,8 Proz.) Wohnhäusern in Kloaken,
von 1242 (41,6 Proz.) in Gruben, von 12 (0,4 Proz.) in Tonnen und
von 29 (1,0 Proz.) in Bäche. In Zürich wurden 11640 Abtritte ohne
Klappen und ohne Syphon und 2499 Abtritte mit Gruben gezählt.
üigiiized by Google
698
Neben diesen baulichen und sanitarischen Mangeln venchwinden
sozusagen die übrigen, welche sich um die Art der Beleuchtung, Venti-
lation, den baulichen Zustand etc. drehen.
Auch die T^ge der Aborte in und aufserhalb des Hauses oder der
Wohnung ist nicht so wichtig, wenn auch nicht zu leugnen ist, dafs diese
sanitarische und moralische (jcfahrcn in sich birj^t. In Hern befanden
sich die Alitirto bei 71,8 Pro/, der Wohnhäuser ausschliefsUch im Hause
unii ln-i l'ro/.. ausM hliclshih aul'ser dem Hause. I)azu gab es 8.6 Proz.
W uhnliauser, deren Aborte teilweise aufser dein Hause gelegen sind.
III. Die E i >i e n t u ra s V e r h ä 1 1 n i s se.
Ein grofser Teil der ini Mietuc-'cn l>c>tehenden l'ebelstat^de hängt
unbestreitbar en^ niit den KiL;ciUiun>> ei hallni'>•^en /usainniLMi. Daher
suchen die neueren \\'ohmii)^'sen(jueten die Verhaltnisse tUiK h die Klassi-
fizierung der Wohnliausci in Eigentiiiner-, Miel- und Ereiwuhuungsliäuscr,
sowie durch .\tsscheidung der Eigentümer nach Berufsklassen oder sozialen
Grup|)en klar zu legen. Allerdings sind die Meinungen über den niannig*
faltigen Einflufs dieser Eigentumsverhältnisse besonders nach der erst*
genannten Seite hin verschieden. Bücher scheint dem Wohnen des
Mieters in dem vom Eigentümer selber bewohnten Hause aus mehr-
fachen Gründen den Vorzaig zu geben, während Landolt als wahr-
scheinlich annimmt, dafs die (Iründe gegen das 7'isammenwohnen mit
dem Eigentumer auf den Mieter starker einwirken. Uebercinstiumiung
herrseht daL;ei:en in der An^ichi. difs die von Eigentümern heselzfen
Woiunmgen in jeiier Hinsicht die .Mietwohnungen im allgemeinen an
Qualität libertreften. Nicht umsonst schliefst man aus der myhr oder
weniger grofsen Zahl von Eigentttmerwohnungen in einer ^dt auf mehr
oder weniger günstige Durchschnittswohnverhältnisse. Schon von diesem
Gesichtspunkte aus ist eine Vergleichung der Relativzahlen der Eigen-
tümerwohnungen in verschiedenen Städten nicht uninteressant.
Eigentümerwohnungen wurden festgestellt in:
Basel 33,1 Proz.
ZOrich 19,8 „
I.U7.«Tn 16,1 „
Bern 14 „
Nicht vom Eigentümer bewohnt waren in:
Laiuanoe 54,3 Proz. der Wohnhäuiier
Bern 54,2 ff, „ „
Liuem 43. S „ „ „
Basel 30,3 „ „ „
I)ie Freiwohnungen bestehen zumeist aus Amts- oder Dienstwohnungen,
ferner aus Woluiungen, welche von Privaten an Bedienstete oder Arbeiter
biyiiizeü by Google
iCniil Hof mann. Die KrgcUni&^c der schweizerischen Wohnungsi-nqut-tcn. 699
abgegeben werden und für welche eb gröfserer oder kleinerer Abzug
an der Entschädigung fUr die von ihnen zu leistende Arbeit vorgenommen
wird. Endlich werden Freiwohnungen Verwandten, gewesenen Dienst-
boten, sowie kränklichen, erwerbsunrähigen Dienstboten gewährt. Doch
können, wie lUiclu-r trert'end sa;^t, diese Rücksichten zwischen den edelsten
Beweusruiulcn der Harmher/igkeit und der raffiniertesten Beiechnuns; alle
Stufen ^a'inischlcr Motive durchlaufen. Die Ausdehnung des Dienst- oder
Ireiwohnungswescns soll folgende l auelle veranschauiit. i>en. h'j> waren
Frei- oder Dienstwohnungen in:
Hern 328 oder 3,1 Proz.
Zürich 618 „ 2,1 ,.
Basel 243 ., 1,8
Hieraus geht h<'rvor, dafs sogar Iktu, die Heanitenstadt. hinsichtlich
der Dienst- und 1- rciwohnungen wesentlich hinter vielen deutschen Stä<lten
zurückstellt. Darum wäre sehr zu wünschen, dafs Privatverwaltungen,
Bund, Kantone und (leineinden sich an dem Vorgehen des Auslandes
nach dieser Richtung iün ein Muster nehmen würden.
Die BehausungszifTer ist in den Eigentümer- und Freiwohnungs-
häusem Berns im allgemeinen und im besonderen wesentlich kleiner als
in den Mietwohnungshäusem. Dieselbe Beobachtung zeigt sich in Luzern»
wo in reinen Miethäusern durchschnittlich 19,5 Haushaltungen in 19^4
Räumen w()j\nten, während in den von Eigentümern und Mietern zu-
gleich bewohnten Hausem durchschnittlich 13,8 Räume auf 12,6 Mieter
entfielen.
Der Kubikiuiialt pru Wulmuag betrug in:
bei Eigentttmerwobmtngeii Mietwohimiigen
H<'m 297 cbm 147 cbm
Zürich 349 „ 145 „
Basel 215 „ JOS „
Aehnlicl^e Erscheinungen finden wir hinsichtlich der Wohnungs-
mängel. Wohnungen mit gemeinsamer Küche sind viel hau6ger bei den
Mietswohntmgen als den Eigentiimerwohnungen. Von den Wohnungen
mit gemeinsamer Küche sind
Mietwohnungen Eieeatümerw. Fretw.
in Basel 621 45 i
.. Bern 154 12 7
I.u/.ern 57 * —
Hinsichtlich der Küchenmängcl ^ t-rschiedenster Art führen wir der
Kürze halber blofs die Resultate der lierner Wohnungsenquete an. Dort
weisen 13,8 Pro/, der Kigcntümei woimungen und 31,7 Proi. der Miet-
wohnungen einen oder mehrere Küchenmäugel auf. Dasselbe ist der
^ i;jKi. „^ i.y Google
yOO Miszellen.
Fall mit Bezug auf die Abortverhälinisse. So entfallen in Bern von den
Wohnungen mit gemeinschaftli« hei Atiortbenutzung auf die Eigentümer«
Wohnungen 5,5 Pro/., auf die Mietuohnunfjcn a1)er 93,4 Proz.
Das so^. U'olinunfT.szubeliör oder die I )ei>cntienzen . wie dies in
Uern «jenannt wird, i>t n itiirtretniifs in den W olinunfien tlet Mieter seltener
als in den Kigentüniei wolmungen. Am kleinsten ist der Unter>t:hied
zwischen den relativen Z;dilen der Eigentümer- und Mietwohnungen hin-
sichtlich der sog. Schwarzzeugkammem, am gröfsten hinsichtlich der
Gärten. Die Reihe dieser Gegenüberstellungen liefse sich leicht ver-
mehren. Doch hat dies keinen Zweck; denn aus dem Angeführten er>
giebt sich ohne weiteres, dafs die Mietwohnungen auch hinsichtlich der
Treppen etc., sowie der .Ausstattung der Wohnungen gege nüber den Eigen-
tümcrwohnungcn sich im Nachteil befinden. Dasselbe Resultat würde
eine Musterung der schwarzen Bücher in den einzelnen Städten ergeben.
Der Kintlufs des /usaTiiinenwohDciis der Mieter im gleichen Hause
mit den Rigentüineni isi durch diese Aust'uhiungeii s( hon ziemlich klar
dargelegt. Immerhin giebt Büclier zu bedenken, dafs sich die städtischen
W'ohnhäuser vielfoch in schwachen Händen befinden, die mit Hypothekar-
schulden beUstet sind oder den Bauunternehmern gehören, die auf einen
Käufer warten. Daneben fmdet sich der benifsmälsige Häuserbesibser
und der Hausbesitzer alten Schlags, der etwa einmal ein Stockwerk oder
mehrere seines Hauses, weil er sie nicht selbst braucht, an ihm wohU
bekannte Familien vermietet und mit ihnen die besten nachbarlichen
Beziehungen unterhält. Rechnet man hierzu noch die Kateg<nie der
kleineren Kapilalisten, die in H.uisern spekuliert, so ist es begreillich,
dafs die oben gestellte l ia^e sii h iii< lit oluie Rucksiclit auf diese srie/.icllen
Eigentumsverhältnisse beantworien lafsl. Immeilün ist als siciicr anzu-
nehmen, dafs das Interesse des Eigentümeis für die Liegenschaft, welche
er selbst bewohnt, ihre Instandhaltung und pflegliche Behandlung ein
lebhafteres ist, als fUr eine solche, die er lediglich als Vermögensanlage
betrachtet und die für ihn um so schätzbarer ist, je mehr Zins sie ein-
bringt und je weniger sie ihn persönlich in Anspruch nimmt. Es scheint
deshalb begreiflich, dafs die Luzemer Wohnungsenquite den Beweis
dafür mehrfach leistet, dafs die .Mieter in lien vom Eigentümer mit-
bewolmtcn Häusern sich l)e>ser befinden als in den Häusern, wo die
Eii,'entumer nicht mitwohnen. Seri)>tverst;tndlich ist unter diesem Besser-
betindeii blofs die mefs- und schat/.baii- Befriedigung des NNOhnungs-
ücdürfuisses zu verstehen. Wie sich die übrigen Beziehungen der Mieter
zu den Eigentümern stellen, hängt neben der soziaten Stufe derselben
auch vom Charakter und der Erziehung, sowie von dem Verhältnis
zwischen Angebot und Nachfrage ab. Während Bücher die persönlichen
Beziehungen zwischen Eigentümer und den mit ihm im Hause wohnenden
Mietern nicht gering anschlägt und ihnen einen <!ie möglichen Härten
des Vertragsverhältnisses unter Umständen mildernden Einäufs zuschreibt.
Kmil liofmann, Die Ergebnisse der schweizerischen Wulitiungsenqueten. ^qI
fuhrt Laiuiolt folgende Reilic von Gründen an, welche die Mieter das
Wohnen in einem vom Eigentümer nicht bewohnten Wohnhause vor-
ziehen lassen können. „Oft genug kommt es vor, dafs der Eigentümer
als Herr seines Wohnhauses zum Nachteile und Aergernis seiner Mieter
gerade das thut, was diesen untersagt ist Korridor, Hof, Estrich, Durch-
gänge und Trepi>en des Wohnhauses werden von ihm gewöhnlich, wenn
sie nicht ausdrücklich als zu einer bestimmten Wohnung gehörig mit
dieser vermietet sind, als seinem uneint,^e''( hräiikten Niefsbrauch unter*
stehend bctrarhtet und ck'mentsprcchend nat:h Giitddnken /u den Ver-
schiedenart igslen /wecken benutzt, während es dem Mieter soL;ar liautig ver-
boten ist, die zu seiner Wohnunij gelujrenden Treppen, lJurchgan:re und
Korridore selbst nur wahrend kurzer Zeit zu benutzen. Wenn mit einer
Wohnung ein Gartenanteil, die Mitbenutzung einer Terrasse oder der-
gleichen mitvennietet ist, können zwischen dem Eigentümer und Mieter
entstehende Differenzen dem letzteren die gemeinschaftliche Benutiung
dieser Teile seiner Wohnung mit dem Eigentümer widerwärtig machen.
Dieser kann in einem solchen Falle als der Herr des Wohnhauses leicht
das Feld l)ehaupten. Wenn mnn dazu noch in Betracht zieht, dafs —
wie die Erfahruni; lehrt — dem Mieter in einem Wohnhnu'ie. in dem
der Kigentümer wohnt, oft nur deshalb die Wohmin^^ gekun<ii<;t wird,
weil der I.ann, den seine Kinder verursachen, die Hausruhr stört, so
ist es als wahrst be inlich anzunehmen, dafs iliese moglu hen Cirunde gegen
das Zusammenwohnen mit dem ^.igentümcr auf den Mieter stärker ein-
wirken, als die. von Bücher aufgeführten Gründe für dieses Zusammen wohnen/'
Die Betrachtung der Mietpreise soll noch neue Gesichtspunkte zur
Beantwortung der genannten Frage ergeben. Da ergiebt sich vor allem
die Thatsache, dafs die Mietwohnungen in den von den Eigentümern
selbst bewohnten Häusern durchschnittlich kleiner sind als in reinen
Mietwohnhäusern, weil die Eigentümer für sich selbst mehr Raum bean-
spruchen. Troti'dem sind wenigstens in den grcifsen Mirtliauseni die
NN'ohnraumpreise niedriuer als in den Wohnhäusern der higcntumer, wäh-
rend in den kleineren Mietliäusern der Durchschnittspreis eines R.tmnes
• erheblich hoher ist, als in den kleineren, von Eigentümern selbst be-
wohnten Häusern. Die Gründe hierfür mögen darin liegen, dafs sich
emerseits das persönliche Verhältnis zwischen Eigentümer und Mieter
hinsichtlich der Miete auf die kleineren Häuser beschränkt und andrer-
seits die Eigentümerwohnungen eine bessere Qualität aufweisen.
Bei den Eigentumsverhältnissen und ihrem Einflufs auf die Miets-
verhältnisse kommt, wie bereits angedeutet wurde, auch die soziale
Gruppenzugehörigkeit des Hausbesitzers wesentlich in Betracht. Wie weit
die Wohnhauser einen (n-f^enstand der blofsen Kapitalatilatje oder der
Spekulaiioii bilden, ist einmal an der Gröfse des Wohnhäuserbesiizes in
einzelnen Händen zu erkennen.
Eine Vergleichung der Zahl der Eigentümer nach der Gröfse ihres
uii^u i-L-j cy Google
702
Mtsaellen.
Wohnbäuserbesitzes in Bern und in Basel zeigt folgendes Bfld. E»
giebt in
Basel Bern
abs.
Pro/., aller
abs.
Proi. aUer
F-iycntüraer
Eigcntüraer
Eigentümer
eino \Volinliau!ic>
3050
Si,i
J575
75.5
II
von 2 Wohnliäuscra
415
»'.3
3«4
15,0
II
>• 3 II
88
>i4
94
4.5
II
1» 4 II
46
1.3
36
».7
II
II 5 >»
12
Oi3
3t
«*o
II
.. 6— lo „
40
38
1.8
II
„ 11—20 „
14
OA
8
0,4
„ von mehr als 30
5
0,1
7
Der W
ohnhaustr besitz
ist somit
in Bern in
\vciiij;er
ILmden kon-
zentriert als in Basel. Diese Erschf'inung ist wahrscheinlich iti dem Um-
Stande be«|;rundet, dafs in Basel bereits seit Jahrzehnten Baugesellschalten
sich mit dem Bau kleber Atbetterwohnhäuser und deren Verkauf an
Arbeiter und andere Zugehörige niederer sosialer Gruppen befassen.
Dazu kommt, dafs die durchschnittliche Zahl der Wohnhäuser eines Eigen-
tümers um so kleiner wird» ein je gröfserer Teil der WohnhauseigentUmer
einer niederen sozialen Gruppe angehört. Deshalb k<)iintc die vor-
wiegende Zahl der Eigentümer <*;iies Wohnhauses in Basel mit der Zu-
gehörigkeit einer grofsen Zahl von Kigcntümem zu einer niederen sozialea
Schicht zu erklaren sein. *
Die N'erteiluii;^ der Wohnhäuser nach dem Beruf der Kicnituuier.
wie sie in Basel vor^entMnmen wurde, bietet ein viel khiieres Hiid, als
diejenige nach der sozialen Gruppcnzugehürigkeit ihrer Eigentümer, welche
in Bern versucht wurde. Die Ausscheidung in 40 soziale Gruppen hat
hier den Nachteil, dafs dieselben oft zu klein werden, während die
schichtenweise Zusammenziehung klarem Einblick wiederum nach der
anderen Seite hin hinderlich sein nmfs. Diesen Nachteil der Bemer
Wohnunjjsenquete mißlichst uneingeschränkt wirken zu lassen, setzt sich
der textliche Kommentar an dieser Stelle merkwürdige Schranken und
verzichtet auf die Verglcichung mit den Resultaten der Basler Erhebung.
Zu dii'setn Zwecke scheiden wir vor allem den Wohniiänserbesitz der
otifenlli» lieii K.(ji i>orationen und die j)ri\ai('n Kollcktivbesit/.er aus. Die
Rolle, welche der Hauserbesitz der ötieiulichen Korporationen spielt, soll
folgende Zusammenstellung charakterisieren;
\^on den \\'(»liuhiiuserii gehörten-
15J Oller 4,3 i'roz. Ge-sclLchaftcD, Zünlten u. dgl.,
40 „ 1,1 „ der EidgenoBsenschaft,
205 II 5iS II dem Staat Bern,
66 „ 1,9 „ der Einwobiwrgcmoinde Bern,
9 » Oi3 II II Bttrgergemeinde tiern.
ui^ui^L-j cy Google
Emil Hulnuinn, l)ir Krgcl>ni.>sc tlcr schweizerischen Wohnungscnqui-lcn
Im Kollektivbesits von 2 und mehr Privaten befinden sich 198
Häuser oder 5,6 Proz.
In Bern wie in Basel wiegt der WohnhäuserbesiU der Personen
ohne Beruf (Rentner etc.) vor. Die absoluten iZahlen mit 705 in Bern
und 818 in Basel auf diese Kigentiimergruppe entfallenden Hauser
nahem sich einander auffallend. Dagegen zeigen sich bei dem Wohn-
hauserbesitz fast aller anderen Berufsgruppen in Bern und Basel auffallende
DiÜerenzen. Die Arbeiter in Basel besitzen mit 370 Wohnhäusern
7,3 Proz. der gesanacn Ilauser, während ui Bern ihr Häuserbesilz blofs
1,5 Proz. ausmacht. In Basel zeigt eine Zusammenstellung, dafs Gast'
und Schankwirtschaft weit schwerer in gemietetem Lokal betrieben werden
kann als der Handel. Die Gast- und Schankwirte in Basel besitzen
5,8 Proz. der Häuser, während ihre Kollegen in Bern samt den Kost-
und Logisgebern ara Häuserbesitz l)lofs mit 3,1 Proz. und die Klein-
händler mit 7,8 Pro/, beteili;,^! sind. Ungefähr gleich oder ähnlich ist
der Häuserbesitz der Beamten, Aer/te, Kiinstler u. dergl. in Hasel und
in Bern, wenn man bei dem 3,8 Pro/, ausmaclienden Häuserbesitz der
Staats- imd ('iemeindel)eamten den Charakter Berns als Mundes- und
Beamteiistadt in }?eru«:kNit hii^ung zieht. Die dem niederen Diensiperscjnal
der \'er\valiung zufallende Zahl von Häusern ist in Ba.sel wie in Bern
auflallend. Die Erklärung Biichers, es handle sich in diesen FäUen oft
um Personen mit einigem Vermögen, welche zur Verbesserung ihres
Einkommens ein Aemtchen angenommen haben, scheint uns auch für
Bern ziemlich zutreffend zu sein.
Zur Illustrierung der mangelhaften Vergleichbarkeit unserer Woh-
nuogsenqu^ten führen wir noch an, dafs zu obiger Vergleichung der
relative Anteil der einzelnen Berufsgruppen am Wohnhäuserbesitz der
Stadl Basel von uns berechnet werden raufste, sowie dafs die ISasler En-
([uete die Häuser auffuhrt, welche auf je hundert erwerbende l'ersonen
jeder Benifsi;riippe konuuen, wahrend der Berncr Bearbeiter statt dieser
Aufstellung prozentual berechnet wie viele Haushaltungsvorstände einer
Gruppe Wohnhausbesitzer seien. Damach waren von je loo Haus-
haltungsvorständen der
oberen sokialcn Sdiicht 40,9 Wohnhattseigentflmer
mittleren „ „ «5,6 „
unteren „ „ 5,3 „
Der Anteil der einzehien sozialen Schichten am Wohnhäuserbesitz
verteilt sich so, dafe auf die obere Schicht 53,7 Proz., die mittlere
38,5 Proz. und die imtere 7,8 Proz. der Wohnhäuser entfallen.
Die Vergleichung defi Wohnorts und des Wohnhäuserbe>itzes der Eigen-
tümer mit ihrer sozialen Gruppenzugehörigkeit durch die Hemer WOh-
nungsenquete zeigt deutlich, was Bücher blofs andeuten konnte. Er
findet die Zahl von 8,5 Proz. der Eigentümer, die zwar m der Stadt
ui^juiiL-j cy Google
704
MiMellen.
aber nicht im eigenen NN'ohnhause wohnen, auffallend hoch und glaubt,
dafs namentlich auch die Entfernung der Arbeitsstelle hier eine wesent-
liche Rolle spielt*. In l'ern, wo im ir^nzen i Pro/ nller W'ohnhaus-
eifrentümer in eineni anderen \\ ohnhause zur Miete wohnten, waren haupt-
sächlich die Aimcstcllten der i^isenbahncIl, Pust u. d<^\. nebst den Ar-
l»eitern in den \ erkehrsanstalten sowie den Knct luen, Maj^den u. dgl.
in diesem Fall. Während diese durch die Arbeitsstelle an gewisse Zonen
der Stadt in der Wahl ihrer Wobnungen gebunden and, wohnen unter
den 78 Personen ohne Beruf eine Reihe kleiner Partikulare nicht in der
eigenen Wohnung» weil die Vermietung derselben ihnen einen höheren
Ertrag abwirft und sie durch keinerlei Berufepflichten ans Verkehrs-
oder Erwerbszentrum der Stadt gebunden sind.
IV. Die Mietpreise.
Die Vergleichung der durch die Wohnungsenquöten ermittelten
Mietpreise der verschieden«! Städte zeigt, dafs dieser wichtigste Teil der
städtischen ^^'ohnungsstatistik immer noch nicht befriedigend entwickelt
ist. Allerdings liaben sämtliche Wohnungsenquöten soweit dieselben
wenigstens diesen Namen verdienen, durch Berechnung des Preises für
den Kubikmeter Wohnraum die Versrhiciienheit der Rauingrufscn, auf
welche der .Mietpreis bezotjen wird. ruM^Mtigt. Aufserdcia haben sie die
VVohnungs/.ubeliOr mehr oder weniger berücksichtigt und durch die
Gliederung nach der Zahl der auf eine Wohnung entfallenden Zimmer
die innere Ausstattung der Wohnungen wenigstens nicht ganz unberück-
sichtigt gelassen. Dagegen ist der Versuch, die Angaben Uber die
Lastenverteilung bezüglich der Instandhaltung und Reinigung der Woh-
ntmg, den Wasserbezug etc. statistisch zu verarbeiten, nicht recht ge-
lungen. Die .An^^aben über Wasserzinse und Illuminationsgebühren, wie
sie in Bern gefordert wurden, sowie die Fragen der Zürcher Erhebung
nach Nel>en Vergütungen für Wasser, Gas, elektrisches Licht, (lartcn etc.
scheinen uns eher zu einer Fchler<|uelle geworden zu sein. Jedenfalls
ist es nicht unbedenklich, die Zuschläge des Vernnetcrs für Wasser^ins
und Illumination ohne weiteres zur Wohnungsmieie zu schlagen, wie
dies durch die fieroer Bearbeitung geschehen ist. Die Beleuchtung kann
ja nur unter gewissen Voraussetzungen durch den Vermieter bezahlt
werden und bildet schon aus diesem Grunde keinen regelmäfsigen Bestand-
teil der Wohnungsmiete. Wo der Mieter die Kosten der Illumination
im Mietpreise bezahlt, verschwindet in seinem Haushaltungsbudget ein
Posten, der in allen übri^^en notwendigerweise zu finden ist. Deshalb
hätten unserer Ansicht na< h die Vergütungen für Illumination eher vom
Miefpreis abgez(^^en werden sollen, um „die Kosten des \\'ohnens" genau
bestimmen zu können. .Achnlich verhält es sich mit den so«:; Wasser-
zinsen. Es ist ein grofser L'nterscined, ob der V'erraieter im Mietzins
Emil Hofmann, Die Ergebniue der scbweizerischen Wohmingsenquiten. jq^
das Recht und die Gcle<jcnheit zur BenttUUng der Wasserversorgung in-
begriffen erhält, oder oh er die Benützung eines Brunnens in der Nähe
seiner Wohnung durch einen Hoitrag sich erkaufen mufs. Glückhcher-
wcise ist die Fchkrquclle nicht allzugrofs, indem die elektrische Be-
leuchtung der Pri\ atwohiiungen nicht sehr häufig und der Anschhifs an
die Wasserversorgung sowie die Bezahlung des Wasserzinses durch den
Vennieter ziemlich die Regel bilden dürfte.
In Anbetracht dieser Umstände ist es doppelt zu bedauern, dals die
neueren Wohmmgsenqußten nicht dem Beispiel« Bttchers gefolgt sind
und zur Abnmdung des Bildes nicht wenigstens die ortsübliche Belastung
des Mieters nach dieser Seite hin im allgemeinen aufgeführt haben. Dals
die Verteilung der Instandhahungs- und Reinigungskosten unter Mieter
und Verniictt r eine merkhc hc \'eranderung der Kosten des W ohnens
herbeiführen kann, mag unter anderem daraus liervorgehen, dafs sich
dieselben in Basel bei einer Wohnung im Preise von 1200 Frs. in ver-
schiedenen Jahren auf 4 — 6 Proz. des Mict/mses l>c<:inerten, ungerechnet
die Strafsenreinigung. Uebrigens werden alle diese Momente dadurch
mehr oder weniger ausgeglichen, da& dieselben Verhältnisse zwischen
Angebot und Nachfrage auf dem Wohnungsmarkte die in den einzelnen
Städten herrschenden Unterschiede auf Kosten des Mieters zu nivellieren
bestrebt sind.
Unter diesen Einschränkungen ergeben die folgenden Zahlen immerhin
ein ziemlich zuverlässiges Bild der Mietpreise in den einzelnen Städten.
Die durchschnittliche Jahresiniete einer Wohnung belauft sich
in Lausanne anf 634 Frs.
„ /.iirich „ 614 „
„ l.nzrm ,. 517
f, i^<'m M 47^* 1»
„ Basol „ 368 „
Der Unterschied der I-a^e und der damit im Zusammenhang stehen-
den Bauart etc. äufsert sich natürlich im Mietjjreis um so deutlicher, je
tiefer die Unterscheidung der Wohnungen nach dieser Seile hin ein-
dringt. Die durchschnittlichen Wohnungsmieten betrugen in Bern in der
unteren Stadt 37 5 Frs. in der oberen Stadt 720 Frs. Der Unterschied
der Wohnungsmieten wird sofort beträchtlich gröfser, wenn die einzelnen
Quartiere ins Auge gefa&t werden. Im Quaitier Felsenau beträgt die-
selbe 203 Frs. und im Villenviertel (Rabbenthal) 1005 Frs. Dieselbe
Erscheinung finden wir in Zürich. Den höchsten Durchschnittpreis zeigen
der I. und II. Stadtkreis mit 80S Frs., den niedrigsten der III. Kreis
mit 485 Frs. per Wohnung. Unter den (Juariicren weist die Altstadt
rechts der Linimat aufscrer Teil mit 1167 Frs. den höchsten und das
(Quartier WoUishulcn mit 384 Frs. den niedrigsten Durchschnittspreis auf,
wenn wir von dem sozusagen rein ländlichen Quartier Leimbach absehen.
Archiv Cm not. GeaeUKebung u. Statiatilt. XV. 4^
yod Mi«£ellen.
In Luzern beträgt die Differenz der Durchschnittsoiiete zwischen Grofs-
stadt und Kleinstadt l^ofs 5!^ Frs., wülircnd der Unterschied zwischen
(iem Maximum und dem Minimum der liezirke 514 Krs. f)cträgt. Zur
TKihcrri! Motivieruntr dieser Diftcrcnzcn wäre eine knappe Darstellung^
der iJeliauuugs- und Hauvcrhältnisse, j^a-wissermalsen ein rebersichtsplan
n()tig, ueiui die \\ cjlinuni^'srni |ueten nicht all/u hohe Ansjjruche an die
persuniichen Kenntnisse ihrer Le»er machen, oder auf die Vergleichbar-
keit bis zu einem gewissen Punkte verzichten wollen. Allerdings fehlt
es nicht an Bemerkungen in genannter Richtung, welche demjenigen,
der die Städte aus eigener Anschauung kennt, Anhaltspunkte zur Ver-
gleichung geben und ist gerade auch damit unsere Forderung zusammen-
hängender Schilderung dieser Wrhaltnisse begründet.
Die Ihizuverlässigkeit des durchschnittlichen Mietpreises einer Woh-
nung als Mafsstab zur Beurteilung der Kosten des Haushaltes verschie-
dener Städte ergiebt si« }i tiutrr inderem aucli daraus, dafs die Reihen-
folge unserer Städte hiiisu niii« h dfr durrhx Imitthrhen \N'ohnunL:stniete
und hinsichtlich des durchschnitlliclien Preises eines Zimmers eine aanz
andere ist, Iis kostet ein Zimnier durchschnittlich in:
Bern 172 Frs.
Zürich i(yo ,,
Basel 138 „
Luzern IS9 „ ,
Lausanne 120,5 «•
Der beste Mafsstab iwx Bestimmung des relativen Mietiireises ist der
Kubikraum, den die Wohnungen bieten. Der Mietpreis pro Kubikmeter
Luftraum mit Einschlufs der Küchen stellt sich in :
Zürich auf 4,23 Fr-.
Basel 3.54 „
Bern „ 3,35 „
Lausanne H 3,24 „
Luxem „ 3,15 ,,
Der Nachweis daiur, dals der Aermere relativ erheltiu h (eurer wohnt
als der Reiche, wird auf verschiedene Art geleistet. Vor allem geschieht
dies dadurch, dafs fttr ganze Gröfsenklassen von Wohnungen der durch-
schnittliche Raumpreis ermittelt wird. In Basel zeigen die Ziffern des
relativen Mietpreises von den kleinsten (4,66 Frs.) bis zu den gröfsten
Wohnungen (2,93 Frs.^ eine fortgesetzte Abnahme. In Zürich trifft dies
blofs bis zu den fiinfzimmerigen Wohnungen zu. Die gröfseren Woh-
nungen /eigen wieder eine Steitrerung des relativen .\Iieti)reiscs. Der-
sell»e bctr.i;;t bei den cin/inimei luen W oiinuiii;en 5,81 Frs. bei den
5 zinuueri^en 4,06 I rs. und bei «Jen til)er 5 Zinuuei enthaltenen Wohnun^^en
4,43 Frs Dasselbe leint die Beobacljtung des Zusammenhangs zwischen
biyitizeü by Google
Emil Hofmann, Die Krgcbnisse der schweizerischen Wohaungsonquften.
Wohnun Undichtigkeit und relativem Mietpreis, wie folgende ^^usammen-
Stellung zeigt.
Es beträft der DurchsclinitLsmictprcis pro cbm
in den Wohnungen, die an
amn per Kopf gewährten
in Basel
in 7lin<-1i
in AUilCU
bis A
cbm
Frs.
f ^ T Timm
7,37 rr».
»» y
,,
M
7,55
c.I — 6
„
Ii?
o,»5
6.1 — 7
„
3»**'
»»
e
7.1—8
n
,»
5»5* '1
II ■ '
n
4. 22
1»
c in
5,19 it
t»
4.49
II
ji Sc
II
M
4.>7
»,
4.57
n »5,» -»9,9
3.7S
.1
4,31 M
,t «0-25
»t
— ^
»1
4,20 u
H »5.»— 30
»t
3,45
1,
4,12 „
„ 30,1-40
>•
3,57
1,
4,08 „
„ 40,»-S0
3,»8
M
4,08 ,.
„ 50,1—60
3,34
„
4,19 11
» 60,« -70
ir
3,33
,♦
4,2 t „
.. 70,1—80
,t
3»«9
,»
4.10 „
„ So, i 90
?»
3.12
„
4,37 ,1
., <>o,i — 100
II
3.33
II
4.2')
iib'T l(x>
J.20
4.40
Aehnliche Erst lifinuiipcn hrHlen sic h hitjsic hthch der Sto< kwerks-
laj^e. Ciiebt die-e .lurb k'-men absoluten Mafsstal) tur che (iute der
Woiinung, so lalst sie doch i;ewisse Unterschiede ^riit hervortreten. Auch
da zeigt sich, dafs der Preis um so höher ist, je ächlcchter die Woh-
nungen liegen.
Die Berner Wohnungsenqu^te hat sich nicht mit diesem indirekten
Nachweis begnügt. Die Einteilung der Mieter und Vermieter in soziale
Grupjjen und Schichten hat die Thatsache !»e\veisen las>en , ciafs der
relative Mielpreis um so ^röfser ist, einer je niederen sozialen (Gruppe
bc/w. Schicht der Hansliaitunfrsvorstand angehört. her 1 )urchschnitts-
|)reis fiir den Kul>ikmeter Luftraum e.\kl. Küche stellt sich nämlich in
den Wohnungen der
olx Ti-n >( iiirht iiiit ]r .V.S4 Its.
miulcrcn „ j/jo „
imteren ., „ 4,14
Der relative Mietpreis der unteren Schicht wurde noch wesentlich
erhöht, wenn man die 288 Haushaltungen in den Mietwohnungen der
Stadt Bern mit ihrem niedrigen Mietpreis ausschalten würde. Aehnliche
Verhältnisse zeigten sich in Basel. Dort wurden die Mietwohnungen
46*
708
Miszellen.
nach dem llerufe der Mieter und der Höhe des Mielzinses untersrliieden.
Zur Wr^leichung stellen wir die Ergebnisse von Bern und Basel nach
dieser Seite hin einander gegenüber.
In Basel betrug
die DoTcbsdiiiittsiniete der dnrcbsclmittliclie Mietsans
in den Benifskla:s8cn : einer Wohnung
per Kopf
per cbn
Frs.
Fis.
Frs.
I.
Kahrika!it»>n
4
* WSW
2CX
2
6oi
1 IQ
3
Gai>ti>utä- u \VirUchaft>besiUcr
573
99.49
3.21
4.
Selbst. Handeltreibende . . .
573
3.59
5.
Handlungsgehilfen . . .' .
538
138,41
5>73
6.
<
Rcnfn« r, l'frutMose ....
457
3.4S
7.
Selbitt. Urprodu/.-iUf-n
410
74.58
2.69
8.
., Kleingewerbetreibende
86,48
3.01
9.
34<J
»05,73
3.91
10. Niederes VerwaUwigspersoiial
320
71.39
3.40
II.
Arbeiter im Kleingewerbe.
*95
68,64
3»77
I 2.
in der Urproduktion .
369
64.76
3.71
Fabrikarbeiter
268
69,86
3,47
14-
Taglöhncr, Dienstboten etc. .
243
67.82
3-74
Ueberhaupt
368
92.13
3.54
In Bern belauft sich der durchschnittliche Mietpreis für den
Kubikmeter eig^entlichen Zimmerrautns in den Wohnungen der Gruppe:
Selbständige Landwirte auf 3 Fn. 54 Cts.
Professoren. Lclirrr. Pfarrer, Richter u. dgl. . . . „ 3 .. 60 „
Gastwirte, Kost- u. Logisfjcber 3 68 „
Wt itiliclif l% r>()non ohne Reriif 3 75
Für»prci;her, Acr/tc, Ingenicure, Notare . . . , „ 3 ., 82 „
Baumelst«', Aidiitdcten »t 3 ,1 85 „
AObmlicbe Personen ohne Beruf » 3 » 87 „
Staats* u, Gemeindebeamten » 3 » 89 „
GrofshSndler, Bankiers u. dgl n 3 n 94
Beamte der Eisenbahnen, Post n. dgl i« 3 «• 94 »
Andere Gr .\ . rbcmeister n 3 t» 96 „
.Spediturru, 1 uiirlialtcr u. dgl 11 3 96 „
Gypscr. Maler u. dgl., Kleingewerbemeister • • • „ 3 „ 99 ,y
Kaulmänn. u. techn. Hilfspersonal, Schreiber u. dgl. „ 4 ,, —
Andere Kleingewerbenieister „ 4 ,, 01 ,,
Staats* o. Gem^ndebeamten „ 4 ,, 02
Im Handelsregister eingetragene Kleinhlndler . . „ 4 „ 03 „
Nicht im Handelsregister eingetragene Kleinhindl«r „ 4 07 „
Künstler, Journalisten u. dgl „ 4 „ 04 „
Andere Arbeiter im Klein* u. GroC^ewerbe . . . „ 4 „ 10 „
uiyiti^ed by Google
Dienstndbiner, AuslXafer, Maguiiier o. dgl.
Agenten u. dgl
Arbeiter in Verkehrsanstalten
Schneider u. dgl. Kleingewerbemeister . .
Bauarbfitor
Knechte, Mägde u. dgl
Angestellte der Eisenbahnen, Post u. dgl. .
. auf 4 Frs. 17 Cts.
• „ 4 II 18 „
II 4 I« '8 „
4
4
4
37
II
Ueberdies wird bewiesen, dafs die \Volinun<;smieter an die Woh-
nunfisverniieter für um so srhlerhtere Wohnun^jen einen relativ um so
höheren Mietzins be/aiilcn, einer je niederen sozialen (Iruppe der Woli-
nun^srnieter einerseits und der W'ohnungsvcrniietcr .uKhef^eits an-
gehören. Dieser Nachweis wird auch mit lie/ug aut die Abtrittverhalt-
mase und die Dependenzeo geleistet. Der relative Mietpreis einer Woh-
nung ist um so gröfser, je mehr Haushaltungen ihren Abort gemein-
schaftlich mit ihr benützen. Relativ am teuersten sind die Mietwohnungen^
die nur eine Schwarzzeugkammer haben. Die Wohnungen mit Schwarz-
zeugkammer, Keller und W'asciiküclie, diejenigen mit Schwarzzeugkammer
oder Keller und Waschküche und diejenigen mit .Schwarz^'eugkaramer
und Keller sind relativ billiger als sie. Die letztgenannten Wohnungen
sind überhaupt am wenigsten teuer; sogar jene die gar keine Dcpen-
denz enthalten, sind noch teiuer als sie."
Die .\rt der Ikvalilung des Miei/inses ist sownhl zur Erkenntnis
des Mietverhältnisses im allgemeinen als auch der sozialen Stute der
Mieter wie Vermieter wichtig. Wohl wei^ jedermann zum. vorneherein,
dafs kurze Mietfristen bei Mietern und Vermietern der niederen sozialen
Schichten am häufigsten sind. Auch die ortsüblichen Miettermine »nd
im allgemeinen ohne weiteres bekannt Aber über den Grad der Ver-
breitung derselben» die Häufigkeit in den verschiedenen Quartieren, ihren
engeren ZusammenlianL,' tnit der QualiLat und dein Preise der Wohnungen etc.
kann erst einlafsliche Untersuchung Auskunft geben. Wie weit dies eine
solche zu thun verniatr, zeigt die Herner Wobnungsenquäte. Dort gicbt
es W ohnungen, für weit he die Miete
jährlich ZU entrichten ist 14S1 oder 18,7 Froz. aller Alietswohnungen
halbjahrlirli „ „ „ 785 (j,9 „ „ „
viertfljUhrlich „ „ „ 19^)4 „ 25,1 „ „ „
monatlich „ „ „ 3659 „ 46,3 „ „ „
•
In der tmteren Stadt ist der Mietzins von 54,6 Proz. aller Wohnungen
monatlich zu entrichten, in der oberen Stadt ist dies nur fiir 23,1 Proz.
der Wohnungen der Fall. In der unteren .Stadt haben 26,4 Proz. der
WohnunL'cn vierteljährlichen Zinsternnn, in der oberen 12.6 Proz. Die
zonenweise \'crteilung der Miettermine lafst darauf s( hlicfsen, dafs es
vor2üglich die niederen sozialen Gruppen sind, welche ihren Mietzuis m
y lO Mis^i-llcn.
kurzen Terminen /u entrichten haben. Noch deutlicher zeigt dies der
schichtenweise Zusamnienzui; der Mieter. Darnach entrichten iliren
Mietzins :
dor Hau-^li.iltiin;.;-!-
vi)i>t:indf
()b>:rf Soliicht
MitfK-r.- Scliicht
n.iii>-
Viert <.-l-
monat-
Tot.il-
liilirlkli
j.Hlirliili
iührlirh
Uch
Wohnungen
22h
Li»
I0S5
i Pro/..
20.8
IM
14.6
100,0
497
299
444
1826
{ Vrui.
loo.o
l ahs.
596
260
10S4
30.>7
4'W7
( Pro/.
I 1,0
21.7
bl,2
100,0
Den Zusaintnenlian;^ der sozialen Gruppeiizufiehörigkeit des Haus-
eigentümers mit der zeitHchen Grofse des Miettermins zeigt folgende
Zusaiumenstellun«!. Fs wurden vermietet :
von ik-r sozialen
Eigcntiimrrsiliiclit
Obere .Schicht
Mittlere SchiHit
Untere Schicht
halb-
virrtel-
TTionat-
j.ilirlich
jährlicli
jalirlich
lich
Uberhaupt
[ all».
793
407
I4Q2
357&
\ Vhu.
22,2
1 1,4
iL!
100,0
( abs.
Li 30
2>00
' Pro/.
im
9d
26,5
47.4
100,0
^ abs.
52
12
1 Pro/.
2.'>
22,5
65.7
100.0
Die /usamnunstelluiig des Mietjtreises mit dem Miettermin zeigt,
dafs die Wohnungen die billigsten sind, deren Miet/ins halbjährlich ent-
richtet wird, während die Wohnungen, deren Miete monatlich bezahlt
werden mufs. relativ am teuersten sind. Finden sich ja unter den
40 teuersten Wohnungen nicht weniger als ^ mit monatlicher Entrich-
tung des Mietzinses.
Zur Abrundunp: des Bildes fiihren wir noch an, dafs in Bern der
durclischnittli( he Mietpreis jiro Kubikmeter Luftraum derjenigen Woh-
nungen, die in Hausern liegen, die
bis /.u 4j9 Pro2. Rendit.* abwerfen. 3,90 Frs. beträgt
5— 9>9 ._. u u 4-33 n
10.0 14.9 ^ tt 1; 4'5.> u M
15,0—19,9 n 11 4-^7 Ii Ii
20.Q u. darüber ,, „ 4,83 „ „
Ebenso hat sich in Hern gezeigt, dafs die ( Irundstitcke eine tun so
klemere Rendite liefern, einer je höheren sozialen Schicht, resj>. (Iruj)pe
ihr Figentumcr zugehört, sowie dafs die reine Rendite um so grol'ser
ist, Je vernachlässigter und schlechter ein Wohnhaus ist.
Emil ilofroann, Die Ergebnisse der schweizerischen Wohnungsenqueten, yn
V. Die bauliche und populationistische Entwicklung.
Die Entwicklung der BdiausungszifTer zeigt nach den Erhebungen
des Sekretariats des schweizerischen Gewerbevereins in dem Zeitraum
von x888 bis 1889 folgendes Bild.
Abgenommen hat dieselbe in:
Bein
mn
3,0 Personen
per
Wohnhans
Lausanne
>i
1,8
II
1»
II
Le Locle
ti
i>3
»»
II
1«
Srhaffhaiwen
•1
«,«
»t
n
ti
Ba^el
n
»,o
II
II
»I
Genf
<•
0.5
»♦
•I
•I
Biel
It
0,4
n
»»
II
Neuchdtcl
»1
0,3
II
»1
La Chatts-de-Fond
It
0,3
II
II
II
Winterthur
II
0,1
♦
Zugenommen hat dieselbe in :
Fribourg um 1.7 Personen per Wohnbaus
St. Gallen „ 1,6 „ „ „
Herisan „ 1,5 „ „ „
Züricli ., 0,6 ,,
Auf den ersten Blick scheint die Abnahme der Behausungsziffer ein
sehr erfreuliches Symptom. Allein die Heurteüimfj des Ganors der r?e-
hausungszitier hangt in erster Linie von der Art der baulichen Entwicklung
ab. Hat die Zunahme ihren (irund darin, dafs bei Neubauten die Miets-
kaberne vorherrscht, so mufs damit keine gröfsere Beengtheit des \\ ohnens
in den älteren Häusern verbunden sein. Schlägt aber die bauliclie £nt*
Wicklung einen anderen Gang em und besteht die Mehrzahl der neu
bezogenen Häuser aus kleinen Arbeiterhäusem oder Einfamilienhäusern
der «"ohlhabenden Klassen, ohne dafs m den älteren Stadtteilen eine
stärkere Ausnutzung der überbauten Fläche durch Vennehrung der Zahl
der Stockwerke in gröfserem Umfange stattfindet, so nnifs eine stärkere
Zus^mmendranLT'ing der Bevölkerung in den älteren Häusern eintreten.
Für HasL-1 trifft das letztere zu. Von den 147 1 in den Jahren von
1870 — 1SS8 neu l)e/(>fieiien H:iusern waren 16,7 Pro/., kleine Aibeiter-
häuser. Dazu machten iSöo die ein- und zwci^itürkif^en Häuser zu-
sammen ül)er drei Viertel des ganzen Bestandes aus und hatten die in
den zwanzig Jahren von 1860— >x 880 hinzugekommenen Häuser im
Durchschnitt fast jedes 3 bewohnte Räume weniger als die dem früheren
Bestände angehörigen, woraus zu entnehmen sein dürfte, dafs sie auch
wenige Bewohner aufzunehmen im stände waren und thatsächlich auf*
nahmen. In Luzem finden wir ähnliche Verhältnisse. Dort betrug der
uiijui.iL.j cy Google
712
Miszellen.
}icv()lk<,TUiiL:^/\i\\ ;i( hs seit i8SS c irc a 3 mal so viel wie die vorlier-
gclienden 8 Jahre, die Zahl dei Neubauten aber uur 2 mal so viel. Trotz
vermehrter Bnus])ekulation hat die Bauthäti|^eit mit der Bevölkerungs-
zunahme nicht gleichen Schritt gehalten. Weil dort grofse Mietskasernen
nicht „gekannt werden", so mufsten die älteren Häuser für diese Be-
völkerungsvermehrung aufkommen, was hauptsächlich durch Aushau der-
selben nach oben, Verwertung der Dachräume oder durch Anbau mehr
oder weniger zweckmäfsig durchgefulut worden sein soll. Die bauliche
Entwickluii? Zürichs scheint ähnliche Wege gefjangen zu sein.
Dort unterscheidet die Uohnnnt^seTuinete drei Hniiperioden, deren
/eithche Ab^n ii/uni; in der Haugcsct/Licbung begründet ist. Zur ersten
l{au|)criodc sinil die Wohnungen deijenigen Häuser f:erechnet, welche
vor dem Bestehen eines eigentlichen städtischen Baugesetzes, also vor
dem Jahre 1863 erbaut worden sind; die zweite Bauperiode nmfkfst den
Zeitraum vom Jahre 1863 bis April 1893; zur dritten Bauperiode ge<
hören die unter dem neuen städtischen Baugesetz bis zum Zeitpunkte der
Wohnungserhebung errichteten Wohnungen.
Die folgende Zusammenstellung der Wohnungen nach Gröfsenklassen
und Bauperioden spricht so deutlich, da(s darüber weiter keine Worte
zu verlieren sind.
w
ohnraum
(cbml
Hüdcntlächp
' chm)
Zahl <lrr
pro
pro
pro
jiro pro
{iro
Wohuuii^cn
Zimmer
bcwohücr
Wohuung Zimmer
BfWühni
L Bauperiode 73S7
119
33,*
27,1
49.4 '3.8
11,2
M. „ 94*3
t6o
39*4
33.»
59.» 14.7
ni. „ 534a
»55
40,7
30,1
57.6 15,1
n.s
In Hein sclieinen sich diese Verhältnisse antlers entwickelt zu haben.
\'oii dort erfahren wir zunächst, daTs 5-5.^ Vro/. der Wohnhäuser aus
üci Zeil nach und 46,7 i'roz. aus der Zeit vor i.SSj stammen, sowie
die jährliche Zunahme der Häuser während längerer Perioden. Dieselbe
zeigt in Gegenüberstellung mit der Bevölkerungszunahme folgendes Bild :
Es betrug die durchsclmuthchc jälirhchc Zuuahme
der Häuser der Bevölkerung
V. 1870—1880 3,i Proz. 20 Pros.
„ 1880 -1888 0,5 0,79 „
„ 1888—1896 3.3 „
Dagegen koninicn in den vor 1853 erbauten Häusern blols 2,8
Zimmer auf die einzelne VNohnung, während in den nachher erbauten
3,7 Zimmer auf die einzelne Wohnung entfallen.
Ueberdies erfahren wir durch die Wohnungsenqu^en, namentlich
durch diejenige Berns, noch mancherlei andere Beziehungen zwischen
den Wohnungen und dem Alter der Häuser. Wir sehen, wie es auch
uiyiLi^ed by Google
Kmil Hufniann, i'ic Krgelinis.sv der ücltwvizcrisclicn Wo|inunc-<(i'n(iueten. ji^
in den neueren und netiesteti H niscrn Wol.nunuen ohne oder mit i:e-
nieinschaltliciier Küche giebl. Die DiftertMu zwisciicn der Zahl der
Wohnungen und derjenigen der Köchen ist am kleinsten in den ältesten
und nidit in den neueren Quartieren. Der Grund hierfür wird von
Bücher in der Thatsache gesehen, dafs die alten Häuser mit ihren breiten
Gängen, ihren Winkeln etc. öfters die Möglichkeit bieten, etwas» das
einer Küche ähnlich sieht, im Falte des Bedarfs anzubringen als die
neuen mit möglichster Räume rsparui^ eingericliteten Bauten. In Bern
zeigt sich ungefähr dieselbe Erscheinung. Dort waren in:
\V<>1inun;;«-n mit Wohnungen •
gemein soll iiftl. RUche ohne KUche
den vor 1S53 erbauten Häu&em 2,2 Prox. 7,0 l'ro«.
in den v. 95 „ „ 1,1 „ 2,5 „
Femer zeigt sich die bemühende Erscheinung» dafs es nicht nur
die älteren Häuser sind, welche Wohnungen mit gemeinscliafth* hen
Aborten enthalten. Die Bemer Wohnungsenquite weist hierauf mit
folgender Tabelle hin:
Von den \Vohiuin.,'en, die sich in Hausern belinden, weh he
vor 1853 erbaut wurdeo, haben 2706 oder 49,1 Vrca, gemeimcbaftlicbe Aborte
von 1S53 5(1 „
•1 ibjü— 79 ,
„ 1880—89 ,1
„ 1890—95 ..
„ 1853-95
In Zürich und Luzcrn zeigt die quartier- be/w. !>e/ii ks\s ei-e Zu-
s;imuienstellung der W ohnungsmängel , dafs geuieuisc iiatilu h benui/Je
Aborte auch in neueren Häusern noch vorkommen. Dagegen zeigt sich
in den netteren Häusern Berns eine Verbesserung hinsichtlich des An-
schlusses an die Wasserleitung, die Ableitung des Küchenwassers, die
Treppenverhältnisse und die Beleuchtung. Allerdings bt die durch-
schnittliche Zahl der Feuster pro Zimmer von 1,7 in den vor iSS^ er-
bauten Häusern auf i,5 in *den seither erbauten herab<;esunkcn. Dafür
sind aber nach den Relativzahlen betrachtet beinahe keine Zimmer mehr
ohne Fenster eingerichtet worden und weisen die neueren Häuser viel
mehr Zimmer mit direktein Sonnenlicht auf. Dasselbe /.eiiit si( h auch
in Basel und Zürich. Dort ist die Zahl der zwei- und mehrlenstrigen
Zimmer in dem neueren Teile des Sleiuenquariier.s erheblich geringer
als im Stadtquartier, wo ein grofser Teil der Zimmer in den alten
Häusern indirekte Beleuchtung hat. Hier kommen von den 1732 in-
direkt beleuchteten Zimmern nicht weniger als 1093 auf den L Stadt«
kreis, während die 4 übrigen Stadtkreise sich in den Rest teilen.
35 ••
25-5
IT
tl
II
>l
220 .,
20,5
• 1
l<
ft
27,8
II
It
1»
n
8,6
»1
>l
!♦
n
8,7
>f
»t
»»
f»
18,9
Jf
«•
üigiiized by Google
Jl^ Miszrlltn.
Die bauliche Qualifikation der HSüaer im allgemeinen in ihrem Ver-
hältnis tum Baujahr ist wohl überall ungeßthr dieselbe wie in Bern, wo
sich zeigte, dals die Wohnhäuser im allgemeinen um so häufiger die
Qualifikation gut, um so weniger die Qualifikation befriedigend und um
vieles weniger die Qualifikation schlecht trafen, je neueren Datums sie sind.
Die Tendenz der baulichen Entwickluujj ist durch das Vomnpegangene
schon ziemlich fjenügend veranschaulicht und erubriut blof?, noch, die
Verhältnisse von Aui^cbot und Nachfra^T- auf dem W ohnun;^suiat kt der
verschiedenen Städte zu skizzieren, soweit dies an Hainl der Statistik der
Icerslehendeu Wohuungen möglich ist. Es gab leerstehende Wohnungen in
Zürich 4.8 Proz.
Lu/A-rn 1,5
Bern 1.3 „
Ik>rn weist somit die geringste Zahl an leerstehenden Wohnungen
auf. Zudem waren die unbesetzten Wohnungen, die es im Jahre 1896
iral), zu eine!n irrofsen Teil so^ Sonmierwohnungen und neu eingerichtete
\\ohnun:;cn in Neubauten. Leider erfahren wir über die Raumverhält-
nisse der leerstehenden WObnungcn wenig und müssen uns mit der .An-
gabe liegnügen, dals in der aitcn Stadl von den 4S42 W ohnungen zur
Zeil der WohnungseaquSte nur a8 leer standen und die ganze obere
Stadt nur 5 leere Wohnungen aufwies. Im Stalden-Mattequartier, das
vorzüglich von Arbeitern bewohnt ist, fanden sich ebenfalls bk)fs 5 un-
bewohnte Wohnungen.
In Zürich ist den Verh^missen der leerstehenden Wohnungen gründ-
lich nachgegangen worden, was in Anbetracht der Zahl derselben, sowie
der Wichtigkeit dieser Tb itsache tür die städtische Baupolitik eigentlich
selbstverständlich ist. Ks waren dort im ganzen 1401 leerstehende
Wohnungen mit ??i3 Zimmern und 1361 Küchen. .\m meisten leer-
stehende Wohnungen finden wir Itei den dreizimmerigen (412 , den
vierzimtnerigen (.357) und den fünfzimmerigen (207), am wenigsten bei
den vierzimmerigcn mit gemcinschafUicher Küche. Den höchsten l'rozent-
satz leerer Wohnungen weisen die fünfzimmerigen ohne Küche auf
(44,^ Proz.), den niedrigsten die einzimmerigen mit Küchenanteil (i»5 Proz.).
Bei den zwei*» drei* und vierziramerigen Wohnungen machen die leeren
crfme Küche 6,7. bezw. 14,9 bezw. 14,3 Proz. aus. Die Verteilung der
leeren Wohnungen auf die Stadtkreise zeigt folgende Zusammenstellung:
leere Wobnungcn l. Zimmer cbm Inhalt Proi. der Wöhningen
SUdtkreb I
13»
590
28360
2,3
„ II
136
641
«9433
m
819
»843
108 14a
7.8
119
510
19677
3.6
„ V
»95
929
38375
a,9
Digitized by Google
Kluil llofiiiunii, Die llrj;i lini.»c der .^cliwci/cri-iclitn Wulinung-sfiiijUclcii. 71 C
Im dritten Stadtkreis (Wiedikon und Aussersihl) wurden somit am
meisten leere Wohnungen gezählt und liefern bientu die dreizimmerigen
mit 37,6 Proz., die vierzimmerigen mit 38,4 Proz. und die fUnfzimmerigen
mit I4t4 Proz. den Löwenanteil.
VI. Die Folgen der Wohnungsenqulten.
Die Verwertung der durch die Enqudten erhobenen Einzelthatsachen
ist sozusagen überalt eine zweifache gewesen, eine administrative und
eine statistische. Dementsprechend sind auch die praktischen Erfolge
der Wohnungsenriui^ten in zweierlei Richtungen zu suchen.
Die administrative Benutzung des Materials stützte sich entweder
auf ein furnilirhes ..srhwnr/.cs Buch", in welciieni für jedes ein/chic Haus
alle durch die W ohnungscnquete ans Licht i;c/.o£^cnen Mantrtd hau-
poUzeiUcher und sanitarischer Art nach besiiniuiien Rubriken aufge-
nommen wurden oder wie z. B. in Luzern auf in regehnäfsigen Inter-
vallen an den Stadtpräsidenten geleiteten Zusammenstellungen der groben
Mängel in baulicher und sanitarischer Hinsicht. Selbstverständlich war
diese administrative Benutzung des Nfaterials sehr verschieden je nach
dem Stand der in Frage kommenden Gesetzgebung, sowie der Einsicht
und der Energie der Behörden. In Lausanne scheint die Coniniission
de saluhrite dem aus 18 Heften l)estehenden schwarzen Biich keinen
besonders grofsen (llauhen gesrlienkt zu })al)cn. Wenigstens drückte sie
sich um die Ptlirht des Einschreitens t:ei:enüber den in der Zahl von
890 konstatierton Wohinmgsraängeln mit der Ausrede herum, dafs die
Beobachtungen allzu unbestimmt lauten. In Aarau fand die Sanitäts-
kommission das Einschreiten vom sanilätspolizeilichen Standpunkt aus in
doppelter Hinsicht für nicht angezeigt. Einerseits betrachtet sie das Er«
gebnis der Enquöte als günstig und andrerseits bekennt sie, dafs die
gesetzlichen Grundlagen zu administrativer Benutzung des Nfatcrials fehlen.
Dieser letztere Umstanrl nKichte sich auch in St. Gallen unliebsam fUhlbar,
wo bauliclie und andere hygienische Uel)elstände, die einer sofortigen
Abhilfe auf bau- oder gesundheitspolizeilichem Wege bedürfen, in der
hohen Zahl von 6;^2 durcli die NN'ohnungscnquete konstatiert wurden.
Dort sah sich die ( iesumiheuskcmnuission veranlafst, in allen Fallen, bei
denen die ge.setzliche Grundlage zu amtlichem Einschreiten fehlte, au
die Eimicht und Opferwilligkeit der Hause ige ntfimer zu appellieren.
An anderen Orten wurde strenge auf die Abstellung der konstatierten
Müsstände gedrungen und die Befolgung der behördlichen Anordnungen
durch sog. Nacbiuspektionen eruiert, auch wenn die gesetzlichen Hand-
haben hiertiir nur zum Teil vorhanden waren. In Bern hat die Polizei-
direktion auf Grund der gemachten Erhebungen bei einer grofsen Zahl
von sanitarisch ungünstigen Wohnungen eine KontroUuntersuchung durch
den Polizeiarzt oder dessen Stellvertreter vornehiuen und die polizei-
7i6
Mis2«Uon.
ärztlichen Anträge zur Beseitigung der sanitär i sehen Uebelstände den
Hausel^jentüracrn /i:r Kenntnis bringen lassen. In der groften Mehrzahl
der Fälle haben sich die letzteren auch bereit erklärt, die vorgeschlagenen
Verbesserungen aus/utühren. ' i Im Jahre 1S97 wurden die Kontroll-
uiitersuchungen der durch che Kthehunf;sl)eaiiiten siijnalisierten sanitari-
S( nen Uei)eIstaiHlc in ausgcdelinter Weise forigeiet/l. Durcii den l'oh/.ei-
ar/t und 2 ihm beigegebene Aer^te wurden nicht weniger als 697
sanitarisch beanstandete Wohnhäuser auf ihre hygienischen Verhältnisse
begutachtet und diesbezügliche Vorschläge zur Abhilfe der sanitarischen
Mifsstände der Polizeidirektion eingereicht „in weitaits der grofeen
Mehrzahl der Fälle kamen die Hauseigentümer den an sie gestellten An-
suchen, die nidit selten erhebliche finanzielle Opfer von ihnen ver-
langten, willig nach und dürfte schon jetzt die viel angefochtene Wohnun^s-
enqu^te ilire guten Früchte getragen haben; gegen die übrigen Haus-
eigentuiuer wird sich die Poli/cichrektinn die weiteren Schritte \ orl)ehahen."- 1
Zürich, tiessen schwar/.es Kuch '73,48 Proz ) Itewohnte Hauser
in einem Folioband von 364 Seiten uintafsi, hat noch im gleichen Jahre,
in welches die VVohnungsenquete liel, lulgeude Verfügungen erlassen,
betreffend*):
l'Dgexiefer in Wobnräumen ....
»4
Unreinlichkeit in ....
*3
22
•
Unrat in Keller n. Dachboden . . .
94
44
I'Ü^K-r
2$
•
44
Keurhto VVofiminficn
1C9
L • li'-rv. illj. rt-' Wolinuiij^cu
HO
34
19
Wobnrinme ionstwie ongcnü^c-nd . .
39
109
Belüstigende Zustünde verschiedener Art
78
Sämtliche \ er fugungen wurden auf deren W irkung kontrolliert durch
2 Sanitätsbedienstete und 2 Mann Aushilfe luid zwar im allgemeinen
*) Beriebt des Gemeindetales der Stadt Bern an den Stadtrat ttber den all-
gemeinen Gang und die Ergebnisse der GemeiodeTerwaltung im Jahre 1896. Bern
(Bucbdnickerei oi rr^ht u. Käser) 1897. II. Teil S. 26.
•) Bericht des Genifimieratos der Stadt Bern an den Stadtrat üV)cr den all-
gemeinen Gann und die lir;;f.liiii>sc der ( ionu-imli-vcrwahung im lahre I.S97. II. Ti-il S. 20.
' Ge->< haltstx richt <1' > Stadtrates u. der Zentralschulpflef^e der Stadt Zürich vom
Jahre l8y6. Züricl» (Buthdruckerei U«richthau&; '^97. S. 143 f.
uiyiii^oa Dy Google
Emil Hofmanti, Die Ergebnisse der schweizerischen Wohnungsenqu^n. jiy
mit zufriedenstellendem Lrj,'ebnisse. Immerhin waren 39 X'erwarnungcn
und 36 Hülsen notwendig. Dem Ikiuwesen I wurden 60, dem Bau-
wesen II (Strafscninspcktoratj 74, *^Um Polizeiwesen (Feuerpolizeij 39 Fälle
zu weiterer Behandlung Überwiesen.
Eine fernere Klasse von Wohnungsschäden, die in zweiter Linie in
Bearbeitung zu nehmen war» beschlug die Abtrittverhältnisse. Die
Wohnungserhebung ergab: \
I. Abtritte ohne DmckwasserspOlung 11. ohne Loftabschlafs
3. Abtritte mit Spttlimg a. ohne Lnfinbseblttfs 348
3. Abtritte oline Spülunj,', j- dorli mit I.nftubschlufs ... 6
4. Abtritte ohne direkte Belcuchtong u. Ventilation . . . 103
Diese Fälle verlangen einzeln die einläfslichste Prüfung, um Ver*
fügun^en treffen /u können, welche einerseits vorhandene Uelielstände,
vorab Geruchbelastigiuig beseitigen, uund andrerseits sich zu halten ver-
mögen
Ik'sontiere Aufmerksamkeit »sodann erheist ht der weitverbreitete Uehel-
stand, dafs tiie H(jden der Ahtriite blofs bis /.u den mit lioden und
Wänden fest verbundenen Einkleidungen der Schüsseln reichen, statt an
die Wände, sowie an die Abfall- und Dunstrohre dicht anzuschliefsen.'*
Jm folgenden Jahre wurden wenigstens die dringend Abhilfe er-
fordernden Uebelstände, welche durch die Wohnungserhebung aufgedeckt
worden waren, erledigt, trotz des groisen Widerstands namentlich gegen
die Ausschaltung der hölzernen Abtrittrohre.
Winterthur liefs in säinilii hen, anläfslich der Wolmuii^^suntersuchung
beanstandeten Wohnungen durch eine Abordnung der Behörden eine
Nachinspektion vornehmen und mutsten in 25 Fällen Anordnungen zur
Abhilfe erlassen werden.')
Hasel liefs sich mit der administrativen Benutzung der Wohnungs-
enquete ziemlich Zeit. Wenigstens war die Besichtigung der durch die
Wohnungsenqudte namhaft gemachten, indirekt vom Tageslicht beleuchteten
Wohn- und Scblafräume erst im Jahre 1896 beendigt.^ Dafür führte
aber die Choleragefahr im Jahre 1892 wenigstens zu einer regelmäfsigen
Inspektion eines Teils der Wohnräume. Im genannten Jahre wurden
während der Monate Augtist und September eine gröfsere Zahl von
Wohnungen einer genauen Inspektion unterworfen. In den folgenden
Jahren fanden regelmäfsige Insf)ektionen der Kost- und Schlafgüngereien,
der kassierten Wolmimgen, sowie der iuiechtekauunern samtliclier Fuhr-
') Gcischäftüberichtt: der V erwaltungsbehörden der ■stadi Wuiicrlhur vom Jahre
1897. Winterchttr (bachdmckerei Geschwister Zic^ler) 1898. S. 148.
") 63. Verwaltongsbericlit des Regierungsrates u. 50. Bericht des Appellations-
' gerklitcs über die Jnatizverwnltnng vom Jahre 1896 an den Gfofsen Rat des Kantons
Basel-SUult VU. S. 3a.
Digitized by Google
718
Mi!>2clU-n.
und Droschkciihaltcicicn st:m. Dies halle zur Folge, dafs in u< n Schlaf-
gangereien mehr auf Reinlichkeit gehalten wird luid das Ergebnis der
Besichtigung der Knechtezimmer in den Droschken» und Fuhrhaltereien
im Jahre 1897 als ein befriedigendes bezeichnet werden konnte.
Als weitere Folge der Wohnunjrsenquöte ist die Thatsache zu be-
trachten, dnfs dem Wohnmiusvvi-M'M sowohl seitens der Hehörden als der
öftentli<hen Meinuii- crh(')hfe Aufmerksamkeit geui im-'t wird. So hielt
es die bcrnische P< »lizeidirektion fiir angemessen, zur lit-ialuntr von Frafren
aus dem dehieie der \Vohnunf:sh\ «^iene eine erweiterte Saiuiai^kommission
durch lk'i/.iehung von 'lechnikern. Aer/ten uml lUirgern, die sirli um
diese Sache interessieren, zu bilden. In Zürich wurde der Inspeklion der
Ma.ssen(particre erhöhte Aufmerksamkeit geschenkt.
Die Untersuchung erstreckte sich
in den Jahren 1895
auf Häuser 298
Zimmer 1000
„ Betten 2110
„ Schtefer 3255
1896
1897
1S98
347
3»5
290
1186
ins
1030
2641
4211
3555
3084
Dil Jahr zu Jahr ein
1895
1896
1897
65
10
7
»3
10
44
29
Ergebnis. So wurden gefunden:
1898
48
Holzbehälter als Schlafräume ....
Räume mit Flachlicht (nicht kontrolliert)
AUeruni^s war die Forderung von 10 cbm Luftraum für den ein-
zelnen Schlafer und eines eiuschlaligen bezw. eines aiiderlhalbschläfigen
Bettes fUr 2 Personen fiir die Vermieter oft eine harte Nufs. Aber die
Nachinspektionen, welche den Säumigen entweder Verwarnungen oder
Bufsen in sichere Aussicht stellten, veranlafsten dieselben doch wenig»
stens die gröbsten Mifsstände abzuschaffen. '
Die intensivere Beschäftigung der ötfentlichen Meinung mit dem
Wohnungswesen Sufserte sich in der Fresse und namentlich auch in
zahlreicheren an die Behörden ticliitetm Kli'jcn viber \\'ohnuiii;sinifs-
stäude. So i)erich!ct unter antU icm du- rnli/eidircktion der Stadt Bern,
dafs im Jahre 1807 /.ahlreit here Bcsclnverden über Feuchti<:keU der
Wohnungen eingelaufen seien als in früheren Jaliien. In .St. (ialien
mufsten auf eingt^an;;cne Klagen hin im Jalire der Wohnnngseniiudte
in 33 l'ällen Wohnimgsuntersuchungen stattfinden. Der Einflufs der
Wohnungsen< luvten auf die öffentliche Meinung in dieser Richtung machte
sich sogar weit herum geltend. Der schweizerische Grütliverein befafste
sich ebi nlalls mit dieser Fra^e. Seine Delc-giertenversanmilung erteilte
dem Zentralkomiie den Auftrag, im Schofse des Grütlivereins dahin zu
Digitized by Google
Emil Hofmann, Uic Ergebnisse der schweucrisclirn Wuhnungsenqucten. ji^
wirken, dalb allenthalben die Wohnungsliagc in Diskussion gezogen und
auf praktische Lösung derselbeu Bedacht genommen werde. Das Ceotra!-
komite beschlo& zur Befolgung dieses Auftrages zunächst die Erstellung
eines Leitfadens fiir die Wohnungsfrage.') Auch der Verein Schwei«
zerischer Post-, Telegraphen- und Zollangestellter hatte diese Frage auf
die Traktandcnliste einer seiner X'ersatninlungen genommen und die
Gründung einer Genossenschaft zur Erstellung von kleinen billigen Woim-
häusern fiir eidijenössisrhe lienmto diskutiert. I)ie Pre^^se oder die Ar-
bcilerschati fonlerie an den ( )rteii. wo die Vornalnne von WChnun^s-
on<|ueteii untliunlich ciselicinen nuiibte, wcin^siens L nlersiu hiniL.' der
schlethien Wohnungen oder Abstellung unwürdiger VVohnungsverhahmsse,
wie dies in Rorschach geschah und in Frauenfeld (K.t. Thurgau) und
Binningen (Kt Baselland) hinsichtlich der Italienerwohnungen der Fall
war. An dieser Stelle ist femer auch der Organisationen der Mieter,
der sog. Mietervereine zu gedenken, welche in mehreren Städten entstanden
sind. Auch diese Vereinigungen sind geeignet, die Wohnungsfrage nie
mehr aus der Traktandenlistc der Oefl'entlichkeit verschwinden zu lassen.
Als Mu>ter cintr solchen Organisation nennen wir den 1891 gegrün-
deten Mietervercin in /.urich. Dieser hat einen unentgeltlichen Rechtsrat
in Mielaiigcle^enheiten für seine Mitglieder eingeführt, ein Nortnalmiets-
fonnular vereinbart, ein \"ercinsoif;aii, den „Wohnungsmieter ' gegründet
und /ahlreiche \'orträge veranstaltet.
Bei der administrativen Verwertung des Materials der Wohnungs-
enqu6ten mufsten die Behörden ohne weiteres auf die Unzulänglichkeit
oder das ganzliche Fehlen der Wohnungsgeset/^ebung sowie bau- und
sanitätspolizeilicher Vorschriften nach dieser Seite hin aufmerksam werden,
wie dies bei dem meist ehrwürdigen Alter dieser Gesetze etc. begreiflich
ist. In Bern, wo die Wohnungsentiu^te mr .Anbahnung eines Wohnungs>
gesetzes dienen soll, welches nicht nur den hygienischen sondern auch
den sozialpolitischen Anfordenintjen der Neu/eit entsjjricht, werden unter
anderem nanientlirh auch sirikti- \ Urschriften üljer den Be/u^ \nii Neu-
bauten vernnl^t. \)oi[ isi (.iuentlich die einzige gesetzliche Handhabe,
um Mifssianden ni den bestellenden Wohnungen zu begegnen, die „Tolizei-
verordnung über das Vermieten und Benutzen der .Wohnungen von
1857". Dieselbe enthält die folgenden Bestimmungen:
I. „Es ist verboten, Räumlichkeiten, die ihrer Beschaffenheit und
Einrichtung nach sich nicht ' zu Wohnungen eignen, wie z. B. Keller,
Stalle, Remisen, offei^ Dachräume etc. als Wohnungen zu vermieten.
Eine blofs vorübergehende Benutzung solcher Räume zum Wohnen, wie
*) Jahresbericht des schweizerisiChen Grtttlivereins, umfassend den Zeilabschnitt
vom 1. Januar bis 31. Dezember 1897. Zürich (Buchdnickerei de$ schweizer. Grtttli-
Vereins) 1898. S. 27.
üigiiized by Google
720
namentlich von Ställen im Winter und von Dachfäumen im Sommer,
kann ausnahmsweise von der Polizei auf unbestimmte Zeit gestattet
werden. 2. Das Zusammenwohnen einer su grofsen Anzahl Personen im
nämlichen Wohnräume kann a\i> i:csuiidhL'itsi)ülizciIichen Gründen unter-
snLTi werden. Der Raum, welcher im Minimum je für eiiu- Pereon er-
forderlich ist. wird nie In mir durch den Innern Halt des Wohnraumes
selbst, sondern auch durch die Laj^e desselben in Ikv.u«,^ auf Genufs
der Snniic, auf Luftungsfahigkeit, Hei/.cinrichtung und Troi krntieit be-
urldill und durch S.ich\cisiandi;i:e nach Art. 5 hierna< h bcstuntiit. In
keinem Falle aber darf dieser Raum für eine Person weniger als
200 Kubtkfufs Luft enthalten. 3. Ebenso kann das Zusammenleben von
erwachsenen Personen verschiedenen Geschlechts, welche nicht zum
gleichen engem Familienverbande gehören, aus sittenpoUzeüichen Gründen
untersagt werden. 4. Es ist verboten „Wohniugen oder deren Um-
gebunu in so unreinlichem Zustande zu erhalten, dafs -lic (icsundheit
der Bewohner oder ihrer Nachbarn gefährdet wird. 5. In allen zweifel-
haften Fallen, auf welche die vorstehenden Hestinununpen Anwendung
ünden, ist ein Ciutachlen von zwei Sachverständigen einzuholen,"
Luzerns Stütze im Kampfe wider \\ ohnun^^smilsständc ist ein Gesetz
vom 2q. August 1864 und ein Reglement vom 13. März 1S67. Lau-
sanne stand das Baupolizeigesetz von 1875, Basel die Sanitätspolizeiver-
ordnung vom 9. Juli 1864 und die Verordnung vom 9. Oktober 1864
zur Verfügung. St. Gallen'), Winterthur und Zürich^ waren insofern
etwas besser gegen Wohnun^mifisstände gew^pnet, als ihre beztigl. Regle-
mente und Vorschriften jttigern Datums sind. Uebrigens sind die Mei-
nungen auch über das Letztere geteilt. Der Stadtrat von Zürich spricht
diesem Baugesetz einen sehr wohlthätigcn Kinflufs auf die Verbesserung
der W ohnungen zu. Er stützt sich dabei auf die völlig übereinstimmenden
Berichte der F.rhebungsbeainten tmd äufsert sich folgendernuifsen : ''i
„Nun sind die Mansarden und Dachschlafräume; die in l)es!>eren,
ja eleganten Hausern früherer Bauperioden vielfach beklagenswerte Zu-
stande aufwiesen, den gesundheitlichen Anforderungen an eine Schlaf-
stelle gemäfs hell, geräumig und ventilierbar; nun ist die indirekte Be-
leuchtung, die man in alten und neueren Häusern so oft antriiR, auf die
Nebenräume beschränkt und fUr die Gesundheit und Sicherheit wie fUr
die Bedürfnisse und die Annehmlichkeit der Bewohner besser gesorgt.
Auch in bescheidenen Verhältnissen läfst sich in solchen Häusern mit
bequemen Treppen und Korridoren, weiten Fenstern, freundlichen Zimmern
1) 12. Mai 1887 u. to. mn 1892.
*) 23. April 1893.
^1 Hcridit des Stadtrates an d«n <iroi-, n Stadtrat, betroffend vorltnf^ Er-
gebnisse der WohnongwnqoAte von 1896 ^d. d. 2. März 1897) ^*
Digitized by Google
F. r.iil iluimuiin, I»ic Ergebnisse tlcr schwciiiLTisclicn Woliuuugscnquijlcii, 72 1
und hellen Küchen nebst allen nötigen Zubehörden gut wohnen, wenn
der Ordnungssinn der Insassen dem Ganzen den Stempel behaglicher
Häuslichkeit aufdrückt. '
Aus Winterthur wird berichtet, dafs die Durchführung dieses Ge-
setzes den lk'h<)rden wenigstens im Anfang viel zu schaffen gab, was
unserer Ansicht nach kein schlechtes Zeugnis ist. Diese beiden That-
sachen verbunden mit dem Wortlaut des in l'rage siehenden Gesetzes
lassen es begreifhcli erscheinen, dafs demselben vom Bearbeiter der
Lausanner Wohuungsenquetc die Rolle eines Vorbildes zugewiesen wird.
Allein bei näherem Zusehen zeigen sich auch in diesem Gesetz er-
hebliche Mängel und Lücken, die aber zum Teil durch den Erlals eines
Wohnungsgesetzes ausgefUUt werden könnte.') Die Erkenntnis von der
Unzulänglichkeit der bestehenden gesetzlichen Vorschriften mufste natur«
gemäß» dazu drängen, dieselben zu revidieren und zu ergänzen, .\ller-
dings lassen sie sich hierzu fast mehr Zeil als notwendig erscheinen
mag. aber wenn dabei wicilcrum nach dem Vorbilde Basels verfahren
wird, so mag die Qualität der Gesetzesarbeit über das etwas langsame
Mar>clueni[)o hinwegtrösten. Schon liucher i^ieht im Schlufswort zur
Basler Wohnungsenquete der Hoft'nung Ausdruck, dafs der von einer
besonderen Kommission in der 2^it vom Novanber iSSS bis Dezember
1889 vorberatene Entwurf eines Hochbaugesetzes, wdciies in seinem
III. Abschnitt den sanitarischen Anforderungen in mustergültiger Weise
Rechnung trägt, nach den jetzt gemachten Erfahrungen demjenigen
Wohlwollen der Gesetzgeber begegnen werde» welches notwendig sei,
um ihn so bald als möglich /um (I^. setze werden zu lassen. Diese
HotTnung erfüllte sich hinsichtlich der Zeitdauer nicht. Besagtes Gesetz
trat erst am i. Sej)tember 1895 in Kraft, nachdem es am 27. Juni vom
GrofNcn Rat genehmij^t worden.
Der Krlafs eines Wohnungsgeset/es liefs noch langer auf sich vvai ten.
Eine au^ Männern der verschiedensten Lebensstellungen zusammen-
gesetzte Kommission kam mit ihren Beratungen über dieseln Gegenstand
im Anfang des Jahres 1897 zu Ende. Der von derselben vorgelegte
Entwurf wurde nach eingehender Beratung durch den Kegierungsrat
unterm 8. September an den Grofsen Rat geleitet '-) , welcher am
13. Januar 1898 denselben an eine neimgliedrige Grofsratskoramission
überwies. ^) Leider war diese Arbeit vergeblich, indem das Volk diesen
>) Vgl. bimn Pflflger, Pfarrer, Die Wohnungsfrage. Sozialwiaseoacbaftliche
Volksbibliothek Nr. 14. Zttricb (Kommissionsverlcig der Buchhandlung d. Schweix.
CriUliveKiiis) 1899. S. 36.
•) 64 Vfr«Mltungst)eric1u lU-s Rogirnittgsrates vom Jahre 1897 an denGrofsiea
Rat des Kantons Bas.l-Stadt. VII S. 2.
65. VerwÄltuußsboricht des Kc{;ierttogsrate« vom Jabrc 1898 anöden Grofsen
Rat des Kanton«; Ha^i^l-Siadt. VII. S. 1.
Archiv für »o^. ücsct/^cbuug u. Suti^tik. XV. 47
biyiiizeü by Google
722
MiszcHcn.
Gesetzentwurf vom 24, Juni 1000 mit urofsem Mehr ablehnte. AHeia
die Regierung lieis sich dadurch niciii abschrecken. Sofort nach dem
Volksentscheid tli)kumenlierte sie ihren festen Willen, zur Verbesserung
der \VohnunL;s\ i.ih;il(nissc ihr Möglichstes beizutra^a-n.
Die KntwirkhiuL; tlei Dini^e ist Ijci diesen Malsregeln der IJehOrde
nicht stellen gel)liel>en. Dem kuniMniei ten Angiitt" verschiedener Streit-
kräfte, um das Wohnungselend der grolsen Massen zurüc kzmlrangen, liat
dicseUie eine neue zugefügt. Die Behörden beginnen noch iu anderer
als in der von Bücher ihnen zugedachten Weise in den Kampf zu treten^
indem sie selber den Bau von Wohnungen namentlich für Arbeiter an
die Hand nehmen. In dieser Beziehung hat die Stadt Bern in an-
erkennenswerter Weise den Anfan^j gemacht. Ihre Thätigkeit auf diesem
Gebiete ist bekannt') und 1ii;au hen wir blofs noch beizufiigoi, dafs der
am 7. Dezember i8()o von der Gemeinde bewiUigte Kredit von 900,000 Frs..
für den Hau billiger Wohnunj;en bereits erscliöpft ist.-)
In Hasel wurde diese Kra^e dur» h eine F.ingabe der ( 'iOncIIsc iiaft
„Frei-Land" angeteut, welclie nel)en einer Knt[uete über \eiteiluiiu, He-
weirunt: und l!cii'.it/unir des Tiotlens auch die möglichste Au:»deanun^ des
Gemeiudegrundbesitzes und die Erstellung von Arbeiterwohnungen auf
Staatsboden postulierte. ') Vier Jahre später legte das Finanzdepartement
dem Regierungsrat einen Antrag betrefifend Erstellung von Wohnungen
ilir die Angestellten der Strafsenbahnen vor.^)
In Zürich setzte der Stadtrat durch Beschlufs vom 26. Februar
1896 ,,das generelle Programm betreffend Hebung bezw. Milderung der
Wohnungsnot in Absicht auf Leute mit geringem Rinkommen" fest, nebst
einem Beschlufsantrag , in der Hauptsache dahin gehend , es möchte-
jenes Programm gruiidsat/lich gebillii^t und dcra/ufol-^e der Stadlrat ein-
geladen werden: a) dem urofsen Stadtrate eine \ orlagc über die Kr-
stellung gesunder, billiger W uhnungeii fui -~t.ultis( he Arbeiter und äiiiilich
bezahlte städtische Angestellte einzubringen, b) betretfend Deckuu^ des
Wohnbedürfnisses anderer Gemeindeeinwohner mit geringem Einkommen
tonflcbst mit den interessierten, sowie den gemeinnützigen Kreisen (in-
begriffen die bestehenden gemeinnützigen Baugesellschaften) behufs Fest-»
stelluiig eines generellen Ausführungsprogrammes in Verbindung zu treten
tmd dieses Programm dem Grofsen Stadtrate zur Genehmigung vor-
zid^^. Das Bedürfnis derartiger Mafsnahnien wurde durch die Woh-
nungsenqufite treftlich illustriort. Dieselbe ergab nämlich, dals blois
*) Vgl. hierzu Adolf Lasche, Die Herstellung hilliger Wohnungen durch
die Geracind«' Hern. Zeitschrift für schweizerische Statistik. Jahrgang 1 894. S. 193 ft".
*) Verwaltungsbericlit d< s CimifiTulcratcs der Stadt Bern vom Jabrc 1897 S, 57»
•) Verwaltungsbcrichi »U-s Kcyu i uiigsratcs pro 1892 IV' .S. 4.
*) Verwaltungsbcrichi des. Kcgierungsrates pro 1896 IV S. 2.
biyitizeü by Google
Emil Hofmann, Die hrgi.-biiis.st; der i^cli\vc)/.cn!>chen Wohnungscnqut-tcii.
7785 Wohnungen mit einem 400 Frs. nicht übeisteigenden Mietwerte
vorbanden waren. Diesen Wohnungen standen aber 25000 Haushai«
tungen gegenüber, welche über ein 2000 Frs. nicht übersteigendes Ein-
kommen verftigen. Das heifst also mit dürren Worten nichts anderes,
als daft über * g dieser flaushaitunf^en mehr als den fünften Teil ihres
Einkommens für Mietzins auf/uwenden haben. Mit Recht beweisen dem
Stadtrate diese Zahlen, dafs die Frage, ol) die AÜL'^eineiiilu-it Wranlas-
sunj? habe, in cias Wohnungswesen zu Cunstca der Leute mit geriniieni
Einkommen direict und indirekt einzugreifen, entschieden zu be-
jahen ist." ' )
Trotzden» steht die Erledigung der Arbeiterwohnungsfrage iuuuer
noch auf dem Boden theoretischer Envägungen. Allerdings hat die
vom Grofsen Stadtrate ernannte Kommission ihre Anträge bereits ge-
stellt, aber diese sind noch nicht behandelt worden, weil das Er-
scheinen des schriftlichen Berichtes sich verzögerte. -) Er ist im
Dezember 1899 im Drucke erschienen und bildet namentlic h i i seinem
II. Teil, den „Mitteilungen über den gegenwärtigen Stand der Arbeiter-
Wohnungsfrage in Dcutsehlaiid und der Sc hweiz," der von II. .Mettier
verfafst wurtle, eine sehr instruktive Ergan/vmg und Motivierung der
Gesichts] lunkte. welche im I. Teil entwickelt wurden.
Die \'oraussetzung des Baues von Arbeiterwohnungen seitens der
Städte ist ein entsprechender Besitz von Baugnmd. Dies verbunden
mit der Erkenntnis, dafs ausgedehnter städtischer Grundbesitz bei den
vielen wirtschaftlichen Problemen, die an ein Gemeinwesen herantreten,
von hoher Bedeutung sei, hat in diesem Jahrzdmt unter mehreren
schweizerischen Städten einen regen Wetteifer entfacht, ihren Gnuid-
besitz zu vermehren. Allerdings ist dies bis jetzt blofs als eine sehr •
günstige Kapitalanlage betrachtet worden und hat man darauf verzichtet,
auch noch auf andere Weise vermitteKt dieses ( irundl)esitzes in die bau-
liche EntwicklunL' einzugreifen. An Anregungen hierzu hat es nicht ge-
fehlt. Erst ueuliih lehnte der Grofse Rat des Kantons Haselsfadt eine
Motion betrettend Verwendung des dem Staate gehörenden Batirechts
nadi dem System der beweglichen Grundrenten oder nach dem Heim-
fallsrecht ab. Neben den Städten sind eine Anzahl von Baugesell-
schaften und Genossenschaften verschiedenster Tendenz bestrebt, durch
den Bau von Wohnungen der Wohnungsnot abzuhdfen. . Dasselbe ge«
schidit durch einen Teil der Unternehmer.
') Geschäftsbericht des Stadtrates und der Zcntralschulpflege der Stadt Zürich
vom Jahre 1897. ZUrich (Bochdruckerei Bericbthaus) 1898 S. 97.
*) Gtsehiftsberififat des Stadtrates etc. vom Jahre 1898. Zttrich 1899. S. 99.
*) Vgl. hiemi: Ville de Lausanne. Enqofte snr les conditioos du Logement.
<S. 139.
47*
724
MuzcUcn.
Die Zahl der Fabrikwohnhäuser hat in der Zeit von z88o — 91
eine sehr wesentlidie Vennehrung er&hren.
Im Jahre 1891 «urden 1598 Fabrikwohnhttttser gezahk und konnte
Fabrikinspektor Dr. Schuber im Jahre 1896 konstatieren, dafi eine Er-
hebung in jenem Jahr nicht nur bedeutend gröfsere, sondern wahr*
scheinlich auch noch um etwas günstigere Ziffern gebracht hätte.
Digitized by Google
Die Heimarbeit in der österreichischen
Konfektionsindustrie.
Von
Dr. FRITZ WINTER,
in Wien.
Die stetig zunehmende Ausbreitung der Heimarbeit, die (Gefahren,
welche sie für die Diirchführunf^ der sozialpolitischen (icsctzo mit sich
bringt, indem sie den Anreiz ijifbt, die mit Arbeiterscluitzbfstinunungcn
belastete Fabriksiudustrie in eine Verlagsindustrie zu verwandeln, die
ungeheore Verelendung und der gesun^ieitliche, moralische Verfall, dem
aUe jene bfeiten Schichten der Bevölkerung, die in die Sphäre der
Heimindustrie gelangen, ausgesetzt sind, alle diese mit der Heimarbeit
notwendigerweise verbundenen Momente haben die Aufmerksamkeit der
Wissenschaft und Gesetzge!)ung auf diese Art der Produktion gelenkt.
Auch Oesterreich ist in die Reihe jener Länder getreten, die mit
der Sanierung der Verluiltnif^se in der Heimarbeit sie h l)cfassen. IJis
jetzt sind allerdin^^s nur ^'orarbeiten «geschehen, die mehr oder minder
wertvoll sind. Eine Flut von (iutachtcn, die von den Handelskammern
den Genossenschaften , den Clewerbeinspektoren al)verlangt wurden,
suchten dem Problena auf bureaukratischem Wege beizukonunen. Erst
die Schafiong des Arbeitsbeirates im Handelsministerium im Jahie 1898
biadite in die Sache einen modernen Zug. In der konstituierenden
Sitsung des Arbeitsbeirats wurde ein Antrag auf Erhebung der Verbältnisse
in der Heimarbeit eingebracht und etwas modifitiert angenommen. Zu-
nächst fand eine Enquete über die Zustände in der Konfektionsindustrie
Statt, die in einem stattlichen Band ^) der Oeffentlichkeit vorliegt. Eine
*) Stcnognphiiches Protokoll der im K. K. arbeitsstatistisclicn Amte dnrch-
gcfthitcn Veraehmimg v<» AnskanltspenoBeii Uber die Verfalltnisse in der Kleider*
imd Wisehekoofektioii. Wien 1899. Alfied Haider.
726
Misxelleti.
Erhebung der Wohnungsverhältnisse der Zwischmmeister ist bereits im
Zuge. Aiu h ihre Resultate sollen veröflfeatlicht werden. Die Enquete
erstreckte sich über die drei Hauptpruppcn der Herren-, Damen- und
W "äschckonfc'ktion cinschliefslich der Spezial/vvciee (Heeres-, Arbeiter-
RiiRicr-Kra\ iitcnkonfektion) unter teilweiser Einbeziehunp des Hilfs-
gcwcrbcs der Wäscherei. Es wurden Experten aus Wien und Profsnitz
abtr auch aus einer Reilic anderer Industriezentren vernonunen. Es ist
so nun möglich, einen genaueren Einblick in diesen Zweig der Heim-
arbeit zu gewinnen und damit ist auch ein festerer Boden fiir die Ge-
setzgebung vorhanden.
T.
Die Grundbedingung für die Schaffung wirksamer sozialpolitischer
Mafsnahraen ist die Kenntnis der Organisation, des Aufl)aucs desjenigen
Produktions/wei.:f^. (Ics^eü Arheitersrliaft geschut/.t werden soll. Aus
der Art und \\ei>c der l'iotlukiion, aus der Al)han^ngkeit der einzelnen
Faktoren \oiieinander erwachsen die Mifsstande und Schäden. Ihre
Beseiti^aing wird auch nur mit ^iner Veränderung der Produktions-
bedingungen möglich sein und die Tragweite der einzdnen Normen
wesentlich von ihrer Anpassung an die realen Verhältnisse abhängen.
Die Organisation der einzelnen Zweige der Konfektion ist dne in
wesentlichen Punkten verschiedene. Nicht überall zeigt sich durchwegs
Produktion durch Heimarbeit, und in jedem Produktionszweig selbst sind
Unterschiede in der Art des Absatzes und damit der Herstellung zu
bemerken.
In der \'erl"eriii,nnig von .Mannerkleidern dc<niiniert die Heimarbeit.
„Jeder Kundenschneider in Wien, selbst der kleniste, der sich keine
Werkstätte liallcn könnte, iiat schon seine Stuckmeister." '} Doch ist die
Arbeit eine wesentlich verschiedene. Es ist zwischen Betrieben sa
unterscheiden, die fUr Zwischenhändler arbeiten und solchen, die direkt
an den Konsumenten ihre Erzeugnisse absetzen. Die Produktion flir
die Klciderhändler sind naturgemäß Grofsbetriebe. Sie haben ihre
Comptoirs in \\'icn, ihre Kr/eugungsorte in Profsnitz und in Wien. Den
Mittelpunkt der Produktion bildet die Zuschneidewerk.stätte, die mit den
\'errechnungs- und .\uszahlungsstellen verl)unden ist. Hier werden die
zugeschnittenen StotTe ausgegeben, die ani^efertigten Kleider empfangen.
Hier wäre der Ort, wo eine Produktion nui!\iduell gleicher, nur in der
(irofse verschiedener Waren hergestellt werden konnte. Hier müfste
sich eine Produktion von Massenartikeln entwickeln. Allein die Ver-
schärfung der Konkurrenz und damit die Verwöhnung der Abnehmer hat
A. a. O. S. 144.
uiyui^L.j cy Google
Fritz Winter, Die Heimarbeit in der Österreich. Konfektionsindustrie. ^27
«ine Rückbildung hervorgerufen, sodafs hier die Merkmale der fabriks»
mttfsigen Herstellung mit der der Kundenschneiderei ▼erbunden sind.
».Während wir früher", sagt der Vertreter der gröfsten Profsnitzer
Firma,*) „auf den Besuch der Kunden in Wien rechnen konnten, ist
seit 1 5 — 20 Jahren das System der Reisenden, die wir entsenden, so in
Aufnahme gekommen, dafs der gröfste Teil unseres Absatzes damuf be-
nibt Während wir früher nur mit Musterstücken zu reisen
brauchten und die eingelaufenen Ordris aus unseren grofsen La^^aTn in
Wien imd Profsnit/. aus freier Hand ettektuieren konnten, weil ])ausrha-
liter bestellt wurde, l>estellt jetzt der kleinste Kunde an der Hand der
Kollektion zum Beispiel sechs Anzüge in vier Muslern. Dadurch wird unser
Betrieb sehr erschwert, indem die Massenproduktion, die früher möglich
war, eingeschränkt wird.'' Die Folgen dieser Absatzveränderungen sind
daher Verschärfung der Saison mit allen ihren Folgetibefai und eine
Veränderung in der Technik. Die bereits in Betrieb gewesenen Zu*
Schneidemaschinen sind ..obsolet geworden".
Neben dieser Produktion für den Zwischenhändler finden wir
Cirofsbetriebe filr die Detailkundschaft. Riesige Warenhäuser, Palaste,
die bis in den vierten Stock hinauf mit Kleidersorten gefüllt sind und
direkt an den Konsumenten abscl/en. Manchmal nehmen sie den
Charakter von Bazaren an, wo nicht nur Kleider, sondern auch Wäsche,
Schuiie, Kravalten, kurz alle möglichen Bekleidungsartikel zu haben
sind. Doch ist eine derartige Vereinigung noch siemlidi selten. Auch
hier zeigt sich die Verwöhnung der Kundschaft, die Berücksichtigung
individueller Ansprüche. „Wir haben ein ausgebreitetes Mafsgeschäft, *)
das meiste ist fertige Lagerware*'. „Je besser die Verhältnisse werden,
desto mehr nimmt die Mafsschnciderei zu."*) Hier hat der Konfek-
tionär eine mehr oder minder grofse Reparaturwerkstätte im Hause,
neben der Zuschnciderei. .Aber sonst wird die Arbeit durch Zwischen-
meister hergestellt. Doch ist tler Ciegensatz zwischen diesen beiden
Betriebskategorieen kein scharfer. Diese fabriksraäfsigen Kunden-
sclmeidereien stellen in tler loten Saison Lagerware her, für die Kund-
schaft die noch keine besonderen Ansprüche stellt, und verkauft zu
gleicher Zeit an Zwischenhändler.
Daneben bestehen in Wien noch eine Reihe von handwerksmälsigen
Betrieben, die immer mehr der Zwischenmeisterei verfallen. Nur einige
wenige , sogenannte erstklassige oder Kavalicrsgeschäfte haben einen
gröfseren Umsatz, aber auch sie beschäftigen bereits Heimarbeiter. In
den übrigen Zentren der Industrie aufserhalb Wiens stehen die Verhält-
') A. a. O. S. 14.
*) A. A. O. S. 139.
^ A. a. O. S. 146.
Digitized by Google
728
nisse flhnlidi. Nur in Lemberg hat der handwerksmlUs^e Betrieb einen
gröfseren Umfang, die Arbeitsbedingungen sind aber die denkbar
tiefsten. Man findet wahrhaft grauenhafte Zustände.
Die Konfektion v on Damenkleidern zeigt einen wesentlich
anderen Aufbau. Die Konfektionäre haben es hiermit einer ganz anders
gearteten KuiuIm haft /,u thun. Die Mode sj)ielt eine ^rüfseie Rolle, die
individuellen An>i»rut he an die Kleidung siml vcrft int-rte. tlcr \\ e« hsel
der I'ormcn cm \iel lascherer. Daher bestellen hier beinahe keine
Untcrsi hiedc zwischen der Arbeit auf Lager oder nach Mafs, zwischen
der Arbeit fUr doi Koiuntmenten oder den Zwischenhändler. Die dnrch-
gehendste Betriebsform ist hier Werkstättenbetrieb mit angegliederter
Heimarbeit. Nur einer der vernommenen Experten, ein Prager Kon-
fdctionär, arbeitet durch iireg mit Heimarbeitern. Es ist überhaupt eine
DifTerenzienmg m konstatieren, womach namentlich die At\fertigang
von Bloiisen, rnterrix ken, IV'berhängen 'Capes) in die Spliäre der Heim-
arbeit geholt. Die Weikstatten sind manehnial sehr umfangreich. Oft
sind nber i 50 iV rsonen in dem Hause des Konfektionärs vereinigt. Die
W eikstatt gliedert sich in \ eist hii iiene Abteihingen je nach den
ein/einen Kleidungsstücken, sie wiril \ereinij;l in der gemeinsamen Zu-
schneiderei. Auch hier dringt die Heimarbeit bis in die kleinsten Ge-
Schäfte, „Modesalons", vor.
Die besten Bedingungen zur Massenproduktion sind in der Wäsche-
konfektu>n vorhanden. Die Ansprüche der Konsumenten gehen
hauptsächlich auf die Qualität des Stoffes, die Form, die Arbeit tritt
weit zurück, spielt höchstens in der Herstellung von Manschetten und
Kragen ein gröfsere Rolle. Hier gieht es Wäschefabriken mit Dampf-
betrieb, nicht nur in Wien, sondern auch in landlichen (»egenden in
l{öhmen. Die h'abriken haben einen Stock von Heimarbeitern an-
gegliedert. ()ft werden durch die Heimarbeit nur die letzten .\us-
fertigungen gemaclit. in andeien Ik'trieben ist die Produktionsweise um-
gekehrt, die Hauptarl>eit geschieht aufserhalb des lietricbes, die Aus-
fertigung in der Werkstätte des Unternehmers. Daneben bestehen
Grofsbetriebe, die lediglich auf der Heimarbeit beruhen. In diesen
wird das Material, bald zugeschnitten, bald zugemessen, aufscr Hause
gegeben und die vollständig fertiggestellte Arbeit Uberaomroen. Ueber-
haupt scheint die W.lschekonfektion in einer rmwandlung begrif^'en zu
sein, woraus sich die Mannigfaltigkeit der l'roduktionslormen erklären
würde. „Wir haben ein Beispiel an der nicht unbedeutenden Wnsche-
indiistrie," sagt das Kommission^-mitglied, Herrenkonfekt ionar .Siegmund
Mayer, ') „die Industriellen hatten vordem die Wa.scheer/eugung
grofstenteils nur durch Heimarbeit anfertigen lassen. Jetzt haben die
< A. a. O. S. 21,
uiyiLi^ed by Google
Fritz Winter, Die Heimarbeit in der cMerreidi* KoDfektiouiiidi^rie. J29
kapitallcräftigeD ihre Konfektion in eine fabriksmäfsige Industrie um-
gewandelt und machen ihre ganze Arbeit im Hause."
Die Heimarbeit selbst ist sehr mannigfaltig gestaltet, aber in den
einzelnen Zweipen der Konfektion ziemlich gleich. In der Konfektion
für Männerkleider finden sich nur männliche Meister und Arl^eiter,
Mofs in den Lcnibergcr Werkstatten werden für die Hilfsarbciton auch
Frauen verwendet. Die \'errerti<:ung der Damenkleider liegt schon teil-
weise in den Händen von 1 laucn. iJic sogenannte „englische Arbeit",
die Herstellung von Jacken, ist durchwegs Männerarbeit, Btousen,
Schttrseo, Röcke Frauenarbeit. Die Wäsche- und Kravattenkonfektion ist
die Domäne der Frauenarbeit, hier sind die Zwi«u:henmeister, wie auch die
Arbeiter durchaus weiblich, nur hie und da trifit man auch einen Mann.
Eine Mittelsperson zwischen dem Verkäufer und dem Arbeiter
schiebt sich manchmal ein. Der „Faktor" findet sich in Profsnitz in
der Herrenkonfektion, und zwar in zweierlei C'»estalt. Kntweder über-
nimmt er das Material zugeschnitten vom Konfektionär imd teilt es an
die eigentlichen Erzeuger aus oder er ist ,,I .ohnkonfektionar". Dieser
bekommt von Klciderhändler aus den \ erhchiedciistcn (iegenden des
Reiches, namentlich aus den Alpenländern, wo es keine Heimarbeit
giebt, die Stoffe, läfst sie in Profsnitz zuschneiden und giebt sie zu sehr
geringen Preisen an die Schneider, er beschäftigt einige Zuschneider
und hat oft eben fabriksmälsigen Betrieb angemeldet. Diese Zwischen«
person steht dem Konfektionär, der för Kleiderhändler liefert, am
nächsten. Von der ersten Art sind 4, von der zweiten 20 — 30 in
Profsnitz. Der „Faktor", der in der \\ äschekonfektion vorkommt, ist
seiner Stellung nach dem „Faktor" der Herrenkunfektion, seiner I nnktion
nach dem I.ohnkonfektionär ähnlich. Kr vermittelt für die Kontektionare
das Sticken der Wasche, giebt die Arbeit in liolnnen und Mahren an
Bauernmädchen, die das Sucken als Nebenerwerb neben ihrer landwirt-
schaftlichen Beschäftigung betreiben. Hier finden wir den einzigen
Rest einer .Jlausindustrie", wie sie die dsterreicbische Gewerbeordnung
versteht Die Faktoren ziehen ihren Gewinn durch den Preisdruck bei
Vergebung der Arbeit. Nur ein einziger Fall') ist erwähnt, wo der
Faktor vom Konfektionär direkt für jedes abgelieferte Dutzend Hemden
eine feste Prämie bekommt. Diese beträgt 5 Kr. per Dutzend und
soll in der Woche nach den Angaben des Unternehmers 1 5 Fl. be-
tragen. Eine ähnliche Mittelsperson wie den Lohnkonfektionär" hat
die Krawatlenkonfektion. Ein Zwischenmeister kauft den Rohstoff ein
und liefert die fertigen Maschen gemäfs den Bestellungen der Detail-
händler an diese ab. Auch hier haben wir es schon mehr mit einem
selbständigen Unternehmer denn einem Zwisdienmeister zu thun. Sonst
verkehren die Konfektionäre mit den Zwischenmeistem direkt
•) A. tu O. S. 59a.
L-iyi j^uo i.y Google
«
Die Betriebe der Zwischemneister sind verschieden grols. In
der Herrenkonfektion schwankt die Zahl der Gehilfen von 2 bis
gegen 7 und 8, in den anderen Konfektionsswetgen kommen auch Betriebe
mit 30 — 40 Personen vor. Die Arbeitsteilung ist in zweierlei Richtung
ausgebildet. Jeder Zwischcnim ister arbeitet nur einen Spezialartikel und
überdies arbeiten sich die Arbeiter in den Zwischenmeisterbetrieben ,.in
die Hände". Doch i-^t dieser Grad von Arbeitsteilung noch nicht uberall
erreicht. Der Meister selbst ;ir]>eitet beinahe uberall mit und selbst
dort, wo er nur eine Aulsichtsperson ist, besorgt er das Zuscinieiden des
Futters. Neben den Zwischenmeistem kommen dann „Sitzgesellen" in
xwei^lei Gestalt vor. Die eine Art wird von den Unternehmern direkt
beschäftigt und bildet den Beginn eines Zwischenmeisterbetriebes. Die
meisten dieser Sitzgcsellen arbeiten auch nicht das ganze Jahr altein,
sondern nehmen sich manchmal einen Gehilfen. Andrerseits wieder
piebt es Zwischenmeister, die in der stillen Zeit ohne Gehilfen arbeiten.
So fliefsen die beiden für die Heimarbeit so tvjiischen lietriebsformen
ineinander. Die andere Art der Sit/^esellen sind Arbeiter der Zwischen-
meister, die in ihrer eigenen Wohnung arbeiten. tjewidinlich werden
sie nur für kleine Teilarlieiten, wie Knopflocher nähen, .Ausfertigen der
W äsche u. s. w. beschatugl. Hie und da werden sie auch zur Herstellung
des ganzen Stückes verwendet. Durchwegs Sitzgesellen sind die Sticke-
rinnoi in der Kravatten* und Wäschebranche.
Die gewerberechtliche Stellung der Zwischenmeister und ihrer
Arbeiter, sowie der Sitzgesellen ist eine schwankende und sehr ver-
schiedene. Die Konfektionäre, namentlich der Herrenkonfektioni
haben beinahe ilur« hwegs behauptet, dafs sie nur „befugte** Meister be-
schäftigen, d. h. Meister, die den liefähigungsnachweis erbracht, und
einen Gewerbeschein gelost h;iben. Die Krgebtiisse der Kn<iuete haben
diese Behauptung als unrichtig erwiesen. St hon die lci( hte /uganglich-
keit zur Arl)eit — jeder, der sich um .Xrbelt an den Konfektionär
wendet, bekommt soiciie — widerspricht dieser Aussage. la den
übrigen Zweigen der Konfektionsindustrie wurde dies nicht einmal be-
hauptet. Namentlich dort, wo Frauenarbeit inbetracht kommt, ist von
einem Gewerbeschein gar keine Rede. Die Gehilfen erscheinen beim
befugten Meister in der rechtlichen Stellung der Gehilfen. Beim un-
befugten sintl die \'erhältnisse ganz ungeregelt. Die Sitzgesellen, die
vom Konfektionär direkt l>es( liaftigt werden, sind manchmal, wie in
Brünn, als .Arbeiter des Konfektionärs angemeldet, gewöhnlich sind sie
ebenso rechtlns, wie die von den Zwischenineistern aufser Hause be-
schäftigten .\rl)citcr. Die Gesetzgebung kümmert sich um sie nicht.
Das ist die Organisation, die wie geschafl'en ist, alle in ihr
Arbeitenden der gröfsten Not, dem grofsten Elend zuzuführen. Mit ihr
sind unzertrennlich verknüpft kurze Saisonen mit langer Arbeitszeit und
Arbeitslosigkeit durch den grdfsten TeQ des Jahres; Löhne, die tief
Dlgitized by Google
Fritx Winter, Die iicimarbcil in der Ü!>terreich. Konfektionsindustrie. y^i
unter das Existeoanmimum «nken und Anrcihtbarste Ausnutzung der
Arbeitskiaft; die HersteUnng der Produkte in Werkstätten, die allen
Anforderungen der Hygiene Hohn sprechen, und Wohnungen, die su-
gleich als Aibeitsstfttten benutzt werden. Sehen wir zu, was die Enquete
in dieser Richtung ergeben hat.
U.
Das charaktfristische Mt-rkinal heinahe aller Zweige der Konfektions-
industrie ist die Saisonarbeit. Rcgehnäfsig .steigt die Nachfrage , die
Zwischenmeister werden mit Arbeiten überschwemmt und ebenso regel-
inäfsig verschwindet sie wieder, allerdings ohne etwas anderes zurück-
zulassen als Erschöpfung, Not und Elend. Dabei ist die Zeit der
höchsten Arbeit furchtbar kurz. Sie ist in den einzelnen Zweigen ver-
schieden ausgedehnt. In der Herrenkonfektion sind die Arbeiter nur
in der Hälfte des Jahres voll beschäfti-t und diese Saison teilt sich
überdies in zwei Teile, in Winter- und Sommersaison. Die grofsen
Kundenschneidcrcicn helfen sich über die tote Zeit dadurch hinweg,
dafs sie, wenn die Mafsarbcit altniniint, Lai;orarlicit lior-^fclien lassen
und so doch d.is ganze jähr mit Arbeit au-ljUcn ktHincn. In den
anderen Betrieben der llerrcnKunfektion sieht die Arbeit thatsachlich
still, die Meister und Gehilfen machen dann entweder gar nichts oder
sie suchen sich Aushilfsarbeiten. Der eine bessert alte Röcke aus, der
andere arbeitet fUr den Trödler, der gröfste Teil hungert sich durch.
Ungefähr ebenso lange ist die Zeit der vollen Beschäftigung in der
Damen- und Wäschekonfektion. Auch hier werden die .\rbeiter entlassen,
fahren in die Kurorte, um dort in Werkstätten Arbeit zu bekommen,
oder hungern sich durch.
Die Saison, der Wechsel /wischen ungeheuer gesteigerter und voll-
standig \ ers( iiwintlcnder N'aciifiagc ist eine der Cirundiirsachen dafür,
dafh die Konfektionsindustrie durch Heimarbeit produziert. Nur diese
Ketriebsform gestattet dem Unternehmer, seinen Betrieb willkürlich aus-
zudehnen und einzuschränken, ohne dafs er dabei die Kosten dieser
Reduktion zu tragen hätte. Allein umgekehrt wird auch die Heimarbeit
zum Ansporn für die Konfektionäre in Saisonen zu arbeiten und nicht
die Arbeit auf das ganze Jahr gleichmäfsig zu verteilen. So sagt ein
Frofsnitzer Zwis( hcnmeister *) ganz riditig: „Frtther wurde mehr auf
Lager gearbeitet, als in neuerer Zeit. In neuerer Zeit warten die
Konfektionäre mit der Vergeltung der Arbeit, bis die Reisenden zurück-
kehren und die Bestellungen bringen. Aber es giebt jetzt auch
mehr Schneider, so dafs es den Unternehmern leichter
1) A. ». O. S. 98
biyiiizeü by Google
732
wird, die Arbeit in einer kürzeren Zeit zu bewältigen,
weshalb sie sich nicht mehr so viel darum zu bekümmern
brauchen, dafs die Arbeit auf das ganze Jahr verteilt
wird." Gerade die industrielle Herstellung von Kleidern könnte es er-
niüfjlichen, die Unregelniäfsigkeiten, die durch die Veränderungen der
Mode in die Produktion fj:cbracht werden, zu vermindern. IXidurcii .iber,
dafs die (irofsproduktion durch Heimarbeit ceschieht. werden diese l'n-
regclmäfsigkeilen nii ht nur verscharrt, sondern ihre uhlen Folgen von
dein wirtschaftlich Stärkeren, den Konfektionären, auf die Schwächeren,
die Zwischenmeister und Arbeiter übertragen.
Mit dem Vorhandensein der Saison steht übennäfsige Ausnutzung
der Arbeitskraft durch die Ausdehnung des Arbeitstages bis an die
Grenze der Möglichkeit in direktem und untrranbarem Zusammen-
hange. Dazu kommt noch die Wirkung der niedrigen I^Ähne, die bei-
nahe ausseid iefslich und für den Zwischenmeister immer Stücklöhne sind.
„Die Stückmeister trachten, während der Saison, solange die Ariieit
dauert, zu verdienen, was nur mö^^hch ist." ' ) Die Arheits/eit dauert
um so länger, je weiter »U-r Arlieiter \oiii \'erkäufer des Produktes ent-
fernt ist. \No Arbeit im iJctiiebe des Kontektionärs v(»rhanden i>t. wie
in der Damen- und W asrliekontektion, linden sich Arbeit-stage von lo,
11, ja sogar 9',,, Stunden. Sie werden freilich iiauhg dadurch ver-
längert, dafs die Arbeit, wo der Produktionsprozefs dies zuläfst, nach
Hause gegeben wird. Bei den Zwischenmeistem sind Arbeitstage von
14 Stunden durchweg die Norm. Bei dem Sitzgesellen ist eine Ar-
beitszeit von i8f 19 Stunden und darüber keine Sehenheit. Es werden
Fälle erwähnt, wo die Arbeiter bei 48 Stunden Arbeit zwei Stunden
schlafen. Sie sinken einfach an der Stelle, wo sie gcarl>citet haben, um;
in der Werkstätte, mitten unter dem Materia!, in der verdorbenen Luft
versuchen sie auszuruhen. Nach kurzer Zeit schon ruft sie neuerdings
die .\rl)eit zu angespornter Thätigkeit. Der „Durchmarsch", das
Arbeiten von Freitag früh l)is Samstag friih oder .Mittag ist eine nur allzu
häufige Erscheinung. Stimulationsmittel, wie schwarzer Kart'ee und
Branntwein, erhalten die Lebengeister wach. In mehreren Fällen kommt
sogar ein Arbeitstag von 21 Stunden vor, und eine Arbeiterin aus
Rozdol in Galizien, eine 55jährige Frau, bemerkt dazu naiv: „Wenn
noch mehr zu thun wäre, würde ich noch mehr arbeiten l" *) Das
Mafs der .Arbeitskraft, das in diesen schlecht genährten Leuten steckt,
ist wirklich st annenerregend.
Und die F'ntlohnung dieser ungeheuren .Arbeitsleistung? Diese ist
nach zwei Seiten hin zu betrachten: einmal nach dem Verdienst der
') A. a. O. S. 9».
«) A. Ä. O. S. 7ia
Digitized by Goügl
Vxitz Winter, Die Heimarbeit in der Österreich. Konfektioosindustrie.
Zwischenmeister und sodann den Löhnen der Aibeiter. Ueber den Ge-
wion der Konfektionäre wurden naturgemäfs keine Angaben gemadit
Was nun den Verdienst der Zwischenmeister betrifft, so kann
konstatiert werden, dafs deren grofse Mehrzahl in den dürftigsten
Vcrli.iltni.s?;en lebt, manche nicht viel besser, nuinche schlechter ge-
stellt sind als ihre Arbeiter. Der Verdienst wird um so gröfser, je mehr
der Z\vis( henineister zu einer Mittelsperson zwischen Unternehmer und
Arlieiter wird, je mehr Gehilfen er heKchaftisjt. Die Betriebskosten, be-
sonders Miete. BcleuchtunL.' und Beheizung verteilen sich auf mehr
Arbeitskräfte und die Lokaliiateti können mehr ausgenutzt werden. Die
Enquetekommission hat sich bemüht, Wochenbudgets einzelner Zwischen-
meister festzustellen. Genaue Angaben sind allerdings wenige zu er-
langen gewesen, weil die meisten keine Aufschreibungen fiber ihre Aus-
lagen führen und die Naturallöhne der Arbeiter, die ziemlich häufig sich
finden, nicht genau in Geld veranschlagt werden konnten. Immerhin
mögen die relativ besten dieser Aufstellungen hier Platz finden.
Kin Giletschneider in Wien, der mit 4 Gehilfen arbeitet und an
der Produktion selb-t teilnimmt, stellt 80 Gilets ;\ 48 Kr. her und verdient
ilamit 38 Fl. 40 Kr. in der W oche. Davon entfallen .'\u';gnben auf den
Lohn der Gehilfen 26 Fl. 60 Kr., auf Zubehör 2 Fl., auf Zins 4 Fl.
87 Kr., auf Steuer 18 Kr., als Knlgelt für selbstgemachte Gilets 1 Fl.
60 Kr. Die Ausgaben betragen somit zusammen 35 FL 25 Kr. Als
Ueberschufs über seine Einnahmen bleiben somit 3 Fl. 1 5 Kr. für die
Woche. Dazu kommen noch 2 Fl. 10 Kr., die er von Aftermietem er-
hält. Rechnen wir noch den ^john lUr die selbstgemachten Gilets dazu,
so ]\n der Zwischenmeister am Ende der Woche 6 Fl. 80 Kr. in der
Hand, womit er seine eigenen Bedurfnisse, sowie die seiner Frau und
Kinder befriedigen soll. Seine ^\'ohnunL; besteht aus zwei Zimmern
samt Küche. In diesen Räumlichkeiten schlafen acht Personen. Natür-
lich mufs infolge dieses „Venlienstes' die Frau als Wäscherin und
Biiglerin in Hauser gehen und verdient unregehiiäfsig 5 — 6 Fl. in der
Woche.
Ein Bild aus Frofsnitz. Ein Zwischenmeister, der mit drei Gehilfen
und drei Lehrlingen arbeitet und hie und da auch für Frivatkundschaften
liefert, hat eine Wocheneinnahme von 29 Fl. 40 Kr. Davon entfallen
auf Nahrung für die ganze Meisterfamilie und die Gehilfen, die beim
Meister Frühstück imd Mittagessen haben, 10 Fl. 50 Kr., für Lohn
8 Fl., für Miete 2 Fl. 50 Kr., für Beheizung 1 Fl., für Beleuchtung
23 Kr., für Steuern :;5 Kr., für Zubehör 50 Kr., für Krankcnkassen-
beiirage 72 Kr., für Katenzahlungen an den Maschinenlieferanten i Fl.
Die Wochenausgaben betragen sohin 24 Fl. 70 Kr., j,o(ltN sich ein
Ueberschufs von 4 Fl. 70 Kr. für die Deckung aller Bedürfnisse aufser
Wohnung und Kost ergiebt
Ein Beispiel eines grofsen Betriebes aus der Wäschekonfektion:
734
Eine Zwischenmeisterin arbeitet in Wien Manschetten mit 24 Mädchen.
Die Wohnung best^t aus awei Zimmern, Küche und Kabinet. Die
Zwiscbenmebterin bekommt ftir das Dutzend Manschetten 28 Kr. Davon
hat sie für Zubehör 2' ^ Kr., für Lohn 20 Kr. wegzuzählen, so flafs ihr
per Dutzend 5*/4 Kr. bleiben. 75 Dutzend werden in der Woche her-
gestellt, das ergiebt für sie einen Uebersrlr.ifs Mm 25 Fl. 80 Kr. per
Woche; da^■on ist iio« h der Zin.s von 5 Fl. 60 Kr. ])€r Woche zu be-
zahlen. So veibleihcn 20 V\. 20 Kr. zur Bestreitung der Helcurhtunc:,
Beheizung, der Mascliincnko.slen und -Ropai.ituren, sowie zum Unterhalt
der Meisterin. Der Mann derselben ist Auslülfsdiener.
Alle diese Budgets geben Wocheneinnahmen bei voller Beschäitigung.
Die Einwirkung der Saison auf das Jahreseinkommen Hilst sich aus der
Enquete nicht konstatieren. Nur ein Zwischenmeister aus der Uniformierungs-
branche hat eine Jahresübersicht '; liefern können. Der Mann arbeitet inWien
mit einem Arbeiter. Seine Jahreseinnahmen betrugen 1 508 Fl. 50 Kr.,
seine Ausgaben für Löhne 556 Fl., für Zuf;ehör 44 FL. für Wcrkzeuff-
und M.isrhincnabnutzunfj 15 Fl., I'iir rn-imniatcrial 83 Fl. 10 Ki.. für
Miet/.ins 214 Fl., für Krankcnvcrsichciung 26 Fl. 40 Kr., für .Steuer
3 Fl. 84 Kr., somit im ganzen 942 V\. 34 Kr. Daher verbleibt ihm
ein Nettoverdienst von 566 Fl. j6 Kr., nur um ungefäJir 10 Fl. mehr
als sein Arbeiter bekommen hat Stellen wir nun den Monat mit dem
stärksten und dem geringsten Bruttoverdienst einander gegenüber, so er>
giebt sich folgendes Bild:
Einnahmen Au&g.iben Uebcrscbafs
Febnnr 67,50 Fl. 52,15 Fl. >S»3SF1-
September 330,— „ 109,35 „ 110,65 „
Dabei sind die Ausgaben für Steuer und Mietzins, die nicht monatlich
gezahlt werden, auf das ganze Jahr verteilt und den monatlidien Aus-
gaben zugerechnet Für die Wirkungen der stillen Zeit ergiebt sich nun
die Folgerung, dafs der Zwischenmeister in dieser Zeit nicht nur weniger
Einnahmen, sondern auch relativ mehr Auslagen hat. Sie betrugen im
Monat September nur 49,7 seines l'ruttoverdienstes, im Monat Februar
hingegen 77,25 "/^ hiervon. Der Konfektionär hat durch die Produktion
mit Heimarbeitern nicht nur die Möglichkeit, seinen Üetricb beliebij^
einzuschiankfii und auszudehnen und so seine Produktion den Bedürf-
nissen des .Marktes anzui)assen, sondern er überwälzt auch die Kosleu
dieser Einschränkung auf seine Arbeiter.
Der Sitzgeselle hat ein doppeltes Joch zu tragen, er ist Arbeiter
und Zwischenrndster zugleich. Wir geben swei Beispiele eines solchen
Budgets, das einer HemdennSherin und das einer Beamtenfrau, die
Mädchenkldder näht Die Hemdennäherm wohnt bei einer Cousine^
1) A. a. O. Beilage IX.
üigiiizeü by Google
h'titz Wiulcr, Die Heimarbeit in der üstcrrcicb. Konfektionsindustrie.
die ihr gelegentlich bei der Arbeit hilft. Sie stellt 6 Dutzend Hcnideu
zu I Fl. 40 Kr. in der Woche her und bekommt dafür 8 Fl. 40 Kr.,
durchschnittlich verdient sie 9 — 10 FL in der Woche. Von diesen
8 Fl. 40 Kr. hat sie auszulegen an Zubehör 75 Kr., an Entschädigung
für die Mithilfe ihrer Cousine i Fi, an Essen (Kosten des Mittags- und
Nachtmahls) 2 Fl. 10 Kr., an Zins i Fl. 25 Kr., zusammen 5 Fl. 10 Kr .
so dafs ihr von ihrer Bruttoeinnahme 3 Fl. 30 Kr. zur Bestreitung aller
ihrer sonsti^^en Bedürfnisse bleiben. Die /wisrhenmeisterin bekommt für
diese Hctnikn 8, q um] 10 V\. beim Konfektionär imd läfst zu Hau>e
nur die Knopfltx her lit-rstellen. Die Näherin arbeitet 14 Stunden t;iL,'lit-h
und da .sie zwei halbe Tage in der Woche mit dem Lielem verliert,
auch Sonntag vormittags. Die Beamtenfrau näht Kinderklcider direkt
fUr den Konfektionär. Ihr Mann ist Beamter der X. Rangklasse. Die
Arbeitszeit dauert durchschnittlich 14—15 Stunden täglich. In manchen
Monaten mufs sie auch die Sonntage zu Hilfe nehmen. Der durch-
schnittliche Wochenverdien.st betrafst 15 Fl., er steigt bis 25 Fl. und
fallt bis auf 9 V\. Sie hat Auslagen für Miete 7 Fl. 30 Kr., für ein
Dienstmädchen, das die Wirtschaft versieht, 2 Fl , als .Amortisation der
Nähmaschine 20 Kr. wöchentlich, mithin 9 Fl. 50 Kr., so dals ihr ein
Ueberschufs von 5 V\. 50 Kr. bleibt, von dem sie aufsei ilnem Lebens-
unterhalt no( Ii (las Zubehör, die Beleuchtung und die Beheizung zu l)C-
streiten hat, die leider nicht in Zahlen angegeben sind.
Die Löhne der Arbeiter zeigen eine scharfe Scheidung je nachdem
diese bei den Unternehmern in der Werkstätte oder Fabrik oder als
Heimarbeiter beschäftigt sind. Die Löhne der letzteren sind durchweg
niedrigere. Ein zweiter Unterschied besteht in der Entlohnung der
Frauen und der Männer. „Die Männer werden immer besser bezahlt
als die Frauen, weil da.s schon eine allseitig eingehaltene (»epflogenheit
ist, sogar dann, wenn die Arbeit der Frau besser ist." ' - Die Lohnform
ist beinahe durchwegs der Stücklohn, nur in Brolsnit/ wird hiiufig NN'ochen«
lohn bezahlt. Dabei ist es dort auch üblif h, <lafs die (lehilfen l)eim
Meister Frühstück, Mittagessen und Wohnung halK is. Dies wird manch-
mal als Teil des Lohnes gegeben, in vielen F'ällen l;ifst der Meister es
sich besonders bezahlen, so dafs dem Gehilfen ein muamaler Betrag von
ein paar Kreuzern zur Deckung seiner fibrigen Bedürfnisse verbleibt.
Die Löhne selbst sind ganz unglaubliche. „Der Lohn ist 90
niedrig, da& man sich schämt .ihn zu bezahlen/' sagt ein Konfektionär.*)
Aber man bezahlt ihn doch. In der Herrenkonfektion werden fUr
männliche Arbeiter Wochenlöbne von 5 und 6 Fl., höchstens 8 Fl. in
Wien und 2—3 Fl. samt Naturallohn in Profsnitz angegeben. Das
*) A. «. O. S. 303.
A. a. O. S. 165.
üigiiized by Google
736
MiszcUen.
Frühstück und Mittagessen samt der Benutzung der Wohnung wird auf
2 FL veranschlagt Die Arbeiter in den etwa vorhandenen Wericstätten
kommen im Durchschnitt auf 1 1 Fl. in der Woche. In der Damen-
konfektion dagejjen, die eine besonders qualifizierte Arbeit erfordert,
sinkt der Lolm des Werkstättenarbeiters kaum unter 15 Fl., beim
Zwisrbenmeister sind keine männlichen Arliciter beschäftigt. Die Löhne
(Um Arbeiterinnen sind norh viel niedriprer. Mit Ausnahme einer
einzij^en Angabe sind Luhne in der Werkstutte nicht über 9 FL,
durchschnittlich aber 6 — 7 Fl. in der Damenkonfektion, in der Wäsche-
und besonders in der Krawaitenkonfektion sind L6hne von 3— 3 Fl die
Woche etwas ganz Gewöhnliches. Eine Arbeiterin,*) die 4 Fl. 80 Kr.
wöchentlich erhält, findet, dafs sie „ziemlich gut" bezahlt ist.
Die Folgen dieser Huhgerlöhne bleiben nicht aus. Bei den männ-
li( hei) Arbeitern bedeuten sie, dafs die Eltern und Verwandten diese
Bezahlung aufbessern müssen, was in Profsnit/ fast durchweg der Fall
ist ; wenn keine Liiterstut/un^ vorhanden ist, müssen die Arbeiter sich
eben mit dem niedrigen Lolm einrichten. Bei den Mädchen aber
werden diese Lohne durch Prostitution ergänzt. In der Enquete bat
man nicht gewagt, dies auszusprechen, aber angedeutet wurde es an
verschiedenen Stellen. „Die Mädchen, die keine Eltern haben, sind ge-
zwungen, um zu leben, sich einen Beruf zu wählen, der nicht höchst an-
ständig ist oder sie müssen in Dienst geben." ')
% Die Lebenshaltung und Wohnung dieser ganzen Schicht von
Arbeitern ist natürli< h , dem Einkoramen entsprechend, elend und
äufserst ärmlich. Die Werkstätte beim Zwischenmeister ist zugleich ge-
wöhnlich Schlafraum für die (ieliilfen und Lehrlinge. In den grüfsercn
Zwischenmeisterbetrieben sind die Räume mit Leuten vollgepfropft. Ge-
lüftet wud ^elteIl und in dieser ^■cldo^^)enen Luft schläft man dann. So
er/ählt ein .Arbeiter der Unifonnierungsbranche, ") dafs in onieui em-
fenstrigen Kabinet 10 Personen arbeiten. Die Gehilfen schlafen oft zu-
sammen in einem Bett. Die Reinlichkeit der Werkstätten läfst viel zu
wünschen übrig. In dieser Hinsicht sind geradezu skandalöse Zustände
in Galizien. Dort wird in manchen Werkstätten überhaupt nicht
gekehrt, in anderen nur der Abfall in die Winkel der Werkstatt ge-
scholten. In vielen fallen während der Arbeit die Wanzd von der
Decke herunter.^ ) Alierauch in einer Wiener Werkstätte erinnert sich
der Arbeiter gar nie! it. dafs der Fufsboden eimnal gewaschen worden
wäre. In klemeren Betrieben wird im selben Zinimer nicht nur ge-
*) A. a. O. S. $40.
•) A. a. O. S. 434-
*) A. Ä. O. S. 375.
. *l A. a. O. S, 131.
*j A. a. O. S. 4<»0.
Frits Winter, Die Heinurbeit in der ofterreicb. Konfektionsindustrie. '^y^
arbeitet und gegessen, sondern aucK gekocht Wenn in der Nacht ge>
arbeitet wird, so schlafen im selben Zimmer die Angehörigen der
Meister. Ja aus Profsnitz wird sogar erzählt, dafs die Gehilfen in
Schichten arbeiten und dafs, wiihrend die einen auf den Tischen
arbeiten, die anderen unter diesen schlafen." ') Dafs sie das übcr-
haui>t können, verdanken sie wohl nur der Uebeitnudun<;, in der
sie in den Sciikif sinken. Arbeiter klagen über Krankheiten,
namentlich der Augen, wegen der mangelhaften Ik-lcuchlung. Zwei
E]q)erten erzählen, dals sie von der Ueberanstrengung, besonders der
Nachtarbeit, krank wurden und wochenlang arbeitsunfähig waren. Ueber-
banpt wird mehrfach konstatiert, dals mit 30 Jahren die volle Leistungs*
fthigkeit des Arbeiters abzunehmen beginnt. Die Nahrung steht im Ein*
klang mit der Dürftigkeit der Löhne. Am elendesten lebt wohl ein
Sitzgesellc ^ in Batielau bei Iglau in Maliren , drr seine Mahlzeiten
folgendermafsen beschreibt: „Zum Frühstiitk Karte tfelsuppe, manchmal
auch KatTee, mittags Kinbien;is'.i|t|ic mit Kurtofleln. abends Kartoffel-
suppe. Manche trinken auch .Sclmajis." Ihm gleich konnnt eine ver-
heiratete Arbeiterin, die bei einem Danjenschneider beschäftigt ist. .Sie
gdit mittags ins Kaffeehaus imd trinkt einen Kaffee. Erst abends
kommt sie nach hause und kocht „etwas" für sich und ihren Mann.
So ist die Lage dieser Arbeiter beschaffen. Die Enquete hat ge-
ze%t, dafs auch in Oesterreich genau dieselben Uebelstände bestehen,
die in anderen Ländern mit der Heimarbeit verbunden sind, entspringen
sie dodi überall aus derselben Ursache, aus der Organisation der Pro-
duktion in diesem Gewerbe.
m.
Welche Resultate diese Knquete haben wird, die nur als ein Teil
der Erhebungen über die Verhältnisse in der Heimarbeit gedacht ist,
ist heute noch nicht zu übersehen. Es ist noch unklar, oh die schreck-
lichen Zustände, die da aufgedeckt wurden und die Kundigen ja schon
lange bekannt waren, dazu führen werden, dafs man eine Abhilfe durch
die Gesetzgebung sucht, oder aber, dafs man vor der fürchterlichen
Wahrheit zurfickschteckend, die Eiliebungen überhaupt einstellt Eines
steht jedenfiiUs fest. Durch die Enquete ist klargestellt worden, dafs der
Weg, die Mifsstände abzuschaffen, vollständig verfehlt ist, den der Erlafs
des Handelsministeriums, der vor einigen Jahren herauskam, vorschlug.
Damit; dafs man Meistern das Recht, Lehrlinge zu halten, entzieht und
die gewerberechtliche Stellung des „Sitzgesellen" präzisiert, ist gewifs
') A. a. O. S. 210.
«) A. a. O. .S. 419.
•) A. a. O. S. 435-
Archiv ftir iOi. (ieseugeliung u. StatisCiK. XV.
uiijui.iL.j cy Google
^ -> Q Miizellen.
keine Hilfe geschaffen und wird 'nichts verändert, weil das Wesen
der Sache bleibt. Man nmfs si( h vor allem klar sein, was raan mit
einer „Rcirelung der Heiniaii)i ir' will, in wcli lu-r Ric litunt: ircregelt
werden soll. \'or alletn ist festzustellen, dai's der „/.wihclieiuucister" gar
kein „Meister" ist, sondern ein Arbeiter, der mit der Regie der Werk-
statt uiul der Veraniwortiie.hkeit lür die Herstellung des Produktes be-
lastet wird, dafs es deshalb dem Konfektionär leicht ist, alle die Kosten»
die sonst ein Unternehmer trägt, auf die Arbeiter zu aberwälzen. Dals
die Beschäftigung der Arbeiter aufser Hause zu einer HerabdrQckung
der Löhne fuhrt, ist eine bekannte Thatsache und dafs sie die Zusammen*
drangung der Arbeit auf einen kleinen Teil des Jahres noch verschärft,
hat die Enquete ergeben. Wo man bisher sich mit der Regelung der
Heimarl)eit hffafst h:it, ist man haui»tsä( hlirli \on dem (Jesichtspunkt
ausgegangen, die Allgemeinheit vor den üblen l olgen 7,11 schützen, die
die Heimarbeit aiirh ftir sie mit si( h bringt. Es mufs aber endlich
daran gegangen werden, die Regelung im Interesse der in der Heim-
arbeit beschäftigten Personen selbst vorzunehmen. Wenn ein verbissener
Manchestermann') in der Enquete sagt: „Wenn das Gewerbe dafür
reif ist und' die Verhältnisse es verlangen, so macht sich die Umwandlung
der Heimarbeit in Fabriksbetrieb von selbst/' so wird er mit diesem
Ausspruch wohl allein 1 1; il n Die „Verhältnfase" verlangen diese Um-
wandlung schon sehr lange uiid sie ist seif »st verständlich dennoc h nicht
ci:j;^'^etreten. Wir sehen nur einen Weg zur lieseitigung dieser Mifsstande,
d.ts i>t die Beseitigung der Heimarbeit selbst, ihre Umwamilnng in einen
Werkstatt- oder Fabrikshetrieh, in welcher Form immer dies geschehen
mag. Die Schwierigkeit des l'roblen)s ist nicht zu verkennen. Be-
schreitet doch die Sozialpolitik damit völlig neue Wege. Sie hat sich
bis jetzt gröfstenteils bemühti durch bestimmte Vorschriften gewisse Aus-
wüchse im Produktionsprozefs selbst zu beseitigen, ohne ihn zu be-
rühren. Hier aber handelt es sich um eine Umänderung der Art der
Produktion. Welche Folgen dies auf den Industriezweig hätte, läfst
sich schwer beurteilen. Dafs die Unternehmer wirklich» wie gedroht
wttrde, ins Ausland, hauptsächlich nach Ungarn gehen würden, ist nicht
wahrscheinlich. Ist doc h einer der Vorzüge, die ein Konfektionär der
t)Sterreichischen Konfektion nachrühmt, der Geschmack und die Aus-
f'iiirung der Produkte, unrl das ginge bei einer ^'erl>f^anzung sicher ver-
loren. Die vorrau.ssichtliche Folge würde sein, dafs nur ilie kapital-
kräftigsten Unternehmer eine derartige Produktionsweise vertragen
könnten, dafs alle Übrigen aus dem Gewerbe geworfen würden und sich
anderen Berufen zuwenden müfsten. So spitzt sich das Problem auf die
Frage zu, wer erhalten und gekräftigt werden soll» die Tausende der
^) A. a. O. S. ai.
üigiiizeü by Google
Fritz Winter, Die Heimarbeit in der Österreich. Konfektionsindustrie.
Axbeher und Zwischenmeister oder ein paar Untemduner* Vor dieser
Frage steht man aber bei jeder sozialpolitischen Mafsiegel. Die
Devise kann daher nicht lauten, wie es in der besprochenen Enquete
^S. 17) helfet: „In erster Linie muls die Industrie auf dem Platz er*
lialten werden, wo sie besteht, dann erst kommen die sozialpolitischen
Motive", sondern nur: zuerst die Sozialpolitik, und dann die Interessen
der Industrie, d. h. der IndustrieUen.
48»
LITTERATUR.
JCuUmanMf fV^ Landgerichtsrat. 2>Af GewirksehafUbewegung, Dar*
Stellung der gewerkschaftlichen Organisation der Arbeiter
und der Arbeitgeber aller linder. Jena, Verlag von Gustav
Fischer. XX u. 730 S. gr. 8«
Das vorlicgcmle umfangreit lic Werk kummt einem wuklu 'ien I'.e-
dürfnis entgegen. So grofsc Fortschritte die Erkenntnis von der Be-
rechtigung und Notwendigkeit der Gewerkschaftsbewegung auch im
Laufe der letzten Generation gemacht hat, so gehen doch die Ansichten
aber ihre zweckmäisigen Formen und die naturgemäfsen Grenzen ihres
Wirkens noch in allen Lagern weit auseinander. Die Meinungsver-
schiedenheitai hierüber sind aber nur bis zu einem gewissen Grade
Produkte von Interessengegensätzen, zu einem grofscn Teil wurzeln sie
vieiraehr in Folc'ernngen aus ungeniiijcndcm Krkenntnisniaterial. Solclie ein-
seitigen Folfjeruuf^en lassen sich auf rein deduktivem \^'el:o nicht wider-
legen. Je gröfser aber die Fülle des erfahrungsniafsig l estge->U Ilten, um
so Icicliter hissen sich alle Differenzen ausgleichen, die nicht die not-
wendigen Folgen tiefgehender Interessengegensätze sind, und modifizierea
sich selbst Theorien, die gegensätzlichen Interessen Ausdruck geben.
Wie auf andern Gebieten» wohnt auch auf dem der Sozialpolitik der
Empirik, der sachgemälsen Feststellung der Erfahrungsthatsachen, die
Eigenschaft bei, dem trennenden Einflufs der spekulativen Deduktion ein
Gegengewicht zu bieten.
Ueber die Gewerkschaftsbewegung liegt uns heute bereits ein ziem-
lich umfangreiches Thatsachenmaterial vor, und es fehlt auch nicht an
Monographien, in denen solches Material systcniatisc Ii auf seine Ergeb-
nisse Air die Theorie imtersucht wurde. Indes diesen Untersuchungen
haUci bisher noch ein Mangel an^ sie sind nur Spezialuntersuchungen
— sei es, dals sie bestimmte Arten von Gewerkschaften, sei es
dals sie bestimmte Gewerkschaftsfragen, sei es schlielslich, dafs sie
nur die Gewerkschaften bestimmter Länder behandeln. Solche Be>
Dlgltlzed by Googl(^
KuLciuunu, W., Die Gcwcrkscliaflsbcwcgung.
flchränkung kann flir das einzelne Werk nie ein Vorwurf sein, so-
bald der begrenste Wert ihrer Ergebnisse eingerttumt wird. Aber um
eine wissenschaftliche Theorie der Gewerkschaftsbewegung herzustdlen,
um den Aufbau eines umfassenden Lelirgebäudes zu erm^ichen, muls
zu ihnen die vergleichende Durcharbeitung des ganzen einschläpgen
Materials iiinzukommen, die Ziisammenfassun»,' und Analyse der in allen
Ländern ermittelten Thatsachea und der auf Grund ihrer gezogenen be*
weiskräftigen Schlüsse.
Zu einer solchen, auf Zusammenfassung und \'crgleichung ])eru}K'n-
den Wissenschaft der Gewerkschaftsbewegung der gesamten Kuliurwclt
liefert nun das Werk Kulemanns ein bedeutendes Stttck grundlegenden
Materials. Es ist keine vollkommene Arbeit. Der Verfasser räumt selbst
eine Reihe von Mängeln ein, und wer den Titel des Buches streng
nimmt, wird unschwer noch andre finden. Eine in allen Punkten dem
Gegenstand gerecht werdende Darstellung der Gewerkschaftsbewegung
zu liefern ist eine Aufgabe, welche die Kräfte eines Einzelnen durchaus
überschreitet. So etwas konnte nur auf dem Woge kooperativen For-
schens geleistet werden, nach Art der kollektULii Krhcl)ungcn, denen wir
das Boothsche Werk über Leben und Arbeitsverliältnisse der ärmeren
Klassen Londons verdanken. \ ergegenwärtigen wir uns dies — die un-
geheure Schwierigkeit der Aul'gabe, und dafs es ein einzelner Mann war,
der sich ihr unterzog, dann werden wir uns nicht darüber aufeuhalten
haben, dafs sie Lücken und Irrtümer aufweist, sondern den Fleifs und
die Umsicht umso höher*schätzen, die es möglich machten, dafs das Werk
trotz alledem dem gesteckten Ziel so nahe kommt.
Ks ist ein schönes Stück Pionierarl)cit, für Praktiker wie Theo-
retiker der Gewerkschaftsbewegung und der So/ialixtlitik im weiteren
Sinne von aufserordentlichem Wert. Zum erstenmal wird uns hier
ein Leberljlick über die ( ic\verkschaftsbe\vcguiig der wichtigsten Kultur-
länder geboten, nicht nur inbe/ug auf ihre ziffernmäfsige Stärke und
ihre gröfsercn Kämpfe nach aufsen, sondern auch zu einem grofsen Teil
inbezug auf ihren inneren Werdegang, die Ausbildung und Natur ihrer
Vormen, ihren Zusammenhang oder ihre Beziehungen zur allgemeinen
(politischen etc.) Arbeiterbewegung und ihre Leistungsfähigkeit. Manches
ist da freilich nur erst angedeutet oder nicht für alle eingehender be*
handelten Länder gl i> I tnäfsig ausgeführt, und verschiedentlich kommt
das eine Llemcnt der .Vrbeit gegenüber dem andern zu kurz (wie etwa
hier und da das Linordncn des Materials gegenüber lilofseni \'ei zeichnen
von solchem oder von DelailschihlerungetiV Aber im ganzen erhalten wir
doch eine lebendige .\nsch.\uung von iler \ ielheit der Lormen, dem
Keichtum der (iliederung und der Ausdehnung des liethätigungsgebiels
der Gewerksdiaftsbewegung und werden in den Stand gesetzt, aus der
Vergleichung des Entwicklungsganges der Gewerkschaftsbewegung in den
verschiedenen Ländern und des Zusammhanges zwischen ihren Wirtschaft«
Digitized by Google
742.
Litt«retiir.
lidieiii politischen und ethnologiBch^ethischen Voraussetzungen und der
Gestaltung ihrer Formen, Arbeitsmethoden und \N'irkungskraft, Urteile zu
gewinnen hinsichtlic h dessen, was in ihr wesentlich ist, und was nur zu-
fällig — mit andern Worten, das in ihr oder für sie allgemein Geltende von
lokalen Besonderheiten zu unterscheiden. Von welcher Wicht iijkcit dies
ist, wird uns sofort klar, u enii wir nach Lektüre des vorliegemlen Buches
an Arbeiten iiher d;is Cleweikschaftsw cscn herantreten, welchen nur die
Eifahrungcn eines einzelnen Landes zu Grunde liegen oder als rnafs-
gebende Richtsdinur dienen.
Der Verteer hat sich in dem voriiegenden Bande in der Haupt»
Sache darauf beachrSnkt, die Materialien für solche Tergleichende Ana-
tomie und Phydologie des Gcwerkschaftslebens daimbieten. Die Publi>
kation der theoretischen oder prinzipiellen Ergebnisse seiner Unter-
suchungen sind dagegen einem zweiten Buch vorbehalten, mit dem
das untcrnonnnene Werk erst seinen Abschlufs erhalten soll. Allerdings
fehlt es aiH h in dctn Stück, das wir jetzt vor uns haben, nicht an
krilis( lu'ii licmctkungen und A^al\ ^en, so dafs es einen falschen Kiudi uck
erwecken lüefse, wollten wir d;is Buch kurzweg als eine Matciialicnsanini-
lung bezeichnen. Aber die Analysen gellen hier besonderen Erscheinungen
oder einzehien Seiten der Bewegung, nicht dem sich aus ihrer Zusammen-
fiosung ergebenden BUde. Oder aber der Verfasser giebt uns generelle
Urteile über die sozialpolitische Bedeutung der Bewegung als Ganzes,
die aber noch der näheren Begründung entbehren und in ihrer summa*
rischen Gestalt vorlaufig nur als Ansichten gelten können.
Ein solches summarisches Urteil ist der, l)ereits zu einer gewissen
Berüluntheit i^elangte, in andrer Form übri«;ens schon oft geäufserte Satz:
„iJie ( Icrterkschaftsbewegung ist der 'l'odtcind der Sozialdemokratie.'*
iS. 208.1 Der Verfasser \ erspricht ihm im zweiten Bande seine Be-
gründung zu geben, die Kritik hülle also nnt ilncn» Urleil zu warten,
bis dieser Band heraus i^ Indes ist der leitende Gedanke dieser Be-
gründung schon in dem Satz angezeigt, den der Verfiuser dem zitierten
Ausspruch vorausschickt, und mit ihm auch ihre voraussichtlich wunde
Stdle. „Zweifellos", heilst es da, „giebt es für jene staatsumstür-
zende Richtung, die allein auf dem Boden der Auflassung erwachsen
kann, dafs die bestehende Ordnung in ihrer Gnmdlagc verfehlt
und zu irgend welcher Besserung unfähig sei, keinen gefalir-
licheren Feind, als Bestrebungen, die auf dem Boden eben dieser
selben ( )rdnung eine solche Besserung h e r 1) e i z u fu Ii r e n und so
den schlagendsten Beweis für die Verkehrtheit jenes radikalen
Ausgangspunktes zu liefern suchen" (a.a.O.).
Wir haben hier diejenigen Stellen des Satzes, die (Ur den darin
ausgedrückten Gedankengang wesentlich sind, im Druck ausgezeichnet
Auf den ersten Blick sieht man, dafs er auf zwei ganz bestimmten
Pkjbnissen aufgebaut ist, die Todfeindschaft zwischen Sozialdemokratie
Kulcmann, \\'., Die Gewerkschafisbcwe{;ung.
745
und ( lewerkschaftsljeweguii}; von hcsiiinmten Eigens« haftt-n beider abhan^'ig
macht. Entsprechen sie diesen nicht, so würde sich auch die vermeint-
liche Todfeindschaft je nachdem in ein andres Verhältnis verwandeln.
Nun kann man das von den Bestrebungen der Gewerkschaftsbewegung
Gesagte innerhalb gewisser Grenzen gelten lassen. Wenn aber diese Be-
strebungen erfolglos oder ihre Erfolge in dauerndem Mifsverhältnis zu
den auff^cwetidcten Anstrengungen bleiben, so würde das schliefsliche
Ergebnis der Gewerkschaftsbewegung — und grade um dieses handelt
es sich hier — offenbar nichts weniger als Todfeindschaft gegenüber
der Sozialdemnkratie und iiiren Bestrebungen heifsen köimen, selbst oder
grade wenn diese der Kulemannschen Definition entsprachen. Ist dem
jedoch so? Oder trifft ni« ht Kulemnnn nur gewisse Auffassungen
von der Sozialdemokratie, die /.war an besiinuuten Pubhkatiouen dieser
eine Art Rückhalt haben^ aber mit ihrem faktischen Verhalten keines-
wegs unabänderlich übereinstimmen. Die Unverbesserlichkeit der be-
stehenden Ordnung war prinzipiell schon mit dem Marxschen Satz über
den Haufen geworfen, dafs „die jetzige (Gesellschaft kein fester Kristall,
sondern ein umwandlungsfähiger und beständig im Prozefs der Umwand-
hing begriffener Organismus" ist. Für den ("ies( hi< ht>-.< hreiber geht es
ni<;ht an, eine so grof'vc Bewegung wie d\c So/ialiKinnkratic schlechtweg
auf (Irund zeitweiliger Programme oder l ormcn ihres Auliretens zu be-
urteilen. Er tlarf sie nicht nach tlem beurteilen, fiir was sie sich /u
irgend einer Zeit selbst hält oder ausgiebt. Ihr geschichliicher Charakter
wird durch das Gesamtbild ihres faktischen Wirkens bestimmt, und das
ist in diesem Falle nicht der „Umsturz" des Staates und der gesellschaft-
lichen Ordnung, sondern ihre Umwandlung durch Demokratisierung, ihrer
Grundlagen. Wie die Gewerkschaftsbewegung selbst durchaus nicht an
starr abgegrenzte Ziele, P'ormen und Methoden des Vorgehens gelnmden
ist, sondern in allen diesen Punkten bedeutsame Entwicklungen durth-
gemacht hat und noch durrlnnacht, so auch die Sozialdemokratie. (Greift
man aus beiden I^cwcgungen {»estinnnte Si^e/ialt) pen heraus, so kann man
allerdings Gegens^U/e feststellen, wie sie schärfer kaum geilacht werden
köiuien. Dann hat man aber nicht Bewegung gegen Bewegung, sondern
nur das Verhältnis von Bruchstücken l)eider zu einander, aus dem sich
kein Schlufs auf die dauernden Beziehungen ihrer selbst ziehen läfst,
denn das dnzelne Stück zeigt noch nicht die Richtungslinie des (ianzen.
Ebenso falsch wäre es indes, aus homogenen Manifestationen beider Be-
wegungen kurzweg auf ihre grundsäuliche Gleichartigkeit zu schliefsen.
Der Unterschied ihres Arl)eitsfeldes und der von ihnen zu lösenden
Aufgaben bringt es mit sich, dafs auf allen Stufen der Entwicklurg
Gegensätze zwischen der Sozialdemokratie, als der politischen Arbeiter-
bewegung, und der ( Icwcrksc liaftsbewegung s])ielen können: sie sind im
latenten Zustande immer vorhanden. .Aber sie sind (icgensatze von Ab-
teilungen eines Lager.s, nicht gröfser wie etwa die verschiedener Regie-
biyiiizeü by Google
744
LiUcratur.
ningsämter zu einander. In der Welt der abstrakten Ideen würden sich
solche Gegensätze stets in divergierenden Lmien darstellen und so als Tod-
feindschaften zu bezeichnen sein. Die harte Realität aber hebt durch
(iegendriuk von andrer Seite die Divergenzen immer wieder auf. Kein
Arbeiter ist nur Gewerkschafter; das ( lewcrkscliaftsmit^lied ist immer
noch Staats])üri^er mit Interessen, die über die Sphäre der Gewerkschaft
liinaiisreichen. W as solhe daher den <^c\verksc.hafih( Ii organisierten Ar-
l)eiter zum grundsat/.Urlu ii (ir^ncr einer politisclien Arbeiterpartei mai hen?
Nichts, so lange er tiberliauitt nocli Ursaclie hat, Reformen zu erstreben,
denen die Gewerkschaft niclii gewachsen ist. So stimmen die englischen
Gewerkschaftler seit Dezennien regelmäfsig den Anträgen auf Bildung
einer unabhängigen politischen Arbeiterpartei zu. Wenn es in England
trotzdem noch zu keiner solchen Partei im groisen Stil gekommen ist,
so ist die Haupt Ursache darin zu suchen, dafs der politische Druck und
das Verhalten der andern Parteien bisher niclit der Art waren, um die
Arl)eiter zu veranlassen, sich unbesehen jeder Organisation zuzuwenden,
(He den Namen soziahstische oder Arbeiterpartei trug, und weil andrer-
seits CS noch an Vertrauen in die politische Kraft und umsich-
tige Leitung der l)estelH-n(lcn sozialistischen Organisationen fehlt. Die
Erfolge der englischen Gewerkschaften haben mit den geringen Erfolgen
der Sozialdemokiatie in England sehr wenig zu thun. Der gröfste rela-
tive Aufschwung der letzteren fällt in eine 2^it grofser gewerkschaftlicher
Erfolge. Aeufserstenfalls ist die Gewerkschaftsbewegung insctfem der
politischen Arbeiterbewegung antagonistisch, als sie ihr ein StUck Arbeit
abnimmt und damit ihre Funktion etwas verkürzt. Aber was sie ihr da
nimmt, gicbt sie ihr in andrer Hinsicht doppelt zurück.
\\ ir haben bei diesem Punkt so lange verweilt, weil die betreffende
Bemerkung Kulemaims sehr geeignet ist, die sachgeraäfsc Erledigung der
in der so/ialistischen .\rbeiterschaft Deutschlands zur Zeit siattfmdenden
J^iskussionen über die Gewerkschaftsfrage zu l)eintrachtigen. Das Wenige
bedingter Wahrheit, das ihr innewohnt, fällt gegenüber 6ea Irrtttmem,
zu denen sie Anlafs giebt, gar nicht ins Gewicht Bei Kulemann richtet
der Satz seine Spitze gegen die Feinde der Gewerkschaftsbewegung in
den Kreisen der herrschenden Klassen. Es giebt aber schwerhch in
deren Reihen noch viele Eeute, die sich einbilden, durch das Mittel der
Gewerkschaften der Sozialdemokratie an den Leib zu können. Die Aus-
rottung der Sozialdemokratie ist eine aufserhalb des Gel)iets der Mög-
lii likeiten liegende Idee. D is einzige, was die Regierenden können, ist,
auf X ermiinlcrnng der pe-isiinistisclieu .Auffassungen innerhalb der Sozial-
demukraiie hinzuwii ken. Lud dazu gehört unter anderem der Ver-
zicht auf jede Drangsalierung und jede Verfälschung der Gewerkschafts-
bcuegung. —
Bei der grofsen Fülle des StofTes, das der Verfasser zu bewältigen
hatte, war es fast unvermeidlich, dafs sich eine ganze Reihe von fak-
Digitized by Google
Kulemann, W,, Die (jL-werkschattibcwt-gung.
745
tischen Intüinern in seine Darstellung einschlichen. Sind die wenigsten
davon, die uns aufttiefsen, erheblicher Natur, so ist es immeriun wQnsch-
bar, dafs sie, ebenso wie eine grofse Anzahl nicht vorbesserter Druide-
fehler, in einer späteren Auflage ausgemerzt werden. Zu diesem Bdiufe
sei hier fol^jendcs berichtigt
S. 2 Note: Der 1S91 — von Tom Mann — in London heraus-
gegebene Trade l^nionist" ist nach etwa einem Jahre \vieiU-r einge-
gangen. S. i5 16: nie iMirdcrcr des (.'nglisihen Gewcrkschat'lswcsen.s,
Ed. S. Becsly und Ferd. Hanisun, hind iii< ht ChristUch-so/iale, sundern
Führer der enghschen Positivistenbeue^uug. S. 68: Der Hauptfiihrer
der Gewerkschaftsgruppe, die sich 1880 auf dem Kongrels von Hävre
von den französischen Sozialisten trennte, war nicht Clemenceau, sondern
ein gewisser Siebecker. S. 71/72: Dafs es die französischen Marxisten
waren, die auf den Gewerkschaftskongressen von Bordeaux (1888) und
Calais (1890) Beschlüsse zu Gunsten des Ceneralstrikes durchsetzten, be-
darf mindestens der Nachprüfung. Jene Kongresse waren nur insofern
„marxistisch", als sie nicln der ])ossibilistischen Fülirung folgten. Dies
ergiebt sich auch daraus, dafs, walucnd der mar.xistische Parteikongrefs
von 1S02 ^Marseille) den Cieiietal^trike verwarf, der gleichzeitig in der-
selben Stadt tagende sog. marxistische (ieweikschafiskongrefs sich für
ihn erklärte. S. 11 3/1 15: Die Darstellung der Vorgeschichte des Schweiz.
Arbeiterbundes bedarf, wie verschiedene Wider^rUche zeigen, der Nach-
prüfung. S. 118: der „Schweizerische Sozialdemokrat" wurde nicht von
Otto Lang in Zürich, sondern von Fr. Steck (nicht „Stock") in Bern
herausgegeben. S. 141 : Hier verschwimmt die Nieuwenhuissche Rich-
tung der holländischen Sozialisten in konfuser Weise mit der sog. par-
lamentarischen Sozialdemokratie, deren Standpunkt gegenüber den Cie-
werkschaften falsch dargestellt wird. S. 178: Der Satz ,,auch hat mau
sich — in Australien — im Interesse der nati(Mialen Arbeit zu hohen
Schut/zi»llen entschlossen'', ist nicht nur iheurelisch anfechtbar, sondern
aucli für die bevölkertste und wohliiabendste der australischen Kolonien
• — New South Wales — faktisch unrichtig. S. 184: Dafs die Briefe des
Dr. Max Hirsch in der Berliner „Volkszeitung*' von 1868 über die eng-
lischen Gewerkschaften den äuisem Anstofe zur deutschen Gewerkschafts*
bewegung gegeben hätten, ist ein Irrtum, der durch verschiedene, vom
\'erfasser selbst mitgeteilte Thatsachen widerlegt wird. Quellen über die
Vorgeschichte sind u. a. die „Coburger .Arbeiterzeitung" und das „Demo«
kratische Wochenblatt*'. S. 379: Dafs das Organ der „evangelisch-so-
zialen .Arbeitervereine Sachsens" „i>ächsische Arbeiterzeitimg" heiCst, ist
augenscheinlich ein Irrtum.
Wir sehen davon ab, ein Relcrat über den sachliclien bihait des
Kulemannschen >\erkes zu geben. Es genüge die Bemerkung, daf« es
für Deutschland auf Uber 300 Seiten in systematischer Gruppierung die
gewerkschaftlichen oder den Gewerkschaften in wesentlichen Punkten
Digitized by Google
746
Littcratur.
verwandten Arbeitervereine ausführlich und mit Vorführung vieler statis-
tischer Daten hinsichtlich ihrer Entstehung, ihrer Leistungen, ihrer inneren
Wandlungen und ihrer derzeitigen Stärke schildert. Den aufserdeutschen
Gewerkschaften konnte nicht der jjleiche Raum grewidmet werden, doch
' werden für die Hatiptländer immerhin recht ausrührlichc Abrisse geboten.
Eiii \vcrtvr»lle>?. sehr instrukti\es Ka])itel ist (kr den internationalen
B c / i (• h u 11 u c u der Ccwcrksc hatten ge\vi<hiu'te. hundert Seitcii aus-
füllende Alis< hnitt. Hier sehen wir ;nn deutHchsten, welch unendliche*;
Stiuk Arbeit die Gewerkschaftsbewegung noch vor sich hat, so dafs die
meisten der auf allgemeinen internationalen Rongresscn hinsichtlich dieses
Gegenstandes gefalsten Beschlüsse mit Ausnahme ganz vereinzelter Ge-
werbe noch nicht viel mehr sind als abstrakte Formeln, und dafs vielfach
zwischen der nationalen und der im vollen Sinne des Wortes intetnatio-
nalen Verbindung der Gewerkschaften als Zwischenstufe ein partieller
Internationalismus n<)tig wird, der längere Zeit auf eine Anzahl
benachbarter oder irgendwelche Aehnlichkeiten aufweisender Länder
bc'scluankt bleibt, '/ictnlich viel Raum ist ferner den Untcrnehmer-
V e r b i n d u n g <• 1 LTi vvichnct, obwohl es hier dem \'erfasscr besonders
schwer fiel, ausicK liendes Material aufzutreiben. Sind doch ein grol'ser
Theil grade dieser Vereine, wie Brentano es ausdrui kt, die eigentlic hen
„geheimen Verbindungen". Dann wieder kombinieren sich bei ihnen ge-
werkschaitliche, auf ihre Beziehungen zur Arbeiterschaft bezügliche Zwecke
mit solchen, die sich auf weitere Erwerbs- oder (leschäfbverhältnisse
(Materialbezug, Preisbildung, Versicherung u. s. w.) l^eziehen. Schliefslich
werden vom Verfasser noch die gemeinsamen oder vertragsmäfsig
verbundenen gewerkschaftliclien Organisationen von l^nterneh»
mern und Arbeitern behandelt, die Tarifverbände aller Art, sowie
die durch Staatsgc^ct/ für liestimmtc gewerbliche /wecke geschaffenen,
Arbeiter und Unternehmer utnfnssenden Herufsx ereiiiigungen.
Nachträge zu den verschicdnen Kapiteln, die das dort gebotene
Material vervollständigen, bilden den Abschlufs des Werkes. Wie schon
erwähnt wurde, ist es nicht in allen Teilen gleich ausgeführt, und manche
Punkte von Interesse sind kaum gestreift. So erfahren wir so gut wie
nichts über die positiven gewerkschaftlichen Leistungen der internatto*
nalen Gewerkschaf^sverbindungen, und das Wenige meist nicht da, wo
wir es naturgemäfs suchen. Indes wäre es unbillig, auf solche Mängel,
die sich dem Verfasser wahrscheinlich bei Veranstaltung einer ZH'eiten
Auflage selbst aufdrängen werden, besonderes (lewicht zu legen. Das
Buch ist, so wie es ist, eine grofse Bereicherung der sozial j)olitischen Lit-
teratur. Dafs es teilweise nur I>aten aus zweiter Hand ;,Mebt, hebt der
Verfasser seil)st hervor. Ks wäre thorichte F.itelkcit gewesen, erklärt er,
mit den vorhandenen Werken der Spezialliueralur in Konkurrenz zu
treten, und Originalstudien zu tueten, wo bereits Bearbeitungen des be>
treffenden Gebiets vorlagen. Zu einem Teil ist sein Buch daher nur Zusam-
Digitized by Google
Liebe nam, \V., Städtcverwaltung im rdmiscben Kaismeicbe.
menfassung uiul Krgän/ung von schon l>ekainiien Spe/.ialuntersucluinucn.
Was es aber aotchen verdankt, giebt es jener Litteratur dadurch zurück,
dafs es selbst wieder zu neuen Spc/ialuntersuchungen anreg;t, zu ver-
gleichenden Studien über bestimmte Seiten der Gewerkschaftsbewegung
in den verschiedenen Ländern, deren mannigfaltige Gestaltung es zum
erstenmal im Zusammenhange mr Anscliauung bringt.
Wenn der eigne Standpunkt des \'erfassers wiedcrliolt in seinen
kritischen Bemerkungen zum Ausdnu k komtnt, so ist doch im Ganzen
seiner Darstellung gro(se Sachlichkeit und Unparteiliclikett nachzurühmen.
London.
ED. BERNSTEIN.
Liehenamf IV. f StädteverwaltMig im rfimisehen Kaiserrtiehe, Leipzig.
Verlag von Duncker und Humblot, 190a
In seinen Untersuchungen luif dem Gebiete der Natn)nali)ki)iioi]iie
des klassischen Altertums ( Jahrb. für Xal.-Oek. und Statistik 1865,
Bd. IV S. 342 ff.) vergleicht Rodbert us das Jahrtausend von Augustus
bis SU den sächsischen Katsem mit einer Sedimentärscbicbt, die zwischen
den Völker- und Staatenarten der alten und neuen Zeit lagert. „Das
sodale Leben hat auch in dieser Umbildungsperiode seine Kontinuität
nicht verloren." Während die politischen Organe, so führt Rodbertus
aus, verkümmern und absterl»en, > glimmt tmter dieser verwesenden
Decke die eigentliche soziale Lebenskraft. — Um die Entwicklung des
so7ialen Lebensbestandes zu zeigen, bedürfte es einer vollständigen Sozial-
geschirhte dieses Zeitraums, einer Geschichte, deren .'Vufg ihe nach Rod-
bertus nicht sowohl darin besteht, der Menschheit .,S(hnit/cl", die
Haupt- und Staatsaktionen zu scliildcrn, als die „stille, aber unauthalt-
same Veränderung in Anschauungen, Sitten und wirtschaftlichen Verhält«
nissen".
Noch ist diese Brücke, die von alten zu neuen wirtschaftlichen An-
schauungen führt, nicht voltendet Um so dankbarer ist jeder Ver-
such zu ihrem Ausbau zu begrtifsen, zumal aus den ersten \bschnitten
der erwähnten Periode, wo der Forscher auf S( hritt und Tritt mit den
Schwierigkeiten der Quellencrschliefsung oder mit dem Mangel an Quellen
zu kämpfen hat. Hierin finden alle wirtsi haftsgeschichtlichen Arbeiten
aus dem .\ltertum ihre ilegrenzung und Einschränkung. Von den meisten
wird das gelten, was Pohl mann seinem bekannten Werke über die
UebervölkeruQg der antiken Grofsstädte vorausschickt : „wie bei den meisten
wirtschafts* und sozialgeschichtUchen Arbeiten auf dem Gebiete des Alter-
Digitized by Google
748
Litterahir.
tums wird auch hier das Ergebnis selbst der mühseligsten Sammlung
und umsichtigsten Kombination der in einer kaum übersehbaren Litte*
ratur der heterogensten Art zerstreuten Angaben mehr oder minder nur
Stuckwerk sein können".
Dies trifft auch nuf das vorliegende Werk zu. So wenig man dem
Vcrla^scr die Anerkennung für die überaus mühsame SamniluiiLr und
Siciuung des Materials, für die sorgfältige und wohlerwogene \ erw ei -
tung de^lben versagen kann, so wenig wird man ach darüber täuschen,
dafs auch hier nur ein Stückwerk vorliegt und vorliegen mufs. Dals
sich der Verfasser dieses notwendigen Uebels wohl bewufst ist, scheint
selbstverständlich. Da aber nicht immer das Bewufstsein des unzuläng-
liehen I^faterials vor allzu kühnen Schlüssen schützt, so sei der scheinbar
negative Vorzug oft grofser Zurückhaltung in den Urteilen rühmend her*
vorgelioben. Dies gilt vor allem da. wo noch /.ifl'ernmäfsige Ueher-
lieteruivu'en \<trlnL;cn und leicht /.u (>k' niotnischen Folgerur)gen \erleiten
konntc-n. Zumeist ist Liebenam hier dct (lefahr entgangen, um mit
i'ohlmann zu reden, „mit denen im Dunkeln zu tappen, die nun einmal
nicht darauf verzichten zu können glauben, für Thatsachen, die sich bei
der Natur der Quellen jeder quantitativen Bestimmung entziehen, einen
zahlenmä(^igen Ausdruck zu suchen".
Die Natur des Stoffes mufste der Disposition des umfimgreichen
Werkes mancherlei Schwierigkeiten bringen, umsomehr, als der Verfasser,
wie er sagt, hier allerhand sachliche Rücksichten zu nehmen hatte. Am
meisten wird man es mit dem Verfasser bedauern, dafs er nach den —
naturgemäfs vielfach lückenhaften — Kinzelaiisfuhrungen von dem (le-
s a m t b i 1 d des Stndtevvescus nur eine Skiz/e geben konnte. Ebenso ist es
/.u beklagen, dals in diesem Werke, das uns an so vielen Stellen den
veriuüignisvuUen Eiutlufs der Lage der Kurialen aul die Städteverwal-
tung und Bürgerschaft zeigt, einer ausführlicheren Betrachtung der Ktuie
kein Flau eingeräumt werden konnte. Dieser Umstand verbimden dami^
dafs die Materialnachweise oft, wie der Autor selbst einräumen muls, in
erdrückender Fülle auftreten, giebt einigen Abschnitten etwas Unorga-
nisches, dafs noch durch einige Mängel der stofflichen Anordnung sich
besonders fUblbar macht. Zu diesen Mängeln gehört es auch, wenn der
\'erfasser den an sich lobenswerten Grundsat/, von anderen geschildertes
nicht zu 'A iederholcii, allzu strikt durchfuhrt und dadurch mitunter Lücken
in '^ei^ler 1 Darstellung sciiatit. So hatte trotz der vorhandenen vorzüg-
liciien Ausführungen von Pohl mann wenigstens ein kurzes Resumc
über die auch im Altertum schon sehr bedeutsame Wohnungsfrage
nicht fehlen dürfen.
Die Stadt Rom scheidet überhaupt aus den Liebenamscben Unter*
suchungen aus. Gerade die römischen Wohnungsverhättnisse hat ja auch
Pöhlmann auf das eingehendste geschildert Für die kleineren und mitt-
leren Städte begnügt sich Liebenam mit dem Hinweise darauf, dafs sich
Digitized by Google
Li eben am, \V., StädtcvcrIt'aUung im römischen Kaiserreiche.
in anderen Gemeinden die Wohnungsnot nicht im entferntesten so bitter habe
geltend machen können, wie in Rom, Konstantinopel, Antiochia, Alexandria
und ähnlichen Weltplätzen, eine allsu allgemeine Vermutung, für die ein
näherer Beweb nicht erbracht wird. Dals es prinzipiell verkehrt wäre, das
Vorhandensein der Wohnungsnot auch in kleineren Städten zu bestreiten,
braucht hier nicht weiter bewiesen zu werden, und wenn man sich mit
Wahrscheinlichkeitsbehauptungen begnügen will, so trifft vielleicht auf
manche mittlere römische Stadt des Altertums das (icgenteil der Liebe-
namsclien Annafmir /u. Erwähnt der Verfasser doch scll)st ein [*augesetz
Zenos für Konstantinnpci, iil)cr die bei Neubauten zulassige Hauseiht)lu\
das infolge habsu( htiger Spekulationssvut erlassen sei, sowie weitere l>c-
stimmungen über Strafsenbreite und zur Verhütung sanitärer Mifiistände,
indem er dabei hinzufügt, dafs diese Gesetze zweifellos auch fUr manche
mittlere Stadt Geltung gewonnen hätten. — Umsomehr ist es zu
bedauern, dals der Verfasser diesen Spuren nicht weiter nachgegangen
ist und uns — zweifellos interessante — Ergänzungen zu dem Pöhlmann-
sehen Werke vorenthalten hat.
Einzelne Mängel der Anordnung zeigen sich auch bei der allerdings
sehr schwierit;en Einteihmg und Differenzierung der verschiedenen Zweige
der VerniögeiisverwaUung. So ist es nicht reclit ersichtlich, warum die
Getreideverteilungen nicht schon unter den Ausgaben für Wohlthätigkeits-
pflege figurieren. Bedenklicher noch ist die Einreihung von Beiträgen
der Städte zu den von den Landtagen bewilligten Ausgaben in den Ab«
schnitt über Ausgaben fUr Ehrenerweisungen. Nebenbei bemerkt hätten
gerade diese Beiträge der Städte etwas ausführlicher dargestellt werden
müssen. Derartige systematische Mängel stören etwas die Lektüre des
Buches, dessen Uebersichtlicfalceit ohnehin durch die sehr zahlreichen
Materialnachweisungen leidet.
Dafs im übrigen überhaupt kein ganz folgerichtiges System für die
Darstellung der städtischen Einnahmen und Ausgaben, sfiwie der Ver-
mögensverwaltung, der Hauptabschnitte des Werkes, innegehalten
werden konnte, ist nicht die Schuld des Verfassers allein. Die Schwie-
rigkeiten liegen hier zum Teil an der Art der Quellen, zum Teil an den
Thatsachen.
So liegt es, wie der Verfasser ausführt, vor allem an den geringen
Vorarbeiten und dem Umstand, dafs grofse Inschriftenschätze noch nicht
der Oeffentlichkeit erschlossen sind, wenn in diesem Werke keine
s)'stenuiti8che Darstellung der Munizipalver fassung, die ein
überaus notwendiges Fundament gewesen wäre, gegeben werden konnte.
An den Thatsachen wiedeniin mufste die systematische Darstellung der
Finanzen von Kommunen scheitern, bei denen die Gemeindesteuern nicht
streng von den Staatssteuern geschieden waren, und bei denen es keiti
richtiges Budget im heutigen Sinne gab. Die Kommunen selbst ent-
sprechen natürlich auch keineswegs dem modernen Bikie. — So erschweren-
üigiiized by Google
750
$choii zum Teil mehr formelle und systematische Gründe einen Ver-
gleich mit modernen Verhältnissen. Ueber die Art, wie derartige Ver-
gleiche gemacht werden dürfen, hat sich der Verfasser selbst in der \'or«
rede zu srint m Werke ausgesprochen. Dafs gerade in wirtüchaftlichea
Fragen die liegründunfi durch Analo<,ne nur mit grofser Vorsicht gc-
handhabt werden darf, darin wird man dem Verfasser gewifs bei-
stiininen. Ks wird auch wohl niemand gerade in die Verwaltung der
r»)iiiis( hi-n Städte viel Modernes iiineingeheimnissen uDÜen. Dafs manche
.Symptome, die mau oft geneigt war, für modern-grofssladtische Krank-
hettsbilder zu halten, schon im dten Rom zu finden sind, batPdhlmana
schlagend nachgewiesen. Dort wie hier die Brennpunkte: Wohnungs«
not und städtische Bodenpolitik. Und, wie es ganz selbstverständlich
erschdnt: im Altertum noch weniger Mittel, noch viel dürftigere Versuche
zur Abhilfe.
Mit der Berührung derartiger sozialer Ersi heinungen mufs natürlich
auch die Frage gestreift werden, in wie weit den wenigen, wirklii hea
\V o h 1 f a h r t s e i n r i c h t u n g e n , die uns das Bild des rötnis<-hen Städie-
lebens zeigt, ein sozialer Sinn /u Cirunde gelegen habe. Liebenam bekämpft
— im ganzen mit Keciit — die 1 h c r i n g s c h e Anschauung, dafs die antike
Freigebigkeit das Bestreben zeige, das verletzte Gefühl der unteren
Stände mit einem sozialen Unrecht zu versöhnen. Ebenso treffend ist
Liebenams Hinweis darauf, dafs noch heute im modernen Leben die
Klärung fehlt, wann und wie weit den Kommunalbehörden oder dem
Staate die moralische und geseulichc Pflicht obliegt, in Fragen der
öffentlichen Wohlthätigkeit einzugreifen.
Scheinbare W iders] »rüche vermögen nicht das Bild wesentlich an-
ders zu gestalten und den (llaulien an wirklii Ii tiefer gehende .soziale
Ideen in dem damaligen St.idteleben /u erwecken. Zu den wenigen
derartigen Zügen gehören einmal die bekannten G e t r e i d e sp e n d e n.
Gerade hier fehlt es aber, wie Liebenam ausführt, vielfach au dem nö-
tigen Material, um die Art der Komspenden in den Provinzstädten zu
beurteilen. Erwähnt sind freilich derartige Spenden für einzelne Städte.
Ebenso sind Nachrichten überUefert über Getreidehäuser und Kommaga-
zine an einigen Plätzen. „Leider fehlt es,** sagt der Verfasser, „um
diese Verbältnisse ausreichend würdigen zu kömien, so gut wie völlig
an zahlenmäfsigen Angaben über die einzelneu Bevölkcrungsklassen in
den St.uitcn : wir können deshalb nicht beurteilen, ob das verbunpte auf
Kornspenden .iiigewiesene l'rnlctariat vergleichsweise so zahlreicl\ war,
wie in der Hauptstadt. Man wird das im allgemeinen bezweifela
dürfen."
Weitere soziale Bestrebungen hat man in der Fürsorge für
K r a n k e zu finden geglaubt Es findet sich mehrfach Erwähnung städtischer
besoldeter Aerzte. Liebenam nimmt an, dafs diese Aerzte bedürftige
Kranke unentgeltlich zu behandeln hatten, eine Vermutung, die vor allem
üigiiized by Google
Liebenam, W., Studlcvcrwultung im rüniLsdicn Kaiäcrreiciic.
iur die spätttt Zeit nicht genügend von ihm belegt erscheint. Bedeutend
sicherer ist die Ueberliefening über die Öffentlichen Bäder, deren
Bedeutung im Altertum, und deren vor/.iio]ichc Einrichtung genügend
belcannt sind. Mit Recht rühmt der X'ertasser die Grofsartigkeit dieser
Einrichtuiiij gegenüber den vielfach dürftigen histituteii und der geringen
Auf.vcnduiig für diese Zwecke in vielen modernen Siadtcii. liier haben
die röniischcu Stiidte unleugl)ar Grofses gethan. Fa^l durchweg finden
sich grofsc Ausgaben für Frrichtuiig von Bädern, bauliche Erhaltung
der Anstalten, Heizung und Lieferuri!^ dc> Üelbedarfs. Eine liestimmimg
im Codex des Jtistinian weist darauf hin, dafs der dritte Teil der kommu*
nalen Einkünfte zur Reparatur der Stadtmauer und zur Heizung der
Thermen zu v^wenden sei. Eine Erleichterung wurde hier den Stadt-
kassen einmal dadurch zu teil, dafs die Heizung den Bürgern als ma-
nu s personale auferlegt werden konnte. Ferner griffen hier gerade
vielfach freiwillige Spenden von Htirgern ein , die auf die ver-
schiedenste Art ihre Fürsorge an diesen Anstalteti bethatigten:
diirrh Gewährung von Freibädern, Lebernahnie der Waiiserzufuhr, üel-
spendt n u. a.
Ein gründlicher Wandel m der Wo hlthätigkeits pflege hat
sich, wie der Verfasser ausführt, erst unter dem Emfiufs der christlichen
Religion vollzogen. Gemeinde und Kirche treten für derartige Bestre-
bungen ein. Die christlichen Kaiser proklamieren sie als R^gentenpflicht
Unter ihnen entstehen Waisenhäuser, Findelhäus», Spitäler für Greise,
Krankenhäuser u. a. Liebenam deutet diese Entwicklimg nur an, ohne sie
weiter zu verfolgen. Dagegen hat er einem höchst interessanten Institute
mehr Beachtung gesüiienkt, tlas freilich niclit eigentlich städtisi h war, sondern
auf kaiserlichen Stiftungen benihfc, de n A 1 i in t- n t a r i n s t i t u t i o n c n ,
tleren Begründung im wesentlichen vif Trajan zurück zu fuhren ist. Fiebe-
n.un verneint die Vernuuung, dafs uic iiahschen Gemeinden zur Teil-
nahme an diesen Stiftungen herangezogen wurden, hebt aber die Be-
teiligung städtischer Beamten an ihrer Verwaltung hervor. Die Ali-
.mentarinstituttonen, aus kaiserlichen Fonds und Schenkungen bestritten,
dienen zur Erziehung von Kindern bedürftiger Eltern oder von Waisen.
Gewöhnlich sind diese Stiftungen in der Weise sicher gestellt, dafs das
Kapital auf den Gnmdbesitz gegen roäfsige Zinsen hypothekarisch ein-
.getragen wird. Aus den bei Liebenam erwähnten Beispielen sei die
Stiftung von Veleia her\ orgchoben, wo im ganzen 281 Kinder mit den
Zinsen von 1044000 ScNtcrtien bedacht sind. Mehrfach findet das
kaiserliche ^>el■^piel Nachahmung durch l'rivatc. So giebt ein kaiser-
liciicr Prokuralor in .Sicca V eneria i ^00000 S. zu diesem Zwecke. — •
Die Altersgrenze, bis zu der Erziehungsspenden gewährt werden, wechselt
Die höchste Grenze ist bei Knaben 18, bei Mädchen 14 Jahre.
"Eine Betrachtung der weni|ren Zöge sozialer« FUrtorge luhit zur Er-
örterung zweier schon erwähnter wichtiger Faktoren des Gemeindelebeos:
Digitized by Google
753S
Litlcrutur.
dex munera und des privaten Eingreifens der Bürger. Eine Unter-
suchung äber diese Faktoren findet dann die Grenzen der wirklich so-
zialen Thätigkeit heraus, sie scheidet vielerlei aus, und fuhrt oft die frei«
willige Th rit ijjkeit auf ein recht bescheidenes Mafs zurück, Liebe»
nam hat die beiden erwähnten Erscheinungen treffend hervorgelioben
und geschildert,
Crerade das System der munera, der freiwillifjen oder geMetzliciieii
,\utlagen hat in der Kaiserzeit von Staats- und Gemeindewegen eine
sehr grolse Ausbildung erlaliren und immer wachsende Anforde-
rungen an die persönliche und pekuniäre Letstungsfiihigkeit der Bürger
gestdlt
Das System ermöglichte die Verwaltung des kommunalen Haushalts
mit relativ geringen Mitteln, wobei freilich der Wohlstand der bessersituter-
ten Kreise ruiniert wurde. Von einer genauen gesot/li( hen Ordnung und
Fixierung der munera ist nicht die Rede, obschon die Heranziehunjr zu
den munera liberhaupt nicht willkürlich, sondern nach Statut erfolrrt.
Ein Privilegiensystem gewahrt einer Reihe von Personen Hefreiun^en,
die aber zur Zeit der Not von den Kaisern aufgehoben werden können.
Vielfach wurden Versuche gemacht, sich durch VerraögensübertraLTun^
oder Auswanderung den immer drückenderen Lasten zu entziehen.
Versuche» die dann wieder erneute Strenge gegen die Säumigen zei-
tigten. —
Das Gesamtbild, das uns Liebenam über alle die Anforderungen
von Staat und Gemeinde an die Unterthanen entrollt, ist ein recht trau-
riges. Die ursprünglich antike Anschauung, dafs der Mensch nur des
Staates wegen lebt imd schafft, ist, wie der Verfasser sehr rirhtis:
ausführt, im römischen Kaiserreiche auf <lie Spitze gelrieben worden;
das Biir;4ertum erlahmte im harten Kauipte und wurde aufgerieben.
In\\ieucit an diesem Niedergange ein Steuerdruck Mitur>a< iie
war, entzieht sich unserer Betrachtung. \'on den Steuern, sowie von
den sonstigen Einnahmequellen der Gememden ist die Ueberlieferun^
sehr ungleichmälsig. Sie lälst uns oft bei wichtigen Einkunftsaiten im Stieb»
um über verhältnismälsig unbedeutende eingehend zu berichten. Ueberdies
ist» wie erwähnt, keine deutliche At^^renzung zwischen Reichs- und Ge-
meindesteuern zu erkennen. Liebenam hält Steuern und Zölle für in
der Kaiserzeit nur sehr bescheidene Finnahmequellen der Gemeinden.
Mehr und mehr nimmt der Staat die ertragsfahigsten Steuerobjekte zum
eigenen Nutzen in Beschlag. So kommt es auch zu keiner reichägesetz-
lichen Regelung des Kommunalsteuerwesens.
Von direkten Komraunalsteuern sind nach Liebenam sichere Spuren
überhaupt nicht zu finden, während die indirekten vielfach an den Staat
übergegangen sind. Die Zölle waren früher eine bedeutende Einnahme-
quelle der Gemeinden. Hie und da ist noch in der Kaiseneit eine
Vermehrung dieser Einnahmequellen zu Gunsten der Kommunen zu kon>
üigiiizeü by Google
Lieb« n am, W., Städteverwaltuag im römischen Kaiserreiche.
>tatieren. Es entscheidet bei der Gewährung politische Kiicksicht oder
kaiserliche Gunstbezeugung.
Quelleninäfsig sind vor allem Durchfuhrzölle und Hafen-
zölle nachweisbar. .Vusfuhrliche Darstellung findet bei Liebenara der
Zolharif von P a 1 ra y r a , das sich die Hebung von Landzoll und die
freie Verfügung darüber trotz Unterordnung unter Rom gewahrt hatte. —
Unsere Vorstellung des städtischen Finanzwesens mati naturgetnäfs auch
nach der tiberaus sorgfältigen Darstellung der einzelnen Zweige, wie sie
Liebenam gtebt, lückenhaft bleiben. Der Verfasser liefert ein kurzes
Resume: Es fehlt eine zifienunäfsiges Bild des Etats der Stadt-
gemeinde. Wir finden nur eine generelle Bezeichnung der Ausgaben
und Einnahmen ohne Bestimmung des Verhältnisses beider zu einander.
Ks fehh hier/.u an einem Material, wie es beispielsweise Ikickh in
seinem Werke ulier die Stantshaushaltung der Athener geboten war.
Im aligemeinen halt Lieljcnani die Ausgaben der römischen Städte
für geringer, als die der modernen. Es fehlen eine Reihe Ausgabe*
posten, wie Aufwendungen für Schule, Wohlthätigkeit, Polizei. Nur den
niederen Beamten werden Besoldungen gewahrt. Auf der anderen
Seite sind auch die Einkünfte geringer, vor allem das Einkommen an
Steuern.
Einen teilweisen Ersatz gewähren dafür die munera und die eben-
falls schon erwähnte private Opferwilligkeit der Bürger, die «ch in zahl-
reichen Stiftungen bethat lut.
F>s liefse sich auf das Liebenams( he /-iemlich allgemein gehaltene
Kesume allerlei erwidern, so z. B., dafs doch auch in dem Budget moderner
Städte eine Reihe der Ausgabeposten der römischen Städte natürlich
nicht figurieren. Aber es fehlt zu einer fnu hthaien Diskussion ebenso,
wie zu einer völlig entsprechenden \'ergleichuug der beiderseitigen Fi-
nanzen zu sehr an dem nötigen Material.
Nicht allein im Finanzwesen der Städte macht sich ein immer
weitergehender Einflufs des Staates geltend. Dieser greift aUnlhlich
in die ganze Verwaltung der Städte ein. Auf eme Zeit des allzu grofisen
Uebergewichtes Roms war eine Periode der Selbstverwaltung der Städte
gefolgt. Die Souveränität der Städte wird indessen mit der Zeit durch-
kichert« Mit dem Schwinden -der Selbständigkeit beginnt noch keines-
wegs, wie Liel)eiiam ausführt, der Niedergang der Städte. Schüdert
doch der Verfasser das erste Jahriuinderi nach Christus, eine Zeit, in der
Senat und Kaisei m lion dem Selbstliestiinnmngsrecht der Gemeinden gegen-
über, eine weitgehende .Macht ausübten, als eine Blütezeit des Stadtewcscns,
als eine Periode, in der ein frisches Bürgertum sich Bahn brechen konnte.
Diese Thatsache erscheint ebenso auffallend, wie die Erscheinung, daß
noch in einer Zeit der Ruhe und des Friedens, da, wie Liebenam sagt,
„eine Fülle von günstigen wirtschaftlichen Bedingungen gedeihlichen
Archiv für •<». GcMtsgebuag v. Statiitik. XV. 49
Digitized by Google
754
Litteratur.
Fortschritt zu verbürgen schien", an verschiedenen Stellen die Symptome
des Niedergangs der Städte zu Tage traten. Dies äufsert sich nach
Liebenam zunächst in der sich immer schärfer zeigenden Abneigung,
Beamter oder Ratsherr zu werden.
Schon von jeher unterhcaen die P.eaiiiten einer] sehr weitgelien-
deii analoji der Haftung des Vorniuiules aussei »ildi-ten Verantuorllichkeit.
Wie allmähHch mit dem wachsenden P'-intUHs des Staates auf' die städtische
Organisation die Beamten- und Ratsherrnstellcn mehr und nieiir \ün den
Trägern als drückende Last empfunden wurden, haben viele Schrift-
steller geschildert Guizot spricht von Gesetzen, „die aus der Kurie
ein Gefängnis machen, in dem die Dekurionen und ihre Nachfolger ein-
gekerkert sind".
Die Wahrnehmung der städtischen GeschäAe ist in der erwähnten Epoche
ausschliefslich an den (icmeinderat übergegantjeii, der bald genug
zum willenlosen Werkzeug des Staates wird. „I)ie sta.itliclie Omnipotenz,'*
sagt T.iebenam, ..(ibcrwuc hert /um schweren S( luulen des gemeinen Wohls
die Inirgciht lie l- reiheit , lahmt mit bleierner Last die einst vielver-
sprechende Kntwicklung und erstickt am Ende in despotischer Willkür
jede Regung unabhängigen Selbstbewufslseins." — Die politische Ent-
mündigung der Städte, wie Liebenam es nennt, wird dann noch vollen-
det durch die Einsetzung kaiserlicher KontroUbeamten, die vor
allem das städtische Finanzwesen tiberwachen. — Der Rat ist dem
Staate unentbehrlich geworden. Das begreift sich leicht aus der Stellung
der Kurialen, die für die pünktliche Zahlung der Steuern haftbar gemacht
werden, Fehlbeträge aus ihrem eigenen Vermögen ersetzen müssen und
sogar die .\bg.iben von verlnssenem, unliebautem Grundbesitz zu tragen
haben. Der Staat versieht den Kerker der Kurialen mit lesten Schlös-
sern und Rieuchi. Die Hefreiungen von der Kurie werden mehr und
mehr beschrankt und autgchoben. Die letzten Auswege werden versperrt
durch das Verbot, in den begünstigten Staml ' der Kleriker einzutreten
und durch Mafsregeln, die den Kurialen eine Veränderung ihres liVohn-
sitzes unmöglich machen. Wie dann die Kirche die Zersetzung des Bürgertums
vollendet, haben aufser Liebenam noch manche andere Autoren geschildert.
Nichts thut treffender den völligen Niedergang des Gemeindelebens und
der Selbstverwaltung dar, als die Uorte Guizots: „Ou les Ubertt^s ne
sont pas des droits, et ou les droits ne' sont pas des pouvoirs, il n'y
a ni droits ni libertt^s."
Mit der Schilderung dieses Niederganges mufs der Verfasser not-
wendig die Frage berühren, die den Schluissicin seines Werkes bildet,
die Frage nach den Ursachen des Unterganges der antiken Welt.
Der Verfiuser nimmt hier den verschiedenen Meinungen gegenüber einen
reservierten Standpunkt ein. Er verwirft dabei die bekannte Geschichts-
betrachtung, die in dem Luxus und der Sittenlosigkeit der oberen Kiassen
und des Hofe die Hauptursache des staatlichen Zusammenbruchs sieht.
Illeben am, W., StHcltcvcrwultung im römischen Kaiscrrciclic.
eine Anschauungsweise, die wohl schon län|^ als obeiflächlich gekenn*
zeichnet ist. Auf der anderen Seite tritt der Verfasser der materialisti*
sehen Geschichtsbetrachtung entfregen und i^Nricht dabei unter andoem
auch von den „vagen Ki L:t !)iiisseii moderner Soiiologie", die bei dieser
Geschichtsauffassung als vollwertige r.ewcise vorgebracht werdei! Deui
gegenüber sei bemerkt, dafs bei den von Liebenam vorgebrachten (iründen,
soweit sie das Kt">ultat seiner in diesem W erke niedergelegten Forschungen
sind, immerliin fiiii<4e >o/in]e Gründe etwas zu wenig liervortroten.
Dafs Liebenam den S t e u e r d r u c k nicht als eine bestimmte l r-
sachc des Niederganges betrat. iitet, kann nach seinen 1 )arlegimgen, nach
dem Hinweis auf mangelnde ziflcinmalsige Grundlagen, nur als richtig an-
gesehen werden. Ebenso wird man seiner — von anderen Darstellungen
nicht wesentlich abweichenden Schilderung der agrarischen Verhält-
nisse und des Einflusses derselben auf die wirtschaftliche Lage des Staates
beistimmen können. Bei dem Ausblick auf das Bfirgertum dagegen
genflgt wohl kaum der Hinweis auf des Verfassers früher gcäufserte Be«
merkung, dafs es an ausreichenden \'orkehrungen fehlte, die soziale Not
in weiten Kreisen zn iimiei n. Denn dort , wie hier, sind die Ausfüh-
rungen des \'erfassers /u s|Ȋrlii li in Anbetracht der gewichtigen Fragen.
Es .sei hier vor allem no( hmals auf die \\'ohnuiig>lrage hmgewicsen, in
der die alten Städte /.weifellos vielfach Analogien nnt den modernen
bieten. Sehr zu bedauern ist es, dafs der \ erfasser den Anregungen
Pöhlmanns: „Es wäre eine schöne Aufgabe, die Erwirkung der grofs*
städtischen Wohnungsnot auf die ethischen, sozialen, ökonomischen Zu-
stände der Bevölkerung näher zu verfolgen," nicht genügende Beachtung
schenken konnte. Für den modernen Nationalökonomen ist es eine un-
erUUsliche Forderung, bei Schilderung einer städtischen Verwaltung Bo-
den- und Wohnungsverhältnisse eingehend zu erörtern.
Trotz die-;en und anileren erwähnten Mängeln verdient das Liebe-
nnmsche Werk ein hohes Lob. .-Vus einem Chaos von Trümmern mit
sicherer Hand die einzelnen Teile hervorgeholt, sie mit einem geistigen
l-Jande verknüi>ft zu haben, dafür gebührt dem Verfasser ebenso grofse
.Anerkennung, wie für die Art der Darstellung, die fast stets auch
trockenen Stoti zu beleben vermag und sich an manchen Stellen zu
grofsem Schwünge erhebt.
Das Liebenam.sche W erk wird das Fundament sein, auf dem weiter
gebaut werden muls. Wie dies zu geschehen hat, darüber kann uns
seine Vorrede Aufschlufs geben. Es ist hier auch auf den Beginn mono-
graphischer Darstellungen der Gemeindeentwicklung in den einzelnen
Landschaften und wichtigeren Städten hingewiesen. Gerade diese Art
der Darstellung wird vielleicht am ersten über die interessante Frage
der 1 ortbildung und .Ausgestaltung der römischen MunizipaKerwaltung
in späterer Zeit Aufschlufs geben können. So können auf dem noch
49*
biyiiizeü by Google
756
Littcratur.
wenig bearbeiteten Gebiete bistorisch-kommunalpolitischer Forschung neue
Wege erschlossen werden. Mögen darum die reichen Anregungen, difr
das Liebennins( he Werk gewährt, auf fruchtbaren Boden fallen.
München.
KOBEK l HALLÜAR TEN.
LittSf Ifermann^ Das erste Jahr des dattsehm Ixmdersiehungs heims-
kei Usenburg im Han. Ferd. Dümmlers Verlag, Berlin 1S99.
— — , Das zweite Jahr des u.s.w. Ebenso, Berlin 1900.
«Si, en arrivant ... on est fraiipe du beau spectacle qu'ofiie le
Systeme de res nombreux ctablis^ements, crees par un seul panicuber . . .
et si Ton cprouvc un<* doiu e satisfaction en ronsiderant le tnhleau
d'ordre, d'artiviti-, d'harmonie ^ui s'v deploie de toutes parts, on est in-
trodiiit bientüt aux plus hautes meditations, lorsiju'on penctre ii saisit
]a pensce (jui a dirigc cette grande creation. Ceite pensce en effet est
puisie tout enti&re dans uns ordre de consid^ratioos gtfn^es sur IVtat
pr^nt de la soci^t^ en Europe et sur ses besoins Ics plus easentiels..
II ne Taut donc pas se boroer ä chercher ... un Etablissement local,
un Institut ordinaire d'^ducation, une ferme expdrimentale: il faut y voir
l*essai d'une gremae amHioration europienne^ un exemple tent^ et dcmne-
pour prdi>arer une regcneration morale dans notre age. So urteilte im
Jahre 1830 ein französisrher PhiU)soph (de Gerando) über Hofwyl,
die Schöpfung Feilenbt'rg>, deren staatspadairogische Bedeutung um jene
Zeit ,,von einer bedeutenden Anzahl der aii^gc/eichnetsten Fürsten. Staats-
männer und Staatsgelehrlen anerkannl" wurde. ') In der Thal giebt es
viele Zeugnisse von dem ungemeinen Aufsehen und Interesse, das jene
Anstalten erregt haben, von den grofsen Hoffnungen, die sich daraa
knüpften. Die Idee der „S o s i a 1 p ä d a g o g i k", die erst jüngst erneuert
wurde, war in der That ein Erbteil des ,,philosophischen Jahrhunderts'V
das im 19. Jahrhundert eine Weile noch mit Zärtlichkeit gehegt und
gepflegt wurde, um dann freilich mit so vielen „Schvvärratrcien" jefie&
Zeitalters in \'ergessenheit unterzugehen. Wird auch ihr ein neuer
Morgen mit dem Morgenrot des Jahrhunderts dämmern ? — Die N'ainea
Fellenberg und Pestalozzi wurden zu jener Zeit oft zusammengestellt;
man meinte, die beiden zusammen halten unermerslirhe Wirkungen er-
zielen müssen ; man sagte wohl, Pestalozzi sei der Maim des Gemütes,
Fellenberg der des Verstandes gewesen; richtiger dürfte es sein, jenen
1) K. H. Schcidlcr im Staats.Lrxikon (Rotteck und Wdcker) 1. Aufl.
S, 61.
Digitized by Google
Lictz, Hermann, Has erste Jalir des deutschen I^nder/icliungslicims etc. 757
als den Denker, ^esen als den Künstler der Erziehung lu bezeichnen.
FesUlocsis Geist wird in der Soeialpttdagogik wieder lebendig: Pestalozzi
fiir immer ! hören wir die Lehrer unser Volksschule rufen. Vielleicht ist
auch das Andenken Fellenbergs nicht für immer verloren gewesen. Wir
wissen nicht, oh zwischen A bb o t s h o 1 in e , das unserem ..Deutschen
I.anderzieiiungshcira bei Ilsenbur^^ am Harz." \'orl)ild ^^owesen ist, und
Hofwyl irgend ein genetischer /usammenhanj^, wenn auch weit veiinittelt,
besteht; eine Verwandtschaft der in diesen AnstaUen lebendigen
Ideen mit Fellenbergs grofscn Plänen, mit der edlen Gesinnung, der
genialen Energie, die ihnen flir mehr als ein Mensdienalter Gestalt Ter-
lieh, ist nicht zu verkennen.
Freilich haben wir hier nur hoffnungsvolle Anfänge vor uns. Was
aber ttber die Stiftung des Dr. Hermann Lietz mitgeteilt wird, ist wohl
geeignet, die wärmste Teilnahme zu erwecken. In kurzer Zeit ist ein
höchst achtungswertes Werk geschaffen worden. Der kühne Gedanke,
auf der Basis eines gemeinschaftlichen Lebens von Lehrern und
S* hulern den fjanzen Unterricht zu gestalten, in einem kleinen r,cniein-
wesen produktive Arbeit und möglichst vielseitige Ausbildung des Ver-
standes organisch zu verbinden, Emst und Spiel in freudigem Wirken zu
vereinigen, alles scheint sich bisher trefflich bewährt zu haben. Die Er-
ziehung soll hier ganz und gar sein, was sie ihrer reinen Idee nach ist:
ethische Erziehung oder, wie Natorp sagt, Erziehung des Willens» und
wie es in dem ersten Berichte (S. 19) selber heisst, „Erziehung zum
Idealismus, zur Liebe I" — Auf die schönen und dabei schlichten Worte,
in denen dies ausgeDihrt wird, sei hier als auf das Programm des Er-
ziehungsheims hinfrewiesen ; wir tinden uns eben da an Fellenbergs oft
wiederholten, in Kousseaus Sinne ^a'haltenen .\us.spruch erinnert, dafs es
gelte , „dem Civilisationsvcrderben ent^a gen/uwirken". — Die Hefte
werden auch sonst jedem, der sie durchblättert, Freude machen. Was
über die Debattierabendc, über die gemeinsamen Lekttiren, die Reisen
berichtet wird, dürfte manchem den Wunsch auf die Lippen bringen:
„hjtttest du es auch als Junge so gut gehabt". Möge, was hier unter
schwierigen Umständen erwachsen ist, was fortwährend mit Hemmungen
wird kämpfen müssen, trotz allem auch femer gedeihen und zur Xach-
eifening anregen ! Mögen auch Politiker und Gesetzgeber der Erkenntnis,
die hier offenbar wird, sich nicht verschlieisen!
Altona.
FERDINAND TONNIES.
üigiiized by Google
758
l.ittL'ratur.
KarptUSf Benno y Dr. Die mglisehen Fabrikgesetu, In deutscher
Ucbersetzung herausgegeben. Berlin, 1900, Verlag von
Emil Felben 482 S. 8«
In grofserer Vollständigkeit nls selbst die korresjiondierenden entf-
lisclieii \\'eike l)ietet diocs Huci» eine /usaiimu-nstcUun}; der Gesetze
und \'erordiiungcn , weiche in ihrer Cicsanitlicit und goj^enseitigen F.r-
gan/UDg den vorbeugenden Schutz darstellen, der den englischen ^\r-
beitem im Banfe von Staats wegen zu teil wird. Oder, wie es der
Verfasser im Vorwort bezeichnet, „in der Hauptsache jene Gesetze, zu
deren Durchführung die Fabrik- oder die Bergwerksinspektoren berufen
and*'. Durch Nachträge ist die Sammlung bis in die zweite Hälfte des
Jahres 1899 hinein ergänzt, so dafs das Buch auch darin über die vor-
handenen englischen Ausgaben hinausgeht. Kommentlerende Zusätze
und Noten geben über Abändeniniren und Ergänzungen der verschiedenen
(ic^et/e durch spätere (lesetzc^hcstimmungen, Wrordnungen und Gesetze
allucuieineren Charakters Auskunft. Hin ausführliches Register ermög-
liciit eine schnelle Orientierung ülier alle von den vorgefahrten Ciesetzen,
Gesetzesabteilungen und Vcrordnuugen behandelten Einzelheiten.
Entspricht so die Ausgabe in hohem Grade allen Ansprüchen, die
man inbezug auf die Sammlung und Anordnung des Stoffes an sie zu
stellen berechtigt ist, so ist über das Verdienst ihrer Veranstaltung selbst
gar kein Wort zu verlieren. Der Verfasser giebt in ihr ein Hand-
buch, das allen erwünscht kommen wird, welche sich ernsthaft mit den
Fragen des Arbeiterschutzes ])eschaftigcn : dem der dewerljehygienc zu-
gewandten Arzt wie dem ( lewerksi h:ift>!uhrer, dem 'l'heoretiker der So-
zialpolitik wie dem ( lesct/geber. ist Kngland auch nicht mehr in allen
ruiiklen des .Arlieiterschutzes führendes Land, so ist es doch auf sehr
wichtigen Gebieten desselben den meisten Ländern noch weit voraus.
So u. a. was die Organisation der Gewerbeinspektion anbetrifft, und so
auch in vieler Hinsicht durch die Genauigkeit seiner Schutzvorschriften.
Indem der Herausgeber sie in dieser schönen Vollständigkeit und Ueber>
sichtlichkeit dem deutschen Leser zugängig macht, hat er sich Anspruch
auf grofsen Dank erworben.
Was die Uebersetzung der oft imgemein schwerfällig formulierten
eiiL'li*' lien Gesetze anbetriflt, so ist sie im allgemeinen nur zu loben,
weiumleich sie nicht überall gleich frei von anglicistischen \N*endungen
ist. Auch manche Ausdrücke hätten wir etwas andi-is gewählt. So er-
schenit uns z. IJ. der Ausdruck ,,Mielsfabriken" iur „ Teneincnt factories"
nicht angemessen, weil es sidi bei den tenements um g^nz bestimmte
Arten von Mietsräumen handelt, nicht um fUr Fabrikszwecke gemietete
Lokale schlechtweg. Das „tenemenf* ist ein kleinerer Hausabteil, tmd
daher wäre „Fabriken in Hausabteilen" vielleicht zutreffender gewesen.
cy Google
Karpelcs, Kenno, Die englischen FabrilcßeM-tze.
759
Aehnlich inbesug auf andere Verdeutschungen. Aber das sind dem
Ganzen gegenüber Kleinigkeiten, die nicht ins Gewicht fallen, zumal der
Sinn der Ausdrücke meist aus dem Zusammenhange klar hervorsteht und
der Verfasser da, wo die deiitsrhc Sprache kein den Sinn des Eng-
lischen völHg treffendes Wort hat, t^ewoliiilich das letztere in Klammem
beigiebt. Wer da weifs, wcU he Schwierigkeiten der L'el)ersct/cr /u
überwinden hatte, kann ihn /.u der erfolgreichen Bewältigung derselben
nur beglückwünschen.
Der Verfasser schickt der Sammlung eine Einlcittm^ voraus, die
einen Abrißt der Geschichte, bezw. des Entwicklungsganges der eng-
lischen Fabrikgesetzgebung darbietet. Sie ist, soweit sie die Prinzipien
dieser Gesetzgebung und die auf den verschiedenen Entwicklungsstufen
ihr zu Grunde liegenden sozialpolitischen Auffassungen he-
leuchtet, ganz vortrefflicli. Die Analyse verrät da überall den scharf-
sinnigen Sachkenner und bildet eine höchst instruktive Einführung in
den (leist ilor englischen labrikgcNCtze.
Als weniger gelungen müssen wir dagegen diejenige Seite des Ab-
risses bezeichnen, die si( h mit der Ciiarakieristik der subjektiven Motive
der Geset/geber und der auf sie einwirkenden Elemente befafst. Hier
folgt der Verfasser hinsichtlich der ersten Phasen der Fabrikgesetz-
gebung im wesentlichen Marx, der aber gerade mit bezug auf den vor-
bezeichneten Punkt Personen wie Parteien nicht immer richtig beurteilt,
sie viel zu sehr im Uchte des abgeleiteten Begriffes bestimmter Klassen
geschildert hat.
So ist es z. I?. unrichtig, die Tories und die Radikalen des zweiten
Drittels de-, J.ihrliuiKlerts in der Weise als Freunde, bezw. Feinde der
Fabrikgeset/i^ebung gegenüheiziistellen, wie es der \'erfasser auf S. XXI
thut. I ielden, der unermiullic he Anwalt des Arhtstunden^t'setzes. den
er unter den Toiies aufführt, die die „Vater der englischen Fabrik-
gesetzgebung" seien, war ein entschiedener Radikaler, Oastier und Sadler,
ja, selbst Lord Shaftesbury waren „wilde" Tories, die im eigenen Lager
auf mehr Widerstand stiefsen als bei dem linken Flügel der Radikalen.
Die ZehnstundenbiU Fieldens wurde (1847) ^^^^ einem Ministerium
liberaler W higs (John Rüssel, Palmerston. Hobhouse, Karl Gre\ ) Gesetz,
und eine der berühmtesten Tarlamcntsredcn zu ihren Gunsten hielt der
jenem Ministerium angehörende „Whig" Macaulay. Allerdings waren
Cobden und Hrigiu ( iegner der Rill , aber sie gehörten darum noch
nicht generell zu den „erbittertsten" Feinden der Fabrikgesetzgebung.
Bright hat seinen Fehler spater offen eingestanden, und wenn er 18S6
wegen der Gladstoneschen Homerulebill aus der liberalen P^tei aus-
schied, so hatte dieser Schritt mit manchesterlichen Grundsätzen nicht
das mindeste zu thun. Der Verfasser giebt da ein durchaus irriges Bild
von diesem streitbaren ^Quäker. Irrig ist es femer, wenn er auf S. XV
schreibt, da6 1874 das Ministerium Gladstone durch die Stimmen der
76o
Litteratur.
Aibeitei gestürzt wurde, weil es sich geweigert hatte, für die gesetzliche
Anerkennung der Gewerkschaften einzutreten. Faktisch war gerade unter
diesem Ministerium das Gesetz (34 und 35 Vid. ch. 31) geschaffen
worden, dafs den Gewerkschaften einen gesetzlichen Status verlieh. Es
waren andere Punkte, welche die Arbeiter gegen Gladstone und seine
Partei erbitterten. Ol) aber ihre Stimmen ausgereicht haben, die liberale
Partei bei der Wahl von 1S74 zu stür/en, mufs als ziemlich zueifehaft
bezeichnet uerdon. Sie waren nur einer der Faktoren, welche jenes
Resultat hci htiln ii ten. Auf Seite XVII w ill uns die Motivierung des
Kintreieni» des l aluikanicn lennant für die Ausdehnung der schon in
der TextUindttstrie geltenden Schutzbestimmungen auf andere Industrieen,
als von Konkurrenzrttcksichten diktiert, nicht einleuchten. Vom Stand-
punkt der Konkurrenz hat der Textilfabrikant kein Interesse daran, dals
andere Industrieen denselben Beschränkungen unterworfen werden wie
die seine; eher umgekehrt.
Derjenige Teil des Abrisses, der sich mit der Geschichte der Fab-
rikpcsetzjjebunfj im letzten Jahrzehnt befafst, i^t von solchen V'ersfofsen
wie die vorerwähnten frei. Die Charakteristik und Kritik der Gesetzgeber ist
da ebenso sachlich wie die di r deset/e und ( '»csetzesvorschläge. Nur
hätte der Verfasser auch S. XXW'II zu der Kapitulation der Asquith,
Mundella, Burt in der Frage des Verbots der Nachtarbeit der Knaben
erwähnen dürfen, dafs es Deputationen von organisierten Arbeitern ge-
wesen waren, die sie herbeiführten.
Es ßült aufserhalb des Rahmens dieser Besprechung, aus den höchst
informierenden Analysen und Zusammenstellungen des Verfassers einzelne
Stücke herauszugreifen. Ebenso sei darauf verzichtet, den neuesten
l'abrikgcsetzentwurf des Ministers Mathew White Ridley, der die Fabrik-
pe-et/4;el)un;; wiedrr ein Stück vorwärts bringen sollte, nher \ve<:en ver-
schiedener Bestinuuunj(en von mindestens zweifelluUter icndenz von be-
rufenen Vertretern der Arbeiter scharfe Verurteilung: erfahren hat, an
dieser Stelle m resunueren. Der Entwurf, dessen Hauptfehler in den
Augen der Arbeiter und vieler sachkundiger SozialiefcHrmer darin be-
steht, dals er der Verordnung des jeweiligen Ministers ttberUUst, was
Sache genau bestimmter Gesetzesvorschrift sein sollte, tmd die Gelegen-
heiten zur Ausdehnung der Ueberzeitarbeit vermehrt statt vermindert,
ist soeben von der Regierung Tür die laufende Parlamentssession zurück-
gezogen worden, so dafs ab^a'wartet werden mufs, ob er in nächster
Session in gleicher oder modifi/ierter Form wieder ans Tageslicht kommt.
Fr intliielt unter anderm einen Paragraphen, nach dem nun alle
lieschafti^un^' von Knulern unter 1 2 Jahren in Fabriken und ^^'erk-
stättcn endgültig bedin;;un<,'slos verboten werden sollte, und eine Reihe
nützlicher Bestinitnungen hinsichtlich des Verbots gesundheitsschädlicher
.Ubeitsprozesse, zeichnete sich aber im ganzen durch seine Zaghaftigkeit
aus. Der Minister hat ihn in einem, an die Gewerkschaftsvorstände ver-
Bericht des Vorstandes der Akticnbaugeselkchaft fttr kleine Wohnungen etc. jr6x
sandten Rundschreiben zu vcHeidiL:cn fjesiicJu, ohne dafs es ihm indes
gelungen wäre, sie zum Abstehen von ihrer Opposition zu bewegen.
London.
ED. BERNSTEIN.
BerUhi des Vorstandes der Akticnbaugesiii>:hüft für kleine Wohnungen
in Frankfurt a. über die l'hatigkeit der Gcseilscliaft seit
ihrer Begründung am lo. Januar 1H90, sowie über das
10. Gcscliäftsjahr \ oni i. Januar l)is 31. I )e/.enil>er 1899.
8 74 S. nebst 5 tabellarischen und zeichnerischen Anlagen.
Frankfurt a. M. I9CX>.
Zu den Zeichen der Ausbreitung und Vertiefung sozialer Einsicht
kann man die nüchternere imd klarere Abschätzung so/.ialer Mafsregeln
rechnen, die gegenwärtig platzgegrift'en hat. \N as in einer älteren Gene-
ration einem so bedeutenden, volkswirtschaftHch vielseitig gebildeten
Statistiker wie Ernst Engel i)assieren konnte, dafs er angesichts eini-rcr
Experimente mit der Gewinnhi t<-ilif^un£i ausrief: „So ist denn die soziale
Frage keine Frage mehr; iliri' i.osung darf als erfolgt angesehen
werden . . ." (vgl. Arbeilerfreund V, 154J, wäre heute eine Unmüglich-
keit Dazu hat der Sinn fllr Perspektive tmd Propfnrttonen im Beteidi der
gesdlschaftlichen Probleme sich in der Zwischenzeit denn doch zu sehr
entwickelt Immerbin fehlt es auch jetzt nicht an bedenklichen Ueber*
Schätzungen, die nicht nur das Urteil Über die einzelne Erscheinung ver-
wirren, sondern auch zu einem HemmTiis «!er sozialpolitischen Fortschritte
überhaupt werden können. Die Anfänge der deutschen Arbeiterversichenmg
bieten das nächstliegende Heisi)iel. Getährlichem Ueberschwang ähnlirlier
Art entgegenzutreten, ist deshalb immer vertlienstlich,- ninsomehr wenn
sich das mit einer Kritik eigener tüchtiger Leistungen verbindet. Die
hier angezeigte Schrift verdient unter diesem Gesichtspunkt die Aufmerk-
samkeit der Sozialpolitiker.
Die Frankfurter Aktienbaugesellschaft für kleine Wohnungen bildet
einen gemeinnützigen Bauverein, der den Frivatvorteü ausschliefst, aber
nicht ein sog. Wohlthätigkeitsinstitut sein will. Die an die Aktionäre
zu gewährende Rente ist statutarisch auf 3*/^ Proz. beschränkt. Ins
Leben gerufen wurde die Gesellschaft unter dem Eindriu k der am Ende
der achtziger Jahre besonders empfindlich hervorgetretenen Wohnungsnot
in Frankfurt a. M. Aus Anlafs ihrer jetzt zehn Jahre dauernden Wirksamkeit
hat sie einen Bericht veröffentlicht, der im Rah?iien einer ('»eschichte
der Vcreinsthäligkeit, wenn auch nur in tiüchtigen Andeutungen die ent-
Digitized by Google
762
Lttteratur.
scheidenden Gesic litsj »unkte einer riclitigen Wuhnungspolitik hervorhebt.
Besonders beachtcuswcrt sind die Bemerkungen, die das rrogranini der
Gesellschaft enthalten und ndt Ui^>aitetUdikeit, von jeder Uebertreibcmg
fern, Leistungsfähigkeit und Wert der privaten Thätigkeit auf dem Ge*
biet der Wohnungsfrage abwägen. „Unser Ziel ist nicht Beseitigung der
Wohnungsnot ; ein soziales Uebel, wie es die Wohnungsnot und
die Wohnun;;steuerinig ist, (kann) stets nur durch Mafsregeln der AUge-
meinheity nie durch die Arbeit einzelner beseitigt werden. Was der
einzelne und was ein irenieinnützigor Verein schafTt, hat höchstens die
Bedeutung einer Hih'e im einzelnen, im besten 1 all die eines Versuchs,
einer Probe im kleinen, um festzustellen, ob die^e oder jene Mafsregel
ausfuhrbar ist und von der Geset/gebung oder der öffentlichen Ver-
waltung aufgenommen werden kann," heifst es in dem Bericht (S. 38 ff.).
Noch präziser wird die Aufgabe von Gesetzgebung imd Verwaltung in
den Worten ausgesprochen : „Wir gehen davon aus, dafs die Beseitigung
der Wohnungsnot in erster Linie Sache der gesetzgebenden Gewalt (Staat
und Reich), die i)lanmafsige Linderung in erster Linie Sache der Ge-
meinde ist . . (S. 6l Diese prinzipielle Klarheit veranlafste die
llaugescllschaft. daratif hinzuwirken, dafs die Gemeinde ihren Grund-
besitz ]ilaniii;irsi'^' erweitere, und gleichzeitig die Stadt sowohl wie die
öflentlii heil Stiftungen 'i errams zur Herstellung von Wohnungen für die
besitzlose Klasse hergeben, ohne ihnen das Eigentum und die \'orteile
der Wertsteigerung zu entziehen. Von Anfang an bemühte sie sich, die
Öffentlichen Verwaltungen zur Ueberlassung von Grundstücken für den
Wohnungsbau unter Vorbehalt des Rückfalls nach Ablauf einer längeren
Frist zu bewegen. Mit Benützung der Vorschriften des Büigeriichen
Gesetzbuchs über das Erbbaurecht (§ xoiaC) ist es endlich gdungen,
das Kath.irinenstift zur Hergabe eines grüfseren Terrains für die Dauer
von So Jahren zu veranlassen. Der hier von der Gesellschaft ziun ersten
mal beschrittene W eg ist ein vortreH !ii lier, und es wäre zu wünschen,
dafs von tlieser .Methode uberall ein nmuli« li'.t uiiit'.issender Gebrauch
gemacht wcrile. Xit:ht ohne lntcres^e ist es, iu ilem Bericht die Schil-
derung der Kampfe und Scliwiengkeiten zu verfolgen, die zu be-
stehen waren. Dank der veränderten Zeitströmung und nicht ohne die
Bemühungen der leitenden Personen der Gesellschaft hat eine Aenderung
der Anschauungen Über die Pflichten der Gemeinde sich vollzogen, und
an Stelle aktiven und passiven Widerstands tritt aUmählich in der Frank*
furter Stadtverwaltung eine noch freilich in sehr mäfsigen Grenzen sich
bewegende l orderung der Wohnungsj)olitik.
Neben ihrer allgemeinen Stellung verdient beachtet zu werden,
wie die bantrcselNrhaft im einzelnen ihre Aufgaben i rfüUte. Ks handelt
sich um Ihm hallung von W ohnungen für niedrig gelohnte .Arbeiter und
um das ri^blcm, allen wichtigen Forderungen der Hygiene zu ent-
sprechen und doch die Mietspreise im Einklang mit dem Einkommen
I
uiyiLi^ed by Google
Bericht des Vorstandes der AktienbaugcseUschaft für kleine Woluningen etc.
schlecht bezalilter Arbeiterkategorien zu halten. Das gelang sehr gut,
und die Gesellschaft konnte in ihren l)isher 37 Häusern mit 3S8
Wohnungen und 1909 Personen, die sie Ende 1S99 zählte, die Miets-
jjreise niedriger als die marktgängigen stellen. Der Bericht betont, dafs
dies keineswegs vuu dein Umstaud abhing, dafs sie als genicinuützige
■Organisation einige Privilegien und in der unentgeltlichen Arbeit des
Aufsichtsrats und Vorstands Vorteile vor privaten Unternehmungen ge-
nors. Ueberzeugend wird nachgewiesen, dafs der private Hausbesitzer,
welcher nicht wie eine Aktiengesellschaft zu Amortisationen und Abschrd-
bungen genötigt ist, die Wertsteigerung des Terrains im Unterschied von
einem gemeinnützigen Verein auszunutzen vermag, sehr wohl ebenso
billige Mieten festsetzen und dabei auf eine Verzinsung von ca. 6 Prot,
des angelegten Kapitals rechnen könnte.
Ik'uierkeiisu eil sind die Einrichtungen, die die (iesellschatt get rotten
hat, um iliren Mietern die Häuslichkeit zu einer mugliclist lieha^lii hen
zu gestalten und in Verbindung damit ihnen mancherlei Vorteile zu ver-
schaffen. Dahin gehört zunächst das Bestreben, die Mieter in gewissem
Maß zur Verwaltung der Häuser heranzuziehen. In jedem Baublock
wird von jedem Haus ein Mieter zum Obmann gewählt, und diese Ob-
männer bilden mit dem von der Gesellschaft bestellten Verw^ter den
Mieterausschufs. Nach deren Wunsch sollen diese Mielerausschüsse zu der-
selben Stellung gelangen, wie sie der \'orstand einer Arbeiterbaugenossen-
Schaft hat. Ks ist kein Zweifel, da^^ diese Institution, die sich anfalle^-
rade für die .Mieter so wichtigen internen Angelegenheiten der Häuser be-
zieht, den liewohnern ein (lefiihl wohltluiender Zusanmiengehorigkeit und
zugleich eine Sicherheit und Selbständigkeit verleiht, die sie in anderen
Mietshäusern niemals erlangen. Neben diesem glücklichen Gedanken der
Mieterausschüsse wurde der Versuch gemacht, die Bewohner eines Bau-
blocks zur gemeinsamen Beschaffung von Lebensmitteln zu bestimmen.
Um das durch zinslose Kredite zu erleichtem, wurde ein sog. Wohlfahrts-
fonds geschahen, der das Grundkapital für eine Art Einkaufsge'nofisenschaft
bilden sollte. Diese .\l)sicht verdiente, weiter verfolgt ZU werden, wenn auch
die genossenschaftliche Thätigkeit bisher über enge Grenzen nicht hinaus-
gelangt ist. In anderer Richtung hat der Verein durch Anlage von Bädern
und Was< hkiiclien in jedem Haus, durch Einrichtung von den Mietern
iiberlassenen Nutz- und Ziergärten, Rleichplätzen u. ilgl. ni. Niit/.liches
geschahen. Ganz besonderes Lob verdient es, dafs in Verbindung mit
anderen Vereinen der KimterfÜrsorgc Förderung zu teil wird, indem einem
Knaben- tmd Mädchenhort imd einer Kinderbewahranstait in den
Häusern der Aktiengesellschaft Unterkunft gegeben wurde. In einem
Block ist in dem mit ihm verbimdenen Vereinshaus auch eine Volksküche^
ein \ ersanmüungssaal für Vorlesungen und Konzerte, sowie eine Volks-
biblioihek mit einem Lesezimmer installiert worden. Daneben ist für
jeden Block eine kleine, verständig ausgewählte Bibliothel^ die alt und
Digitized by Google
7^4
LiUeratur.
jung 7\\r Verfiic^iing steht, voilianden, und für die neuen Bauten des
Vereins sind alinlu he und noch erweiterte Einriclitungen geplant.
So vcrdicnstlicli die Frankfurter Aklienbaugesellschaft wirkt, indem
sie für Angehürige der ännsten Schichten gesunde und billige Woh*
nungen enichtet und zugleich sich bemüht zeigt, den Standard of life
ihrer Mieter auf eine höhere Stufe zu heben, so darf man sich nicht
täuschen, dafs der eigentliche Wert ihrer Thätigkeit, gemessen an der
enormen Ausdehnung der Wolmmigsnot. weniger in der unmittelbaren,
wenn auch an sich sehr resi)ektal>len, Leistung, als in dem vortrefi'lichen.
von ähnÜrhen \'ereinen sie luitersi heidenden l»eis|)iel liegt, dns sie durrh
die un>:<'\vühnHche Art der Inangrittnahnie ihrer Aufgal)e und den ent-
schiedenen Hinweis auf die Unzulänglichkeit lediglich jirivatei Mafsnahuien
giebt. Ihre W irksamkeit erscheint uns gerade darum besonders wertvoll.
Die Klage des Berichtes über die ungenügende Unterstützung ge-
meinnütziger Bauvereine durch die Städte (S. 39) ist durchaus begründet
Man sollte es fUr selbstverständlich halten, dals Organisati<nien, ähnlich
der hier geschilderten, durch Befreiung von städtisdien Steuern und Ge>
bühren, durch Ueberlassung von städtischen Terrains u. a. m. Hilfe er-
halten. Die llcgünstigungen von seite des Staates sind geringfügig
genug, dafs alx-r die Kommunen noch dahinter zuriickhleiben, ist L^esien-
über den dringenden Tnteres.sen, um die es sich handelt, und dem Nut/eu
derartiger ("jcscllschaften angesichts der Zusammensetzung der Gemeinde-
vertretungen zwar l)cgreiriich, aber zugleich aufs schärfste zu verurteilen.
Man kann nur wünschen, dafs diese V erhältnisse sich ändern , und der
lehnreiche Bericht fiber die Wirksamkeit der Frankfurter Aktienbau-
gesellschaft zur Ueberwindung der Widerstände beitrage.
Berlin.
HEINRICH BRAUN.
t
I
Lippm ft Co. (6. P«u*»ehe Bocbdr.). Naumburf a, 8. f,
f
I
r
uiyiti^ed by Googlg