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Full text of "Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik"

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ARCHIV  FÜR 
SOZIALE 
GESETZGEBUNG 
UND  STATISTIK 


m 

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LIBRAECToFTHE 
OHIO  •  STATE- 
UNI  VE  R-SITY- 


I  r  M-  ■  K^i^^  I 


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ARCHIV 

FÜR 

80ZULE  6£8EiZ(iEBÜN(i  UND  8TA.TISTIK. 


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ARCHIV 

FÜR 

SOZIALE  GESETZGEBUNG 
UND  STATISTIK. 

ZEITSCHRIFT 
ZUR  ERFORSCHUNG  DER  GESELLSCHAFTUCHEN 
ZUSTÄNDE  ALLER  LÄNDER 

IN  VKKKIMU M;  Mll 

E1N£R  R£LHE  NAMHAbTER  FACHMÄNNER  DES, 
IN-  UND  AUSLANDES 

HJiKAUSGtGliiJEN  VON 

Dr.  HEINRICH  BRAUN. 


FÜNFZEHNTER  BAND. 

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CARL  KEYMANks'VfeRLAG. 

1900. 

BRUXELLES:  librairik  kubop^bnne  c.  MU«jUAUDT.  —  BUDAPEST:  kbroina.nd 
PTBTFRR  —  CHKIST/AiVIA :  H.  Asi  HKiiOL'(j  .Sc  CO.  —  J/AAG:  i.iiuiairib  bblinpantr 
WUMmms.  —  KOPENHAGEN:  andr.  fukü.  uost  son.  —  LONDON:  davio  nütt. — 
NEW^YORKiQMVtks  b.8tbchbrt.  —  PARIS:  u.lu  mysvaa^^ST^PBTBRSBORG: 
K.  L.  iionB.  —  ROM:  LonoHBB  &  00.  »  STOCKHOLM:  •amm«    wauai.  — 

WIBN:  lUnSOHB  K.  X.  HOVVML&oa-  OMD  ORIVlMnllSBOOHBAirOUniO.  —  ZÜRICH: 


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Nachdruck  und  lVbpr5«t7iing  vorbehalten 


•  ♦ 


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INHALT  DES  FÜNFZEHNTEN  BANDES. 


ABHANDLUNGEN. 

<>eiie 

Bernstein,  Eduard,  in  London,  Der  gegenwärtige  Stand  der 

Wohnungsfrage  in  England  6i6 

Cohn,  Dr.  Heinrich,  Rechtsanwalt  in  Berlin,  Das  preufsische 

Gesetz  betreffend  die  Warenhausstcuer  529 

L  o  t  m  a  r ,  Prof.  Dr.  Philipp,  in  Bern,  Die  Tarifverträge  zwischen 
Arbeitgebern  und  Arbeitnehmern. 

L  Einleitung   i 

II.  .Abgrenzung   5 

TIT.  Tnh.ilt  ■   u 

IV,  Abschliefsung   29 

V.  Vermittlung   42 

VI.  Koalition  48 

VII.  Vertretung  

VIII.  Rechtswirkung  M 

IX.  Zur  Gesetzgebung  1 16 

M ischler,  Prof.  Dr.  Ernst,  in  Graz,  (irundzüge  einer  allge- 
meinen staatlichen  Arbeitsvermittlung  für  Oesterreich. 

L  Die  Vorgeschichte  des  Gesetzentwurfs  2Ä1 

II.  Die  Vorfrage  der  legi.slativen  Kompetenz.  —  Das  lokal- 
kommunale und  das  territoriale  (»estaltungsmoment .    .  285; 
in.  Der  Gedanke  einer  allgemeinen  staatlichen  .Arbeitsver- 
mittlung im  Systeme  der  Vem'altung     .    .    .    .    .    .  290 

IV.  Die  Grundziige  des  Gesetzentwurfs  300 

V.  Die  .Aussichten  der  Verwirklichung  des  Gesetzentwurfs  .  318 
Pringsheim,  Dr.  Otto,  in  Breslau,  Landwirtschaftliche  Manu- 
faktur und  elektrische  Landwirtschaft  406 

Rauchberg,  Prof.  Dr.  Heinrich,  in  Prag,  Die  Berufs-  und 
Gewerbezählung  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  1895. 
Zweiter  Teil.    Berufsgliederung  und  soziale  Schichtung. 

IX.  Die  häuslichen  Dienstboten  123 

X.  Die  Familienangehörigen  ohne  eigenen  Hauptberuf.    .  129 

XI.  Ueberblick  über  die  soziale  Schichtung  der  gesamten 
Bevölkerung  1 38 


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VI  liil..ih. 

Ml    Dir  Nt'l)rncnvcrl)  .  .  ,  ,   ....  147 

XHI.  Die  StcUuDL;  tlci  l-iavu-n  im  Krwfibsleltcii      ....  ^32 
>il\*.  .\lter  und  l'amilicii-tand  der  Krwcihtli.itiuen  ....  373 
X\".  I  >as  ( daii)icii>lK.-kriintnis  der  t'.rwL-rljtii.ttiL:!.-!!   .     .     .     .  402 
Rauch  berg,  Prof.  Dr.  Heinricli,  in  Pra^.  Die  l.andwirtsc  haft 
im  Delitz«  hcn  Rci«'h.     Nacli  der  laiiduirls(  lial"tli(  hon  lU-triclis- 
Zahlung  im  Deutst  hcn  Reich  vom  14.  Juni  1895. 

I.  /..ihl  und  l'^lai  he  der  landwirtst  haftlii  lu-n  ]>otric!'e  .    .     ;  5 4 
II.  Die  Herul^\ erlialtnisse  der  Bctriel «-inhalier  und  <iie  land- 

wirtsf  lialtlichen  Nebenuewerhe  570 

III    ])ie   l'>csit/\iTh:i1lnisse  578 

I  )ie  Podenbenul/ung  585 

V.  Die  Nut/viehha!iung   .  5S9 

VI.  Verwendung  von  landwirtschaftlichen  Maschinen  .    .    .  505 
Sehul/.,  M.  V'in.  (ie\ver]>erirhter  un(i  \"orsit/ender  de^  ( iewerbc- 
■,^erichts   i^erlin.   l'eber  Srhied>\ ertrai^e   der    ArbeitL'eber  und 
Arbeitnehmer  nach  dem  deutschen  (»cwerbc^'erielnsi^e^et/  und 

der  Reirh>ci viliiro/efsordnung  ^mS 

Vand  er  Velde,  Prof.  Dr.  Emil,  Mitglied  der  Deputiertenkammer, 
in  Brüssel,  Das  Grundeigentum  in  Helgien  in  dem  /.eitraum 
von  1834 — 1899  419 

GESETZGEBUNG. 

Dänemark.  Das  Gesetz  über  das  Recht  zu  Zeugenvernchimmgen 
für  gewerbliche  St  hietlsgerichte.  Von  Adolph  Jensen^  Sekretär 
des  statistischen  .Xmtes  in  Kopenlia^en  677 

Deutsches  R  e  i  c  h.    Das  deutsche  Invalidenvcrsichcruiigsgesetz 

vom  13.  Juli  iSug.    ^  on  Dr.  £rnst  Lauge,  in  Berhn   .    .    .  170 

Wortlaut  des  Invalidenversicherungsgesetzes  vom  13.  Juli  iSg»)      .  188 

Die  Novelle  zur  Gewerbeordnung  vom  30.  Juni  1900.  tangeleitei 

von  Hermann  Molkenbuhr,  Mitglied  des  Reichtags,  in  Ottensen  Ö53 

Wortlaut  des  (leset/es  betr.  die  Abänderung  iler  Gewerbeordnung 

vom  30.  Juni  1900  666 

Grofsbritanuien.  Die  La;:e  der  Dadengehilfen  in  Knuland 
und  das  Gesetz  über  die  Hesch.itlüng  von  Sitzgelegenheit  für 
weibliche  1  .adengeliilfen.     \'on  Eduard  Bernstein,  m   London  247 

Wortlaut  des  Gesetzes  betr.  die  liesi  haffung  von  Sitzen  lur  den  (Ge- 
brauch \on  Ladenangestellten  vom  9.  August  1S99  ....  256 

Preufsen.    Die  Erweiterung   der  Zwangserziehung.     Von  I*rof. 

Dr.  Ferdinand  Tönnies,  in  Altona  45 S 

Wortlaut  des  l'jitwurfs  eines  Ge.setzes  über  Zwangserziehung  Minder- 
jähriger. Dem  preufsischen  Herrenhaus  am  8.  Januar  1899 
vorgelegt  485 


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Inhalt  vn 

Seit« 


Hofmann,  Dr.  Emil,  Nationalrat  in  Frauenfeld,  Die  Ergebnisse 

der  schweizerischen  Wohnungsenquiten  684 

Lange,  Dr.  Ernst,  in  Berlin,  Die  Statistik  der  Unfall*,  Atters- 
nnd  Invaliditätsversichcning  im  Deutschen  Reich   filr  das 

Jahr  1897  490 

Misch I er,  Prof.  Dr.  Kr n st,  in  Graz,  Üie  Gewerbeinspektion  in 

()esterrei(  h  im  Jahre  iSgS   ,    25 j 

Paszkowski.  Di.  Wilhelm.  Hilfsbibliothekar  der  Kgl.  liibliothek 

in  ßeriiu,  Die  Hugo  Heiuiaim.sche  öffentliche  Bibliothek  und 

Lesehalle  in  Berlin  267 

Winter,  Dr.  Fri.tz,  in  Wien,  Die  Heimarbeit  in  der  öster- 

reichnchen  Konfektionsindustrie  725 

LITTBRATUR. 

Asch  r  Ott,  Dr.  1'.  K.,  Die  Zwangserziehung  Minderjährijj;cr  und 
der  zur  Zeit  vorliegende  Gesetzentwurf.  Besprochen  von  Prof. 
Dr.  Ferdinand  Töttnies,  in  Altona  510 

Bericht  des  Vorstandes  tlet  AkticiilKuigcsellschaft  fiir  kleine 
Wohnungen  in  I  raukturt  a.  M.  über  die  Thatigkeit  der  Gesell- 
schaft seit  ihrer  Begründung.  Besprochen  von  Dr.  Heinrich 
Bmn,  in  Berlin  761 

Karpeles,  Dr.  Benno,  Die  englischen  Fabrikgesetze.  Besprochen 

v(m  Eduard  Bmuieith  in  London  758 

Kulemann,  W.,  T.andgerichtsrat,  Die  Gewerkschaftsbewegung. 

Besprochen  von  Eduard  Bernstein,  in  London  740 

Lage  der  Holzarbeiter.  Ergebnis  statistischer  Erhebungen  fiir  das 
Jahr  180.5  veranstaltet  vom  Deutschen  Hol/arlieitervcrband.  — 
Die  Lage  der  Hol/.arbeiler.  Nach  statistischen  Erhebungen  für 
das  Jahr  1897,  herausgegeben  vom  Vorstand  des  Deutschen 
Holzarbeiterverbands.  —  Die  Arbeitsverhältnisse  in  der  Gerberei 
und  L«derfilrberel  Dargestellt  auf  Grund  statistischer  Erhebungen 
des  internationalen  Sekretariats  der  Lederarbeiter  und  auf  Grund 
anderer  Materialien.  Besprochen  von  Dr.  Omens  ffe^Sy  in 
Berlin  271 

Liebenam,  W.,  Städteverwaltung  im  römischen  K.nserreich.  Be- 
sprochen von  Dr.  Robert  Ifallj^arten,  in  München    ....  747 

L  i  e  t  z ,  Dr.  H.,  Das  erste  Jahr  des  deutschen  Landerziehungsheims 
bei  Ilsenbur«:  i  H. 

—  — ,  Das  zweite  Jahr  etc.    Besprochen  von  Prof.  Dr.  Ferdinand 

Tönnies j  in  -\ltona  756 

Tugan-Baranowsky,  M.,  Geschichte  der  russischen  Fabrik. 
Besprochen  von  Prof.  Dr.  B^rh  MinüSf  in  Sofia  515 


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Verzeichnis  derjenigen  Autoren,  die  zum  XV.  Bande  Beiträge 

lieferten. 


Bernstein,  £.,  in  London,  247,  616, 

740,  758- 
Braun,  H.,  ia  Berlin,  761. 
Cohn,  H.,  in  Berlin,  539. 
Hallgarten,  IL,  in  München,  747. 
Heifs,  C,  in  Berlin,  271. 
Hofmann,  K,  in  Frauenfeld,  684. 
Jensen,  A.,  in  Kopenhagen,  677. 
Lange,  E.,  in  Berlin  170,  490. 
Lotmar,  Ph.,  in  Bern,  i. 
Minzds,  B.,  in  Sofia  515. 


Mischler,  E.,  in  Graz  257,  281. 
'  Molkenbuhr,  H.^  in  Ottensen,  653. 
|Paszkowski,  W.,  in  Berlin,  ^6^, 
l  Pringsheim,  O.,  fai  Breslau,  406. 
I  Rauchberg,  H.,  in  Prag  123^  332, 
'  554. 

I  Schulz,  M.  von,  in  Berlin,  598. 
Tönnies,  F.,  in  Altona,  458,  510, 

756. 

Vandervelde,  E.,  in  Rüssel,  419. 
Winter,  F.,  in  Wien,  735. 


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Die  Tarifverträge  zwischen  Arbeitgebern  und 

Arbeitnehmern. 

Von 

PHILIPP  LOTMAR. 
Profc>sor  in  Bern. 

I.  Einleitung. 

Die  Tarifverträge,  Tarifvereinbarun<:(en  oder  Tarifj^cmcinschafteo 
zwischen  Arbeitgebern  und  Arbeitneliinern  bilden  einen  Gegenstand, 
der  aus  mehr  als  einem  Grunde  einer  juristisclien  Behandlung 
würdig  und  bedürftig  ist. 

Die  Erscheinung  auf  dem  Arbeitsniarkt,  um  die  es  sicli  dabei 
handelt»  verdient  die  Aufhicrksamkeit,  welche  ihr  hier  gewonnen 
werden  soll,  schon  wegen  der  Häufigkeit  ihres  Vorkommens.  Sie 
ist  in  England  bereits  im  vorigen  Jahrhundert  x  ereinzelt  aufgetreten,^) 
während  des  neunzehnten  in  immer  anwachsender  Zahl  in  allen 
Industrieländern  wahrzunehmen  j^^^nvescn,  und  namentlich  inDeut-rli 
land  haben  sich  in  den  letzten  Jahrzehnten  die  Abschlüsse  wie  die 
Versuche  zu  Abschlüssen  von  Tarifverträgen  in  fast  allen  Gewerben 
dermafsen  gehäuft,  dals  sie  alltä{,'liche  Vorkommnisse  auf  dem 
Arbeitsmarkt  geworden  sind.  Diesen  Kindruck  muüs  jeder  gewinnen, 
der  in  den  Jahresberichten  der  Fabrikinspektoren,  in  dei^  Zeit- 
schriften und  Zeitun;^en,  die  über  flie  Arbeiterbewegung  belehren, 
die  Angaben  beachtet,  die  über  laufende  und  abgelaufene  Lohn- 
bewegungen gemacht  werden.  Aus  anderen  Quellen  mag  zur  Be- 
stätigung beispielsweise  angeführt  werden ,  dals  allein  die  Stein- 
arbeiter Deutschlands  während  eines  Jahres  in  23  Orten  Tarif- 


')  Brentano,  Arbcilcrgildcu  II.  267. 
Archiv  für  m».  CeMtf gebung  u.  Sutitiik.  XV.  1 


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3 


rhllipp  Lotmar. 


vertragsverhandlungen  geführt  haben ; die  deutschen  Maurer  haben 
im  Jahre  1S97  an  124  Orten  und  im  Jahre  1898  an  189  Orten  mit 
ihren  Arbeitgebern  solche  Vertragsvcrhandlungen  untemomm*en  und 
grofsenteils  zu  pasitivem  Abschlufs  gebracht.*) 

Es  ist  natürlich  nicht  die  Frequenz  an  sich  seines  Vorkommens» 
was  den  Tarifvertrag  einer  litterarischen  Betrachtung  wert  macht, 
sondern  die  praktische  Bedeutung,  die  sich  mit  jedem  solchen  Her- 
gang verknüpft.  Und  zwar  handelt  es  sich  dabei  nicht  nur  um 
zerstreute  Wirkungen,  um  den  Einflufs  auf  das  persönliche  und  be- 
rufliche Wohl  und  Wehe  von  mehr  oder  weniger  zahlreichen 
Arbeitgebern  und  Arbeitnehmern.  Vielmehr  verbinden  sich  mit 
dem  Tarifvertragswesen  konzentrierte  Massenerscheinungen,  die  ge- 
wöhnlich als  Störungen  des  sozialen  Friedens  angesehen  werden 
und  jedenfalls  Verkehrsunterbrechungen  auf  dem  Arbeits-  und  dem 
Warenmarkt  bilden  oder  hervorrufen  können.  Denn  zwar  nicht  in 
allen,  aber  doch  in  den  meisten  Fällen  giebt  ein  Tarifvertrag  den 
Ausgangspunkt  und  den  Endpunkt  von  Ausständen,  Aussperrungen 
und  Sperren  ab  und  damit  den  Anlafs  zu  den  mannigfaltigen  Hülfe- 
mafsregeln,  die  zur  Unterstützung  jener  Kamplaktionen  gebraucht 
werden.  Sehr  oft  z.  B.  kommt  es  darum  zu  einer  Arbeitsnieder- 
I^ung,  weil  der  Arbeitgeber  die  Einlassung  auf  eine  Tarifvertrags- 
verhandlung verweigert,  oder  weil  er  eine  ihm  gemachte  Tarif- 
vertragsproposition ablehnt,  oder  weil  er  einem  geschlossenen  Tarif- 
vertrag nicht  beitritt,  oder  weil  er  einen  für  ihn  verhiiKlIichen  Tarif- 
vertra«^'  nicht  einhält,  und  andererseits  bcifeutct  der  Abschlufs  eines 
Tarifvertrags  in  vielen  Fällen  die  Wiederaufnahme  der  Arbeit  und 
die  Wiederanstellung  entlassener  oder  ausgesperrter  Arbeitnehmer. 
Der  ferner  stehende  Rcol^achter  läfst  sich  durch  die  crwälinten 
Massenerscheinungen  blenden  und  verleiten,  bei  den  aufTallenden 
Kämpfen  das  weniger  auffallende  Kampfobjekt  zu  übersehen, 
welches  meistens  ein  zu  schliefsender  oder  geschlossener  Tarif- 
vertrag ist. 

Endlich  lehrt  die  Erfahrung,  dafs  ein  zum  Abschlufs  kommen* 
der  Tarifvertrag  nicht  blofs  unmittelbar,  nämlich  auf  die  Teilnehmer 

^)  Auszug  aus  den  statistischen  ErbebttsgCD  über  Lohn-  uixl  Arbeitsverhältnisse 
der  Steinarbeiter  Deutschlands  vom  1.  Oktober  1896  bis  y).  September  1897  (Beriia» 

Pos«k*-l)  S.  i  ;,. 

-'  Protokoll  des  5.  > inientlichen  Verbanclst.iges  des  Zentrah crbandcs  der  MaoiW 
und  verwandter  Berufsgeouäseo  Deutschlands  (Hamburg  1S99J  Ö.  41 — 65. 


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Die  TarifvertrSce  swiscfaen  Arbeitgebem  und  Arbeitnehmern. 


3 


und  die  nächste  Zukuiifl  wirkt,  sondern  dafs  er  auch  das  Prinzip 
solcher  kollektiver  V  c  r  t  r  a  s  c  h  1  i  e  fsu  n  kräftigt,  indem 
er  einen  Fräccdcn/fall,  ein  X'orbild  schafft  und  die  Leistuni^sfähigkeit 
flieses  Wrfahrens  demonstriert :  hierdurch  x  crmai^  er  weit  über  sich 
selbst  hinaus/uwirken  und  der  Ausbildung  des  Tarifvertrags  als 
.einer  Institution  X'orschub  /u  leisten. 

Flin  Gegenstand  von  solcher  I  hiufigkeit  und  IVagweite  v  erdient 
gcwils  eine  wissenscliatiliclie  Bcliandlung.  Allein  eine  juristische 
d.  h.  zu  den  Zwecken  und  mit  tlcn  Mitteln  der  Jurisprudenz  er- 
folgende sclieint  bisher  nicht  hervorgetreten  zu  sein.  Die  theoreti- 
schen Oller  praktischen  Nationalökononien  und  Sozialjjulitiker  haben 
sich  mit  dem  l  arifvertrag  in  Rücksicht  auf  die  Vorteile  beschäftigt, 
tlie  er  innerhalb  einer  Volkswirtschaft  mit  freier  Konkurren/  tlen 
Urhebern  der  Arbeitsverträge  und  namentlich  den  Arbeitern  zu 
l)ieten  vermag.  Auf  diese  Seite  der  Sache  hat  vor  bald  dreifsig 
Jahren  Brentano  ]lingewie^en  ')  und  seitdem  mit  unablässigem  iüfer 
das  Prinzip  der  Tarifverträge  verfochten  und  seine  Verwirklichung 
empfohlen.  Neuerdings  haben  S.  und  B.  VVebb  sich  ausführlicher 
mit  der  Sache  befafst,  die  Wirksamkeit  der  von  ihnen  so  genannten 
kollektiven Vertragschliefsung  und  den  Hergang  anschaulich  dargelegt.*) 
Bei  Brentano  wie  bei  Webb  erscheinen  die  Tarifverträge  nur  im  Zu- 
sammenhang mit  dem  Walten  von  Gewerkvereinen  und  von  Arbeits- 
oder Einigungskammern.  Und  die  Thatsachen,  die  sie  anführen,  im 
Auge  haben  und  zur  Grrundlage  ihrer  Schlüsse  und  Urteile  nehmen, 
sind  den  von  den  deutschen  verschiedenen  grofebritannischen  Verhält- 
nissen entnommen.  Die  fragliche  kollektive  Vertragschliefsung  wird 
uns  als  ein  Hauptstück  in  der  Politik  der  englischen  Gewerkvereine 
geschildert.  Diesen  Gewerkvereineo  läfet  sich  nach  Reichtum,  Er- 
probtheit  und  Handlungsfähigkeit  auf  deutschem  Boden  einstweilen 
nur  etwa  der  deutsche  Buchdruckerverband  an  die  Seite  stellen. 
Wo  daher  von  Brentano  oder  unter  seinem  Einflufs  der  Tarifvertrag 
im  Hinblick  auf  Deutschland  erörtert  worden  ist,  haben  die  Vor- 
gänge  im  deutschen  Buchdruckgewerbe  den  Stoff  abgegeben.*) 


*)  Arbeitergilden  II,  33—3$. 

*)  Theorie  un4  Praxis  der  englischen  Gewerkvereine  (Industrial  Deinocracy) 
deutsch  von  Hugo:  I,  154—198.   II,  74—77. 

Siebe  besonders  Zahn,  Die  Organisation  der  Priasipale  «ad  Gehilfen  im 
l3aits.c|ien  Bnchdruekgewerbe  (Schriften  dea  VerefaM  .fdr  Soxinlpolhik  1890  Bd.  45, 
&  339—470).  .  . 

1* 


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4 


Philipp  Lotmar. 


Wo  ohne  diese  berufliche  Schranke  in  Deutschland  geschlossene 
Tarifverträge  eine  Ittterarische  Behandlung  gefunden  haben,  kam 
doch  nur  ein  engerer  lokaler  Bezirk  in  Frage,  und  trat  der  Tarif- 
vertrag hinter  dem  Strikc,  der  durch  ihn  veranlafst  wurde,  zurück-^) 

Ks  ist  nur  natürlich,  tl.iK  wem;  (»kononiisrhc  S<'hriftstoller.  oder 
in  der  Arbciterhexw^^uiiL;  stehende  Praktiker^)  sich  über  Tarifver- 
träge \eriiehnieii  lassen,  ihre  AeuKerungen,  so  wertvoll  sie  sind, 
juristische  Anspi^iiche  nicht  zu  erfüllen  vermögen.  Da>  Beduiini^ 
präciscr  Bcgriffsbcstiinniung  gegenüber  einem  Objekte,  welches, 
wie  von  Natur,  auf  das  Recht  angewiesen  /u  sein  scheint,  ohne 
freilich  darin  aufzugehen,  ist  ein  Bedürfnis,  das  oft  erst  der  Jurist 
empfindet  und  allein  zu  befriedigen  vermag.  Ihm  liegt  es  ob,  seinen 
Gegenstand  aus  Zusammenhängen  zu  lösen,  die  demselben  nicht 
wesentlich  sind,  d.  h.  den  Tarifx'ertrag  nicht  blols  als  Aeufserung 
des  Gewerkvereins,  als  Produkt  der  Einigungskammer,  als  Anlafs 
oder  Abschluß  einer  Arbeitsniederlegung  zu  behandeln.  Indem 
hierdurch  der  Tarifvertrag  in  den  Vordergrund  gestellt  wird,  treten 
auch  die  Seiten  desselben  deutlicher  hervor,  die  ihn  dem  juristischen 
Betrachter  merkwürdig  machen  und  zugleich  seine  sozialpolitische 
Bedeutung  begründen:  sein  Inhalt,  sein  Zustandekommen,  seine 
Wirkung.  Da  die  einlaisliche  Erörterung  dieser  Seiten  nur  unter 
Bezugnahme  auf  ein  positi\'es  Recht  ausfuhrbar  ist,  so  ist  auch 
hierdurch  die  juristische  Methode  gefordert,  indem  ohne  diese  die 
Rechtsregeln  nicht  zu  gemnnen  und  anzuwenden  sind.  Die  Rechts- 
r^ln  werden  dem  deutschen  bürgerlichen  Recht,  die  Thatsachen 
der  deutschen  Arbeiterbe%vegung  entnommen  werden. 

Bei  tliesem  ersten  WtsucIi  nner  civilistischen  Behandlung  de> 
Tarifv'ertrags  werden  die  Schranken  solcher  Behandlungsweise 
kcineswcg«>  verkannt.  L)a^  geltende  Recht  hat  sich  des  Tarifver- 
trags trotz  seiner  oben  erwälmten  eminenten  Bedeutung  fast  gar 
nicht  besonders  angenommen,  und  auch  die  gewerl>egenchtlichc 
Rechtsprechung  hat  ihm  in  den  seltenen  Fällen,  wo  sie  ihn  anzu- 
erkennen hatte,  nicht  das  Gewicht  beigelegt,  das  ihm  zukommt. 
Wenn  es  daher  auch  gelingen  sollte,  die  für  den  TarifV-ertrag  mafs- 


z  B.  Bflrger,  Die  Hambttrger  Gewerkschaften  und  dereu  Kämpfe  voa 
1865— 1S90  (Hamburg  1899). 

Protokoll  der  VerhudluiigeD  des  3.  Kongresies  der  Gewerkschaften  Deutsch- 
lands (1899,  Hanbarg)  S.  tyf'^ttt.  Protokoll  des  5.  ordeotlichea  Verbaodstages 
des  ZentralTerbasdes  der  &laarer  S.  143—147. 


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Die  IVifveitiigc  swiiche»  Avbeitfebein  «td  Arbeitnehmern.  ^ 

fjebende  Rechtsordnung  aufzuzeigen,  so  wird  doch  die  Unzuläng- 
lichkeit, die  dem  Privatrecht  gegenüber  dem  gewerblichen  Arbeits- 
verhältnis natürlicherweise  anhaftet ,  beim  Tarifvertrag  besonders 
empfindlich  bleiben.    Man  wird  bei  seiner  Hingehung  und  seiner 
Erneuerung,  bei  Festsetzung  seines  Inhalts  und  bei  Durchfuhrung 
seiner  Satzungen  noch  weniger  als  anderwärts  auf  die  Mittel  der 
Selbsthülfc  vcrziciiten,  mit  denen    in  cHeser  Sphäre  bald  auf  die 
Gegenpartei,  bald  auf  die  Genossen  der  eigenen  Partei  eingewirkt 
werden   kann.     In    einer  DarslelliuiL;    des  ganzen    I  arifxertrags- 
wesens  müfstcn  auch  diese  Prcssionsmittcl    \oIIauf  berücksichtigt 
werden.    I'ür  eine  auf  die  |)  r  i  \' a  t  r  er  h  1 1  i  c  Ii  c  Seite  beschränkte 
Behandlung  besteht  dieses  hrfoiflcrnis  nicht.    Sie  kann  sieh  ihrem 
Gegenstand  so  liinL(ehen,  wie  wenn  die  j^rivatrechtliche  Ordnun^^ 
von  erschöj)iendcr   und  nie  versagender  Wirksamkeit  wäre.  Und 
indem  sie  sich  innerhalb  ihrer  Grenzen  und  ihrer  Mittel  hält,  darf 
sie  hoffen  das  Bild  ihres  Gegenstandes  so  scharf  zu  zeichnen,  dafs 
auch  die  Lücken  deutlich  werden,  die  zu  gesetzgeberischer  Hülfe 
auffordern. 

n.  Abgrenzung. 

Die  vorstehende,  unsere  juristische  Untersuchung  der  bewufsten 
Tarifxerträge  rechtfertigende  Einleitung  durfte  eine  Kenntnis  des 
Gegen^iandes  voraussetzen,  die  ihn  im  allgemeinen  er- 
faisi.  Die  nun  folgende  Untersuchung  selbst  kann  sich  mit  dieser 
Allgemeinheit  nicht  l)egnügen,  muls  vielmehr  damit  beginnen  die 
Merkmale  ihres  ( regenstandcs  im  einzelnen  zu  betrachten  und  ihn 
von  ahnlichen  Gebilden  abzugrenzen. 

Dafs  unsere  Tarifverträge  es  mit  Tarifen  zu  thun  haben,  sagt 
schon  der  Xame.  Allein  zu  unserem  Thema  gehört  nicht  jeder 
Tarif,  nämlich  nicht  ohne  Rücksicht  auf  sein  Objekt,  auf  seinen 
Urheber,  und  auf  die  Art  seines  Zustandekommens.  In 
diesen  drei  ilinsichten  zusammen  ist  der  vorliegende  Thatbestand 
ausgezeichnet. 

Die  Objekte  anlangeml  gab  und  giebt  es  Tarife  für  sehr  ver- 
schiedene und  sehr  viele,  man  kann  sagen  für  alle  möglichen  Ob- 
jelÄe.  An  das  Kdikt  des  Kaisers  Diocletian,  de  pretiis  reiuin.  vom 
Jahre  ^Ol,  sei  nur  im  Vorbeigehen  erinnert.  In  unser  Jahrhundert 
ragen  liinein  oder  gehören  gar  der  Gegenwart  und  absehbarer 
Zukunft  an  z.  H.  die  Tarife  der  Bäcker  für  Brot,  der  Metzger  für 
Fleisch,  der  Apotheker  für  .Medikamente,  die  Gebührenordnungen  iur 


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6 


Philipp  L^otnar 


Aer/tc  und  Zahnär/te  uikI  dir  *  icbuhmionh  im'^'  lur  Kr<"ht>an\\\»llc, 
die  I'.isciibahntarilc  für  ilic  Hcl< »Klcrun;^  Vcr-^owcn  uikI  (iutcr:i, 

die  Zolltarife  und  die  \c)ii  Kartellen  \  crsr!n«  dt  rn  [  Art  für  ihre 
Mitj^licdcr  gegebenen  FebtseUungen  der  \  erkautspreisc  der  Pro- 
dukte. 

\"<)ii  all  (liocii  iiiid  anderen  liiM^ist  inannii,'falti;4en  larifen  <^c-- 
hören  nicht  hierher  dieieiii;^H  n,  welclie  .h  iuh  lle  l'r  i  :sb«-stininiun'^en 
lür  Sachen  und  Sai-hmit/unL;en  darstellen,  sotidein  nur  die,  welche 
G  e  ^  e  n  1  e  i  s  t  u  i;  i4  e  II  tw;  Atbeiten  te-tsrl/Aii.  Damit  >cheideii 
nicht  bK)ls  tlic  Zolltai  ile  au>,  sondern  alle  l  ai  ite,  itl^()fer^  sie  Kaiif- 
oder  Mielpreise  statuieren,  sieh  aut  Kauf-  oder  Mi(  t\t  i;i  i  •  be- 
ziehen.') Wir  haben  es  ausschlielslich  mit  solchen  Linien  /u  thun, 
die  fiir  A  r be  i  t  s  ve  r  t  r  äj^c  ;^elten.  Auch  \on  dieser  Gattuuij  von 
Tarifen  finden  sich  zahlreiche  An\vendun-.,'en.  Die  laxen  für 
Medizinalpersoneu,  die  Gebührenordnunj^  für  Rechtsanwälte  uii<J  ilic 
Eisenbahntarife  sind  schon  angeführt  worden;  es  lälst  sich  weiter 
verweisen  auf  die  Tarife  von  Strafsenbahnen,  Droschken.  I.ohn- 
dienem ,  Schornsteinfegern  ,  Feldmessern  ,  Auktionatoren  u.  s.  w. 
Tausende  und  Tausende  von  Arbeitsverträgen  werden  tagtäglich 
mit  Hülfe  solcher  Tarife  geschlossen. 

Indessen  ist  keineswegs  jeder  auf  Arbeitsverträge  bezügliche 
Tarif  ein  Tarif  der  hierhergehörigen  Art,  es  kommt  vielmehr,  we 
bemerkt,  auch  auf  den  Urheber  an.  Unsere  Tarifveruäge  der 
Arbeitgeber  und  der  Arbeitnehmer  enthalten  Tarife,  die  von  den 
Parteien  des  Arbeitsvertrags  ausgehen.  Von  den  auf  .Arbeits- 
verträge bezüglichen  Tarifen  scheiden  daher  hier  alle  aus,  die  weder 
von  den  Arbeitgebern  noch  von  den  Arbeitnehmern,  den  Parteien 
der  Arbeitsverträge  ausgehen,  sondern  von  Dritten.  Solche  Dritte 
sind  entweder  Behörden,  d.  h.  Personen,  die  staatsrechtlich  denen 
übergeordnet  sind,  für  welche  die  Tarife  gelten  sollen,  oder  es  sind 
gleich  diesen  blofse  Privatpersonen.  Da  beiderlei  Tarife  aufserhalb 
des  Themas  liegen,  so  werden  nur  zur  Erläuterung  hier  einige 
Beispiele  angeführt  werden. 

Die  behördlichen  Tarife  sind  eine  in  alter  wie  in  neuer 
Zeit  bekannte  Erscheinung,  Schon  das  erwähnte  diocletianische 
Preisedikt  widmet  ein  Kapitel  den  Arbeitslöhnen.  Der  Dritte,  von 
dem  dieser  Lohntarif  ausgeht;  ist  ein  Kaiser.  Im  Mittelalter  und  in 
der  Neuzeit  sind  es  bald  unmittelbar   die  Gesetzgeber,  bald 

M  Z.  B.  Ton  Gastwirten  (Gew.O.  §  75).  von  indostrieUeD  VeritavfcsyQdikaten. 


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Die  Tarifverträge  swischen  Arbeitgebern 'und  Arbeitnehmem. 


f 


durch  (iesetz  oder  Herkommen  dazu  ermächtigte  Richter,  Stadt- 
magistrate und  andere  Verwaltungs-  namentlich  rohzeibehörden, 
(fie  den  Ent^^clt  für  diese  und  jene  Arbeit  sei  es  schlechthin  sei 
es  für  den  Fall  des  Fehlens  einer  Ueb^rcinkunft  der  Beteiligten 
festsetzen  und  die  Einhaltung  ihrer  Regeln  durch  Strafen  sicher 
stellen.  Wenn  wir  in  frew.O.  §  105  lesen:  „Die  Festsetzung 
der  Verhältnisse  zwischen  den  selbständigen  Gewerbetreibenden 
und  den  gewerblichen  Arbeitern  ist ,  vorbehaltlich  der  durch 
Reichsgesetz  begründeten  Beschränkungen,  Gegenstand  freier 
Uebereinkunft" ;  so  wird  mit  der  hier  gewährleisteten  hVciheit 
auch  das  Nichteingreifen  behördlicher  l'ariherung  zuge- 
sichert. 

Von  Behörden  oder  behördenartigen  Autoritäten  ausgehende 
Tarife  werden  mitunter  nicht  einseitig  von  ihnen  erlassen,  sondern 
mit  der  einen  Partei  des  Arbeitsvertrags  zu  gunsten  der  anderen 
vereinbart.  So  der  Tarif,  zu  dem  die  Direktion  eines  Schlacht- 
hauses die  Lohnsrhlächtcr  für  deren  Verhältnis  zu  den  Kunden  ver- 
pflichtet;') oder  der  Tarif,  den  die  königliche  Eisenbahndirektion 
in  Berlin  mit  der  Packetfahrtgesellschaft  für  die  Beförderung  des  Ge- 
päckes der  Reisenden  vereinbart ;  oder  der  Tarif,  zu  dem  ein  Ge* 
meinderat  bei  Vergebung  städtisciicr  Unternehmungen  die  Unter- 
nehmer verbindet  als  einen  bei  der  Herstellung  oder  beim  Betrieb 
des  Werkes  gegenüber  ihren  Arbeitnehmern  einzuhaltenden.  ■) 

Blofse  Privatpersonen  als  Dritte  sehen  wir  Tarife  fiir 
fremde  Arbeitsverträge  einseitig  oder  zweiseitig  festsetzen,  wenn 
Theaterdirektoren  den  Theatera^nten  oder  Engagementsmäklern 
einen  Tarif  auferl^en,  nach  welchem  sich  die  Mäklerlöhne  be- 
stimmen, die  die  Schauspieler  jenen  Ai^er^ten  (iir  die  Arbeit  der 
Engagementsvennittlung  zu  entrichten  haben;  oder  wenn  Fabrikanten 
sich  zu  Gunsten  ihrer  Arbeiter  von  einem  Arzte  ausbedingen,  daCs 
dieser  seine  ärztliche  Hülfe  jenen  Arbeitern  für  gewisse  Honorar- 
satze angedeihen  lasse;  oder  wenn  eine  freie  Innui^  —  den 
Zwangsinnungen  ist  dies  durch  Gew.O.  §  lOOq  versagt  —  ihren 
Mitgliedern  die  Preise  für  die  Arbeitsleistungen  an  das  Publikum 
vorschreibt   Die  juristische  Person  der  Innung  ist  an  den  Arbeits- 


*)  Lage  des  Handwerks  VI,  lOl.    (Schriften  des  Vereins  für  Sozialpolitik 
Bd.  67.) 

Vgl.  .Soziale  Praxis  VIII,  10023  l'>cdienstcteii  Linen  gcwi^,ien  Minimal- 

lohn  zu  gewähren,  eine  gewisse  Arbeit>.-cit  nicht  zu  uberschretien  u.  s.  w.). 


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8 


i'hilipp  Lottnar, 


vertragen  ihrer  Mitglieder  tiii  In  l>cicili^;t,  der  Tarif  tjcht  von  einem 
Dritten.  Privaten  (eben  der  Innung'  aus. 

Damit  ein  auf  .Arbeilsx erträi^e  sich  hezielu'nder  Tarif  hierher 
LU'horii,'  sei.  kommt  es  aiilstr  auf  den  l  rheber  auch  noch  auf  die 
A  r  t  »  <  i  II  e  >  Z  u  t  a  ii  d  r  k  o  m  ni  e  n  s  a  n  (oben  S.  5}.  Ks  j^enügt 
nuht.  dais  er  imlil  \<>n  einer  Heliorfle  stamme,  sondern  durch 
f'ri\ at<lis|)Osili<in  foiL^rsct/.l  ^ri.  \  s  j^enii<^t  auch  niclit,  dafs  er  über« 
hau})l  nicht  \(»n  DritltM  heiiuhrt-  d.  h.  von  solclien,  die  weder  als 
Arbeittfelier  noch  al>  Arbeitnehmer  an  <kii  Arl)citsvcrträ^en  be- 
teiligt ^m<l.  lur  uelclie  der  1  arif  bestimmt  ist.  Aber  auch  das  ist 
nicht  hitircicliend,  dal>  er  von  den  kunlliv^c  a  Arhtit^Hbern,  oder 
von  den  künftigen  Arbeitnelmiern  ausgehe.  Kin  solcher  einseitig 
von  einem  oder  mehreren  Arbeilgebern  erlassener  1  arif  ist  kein 
Vertragstarif,  seine  l*>lassung  nicht  Abschluls  eines  Tarifvertrages; 
ebensowenig  der  einseilig  durch  Arbeitnehmer  erlassene  I'arif. 
Ein  solcher  ein.seitiger  oder  oktroyierter  Tarif  (beider  Arten)  hat 
mit  dem  zweiseitigen,  mit  dem  Tarifvertrag  eine  privatrechllichc 
Wirkung  gemein.  Er  kommt  ihm  aber  an  juristischem  Interesse 
und  sozialpolitischer  Bedeutung  entfernt  nicht  gleich.  Aufserhalb 
unserer  Aufgabe  liegend  wird  er  hier  nur  als  erläuterndes  Gegen- 
stück erwähnt.  Dafs  sein  Vorkommen  keineswegs  selten  ist,  mögen 
einige  Hinweise  in  Erinnerung  bringen. 

Einseitige  Tarife  von  Arbeitnehmern  haben  wir  z.B.  an  den 
von  privaten  Belordenuigsanstalten,  von  Barbieren  und  Friseuren,') 
von  Theatenintemehmem  erlassenen.  Das  Publikum,  dem  hier  die 
Arbeitgeber  (für  die  Arbeiten  des  Transports,  der  Rasur,  Frisur, 
TbeateraufiÜhrung)  angehören,  wird  bd  AufeteUung  dieser  Tarife 
nicht  nach  seinem  Willen  gefragt,  nicht  um  seine  Zustimmung  an- 
gegangen. Derartige  einseitige  Tarife  kommen  beispiebweise  noch 
vor  bei  den  Uhrmachern  für  Reparaturarbeiten,  -)  bei  den  Kürschnern 
für  Aufbewahrung  von  Pelzsachen,*)  bei  den  Architekten  fiir  ihre 
verschiedenen  beruflichen  Arbeiten,  wie  Planzeichnung,  Bauftihrung.^) 

Auch  einseitig  von  Arbeitgebern  erlassene  Tarife  sind  keine 
Seltenheit 

Stellen  sich  —  wie  hier  nicht  begründet  werden  soll  —  die 


')  Sanders.  Die  Lage  des  IJarbifr-  und  Fr i'^cur gewer bes  ,;S9*>)  S.  2^  ff. 
*t  Lage  des  Handwerks,  V,  S7  tT,  vgl.  IX,  44b. 
*;  Lage  des  Handwerks  II,  333. 
*)  Lage  des  Handweriu  DC,  573. 


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L>ic  Tarifveitriisc  xwisciaen  Arbcitc;eberD  und  Arbeitnehneni. 


9 


Werkstatt-,  I-abrik-  und  ArljeilsonliuingcMi  selten  als  Arbeit<:jel)er- 
tarife  flar,  so  ki)mincn  solche  tloch  als  Beilagen  oder  Zugaben  der 
Arbeitsordnung  vor,  die  neben  dieser  für  den  ganzen  Betrieb  oder 
für  einzelne  Abteilungen  gelten  und  öfter  als  die  Arbeitsordnung 
revidiert  werden.')  Auiserdeni  sind  selbständige  von  Arbeit- 
gebern oklro\  lei  te  1  arile  oft  genug  anzutretl'en, -) 

Die  angeführten  einseitigen  Arbeitnehmer-  oder  Arbeit- 
gfebertarife  gehören  nicht  hierher,  weil  sie  niciil  l  ai  it  \  t- r  t  rä  ge 
d.  ii.UKht  \eieinbart  sind.  \ereinl)ait  naiulich  /wischen  den  künftigen 
Arbeitgebern  und  Arbeiinehmern,  dc-n  Parteien  der  Arbeitsverträge, 
für  welche  die  Tarife  bestimmt  sind. 

Kein  iarifxertrag  ist  aber  auch  die  Tarifvcreinbai  ung  der 
Arl)eitgeber  unter  einander,  oder  der  Arbeitnehmer  unter 
einander.    Solche  Vereinbarungen  sind  von  zweierlei  Art. 

Kntwedcr  nämlich  erfolgen  sie  behufs  .Aufstellung  eine.s  ein- 
seitigen Tarifs:  es  vereinigen  sich  z.  B.  die  Lohnkutscher, 
die  Barbiere,  die  (lärtner  einer  Stadt  über  die  Lohn.sätze  und  die 
Arbeitszeit,  nach  welchen  sie  künftig  die  Arbeitgeber,  ihre  Kunden, 
die  Besitzer  von  Privatgärten,  bedienen  wollen  und  machen  den 
Tarif,  der  fiir  ihre  künftigen  Arbeitsverträge  mafsgebend  sein  soll, 
öffentlich  oder  ihren  Kunden  bekannt    Hier  haben  wir  zwar  eine 

')  So  bcstimint  die  von  der  ^1.  BergiDspektioo  VI,  aameiis  des  preuftischen 
Fiskus  als  Arbeitsgebers,  für  das  Steinkohlenbergwerk  Reden  erlassene  .\rbt-its- 
Ordnung  (vom  3.  Dezember  1892)  in  ^  25:  ..Die  Schichtlöhne  werden  für  die  ein- 
zelnen Arbeiterklassen  und  Betriebszweige  durch  den  k::!,  H  ergwerk  sdirek- 
tor  fcitgeset/t  und  in  eine  SchichtlohntaVirlle  ein^'ctragcn  ..  .  Die  Snt/e  dir^rr 
Tabelle  finden  in  allen  Fallen  Anwendung,  wo  nicht  ein  Gedinge  ahgeschli)s.<;eti 
oder  mit  Rucksicht  auf  besondere  Schwierigkeit  der  Arbeit  ein  anderer  Schicbtlohn 
vercinbArt  ist." 

*}  Z.  B.  war  den  BodidradlMigehOfen  ascb  dem  Miberfolf  ihrci  AoHüuides 
von  i89i;3  durch  die  Priasipnle,  stfmlich  den  dentichen  Bochdrackenreffeb,  ein  Tarif 
oktroyiert  worden.  Der  ».Lohntarif  des  Vmins  der  Importenre  englischer  Kohlen 
Toro  Dezember  1896  f^r  EntlAwhunf  von  Kohlen  aus  Dampf-  und.  Scgelscbiflfen**, 

und  die  „Bekanntmachung  fder  Hambttfg>Amenka-Linie)  betreffend  Heuergebühren 
und  Gagen  für  die  Mannschaften  unserer  Schiffe"  sind  einseitig  vom  Arbeitgeber 
festgesetzt.  'Protokolle  der  .Senatskommission  für  die  Prüfung  der  Arbeitsverhält- 
nisse im  Hamburger  Hafen,  1898,  S.  114,  3*V2,  306'.  Die  Ankündigung  der  Krt- 
felder  Sammetfabrikantcn,  dafs  die  „Normallohnliste",  auf  die  sie  sieb  geeinigt 
«  hatten,  zwischen  1.  und  15.  Januar  1899  , »eingeführt"  werden  solle,  hatte  aar  Folge, 
daft  alle  Arbeitnehmer  kfindigten.  Jahresbericht  der  Handeitkannner  tn  Krefeld 
für  189S  S.  15. 


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10 


Philipp  Lotmar, 


I  arifverciiiljaruntj ,  eine  Tarifi^'^emciiischaft ,  aber  keine  zwischen 
Arbcit^'cbcni  und  Arbeitnehmern. 

Oder  che  fr.iL^hchen  Vereinbn  un^ci,  erfoli,'cn  nicht  als  al>- 
schHefscnde .  sitiulern  al>  den  Ab^rhhil»  eines  Taril\ erlra> ein- 
leitende,  indem  die  Partei  eiiie->  larifv  erlra^> ,  wo  sie  aus 
mehreren  Personen  l)e>leht,  zviiiach>t  sich  einigt  über  die 
ProitoNilion  /.u  einem  l  ariK  ertrag',  die  sie  der  anderen  Partei  stellen 
will.  Der  Tarifs  crtra^j  der  ArbeitfTcl)er  und  der  Arbeitnehmer,  mit 
dem  wir  uns  zu  beschäfti*;en  haben ,  wird  von  ent^'e-^^engt-setzten 
Parteien  ^aschlossen.  Wenn  eine  seiner  Parteien  aus  einer  Mehr- 
licit  besteht  —  und  dies  ist,  wie  noch  zu  sa^^en,  immer  der  Pal!  —  so 
kann  der  Vertrag  nicht  zustande  kommen,  es  habe  sich  denn  die 
Mehrheit  geeinigt  über  einen  ihr  gemachten,  oder  einen  von  ihr  zu 
machenden  Vorschlag.  Solche  Arbeitgeber-,  oder  Arbeitnehmer- 
Vereinbarungen  behufe  Aufstellung  der  Proposition  zu  einem 
Tarifvertrag  sind  in  der  Arbeiterbewegung  eine  alltägliche  Er- 
scheinung. Sie  gehören  zu  den  von  der  Gew.O.  152  fiir  zu- 
lässig und  unsträflich  erklärten  „Verabredungen  und  Vereinigungen 
zum  Behufe  der  Erlangung  günstiger  Lohn-  und  Arbeitsbedingungen". 
Nur  sollen  in  unserem  Fall  diese  günstigen  Lohn-  und  Arbeits* 
bedingungcn  nicht  „insbesondere  mittelst  Einstellung  der  Arbeit 
oder  Entlassung  der  Arbeiter"  erlangt  werden,  sondern  «unächst 
mittelst  Abschlusses  eines  Tarifvertrags. 

Es  kommen  endlich  auch  Einigungen  von  Arbeitgebern  oder 
von  Arbeitnehmern  vor,  die  gar  nicht  für  die  Gegenpartei  bestimmt 
sind,  mit  denen  weder  die  Herstellung  eines  der  Gegen^Kinei  zu 
oktroy  ierenden  einseitigen  Tarifs,  noch  die  Beschliefsung  eines  der 
Gegenpartei  zu  machenden  Vorschlags  zu  einem  Tarifvertrag  be- 
zweckt wird.  Vielmehr  beabsichtigen  die  Teilnehmer  blofs,  sich 
einander  zu  verpflichten,  die  künftigen  mit  Dritten  einzugehenden 
Arbeitsverträge  nur  zu  den  Bedingungen  abzuschlielsen,  über  die 
sie  sich  jetzt  geeinigt  haben,  Bedingungen,  die  vom  Einzelnen  je- 
weilen  beim'Abschlufs  eines  Arbeitsvertrags  zur  Geltung  zu  bringen 
sind.  Einen  dei^estalt  internen  wird  man  besser  gar  nicht  Tarif 
nennen,  indem  seine  Positionen  nicht  zu  genereller  Mitteilung  und 
Nachachtung  für  die  Gegenpartei  bestimmt  sind.  Ein  interessantes 
Beispiel  findet  sich  in  der  Schilderung  der  „Verhältnisse  der  Tand- 
arbeiter in  Deutschland",*)  wo  es  III,  334  heifst:  „Die  freien  Tage- 


*)  Schriften  des  Vereiiu  fitr  Sozialpolitik  (1892)  Bd.  53—55. 


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Die  TarifvertiSge  zwischen  Arbeitgebern  und  Arbeitnehmern. 


II 


löhncr  im  Kreise  Kaniiniii  (3)  haben  ^irh  vereiiiij^t  und  \crahrc<let, 
dafs  jede  Frau,  welche  unter  i  Mk.  Lohn  bei  zehnstündiger  Arbeits- 
zeit auf  Arbeit  gehe.  25  Pf.  .Strafe  zahlen  solle."  '  ) 

Die  vorstehende  Retrachtutii^  iiianni^^aciier  larifi^'^eliilde  hat 
uns  Krsrheinun'^cn  -^'czeii^^t,  die  \on  unserem  1  arif\ertrni_f  verschieden 
und  ihm  doch  nicht  unähnlich  sind.  Die>e  Betrachtung;  war  nicht 
blols  da/u  bestimmt,  die  berrrift'lichen  (irenzen  unseres  Gegenstandes 
zu  \  erdeutlicheii  und  ihn  damit  von  anderen  abzusondern.  Fs  sollte 
die  X'ergleichung  auch  darauf  hinweisen,  dafs  der  Tarifvertrag^ 
zwischen  Arbeitgebern  und  Arbeitnehmern  bei  aller  Rij^entvimlich- 
keit  an  den  Gattun^smerkmalen  der  Tarifgebilde  teil  ninunt.  Da- 
durch erscheint  die  \orliegende  Art  in  einem  groiseren  wirtschaft- 
lichen Zusammenhang. 

\''on  den  äulseren  Grenzen  unseres  Tarifvertrags  wenden  wir 
uns  nun  seinem  Inhalt  zu. 

ni.  Inhalt 

I.  Unter  dem  Inhalt  des  Tarifvertrags  versteht  man  die  Gegen- 
stände, die  der  Einigung  und  Bindung  unterstellt  werden.  Bis- 
weilen ist  tiur  ein  einziger  Gegenstand,  lülmlich  die  Lohnhöhe, 
derjenige  Inhalt,  von  dem  der  Vertrag  den  Namen  „Tarifvertrag" 
empfangen  zu  haben  scheint*  Die  meisten  Tarifv  erträge  haben,  wie 
die  Erfahrung  lehrt,  einen  weit  reicheren  Inhalt.  Rechtlich  ist  er 
nur  insofern  boohränkt,  als  er  nicht  wider  die  guten  Sitten  ver- 
stolsen  und  sich  nicht  über  zwingende  Gesetze  hinwegsetzen  kann. 

Im  allgemeinen  wird  der  Inhalt,  d.  h.  was  in  den  \'ertrag 
aufgenommen  und  wie  es  darin  festgesetzt  wird,  durch  die  Inter- 
essen der  Kontrahenten  bestimmt,  die  als  gegenwärtige  oder 
künftige  Teilnehmer  eines  A  r  b  e  i  t  s  \  e  r  Ii  ä  1 1  n  i  s  s  e  >  den 
Tarifvertrag  mit  einander  abschlielVen  (hirrh  die  Interessen  natür- 
lirh  nur  soweit  dieselben  sich  im  Parteikampf  durchzusetzen  vcr* 
mögen. 

Nach  Brentano  hingegen  sollte  man  meinen,  dals  es  einen  aus 
dt  r  Unternehmer-  und  tier  Arbeiterstellung  ableitbaren  und  damit 
von  vornherein  feststehenden  Inhalt  der  Tarifverträge  gebe.') 


'!  M.  Weber  Ixmcrkt  liitTzu:  ,, einer  der  seltenen  Fälle  von  f  •r^ani>ati.>ncn 
unter  den  Landarbeitern,  der  alicr  um  sn  erfreulicher  ist.  als,  wie  die  Ta!»elle  cr- 
giebt,  Ueberstundcn-,  Ehefrauen-  und  Kiuderarbeii  gleichniäfsig  vermindert  worden  ise*. 

*)  Sociale  Pr»Kis  VUl, 

'335'  '33**-   Rwüction  oder  Refonn?  S.  47.  4S. 


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12 


l'hilipp  l.otmar, 


Die  Aufgaben  der  Betriebsleitung  sind  nach  ihm  von  dreierlei  Art 
„I.  Bestimmung,  was  produziert  werden,  d.  h.  des  Guts,  welches 
dem  Konsumenten  geboten  werden  soll;  2.  Bestimmungen,  wie  pro- 
duziert  werden  soll  d.  h.  aus  welchen  Materialien,  mit  Hilfe  welcher 
technischen  Prozesse  und  welcher  Arbeitskräfte  das  herzustellende 
Gut  iRigcstellt  werden  soll;  3.  Bestimmung  über  die  Bedingungen, 
unter  denen  diese  menschlichen  Produktionselemente  Verwendung 
finden  sollen,  wie  über  Temperatur,  Atmosphäre,  h>'gienische  Ein- 
richtungen der  Werkstätte,  über  Intensität  und  Dauer  der  Arbeit, 
über  den  Lohn,  der  als  Entgelt  gegeben  wird." 

Gegenüber  dieser  Dreiheit  wird  nun  behauptet,  daTs  „wo  der 
Arbeiter  frei  ist  und  der  Betriebsuntemehmer  die  Verfügung  über 
die  benötigten  Arbeitskräfte  im  freien  Arbeitsvertrage  mit  Freien 
erlangt",  d.  h.  eben  in  der  heutigen  Arbeitsverfassung,  „die  Bestim- 
mungen, die  der  Arbeitgeber  allein  zu  treffen  hat,  von  denen,  bei 
welchen  die  Arbeiter  berechtigter  Weise  mitzureden  haben,  unter-  * 
schieden  werden  müssen" 

Allein  von  einer  „Berechtigung  mitzureden"  lälst  sich  darum 
nicht  sprechen,  weil  das  Recht  hierüber  schweigt;  es  begni^  sich, 
dem  Arbeitnehmer  das  Mitreden  nicht  zu  verbieten,  ihm  die  Mög- 
lichkeit nicht  zu  verschlie(sen,  die  ihm  zusagenden  Vertragsbedingungen 
zu  proponieren.  Das  Gleichgewicht  der  Kontrahenten  eines  Arbeits» 
Vertrags,  oder  das  Uebergewicht  des  einen  ist  lediglich  die  Folge 
f  a'k  t  i  s  c  h  e  r  Umstände.  Wenn  die  unter  l)  angeführten  Bestimmungen 
iiir  „ausschliefslich  Sache  des  Betriebsuntemehmers"  erklärt  werden, 
so  sind  sie  dies  doch  nicht  von  Rechtswegen,  sondern  nur  that- 
sächlich  in  den  meisten  Fällen.  Und  der  Betriebsuntemehmer  würde 
noch  nicht  aufhören  dies  zu  sein,  wenn  er  auf  Grund  einer  mit  den 
Arbeitern  getroffenen  Uebereinkunft  andere  Waren  als  bisher  (z.  B. 
Herrenkleider  statt  Damenmäntel)  produzieren  Heise  und  zum  Ver- 
kauf brächte.  Der  Unternehmergewinn  würde  nach  wie  vor  ihm 
zufallen,  und  er  hätte  das  Risiko  zu  tragen. 

Die  in  Rede  stehende  Deduktion  bestimmt  den  Inhalt  des  Tarif- 
vertrags nicht  Uofis  n^ativ,  indem  sie  sagt,  was  in  einen  solchen 
nicht  gehört,  sondern  auch  positiv,  indem  sie  sagt,  was  Aufnahme 
zu  finden  hat  Aber  gemäfs  dem  apriorischen  Ausgangspunkt  sieht 
sich  Brentano  alsbald  zu  dem  Bekenntnis  genötigt,  dals  von  den 
Bestimmungen  unter  2),  die  er  zunächst  vom  Tarifvertrag  ausschlieist, 
„ein  unmerklicher  Uebergang"  zu  denen  unter  3)  stattfindet  Er 
gründet  dies  darauf,  dals  die  ersteren  „die  Existenzbedingungen  der 


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Die  Tarifverträge  xwiscben  Arbettgebero  ttnd  Arbeitnehmern. 


13 


in  Frape  korftmcndcn  Arbeiter  ebenso  ernstlicli  zu  beeinflussen" 
vcrmoi^^cn,  wie  die  letzeren.  Das  Mals  des  Kinflusses  auf  die  Existenz- 
bedingungen läl'st  die  Mitwirkung  derjenigen,  um  deren  Existenz  es 
sich  handelt,  dem  Unbeteiligten  gewils  als  zwecktnäfsig  und  billig 
erscheinen,  nur  mit  dem  bestehenden  Reclit  hat  dies  nicht  zu  thun. 

Das  Einteilungsprinzip,  das  Nr.  2  und  Nr.  3  nicht  scharf  zu 
scheiden  vermag,  hält  wohl  auch  gegenüber  Nr.  i  iHciit  Stich :  denn 
Icönnen  die  Existenzbedingungen  der  Arbeiter  nicht  auch  von  dem 
bceinflulst  werden ,  „was  produziert  werden  soll",  falls  für  dieses 
Produkt  keine  Konsumenten  zu  finden  sind,  was  zur  Einstellung  der 
Produktion  führen  wird?  oder  falls  der  Ruclulruekergehille  für  den 
Inhalt  des  Produktes  prefsgesetzlich  \  erantwortlich  gemacht  winl, 
oder  die  von  ihm  gesetzte  Zeitung  seine  Ecbensbedingungen  be- 
kämpft, so  dafs  er  die  Watten  schmieden  hilft,  die  gegen  ihn  ge- 
braucht werden  .sollen  ?  .Also  wären  die  Arbeiter  auch  bei  Nr.  1 
nicht  immer  auszuschliefsen. 

Das  kritisierte  Einteilungsprinzijj  hat  auch  den  Mangel,  den  .Xn- 
schein  zu  erwecken,  als  ob  es  sich  beim  Tarifvertrag  nur  um  die 
Wahrung  von  Individualinteressen  der  Arbeitgeber  oder  der  Arbeit- 
nehmer handle,  um  die  nämlichen,  die  den  Inhalt  individueller 
Verträge  bilden  können,  da  doch  —  wie  wir  sehen  werden  —  der 
Tarilvertrag  Bestimmungen  enthalten  kann,  die  allererst  /.um  Inhalt 
von  Tarifverträgen  werden  können,  Bestimmungen,  die  die  Existenz- 
bedingungen der  Einzelnen  nicht  oder  nicht  in  erster  Linie  zu  be* 
einihissen  vermögen. 

Brentanos  Dreiteilung  gründet  sich  nicht  sowohl  auf  das,  was  ist, 
ab  auf  das»  was  nach  seinem  Gerechtigkeitsgefühl  sein  sollte, 
und  mündet  daher  in  Postulate»  deren  Gutheifsung  nicht  durch 
Argumente  erlangt  werden  kann.')  Unsererseits  wollen  wir  nicht 
weiter  fragen,  was  ein  Tarifvertrag  enthalten  sollte  oder  könnte, 
nach  Recht  oder  Billigkeit,  sondern  was  er  in  Wirklichkeit  zu  ent- 
halten pflegt.  Auch  an  die  Wiedeigabe  dieses  Befundes  lassen  sich 
Betrachtungen  knüpfen,  die  solche  Wiedergabe  lohnen. 

n.  Die  im  Folgenden  angeführten,  den  Inhalt  ausmachenden  Be- 

■)  Die  Bestimmung  des  l'mfangs  der  Produktion  wurde  Breotano  wohl 
unter  Nr.  3  („Intensität  und  Dauer  der  Arheit'-i  stellcu.  Hingegen  erblickt  Hueok 
im  BeschJufs  eines  englischen  (icwerlcvereins,  die  l'rcjduktion  auf  5  \\'ochenta^,'e  zu 
beschranken,  „einen  ganz  entschiedenen  UebergrifT  der  Gewcrkvercine ;  denn  die 
Produktioo  lu  bcmcHsen  ist  Sache  des  Arbeitgebers-:  Schriften  des  Vereins 
Ar  Sodalpotitik  Bd.  47.  S.  142  vgl.  1S9,  196. 


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rhili}  })  Loimar, 


Stimmungen  sind  nur  Verträgen  entnommen:  wollte  man  auch 
die  Vertragspropositionen  heranziehen,  oft  wietlerholte  Forde- 
rungen, wie  die  der  Errichtung  von  Betricbswerkstätten  fiir  heim- 
arbeitende Schneider,  Schuhmacher  usw^  die  nie  oder  fast  nie  An« 
nähme  finden,')  so  würden  noch  weitere  Bestimmungen  anzuführen 
sein.  Auch  ohnedies  wird  nicht  nach  VoUstiimligkeit  getrachtet,  da 
solche  durch  die  Aufgabe  nicht  geboten  ist,  und  selbstverständlich 
treten  nicht  alle  Iiier  und  sonst  vorkommenden  Vertragsbestim- 
mungen in  allen  Tarifverträgen  auf.  Die  meistens  festgesetzten 
lassen  sich  in  folgende  Gruppen  zusammenfassen: 

I.  auf  den  Lohn  bezügliche.  Diese  l)etrefren 
a)  seinen  Betrag.  Hier  findet  sich  bald  allgemein  der  bis- 
herige zugesichert,  bald  werden  die  bisher  gültigen  Sätze  ab  fort- 
geltende einzeln  angegeben.  In  den  meisten  Fällen  gewährt  der 
Tarif\*ertrag  eine  Erhöhung,  die  in  Prozenten  des  bisherigen  Betrages, 
oder  mit  Anfuhrung  der  neuen  Lohnsätze  ausgedrückt  wird.  Da- 
neben wird  bestimmt,  von  wann  ab  die  neuen  Ix>hnsätze  gelten 
sollen,  auf  dafs  sich  der  Arbeitgeber  bei  Annahme  vx>n  Bestellungen 
einrichten  könne,  und  bis  wann  die  alten  oder  neuen  in  Geltung 
bleiben  sollen.  Der  Betrag  des  lx>hnes  ist  meist  nicht  einheitlich, 
sondern  verschieden  nach  der  Zeit,  während  welcher  die  Arbeit 
geleistet  wird,  indem  iur  Arbeit  in  der  Ueberzeit,  in  der  Nacht,  an 
Sonn-  oder  Feiertagen  ein  Zuschlag  ausgeworfen  ist.  Zu  Unter- 
schieden fuhrt  ferner  der  Ort,  an  dem  gearbeitet  wird,  sei  es  dafs 
der  Lohnbetrag  verschieden  ist  für  verschiedene  Städte,  was  der 
Buchdruckertarif  durch  Gewährung  von  verschiedenen  Lokalzu- 
schlagen  für  85  verschiedene  Städte  und  durch  die  Möglichkeit  der 
Herabsetzung  des  Minimums  des  gewissen  Geldes  für  kleine  Druck- 
orte ausfuhrt,*)  >ei  es  dafs  unterschieden  wird,  t.b  die  Arbeit  in  der 
Stadt,  oder  auf  dem  Land  („Landgeld"),  in  der  W  ei  kstättc,  oder  auf 
dem  Bau  vor  sich  ^'cht.  Differenzen  er'^'cbcn  sich  femer  aus  der 
Person  des  Arbeitnehmers,  nach  den  l'ntcrschifden  von  Geschlecht, 
Alter,  Personenstand  (Verheiratete,  Ledige)  und  I^istungsfähigkeit 

>)  „Auch  die  Einrichtung  Ton  BetriebswerkstMuen  ist  in  den  geweikschrnftlicfaeB 
Venaminlungen  in  vielen  Fällen  i,'t-fur(iert  worden.  Da  und  dort  wurde  dieser 
Forderong  auch  entsprochen**.  Jahresbericht  der  badiscbeo  Fabrikiospcktion  fAr 
1896  S.  88. 

*)  Deutscher  Huclulruckcrwrif  vom  1.  Juli  iSo6  !;  37.  33.  Siehe  auch  Webb, 
Theorie  und  Praxis  der  Gewerkvereine  1,  2S7,  2bb. 


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Die  l'arilvvrtragc  zwischen  Arbnlgcbcni  und  Arbeitnehmern. 


15 


-Weitaus-  die  meisten  Verschiedenheiten  im  Lohnbetrag  knüpfen  sich 
an  die  Art  der  Arbeit  an.  An  die  mit  den  BeniCsunterschieden 
gegebenen  Arten  der  Arbeit  ist  hier  nicht  gedacht,  indem  ein  Tarif- 
vertrag sich  ja  nur  auf  einen  Beruf  bezieht  Aber  innerhalb  einer 
Berufsarbeit  sind  zahllose  Artunterschiede  möglich,  denen  sich  die 
Lohnbeträge  anpassen  können.  Das  gilt  in  (geringerem  Mafse; 
wo  die  Arbeit  nach  der  Zeit  bezahlt  wird,  indem  z.  B.  die  Wasser? 
arbeit  bei  Zimmerern  und  Maurern  einen  höheren  Lohnsatz  für  die 
Zeiteinheit  hat,  als  die  Arbeit  auf  dem  Lande,  bei  Dachdeckern  die 
Turmarbeit  einen  höheren  als  die  übrige.  Wo  dagegen  die  Ar* 
beit  nach  dem  Ergebnis  bezahlt  wird  d.  h.  Akkordlöhnung  statt* 
findet,  bieten  manche  Gewerbe  eine  Mannigfaltigkeit  der  Lohnsatze, 
die  jede  Vorstellung  übersteigt  Brentano  hatte  einen  Tarifvertr^ 
von  Londoner  Kunsttischlern  aus  dem  Jahre  1824  in  Händen,  der 
vermöge  der  detallierten  Preisliste  474  Quartseiten  umfafst.')  Der 
Buchdruckertarif  fiir  die  Berechnung  des  Satzes  d.  h.  für  die  Akkord* 
arbeit  ist  freilich  bedeutend  kürzer,  man  kann  sich  jedoch  denken, 
welcher  Menge  von  einzelnen  Möglichkeiten  und  Kombinationen  er 
Rechnung  tragen  mu(s,  wenn  man  die  Unterschiede  der  Schriftarten 
nach  Form  und  Kegel,  die  Unterschiede  der  Sprache,  des  Formates, 
des  Satzes  (z.  R  gespaltener,  gemischter,  mathematischer,  tabella* 
rischer)  veranschlagt*)  Die  hieraus  und  aus  ähnlichen  Besonder« 
heiten  erwachsenden  Schwierigkeiten  der  Tarifierui^  und  Tarif- 
anwendung soll  ein  kürzlich  erschienener  Tarif  kommentar  erleichtern, 
dessen  Schaffung  und  Fortführung  eine  tarifvertragsmäfsige  Aufgabe 
des  Tarifamtes  der  Buchdrucker  bildet*)  Verglichen  mit  der  mannig* 
^tigen  Arbeit  des  Setzers  möchte  die  des  Schuhmachers  als  ein* 
fach  erscheinen ;  und  doch  enthält  z.  B.  der  im  April  1898  für  Köln 
und  dessen  Vororte  für  das  Schuhnnacher  band  werk  geschlossene 
Tarifvertrag  nicht  weniger  als  $9  Lohnsätze,  die  sich,  da  zwei  Klassen 
von  Arbeit  unterschieden  werden,  auf  die  doppelte  Zahl  erhöhen. 

Wenn  man  an  zahlreichen  Tarifverträgen  sieht,  in  welches  fast 
nicht  übersehbare  Detail  bei  der  Distinktion  der  Lohnsatze  nach  den 
Arbeiten  gegangen  werden  kann,^)  so  begreift  man  schwer,  dafs 

\)  Arbeitergilden  II,  267. 

')  Die  durch  den  GebrMch  der  Setunaschine  eintretende  KompUkatton  wird 
durch  den  am  1.  Januar  1900  in  Kraft  tretenden  Setsmaachinentarif  geregelt 
*)  Denticher  Bochdnickcrtarif  §  45  Nr.  6. 

*)  Vgl.  Mundella  bei  Brentano,  Arbeitergilden  II,  284:  „Wir  haben  6000 
verBchicdene  Artikel  auf  unserer  Tabelle,  und  wir  vereinbaren  einen  Preis  für  jeden, 


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I6 


Philipp  1^  Otmar. 


für  fJas  Konfektion^ewerbe  dem  Berliner  Etntgrungsatnt  „eine 
Tarifierung  nicht  möglich  erschien",  „da  sowohl  die  Ausstattung 
der  einzelnen  Arfoeitsgegenstände,  wie  die  Ansprüche,  welche  an  die 
Ausführung  der  Arbeit  gestellt  werden,  so  verschiedenartige  sind". 
Das  Einigungsamt  hat  darum  keinen  „allgemeinen  Ijohntarif*.  sondern 
nur  „die  niedrigsten  Lohnsatze  für  die  geringsten  in  Berlin  herzu- 
stellenden Qualitäten"  aufgestellt.') 

Zu  den  Bestimmungen  über  den  Lohnbetrag  gehören  endlich 
auch  die,  die  seine  Schmälerung  durch  Abzüge,  oder  durch  vom 
Arbeiter  zu  machende  Auslagen  regeln,  also  z.  B.  über  Abzüge  wegen 
einfallender  Feiertage,  wegen  früheren  Feierabends  an  Samstagen 
und  Vortagen  von  Festen,  wegen  Ausschusses  oder  in  der  Arbeit 
vorgekommener  Fehler,  über  Erstattung  von  Fahrgeldern,  Reise* 
Spesen,  über  Beistellung  von  Werkzeugen,  Zuthaten,  Foumituren, 
Schleif«  und  Foliermaterial  u.  dgl.,  über  Bestreitung  von  Werkzeug* 
reparatur,  durch  den  Arbeitgeber,  oder  den  Arbeitnehmer. 

b)  auf  die  Form  des  Lohnes,  nämlich  auf  den  Unterschied 
von  Zeitlohn  und  Akkordlohn,  namentlich  Stücklohn  beziehen  sich 
nicht  wenige  Bestimmungen,  vor  allem  diejenige,  welche  den  Akkord- 
lohn ausschliefst  Eine  solche  Bestimmung  wird  von  der  Arbeit- 
nehmerseite  unzählige  Male  vorgeschlagen,  aber  nur  selten  ange* 
nommen.*)  Der  Tarifvertrag  der  Maurer  \on  Frankfurt  a.  M. 
(August  1898)  hat  die  Bestimmung^:  „Akkordarbeit  findet  nur  auf 
Wunsch  der  Arbeitnehmer  statt".*)  Andere  TariK'erträge  begnügen 
sich  mit  Bestimmungen,  die  innerhalb  des  Akkordsystems  das  Inter- 
esse der  Arbeitnehmer  sichern  sollen.  So  dicjeni^^e,  welche  den 
Akkordlohn  zu  seiner  Fixierung  in  einen  Akkord/.ettel  oder  ein 
Akkordbuch  aufnehmen  läfst,  oder  diejenige,  welche  dem  Arbeit* 


die  Arbeitgeber  setzen  ihren  Naroea  «n  den  Fufs  dieser  Li.«t  ^  jn  i  ilk*  Arbeiter  den 
ihren."   Dazu  eine  solche  Tabelle  für  die  Struiupfwirkerei  im  ..Anhang  '       342.  343). 

')  .I)a=;  Gewerbegeriiht"  I,  79.  —  Nach  dem  was  erfahrungsgemäN  in  Spe- 
zialisierung der  lAihnsatze  nacli  der  Art  der  Arlieit  j,'elei>tet  werden  kann,  wird  man 
es  n teilt  für  unausführbar  halten,  dafs  den  ortliolien  \  erschiedenheiten  vollstait'itg 
Rechnung  getragen  werde.  Hingegen  äufserte  beim  5.  V^erbandstagc  des  Zentralver- 
bftades  der  Bfauirer  ein  Teilnehmer:  „Einen  Tnrif  für  das  gan^e  Reich  wie  bei  den 
Bttcfadnickem  können  wir  nicht  nbtchliefsen,  weil  wir  es  mit  zu  verschiedenartigen 
Veihiltnlsten  xu  tfann  haben."   Protokoll  S.  143. 

*)  s.  B.  Verwnltuttgsbericht  des  Magistrats  su  Berlin  (Bericht  ftber  das  Ge* 
Werbegericht  $.  4  unten)  1897  S. 

*)  „Das  Gewerbegericht*«  IV.  s8. 

• 

4 

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Die  Tarifrettiige  swiicheii  ArtKitgebem  und  Aibciftaehnieni. 


17 


nchmcr  für  einen  <^'c\visscn  Zeitabschnitt  einen  gewissen  Mininial- 
verdicnst  aus  der  Akkordarbeit  trarantiert,  auf  dafs  er  bei  der  Akkord- 
löhnung nicht  schlechter  stehe,  als  bei  der  Zeitlöhnun^  der  Fall  sein 
würde.  Dahin  gehört  ferner  die  Restimmunj^^  welche  Akkord  bei 
Arbeiten  geringeren  Umfangcs  um  desselben  willen  ausschliefst  '), 
und  endlich  die  häufig  auftretenden  Bestimmungen,  welche  den 
Wert  beriicksirhtigend,  den  die  Zeit  für  den  Akkordarbeiter  hat, 
ihm  Entschädigungen  für  unfreiwillige  Pausen  zusichern,  oder  die 
Herbeischaffung  des  Arlieitsmaterials  von  der  Vorratsstättc  zur 
Arbeitsstätte  auf  die  Rechnung  des  Arbeitgebers  «letzen,  (mIcv  ^ic 
als  Zeitlohnarbeit  durch  die  sonst  iiii  Akkord  stehenden  Arbeiter 
ausführen  lassen. 

c)  auf  das  Objekt  des  Lohnes,  nämlich  den  Unterschied  von 
Geldlohn  und  Naturallohn  bezieht  sich  die  öfter  als  Forderung  ge- 
stellte, denn  in  \' ertrage  aufgenommene  Bestimmung,  dafs  Gewährung 
von  Kost  und  Logis  durch  den  Arbeitgeber  aufgehoben  sein  soll. 
Der  Vertrag  der  Brauerciarbeiter  in  Stuttgart  (vom  März  1S981  ent- 
hält die  Position:  „Das  Schlafen  in  der  Brauerei  ist  aufgehoben; 
seine  Kost  ninin\t  der  Brauer  nach  freier  Wahl."  *) 

d)  auf  den  Ort  des  I^ohnes  d.  h.  den  Ort  seiner  Auszahlung 
beziehen  sich  iBestimmungen  wie  die,  dafs  die  .Auszahlung  auf  der 
Arbeitsstelle  zu  erfolgen  habe,  damit  dem  \  on  der  Arbeit  ermüdeten 
Gläubiger  Zeit  und  Mühe  der  Abholung  des  Geldes  an  einem  ent- 
fernten Orte  erspart  werden. 

e)  auf  die  Zeit  des  I^hnes  d.  h.  die  Zeit  seiner  Auszahlung 
beziehen  sich  die  Bestimmungen,  welche  eine  gewisse  Lohnperiode 
festsetzen,  einen  gewissen  Zahltag,  eine  gewisse  Zahbtunde,  eine  ge- 
wisse Zeit,  mit  deren  Ablauf  die  Zahlung  beendigt  sein  mufs,  deren 
Ende  bisweilen  auf  das  Ende  der  Arbeitszeit  am  Zahltag  gesetzt 


>)  I.  B.  Tarifvertrag  der  Berliner  PoMmentiere :  „Bei  mllen  StvMarbeiten  be- 
ginnt  der  Akkord  ent  von  7  m  «nfwSrts.  Reste  bis  na  7  m  werden  in  Stundenlohn 
von  50  Pf.  «isgefttbrt.**  Sosldc  Pmis  IX,  lot. 

*)  Siebe  ferner  den  Bericht  Aber  den  im  April  1897  von  den  Schuhmachern 

in  Bremen  geschlossenen  Tarifvertrag  (Gewerbcgericht  [I.  75  :  „Es  wurde  «.-ine 
Einigung  dahin  erzielt,  dafs  die  Meister  sich  zu  verpflichten  haben,  falls  s;ie  Gehilfen 
Wohnung  f^ewähren  ein  heizbar«'s  Zimmer  von,  nani'Niilich  wenn  es  für  mehrere 
beistimmt  ist.  L;<  iiLi^.j'Mider  Grufse,  mit  dem  notwendigen  Mobiliar,  als  Tisch,  Stuhle, 
Kleiderbchälter,  VVascbgelegenheit,  und  für  jeden  ein  besonderes  ausreichendes  Bett 
SU  liefern." 

ArcUv  fiir  tM».  Gticagebunf  a.  Sutistik.  XV.  2 


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i8 


I'hilipp  Lot  mar. 


wird»  auf  dais  die  freie  Zeit  nicht  durch  das  Warten  auf  den  Knipfan^ 
der  Zahlung  geschmälert  werde.') 

2.  auf  die  Arbeitszeit  bezügliche.  Die  hierhergehörigen 
Bestimmungen  betreffen  die  Dauer  der  Arbeitszeit,  ihren  Anfang, 
ihr  Ende»  die  Zahlt  die  Länge  und  die  I^e  der  Pausen  inneriialb 
einer  Arbeitsperiode.*)  Alle  diese  Punkte  können  verschieden  ge- 
regelt sein  för  verschiedene  Jahreiueiten,  für  die  Normal'  und  für 
die  Ueberarbeit,  für  die  Arbeit  bei  Tag  oder  bei  Nacht,  an  Werk- 
tagen, an  Sonn>  und  Feiert^^n  und  an  den  Vortagen  solcher,  für 
verschiedene  Arbeitsprozesse  und  verschiedene  Arbeitnehmer.  Auch 
gehören  hierher  mancherlei  Bestimmungen  über  Fernhaltung  von 
Ueberzeit,  über  Gewährung  von  arbeitsfreien  Tagen,  Freinächten 
(z.  B.  bei  Bäckei^ehilfen)  und  Ferien. 

3.  auf  den  Arbeitsprozefs  im  ganzen  einschließlich  der 
Pausen  bezügliche,  als:  Bestimmungen  über  Anwendung  und  Aus- 
schliefsung  gewisser  Maschinen,  Stoffe,  Methoden  Einrichtung  von 
Ankleideräumen,  Baubuden,  überhaupt  hygienischer  Vorkehrungen; 
die  Bestimmung,  welche  humane  Behandlung  zusichert,  wozu  auch 
die  Abschaffung  des  Duzens  (natürlich  gegenüber  den  Arbeitern) 
gehört. 

4.  auf  Eingehung,  Einhaltung  und  Aufhebung  des 
Arbeitsvertrages  bezügliche.  Es  gehören  hierher  Bestimmungen 
über  die  Benutzung  eines  gewissen  Arbeitsnachweises,  über  Wieder» 
aufnähme  der  Arbeit,  über  Einstellung,  oder  Entlassung  gewisser 
Arbeiter,  z.  B.  auch  dafs  die  Gehilfen  nach  Bedarf  angestellt  werden, 
auch  wenn  sie  aus  Strikegebieten  kommen.^)  Femer  Bestimmungen 

*)  Der  Tarifvertrag  dtr  Btuschlosser  Mannheims  (BCai  1897)  besHiniiit  hier: 
„längeres  zU  Tiertelstfindiges  Warten  wird  ab  Ueberstunde  betrachtet**. 

*1  S.  z.  B.  den  einigttngsanitlichen  Schiedsftpnich  für  die  Berliner  Steinsetcer 

(Pflasteren  in  Soziale  Praxis  V'IH,  I035. 

•■•)  r.  B.  he«;timmt  der  Tarifvertrag  einer  b^hiuischen  Baumwollspinnerei  und 
-weherei  «las  Zweistuhls) stcm,  statt  der  I  i  1' nnjniy  von  drei  und  vier  Stählen  durch 
eineu  Weiu  r    .A'urwarts"  vom  19.  .September  iSgu  . 

*i  Siehe  auch  z.  H.  Nr.  3  u.  4  des  Tarifvertrags  für  Textilfnhriken  in  Kotlbus 
vom  19.  April  1S96  tSo£.  l'raxis  V,  S551;  „E>  ist  uichl  lu  uiugchen,  dafs  eine 
Ansahl  der  fräheren  Arbeiter  in  den  einzelnen  Fabriken  von  der  Wiederattf* 
nähme  aufgeschlossen  bleibt,  jedoch  soll  eine  sogen,  schwarte  leiste  nicht  verbreitet 
werden,  fiills  die  Arbeit  in  der  nächsten  Zeit  aufgenommen  wird.  —  So  lange  sich 
hierorts  ein  Mangel  an  Arbeitskriften  nicht  föhlbar  macht,  werden  wir  auswärtige 
Arbeiter  nicht  heranziehen."  —  Aehnlich  Nr.  3  des  Tarifvertrags  der  Former  in 
Berlin  (Oktober  1897;  „Das  Gewerbegericht''  III,  4). 


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Die  TarifvcTtiige  xwiadien  Arbeitgebern  und  ArbeitoduBern. 


19 


über  die  Zahl  der  in  einem  Betrieb  zulässigen  Lehrlinge  („Lehr- 
linj^^sskala'"  I.  Bestimmungen  über  Kündigungsfrist  {ihren  Ausschlufs, 
ihre  Dauer),  Kündigungstag  und  Kündigungsgründe,  über  Bildung 
eines  Arbcitcrausschusses,  über  den  Inhalt  einer  neuen  Arbeits- 
ordnung.über  Hebung  vnv.  Streitigkeiten,  die  bei  Vollziehung 
dt-r  \rbcits\c'rträge  entstehen,  durch  ein  Schiedsgericht;  im  Tarif- 
vertrag tler  Maurer  in  Berlin  vom  Juni  1899  ist  für  .Streitigkeiten 
zwischen  Arbeitgebern  und  Arbeitnehmern  auf  einer  Arbeitsstätte" 
ein  Instanzenzug  von  drei  Instanzen  vorgesehen.-) 

5.  auf  das  a  u  fs  e  r  d  i  en  s  1 1  i  c  h  e  Verhalten  der  Arbeit- 
nehmer bezügliche,  als:  Bestimmungen,  durch  welche  die  Orga- 
nisation der  Arbeiter  vom  Arbeitgeber  anerkannt  oder  \'ersprochen 
wird,  die  Zugehörigkeit  zur  Organisation  nicht  zu  beeinträchtigen,") 
ferner  Zusage  der  Arbeitnehmer,  solche  Mitarbeiter,  die  sich  dem 
dem  larifveilrag  vorangehenden  Strike  nicht  angeschlossen  haben, 
nicht  zu  verunglim{)fen,  Bestimmungen  über  die  Wrwendung  von 
Strafgeldern,  über  die  l  unktion  von  VV'ohlfahrtseinrichtungen,  über 
die  Wahl  der  Versicherung.skassc. 

6.  auf  den  Tarifvertrag  selbst  bezügliche,  niimlich  Be- 
stimmungen über  Anfang  und  Ende  seiner  (  ieltung  —  dahin  gehört 
z.  B.  das  \'ersi>rechen  der  Arbeitnehmer  „in  den  nächsten  zwei 
Jahren  keine  Lohnforderungen  zu  stellen"  -  über  seine  Kündigung 
und  Erneuerung,  über  Organe  (z.  B.  Kontrolkoimnissjon,  Tarifaus- 
schuls.  l  arifamt,  I*jnigung>amt  j  und  Methoden  seiner  Auslegung,  Aus- 
breitung, Durchführung  und  Verbesserung.^)  Im  einzelnen  gehören  dahin 

M  Bericht  ftber  das  Gewerbec«richt  ta  Berlin  (1897/8)  S.  9.  Im  Turifvertrag 
der  Stuttgarter  Klempner  vom  11.  Angnst  1899  (Sos.  Praxis  VHI,  1254)  lantet  Nr.  7: 
„Es  wird  gemoosciiafUieh  eine  f&r  slmtlicbe  hiesigen  Flaschner»  nnd  Instattatiom- 
gcschäffle  gflitigt  Werkstattordnong  angestellt** 

*)  Wenigstens  nach  der  Fassung  in  Soz.  Praxis  Vm,  1071,  Nr.  'V.  Sich« 
ferner  den  deutschen  Badtdruckeitarif  §  47. 

')  Tarifvertrag  der  Stut^arter  Brauereiarbeiter  („Vorwirts  vom  «3.  Hirz  1898): 

„Beiden  'IVilcn  wird  volbtändig  freies  Koalitionsrecht  zagestanden".  —  In  einem 

im  Juli  i8qo  für  das  Baugewerbe  von  Vorkshirc  geschlossenen  Tarifvertrag  ver- 
pfliohfn  sich  <lie  Frinzipalc.  Arbeiter,  von  denen  der  Gewerkverein  nachweist.  <laf? 
sie  ihm  lieitrn^e  •^ihulden,  zur  Zahlung  dieser  Beitrage  aniuhalten  und  im  Fall  der 

Weig«:ruug  /u  entlassen ! 

*)  ^  '  B.  Zahn  in  den  Sc  hriften  <lt-^  \  creiii^  für  Sozialpolitik  Bd.  45,  40I 
bis  403.  Deutscher  Buchdruckertarif  §§  39  —  53.  Tarifvertrag  Berliner  VVeifsgerber 
(Okt  1896)  Nr.  4  (Soz.  Praxis  DC,  130). 

2» 


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30 


r  h  1 1 1  p  i>  L  Ol  ma  r , 


z.  B.  die  Bestimmung,  dafs  der  Tarifvertrag  über  die  ihm  ursprüng- 
lich gesetzte  Geltungsfrist  ein  Jahr  in  Geltung  bleibt,  wenn  er  nicht 
rechtzeitig  gekündigt  wird,  oder  dals  zur  Vermeidung  der  Tarif- 
losigkcit  bei  Differenzen  über  die  Fortsetzung  des  Vertragsv'erhalt- 
nisses  beiderseits  das  Gewerbegericht  als  Einigungsamt  zur  Bei- 
legung angerufen  werde,  oder  eine  wie  Satz  MB  des  Tarifvertrags 
der  Berliner  Maurer  (vom  24.  Juni  1899):  „Sowohl  die  centrale  wie 
die  lokale  Organisation  der  Maurer,  sowie  die  Grewerkschafts- 
kommission  verpflichten  sich,  ihren  ganzen  Einflufs  für  Aufrecht- 
erhaltung dieser  Bedingungen  einzusetzen  und  im  Widerspruch  mit 
denselben  ausbrechende  Strikes  nicht  zu  unterstützen/' 

in.  Die  im  Vorstehenden  gegebene,  durch  die  Gruppirung  er- 
Idchterte  Uebersicht  über  den  Inhalt  des  Tarifvertrages  lehrt  die 
Marmigfoltigkeit  dieses  Inhalts  kennen.  Diese  Mannigfaltigkeit  rührt 
von  der  Vielheit  der  Interessen  her,  die  durch  den  Tarifvertrag 
wahrgenommen  werden  sollen.  Nun  ergibt  sich  aber  aus  der  Er- 
&hrung,  dafs  nicht  alle  Tarifvertrage  den  gleichen  Inhalt  haben. 
Man  könnte  daher  die  Tarifvertrage  verschiedenen  Inhalts  mit  ein- 
ander vergleichen  und  die  Frage  zu  beantworten  suchen,  worauf 
diese  inhaltliche  Verschiedenheit  zurückgeht  d.  h.  warum  jene  Ver- 
trage mit  verschiedenem  Inhalt  versehen  sind.  Man  wurde  darauf 
verweisen,  dafs  ungleiche  Gewerbe,  z.  B.  der  Bergbau  und  die 
Hafenarbeit,  die  Töpferei  und  die  Buchdruckerei  ungleiche  Bedürf- 
nisse haben,  und  dafs  daher  die  zur  Befriedigung  der  Bedürfnisse 
verschiedener  Gewerbe  bestimmten  Tarifverträge  notwendig  \'er- 
schiedenen  Inhalt  haben.  Eis  würde  sich  femer  zeigen,  dafs  die  Be- 
dürfiiisse  auch  des  nämlichen  Arbeitszweiges  nach  den  Umständen, 
unter  denen  es  zur  Schliefsung  von  Tarif\'erträgen  kommt,  ver- 
schieden sind  —  indem  z.  B.  kein  Anlafs  zu  Bestimmungen  über 
die  Akkordarbeit,  den  Naturallohn,  die  Wiederaufnahme  der  Arbeit, 
oder  die  Wiederanstellung  von  Arbeitern  gegeben  zu  sein  braucht 
—  was  eine  zweite  Ursache  inhaltlicher  Verschiedenheit  bilden  kann. 
Auch  konnte  sich  ergeben,  dafs  die  fiir  ein  Gewerbe  in  Frage 
kommende  Arbeiterschaft  oder  Unternehmerschaft  an  dem  Orte  oder 
zu  der  Zeit  der  VertragschUefsun;^  nicht  so  fest  und  zahlreich  ge- 
eint ist,  als  die  eines  anderen  Gewerbes,  oder  die  des  nämliclien 
anderwärts,  und  dals  sie  darum  die  Aufnahme  von  Vertragsbestim- 
mungen nicht  zu  erwirken  oder  zu  verhindern  vermag,  die  für  ein 
anderes  Gewerbe  oder  für  das  nämliche  an  anderem  Ort  getroffen 
oder  hintangehalten  werden  können  —   was  eine  dritte  Quelle 


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Dir  Twrifvertiftge  zwischrn  Arbntgebeni  und  Arbeitncbmeni. 


21 


<lcr  X'cr'^rhiedciiheit  im  Inhalt  der  l  arifvcrträj^c  sein  würde.  Allein 
diese,  liier  nur  an^^edrutetc  Untersuch utv^r  wurde  uns  zu  sehr  von 
unserem  Thema  entlernen  und  /um  l-.iti^^rciK  n  aui  tlie  Natur  und 
Lage  einzelner  Gewerbe  und  liirer  An^ehori^^en  nötigen. 

Statt  dessen  am  Tarifvertrag^  überhaupt  (unserem  Thema)  fcst- 
h.iltcnd  und  die  seinen  Inhalt  bildenden  Gegenstände  mit  einander 
-vergleichend  haben  wir  zur  Krläuterving  seines  Wesens  die  folgenden 
Unterschiede  liervor/ulicbcn,  vnn   drnrn   inanche,   wie   sich  spater 
zeigen  wird,  auch  iuristisch  folgciucicli  sind.  ') 

1.  You  den  stets  die  Mehrzahl  1  »ildciidcti  Hcstinmningen,  die 
sicli  unmittelbar  auf  tlas  gegenwärtige  uder  kuiittige  .Arbeits- 
verhältnis beziehen,  hcl)en  sich  /lu  örtlersl  diejeiügen  ab,  die  den 
Tarifvertrag  .selbst,  mler  eine  andere  >olche  g  e  n  e  r  e  1 1  c  T  e  b  e  r- 
einkunft  zum  Objekt  habeti.  Ks  sind  das  Bestimmungen  von  der 
unter  Nr.  6  erwähnten  .\rt,  nebsi  solchen,  welche  die  künftige 
Vereinbarung  eines  in  mehreres  Detail  gehenden  I.ohntarifs,  oder 
einer  Werkstattordnung  Icstsctzen.-)  Derartige  liestinnnungen  des 
Farifvertrags  beeinflussen  nicht  unmittelbar  die  Rechte  und  Pflichten 
des  Arbeitgebers  und  des  .\rbeitnehmers  aus  dem  Arbeitsvertrag, 
.sie  regulieren  das  Tarifvertrag.sverhältnis  selbst,  und  sind  für  .Arbeit- 
nehmer wie  Arbeilgel)er  wertvoll  nur  sofern  der  Tarifx  ertrag  im 
übrigen  für  sie  wert\nlle  Bestimmungen  enthält,  oder  -solche  den 
durch  den  Tarifvertrag  in  Aussicht  gestellten  .Spcziaitarifen,  Werk- 
stattordnungen  u.  dergl.  einverleibt  werden  sollten. 

2.  Von  den  l  arifvertragsbestniHiumgen  sind  ilie  meisten  von 
bleibender,  manche  aber  nur  \ oii  vorübergehender  Be- 
deutung. Die  letzteren,  l r a n  s i  t  o r  i  sc  h  e  n  werden  durch  die  I  in- 
stände  veranlaist,  die  zur  Zeit  der  Abschlielsung  des  Tarifverlrai^es 

Da  die  fulgcnden  Distinktionen  aus  mehrereo  €re«icht8pankten  gemacht  siod, 
•o  kuB  di«  nXniliche  Alt  von  Bestuunrangeii  bei  mdir  ab  «iner  UDtendieidiiiig 
vorkonnen. 

")  z.  B.  oben  oater  Nr.  4  S.  19  Anm.  i  und  TarfArcrtiag  der'  Bcrltncr  Manier 
(Jmi  1S99):  „AUjibrlicli  im  Herbit  hat  die  unter  Nr.  III  bezeidmete  Komminion 
satamnensatreten  imd  die  Arbeits-  and  Lohnverhältnisse  für  die  Baupertode  dei 
Düchstrn  Tahrrs  festzusetzen.*'  Tarifvertrag  der  Tischler  in  Kiel  („Das  Oewerbc- 
gerich;"  II.  1261  Es  wird  alsbald  ein  gemeinsamer  Ausschufs  gebildet,  bestchcjid 
au<  [c  i  \'crtr«-trrn  der  Arbeitgeher  und  Arbeitnehmer  at  zur  Beratung  und  Auf- 
stellung von  Akkordtarifen,  b)  zur  Feststellung  drr  Wr^'utung  für  .Auf^-tnaj  bcit, 
c)  zur  Regelung  der  Arbeitszeit,  d)  als  dauernde  Einrichtung  zur  Schlichtung  von 
Streitigkeiteii". 


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22 


Philipp  L  u  i  tu  a  I , 


obwalten,  aber  nicht  andauern,  oder  nicht  andauern  sollen.  Diese 
Umstände  bestehen  in  Bewc^un^cn,  Kämpfen  und  Kani}li>  »Mtionen, 
die  vor  den  Vcrtragsverhandlungen  und  während  derselben  unter- 
nommen oder  eingenommen  worden  sind  und  durch  den  Vertrags- 
schluls  gründlich  au%ehoben  und  gegenstandslos  werden  sollen.  Es 
gehören  dahin  Bestimmungen  über  die  Wiederaufnahme  der  Arbeit, 
soweit  eine  Arbeitsniederl^ung  geschehen  ist,  über  die  Aufhebung 
einer  Sperre,  eines  Boykotts,  einer  Arbeiteraussperrung,  Uber  Rück- 
nahme von  Kündigungen,  Wiedereinstellung  von  Arbeitnehmern, 
bisher  verweigerte  Entlassung  milsliebiger  Mitarbeiter,  Vorarbeiter, 
Werkföhrer  u.  dergl.  Eine  oft  wiederkehrende,  obwohl  nicht  pracb 
gefalste,  transitorische  Bestimmung,  ist  die,  da(s  „Mafsregelungen'* 
nicht  stattfinden  dürfen.') 

3.  Unter  den  nicht  transitorischen,  sondern  auf  die  Dauer  be- 
rechneten  Bestimmungen  gibt  es  einerseits  solche,  die  ein  von 
der  allgemeinen  Regelung,  nämlich  von  der  Gesetzgebung 
völlig  unberührt  gelassenes  Feld  der  vertragsmäfsigen  Rege- 
lung unterstellen,  wie  z.  B.  den  Arbeitsnachweis,  den  Schutz  der 
Koalitionsfreiheit,  und  besonders  die  Lohne  nach  ihrer  Gröfse  und 
nach  der  Einheit,  für  die  der  Lohnsau  bestimmt  ist;  denn  das 
Gesetz  überlalst  es  gänzlich  der  Privatdisposition,  ob  die  I  Ahnung 
nach  der  Zeit  oder  nach  dem  Stück  erfolgen  und  in  beiden  Fällen, 
wie  hoch,  oder  wie  niedrig  der  Lohnsatz  ftir  den  malsgebenden 
Zeitabschnitt,  oder  für  das  maßgebende  Stück  sein,  endlich  ob  fiir 
Ueberzeitarbeit  ein  Zuschlag  und  von  welcher  Gröfse  eintreten  soll. 
Die  einzige  gesetzliche  Schranke  für  Höhe  oder  Niedrigkeit  des 
Ix>hnes  besteht  in  der  Abweisung  wucherischer  Ausbeutung  der 
Notlage,  des  Leichtsinns,  oder  der  Uner&hrenheit  Und  selbst  diese 
Schranke  scheint  bis  zur  Unsichtbarkeit  fem  gerückt  zu  sein,  indem 
die  Hungerlöhne  in  vielen  Hausindustrien  unangefochten  bestehen, 
obwohl  es  hier  an  der  gewerbs'  oder  gewohnheitsmäfsigen 
Ausbeutung,  die  zur  Strafbarkeit  gehört,  nicht  fehlt 

Diesen  Bestimmungen,  die  ein  von  den  Gesetzen  gar  nicht  be- 

')  Transitorisch  ist  auch  folgende  Bestimmung;  .sie  i»t  /war  durch  Lm»lande 
veranlafüt,  die  bei  der  Vertragschliefsuag  ubwaltcn,  aber  uicht  unter  den  Paciscenteu, 
•ondern  unter  ihren  Beniiicenonen.  Sie  erscheint  im  Tarifvertrag,  durch  den  der 
Scrike  der  Zimmerer  in  Barmen  (im  Aogttst  1899)  geendigt  wurde  und  lautet: 
„Die  Meister  Tersprechen,  so  lange  der  Elber felder  Zimmererausttand  andauert, 
keine  Arbeit  von  den  dortigen  Meistern  zu  übernehmen,  sowie  auch  während  dieser 
Zeit  keine  Gesellen  nach  Elberfeld  zu  verleihen*'.  „Vorwärts"  vom  24.  Aug.  1899. 


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Die  TarifTerträge  «wischen  Arbeitgebern  und  Arbeitnehmern.  23 

strichcncs  I  cKl  /w  ir  einer  i^encrcUen,  aber  tloch  nur  \'erlra'^>,märsi5^en 
Re^cluiij^'  iinlcrwci  ten.  stehen  diejeni*(en  gegenüber,  die  in  tlen 
Bereich  der  (i  e  s  e  i  e  b  u  n  g  ein<]jreifen.  Das  ist  entweder  so 
der  Fall,  dals  sie  sich  an  die  Stelle  einer  d  i  s  p  o  s  i  t  i  v  c  n  V'er- 
fuj^un«^  des  Geselz;4ebers  setzen,  /.  H.  iiuleni  sie  du-  Kundii^uni^  ab- 
weichend vom  Gesetze  regeln ;  oder  so,  dafs  sie,  wo  das  (lesetz  nur 
den  Grundsatz  aufgestellt,  oder  einer  Autorität  von  geringerer 
Kompetenz,  etwa  der  Gemeinde,  dem  Bundesrat,  der  LandeszeiilLil- 
behörde,  der  Handwerkskammer,  oder  der  Innung  die  Ordnung  an- 
hcimgestellt  hat,  den  noch  freigelassenen  Raum  selber  aus- 
ftUlen:  z.  B.  die  Bestimmungen  über  die  Zeit  der  Lohnzahlung,  über 
die  Beschränkung  der  Lehrlingszahl,  über  Dauer,  Beginn,  Ende  und 
Zwischenpausen  der  täglichen  Arbeitszeit  erwachsener  Arbeiter.*) 
Viele  der  hierhergehörigen  Vertragsbestimmungen  liegen  in  der 
Richtung  der  Gesetzgebung,  sind  Ausführungen  gesetzlicher 
Voischriften  oder  ersetzen  Vorschriften  von  Behörden:  man  ver- 
gleiche z.  B.  den  §  51  des  deutschen  Buchdruckertari^  der  die  neun- 
stündige Arbeitszeit  festsetzt,  mit  der  bundesratlichen  Bekannt* 
machung  betretend  den  Betrieb  von  Backereien  und  Konditoreien, 
der  die  Arbeitsschicht  der  Gehilfen  auf  zwölf  Stunden  normiert. 

4.  Man  kann  den  Inhßlt  des  Tarifvertrags  nicht  blols  (wie  eben 
unter  Nr.  3  geschehen)  mit  dem  Inhalt  gesetzlicher  Vor* 
Schriften  oder  ähnlicher,  von  einer  über  den  Parteien  stehenden 
Autorität  erlassener  Vorschriften  vergleichen,  man  kann  ihn  auch 
mit  dem  Inhalt  der  individuellen  Uebereinkünfte  veigleichen. 
Im  individuellen  Vertrag,  im  Arbeitsvertrag,  sucht  jeder  Kontrahent 
sein  Einzelinteresse  zur  Geltung  zu  bringen,  nämlich  das  Arbeits* 
Verhältnis  so  zu  gestalten,  wie  es  ihm  als  Arbeitgeber,  oder  als 
Arbeitnehmer  am  vorteilhaftesten  erscheint  z.  B.  in  Ansehung  des 
Lohnbetrags,  der  Arbeitszeit,  der  Vertragszeit  Die  nämlichen 
Punkte  können  auch  durch  kollektive  Vertragschlielsung  geregelt 
werden  d.  h.  den  Inhalt  eines  Tarifvertrags  bilden,  und  solche  ge- 
meinsame Regelung  hat  bestimmte  Bedeutungen,  namentlich  auch  die, 
die  Wahrnehmung  des  Einzelinteresses,  die  dem  isolierten  Kontra- 
henten nicht  erreichbar  ist,  zur  gemeinen  Sache  Seinesgleichen  zu 
machen. 

Dieser  generelle  .Vertrag  bietet  aber  Raum  nicht  blols  für  die 
Punkte,  die  der  individuellen  Regelung  unterstehen  können,  sondern 


<)  Vgl.  Gcw.O.  §§  iiga  Ab«.  2  Kr.  i,  laS  Abs.  3,  130,  i2oe  Abs.  3. 


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24 


Philipp  Lotmar, 


auch  für  solche,  die  dem  individuellen  Uebereinkommen  fern  stehen, 
und  deren  kollektive  Regelung  gerade  dadurch  veranlagst  wird,  da£s 

die  summierten  Interessen  einer  Mehrheit  und  die  Interessen,  die 
sie  als  (dieder  dieser  Mehrheit  haben,  um  Ausdruck  und  Wahrung 
rin-^en.  Der  TarifvcrtraL;  tiimmt  Interessen  in  seinen  Inhalt  auf,  die, 
weil  sie  über  das  des  Individuunis  hinausziehen,  weil  sie  in  den 
Bereich  di-  ]'■'  rufs-,  Standes-  oder  Kla-sseninteresses  hineinragen, 
der  individuellen  Regelung  durch  den  einzelnen  Arbeits\'ertrag  mehr 
oder  weniger  völlig  entrückt  sind. 

Auch  vermöge  des  (iewichts,  das  auf  der  Seite  der  Arln-it- 
nehmer  und  manchmal  auch  auf  der  der  Arbeitgeber  bei  der  kollek- 
tiven im  GeL^^ensatz  zur  individuellen  Vertragsschliefsung  durch  die 
Mehrheit  der  l  eilnehnier  ins  Si>iel  kominl,  können  im  Tarifvertrag 
Festsetzung6n  Platz  hnden,  die  durch  Arbeitsverträi^e  nicht  erlang- 
bar sind.  Das  <  it  wi«  lit  der  Mehrheit  beruht  nicht  blofs  auf  dem 
unmittelbaren  Eindruck,  den  jede  einmütige  Mehrheit  machen  kann, 
sondern  auch  auf  der  durch  sie  geweckten  Erwägung,  dafs  andere 
Arbeitgeber  oder  Arbeitnehmer,  mit  denen  sich  zu  genehmeren  Be- 
dingungen Arbeits  vertrage  schliefsen  lassen  (ouUuders),  schwerer  zu 
finden  sein  werden. 

Im  ganzen  ist  es  nur  natürlich,  dafs  drr  I  n  ifvertrag,  der  in 
der  Mehrheil  der  Kontrahenten  seine  eigentümliche  Form  hat.  auch 
eine  dieser  Form  entsprechende  Eigentümlichkeit  des  Inhalts  habe. 
Diese  auf  den  z.uletzt  erwähnten  Gründen  —  ( iesanit  interesse  und 
(iewicht  der  Mehrheit  —  beruhende  Eigentümlichkeit  lal^t  sich  an 
folgenden  Beispielen  erläutern: 

Alle  Bestimmungen  über  den  Tarifvertrag  selbst  — 
die  Dauer  seiner  Wirksamkeit ,  seine  Erneuerung  oder  Aenderung, 
die  Mittel  seiner  Aufrechterhaltung  und  dgl.  —  eignen  sich  nur 
für  den  Tarifvertrag  und  nicht  für  den  individuellen  \'ertrag,  den 
Arbeitsvertrag.  Das  Interesse  am  Bestand  des  Tarifvertrags  ist 
augenscheinlich  eines,  das  über  das  Interesse  des  einzelnen  Arbeit- 
nehmers und.  falls  mehrere  .Arbeitgeber  am  l  ariKerlrag  beteiligt 
sind,  über  das  Interes.>c  des  einzelnen  Arl)eitgebers  liinausiTclu.  Fs 
wäre  widersinnig,  nachdem  ein  Taritverlrag  zustande  gekonnnen  ist, 
z.  B.  die  Dauer  seiner  Wirksamkeit  im  einzelnen  .Arbeitsvertrag  für 
den  an  diesem  beteili<7tcn  einzelnen  Arbeitnehmer  und  Arbeit^jeber 
festzusetzen.  Uebcrdem  würde  dies  dahin  führen  können,  dals  jene 
Wirksamkeit  im  X'erhältnis  eines  .ArbeitL^ebers  zu  verschiedenen  .Arbeit- 
nehmern oder  im  Verhältnis  verschiedener  Arbeitgeber  zu  verschiedenen 


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Die  Tarifverträge  zwischen  Arbeitgebern  und  Arbeitnehmern. 


Arbeitnehmern  zu  verschiedenen  Zeiten  zu  Ende  ginge,  ob- 
wohl der  Tarifvertrag  von  allen  diesen  Personen  geschlossen  worden 
ist.  Und  was  von  der  Dauer  der  Wirksamkeit  i,ts.igt  wurde,  ist  auch 
für  die  übrigen  dem  Tarifvertrag  selbst  geltenden  Bestimmungen  so 
einleuchtend,  dafe  mgn  derartige  Bestimmungen  nur  zu  lesen  braucht, 
um  einzusehen,  dafs  soldier  Inhalt  die  Form  kc^ektiver  Vertrags 
schliefsung  ebenso  erheischt,  als  er  der  individuellen  widetstrebt ') 

Die  Anerkennung  einer  Arbeiterorganisation  — 
demgemäfs  die  Zusicherung,  die  Teilnahme  daran  nicht  zu  hindern, 
ihretwegen  nicht  zu  entlassen,  und  wohl  auch  gegebenenüalls  mit 
den  Leitern  der  Organisation  zu  verhandeln  —  geht  über  das  Indi- 
vidualtntei^esse  des  Arbeitnehmers  hinaus.  Der  Arbeiter,  der  bei 
Abschlufs  des  Arbeitsvertrags  sich  jene  Anerkennung  ausbedingen 
und  sich  damit  als  Organisierten  bekennen  würde  und  doch  einen 
Arbeitgeber  hat,  der  ihn,  den  Organisierten,  anzustellen  bereit  ist, 
würde  für  seine  Person  oder  als  Arbeitnehmer  kein  Interesse  an 
jener  Vertragsbestimmung  haben :  ihre  Aufnahme  in  seinen  Arbeits- 
vertrag hätte  mit  seinem  Arbeitsverhältnis  nichts  zu  thun.  Das 
Interesse  einer  Mehrheit,  das  hier  in  Frage  steht,  eignet  sich  daher 
nur  zu  einer  Vertragsdiliefsung  durch  eine  Mehrheit  d.  h.  zum  In* 
halt  eines  Vertn^,  den  mehrere  kollektiv  schliefsen.  Wollte  man, 
an  eine  Mehrzahl  von  Arbeitgebern  denkend,  ein  individuelles 
Interesse  des  Arbeiters  darum  annehmen,  weil  er  bei  Endigung  seines 
gegenwärtigen  Arbeitsverhältnisses  an  der  Erlangung  eines  neuen  bd 
einem  anderen  Arbeitgeber  durch  dessen  Widerstreben  gegen  die 
Oi^anisation  gehindert  sein  kann,  so  ist  wiederum  ersichtlich,  dass 
er  dieses  Interesse  nicht  durch  seinen  jetzigen  Arbeitsvertrag  ver- 
folgen kann,  dals  es  vielmehr,  als  über  denselben  hinausragend,  nur 
durch  einen  kollektiven  Vertrag  wahlgenommen  werden  kann,  den 
eine  Mehrheit  von  Arbeitnehmern  mit  einer  Mehrheit  von  Arbdt- 
gebem  abschliefst 

Ob  ein  bestimmter  Arbeitsnachweis,  dn  von  den  Arbeit- 

')  Siehe  obeu  S.  19  Nr.  6  und  z.  Ii.  im  Tarifvt-rtrag  der  Berlii»er  VVcifsgerber 
den  Passus:  ..F<^  loll  cl«rn  I'artcicn  freistehen  innerhalb  3  Monaten  vor  Ablauf  des 
Vertrags  über  Aenderungen  der  Arbcit.«l>cdiDgwngfn  in  Verhandlung  zu  treten. 
Arbeitgeber  sowohl  wie  Arbeitnehmer  verptlichten  sich  hiermit  ausdrücklich,  falls 
Iceine  arae  Vcniobaning  bis  tarn  AbUaf  des  Vcrti«fi  tastande  koom^  bcidMadIt 
«ngdwiMl  da»  Einigungsamt  de*  Gewerbagcricbtt  tat  Beilegung  der  Diflere&sen  an* 
carafcn.  Bit  rar  Eatacbcidiiiig  dct  EinigQD(Huntc«  darf  weder  eine  Aasqiemmg 
noch  da  AaiBtand  ■tattfiadea." 


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20 


l'UHipp  Lotmar. 


t 


gebcm  oder  ein  von  den  Arbeitnehntcrn  geleiteter,  ein  g^emuicliter 
oder  ein  neutraler  benutzt  werden  soll,  kann  dem  einzelnen  Arbeit* 
geber  oder  Arbeitnehmer,  die  zusammen  einen  Arbeitsvertrag  ein* 
gehen,  bei  solchem  Kontrakt  gleichgültig  sein,  so  dals  sie  eine  He- 
Stimmung  über  Arbeitsnachweis  in  ihren  Arbeitsvertrag  aufeu- 
nehmen,  kein  Interesse  haben.  Weil  es  sich  beim  Arbeitsnachweis 
um  kein  Individualinteresse  der  Kontrahenten  eines  Arbeitsvertrags 
handelt,  ist  eine  ihn  angehende  Bestimmung  zur  Aufnahme  in 
solchen  Vertrag  nicht  geeignet  Wohl  aber  palst  sie  in  einen 
Tarifvertrag,  der  die  den  einzelnen  Arbeitsvertrag  überschreitenden 
Interessen  jeder  Partei  zur  Geltung  bringen  kann. 

Auch  die  Beschränkung  der  Lehrlingszahl  ist  ein 
Gegenstand,  der  sich  nur  zur  Aufnahme  in  einen  Tarifi'ertrag  eignet \) 
Dem  Gesellen  oder  Gehilfen,  der  als  solcher  in  ein  Arbeitsverhält- 
nis tritt  oder  sich  in  einem  Arbeitsx'erhaltnis  befindet,  konnte  ei, 
sollte  man  meinen,  gleichgültig^  sein,  wie  Wele  Lehrlinge  sein 
Arbeitgeber  oder  fremde  Arbeitgeber  zu  beschäftigen  fiir  gut 
finden.  Die  im  Arbeitsvertrag  ausbedungenen  Leistungen  werden 
davon  nicht  berührt.  Und  doch  wird  auch  das  indinduelle  Inter- 
esse des  Gesellen  hierdurch  Unterbietung  bedroht:  er  kann  durch 
die  billigere  Arbeitskraft  eines  älteren  (d.  h.  bald  ausgelemten)  Lehr 
lings  aus  seiner  Stelle  verdrängt  werden  und  findet  einen  Ematz 
bei  einem  neuen  Arbeitgeber  möglicherweise  darum  nicht  weil  die 
nämlichen  billigeren  Arbeitskräfte  die  Gesellenplätzc  einnehmen. 
Gegen  die  erstere  Ge&hr  könnte  der  Arbeitsvertrag  Schutz  bieten, 
ohne  doch  die  Lehrlingszahl  zu  beschränken.^  Wenn  aber  der 
Geselle  aus  irgend  einem  Grunde  das  so  geschützte  Arbeitsverhält« 
nis  geendigt  hat,  so  gewährt  ihm  sein  früherer  .Arbeitsvertrag  keine 
Hilfe  wider  die  zweite  Gefahr.  Diesem  Interesse  des  Arbeiters, 
das  er  nicht  blofs  gegenüber  seinem,  also  einem  bestimmten 
Arbeitgeber,  sondern  gegenüber  allen  Unternehmern  seines  Faches 
hat  vermag  sein  individueller  Vertrag  nicht  Rechnung  zu  tragen: 
es  kann  nur  durch  einen  d  i  e  Arbeitgeber  umspannenden  Kollektiv» 


')  Was  hier  too  den  Geselleo  und  den  Lehrliu^^cii  gesagt  wird,  gilt  «uch  in 
niMcheo  Gewerben,  t,  B.  der  Brauerei,  von  den  fachlich  ausgebildeten  und  den 
..Hilftarbettem*'. 

*)  Tiedemann,  Die  neuere  Entwicklung  der  Arbeitsverhältnisse  und  die  ge- 
'gewerkachaftl.  Organisation  im  Buchdnickgewerbe  (S.>A.  aus  Z.  f.  d.  ges.  Staats* 
wissemch.  1897)  S.  49. 


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Die  Tariü-erträge  xwbcben  Arbeitgeb«ni  und  Arbeitnchmero.  2/ 

x  crira^'  wahrgeiioiniiu  n  wcnicn.  Und  j^ar  für  das  Berufs-,  Staiides- 
odcr  KlasseninUi  ('s>c  an  der  Nic<lcrhallunpf  der  Lehrliiigszahl  erweist 
sich  der  individuelle  X'ertra-  .iLs  ottenbar  iiuzulänj^lich.  Die  üe- 
Äaintlaj^^e  kann  nicht  durch  Kinzel\ ertra«^,  wohl  aber  die  Eiii/ellaore 
durch  ( icsanuverlra^^  l^^eschirnit  werden,  und  eben  dieser  kolk  ktive 
Vertrag'  vermag  im  Gcsamtiiiteresäc  das  Angebot  von  Arbeitskraiten 
niederzuhalten,  '  i 

5.  Unter  den  Bestimmun^ren.  die  uns  im  Tarifvertra{^'  bege;4neii, 
wallen  auch  juristische  Unterschiede  ob,  d.  h.  solche,  die  die 
an  den  Tarifvertrag^  sicii  anknüpfende  Recluswirkung  beeinflu>.>en, 
wie  sich  bei  der  späteren  Betrachtung  dieser  Rechtswirkung  zeigen 
soll.    Man  kann 

a)  unterscheiden  Bestimmungen,  die  ihren  (iegenstaiut  einfacli, 
fest  und  erschöi)tend  regeln,  und  solche,  die  einen  gewis>en  S|>iel- 
räum  lassen,  nur  eine  Norm  angeben,  eine  obere  oder  untere 
Grenze  ziehen. '-|  Die  erstcrcn  können  nur  einhciilu  h  befolgt  oder 
übertreten  wertlen,  während  bei  den  letzteren  ilie  Minhailung  eine 
gewisse  Mannigfaltigkeit  nicht  ausschliefst,  wenn  nur  von  gewissen 
Grundlinien  nicht  abgewichen  wird.  Zu  den  ersleren  gehören  auch 
die  Fälle,  in  denen  der  l  arilv  ertrag  für  verschiedene  .-\i  beiteii  einer 
Gattung,  oder  für  Arbeitnehmer  verschiedenen  Lebens-  oder  Dienst- 
alters, oder  für  verschiedene  Orte  eines  Landes  \erschiedene  aber 
feste  Lohnsätze  aulstclll,  da  iiier  überall  tler  individuellen  Regelung 
kein  Raum  gelassen  ist.  Wohl  aber  ist  dies  der  hall  und  haben 
wir  elastische  Bestinunungen  vor  uns.  wenn  der  Lohn  nur  als 
D  u  r  c  h  s  c  h  n  i  1 1  s  1  o  h  n ,  )  oder  als  M  i  n  i  m  a  1 1  o  h  n  oder  mit 
Minimum  und  Maximum  bestimmt  ist,*)  oder  wenn  zweierlei  Tarif 

*)  Vgl.  TiedenaDD  ■.«.().  $0.  51  und  Zahn  10  Scbriftcn  des  Vereins  flu* 
Sosialpolitfc  Bd.  45  S.  344. 

*}  Zu  keiner  der  beiden  Arten  gehören  Sttse,  die  eine  Enthnltnng  von 
kollditiver  R^dnng  nnstprcdwn  wie  s.  B.  „die  Akkordlohne  bleiben  der  freien 
Vereinbarung  übe^la5seB*^  |j>er  Lohnsatz  für  durch  Unfall,  Alter,  Invaliditfit  minder 
leistnngsfähige  Gesellen  unterliegt  der  freien  Vereiobarung.**  , .Hebräischer  und 
sonstiger  orientalischer  äatz,  sowie  MusikniHensnU  werden  nach  besonderer  l'eber- 
einkunft  berechnet." 

'j  Tarifvertrag  für  das  Ziiumerergcwcrbe  in  lireiaeii  (August  1899  :  ..Der 
Durchschnittslohn  betragt  46  Pf.  pro  Stunde,  je  nach  der  Leistung  wird  mehr  «xler 
weniger  bcnhlt." 

*)  „Stnndenlohn  vom  l.  August  ao  je  nach  Leistung  des  Arbeitnehmers  2$  bis 
36  Pf.**  Tarifvertrag  der  Zimmerer  in  Pforzheim  („Gcwerbegericht"  II,  126).  „¥lu 


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28 


Phil  pp  I, Otmar, 


für  das  nämliche  Gewerbe  aufgestellt, ')  oder  gesa^^  ist,  dafs  Nacht- 
und  Sonntagsarbeit  „nur  in  ganz  dringenden  I*'ällen"  stattfinden 
sollen. 

b)  Bestimmungen,  die  die  eine  «ulcr  die  andere  Tartei  unmittel- 
bar d.  h.  allein  aus  dem  Tarifvertrag  zu  einer  Leistung,  einem  Thun 
oder  lassen,  verpflichten .  un{l  solche,  von  denen  dies  nicht  gilt. 
Zu  den  ersteren  gehören  die  über  Wiederaufnahme  der  Arbeit, 
Wiederanstellung  Cicmafsregelter  oder  Ausgesi>errter,  Unterlassung 
von  Mafsregclungen,  Entlassung  gewisser  Arbeiter  oder  Werkmeister, 
Anbringung  des  auf  l'Jakate  gedruckten  Tarifs  in  den  Arbeitsräumen, 
Einrichtung  von  bestimmC'^n  Haubuden,  Einhaltung  einer  gewissen 
Lchrlingszahl  d.  h.  Nichlübersc.'jreitung  ilieser  Zahl,  Benutzung  eines 
gewissen  Arbeitsnachweises,  Bereitwilligkeit  zur  Begründung  eines 
gewissen  Arbeitsnachweises,  zur  Ausarbeitung  gewisser  Spezialtarife. 
Bestimmungen  dagegen,  die  nicht  unmr.Uclbar  zu  einer  Leistung 
verpflichten,  sind  z.  B.  solche  über  Anfang  u.'^d  lini\c  tler  W'irksam- 
keit  des  Tarifvertrags,  und  die  unter  cl  zuerst  j/enanntcn. 

c)  Einerseits  Bestimmungen,  die  die  künfti<'ei^  Arbeitsverträge 
regeln,  nämlich  Bestandteile  solcher  ArbeitsverträgeXwt^rden  sollen, 
also  nur  unter  der  X'oraussetzung  des  Abschlusses  sok^'i^'"  Arbeits- 
verträge wirken,  und  andererseits  alle  übrigen  Bestimmi^"JJ^"-  ^^'^ 
ersteren  —  man   kann  sie  Lohn-  und  Arbeitsbedingungen^  *•  ^-  ^• 
nennen-)   —   bilden   den  (irundstock   des  Tarifvertrags,  jpiachen 
seinen  wesentlichen  Inhalt  aus;  sie  betreffen  die  aus  den  AV''^'^' 
vertragen    zu    gewährenden  Leistungen    und  GegenleistungeiiJ' 
ziehen  sich  also  auf  den  Lohn  nach  allen  seinen  früher  erört**^^" 
Seiten   und   ebenso  auf  die   Arbeit.    Sie  bestimmen  namen»'*^^^ 
Gröise,  Form,  Objekt,  Ort  und  Zeit  des  Lohnes,  und  bei  der  Arl^^*^ 
die  Arbeitszeit.    Ferner  gehören  hierher  die  Bestimmungen  über! 
Vertrags/.eit,  namentlich  über  Kündigung.    Dieser  viel  umfassencW^" 
Gruppe   stehen  diejenigen  Bestimmungen  gegenüber,  die  nicht  (4'^ 

Salpeter,  Guano,  loses  Getreide  .  .  .  wird  ein  Tagelohn  zwischen  4,20  und  5  MI 
be/ahll."    Lohntarif  der  Hamburger  Schauericute  (Protokolle  der  Senatskommis'iioiJ 
1S08  S.  3491. 

Vi  Im  Tarifvertrag  der  Schneider  in  Königsberg  i.März.  18Q9)  ist  bestimmt, 
dafs  über  die  Zuteilung  dor  einzelnen  (ieschäfte  an  den  ersten  oder  zweiten  Tarif 
in  strittigen  Fällen  das  (jewerbegericht  entscheidet. 

*)  Im  weiteren  Sinn  umfafst  der  Ausdruck  ,.Lohn-  und  Arbeitsbedingungen" 
den  ganzen  Inhalt  des  Tarifvertrags.  —  Eigentlich  zählt  der  Lohn,  den  sich  jemand 
far  seine  Arbeit  ausbedingt,  auch  zu  den  Arbeitsbedingungen. 


Ii 


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Die  TsuifvertrSge  swiscben  Arbeitgebern  and  Arbeitnehmern. 


29 


einzelnen  .Xrhcil^vcrträ^c,  auch  nicht  niiitelhat,  re;^ehi,  sondern  fiur 
auf  andere  Weise  die  Beziehungen  der  Kontralienten  des  Tarifver- 
trags zu  einander  beeintlussen,  sei  es,  dals  sie  einem  oder  dem 
anderen  eine  Leistung  an  den  Gegner  auferlegen  (S.  28,  b\  sei  es 
dafs  sie  sich  mit  dem  Tarifvertrag  selbst  befassen  (S.  21,  i). 

IV.  A  b  s  c  h  l  i  c  f  s  u  n  g. 

L  Aus  dem  Vorausgehenden  ergiebt  sich,  dafs  die  uns  l)eschäftigen- 
den  Tarifvertrage  der  Arbeitgeber  und  der  Arbeitnehmer  X'erträge  sind, 
welche  fiir  unter  den  Kontrahenten  k  ü  n  ftig  abzuschliefsende  Arbeits- 
vertrage die  Lohn-  und  Arbeitsbedingungen  i.  e.  S.  (S.  28,  c)  fest- 
setzen und  autserdem  noch  anderen  Inhalt  haben  können. 

Ein  solcher  Vertrag  setzt  eine  Mehrheit  auf  selten  der 
Arbeitnehmerpartei  voraus,  d.  h.  derjenigen  Partei,  welche  in  den 
künftig  abzuschließenden  Arbeitsverträgen  die  Stellung  des  Arbeit- 
nehmers hat  Ein  von  einer  Mehrheit  von  Arbeitern  mit  einem 
Unternehmer  abgeschlossener,  die  Lohn-  und  Arbeitsbedingungen 
festsetzender  Vertrag  ist  kein  Tarii\'ertrag,  wenn  er  diese  Be- 
dingungen ftir  ihren  g  e  g  e  n  w  ä  r  t  i  g  e  n  Vertrag  festsetzt  Der*\''er- 
trag  z.  B.  eines  Bauunternehmers  mit  fiin&ig  italienischen  Maurern, 
eines  Gutsbesitzers  mit  hundert  litauischen  Schnittern,  eines  Rüben- 
zucker&brikanten  mit  fünfisig  polnischen  Arbeitern  ist  kein  Tarif- 
vertrag, indem  er  nicht  die  Bedingungen  für  kü  nfti  g  abzuschliefsende 
Arbeitsverträge  enthalt,  vielmehr  haben  wir  hier  gegenwärtige 
Arbeitsverträge  vor  uns  und  zwar  so  viele,  als  Arbeitnehmer 
vorhanden  sind  Der  Mehrheit  von  Arbeitnehmern  entspricht  die 
Mehrheit  von  Arbeitsverträgen.  Nur  der  Kürze  halber  sind  diese 
mehreren  Arbeitsverträge  in  einen  Akt  oder  in  eine  Urkunde  zu« 
sammengezogen; in  extenso  hätte  auch  mit  jedem  einzelnen 
Arbeiter  ein  besonderer  Vertrag  geschlossen  werden  können. 

Dagegen  der  Tarifvertrag  ist  nur  ein  Vertrag,  trotzdem  er 
von  einer  Mehrheit  von  Arbeitern  geschlossen  wird.  Und  diese 
Einheit  ist  nicht  eine  äulserliche  d.  h.  nicht  Folge  einer  Zusammen- 
ziehung mehrere  Vertrage,  sondern  sie  beruht  auf  dem  wesentlichen 
Inhalt  und  damit  auf  dem  inneren  Wesen  des  Tarifvertrags.  Er 
setzt  nämlich  die  Bedingungen  fiir  die  Arbeitsverträge  einer  Mehr- 
heit von  Arbeitern:  ein  solcher  Vertrag  kann  nicht  mit  einem 


1)  Vgl.  s.  B.  L«ndarbeit«r  in  Devtichlmd  II,  577,  583,  5S5. 


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30 


Philipp  1.  otniiir. 


einzelnen  Arbeiter  /UNtantle  j^eljrachi  werden,  sondern  nur  nul 
einer  Melirheit  solcher. 

Für  den  Tarifverirai;  ist  die  Mehrheit  nur  auf  seilen  der 
Arbeitnehmer,  nicht  auch  auf  seilen  der  Arbellj^eber  erforderlich : 
denn  er  selzt  nicht  notwendij^  die  Bedinfjun^'en  für  die  Arbeits- 
vcrträf^c  einer  Mehrheit  von  Arbeit e b e rn.  Ein  Tarifvertrag^ 
kann  —  und  dies  findet  sich  nicht  selten  verwirklicht  ')  —  auch 
nur  von  einem  Fabrikanten,  einem  Bauunternehmer,  einem 
Ber^verksbesitzer  abgeschlossen  werden.  Atier  ein  mit  einer 
Mehrheit  von  Arbeitgebern  abgeschlossener  Tarifvertrag  hat 
natürlich  eine  grofsere  Wirksamkeit,  als  der  nur  mit  einem  abge- 
schlossene. Wie  die  Mehrheit  der  Arbeitnehmer,  die  dem  Tarif- 
vertrag wesentlich  ist,  die  Einheit  des  Tarifvertrags  nicht  hindert, 
so  erhalten  wir  auch  nicht  dadurch  eine  Mehrheit  von  Tarifverträgen, 
dafs  eine  Mehrheit  von  Arbeitsgebern  kontrahiert. 

Wird  die  Proposition  zu  einem  Tarifvertrag'  von  der  Arbeit- 
nehmenseite  -e macht,  so  mufs  auf  dieser  Seite  eine  Mehrheit  ge- 
geben sein,  die  der  gemeinsame  Urheber  der  Proposition  ist  — 
weil  ein  Tarifvertrag  nur  durch  eine  Mehrheit  von  Arbeitnehmern 
zustande  gebracht  werden  kann.  Wird  die  Proposition  \'on  der 
Arbeitgeberseite  gemacht,  so  kann  sie  ebensowohl  nur  von  einem 
Arbeitgeber  aus^^ehen,  als  von  mehreren,  da  auch  ein  einziger 
Arbeitgeber  einen  Tarifvertrag  abschliefsen  kann. 

Wird  die  Proposition  zu  einem  Tarifvertrag  der  Arbeit  n  e  h  m  e  r- 
seite  gemacht,  so  mufs  sie  an  eine  Mehrheit  adressiert,  för  eine 
Mehrheit  bestimmt  sein  und  erfahrungsmässig  findet  sie  auch  eine 
solche  Mehrheit  von  Arbeitnehmern  vor.  Es  ist  aber  denkbar,  dafe 
sie  eine  solche  nicht  vorfindet,  und  dafs  die  erforderliche  Mehrheit 
ach  erst  nach  und  nach  bildet,  indem  in  Zwischenräumen  ein 
Arbeiter  nach  dem  anderen  die  Proposition  annimmt.  Erst  wenn 
sich  solchergestalt  eine  Mehrheit  gebildet  hätte,  wäre  der  Tarif- 
vertrag zustande  gebracht,  da  ihm  die  Mehrheit  auf  der  Arbeit- 
nehmerseite unentbehrlich  ist. 

Wird  hingegen  die  Proposition  zu  einem  Tarifvertrag  der 
Arbeitgeber  Seite  gemacht,  so  braucht  sie  nicht  an  eine  Mehrheit 
adressiert,  nicht  för  eine  Mehrheit  bestimmt  zu  sein,  indem  der 
Tarifvertrag  auch  nur  mit  einem  .Arbeitgeber  geschlossen  werden 
kann.  .Aber  auch  wo  die  Arbeitnehmer  mit  einer  Mehrheit  von 
Arbeitgebern  einen  Tarifvertrag  schliel'sen  wollen  und  sich,  statt  an 

^)  Z  B.  Soziale  Praxis  V.  34;  VI.  105.   Gewerbcgericht  II,  ^4, 


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Die  Tarifvertrige  switefacn  Arbeitgebem  und  Arbeitnehmcni. 


31 


alle  auf  einmal,  an  einen  nach  dem  anderen  wenden,')  kommt 
schon  durch  die  von  einem  erklärte  Annahme  der  Tarifvertrag  zu- 
stande. Die  Annahme  der  Anderen  ist  nicht  für  das  Dasein» 
sondern  nur  für  den  Umfang  der  Wirksamkeit  des  Tarifvertrags 
bedeutungsvoll.  Sie  treten  einem  bereits  geschlossenen  Tarif- 
vertrag bei.  Kin  solcher  Beitritt  kann,  wie  wir  später  sehen  werden, 
auch  auf  der  Arbeitnehmerseite  vorkotinncn,  wodurch  die  ur- 
sprüngliche Mehrheit  vergröfsert  wird.  Der  nachträgliche  Hei- 
tritt auf  der  einen  oder  der  anderen  Seite  ändert  für  das  Recht 
nichts  an  der  Identität  des  Tarifvertrags. 

Dals  der  Tarifvertra^r  in  Einem  die  Bedingungen  für  die  Arbeits- 
verträge einer  Melirheit  von  Arbeitnehmern,  nicht  von  Arbeitgebern 
setzt  —  weswegen  zwar  jene,  niciit  aber  diese  Mehrheit  erforder- 
lich ist  —  und  dals  es  beim  Abscliiuls  eines  Tarifvertrags  an  der 
erfonlcrlichen  Mehrlieit  der  .Arbeitnehmer  nicht  zu  fclileii  pflc^ft. 
erklärt  sich  aus  der  geltenden  Arbeilsvcrfassung,  nach  welcher  in 
den  meisten  Betneben  —  ab/üglicli  der  Alleinbetriebe,  wie  >-elbst- 
verständlich  —  einem  Arbeitgeber  mehrere  Arbeitnehmer  gegen- 
überstehen, also  dals  die  .Melirheit  der  Arbeitsverträge  —  deren 
Abschluls  durch  den  Tarifvertrag  vereinfacht  wird  —  von  der  Mehr- 
heit der  .Xrljeitnelimcr,  und  nicht  der  Arbeiti^fcber  lierrührt. 

Für  die  nach  ( reltungsumfaiig  untersten  Stufen  de-;  Tarifver- 
trags, nämlich  für  die  Tarifx  erträi^e,  die  einen  Werkstatt-  oder  einen 
Fabriktarif  ins  Leben  rufen,  reicht  die  .Mehrheit  von  .Arbeitnehmern 
hin,  die  in  der  einen  W'erkstatt  oder  in  der  einen  I'alirik  natur- 
gemäls  vorhanden  ist.  Soll  es  dagegen  zu  einem  I.okaltarif,  zu 
einem  Verbandstarif,  oder  zu  einem  Branchentarif  kommen,  so  be- 
darf es  einer  Mehrheit  auch  auf  der  Arl)citgeberseite,  und  diese 
Mehrheit  ist  nicht  mit  einer  Werkstatt,  oder  einer  I'abrik  ge- 
geben, sondern  ist  etwas  Zusammengesetztes,  wie  es  bei 
diesen  umlassendcren  Tarifverträgen  die  Mehrlieit  auch  auf  der 
Arbeitnehmerseite  ist. 

Mit  der  Kinheit  des  Inhalt^,  <lie  den  Tarifvertrag  indi\  idualisieit, 
hängt  zusammen.  d.tiN  die  Mehrheit,  die  InMin  Tarifserlrag  auf  enu  r 
oder  auf  beiden  Seiten  steht,  eine  Melirheit  von  Berufsgenossen 

So  sandten  im  Jnoi  1898  die  Bicicergesellen  in  Leipzig  eine  Tnrifpropoaition 
jedem  Badcenneister  eiocelQ  zn,  nsf  dmfs  dieser  durch  Erteiloog  seiner  Unterschrift 
die  Annahme  erkl&re.    f,. Vorwärts"  vom  39.  Juni  1898).    S.  ferner  Bfickerstrike  und 

Brothoykott  in  Hamburg,  Altona  und  Wamisbcck  i.  J.  i8»iH  herau^j^f^jchen  von  den 
Vorstanden  der  BäckeriDoungen  von  Ii.  A.  und  VV.  (Hamb.  1899)  .S.  30. 


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32 


Philipp  Lotmar. 


ist.  Nur  Arhritiiohmrr,  welche  beruflich  -^Iricharti^e  Arbeitsverträge 
ciniLjchiMi.  k»»niuMi  Kontrahenten  eines  dax-  Ai  1  mm(-^\  erirä;^^'  rc^^eln- 
dvn  larifv  crtra^s  sein:  Maurer  untl  MuUcr  köniini  iiiclit  an  i  n  e  rn 
Tarih  ertra^^  teilnehmen,  wenn  sie  -^Heich  durch  ;;emoinsaine  wirt- 
schaliHchc  Interessen  \erkinipft  etwa  in  einem  ( iewerksrhaftskai teil 
stehen  können,  utid  eine  <  ii  uji[je  die  andere  für  den  Ab^chluls  eines 
Tarif\  ertrai^s  uiiti  i -tutzen  ma^j.  Hbenso  können  nur  Arlieiti^eber, 
die  beruflich  ^leieliartii^e  Arbeitsvertra.;e  eini^'ehen.  Koalrahenien 
eines  und  desselben  1  arif\  erlra<^s  sein  Ai  beitL;eber  nu">L,a  ti  sich  al> 
solciie,  \vc;^en  dieser  \virts<  haftliehen  I'osition  zu  einem  Arbeit;4el)et - 
verband  zusauunenihun  und  einander  bei  Wahrnehmuni;  ihrer 
Arbeit^eberinten'>>ei:  unter  die  Arme  »^reiten,  abei  es  könnet;  dorh 
nur  gc\verl)Uclie  H  e  r  u  f  s e  n  o  s  s  e  n  unter  ihnen  an  einem  (he 
Ari)cits\  erträt^fe  ihres  Berufs  regelnden  1  arif\ertrai;  als  Taciscenten 
teilnehmen.  ' ) 

II.  Der  bisher  betrachtete  Iliatbestand  des  TarifvertraL^M  bir^^t 
eine  Quelle  von  .Schwierigkeiten ,  die  nicht  bei  allen  Vertrag- 
schliefsunj^en  zu  finden  ist.  r)eiin  es  handelt  sich  beim  Tarifvertrag 
nicht  blofs  um  die  Eini^^ung  zweier  Paciscenten,  deren  Vertrags- 
interessen nicht  zusammenfallen,  sondern  es  nuifs  auch,  weil  auf  der 
Arbeitnehmerseite  immer  und  oft  auch  auf  der  Arbeitgeberseite 
eine  Mehrheit  steht,  eine  interne  Einigung  jedenfalls  für  die  eine 
Partei  gewonnen  werden.  Nur  wenn  sich  auf  der  Arl^eitnehmer- 
Seite  eine  Mehrheit  auf  eine  Proposition  geeinigt  hat,  kann  eine 
solche  von  ihr  ausgehen  oder  angenommen  werden.  Die  Bildung 
eines  einheitlichen  Paciscenten  aus  einer  Vielheit  von  Berufsgenossen 
ist  natürlich  um  so  schwerer  je  gröfser  ihre  Zahl  überhaupt  und  je 
kleiner  die  Zahl  derjenigen  ist,  die  schon  vor  dem  Projekt  einer 
Tarifx'ertragschlieüsung  gemeinsam  der  Pflege  ihrer  Berufsinteressen 
obgelegen  haben.  Jene  Bildung  des  einheitlichen  Paciscenten  voll- 
zieht sich  zuweilen  mit  elementarer  Gewalt  und  in  kürzester  Frist, 
wenn  das  Gefühl  der  Unerträglichkeit  der  bisherigen  Lohn-  und 
Arbeitsbedingungen  angesichts  einer  neuen  Zumutung  in  der  Menge 

^)  Verwandte  Gewerbe  können  immerhin  eine  uud  die  andere  B<'>timmuii^ 
gemeinsam  festsetzen.  So  haben  im  M;ir/  :S<)?n  in  («-na  die  veieinigtcn  lx)hn- 
kümmissionen  der  Zimmerer,   NTaurer.   Hau-.   I ni-  I iilfsar beitcr  mit  den 

tretern  der  entsprechenden  ArbeiigcbL-r  die  Arln-it-ZL-it  genioinschaftüch  ^iT'-iit-lt 
(Vorwärts  vom  30.  Marz  1S9S,.  Siehe  ferner  die  Verhandlungen  einer  Maurer-  uud 
Zimmererkonmissiob  mit  eiaer  auf  den  entsprechenden  Arbeitgeben  bestdMuk» 
zu  Leipzig  im  Märt  1897  (Soziale  Praxis  VI,  6ty,. 


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Die  Tahtvcrträge  «wischen  Arbeitgebern  und  Arbeitnehmern. 

erwacht,  meistens  aber  bcdail  c:>  einer  laiiy^wierigcn  Beratun«:^  kleiner 
Gruppen,  z.  B.  in  cin/cliicii  Werkstätten,  die  dann  durch  \'ci  trauens- 
männer  in  Verbindung  treten,  bis  die  I'orderungen,  in  einer  oder  in 
wiederholter  öffentlicher  Versammlung  erwogen,  die  Gotalt  einer 
Vertragsproposition  erhalten  können,  die  als  von  einer  X'ertrags- 
partei  ausgehend  gelten  darf.  *)  Der  Erlangung  dieses  vorläufi^a^n 
aber  vorbedingenden  Ergebnisses  ist  es  hinderlich,  dafs  gerade  die- 
jenigea  Arbeiter,  die  wegen  der  Ungunst  ihrer  Lage  auf  deren  \'er- 
besserung  mittelst  Tarifvertrags  bedacht  sein  sollten,  durch  jene 
Ungunst  einer  Indolenz  zu  verfallen  pflegen,  die  sie  von  Lohnbe- 
wegungen fem  halt  -) 

Einer  internen  Einigung  auf  der  Arbeitgeberseite  bedarf  es 
nur,  wenn  mit  mehreren  Arbeitgebern  und  mit  diesen  gleichzeitig 
ein  Tari^ertrag  geschlossen  werden  soll  Diese  Einigung  ist  darum 
leichter  erreichbar,  weil  es  sich  um  eine  bedeutend  geringere  Zahl 
von  Teilnehmern  handelt,  und  weil  deren  Kommunikation  mit  ge- 
ringerer Mühe  zu  bewirken  ist.  Andererseit  haben  se  als  Unter» 
nehmer  oft  divergierende  Interessen  und  kann  ihre  Solidarität  durch 
grolsere  Unterschiede  in  der  ökonomischen  Lage  bedroht  sein.*) 

Ist  die  materielle  Schwierigkeit  uberwunden,  die  Mehrheit  von 
Arbeitnehmern  oder  auch  von  Arbeitgebern  je  zu  einem  Pacis* 
centen  zu  einigen,  so  ist  mitunter  noch  die  formale  Schwierigkeit 
zu  beseitigen,  die  für  die  Verhandlung  unter  den  Paciscenten  da 
vorhanden  ist,  wo  der  eine  oder  beide  aus  einer  Mehrzahl  von  In> 
dtviduen  besteht  und  vielleicht  auch  aus  solchen,  die  sich  zur 
Negotiation  nicht  eignen. 

Dazu  tritt  weiterhin  die  Gefehr,  dafs  die  im  Innern  erlangte 
Eintracht  beim  Kontakt  mit  der  Gegenpartei  wieder  verloren  geht, 
^Is  hierbei  auf  Widerstand  gestolsen  wird.  Denn  ftir  den  Ab* 
schluis  eines  Tarifvertrags  ist  es  nicht  genügend,  dals  die  Arbeit* 
nehmerpartei  ihre  Vertragsproposition  einheitlich  mache,  sie  mufs 
auch  diese  Eintracht  in  gewissem  Ma(s  behalten  oder  erneuem, 
wenn  die  Gegenpartei  die  Ptoposition  nur  teilweise  annimmt  Eine 
solche  Annahme  bedeutet  die  Stellung  einer  neuen  Proposition 

*)  Vgl*        Tö  Ulli  es  in  Brannt  Archiv  f.  sos.  Getet^ebang  X,  6S5  C 

^  Die  gleiche  Wiifaing  kann  auch  entgegengesetcter  Umcb«^  nimlich  bevor» 

xogter  Stdlung,  dem  ROdchtlt  «n  einem  kleinen  Gmndbetitz  eotspringen:  Jähret- 

betidit  der  bediscliett  PabrikinspekHon  für  1896  S.  86. 

*)  Vgl.  Zehn  in  den  Schrifleo  des  Vereint  ftr  Sosinlpol.  45,  398. 
kt&m  für  SM.  Gcicafebiuif  u.  Sututik.  XV.  3 


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34 


Philipp  Lotmar, 


durch  die  Gci^ci4>aiteL  Ob  diese  nun  vfm  der  Arbeitnehmerseite 
acceptiert,  oder  mit  der  Wiederholung  der  ursprünj^lichen  Propo- 
sTtifm,  oder  mit  der  Stellung  einer  neuen  beantwortet  wird  — 
immer  bedarf  es  för  den  Tarifvertrag  einer  einigen  Mehrheit  auf 
d^r  Arbeitnehmerseite,  und  deren  anfängliche  Bildung,  Aufrecht- 
erhaltung, oder  Neubildung  ist,  weil  selber  schwierig,  etwas  das  den 
Abschlufs  eines  Tarifvertrags  erschwert 

IIL  Zu  den  bisher  besprochenen  Schivierigkeiten,  die  auf  der 
Vielheit  der  beteiligten  Personen  beruhen,  tritt  eine  weitere,  die  in 
der  Verschiedenheit  der  Gesellschaftsklassen  wurzelt, 
der  die  Parteien  angehören.  Die  Partei  der  Arbeitnehmer  beim 
Tarifvertrag  besteht  aus  Angehörigen  der  Arbeiterklasse,  während 
die  Arbeitgeberpartei  aus  Gliedern  der  Untemehmerklasse,  eines 
Teils  der  besitzenden  Klasse,  besteht 

Das  erstere  läfst  sich  ohne  Einschränkung  sagen,  indem  die  bei 
einem  Tarifvertrag  als  Arbeitnehmerpartei  Auftretenden  alle  nicht 
im  Besitz  der  hauptsächlichen  *)  Produktionsmittel  und  auf  den  Erwerb 
unter  Verwendung  fremder  Produktionsmittel  angewiesen  sind.  Sehr 
wohl  könnten  allerdings  auch  Unternehmer  im  ökonomischen  Sinne, 
die  ihrerseits  Arbeitnehmer  ^nd,  wie  die  Spediteure  gegenüber 
Kaufleuten,  die  Stauer  gegenüber  Rhedern,'')  Tarifverträge  ab- 
schliefsen.  Allein  solche  Tarifverträge  treten  nicht  leicht  an  die 
Oeffentltchkeit  und  erwecken  ein  geringeres  allgemeines  Interesse, 
weil  die  Teilnehmerzahl  nicht  grofs,  die  Intervention  eines  Eini- 
gungsamtes ausgeschlossen  ist,  und  die  Konvention  leichter  zu- 
stande kommt,  als  der  Tarifvertrag  mit  Klassengegensatz. 

Dafs  hing^en  die  Arbeigeberpartei  aus  Angehörigen  der  Unter- 
nehmerklasse, eines  Teils  der  besitzenden  Klasse,  bestehe,  muls  mit 
einem  Vorbehalt  gesagt  werden.  Zwar  auf  die  Unterschiede  der 
Betriebsgröfse  und  der  wirtschaftlichen  Stärke  kommt  es  hier  nicht 
an,  indem  z.  B.  der  Kleinbrauer  neben  dem  Grofsbrauer,  der 
Schreinermeister  neben  dem  Möbelfabrikanten,  der  persönliche 
Unternehmer  neben  der  Aktiengesellschaft  oder  neben  dem  Fiskus  ') 
stehen  kann  ~  diese  Unterschiede  stören  nicht  die  Einheit  der 


')  Im  Gegensau  zum  Bc$tu  gewisser  Werkxeiige  and  Zuthatea. 

*)  ^Sl-  Töaoies  in  Brauns  Archiv  fär  scaiale  Gesetzgebung  X,  tSS' 
ia  Sociale  Praxis  VI,  25a 

*)  Siehe  den  Magistrat  von  Berlin  vor  dem  dortigen  Gevrerbegericht  als 
Einigongsamt:  Gewerbegericht  II,  16.   Soziale  Praxis  VI,  105,  106. 


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Die  Tarifvertlüge  twischen  Arbeitgebern  und  Arbeitnehmern. 


35 


ökonomischen  Stellung  gegenüber  der  Arbeitnehmerpartei.')  AUein 
der  Arbdtgeberpartei  beim  Tarifvertrag  können  auch  Arbeitgeber 
angehören,  die  nicht  im  Besitz  der  hauptsächlichen  Produktions" 
mittel  sind,  sondern  mit  fremden  arbeiten  lassen,  nämlich  mit  den 
Produktionsmitteln  ihrer  Arbeitgeber.  In  der  Kleider-  und  Wäsche- 
konfektion,  Schuhwarenproduktion,  Bauschreinerei,  Ziegelei  und  iri 
einigen  anderen  Gewerben  kommen  derartige  Arbeitgeber  vor  unter 
den  Namen  von  Meistern,  Zwischenmeistern,  Ziegelmeistem  u.s.w. 
An  der  Abschlielsung  des  Tarifvertrags  fiir  die  Berliner  Herren- 
Ideiderkonfektion  im  Jahre  1896  haben  sogen.  Zwischenmeister  als 
Arbeitgeber  und  als  Arbeitnehmer  teilgenommen.*)  Es  braucht  kaum 
gesagt  zu  werden,  dafs  es  hier  Uebergänge  giebt,  und  daGs  ein 
Zwischenmeister,  der  vermöge  Kapitalbesitzes  in  der  Lage  ist, 
eine  Werkstatt  zu  halten,  in  der  er  arbeiten  lafst,  oder  seine  Arbeit- 
nehmer aus  eigenen  Mitteln  zu  entlohnen,  als  Arbeitgeber  zur  Unter- 
nehmer- und  damit  zur  besitzenden  Klasse  zu  zahlen  ist. 

Der  ökonomische  Unterschied  der  Gresellschaftsklassen,  der  mit 
dem  privatrechtlichen  Parteigegensatz  von  Arbeitnehmern  und  Arbeit- 
gebern bei  Eingehung  eines  Tarifvertrags  zusammenzufallen  pflegt,' 
erzeugt  erfohrungsgemafs  viererlei  Hindemisse  dieser  Eingehung. 

1.  Zuvorderst  erschwert  er  die  Verständigung,  indem  einerseits 
bei  den  Unternehmern  die  Einsicht  in  die  Bedürfiusse  der  Arbeiter 
minder  Idar  und  ihre  Würdigung  der  von  den  Arbeitern  gestellten 
Postulate  keine  unbefangene  ist,^)  und  andererseits  den  Arbeitern  ein 
geringerer  Ueberblick  über  die  Absatzverhältnisse  und  die  Betriebs- 
bedingungen, sowie  weniger  Verständnis  für  die  Profitansprüche  der 
Unternehmer  gegeben  sein  mag.*) 

2,  Zweitens  giebt  es  nicht  wenige  Arbeitgeber,  die  ihrer  Unter- 

Es  sei  denn  der  Betrieb  zwerghaft,  und  derUntemehmerfeirimiTendiwindtiid. 

VgL  Francke,  Schuhmacherei  in  Bayern  ( 1 5493)  S.  1 76. 

'i  Weigert  in  Soziale  Praxis  V.  626  630  und  Gewerbcigericht  I,  85.  Sieh« 
MCh  daselbst  I,  44    Zwischenmeister  der  Korbtnachrrei  . 

^)  AnderenfuUs  wäre  es  kaum  erklärbar,  dafs  für  den  deutschen  Kulturmenschen 
so  selbstverständliche  Forderungen,  wie  z.  l'-.  die  %*on  zweckeatsprechenden  baubudeo 
nnd  Abtritten,  immer  wieder  ia  TarifvertrmgspropositiMen  der  Maurer  »u^noiDBicn 
werden  mÜMea. 

*)  Vgl.  Zahn  in  den  Schriften  des  Vereins  fdr  SotialpolitOc  45t  43*'  Weigert 
ia  Soaiale  Pnucis  VHI,  1072  giebt  aalifslich  des  vofjMhrigca  AbseUflsscs  eines  Turif 
ve^tfagK  lltr  das  Berliner  Maareigewerbe  den  beteiligten  Arbeitern  das  Zaognii^  ndafs 
sie  ein  Ventindnis  anch  fOr  die  Lage  der  Arbei^ber  besitsen<*. 

3 


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36 


Philipp  Lotnar. 


nehmerstellung  etwas  zu  vergeben  überzeugt  sind,  wenn  sie  mit  Ar* 
heitern  über  einen  Tarifvertrag  verhandeln  oder  einen  Tarif\'ertrag 
abschliefsen.')  Da  nun  aber  diese  nämlichen  Unternehmer  gleich 
allen  anderen  jahraus  jahrein  mit  Arbeitern  Arbeitsvertr^e  ab> 
schlieGsen,  sich  hierdurch  mit  den  Arbeitern  auf  den  gleichen  Boden 
des  Privatrechts  begeben,  wo  sie  als  koordinierte  Rechtssubjekte 
gelten  und  vor  denselben  Gerichten  ihr  Recht  aus  jenen  Arbeits- 
verträgen zu  suchen  haben,  vor  denen  sie  den  Arbeitern  zu  Recht 
stehen  müssen*)  —  ohne  da(s  durch  all  dies  die  Würde  der  Unter- 
nehmerstellung  beeinträchtigt  wird,  so  mufs  die  Abneigung  xneler 
Unternehmer  gegen  Tarifverträge  in  etwas  anderem  wurzeln,  als  der 
allgemeinen  Scheu  sich  privatrechtlich  zu  binden  und  kontraktlich 
den  Arbeitern  zu  koordinieren.  Und  es  läGit  sich  wirklich  auf  zwei 
Momente  hinweisen,  die  jenem  Widern'illen  Nahrung  zufuhren,  näm- 
lich ein  Nachklang  einer  entschwundenen  Arbeitsverfassung,  und  ein 
modemer  Trugschlufs. 

Dieser  Nachklang  ist  das  Recht  auf  Arbeit  Als  Recht  auf 
eigene  Arbeit  (des  Berechtigten)  hat  bekanntlich  dieses  Recht  stets 
nur  ein  bescheidenes  Dasein  gefuhrt  Sein  Eintritt  ins  Leben  war 
immerdar  nur  sporadisch  und  transitorisch,  während  seine  theore- 
tische  Befürwortung  auf  eine  lange,  nie  unterbrochene  und  nicht  un- 
rühmliche Geschichte  venveisen  kann.  Dahingegen  das  Recht  auf 
Arbeit  als  Recht  auf  fremde  Arbeit  —  wovon  hier  die  Rede  ist  — 

*)  Vgl.  Brcntauo.  Arbeitsvcrluiltnis  S.  2S0  uud  ArbeitergiKicn  II,  25. 
Francke,  Schuhmacherei  in  Bayern  202.  Gevvcrbcgericht  II,  9  wahrend  er  [der 
AfbeitgeberJ  sich  jetzt  oft  etwas  zu  Teigeben  glaubt,  wenn  er  seine  Zusdnunong 
aar  Einleitung  von  Vergleicbtverliandlungen  gicbt")*  Tiedemann,  Neuere  Ent- 
wicklang der  Arbeitsverhiltnisfle  ia  Bnchdnickgewerbe  S.  57, 67  (nStandesTororteile"). 
Jahresbericht  der  bayer.  Fabrikinspektion  für  1898  S.  XX  (pUach  den  bisherigen 
Brfidifttngen  ist  dieser  Friede  [zwischen  Arbeitgebern  und  Arbeitern]  um  so  ge- 
sicherter, je  weniger  cf?  die  Arbeit)j:<^brr  gruih'.sützliL-li  ablehnen  mit  den  Vertretungen 
di  r  Arbeiterschaft  in  einen  geordueteii  \  erkehr  zu  treten"!.  Dieser  .AblelTriung  he- 
gei^iH  t  man  vornchmb'ch  dann,  wenn  die  .\rbciter,  mit  denen  zu  verhandeln  ist, 
sich  im  Ausstand  bctinden.  aU<>  unter  Umständen,  die  eine  \ frhaü'Hun;^  be«i»nd<TS 
wünschenswert  maclicn.  Der  ruchiibrikantcnvercn  lur  Aachen  und  Burtscheid  hat 
im  Fefannr  1895  beschlo^en:  „Die  Vereinsmit^lieder  verpflichten  sich,  mit  aus- 
ständigen Arbeitern  nicht  au  unterhandeln*'  ^Legien,  Das  Koalitionsrecht  S.  laj). 
Loewenfeld  ia  diesem  Archiv  XIV%  50:. 

*)  Siehe  jedoch  auch  M.  v.  Schulz  in  Soziale  Pmxis  IX,  215:  „Diese  Arbeit« 
geber  dflnken  sidi  au  Tornehm,  vor  einem  Gericht,  welches  auch  mit  Arbeitern  be> 
•etit  ut,  Recht  zu  nehmen  . . 


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Die  Tarilverträgc  zwischen  Arbfitgebern  und  Arbritnehmem. 


37 


hat  in  der  patriarchalischen  Arbeitsverfassung  jahrhundertelang  eine 
gewaltige  praktische  Geltung  besessen.  Das  Recht  auf  (frenode) 
Arbeit  kann  sich  im  heutigen  positiven  Recht  nur  auf  einen 
Kontrakt  mit  dem  Arbeitnehmer  gründen,  d.  i.  auf  ein  vorüber« 
gehendes  Faktum,  nicht  auf  eine  bleibende  Eigenschaft  der  beteiligten 
Personen,  den  Stand.  Und  doch  gilt  daneben  als  unpositives,  d.  h. 
nicht  von  der  Staatsgewalt  anerkanntes')  und  daher  vor  ihren  Ge- 
'lichten  nicht  verfolgbares  Recht,  dals  der  im  Besitz  der  Produktions* 
mittel  befindliche  Unternehmer  als  solcher  einen  Anspruch  auf 
die  Arbeit  des  besitzlosen  Arbeiters  habe.*) 

Diese  unpositive  Rechtsordnung  tritt  hervor  in  der  Auflassung, 
die  die  Unternehmer  und  ihre  Gesinnungsgenossen  von  einem  Aus- 
stand bekunden,  der  wie  ein  Rechtsbruch  geächtet  und  behandelt 
wird'),  auch  wenn  er  nicht  mit  Kontraktbruch  einhergeht;  solcher 
Vertragf^ruch  ist  för  das  Strikeunrecht,  das  nadi  unpositivem 
Recht  bangen  wird,  völlig  gleichgültig.^)  Da  der  Arbeiter  nach 
positivem  Recht  nur  kraft  Arbeitsvertrags  arbeitspflichtig  ist,  so  kann 
seine  Arbeitsniederlegung,  die  nach  Ablauf  der  Vertragszeit  statt- 
findet, nur  von  dem  als  Unbotmälsigkeit  und  als  Unrecht  betrachtet 
werden,  der  ein  vom  Vertrag  unabhängiges  Recht  auf  die  Arbeit 
des  Arbeiters  voraussetzt.^  Ohne  diese  Voraussetzung  kann  auch  die 
von  mehreren  zugleich  und  im  Einverständnis  geschehene  Arbeits- 
niederlegung nicht  als  Zivilunrecht  angesprochen  werden.  Aus  dieser 
Voraussetzung  erklären  sich  das  Bestreben,  den  Strike  durch  recht- 
liche Eingriffe  zu  erschweren,  die  Verschärfung  der  Strafen  für  Ver- 

')  Knapp,  Rechtsphilosophie  §  140. 

^)  Vgl.  dieses  Archiv  VIII,  70  Amn.  a.  E.  and  Engels,  Lage  te*  «rbthnid«!» 
Klane  in  England  («.  Aufl.)  S.  8a:  „Da  er  (der  Arbeiter)  ja  nicht  der  Sklave  eines 
Eimelaea,  sondern  der  gaasen  besitsenden  KlaM«  ist" 

*)  Vgl.  Loewenfeld  in  dleaem  Atciiiv  XPf,  494  Ann.  I,  537  Anro.  1, 
569  Ann.  2,  573  nnten. 

*)  So  bestimmt  §  40  der  Statuten  des  Vereins  deutscher  Tapeten fabrikantea: 
„Erfolgt  bei  einen  Mitglied  des  Vereins  ein  Strike  der  Arbeiter,  wozu  eine  komplett- 
mäfsige,  wenn  auch  sonst  o  rd  n  un  gsm  a  fs  i  p<?  Kündigung  rur  Erzwingung  höherer 
Lohnt  oder  Abstellung  niifsliebigcr  Einrichtun'^'en  mitgerechnet  wird,  sn  d.irf  kein 
dem  Verein  angchorigcr  Kollege  .  .  .  einem  Strikcnden  innerlialb  der  ersten  3  Monate 
Beschäftigung  geben".    Weigert,  Arbeitsnachweise  S.  12. 

')  Die  Arbeitgeber  der  Berliner  Steinsetzer  haben  Ihre  Weigerung,  mit  den 
aontändigen  Arbeitern  Tor  Wicderaalaahme  der  Arbeit  i«  Terlnndeln,  danit  be- 
grttndet,  „dafs  eine  Nwderlcgnng  der  Arbeit,  wenn  aach  rechtUcb  ndinig,  so  doch 
■ich  ab  eine  Gehorsamsverweigerung  dantelle*.  Sociale  Praxis  VID,  1034. 


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38 


Philipp  Lotmar, 


gehen,  die  anläfslich  des  Strikes  begangen  werden,  sowie  die  fak- 
tischen und  rechtlichen  X'orzüge,  die  man  den  so^^enaniiteh  Arbeits* 
willigen  zu  teil  werden  lälst,  weil  oder  damit  sie  ihre  dem  Recht 
auf  Arbeit  entsprechende  Pflicht  erfüllen.  Und  aus  jener  X'oraus- 
Setzung  erklärt  sich  endlich,  daiis  der  Untenuhmcr,  der  ein  Recht 
auf  Arbeit  zu  haben  überzeugt  ist,  sich  als  Austluls  desselben  die 
Befugnis  beimitst,  ihren  Entgelt,  ihre  Dauer  und  ihtc  übrigen  Be* 
dingungen  vonsich  aus  zu  besti  m  m  c  ti  ,  d.  h.  selber  die  Grenzen 
eu  bezeichnen,  innerhalb  deren  er  sein  Reclit  ausüben  will. 

Wer  aber  seiner  Meinung  nach  befugt  ist,  die  Arbeits- 
bedingungen zu  diktieren,  der  wird  nicht  geneigt  sein,  sie  zu  ver- 
einbaren und  sich  damit  in  vermeintliches  Reclit  schmälern  zu 
lassen.  Nufi  werden  im  Arbeitsvertrag,  den  der  Unternehmer  mit 
dem  einzelnen  Arbeiter  srhliefst  —  \  on  aufeerordentlichen  Umständen 
abgesehen,  die  den  Arbeitgeber  auf  gewisse  Arbeiter  anweisen  — 
die  Vertragsbedingungen  in  der  Hau|>tsachc  faktisch  nicht  vereinbart; 
sondern  es  muis  thatsächlich  der  Arbeiter  diejenigen  acceptieren, 
die  ihm  der  Arbeitgeber  gewährt *J  Selbstverständlich  sind  diese 
vom  Arbeitgeber  gebotenen  und  vom  Arbeiter  nur  hinzunehmenden 
Bedingungen  nicht  beliebige,  oder  blols  tlurch  das  gute  Herz  des 
Arbeitgebers  bestimmte,  sondern  durch  ökonomische  Kräfte  limi- 
tierte und  veränderliche.  Der  Arbeitgeber  liingegen ,  der  einen 
Tarifvertrag  eingeht,  begiebt  sich,  soweit  dessen  Bestimmungen 
reichen,  der  Position,  in  welcher  er  die  Bedingungen  für  den  einzelnen 
Arbeitsvertrag  diktieren  kann,  und  setzt  in  wirklicher  V  e  r  e  i  n - 
barung  die  Bedingungen  aller  künftigen  Arbeitsverträge  fest.  Arbeit- 
geber, die  sicli  /um  X'crzicht  auf  jene  Machtstellung  und  zu  dieser 
\'ereinbarung  nicht  herbeilassen  wollen,  vielmehr  „sich  die  Dispo- 
sition über  die  Arbeitsverhältnisse  vorbehalten"-),  machen  damit  ihr 

'l  Üas  ist  in  der  wissenschaftlichen  Littcratur  so  oti  ausgesprochen  worden, 
dafs  es  hier  keines  Beleges  bedarf.  Id  einem  Urteil  des  Berliner  Gewerbegerichts 
(Vnger,  EntBcheidungen  S  169,70)  wird  es  BDerlouiiit  mit  den  Worten:  „Ci  ift 
aber  dem  Umstand  Rechnuag  fetngen,  dafs  der  Arbeiter  Im  allgemeinen  nidit  ia 
der  Lage  Ist,  dem  Arbeitgeber  die  Bediagaogent  zu  denen  er  arbeiten  will,  vorxu« 
schreiben,  er  bat  insbesondere  ia  dem  einheitliche  Ordnung  und  Leitung  erfordernden 
Grofsbetrieb  nur  die  Wahl,  ob  er  zu  den  vom  Arbeitgeber  festgesetcten  Be* 
dingungen,  «»der  überhaupt  nicht  in  Arbeit  treten  will." 

-)  Lauderer,  Der  Standpunkt  der  Unternehmer  im  Hamborger  Hafeustrike: 
Soziale  Praxis  VI,  277.  Die  B«ckenn]lttngen  von  Hamburg,  Altona  und  \Van'j<.betk 
bezeichnen  die  Bestimmung  eines  ihnen  proponiertcn  Tarifvertrags,  welche  Kost  und 


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Die  TarifrertrSge  svischen  Arbeitgebern  imd  Arbeitnebmem. 


39 


SelbstbestiinniuniiTsrccht  'geltend  und  brinjjen,  ohne  dafs  sie  sich  des- 
selben bcwufst  zu  seit!  brauchen,  ihr  „Recht  auf  Arbeit"  r.um  Ausdruck, 
So  bcg^reiflich  dieser  Standpunkt,  da  er  nur  einen  Anachronis- 
mus darstellt,  so  unerklärlich  ist  der  vorhin  erwähnte  moderne  Trucf 
schlufs.  Es  giebt  Unternehmer,  die  sich  darum  nicht  auf  die  Ver- 
handhuig  eines  Tarifvertrags  einlassen,  weil  sie,  wie  sie  erklären, 
„Herren  im  eigenen  Hause"  bleiben  wollen.  Eigentlich  würde  dieses 
Argument  nur  auf  solche  ünternehmer  j)a.sseri,  die  in  eigenen 
Räumen  —  Häusern,  Werkstätten,  Bergwerken,  Hofen,  Schiffen  — 
arbeiten  lassen.  Für  Unternehmer,  die  auf  fremdem  Grund  fremde 
Häuser  bauen  lassen,  oder  welche  Heimarbeiter  beschäftigen,  würde 
es  unverwendbar  sein.  Es  ist  aber  überhaupt  diese  sachen- 
rechtliche  Vorstellungs-  und  Ausdrucksweise  verfehlt  und  kann 
auch  nicht  beans|)ruchen  als  Folge  dos  i(Mnischen  Eigentumsbegrifis 
betrachtet  zu  werden.')  Alle  Welt  weils,  dals  kein  Herr  im  eigenen 
Hause  eine  Strafthat  oder  sonst  ein  Unrecht  begehen  darf,  und  dals 
er  dies  unbeschadet  seines  Herrentums  nicht  darf.  [)cv  „Herr  im 
eigenen  Hause"  ist  darin  von  der  Beobachtung  der  Arbeitersrhutz- 
gesetze  nicht  entbunden:  er  darf,  obwohl  ihm  die  I""abrik  gehurt, 
dennoch  darin  keine  Kinder  unter  dreizehn  Jahren,  und  erwachsene 
Arbeiterinnen  nicht  länger  als  elf  Stunden  täglich  beschäftigen. 
Dann  ist  .aber  entfernt  nicht  einzusehen,  was  es  mit  der  Herrschaft 
über  das  Haus  zu  thun  hat,  und  wie  dieselbe  davon  beeinträchtigt 
werden  soll,  wenn  sich  durch  Vertrag  der  Hausherr  verptiichtet, 
erwachsene  männliche  Arbeiter  nicht  länger  als  elf  Stunden  täijlich 
7A1  beschäftigen,  oder  die  Arbeit  mit  30  .statt  mit  25  Vi  pro  Stunde 
zu  belohnen.  Zu  alle  dem  enthüllt  das  .Argument  von  der  Herr- 
schaft im  Hause  seitie  wahre  Natur  noch  damit,  dafs  es  nicht  folge- 
richtig gebraucht  wird.  Denn  bei  konsequenter  Anwendung  nach 
jeder  Seite  könnten  sich  die  Unternehmer  nicht  durch  \'ci  träge  mit 
Ihresgleichen  vorschreiben  lassen,  an  welche  I  ländler  und  zu  welchen 
Freisen  sie  ihre  Waren  absetzen,  oder  welche  Arbeiter  sie  einstellen 
oder  aussperren  sollen.    Und  ferner,  wer  den  Arbeitern  gegenüber 

Logb  beim  Meiiter  abiebaffen  soll,  als  „eiafrehea  Gewaltakt",  ak  „gevaltnftfsige 

IHudlfiihrung" :  Rackerstrike  «od  ßrotboykott  S.  14,  23. 

^)  ..Das  Sclbstbestimmungsrecht  dtf-  Fabrikeigentümers,  also  der  Eig^entums- 

begriff  überhaupt,  wurde  durch  solche  Mafsnahmen.  wie  oblij^Mtori'^che  .Schieds- 
gerichte oder  Einigungsamlcr,  Arbcilsnachu  i-i^f  u.  d^\.  crhol)!ich  l>f ciiitrachti}»t 
werden":  s.agt  in  einer  Eingabe  art  das  keich.^amt  dc>  Innern  der  Verein  deutscher 
Werkxeuginaschinenfikriken.    Suziale  Praxis  VUI,  934. 


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40 


Philipp  Lotmar, 


<las  HciTMin  im  tii^cntn  Hause  betont  und  zur  Richtschnur  seines 
X'crlialtens  ;4e;^^en  (iiesclhen  nimmt,  der  mülstc  diese  Hcrrhchafts- 
greti/e  auch  seiiier>cil>  einhalten  und  sich  dabei  nicht  aimiafsen  zu 
bestimmen,  wo  seine  Aulsenarbeiter  ihren  Arbeitsi -latz  nehmen,  und 
wie  seine  Arbeitnehmer  in  ihren  Bereiclien  ihre  hitercssen  wahr- 
nehmen sollen.  Solche  und  ähnliche  Kin^iitte  >iiui  mit  ilem  l'rin/ip 
von  der  Herrschaft  im  eigenen  Hause  nicht  vereinbar. 

3.  Das  dritte  der  oben  erwähnten  Hindernisse,  die  aus  dein 
Klassenunter>chiede  der  Kontrahenten  entsprin^^end  den  Abschluß 
von  Tarifverträgen  erschweren,  besteht  darin,  dals  oftmals  Arbeit- 
geber zwar  zur  Verhandlung  bereit  sind,  sich  aber  weigern  gerade 
mit  den  Personen  zu  verhandeln,  die  die  Arbeilnehmerpartei  mit 
der  Führung  der  Verhandlung  betraut  hat.')  Diese  Weigerung 
bildet  insofern  ein  Hindernis  des  Abschlusses,  als  die  mit  der 
Führung  der  Verhandlung  betrauten  Personen  vorzüglich  dazu 
geeignet  sind  oder  von  den  Arbeitern  dafiir  gehalten  werden,  die 
Weigerung  zur  Auswahl  anderer  Vertrauenspersonen  nät^  und, 
wenn  an  den  gewählten  festgehalten  wird,  den  Abschluis  vortiuifig 
oder  völlig  vereitelt.  Die  Weigerung  gründet  sich  niemals  darauf, 
dafs  die  Arbeitgeber  den  von  ihnen  abgelehnten  Personen  die  erforder* 
liehe  Geschicklichkeit  absprechen :  dieser  Mangel  konnte  ja  den  Arbeit* 
gebem  nur  zum  Vorteil  gereichen.  Die  Weigerung  giündet  sich  auch 
nicht  darauf,  dafs  die  Arbeitgeberpartei  jenen  Vertrauenspersonen 
die  Legitimation  zur  Vertretung  der  Arbeitnehmerpartei  bestreitet, 
denn  die  Bevollmächtigung  pflegt  offenkundig  zu  sein.  Vielmehr 
hat  die  besagte  Weigerung  ihren  Grund  gewöhnlich  in  dem  Ver- 
hältnis der  gedachten  Vertrauenspersonen  zu  den  Arbeitgebern. 

Wenn  nämlich  diese  Personen  nicht  zu  den  bisherigen  Arbeit- 
nehmern der  Arbeitgeberpartei  gehören,  so  wird  von  dieser  be- 
hauptet, sie  „drängten"  sich  zwischen  die  Arbeitgeber  und  ihre  Ar* 
beiter,  ihre  Intenrention  wird  fiir  eine  Einmischung  in  eine  ihnen 
fremde,  in  eine  interne  Angelegenheit  der  Arbeitgeberbetriebe  er- 
klärt und  darum  zurückgewiesen.^)  Damit  werden  freilich  gerade 
solche  Unterhändler  abgelehnt,  die,  weil  sie  von  den  Arbeitgebern 

')  Bucck  in  ilen  Verhandlurgen  des  Vereins  für  -Sozialpolitik  1890  I Schriften 
47.  151  vgl.  238).  Zahl)  a.  a.  O  S.  3S1  al.  3.  Brentano.  S<>r7nl.-  Praxis  VIII, 
'3*^3-  Jahresticricht  der  badisi  hen  h  abrikin?pf-kti<iii  für  1896  S.  73.  Das  Koalitions» 
recht  vor  Gericht    Wien  iSoSi  S   :;S.    I'.äckerstrlk'  und  Brotboykott  S.  18. 

*)  Zur  Kritik  dieses  VerhaiiciiS  s.  den  llncf  von  Sir  E.  J.  Kccd  bei  Brentano 
Iii  Schriften  de»  Vereins  fOr  SoiialpoUtik  Bd.  45  S.  LXXIU. 


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Die  Tarifverträge  £wt»chen  Arbeitgebern  und  Arbeitnehmern. 


41 


nichts  zu  furchten  oder  zu  erwarten  haben,  den  aus  dem  Klassen* 
unterschied  hervorgehenden  Vor.si>rung  der  Arbeitgeber  einiger- 
ipalsen  kompensieren  könnten.  Das  GefUh]  dieser  Möglichkeit  wird 
wohl  zur  Ablehnung  mitwirken.  Welche  Bedeutung  der  Fernhaltung 
fremder  Vertrauenspersonen  durch  die  Arbeitgeber  beigelegt  wird, 
zeigt  sich  darin,  dafs  diese  mitunter  sich  darauf  verpflichten.^)  Die 
hierdurch  gezogene  Schranke  ist  darum  besonders  bemerkenswert, 
weil  sie  geeignet  ist  den  Abschluß  eines  f&r  mehrere  Betriebe 
gültigen  Tarifvertrags  zu  verhindern.^ 

Ein  anderer  Grund  der  Weigerung,  mit  den  Delegierten  der 
Arbeitnehmer  über  einen  Tarifvertrag  in  Verhandlung  zu  treten, 
wird  von  den  Arbeitgebern  folgender  Thatsache  entnommen.  Die 
Delegierten  haben  zwar  zu  den  Arbeitnehmern  der  Arbeitgeber- 
partei gehört  —  so  dals  der  vorige  Rekusationsgrund  nicht  an- 
wendbar ist  —  sind  aber  unter  Umständen  aus  dem  Arbeitsverhältnis 
geschieden,  die  sie  als  standhafte  Gegner  der  bisherigen  Arbeits- 
bedingungen erscheinen  lassen.  Aus  solchem  Grund  wird  die  Ver- 
handlung mit  Arbeitern  verweigert,  die  die  Arbeitsniederlegung 
inspiriert  haben,  in  deren  Gefolge  es  nun  zu  einer  Verhandlung 
kommen  soll.  Dafs  der  Strike  seine  Urheber  den  Arbeitgebern 
anrüchig  macht,  ergiebt  sich  aus  der  bei  diesen  herrschenden  Auf- 
fassung dieses  Vorganges,  die,  wie  wir  sahen,  mit  dem  Klassenunter- 
schied zusammenhängt  Kommt  es  doch  nicht  selten  vor,  dals 
Arbeitgeber  die  Tarifverhandlung  überhaupt  ablehnen,  weil  und  so- 
lange ihre  Arbeitnehmer  sich  im  Ausstand  und  damit  auch  im 
Aufstand  befinden.*) 

*)  Der  1899  in  Stuttgart  gegründete  Verband  südwcsldeutscher  Mobclfabrikanten 
bat  tich  ein  Statut  mit  folgendem  g  22  gegeben:  „In  allen  das  Verhlltnis  ««ritchen 
Arbciigeber  and  ArbettnehiBcr  betrefieodea  Angelegenhdteo  liabca  sich  die  Mh- 
gVMkt  des  Verbandes  nadi  dem  Grundsats  sn  richten,  dafs  jedes  dasclne  Mitglied 
des  Verbandes  stets  nur  mit  seinen  eigenen  Arbeltern  oder  mit  einem  von 
diesen  selbst  ans  ihrer  Mitte  gewählten  Ansschnfs  sn  vcrhanddn  hat,  dafs  dagegen 
Vcrhandlnngen  mit  irgend  welchen  nicht  zu  der  eigenen  Arbeltersdiafl  gehörenden 
Mittelspersonen  abzulehnen  sind  .  .  ."    Vgl.  Soziale  Praxis  VTII,  I081, 

*  S(i  hat  i.  Ii.  die  ( )rf;ani"-ati'in  der  Schuhwarenfabrikanten  von  < 'ffenbach  die 
Virhat^  ilr.Tig  mit  der  Gesaimhcit  der  Arbeiter  abgclehnl,  imlcin  in  der  Antwort  der 
7  I  irnien  erklärt  wurde,  „dafs  über  alle  Traisen,  die  das  (ieschäfl  betrcltcn  .  .  .  nur 
von  jeder  einzelnen  Finna  für  sich  mtt  deren  eigenen  Arbeitern  ohne  Zuziehung  einer 
nnfserbalb  des  Geschäfts  stehenden  Persönlichkeit  verhandelt  werden  kann".  Sodaltf 
Praxis  VI,  613  (18.  Mirs  1897).  Stehe  andererseits  die  Beispiele  auf  S.  51  Anmcrkong. 

*)  Vgl.  Zahn  a.  a.  O.  S.  384  «1.  2. 


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42 


l'bili|>)>  Lot  mar. 


4.  Ein  letztes,  aber  nicht  das  schwächste  von  den  Hindernissen 
der  TarifvertragschHefäuii^,  die  dem  Klassenunterschied  der  Kon- 
trahenten entspringen,  kann  sich  daraus  ergeben,  da(s  der  Unter- 
nehmer zwei  Personen  oder  Funktionen  in  sich  vereinigt,  die  des 
Arbeitgebers  und  die  des  Warenverldlufers  (vgl.  u.  S.  57).  Während 
die  Arbeiter  durch  die  Rücksicht  auf  die  Konkurrenz  zum  Abschluts 
eines  Tarifvertrags  bewogen  werden,  wird  der  Arbeitgeber  durch 
die  Rücksicht  auf  die  Konkurrenz  von  solchem  Abschlufs  mo^Micher» 
weise  zurückgehalten.  Solchenfiills  wird  er  sich  auf  einen  Tarif- 
vertrag nur  einlassen,  wenn  er  darauf  rechnen  kann,  dafs  seine 
Konkurrenten  in  die  gleiche  Laj^c  bracht  werden.*)  So  fuhrt,  wie 
wir  sehen  werden,  der  Tarifvertrag  die  Arbeitgeber  zur  Koalition« 

V.  Vermittlung. 

Mit  den  SchwicrigkcitcJi  <lor  SchliiM-iii  :^  x  on  Tat  if\  crträ^en, 
die  im  xorigen  Aljsclinitt  bchaiulclt  wurden,  >iiul  aurh  >chon  die 
Mittel  ariL^^edeutet ,  die  sich  /Air  Milderung  odrr  Hchuni,'  jener 
Sch\vierii;keitcn  eignen  un<1  daher  seit  dem  Aufkuminen  von  Tarif- 
verträgen geliraucht  worden  --ind. 

Als  solche  Hilfsmittel  -^lellen  sich  dar  l.  die  Vermittlung 
und  2.  die  Organisation,  insbesondere  die  Koalition  und  die 
Vertretung. 

Unter  Vermittlung  ist  zu  verstehen  die  Thätigkeit  eines 
Mittelsmannes  oder  einer  Mittelsperson,  d.  h.  einerPerson,  die  wische  n 


•j  Vgl.  Brcutano,  Arbcilcrgildcu  ü,  24.  bei  deu  trhcbungcn  des  Berliner 
EiniguDgsaiatc«  Aber  die  Herren-  and  KnfthenkonfdUiOD  in  Bcrtin  (1S96/  erklarte 
ein  Unternehmer,  er  wfirde  „lofoirt  jedem  Vergleiche  ohne  Unterschied  der  Preis» 
erhöhong  beitreten,  wenn  du  Einigungtamt  dnfSr  sorgen  wolle»  dnfs  diesem  Ver- 
gleiche  Mich  ohne  Aasnnhne  die  KonfektionSre  anderer  Städte,  wie  Breslau,  Stettin, 
Asebaffenbnrg  n.s.w.  beitritea**  (Gewerbegericht  I,  85).  Bei  einer  Lohnbewegmg 
der  Klempner  in  BreiUu  erklirte  sich  die  Innuag  bereit  mit  der  Lohnkomml'.sioa 
in  Verbindung  zu  treten,  machte  aber  mr  Bedingung,  dafs  sich  die  Kommi5>i>>n 
aucli  mit  den  auf^erhalb  der  Innung  stehenden  N!'n<:tern  und  mit  den  I"al)rik.inteii 
die  Klempnergescllen  beschäftigen,  in  Verhindant;  scUl-  Vorwärts.  0  Fehruar 
1897).  Pei  einer  Lohnbewegung  der  Iliesenlegcr  iu  Lk-rlin  wurde  cniplohlcn, 
darauf  zu  dringen,  dals  zunächst  die  grufseren  Firmen  bewilligeu.  weil  davon  die 
Sbrigen  ihre  SCastimmung  abhangig  machen  (Vorwärts.  6.  Juli  1899).  Bei  Absehlnfs 
eines  Tarifvertrags  der  Schneider  in  Königsberg  erklärten  steh  die  Meister  für  so 
lange  an  den  Tarif  gebunden,  als  die  Arbeiter  in  keinem  Geschäft  unter  dem  Tarif 
arbeiten  (Vorwärts,  22.  März  18991. 


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Die  Tarifvcititge  iwiscben  Arbeitgebern  und  Arbeitnehmern. 


43 


beiden  Kontrahenten  steht,  nicht  der  einen  oder  der  anderen  von  den 
kontrahierenden  Parteien  angehört,  auch  nicht  als  deren  Vertreter 
angehört  Mc^en  daher  die  Parteien  in  Person,  oder  mögen  sie  durch 
Vertreter  verhandeln,  so  kann  eine  Wrmittlung  stattfinden,  nämlich  die 
Intervention  eines  Dritten,  der  kein  Parteiinteresse  hat  und  vertritt, 
weder  das  der  Arbeitgeber  noch  das  der  Arbeitnehmer,  sondern 
nur  das  Interesse  hat,  dals  der  Vertrag  unter  den  Parteien  zustande 
konnme.  Dieses  Interesse  hat  er  darum,  weil  er  den  Zustand  des 
Einvernclimens  und  des  Vertragsvcriiältnisses  (d.  h.  des  Bestehens 
eines  Tarifvertrags)  unter  den  Arbeitgebern  und  Arbeitnehmern  fiir 
vorzügliclier  hält,  als  den  gegenwärtigen  des  Zwiespaltes  und  der 
Vcrtragsl  osi  g  k  c  i  t . 

Der  P-rfolg  der  Vermittierthätigkeit  ist  daher  dadurch  bedingt, 
dafs  dir  Parteien  von  der  Unparteilichkeit  des  Vermittlers  überzeugt 
sind.  Darum  eignen  sich  zur  Funktion  von  Wruiittlern  vornehm- 
lich solche  Personen,  denen  man  schon  ihrer  Lebensstellung  nach 
die  für  jene  Funktion  erforderliche  Unparteilichkeit  beimi&t.*)  Amt, 
Bildung,  namentlich  gründliche  Sachkenntnis  und  ökonomische  Un- 
abhängigkeit können  ihre  Qualifikation  erhöhen.  So  finden  wir 
denn  als  Mittelspersonen  in  Unternehmer-  und  zugleicii  in  Arbeiter- 
kreisen angesehene  Privatpersonen,*)  oder  einzelne  Staats-  oder 
Qetneiodebeamte,  namentlich  Gewerbeaitüsichtsbeamte  oder  Mandels- 
kammem,  oder  endlich  die  gerade  zur  Vermittlung  bestimmten 
Einigungsämter. 

Durch  (Irn  dritten  Absciniitt  des  Gewerbegerichtsgesetzes  vom 
29.  Juli  1890  ist  den  deutschen  Gewerbegerichten  die  Thätigkeit 
von  £inigungsämtem  zugewiesen  worden.')    Nach  §  61  dieses 


')  Der  TuchfabrikaDtenvereia  von  Aacheo  und  Burtscheid  fobcn  S.  36  Anm.)  hat 
iSo'  beschlossen,  (iafs  im  Fall  eines  .Ausstandcs  bei  einem  Mitj^licd  die  Veteius- 
vcrsammlung  eine  Kommission  von  15  \  crtraucnsmnnnern  wählen  soll,  welcher  der 
vom  Ausütaud  belrofTene  l  abrikanl  eine  Trufungs-  udcr  L  iitersuchung-skommissioii 
TOD  „drei  Herren"  zu  eauiehmen  hat.  Allein  von  den  Fabrikanten  gewählte  Ver- 
tnmoHnfiuwr  kö&nai  den  Atbaitem  aidit  ■]•  unputeiich  erscheinen.  Daher  kann 
der  Fall,  dab  die  Arbeiter  ,4olme  triftigen  Grand  einen  Sehiedasprncb  der  Unter- 
■UfhimgikommiHioa  annerkennen  verweigern**,  sehr  leicht  eintreten.  Fttr  diesea 
Fell  werden  sie  mit  „weiterea.  tlafsr^ela"  bedroht 

*)  W«  vomehmli^  ia  Englaad  vorkommt:  Gewerbegericht  II,  35,  1 16 ;  III, 
9/10.    Dort  vennittela  nicht  selten  Redakteure  einflufsrcicher  Zeitungen. 

•)  Aasgenotnnien  sind  hiervon  die  (iewerbegerichte  in  EUafs.Lothriogen  und 
in  Lübeck;  M.  v.  Schuis  in  Brauns  Archiv  f.  >oz.  Ge&etzgeb.  XIV,  1 79.  Andererseits 


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44 


Philipp  Lotmar, 


Gesetzes  kann  das  Gewerbegericht  ,,in  Fällen  von  Streitigkeiten» 
Welche  zwischen  Arbeitgebern  und  Arbeitern  über  die  Bedingungen 
der  Fortsetzung  oder  Wiederaufnahme  des  Arbeitsverhältnisses  ent» 
stehen,  als  Einigungsamt  angerufen  werden".  Eine  solche  Streitig- 
keit liegt  vor,  wenn  eine  von  einer  Partei  fiir  künftige  Arbeitsver* 
träge  vorgeschlagene  Vertraf^bedin^ung  von  der  anderen  Päutel 
abgelehnt  wird;  zu  einer  Arbeitsniederlegung  braucht  es  nicht  ge- 
kommen zu  sein. Nach  den  angeführten  Worten  des  Gesetzes 
ist  die  einigungsamtliche  Thätigkeit  der  Gewerbegerichte  zwar  nicht 
beschränkt  auf  die  Vermittlung  von  Tarifverträgen,  sondern  kann 
auch  Platz  greifen,  wenn  die  Bedingungen  der  Fortsetzung  oder 
Wiederaufnahme  des  Arbeitsverhaltiiis^ics ,  über  welche  rrestritten 
wird,  z.  B.  nur  in  der  Kntlassung  eines  Werkfuhrers,  der  Wiederanstd» 
lung  eines  Arbeiters,  dem  Austritt  aus  einer  Arbeiterorganisation, 
bestehen.  Indessen  hat  doch  in  Wirklichkeit  die  weit  überwiejTfende 
Mehrzahl  der  „Fälle  von  Streitigkeiten",  in  denen  es  zur  einigungs- 
amtlichen Thäiij^^keit  von  Gewerbegerichten  gekommen  ist,  aus 
Fällen  bestanden,  in  tlenen  es  sich  um  Vereinbarung  eines  rarif- 
vertrags,  also  um  Vermittlung  solcher  Vereinbarung  i^ehandelt  hat 
Die  von  Brentano  wiederholt  geschilderten  und  eindringlicli  zur 
Nachbildung  empfohlenen  Schieds-  und  Einigungskammern  Englands 
scheitten  Einrichtungen,  die  ausschliefslich  zur  Vermittlung  von 
Tarifverträgen  bestimmt  sind  und  den  Bestand  von  Gewerkvercinctt 
wie  die  englischen  zui  Voraussetzung  haben.*) 

Indem  das  deutsche  Gesetz  den  Gewerbegerichten  eine  einigungs- 
amtliche Thätigkeit  zugewiesen  und  dieselbe  im  einzelnen  geregelt 
hat  (§§61—69),  hat  es  wahrscheinlich  die  Abschliefsung  von  Tarif- 
verträgen beabsichtigt  und  -tTördert.  Dies  ist  —  wie  man  sonst 
über  die  Zweckmäfsigkeit  des  durch  jenes  Gesetz  geregelten  Mittels 

haben  nach  ^  4  des  kgl.  sächsischen  Gesetzes,  die  n(  r>^"-rhie<l>;t;rr!cbf"-  lictreffend, 
dir<;e  (lerichte  auch  als  Einlfninpsamter  geniafs  dem  Kcichsgcs.  über  die  Gewerbe- 
gcrichtc  zu  wirkt  n :  Gewcrhrgericht  III.  I05. 

*)  Gewerbcgericht  II,  48;  III.  107.  Soziale  Praxis  IX,  128.  Gewerbegericht 
n,  136  berichtet  VDicr  der  Rubrik  „Einigungnnit  im  PforaheuBcr  ZiiBiiMr«rstrikc" 
TOD  einen  Fall,  in  dem  die  Arbeiter  ^inr  Vermeidnng  des  Strikes"  dn  Einiguogsunt 
anriefen,  die  Arbci^eber  sieb  einliefsen  and  fSn  Tarifrertrag  xostande  kam. 

*)  Brentano,  ArbeitivcrhKltnis  genMfs  dem  beutigen  Reckt  S.  146—160^ 
365— 2S4.  Soziale  Praxis  Vin,  1365,  13G6,  Reaktion  oder  Reform?  S.  S4*-*57* 

*)  „Die  deutschen  Gewerbegerichte  tratrn  iSn;  in  5,  1894  in  16.  189;  in  191, 
1896  in  44  Fällen  als  Eiaignogsimter  in  WirliMunkeit."    Gewerbegericbt  III,  96. 


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Die  Tali^rcftrlce  nriscben  Arbeitgebern  und  Arbeitaehmem. 


45 


urteile  '}  —  auch  aus  dem  folgenden  Grunde  beinerken.swert.  Nach 
§  62  setzt  die  eiriij^uni^samthclie  ThäliL^keit  eines  ( lewerbegerichts 
voraus,  dafs  die  beteih^tcn  Arbeiter  und,  falls  es  ihrer  mehr  als 
drei  sind,  auch  die  beteili;4^len  Arbeitgeber  „X'ertreter  bestellen, 
welche  mit  der  Verhandlung^  vor  dem  Einij:^ungsamt  beauftraget 
werden".  Solche  Vertreter  sind  Teile  oder  (ilieder  einer  Orj^^ani- 
sation  der  Arbeiter  bezvv.  Arbeilt:jeber.  Solche  Vertreter  setzen 
eine  Koalition  voraus  und  handeln  als  deren  Delei^Merte  im 
Interesse  der  Koalition  vor  einer  staatlich  zur  Wrhandluni::^  mit 
ihnen  bestimmten  Behörde.  Der  Gesetzi^a^ber,  der,  wie  noch  er- 
örtert werden  soll,  sich  anderwärts  ablehnend  gegen  si)lche  Koali- 
tionen verhält,  zeigt  sich  hier  ihrer  bediirftig.  Er  anerkernU  die 
Koalitionen  insoweit,  als  er  das  Erscheinen  von  ,A  ertretern"  der- 
selben /.ulälst  und  für  das  Einigungsverfahren  verlangt, -j  sowie  auch 
den  „\'ertretern"  die  Aufgabe  zuweist,  unter  Umständen  „Vertrauens- 
männer" /.u  wählen  zur  Besetzung  der  Reisitzerstellen  (§  63  Abs,  3). 
Andererseits  unterläfst  der  Gesetzgeber  sich  darüber  zu  äufsern,  wie 
die  Vertretung  zustande  kommen  soll,  und  lälst  das  EinigunL;samt 
„nach  freiem  Ermessen"  entscheiden,  „ob  die  Vertreter  für  genügend 
legitimiert  zu  erachten  sind". 

Die  Vermittlung  von  Tarifverträgen  durch  das  Gewerbegerit  ht 
i.st  die  einzige  Vermittlung  von  Tarifverträgen,  die  gesetzlicii  ge- 
regelt ist.  Man  kann  hier  schon  durch  Betrachtung  dieser  Regeln 
das  Wesen  der  V'ermittlung  und  ihren  Unterschied  von  der  uiner- 
mittcltcn  Abschlielsung  von  Tarifverträgen  erkennen.  Während  bei 
der  letzteren  die  Parteien  unmittelbar  einander  gegenüberstehen,  sei 
es  in  Person,  sei  es  in  Gestalt  von  Vertretern,  giebt  es  beim  \'or- 
gang  der  Vermittlung  noch  eine  dritte  Rolle,  die  im  gesetzlich  .ge- 
regelten Falle  dem  Einigungsamt  zukonnnt.  Die  Unparteilichkeit 
des  Vermittlers  wird  hier  dadurch  erstrebt,  dals  die  Beisitzer  und 
die  Vertrauensmärmer  in  gleicher  Zahl  aus  der  Reihe  der  Arbeit- 
geber und  der  Arbeiter  genommen  sverden. 

Die  Thätigkeit  des  Vermittlers  —  er  bestehe  aus  einer  oder 
aus  mehreren  Personen,  sie  sei  gesetzlich  geregelt  oder  nicht  — 


')  Siehe  besonders  die  Kritik  von  Brentano  in  Schriften  des  Verein»  für 
Sozialpolitik  Bd  4;  S.  XL — L  und  wfpfn  der  Frage,  oh  der  (iegner  dessen.  d«*r 
das  Einigungsamt  anruft,  einlassungspflichtig  sein  sollte  ( lew  erbegericht  III,  22  uod 
M.  V.  .Schulz  in  Brauns  Archiv  f.  soz.  r,c«etro;cbung  XIV.  171  — 178. 

')  So  auch  J.  JastroK'  in  Conrads  Jahrbüchern  III.  Folge  Bd.  iS,  81—84. 


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40 


Philipp  Lotmar, 


ist,  im  Gcj^a^nsatz  zu  der  eines  \'crtreters,  eine  \>\<>is  faktische. 
Er  hat  verm«>>;<.-  setius  pers« >ii!i«  lieii  oder  anitliclien  Ansehens  und 
des  \()n  den  Tarteien  L;ehe'^'^len  X'ertrauens  in  seine  l*nj)arteilichkeit 
die  Parteien  einander  luiher  und  so  nahe  /u  hriiv^'en,  dals  es  unter 
ihnen  /.um  Kinvernehinen  und  zur  l-.iiuvillii^uni,'  kommt.  Kntfernt 
können  the  l'arteien  von  einander  sein  nicht  l)lots  In  dem,  worüber 
sie  uneins  sind,  sotidern  auch  darin,  dals  sie  sich  nicht  eini;^^en 
Wüllen,  indem  eine  oder  lu'ide  die  Wrhandliiiif;  al)lehncn  iV^]. 
ol)cn  S.  36 f.).  Fs  L^i<  l)t  Kontralienten.  die  die  unmittelbare  \'er- 
traL;sclilie[sun^'  xcn/ichcn,  :;iebt  alu  r  au<d»  solciir,  die  sich  NveniL^er 
zu  \erL,'el)en  i^dauben,  f>d(*r  die  X'erliandlun^  für  ers] irif  Islicher  er- 
a(  Ilten,  wenn  dieselbe  von  einem  Unparlciischcn  und  über  der 
Dittercnz  StehcJi  1- n  i;clcitet  wird.') 

Kben  diese  I.eitunf^  ist  ein  weiterer  X'orzui:,'  der  Vermittlung. 
Sie  besieht  nicht  lilois  in  der  Sori^e  für  die  äufsere  Ordnung  der 
Vcrhandluni^.  wodurch  diese  abgekürzt  werden  kann,  sondern  auch 
in  einer  Erleichterung  der  Verständigung.  Bei  der  Vermittlung 
streben  die  Parteien  ebenso,  einander  wenn  nicht  zu  überzeugen, 
so  doch  klar  zu  maclicn,  worauf  sie  l)estehen  müssen,  als  auch  den 
V^ermittler  für  die  Richti^^keit  ihres  Standpunktis  einzunehmen,  um 
seinen  IkMStand  zu  ^'ewinnen.  Bei  diesem  letzteren  Bestreben  wird 
der  Sachverhalt  geklärt  und  die  Leidenschaft  i^'emäfsi^.-) 

Kommt  c-,  mit  oder  ohne  Einflufs  des  X'ermittlers,  zum  Ver- 
tragsschlufs,  so  hat  die  Teilnahme  eines  Vermittlers  die  fernere  Be- 
deutung eines  Zen  ^en  der  Uebereinkunft.  Nach  dem  (rewcrbe- 
gerichtsgesetz  ist  der  Inhalt  der  Vereinbarung  öffentlich  bekannt  zu 
machen  und  diese  Bekanntmachung  auch  von  allen  Mitgliedern  des 
Einigungsamtes  zu  unterzeichnen. 

Endlich  bietet  die  Mitwirkung  eines  Vermittlers  auch  noch  den 
Vorteil,  dafs  durch  sie  die  V  e  r  e  i  t  e  1  u  n  g  der  \'erhandlung  hintan- 
ge halten  werden  kann.^)  Wenn  von  den  Forderungen  der  einen 
Partei  auch  nur  einzelne  durch  die  andere  angenommen  und  einzdne 
abgelehnt,  aber  die  letzteren  fallen  gelassen  werden,  so  kommt 
immerhin  eine  X'ereinbarun^  zustande,  obwohl  sie  nicht  die  ganze 
Proposition  umfafst.^)  Wenn  aber  die  abgelehnten  Forderungen  nichC  • 

^)  Vj,'l.  V.  Schulz  in  Soziale  Praxis  VIII,  1325 

•j  \  gl.  Hlcnderraann  in  Sjriale  Praxis  VI,  279 — 2b2. 

')  Vgl.  V.  Schuh'  iii  diesem  .\rchiv  173. 

')  Da  solchenfalls  ein  gegenseitiges  Nachgeben  Statt  findet,  so  hat  darin  der 


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Die  Tarifvertikgc  cwücben  Arbeitgebern  und  Arbeitnehmern. 


47 


fallen  gelassen,  sondern  aufrecht  erhallen  werden,  so  erreicht  die 
X'ertra^sverhandlun«::;  zunächst  ein  Fndc.  Hier  kann  nun  der  \'cr- 
rnittler,  der  durc  h  dir  \'erhandlun^en,  d.  h.  durch  die  Aussa^^cn  der 
Parteien  und  zugezogener  Auskunftsjsersonen  sich  über  die  Wunsche, 
Zwecke,  Möglichkeiten  informiert  und  ein  Urteil  über  den  ange- 
nie-^senen  Inhalt  einer  Verein! )arung  gebildet  hat,  seinerseits  den 
Parteien  einen  Vorschlag  dafür  machen.  Dieser  Vorschlag  heifst  im 
( lewcrbegerichtsgesetz  67 — 69)  „Schiedsspruch";  derselbe 

hat  „sich  auf  alle  zwischen  den  Parteien  streitigen  Fragen  zu  er- 
strecken" und  ist  immer  abzugeben,  wenn  die  Parteien  niclit  von 
sich  aus  eine  X'ereinbarung  zustande  gebracht  haben.') 

Der  sogenannte  Schiedsspruch  ist  nach  dem  Gesetz  fiir  keine 
Partei  \crbindlich.  Kr  kann  für  beide  Parteien  verbindlich  sein, 
wenn  sie  schon  vor  seiner  Fällung  einander  versprochen  haben, 
ihn  für  sich  verloindlich  sein  zu  lassen.  Hat  dies  nur  eine  Partei 
unter  sich  beschlos>en, '•)  so  i>t  ein  solcher  J^'-^ciiiuls  ohne  Rechts- 
folge. Hat  eine  Partei  dem  Kinigung^amt  gegenüber  im  voraus  er- 
klärt, den  Schictls.>j)rurh  für  sich  gelten  zu  lassen,  so  hat  die>»  keine 
andere  Bedeutung,  als  wenn  ^ie  es  nach  der  Fällung  gethan  hätte. 

Der  Schiedsspruch  des  Gewerbegerichts  als  I^inigungsamts  ist 
eine  V  e  r  t  r  a  gs  p  r  o  p  o  s  i  t  i  o  n  ,  die  der  X'ennittler  jeder  Partei 
namens  der  anderen  macht.  Wird  dieser  \'orschlag  von  den  Parteien 
angenommen  —  sie  „unterwerfen  sich  dem  Schiedsspruch",  wie  das 
(iesetz  in  68  sagt  —  so  liegt  eliensowohl  eine  Vereinbarung 
vor.  wie  wenn  die  Parteien  sich  auf  einen  ursprünglich  von  einer 
Partei  ausgegangenen  Vorschlag  geeinigt  hätten.  Man  hat  nämlich 
die  Partei,  welche  sich  zuerst  dem  Schiedsspruch  unterwirft,  als 
diejenige  anzusehen,  ilie  den  in  tlemselben  liegenden  \'orschlag  der 
anderen  macht.  Insofern  ist  auch  hier  die  Vermittlerthätigkeit  eine 
blols  faktische,  er  liefert  mit  .seinem  Schiedssprucli  jeder  Partei  eine 

Vorgang  Aebnlichkcit  mit  einem  Vergleich.  Der  Xaritvertrag  ist  aber  kein  Ver- 
gleich. 

'j  .Au!5y;entniiii)rn  wenn  .Stimmengleichheit  besteht  unter  den  Itcisiizcrii  und 
Vcrlraucn.<maiinerii,  liic  für  die  Arbeitgeber,  und  denen,  die  für  die  Arbcitiicluncr 
zugezogen  worden  sind:  in  diesem  Falle  kann  sich  der  Vorsitzende  der  Abstimmung 
«■dwiten,  damit  bleibt  der  Schiedstpnich  ans. 

-)  Im  Juli  1899  beschlossen  die  .Arbeiter  einer  Textilfabrik  in  Charluttenburg^ 
„das  hiesige  G«werbcgericht  als  j^nigungsamt  aanmifai  nikd  aidi.  denen  Schicds* 
ipfvch  n  lagen'*.   Vonrirts  rom  6.  Juli  1899. 


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I'hilipp  i.  Ol  mar. 


durch  diese  der  anderen  zu  machende  Proposition,  die  die  Autorität 
des  Gewerbegerichts  fiir  sich  hat 

Die  auf  die  Proposition  des  Eini^^un^^samtes  getroficne  Verein- 
barung wird  der  nur  auf  Parteiproposition  getroffenen  formell  in- 
sofern gleich  behandelt,  als  auch  die  erstere  öffentlich  bekannt  ge- 
macht wird.')  Der  Vermittler  tritt  damit  als  Zeuge  dieser  Ueberein- 
kunft  auf.  Für  die  unten  zu  behandelnde  Rechtswirkung  des  Tarif- 
vertrags ist  es  gleich^ültiii,  ob  er  durch  blolse  Vereinbarung  oder 
durch  Vereinbarung  auf  Grund  eines  „Schiedsspruchs"  zu  stände 
gekommen  ist. 

VL  Koalition. 

I.  Das  zweite  Hilfsmittel  zur  Hebung  von  Schwierigkeiten,  die 
sich  dem  Abschluls  von  Tarifverträgen  entgegensetzen,  ist  die 
Organisation,  und  zwar  die  Koalition  und  die  Vertretung. 

Wir  sprechen  zuerst  von  der  Koalition.  Koalition  ist  nicht 
jede  Versammlung  oder  Verabredung,  nicht  jeder  Verein  oder  Ver- 
band ohne  Unterschied  des  Zweckes,  sondern  nur  diejenige  Ver- 
bindung, welche  zur  Erlangung  günstiger  Lohn-  und  Ar- 
beitsbedingungen  (Koalitionszweck)  bestimmt  ist 

Eine  Verabredung  oder  Vereinigung,  oder  wie  sonst  die  Ueber- 
einkunlt  oder  Association  sich  nenne  oder  genannt  werde,  welche 
als  Zweck  verfolgt  die  Erlangung  günstiger  Absatzbedingungen,  oder 
günstiger  Produktionsbedingungen,-)  die  berufliche  Ausbildung,  den 
Arbeitsnachweis,  die  Berufsstatistik,  —  derartige  Vereinigungen  sind 
ebensowenig  Koalitionen,  als  Vereinigungen,  welche  Krankenlmter- 
stützuf^,  Belehrung,  oder  Unterhaltung  zum  Zweck  haben. 

Koalitionen  sind  Verbindungen  von  Arbeitgebern,  oder  Ver- 
bindungen von  Arbeitnehmern,  hingegen  regelmäfsi^'  nicht  auch 
Verbindungen  von  Arbeitgebern  und  Arbeitnehmern.  Da  nämlich 
ArbeitL^ebcr  und  Arbeitnehmer  beim  Arbeitsvertrag,  der  ja  aus  Lohn- 
und  Arbeitsbedingungen  besteht,  Parteien  bilden,  d.  h.  grofsen- 
teils  entgegengesetzte  Interessen  haben,  so  kann  eine  Ver- 
bindung vor.  .Xrbeit^'ebern  und  Arbeitnehmern  zur  Erlangung  günst^^er 
Lohn-  und  Arbeitsbedingungen  in  der  Regel  nicht  vorkommen. 
Namentlich  sind  Tarifverträge  keine  Koalitionen:  nicht  blofs  weil 

Nach  §  68  werden  sowuhl  der  Schiedsspruch  als  die  annehmendeu  oder 
abldmendcD  Erklärungen  der  Purteieii  r«röflieDtlicht. 

*)  Absfiglidi  der  Lohn-  und  ArbeitsbediDguoKen,  die  Mch  su  den  Produktion»- 
bedingttngen  gehören. 


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Die  Tarifverträge  zwischen  Arbeitgebern  und  Arbeitn>*lmuTn. 


49 


sie  von  Arbeitgebern  und  Arbeitnehmern  als  Parteien  geschlossen 
werden,  sondern  auch  weil  sie  nicht  die  Erlangung  günstiger 
Lohn-  und  Arbeitsbedingungen  bezwecken,  sondern  diese  Bedingungen 
festsetzen.') 

Eine  blo&  scheinbare  Ausnahme  der  Regel  liegt  da  vor,  wo 
Arbeitgeber  auch  Arbeitnehmer  sind  und  sich  mit  solchen  Arbeit- 
nehmern verbinden,  die  nur  dies  sind,  oder  wo  Arbeitnehmer  auch 
Arbeitgeber  sind  und  sich  mit  solchen  Arbeitgebern  verbinden,  die 
nur  <fies  sind:  man  denke  z.  B.  an  Zwischenmeister  in  der  Kon- 
fektion.*) Auch  den  Fall  wird  man  kaum  als  wirkliche  Ausnahme 
gelten  lassen,  da(s  ein  Unternehmer  seine  Arbeiter  behuis  Verur- 
sachung einer  Lohnbewegung  bei  einem  Konkurrenten  mit  Geld 
unterstützt,  indem  er  die  Bewilligung  höherer  lx>hne  an  seine  Ar- 
beiter von  einer  Erhöhung  bei  dem  Konkurrenten  abhangig  macht. 

Dafs  die  Koalition  entweder  Arbeitgeber-  oder  Arbeitnehmer- 
koalition, also  eine  Pautdverbindung  bt,  nämlich  die  Angehörigen 
nur  der  einen,  oder  nur  der  anderen  Partei  des  Arbeitsvertrags  um- 
iaist,  wird  durch  nichts  deutlicher  gemacht,  als  durch  das  Bestehen 
von  Koalitionen,  die  von  Personen  gebildet  werden,  die  in  der  Art 
der  Arbeit  ganz  verschiedene  Arbeitsverträge  abschliefsen,  was 
dann  weiter  zur  Möglichkeit  potenzierter  Koalitionen,  d.  h.  Koali- 
tionen von  Koalitionen  föhrt.  Indem  nämlich  Arbeitgeber  ver- 
schiedener Branchen  sich  koalieren  —  z.  B.  der  Unternehmer 
einer  Glashütte,  eines  Baugewerbes,  einer  Giefserei,  eines  Hütten- 
und  Walzwerkes,  einer  Kattundruckerei,  einer  Zucker&brik  u.  s.  w.  — 
oder  eine  Koalition  von  Arbeitgebern  derselben  Branche  sich  mit 
Arbei^bern  oder  Arbeitgeberkoalitionen  anderer  Branchen  koa- 
liert,*) so  wird  damit  zum  Ausdruck  gebracht,  dafs  es  dem  einzelnen 
Mitglied  nicht  sowohl  um  sein  Fach,  d.  h.  um  Erlangung  günstiger 

')  Darum  kann  auch  eine  von  Arbeitern  ausgehende  Verrufserkl&rung  eines 
Unternehmers,  der  einem  ijeschlosscncn  Tarifvertrag  nicht  beigetreten  ist.  nicht 
als  eine  nach  Gew.*  >.  >j  I^J^  'itrafhare  Bcrtinnnunt^  rur  Teilnahme  an  einer  Koali- 
tion gelten  —  wie  ein  H.imlmr^er  Richter  angenomnuMi  l>at 

^)  Ferner  die  Koalition  der  Hamburger  Rheder  mit  iiireu  Arbeitnehmern,  den 
Stauern,  als  den  Arbeitgebern  der  Schanerleute,  beim  Hafenarbeiterstrike  1896/97 : 
Töanies  in  Biaiia»  Archiv  für  soz.  Gesft.:gebung  X,  690. 

*)  t.  B.  Zeotnlverband  deutscher  lodostiidler,  Bond  der  laditttriellea,  Arbeit- 
gefaerverband  tob  Hanbwg'Altoa«  a.  s.  w.  Es  braucht  kaum  getagt  tu  werdea, 
daft  derlei  Verbände  nicht  bloft  Koalitionen  aind,  da  sie  noch  andere  alt  den  Ko»- 
litlonweck  Tcrfolgen. 

ArdUv  fiir  toc  G«Mt«gcbiws  u.  Scatiaik.  XV.  4 


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rhtlipp  Lotnar, 

ArbeitsbeclinL;un;^cn  fvir  Ale  Ai  ht  ils\  crträ-^^'c  meines  Faches,  als  um 
die  Position  tlcs  Arbeitsgebers  als  solclicn  ohne  Kucksicht  auf  das 
Facii  /II  thun  ist.    Ebenso  erstrebt  ein  (ievverksiiiaftskarteU,  d.  i. 

eine  Koalitio'  '  Koalitionen  von  Arbeitnehmern  vcrschictiencr 
Branchen  nicht  die  Erlangung  günsti^^er  Arbt  it^bedin^ungcn  fiir  die 
Schreiner,  oder  fiir  die  Maurer,  (xlcr  für  die  .^iluilunacher  u.  s.  w., 
sondern  für  die  Arbeitnehmer  .iK  Partei  im  Arl>eit«^\  ertra^^  Wenn 
sich  Personen  koalieren,  die  kein  Interesse  an  der  iiestaltun;^^  der 
besonderen  Arbeits!  »edinj^unj^^en  haben  können  —  denn  drm  Schuh- 
macher nnifs  es  als  Schuhmacher  einerlei  sein,  ob  die  Maurer  50 
<»der  70  IM,  Stiindtiilohn  bekommen,  ebenso  wie  es  <lem  Schuh- 
fabrikanten -Ici«  h.  uhiu,'  sein  niuls,  ol)  der  „I3au<^anverksmeister"  70 
oder  50  Pf.  Stundenlohn  zu  entrichten  hat  —  und  wenn  sie  dennoch 
zu  gegenseitiger  rnterstützun;^  bei  «ier  E^rlangung  günstiger  Be- 
dingungen sich  verbinden  und  damit  auf  diese  Erlanirun^'  aus^'ehen, 
d.  h.  sich  koalieren,  <o  mufs  es  ihnen  bei  solcher  Koalition  um 
Stärkung  der  Arbeiti;el)er  ji  o  s  i  t  i  <  »  n  ,  oiler  der  .\rbeitnelimer- 
posilion,  d.  h.  der  i*.u"teistelluiiL;  ini  .-\rbcit.>\ertr,i;.4  /u  thun  sein. 

Die  I'.rl.m'^ut.L,'  ;.;unstit^cr  Lehn-  vmd  .\rbeitsbediii;;uii;^aii,  die  als 
Zweck  einer  .Arbeitj^ebcr-  oder  eine  r  Arbeitnelnucrx  t  i  I  lindun^  diese 
X'erbindunj^^  zu  <•■•  er  Koalition  maclit,  scheint  tuir  mittels  offen- 
siver 1  hati'^^keil  1h  wirkt  werden  zu  können,  da,  wer  ;^nnisti^e  Ik-- 
din^'uiiL^en  /u  erl.in^eü  tr.ichtet,  sich  dalur  rcL^en,  aiv^'^reifen  muls. 
.'XUein  aul-cr  der  auf  \  crl)e>s(  ru;i;^^  der  \'orh.iiu!ent  ii  Bedingungen 
gerichteten  rhäti;.,"keit  i^t  .luch  eine  auf  1  lintanhaltun^^  ihrer  \'er- 
sclilechterun;^^  ^'erichtete  nn'>^li(  h  und  als  detensivc  Koalitions- 
thätii,'keit  anzuerkennen,  f  .iiie  .M(  liilu  it  von  Arbeitgebern  oder  von 
Arl>eitern  nilmlich,  die  <hc  Auhechic!  haltun:^'  der  vorhandenen  He- 
diri^'un;4en  erstrebt,  ist  insofern  auch  auf  die  Erlan^^un^  günstiger 
Lohn-  und  Arbeitsbedin^'un^'en  bedacht.  ,\U  sie  die  !)isheri;^en 
günstigen  nach  Resieguii^^  von  Hinderni.ssen,  also  jcnscils  dieser 
Hindernisse,  ,'u  erlanc^en  trachtet.') 

Die  ( Tunstii^keit  der  I  ohn-  und  .Arbeitsbedini^uiiLjen  wird  zwar 
vom  Standpunkt  einer  jeden  Partei  entschieden  und  nicht  vom 
neutralen  der  Volks-  oder  Weltwirtschaft,  der  Produktivität,  oder 
der  Hygiene,  .-\llein  (hidurch  wird  nicht  au.s^a'schlos>en.  dals  eine 
Bedingung,  die  für  die  eine  Partei  gunstig  ist,  auch  für  die  andere 

'i  Für  (lirsf  Ent<;chei<lung  auch  <ias  ErkcDouiis  des  Reichsgerichts  vom  II.  M&ra 
1^99  in  .Seufferts  Archiv  Bd.  54,  S.  443. 


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J 


Die  Tarifvertrige  xwisdiea  Arbeitgebern  md  ArbeitneliBieni. 


Partei  günstit^  sei:  man  denke  an  die  Beseitigung  der  Akkordarbeit,') 
oder  an  die  X'erkurzung  der  Arheif^/eit.-)  Die  Günstigkeit  der  Lohn- 
und  Arbeitsl)edirigungen  wird  nach  dem  Interesse  der  Koalierten 
und  nicht  eines  Einzelnen  bestimmt.  Die  Abschaffung  der  Akkord- 
arbeit kann  für  einen  besonders  leistungsfähigen  Arbeiter  ungünstig 
sein  und  doch  einen  Koalitionszweck  seiner  Fachgenossen  bilden.'') 
Die  Lohn-  und  Arbeitsbedingungen,  auf  die  die  Koalition  ge- 
riclitct  ist,  sind  Lohn-  und  Arbeitsbedingungen  i.  w.  S.  (S.  28  Anm.  2), 
nämlich  alle,  wciclic  für  das  A  r  b  e i  t s  v e  r  Ii  ä  1 1  n  i  s  bedeutend  sind, 
daher  den  Inhalt  eines  I  arif\  crirags  und  nicht  blofs  eines  Arbeits- 
\'ertrags  bildt  ri  kennen.')  Ks  kommt  aber  nicht  selten  \<>r.  dals 
sich  Unteriiclinicr  zur  Kinlialtung  eines  Miniinallohncs  verabreden 
und  denjenigen  \crfulgcn,  der  seinen  Arbeitnehmern  weniger  als 
diesen  Minimallohn  gewährt,  indem  er  >ich  jener  Abrede  nicht  an- 
.schl:el>l,  oder  die  vor)  ihm  mitgelroffcnc  nicht  einhält.'^)  Ein 
solches  Bündnis  ist  aii^rnsrheinlich  flaraiif  gerichtet,  die  Unter- 
bietung  auf  dem  Warenmarkt  aviszuschliclsen,  die  chuch  die  ( it- 
währung  des  kleineren  Lohnes  ermöglicht  wird.  Wenn  jene  Unter- 
nehmer sich  dawider  verbünden,  so  ist  ihr  Hündnis  nicht  auf  Er- 
langung günstiger  Bedingungen  für  ihr  Arbeitsverhältnis  ge- 
richtet, da  sie  vielmehr  die  für  sie  als  Arbeitgeber  ungünstigere 
Bedingung  wahren  wollen.  EiiK*  Arbeit  g  e  b  e  rkoalition,  die  auf 
Erlangung  für  die  Arbeitnehmer  günstiger  Bedingungen  gerichtet 
ist,  wird  man  nicht  annelinicn  wollen.  .Sollen  Bündrnssc  wie  die 
erwähnten  als  Koalitionen  gelten  und  den  ijij  152,  153  dew.O.  unter- 
teilen, so  mufs  man  einräumen,  ilals  die  „Verabredungen  und  Ver- 
einigungen zum  Belnife  der  I\rlangung  günstiger  I  ohn-  und  .'\rbcits- 
bedingungen"  auch  diejenigen  umlassen,  die  aut  -un^iige  Profit- 
bedingungcn  ausj^ehen,  soweit  der  Profit  von  den  Bedingutigen 
des  Arbeitsverhältnisses  abhängt.  Das  Arbeitnehmer-  und  da:^  Arbcit- 

*)  wodurch  die  Schommg  der  Geraadheit  der  Arbater  und  die  Schonuiig  von 
Werkzeugen  und  Stoflen  bewirkt  werden  knnn. 

*)  S.  Brentano,  Ueber  dM  VerhUtnb  von  Arbeitalohn  nnd  Arbeitueit  mr 
Arbcitsleiitang  (1893). 

*)  Vgl.  Jahresberichte  der  Gewerbenufttchubeamten  in  WOrttcmberg  für  189^ 

S.  13$. 

*)  7.  Ii.  Lehrlingshaltung,  Arhritsnachucis,  Zugehörigkeit  xnr  Orgaaisatimi, 
Geltungsdauer  des  Tarifvertrays.  vgl.  S.  24—27. 

Grwcrhcjjericht  I,  88.    „Handschuhmacher'*,  Organ  für  die  Interessen  der 
i landschuhfabrikatiou  Deutschlands,  9.  Juli  1897,  S.  IJ4. 

4» 


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5« 


rbilipp  Lotuar, 


gcbcrintcrcs-se  falirri  hier  aulserlii'h  /u^ainmoii.  Die  Arbeitgeber 
haben  nicht  da^  Interesse,  daK  den  Arlieitcrn  ^un.>tii^a"  Lohn-  u\u\ 
Arbeite! »fdinj^un^en  zu  teil  werden,  xüidein  es  kominl  ihnen  darauf 
an,  dais  iiicht  einer  der  Ihrigen  i^ünsli^ere  Produküuubbedinj^utigcn 
habe  als  sie  selber. 

II.  Indem  (Jieser  letzte  Kall  eine  Koal  tion  von  Arbeitgebern  ^-«-''^f 
die  sich  zur  I-!rrcieluin>^  de-^  K  'iüi.jnszweeke.*»  nicht  wider  die 
Arbeiter  kehrt,  werden  wir  auf  die  in.V^dichen  Richtungen  der 
K o a Ii  t i  o  n s t  h ä t i k e  i  t  aufmerksam. 

Da  die  Gewerbeordnung  in  i?  152  alli^'emcin  von  ,.Veraf>- 
redungcn  und  X'er'-iniL^ung^en  zum  Behule  der  trlangun^  günstij^er 
Lohn>  und  Arbeitsbedingungen"  spricht,  lälst  sie  unentschieden 
und  frei,  welche  Personen  zur  Erreichung  dieses  Zieles  in  Be- 
wegung gesetzt,  oder  welche  zur  (^ewährun^^  jener  Bethngungeii 
bestimmt  werden  sollen.  Insbesondere  folgt  aus  dem  UmstaiKle,  dais 
die  Arbeitseinstellung  und  die  Arbciterentlassun^ ,  die  das  Gesetz 
als  Mittel  für  den  Koalitionszweck  her\'orhebt,  wi  Irr  den  ( iei^tHT 
gerichtete  Aktionen  sind,  noch  keineswegs,  dais  diese  Richtung  der 
Koalitionsthätigkeit  wesentlich  ist. 

Ebenso  läfst  das  Gesetz  u  ne  ntsch  i  e  d  i- 11  und  frei,  welche 
Mittel  die  Koalition  zur  Erreichung  des  Koalitionszweckes  an- 
wenden will.  Indem  es  nur  „insbesondere"  die  .starken  .Mittel  der 
Arbeitseinstellung  und  der  Arbeiterentlas.sung  her\'orhebt,  hat  es  gleich 
starke  und  schwächere  zur  Anwendung  freigelassen. 

Aus  diesem  Verhalten  des  Gesetzes  ergiebt  sich: 

I.  Der  Koalitionszweck  kann  verfo^t  werden  gegenüber  einem 
Dritten  d.  h.  einem,  der  weder  Arbeitgeber  noch  Arbeitnehmer 
ist  und  doch  einen  Einflufs  auf  die  Gestaltung  der  Ijohn-  und 
Arbeitsbedif^ungen  ausüben  kann.  Ein  solcher  Dritter  ist  vornehm- 
lich der  Gesetzgeber,  der  Gesetzgeber  im  w*eiteren  Sinne,  d.  \x,  nicht 
blols  die  gesetzgebenden  und  verordnenden  Körperschaften  und 
ihre  einzelnen  Mitglieder,  sondern  auch  die  deren  Thätigkeit  vor* 
berettenden  und  ausfuhrenden  Beamten.  Diesen  Dritten  gegenüber 
kann  der  Koalitionszweck  verfolgt  werden,  indem  ihnen  Gutachten, 
Beschlüsse  oder  Petitionen  der  Koalitionen  vorgelegt  werden,  da- 
mit der  Einflufs  der  Dritten  auf  die  Gestaltung  der  Lohn-  und 
Arbeitsbedingungen  der  Koalierten  entfaltet  werde.  Diese  Ent- 
fettung kann  eine  direkte  sein,  indem  z.  B.  die  Arbeitszeit  im  Sinne 
der  Arbeiterkoalition  verkürzt  wird,  oder  ein  indirekter,  indem  der 


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Die  TarifvertrSge  zwischen  Arbeitgebern  und  Arbeitnehmcn. 


<TCgenpartci  die  Koalitionsthätigkeit  erschwert  und  damit  der  einen 
Partei  die  \>rfolt:,ning  ihre:  Koalitionszweckes  erleichtert  wird.') 

Es  ist  freilich  wiederholt  behauptet  worden,-)  dals  die  Koali- 
tionen nach  Gew.O.  §  152  ihren  Zweck  nicht  gegenüber  Dritten» 
namentlich  dem  Staat,  und  dals  sie  ihn  nicht  mit  allen  reidis- 
geselzlich  straflosen  Mitteln,  namentlich  den  erwähnten  Einwirkungen 
auf  den  Staat,  verfolgen  dürfen :  allein  diese  Behauptung  ist  gegen- 
über den  klaren  Worten  des  $5  152,  der  die  Adresse  und  die  Mittel 
der  Koalitionsthätigkeit  völlig  frei  läfst,  gänzlich  unhaltbar. 
Die  jene  Behauptung  unterstützenden  oberstrichterlichen  Entschei- 
dungen ^)  haben  darum  wissenschaftlich  weniger  Gewicht ,  weil 
sie  nur  Koalitionen  von  Arbeitnehmern,  nicht  von  Arbeitgebern 
betreffen.  *)  Dafs  die  Ver\valtungsbehörden  beiderlei  Koalitionen 
verschieden  behantleln,  ist  zwar  im  Leben  verhängnisvoll,  aber  wissen- 
schaftlich belanglos.  Ihre  Behandlung  der  Arbeit  g e  b  e  r koalitionen 
ist  nach  unserer  Meinung  rechtmäfsig. 

2.  Der  Koalitions/weck  kann  ferner  \  crfolgt  werden  durch  eine 
Aktion,  die  ^ich  im  Kreise  der  einen  Partei  hält,  sich  also  \'oii 
Arbeitgebern  an  .Arbeitgeber,  oder  von  Arbeitnehmern  an  .\rbeit- 
nchmer  weniiet.  .Auch  diese,  als  Koalitionsthätigkeit  interne 
Thätigkeil  kann,  statt  unmittelbar  auf  die  Arbeit^l)edingungen,  auf 
Schwächung  der  gegneriselien  Koalition  gerichtet  sein.  Zu  dieser 
internen  Koalitionsthätigkeit  geiiorcn  /..  B.  Beschlüsse  der  Arbeit- 
nehmer, dals  keiner  weniger  als  einen  gewis«^en  Lohn  sich  ausbe- 
diiige,  Oller  der  Arbeitgeber,  dals  keiner  mehr  oder  weniger  als 
einen  gewissen  Lohn  zusage;  Beschlüsse  der  Arl xiti^eljcr,  keinen 
einer  .-Xrbeiterkoalition  angehörigen  oder  sie  leitenden,  oder  an  einem 
btrike  beteiligten  Arbeiter  zu  beschäftigen,  Beschlüsse,  die  durch 

')  So  h.w  \\cT  Ir)iiunf;sv<  rhand  der  Baugcwcrksmci-^tor  im  Jahre  1S07  in  -int'T 
an  den  Buiule«-rat  und  un  dus  Keichsjustizanu  gerichteten  Kingabe  diese  Behörden 
fiir  eine  Gesetzgebung  zu  gewinnen  gesucht,  durch  welche  „die  Verhinderung  des 
Zuzuges  dtr  Aibciter  dwdi  Besettcii  der  Bahnhöfe  und  Verkdwsitnfoett  1«  den 
Kreis  der  strafwürdigen  Handlangen  hineingezogen  «rcrden".  Legien,  Koalttiont* 
fcdit  S*  1 15* 

*)  z.  B.  Ton  Landmann,  Koramentar  zur  Gewerbeordmmg;  Loening, 
Sdiriften  des  Vereins  f.  SozUlpolitik  Bd.  76  S.  265. 

Namentlich  des  Reichsgerichts:  Entsch.  in  Strafsachen  XVI,  383.  Jedoch 
sagt  d.-is  üben  S.  50  Anm.  1  zitierte  Erkeiiiitni=  (Ici  SeufTert  Bd.  54,  S.  444):  „In 
bcxug  auf  die  anruwenf'.cnderi  Mitte!  aber  ruthält  das  Ge<f.'  keine  Einschränkong.** 
*)  Vgl.  Locwenfcld  in  diesem  Archiv  XIV,  48Ö  uateo. 


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54 


Philipp  Lotmar, 


Verbreitung^  srluvar/cr  Listen  intierlialh  der  Arl>citi:^eherkoaIit ;< )f i 
i'cltond  gemacht  werden;  Strikounterstutzun^  cuier  Arheitnehrner- 
ki).iiiti()n  dun  h  eine  andere  mit  <  leld  oder  mit  I'crnhallunL;  des  Zu- 
zii'^s,  und  andererseits  Kin\virkun.j  einer  Arbeit;^el>crkoalition  auf 
Arbeitgeber,  um  deren  l  ahi^kiit  oder  \ei.;unL;  /um  \Vider>tan<l 
's't'^^en  ArbeiterknalitK  iiRn  zu  stärken  .  ( lelduntt  i -stul/unLj  oder  (für 
den  l'all  der  Nachgiebigkeit)  Kinzu^  xon  (ieldlmlM-n  u.  >.  w  ') 

Da  tiew.O.  ^  152  hinsichtlirli  der  PeiMUH  ii,  -ei^a-nuber  weichen, 
und  der  Mittel,  mit  welchen  der  Koalitionsz\\ eck  \'erfol'^t  werden 
darf,  keine  Schranken  aulstellt,  so  läl^t  er  die  l)ei>j »ielswclse  auj^e- 
führten  Koalitionsthäti^keiten  zu.  Trotzdem  ist  behauptet  werdet., 
tlals  nur  die  ,, unmittelbare  lünwiikuni^  auf  tlen  anderen  1  eil"  zu- 
lässig sei.    Wissenschaftlich  begründen  läüt  sich  das  nicht.'-) 

3.  Der  Koalitionszweck  kann  endlich  auch  verfolgt  werden 
durch  eine  Tliätigkeit,  die  sich  nicht  im  Kreise  der  Koalitions- 
partei hält,  sondern  an  den  (ie^ner  wendet.  Hierher  gehört  «Ue 
Verhandlung  iibcr  einen  Tarifvertrags  seine  Proj)Osition,  Modi- 
fikation, Acceptation,  oder  X'erwerfun^,  sowie  die  verschiedenen  von 
Koalitionswegen  gemeinsam  wider  den  <  iciMier  unternommenen 
Schritte,  tlie  seinen  Widerstand  brechen,  ihn  zur  Annainne  oder 
zum  i' allenlassen  des  Tarifvorschlags  bewegen  sollen:  Arbeitsnieder- 
legung, Aussjierrung,  Boykott. 

III.  Die  Koalition  ist  für  den  Tarifvertrag  in  niehr  als  einer  Hin- 
sicht bedeutungsvoll.  Die  Koalition  ist  eine  Verbindung  von  Arbeit» 
gebem,  oder  von  Arbeitnehmern  zur  Erlangung  günstiger  Lohn- 
und  Arbeitsbedingungen,  der  Tarif\crtrag  ein  Vertrag,  der  solche 
Bedingungen  für  künftige  Arbeitsverträge  festsetzt  Die  gemeinsame 
Aktion  einer  Mehrheit  von  Arbeitgebern  oder  von  Arbeitnehmern  zur 
Abschliefsung  eines  Tarif\  ertrags  ist  daher  eine  Lcbensäufserung 
der  Koalition.  Der  Tarifvertrag  ist  ein  hen  orragendes  Mittel  zur 
Realisierung  des  Koalitionszweckes  und  die  Koalition  ein  hervor- 


')  „In  diesem  Frühjahr  beschlofs  eine  Vcrs.iiuniiuiij^  tier  Zchdeuicker  Maurer- 
UDd  Zimmenneister,  die  Fordeniag  der  Arbeiter:  lOictubdige  Arbeitszeit  und  35  Pf. 
Stimdeolobn  abht  «1  bewilligen.  Glddueitig  setzte  die  Versamnlting  fest,  dafs 
jeder,  der  gegen  diesen  Beschlufs  verstofse,  eine  vom  Innongsischiedsgericht  festta- 
setzende  Strafe  von  300 — 500  Mk.  zu  erl^en  habe.**   Soziale  Praxis  IX,  149. 

Dagegen  auch  das  reichsgerichttiche  Erkenntnis  vom  II.  Märs  1899  in 
Seufferts  Archiv  54  S.  445. 


Die  Tarifveitrice  sirbchen  Arbei^ebem  und  Arbeitnehmern. 


l-a^cndcs  Mittel,  den  Tarifvertrag  ins  Leben  zu  rufen  und  lebendig 
zu  erhalten.') 

Die  Koalition  ist  für  denjeni^i^cn  Kontrahenten  eines  Tarifver- 
trags ein  unum^änf:^liches  Frfordernis,  welcher  aus  einer  Mehrheit  von 
Personen  besteht,  die  auf  ein  Mal  kontrahiert.  Denn  diese  Mehr- 
heil kann  mit  einem  Willen  nur  auftreten,  wenn  sich  die  Mehreren 
koaliert  haben:  oben  S.  30 — 33. 

Auch  wo  der  Ahschluls  eines  Tarifvertra^f^  ohne  Koalition 
möglich,  ist  der  Mangel  der  Koalition  solchem  Abschluh  leicht 
hinderlich,  indem  ein  Arbeit;^'eber  der  vertraglichen  Bindnnij 
widerstrebt,  weil  er  die  Konkurrenz  der  nicht  mit  ihm  koalierten 
ungebunden  bleibenden  Fachgenossen  fürchtet:  oheti  S.  42.  Und 
umgekehrt  hat  die  von  der  Arbeiterkoalition  ausgeliemle  Tarif- 
proposition leicht  die  Folge,  dafs  sich  auch  die  Arbeitgeber  koa- 
lieren.-) 

Die  Koalition  kann  sich  dem  .Absrhluls  eines  Tarifvertrags 
ferner  dadurch  förderlich  erweisen,  dais  sie  der  den  Abschlui^  er- 
strebenden Partei  Pressionsmittel  zu  gewähren  vermag,  deren  sie 
ohne  Koalition  entralen  würde.  Solchen  Nachdruck  köntien  der 
TarifjiroposilK )ii  die  Arbeitsniederlegung  und  der  Boykott,  die  Kiit- 
lassung  und  die  .Aussperrung  \crleihen.  .Andererseits  freilich  kann 
die  Koalition  dem  Zustandekommen  eines  Tarifvertrags  auch  hinder- 
lich sein,  indem  sie  die  dem  Al^schluls  zuneigenden  Parteigenossen 
durch  Androhung  oder  \'erliiingung  eines  Nachteils  zurückhält,  ') 


')  Vgl.  Jahresberichte  der  Gewerboaufsichtsbeamteo  von  Württemberg  für  1S9S 
8.  25  und  z.  B.  die  Aeufserung  eines  Teilaebmers  einer  Maurenrersammiung  in  Berlin: 
Die  Grandlitcen  sn  «ücr  Ventindigung  mit  den  Untnndunern  und  die  Gnrmntie, 
daft  die  Abmachungen  durclifefltllirt  werdeni  tei  jetst  dadnidi  gegeben»  dais  min- 
deatena  sieben  Achtel  der  Maarer  Berlins  und  der  Un^^end  organisiert  sind  und 
luram  tauaead  der  Orgnnisntiaii  fernstehen.  (VorwErts  14.  Olrtober  1898).  In 
einer  Zimmeferrendhunlnng  in  Berlin  &afserte  ein  Redner,  die  Verhandlungen  mit 
den  Arbeitgehern  verspriGlien  jetzt  Erfolg,  da  die  Arbcitgelxr  ^nt  organisiert  seien 
«nd  sich  daher  keiner  vott  den  Verainbarangen  anisclüiefsea  könne.  (Vonrirta 
18.  Januar  1899.) 

*)  „Ganz  ähnlich,  wie  es  im  Vorjahr  bei  ilcni  Metallarbeiterstrike  '^rwf  ^fn  %v.-»r. 
Hatte  das  /usamiurn^^chcn  der  Arbeiter  oin  Za>ammi-fi2;ehcii  der  Arbeitgeber  zur  Fol^jc, 
und  es  bildete  sich  der  Verband  der  su-ldc Jtschrn  Haugcwcrksmeister,  mit  dessen 
Vertretern  die  Lohnkommtssioa  der  .Xusstandi^en  die  neuen  Arbeitsbedingungen  .  .  . 
festsetzte      Jahresberichte  a.  a.  (>.  S.  34. 

*j   i.  B.  Materialspcrrc .   Linzichuu^    einer  Koaveutionalstrafe.     Wegen  der 


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1 


^6  r*  h  I )  I  p  p  I.  o  t  m  a  r , 

die  den  Abschlufs  weigernde  Partei  in  ihrem  Widerstand  untere 
stützt,  oder  för  die  ihr  aus  dem  Widerstand  erwachsenden  Nachteile 
schadlos  hält.^) 

Die  Koalition  ist  nicht  blofs  fiir  das  Zustandekommen  eines 
Tarifvertrags,  sondern  auch  für  seinen  Bestand  bedeutungsvoll 
Durch  den  Zusammenhang  der  Koalition  ist  die  Haltbarkeit  des 
Tarifvertrags  bedingt  Denn  der  Tarifvertrag  wurzelt  nicht  blols 
gleich  anderen  Verträgen  in  der  Vertragstreue  der  Parteien  gegen- 
einander, sondern  auch  in  der  Vertragstreue,  die  die  Glieder  einer 
Partei  unter  sich  bewähren.  Der  Tarifvertragsbruch  eines  Kontra- 
benten  kann  dem  Gegner  zum  Vorteil  und  dem  Genossen  zum 
Nachteil  gereichen,  indem  diesem  hierdurch  die  Konkurrenz  er- 
schwert wird. 

Die  Koalition  kann  behufs  Abschliefsung  eines  bestimmten 
Tarifvertrags  gegründet  werden,  oder  nur  im  allgemeinen  zur  Er- 
langung günstiger  Lohn*  und  Arbeitsbedingungen,  ohne  dafs  ein  be- 
stimmter Tarifvertrag  geplant  wird,  und  ohne  dafs  durch  den  Ab- 
schluGs  eines  solchen  der  ganze  Zweck  der  Koalition  erfüllt  wird. 
Es  ist  möglich,  aber  nicht  erweislich,  daGt  Gew.O.  §  152  mit  den 
Worten  „Verabredungen  und  Vereinigungen"  spezielle,  transttorische 
Koalitionen  und  allgemeine,  bleibende  unterschieden  hat 

In  jedem  der  vielen  Fälle,  in  denen  die  Koalition  fiir  den  Ab- 
schluß und  Bestand  des  Tarifvertrags  wichtig  ist,  hat  der  Umfang 
der  Koalition  die  gröfste  Bedeutung.  Mit  der  Zunahme  der  Mit- 
gliederzahl kann  zwar  der  Zusammenhalt  ihrer  Mitglieder  abnehmen. 
Hiervon  at^sehen  ist  aber  die  Koalition  um  so  wirksamer,  je  mehr 
sie  einer  Zusammenfassung  aller  Genossen  eines  Berufszweiges  nah« 
kommt.  Jeder  ihr  nicht  Angehörige  bringt  sie  in  Gefahr  von  seiner 


enteren  i.  Legien,  KoftlitioasTecht  S.  tao.  I3i.  Weigert  io  Sotialc  Fruit  VIII, 
1069.  LoewenTrld  in  diesem  Archiv  XIV,  494,  517;  wegen  der  letxtereo  ».  B. 
Sociale  Praxi.«  IX,  149  toben  S.  $4  Anm.  i).  ^ 

'1  Per  „Ausstandsvtriicherungsverband  des  Obcrberpamtsbcirkrs  Dortmund" 
hat  im  lahrr  1891  Mk.  230CMX>  uü  KiUsrhädi^ungen  ge/alilt  und  h;il.  weil  eine  Ije« 
tciligte  Zcciie  die  l  ordcrungen  itirer  Arbicitcr  bewilligte,  iu  d.is  Statut  die  fol^jende 
Bestimwuiig  aufgcuommen :  „Der  Anspruch  auf  Schadensersatz  der  von  einem  Aus- 
stand betroffenen  Zeche  wird  hinfallig,  wenn  die  Beendigung  des  Au&standes  d»> 
dttreh  herbeigeführt  wurde,  dafs  die  von  demselben  betroffene  Zeche  die  too  der 
Belegschaft  erhoben  gewesenen  Forderungen,  deren  Ablehnung  den  Antttand  vcnn- 
lafste,  nachtrftgUch  volktändig  oder  tm  wesentlichen  anerkannt  hat . .  Soaialpolit 
Zentialblalt  I,  18. 


Die  Tarifrertflge  iwiichen  Aibdtgebcni  und  ArbatDehmeni. 


Konkurren/'  /u  leiden,  denn  jeder  ihr  nicht  Angehörige  ist  in  der 
I^e  sie  /u  unterbieten.  Auf  sciten  der  Arbeitnehmer  ist  diese 
l'nterbietunj»  einfach:  sie  besteht  nur  darin,  mit  wenii^^er  tainstigen 
BediiiL^ungcn  vorheb  v.w  nehmen,  als  die  Koaliertet!  tlum.M  Auf 
seilen  der  Arbeitgeber  i<;t  zweierlei  Untcrbictun-  möglidi  cnt- 
sj)rechend  der  Dopi)elst(.  llunt; ,  tlie  der  Unternehmer  eitininiint. 
Bietet  der  Aulscnstehende  den  Arbeitnehmern  ungünstigere  Bc- 
dingimgen  als  die  Koalierten  ihun ,  so  könnte  solches  ihnen  als 
Arbeilgebern  gleicligültig  sein,  da  sie  mit  ihren  günstigeren  Be- 
dingungen im  Wettbewerb  um  die  Arbeiter  nicht  den  Kürzeren 
ziehen  würden.  Da  sie  aber  als  l'nl  er  nehmer  die  Arl)eiispro- 
duktc  abzusetzen  haben,  so  ist  ihre  Stellung  beim  Wettbewerb  um 
den  Absatz  schlechter,  wenn  sie  infolge  der  dem  Arbeiter  günsti- 
geren Bedingungen,  die  sie  als  Arl)eilgeber  gewährt  haben,  nur  mit 
weniger  Waren  oder  mit  teureren  Waren  auf  dem  Absatzmarkt 
auftreten  können.  Bietet  der  Aufsenstehendc  den  Arbeitnehmern 
günstigere  Bedingungen  als  die  Koalierten,  so  bringt  er  <liese 
in  Gefahr  weniger  Arbeitnehmer  zu  bekommen  als  sie  wünschen,-) 
oder  minder  geschickte,  und  Arbeitnehmer,  die  Nichts  eifriger  er- 
streben ,  als  von  den  Koalicrlcn  die  günstigeren  Bedingungen  zu 
erlangen,  deren  Gewährbarkcit  durch  den  Aulsenstehenden  er- 
wiesen ist. 

Jede  Koalition  mufs  hiernach  die  Tendenz  haben,  sich  auszu- 
breiten. Mit  jedem  Mitglied,  das  sie  gewinnt,  befreit  sie  sich  von 
einem  sie  möglicherweise  unterbietenden  und  dadurch  zersetzenden 
Konkurrenten,  nimmt  sie  an  Stärke  zu,  auch  wenn  ihre  Kohäsion 
nicht  Schritt  hält.  Je  umfassender  die  Koalition,  um  .so  unwider- 
stehlicher ist  sie  beim  Abschlufs  eines  Tarifvertrags  und  um  so  wirk- 
samer ist  der  von  ihr  abgeschlossene. 

IV.  Die  Koalition  irgend  welcher  Arbeitgeber,  oder  irgend  welcher 

>)  Das  kaan  nach  dem  S.  50/51  Gcngtea  —  «Miiiahiniweiic  eine  aadi  dem 
Unterbieteadcii  ^sügere  Bediagnag  tein. 

')  Wie  bei  der  Konkomiu  des  indmtsieUeB  Westens  nad  des  agmisdiea 
Ostens  in  PMnfsea.  —  In  der  Generalversammlung  des  Arbeitgeberbandes  des  Bau» 

gpwerbes  in  Berlin  (am  21.  Juli  1899*  kL-igtc  ein  T-aumeistcr  darüber,  dafs  mehrere 
Bnndcsmitglirder  den  Maurern  höheren  Lohn  z.-ihk-n,  als  der  Tarifvertrag  bestimmt, 
und  hierdurch  ihn-n  Kollegen  die  Arbeiter  entziehen.  Fs  wurde  sogar  .mge- 
rtgt,  dic.te  .Nlebrzahler  in  Strafe  iw  nehmen,  obwohl  doch  <icr  Tarifvertraor  vom 
24.  Juni  1S99  (äoz.  Praxis  VIU,  1070;  unter  11  den  Lohnsatz  nicht  als  maximalen 
bestimmt. 


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58 


Philipp  Lotmftr, 


Aibcilnohmer  ist  im  heutigen  Recht  weder  verboten  noch  strafbar, 
hisbcsondcrc  sind  die  Kt)alitioncn  von  GewcrbetrcibeiKlen,  <^f*\vor!)- 
lichcn  Gehilfen,  Gesellen  und  I'abrikarbcitcrn  durcU  Gew.O.  !j  152 
von  „allen  Verboten  und  Strafbcstimmun^en"  befreit  worden.*) 
Diesem  nej^ativen  Verhalten  des  Rechts  gc^^'cnüber.  dafs  es 
nämlich  die  Koalitionen  nicht  vcrl)ietet  und  nicht  bestraft,  darf  man 
von  Koalitionsfreiheit  retlen,  indem  man  an  den  früheren  Zustand 
der  Verfol^un^'  der  Koalitionen  durch  das  Recht,  an  ihre  ehemalige 
Bestrafung  denkt. 

Hingegen  kann  von  einem  Koalitions recht  (im  subjektiven 
Sinne)  nur  da  die  Rede  sein,  wo  das  Recht  sich  gegen  die  Koalitionen 
auch  positiv  verhält,  nämlich  ihnen  seinen  Schutz  angedeihen  läfst. 

Legt  man  diesen  al^mein  geltenden  Malsstab  an,  so  ist  zu  sagen, 
dafs  die  in  Gew.O.  §  152  genannten  Arbeitgeber  und  Arbeitnehmer 
ein  Koalitionsrecht  nicht  haben. 

Dieses  Nichthaben  eines  Koalitionsrechts  beruht  nicht  darauf, 
dafe  die  Bündnisse  der  gedachten  Arbeitgeber  oder  Arbeitnehmer 
zur  Erlangung  gunstiger  Lohn*  und  Arbeitsbedingungen  es  in  der 
bisherigen  Rechtsgeschichtc  noch  zu  keiner  gesetzlichen  oder  ge> 
wohnheitsrechtlicben  Anerkennung  gebracht  haben.  Sondern  der 
Mangel  des  Koalitionsrechts  rührt  nur  daher,  dafs  im  Spezialrecht 
jener  Personen  ihren  Koalitionen  durch  Gesetz  der  gemeine  Rechts* 
zwang  und  damit  die  Rechtswirkung  oder  die  rechtliche  Existenz 
a  b  g  e  s  r  o  c  h  e  n  ist  Und  zwar  ist  ihnen  diese  abgo]  >  rochen  ohne 
Ansehen  der  persönlichen  Richtung  ihrer  Koalitionsthätigkeit 
und  ohne  Ansehen  der  Mittel  zur  Erreichung  des  Koalitionszweckes 
(S.  52 — 54).  Es  ist  daher  der  Koalittonszweck  selbst  oder 
das,  was  ein  Bündnis  zur  Koalition  macht  (S,  48),  weswegen  die 
Koalitionen  der  genannten  Personen  durch  die  Gewerbeordnung 
aufserhalb  des  Rechts  und  einem  Stammtisch  oder  einem  Thee- 
kranzchen  gleich  gestellt  werden. 

Das  Koalitionsrecht  ist  nicht  allen  Arbeitgebern  und  nicht  allen 
Arbeitnehmern  abgesprochen,  sondern  nur  den  Gewerbetreibenden, 
gewerblichen  Gehilfen,  Gesellen  und  Fabrikarbeitern,  auf  die  sich 


')  „Alle  Verbote  und  StrafbcsttminuDgc-n  ^^cgcn  Gc\verl)etr'-il)L-nr!e,  g«werbltche 
Gehilfen,  üeselleii  und  Ka])rikarbeiter  wegen  Vcral>rcdiJtijjen  und  Vereinigungen  zam 
ßehuTe  der  Eflanguug  günstiger  Lohn-  uod  Arbeitsbedingungen  .  . .  werden  »ufge- 
hoben." 


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Die  TuifvetUiSge  zwischen  Arbeitgebern  und  Arbeitnehmern. 

der  CS  ahsprcclicndc  sj  152  (ii\v.(  ).  l)c/ieht.')  Hin^a^^cn  haben  es 
—  wie  im  Gcf^'cnsatz  zur  herkömmlichen  Meinung  betont  werden 
nnifs  —  alle  anderen,  namentlich  die  landwirtschaftlichen,  die  forst- 
wirtschaftlichen und  die  seemännischen  Arbeitgeber  und  Arbeit- 
nehmer. Eine  Koalition  von  Landarbeitern,  bei  Meiduiig  einer 
Konventionalstrafe  nicht  unter  einem  gewissen  Lohn  einen  Arbeits- 
vertrag einzugehen  (oben  S.  10  il  ).  ist  rechtsgültig,  während  c'w.c  ' 
solche  Koalition  unter  gewerbliclien  Gehilfen  als  KechtsgebilUc  un- 
möglich ist. 

Das  den  land-  und  den  forstwirtsrhaftlirheti  Arbeil  n  c  h  m  e  r  n  zu- 
stehende  Koalitionsrecht  i.^t  in  Preulsen  dadurch  sehr  beeinträchtigt, 
dafs  ihre  Verfolgung  des  Koalitionszweckes  <lurrh  gewisse  Mittel, 
«amentlich  Verabredung  der  Arljeitseiiisteliung  oder  der  Arbeits- 
verhinderung mit  FreiheiläStrafe  bedroht  ist.  Die  .\rbeitseinstellung 
selbst,  ohne  V'erabredung,  indem  einer  sie  dem  anderen  nach- 
macht, ist  ebensowenig  mit  Strafe  bedroht.  al>  die  .\  u  f  f  o  r  d  e  r  u  n  g 
zur  Arbeitseinstellung.-)  Die  angegebene  Beeinträchtigung  <les 
Koalitionsrechts  wird  nicht  seilen  als  Koalitionsverbot  bezeichnet, 
womit  Koalition  und  Strike\  erabredung  fälschlich  identiti/ieri  werden. 
Die  Aufhebung  jener  Beeinträchtigung  d.  h.  tier  Strafdrohuiig  wurde 
die  davon  betroffenen  Arbeitnehmer  denen  der  (iew.().  1;  152  nieht 
gleichstellen,  weil  den  letzteren  das  Ko.ililionsreeht  fehlt.  Das 
Koalitionsrecht  der  Landarbeiter  un  Preulsen)  wird  milder  Zunahme 
der  Wanderarbeiter  an  Bedeutung  gewinnen. 


'1  Dif  152.  133  „finden  auf  die  Besitzer  und  .\rheiter  von  Bergwerken, 
Salinen,  Aufl>ereitnnnsaii?t.»ltcn  und  unterirdisch  betriebenen  Brücheo  oder  Gruliea 
entsprechende  Anwfndung** :  Gew.O.  J;  154a. 

*)  Prcufsischcs  (Jisetz  betr.  die  Vcrietzurfjoii  der  Dienstpflichten  de«!  Gesindes 
und  der  landlichen  Arbeiter  (vom  24.  April  1854;  ^  „Ge&inde,  Schifl'üknechte, 
DicBMfoutc  «»der  Hudafbeiter  der  §  2n«>d  beseidiDeten  Art,  weldie  die  Arbeit- 
geber, oder  die  Obrigkeit  su  gewissen  HendluDgen  oder  Zngestiadnissen  dadurch 
M  bestinmen  soeben,  dafi  sie  die  Einstellung  der  Arbeit  oder  die  Verhindemng 
derselben  bei  einseinen  oder  mehreren  Arbeitgebern  vembreden.  oder  tu  einer 
solchen  Vembredung  andere  aafibrdem,  haben  Gefängnisstrafe  bis  zu  einem  Jahre 
Terwirkt."  L'ntcr  Schiffsknechten  versteht  das  Gctets  auf  Stromschiffen  im  Dienst 
•teheode.  Nach  dem  deutschen  Binncnschiffahrtsge-.etz  §  21  unterstehen  jedoch 
diese  Schiffsknechtc  der  Gewerbeordnung.  al>  >  .lUvli  dem  Jj  132  Gew.< ».  Wogen  «ifs 
räumlichen  Geltungsgebietes  jenes  preuf-.iÄchea  Gesetzes  siehe  Zürn.  Haiidi)  de-, 
preufs  Gesinderechts  (1^95)  S.  65.  Für  aufg'-h<>l>en  orkl.irt  es  dun'.i  dxi  keichs- 
ütrafgesetxbuch  Stadthagen  in  Neue  Zeil  Will.  Jahrgang  1,  392,  393. 


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6o  Philipp  Lotmmr« 

Koalit;(»nsrcc!il  wird  \  oii  der  ( lewcrboordniiiiL:  den  Personen, 
denen  <  c  <  s  ah<| »rieht,  tladurrli  abi^csprochen,  dals  sie  jede  Klage 
und  Kinrcde  aus  litr  Koalition  \'ersar^ : 

i;  152  Abs.  2:  ..Jedcni  reilnehnier  <telit  der  Rucktritt  von  solchen 
W  rchiiLTuriL^eti  un<l  \'t ; aln <  «hm-en  frei,  und  es  findet  aus  letzteren 
weder  Kla;^c  norli  Kiiutde  slatl." 

Die  Freiheit  des  Rücktritts  wäre  mit  der  RechiN.;ulti'^'kcit  der 
Koalition  vereinbar,  da  man  auch  von  einer  rechlst;ulti^cn  Gesell- 
sciiaft  jeder/eil  /urücktrelcn  katin. ^) 

Dat^'e^^en  \<{  die  \'(  rs.!,4vin^  \  «»n  Kla^'e  und  Kiiufdc  ,.aus  let/.lercn" 
d.  h.  au>  den  Verabredun^^en  uiul  \'<  reiniiaui^'en  als  Staluierun«^'  der 
V  n  ^  u  1 1  i  k  e  i  t  der  fraglichen  Ki  MÜlitjnen  zu  betrachten.  An 
dlesci  l  n..;iiltit,^keit  .indert  auch  iiicht->  die  S.  45  erwähnte  mittel- 
bare p.triielK  Anerkennung  tler  Koalitionen  durch  das  Cicwerbe- 
gcrichts^esetz. 

Die  rn-^nilti<^keit  der  in  Rede  stehemlen  Koalition  i.Nl  juristisch 
darum  bcmcrkenNW  <  rt.  w  eil  diese  Koalition  alle  I'Jemente  eines  obli- 
gatorischen X  ertraLj-»  darbietet,  nämlich  dvu  Kftnsens  einander  haft- 
bar zu  machen,  (K  i  Ixotisens  über  den  v  ic^cnstaiid  der  Haltung 
(die  I.eisluiiL;)  und  das  <  ik( »nomische  Interesse  an  die->em  (iegenstand. 
Dieser  X'ertraL^  ist  nicht  aul  eine  unmögliche  Leistung  gericinel,  er 
versttHst  nicht  gegen  ein  gesetzliches  X'erbot  —  da  vielmehr  in 
Abs.  1  alle  Koalitionsx  erböte  aufgehoben  werden  —  und  er  verstölst 
endlich  nicht  gegen  die  guten  Sitten.  Sonst  wäre  es  aucli  nicht 
denkbar,  dals  die  Koalitionen  der  nicht  unter  i;  152  fallenden  Arbeit- 
geber und  Arbeitnehmer.  /..  R.  der  Rhe<lcr,  der  I^andwirtc.  der 
Matru^eii,  der  Landarljciti  r,  dc  i  hisenbahnar  bv  :tei .  der  Heimai  bciter, 
der  I  )ieiistboten,  der  liureaugehilfen  von  Rechtsanwälten,  Notaren 
u.  s.  w.  (leltung  haben. 

Die  l.  nguklgkeil  der  Koalitionen  der  in  ( iew.O.  i;  152  ge- 
nannten Personen  ist  danach  etwas  Exzeptionelles,  wit^  HreiUano 
sagt,  eine  „juristi.sche  .Anomalie".  Nach  ihm  enthält  (iew.O.  v?  152 
Abs.  2  „das  n^Cotov  (/'frdoc,  die  ( irundlage  aller  auf  dem  Crebictc 
des  Koalitionswesens  bestehenden  l'ebclständc.  Solange  er  besteht, 
wird  an  ihr  völliges  Verschwinden  niemals  gedacht  werden  können".*) 

')  B.G.B.  i:  723:  die  Gesellschafr  ni.  h?  für  (  in.  ^estillUDtc  Zeit  clngcgM^COt 
80  kann  jeder  Gesellschafter  .sie  iccUrrcit  kündigen.'*  Nach  §  737  kann  im  Gesell- 
fchaft&vertrag  -a  irk<:atn  l>c.^timmt  sein.  cJafs,  wenn  ein  Gevellschafter  kündigt«  die  Ge- 
sellschaft unter  den  ul>rigen  fortbrsteheii  soll. 

*)  Brcuianti,  Reaktion  oder  Reform r   S.  30. 


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Die  Tanlverträge  zwiachen  Arbeitecbem  und  Arbcitnehmeni. 


Ol 


Indessen  ist  die  ira^^liclie  Bestimmun«T  wiederum  in  dem  am  22.  No- 
vember 1899  veröffentlichten  „sozialdemokratischen  Gesetzentwurf 
zum  Schutze  des  Koalitionsrechts'*  enthalten,  was  auch  darum  merk- 
würdig ist,  weil  sie  gerade  von  sozialdemokratischer  Seite  „lebhaft" 
und  als  eine  „schreiende  Ungerechtigkeit"  bekämpft  worden  sein 
soll.*)  Was  da  und  dort  in  der  Litteratur  zur  Rechtferii-uiig  der 
fraglichen  Bestimmung  angeführt  worden  \si,'-)  kann  hier  unerwähnt 
bleiben. 

Wohl  aber  mochten  wir  noch  darauf  i'erweisen,  dafe  nach  allen 
Anzeichen  und  unbeschadet  der  mit  dem  Klassengegensatz  gcgel)enen 
Moralverschiedenheit,  die  auf  der  Arbeitgebersdte  herrschende  Moral 
&  Nichterfiillung  der  durch  die  Arbeitgeberkoalition  übernommenen 
Pflichten  ebenso  mifebUIigt,  als  die  Arbdtermoral  den  Bruch  einer 
Arbeiterkoalition  verwirft*)  Gegenüber  dieser  Entschiedenheit  des 
Moralurteils  kann  man  nicht  umhin  von  einer  durch  die  Koalition 
begründeten  sittlichen? flicht  zu  koalitionsgemäfsem Verhalten 
sprechen.  Fehlt  es  doch  nicht  an  Beispielen,  dafe  sich  die  Genossen 
des  Pflicbtverletzers  nicht  darauf  beschränken,  ihn  der  Regung  seines 
Gewissens  zu  überlasseOp  die  ausgeblieben,  oder  anderen  stärkeren 
Regungen  unterlegen  ist,  sondern  dafs  sie  ihn  ihre  Mifsbilltgung 
fiihlen  lassen.*) 

Handelt  es  sich  nun  bei  Erfüllung  einer  Koalitionspflicht  um  die 
einer  sittlichen  Pflicht  entsprechende  Leistung,  so  kann  nach  EG.B. 
9  814  das  Greleistete  nicht  zurücl^efordert  werden  ')  und  es  gilt  auch 

■)  Nach  dem  Bericht  von  Loeiiing  in  Schriften  des  Vereins  für  äo2i«lpolitik 
Bd.  47t      272,  274. 

')  von  Loenin^  a.  a.  T».  S.  273,  von  S t  o  i  i>  b a (  Ii  ,  Die  Moral  ais  Schranke 
des  Rechtserwerbs  und  der  Rechtüauüubung  (  ibyS        49,  54.  53. 

')  ^  gl*  Lotroar,  Unmonüischer  Vertrag  (1S96)  S.  96  und  siehe  z.  8.  das 
Urteil  des  SchtfUimgerichu  toh  Zdidentck  in  Soziale  Piraxis  IX,  I49«'50,  wo  es  mit 
Beuf  auf  die  Kll^r,  abtrflanige  Arbeitgeber,  keifst:  „Bei  der  Strafnimessung  bt 
berflcksiditigt  worden,  dafs  dar  Vorwurf  vaehrenhaften  Handelns  sachlich  b^grftndet 
war,  iaaofem  die  Privatkllger  den  Vertrag  und  damit  ihr  Ehrenwort  gebrochen 
haben.  Hieran  ändert  natürlich  auch  der  ^  1 52  der  Gew.O.  nichts,  da  die  zivil- 
rechtHche  Zulässi^keit  eines  solchen  Vertragsbmchs  seine  moralische  Verwerflichkeit 
anberührt  lafst." 

*)  Wegcti  jener  stärkeren  Kcgung^n  die  ihrerseits  an  und  für  sich  moralisch 
lobenswert  sein  können,  s.  Jahresbericht  der  badischen  Fabrikinspektion  für  1896 
S.  12. 

^)  „Das  zum  Zwecke  der  Erfüllung  einer  Verbindlichkeit  Geleistete  kann  nicht 
arfldcgcfocdert  werden  . . .  wenn  die  Leistung  einer  sittlichen  Pflicht  . . .  entsprach.** 


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62  rhilipp  Lotmar. 

flicht  als  geschenkt.  Die  von  der  Gew.O.  152  statuierte  Uii^ulti«,'- 
keit  gewisser  Koalitionen  steht  demnach  dem  Aufkommen  einer 
sogenannten  natürlichen  Verbindlichkeit  aus  der  Koalition  nicht  im 
Wege :  diese  Annahme  steht  im  Einklang  mit  der  gesetzlichen  Ver- 
sagun<;  von  Kla^e  und  Einrede  aus  der  Koalition.  Das  Bestehen 
einer  Naturalobli^^ation  bleibt  aber  ohne  Einflufs  auf  die  Unwirksam- 
keit  einer  Konventionalstrafe,  die  zur  Sicherung  einer  Koalition  aus- 
gemacht worden  ist  Es  kommt  bekanntlich  nicht  selten  vor,  vorzüg- 
lich auf  der  Untemehmerseite,  dafs  die  Koalierten  (ur  den  Bruch 
der  Koalition  einander  Geldbufsen  versprechen.')  Ein  solches  Ver- 
sprechen ist  nach  B.G.B.  §  344  ungültig.*)  Hierin  stehen  Arbeit- 
geber und  Arbeitnehmer  gleich.  Ob  die  Leistung  der  Geldbufse 
nicht  ihrerseits  einer  selbständigen  sittlichen  Pflicht  entspricht» 
möchten  wir  nicht  entscheiden.*) 

Die  gesetzliche  Bestimmung  der  Ungültigkeit  einer  auf  den 
Bruch  der  Koalition  gesetzten  Konventionalstrafe  könnte  nur  da- 
durch umgangen  werden,  dafs  das  Geldversprechen  in  Wechsel- 
form gegeben,  und  dieser  Wechsel  zur  Vermeidung  der  Einrede  aus 
Wechselordnung  Art  82  an  einen  nicht  zur  Koalition  Gehörigen 
indossiert  wird.^)  Dagegen  die  Hinterlegung  von  Wertpapieren  als 
Kaution  (ur  die  Befolgung  von  Koalitionsbeschlüssen  würde  nicht 
gültig  sein,  die  Papiere  würden  jederzeit  vom  Besteller  der  Sicher» 
heit  zurückgefordert  werden  können,  denn  die  Abrede  der  Kautions- 
leistung bildet  einen  Teil  der  Koalitionsabrede,  welcher  nach  Gew.O. 
§  152  Abs.  2  eine  Einrede  nicht  entnommen  werden  kann. 

Die  Gewerbeordnung  begnügt  sich  nicht,  die  Koalitionen,  die 
sie  ablehnt,  zivilrechtlich  unhaltbar  zu  machen,  indem  sie  ihnen 
Klage  und  Einrede  versagt,  sie  macht  ihrer  Ablehnung  in  §  153 
auch  die  Mittel  des  Strafrechts  dienstbar.  Sie  stellt  nämlich  ge- 
wisse Handlungen,  die  jemanden  zur  Teilnahme  an  jenen  Koalitionen, 
zur  Erfüllung  seiner  Koalitionspflichten  und  zum  Verbleiben  in  der 
Koalition  bewegen  sollen,  unter  Strafen,  und  zwar  unter  Strafen, 

')  /.  H.  Cicwerb-  Kcrirht  I,  85.    II,  7S 

-)  ..Erkl.Tt  «las  (iesct/  das  Versprechen  einer  Lcistutij^  für  unwirksam,  so  ist 
auch  die  für  den  Kall  der  Nichterfüllung  des  Ver».prechens  gctrotVene  Vereinbarung 
einer  Strafe  UDwirk<;am,  selbst  wenn  die  Parteien  die  l  owirksamkeit  des  Versprechens 
gekannt  hnben.^    \  g'^.  Heine  in  Sosinle  Praxis  VI,  954—956. 

^)  Loewenfeld  in  diesem  Archiv  XIV,  477/S  hilt  dagegen  die  Festsetnnc> 
der  Konventionalstrafe  fär  salässig  und  ihre  Zahlung  nicht  für  Schenkung. 

*)  Vgl.  Legten,  Koalitionsrecht  S.  135,  133. 


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Die  Tarifverträge  zwischen  Arbeitgebern  unkl  Arbeitnehraera. 


63 


die  nicht  oder  nur  in  geringerem  Mafs  verhängt  würden,  wenn  jene 
Handlungen  nicht  im  Interesse  der  Koalition  —  ihres  Zustande- 
kommens, ihrer  Ausdehnung,  Vollziehung,  oder  Erhaltung  —  vor- 
genommen würden. 

Von  den  nach  Entzug  des  Rechtszwangs  übrig  bleibenden 
Mitteln,  jemanden  zum  Mitthun,  oder  Worthalten  zu  bringen,  bleibt 
nur  der  freundliche  Zuspruch  straffrei.  Selbst  die  oben  erwähnte 
Umgehung  des  §  152,  die  mit  Hilfe  des  Wechselrechts  erfolgt,  ver- 
langt sich,  als  Drohung  einen  Wechsel  zu  b^ben,  in  den  Schlingen 
des  §  153. 

Hat  die  Koalition  der  Gewerbeordnung  nach  §  152  nicht  die 
Festigkeit  eines  Rechtsbandes,  so  wird  sie  durch  §  153  auch  noch 
faktisch  gelockert  und  leicht  löslich  gemacht  Die  zivilrechtliche 
Reprobation  der  Koalition  durch  §  152  wird  vom  Strafrecht  der 
Gewerbeordnung  dadurch  unterstützt,  dafs  dieses  auch  den  Surrogaten 
des  Rechtszwanges  den  Weg  verlegt. 

Die  solchergestalt  von  ihrem  Spezialrecht  preisgegebenen  Koa- 
litionen finden  auch  beim  allgemeinen  Strafrecht  keine  tfilfe. 
Denn  wer  einen  anderen  durch  körperiichen  Zwang,  Drohung,  Ehr- 
verletzung oder  Verrufserklärung  an  der  Koalition  hindert  oder  von 
der  Erfüllung  einer  Koalitionspflicht  abhält,  wird  wegen  solcher 
Angriffe  auf  die  Koalition  nicht  bestraft.  Die  Koalition,  und  zwar 
hier  jede  Koalition,  ist  für  das  allgemeine  Strafrecht  kein  schutz- 
würdiges Rechtsgut 

Da  nun  die  Koalitionen  der  unter  Gew.O.  §  152  lallenden 
Arbeitgeber  und  Ari>eiter  nach  Zivilrecht  nicht  zu  Recht  bestehen 
und  vom  Strafrecht  nicht  beschirmt  werden,  so  ist  nicht  einzusehen, 
wie  nuin  jenen  Arbeitgebern  und  Arbeitern  ein  Koalitions  recht  zu- 
schreiben kann.  Und  doch  ist  unzählige  Male  von  einem  „gcsetz- 
Hell  gewährleisteten  Koalitionsrechte",  oder  von  „Mifsbrauch  des 
Koalitionsrechts"  zu  lesen,  als  ob  etwas  Nichtexistentes  mifsbraucht 
werden  könnte.  Giebt  es  kein  Koalitionsrecht  für  die  gedaclUen 
Personen,  so  kann  es  auch  keinen  „Angriff  auf  das  Koalitionsrecht", 
keine  „Zerstörung"  eines  solchen  geben.  Weder  die  Arbeiter,  die 
einander  oder  die  Arbeitgeber  an  der  Koalition  hindern,  noch  die 
Arhci^jeber,  die  einander  oder  die  Arbeiter  an  der  Koalition  hindern, 
begehen  mit  solcher  Hindcnmi;  (nach  positivem  Recht)  ein  Un- 
recht Die  gesetzliche  Koalitionsfreiheit  ist  nur  Unvcrbotenheit 
und  Straflosigkeit.  Die  Koalition  ist  frei,  nämlich  vogelfrei,  und  ein 
Koalitionsrecht  ist  erst  noch  zu  schaffen. 


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^  Fhilipp  Lotmar, 

V.  Verabredungen  und  Vereini^run^^cn  der  in  Gcw.O.  §  1  $2  ^c- 
nannten  Arbeitgeber  oder  Arbeiter  sind  nur  insoweit  ungültig,  als 
sie  die  Erlangung  günstiger  Lohn*  und  Arbeitsbedingungen  bezwecken. 
Soweit  sie  andere  Zwecke  verfolgen  und  damit  nicht  Koalitionen 
sind,  unterstehen  sie  dem  allgemeinen  Rechte  der  Geselbchaft: 
BXj3.  §§  705—740.  aCB.  §  705  bestimmt:  J>urch  den  Gesell- 
schaftsvertrag  v'erpflichten  sich  die  Gesellschafter  gegenseitig,  die 
ErreiGhung  eines  gemeinsamen  Zweckes  in  der  durch  den 
Vertrag  bestimmten  Weise  zu  fördern,  insbesondere  die  %'ereinbarten 
Beiträge  zu  leisten/'  Wenn  der  gemeinsame  Zweck  der  Koalitions- 
zweck ist,  so]  entsteht  keine  Verpflichtung  der  (unter  Gew.O. 
§152  fallenden)  Kontrahenten.  Ein  Gesellschaftsvertrag  kann  zu 
mehreren  gemeinsamen  Zwecken  eingegangen  werden.  Befinden 
sich  unter  denselben  neben  dem  Koalitionszweck  andere  Zwecke, 
wie  Krankenunterstützung,  Belehrung,  Subvention  einer  Fachzeitung, 
litterarische  Vertretung  der  zollpolitischen  Interessen  der  Mitglieder 
u.  s.  w.,  so  ist  der  Gesellschaftsvertrag  gültig.  Der  Koalitionszweck 
steht  dem  nicht  im  Wege,  er  wird  vielmehr  gewissermafsen  durch 
die  übrigen  gedeckt.  Indessen  sind  die  Beiträge  der  Mi^lieder, 
soweit  sie  dem  Koalitionszweck  dienen  und  als  für  diesen  Zweck 
bestimmt  erkennbar  sind,  nicht  einklagbar.  Das  gilt  sowohl 
von  Geldleistungen  als  von  anderen  Leistungen.  Ein  MittrUccl  eines 
Art)eitgebcr\  crbandes,  das  die  ihm  nach  dem  Gesellscliaftsvertrag 
obliegende  Pflicht,  seinen  Betrieb  eiii/.ustellen,  seine  Arbeiter  auszu> 
sperren,  sobald  bei  irgend  einem  Mitglied  ein  Stnke  ausbriciit.  nicht 
erfüllt,  würde  deswcfjeii  nicht  verklagt  werden  können.  Wenn  ein 
Mitglied  einer  Gewerkschaft  von  dieser  die  Reise-  oder  Kranken- 
unterstützung in  Anspruch  nimmt,  so  kann  ^^cl^cii  diese  Iurderung 
nicht  mit  einer  Forderung  des  Beitrat:-  /um  Strikcfonds  aufgerechnet 
werden,  da  die  letztere  Forderung  nicht  kla«;h.u  i^t.  iinnlich  mit 
einer  auf  den  Koalitions/weck  gegründeten  Einrede  behaftet  ist.*) 
•  Vau  \'crl>and  von  Arbeitgebern  oder  \  nn  \rbeitnehmern.  der 
es  nicht  auf  einmalige,  sondern  auf  bleilicnde  X'erfolgung  des  Koa» 
litionszweckes  abf^cschen  hat,  kann  als  \  en  in  bezeichnet  werden. 
Ein  \'ercin,  der  allein  den  Koalitionszweck  oder  auch  noch  andere 
nicht  auf  einen  wirtsch.iftli  hen  (icNchäft-Iici'  t  h  i^crichtetc  Zwecke 
verfolgt  —  z.  B.  der  Zentralverband  deutsclier  Industrieller,  oder 


*>  B.G.B.  §  390:  „Eioe  Fordenmg,  der  eiae  Eiorede  entgegensteht,  kmna  oidit 
att%erechaet  werden.** 


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Die  Tarifvertriige  zwischen  Arbeitgebern  und  Arbeitnehmern.  6$ 

der  deutsche  Buchdnicken-erband,  oder  die  Schreinergewerkschaft, 
oder  das  Gewerkschaftskartell  einer  Stadt  —  erlangt  Rechts- 
fähigkeit durch  Eintragung  in  das  Verdnsregtster  des  zuständigen 
Amtsgerichts:  §  21.  Es  braucht  kaum  gesagt  zu  werden, 

von  welcher  Bedeutung  fiir  den  Verein  der  Besitz  der  Rechtsfähig- 
keit ist:  er  kann  seinen  Koalitionszweck  nachdrücklicher,  leichter, 
geregelter  verfolgen,  namentlich  mittels  Abschlusses  von  Tarifver- 
trägen. „Auf  Vereine,  die  nicht  reclitsföhig  sinrl,  finden  die  Vor- 
schriften über  die  Gesellschaft  Anwcüdun;^."    (B.ri.B.  §  54.) 

Die  Eintragung,  von  der  der  Erwerb  der  Rechtsfähigkeit  be- 
dingt ist,  wird  damit  eingeleitet,  dals  der  Vorstand  den  Verein  zur 
Eintragung  anmeldet  Wird  die  Anmeldung,  weil  sie  ohne  formeile 
Mängel  ist,  zugelassen,  so  liat  sie  das  Amtsgericht  der  zuständigen 
Verwaltungsbehörde  niit/uteilen.  Aber  bei  tlieser  kann  die  Ein- 
tragung wegen  des  K o a Ii  t  i  > >  n  - z w e c k e s  scheitern.  Denn  nach 
B.G.B.  §  61  kann  die  Verwaliungsbehördc  ,.L;egen  die  Eintragung 
Einspruch  erheben,  wenn  der  Verein  nach  dem  öffentlichen  Ver- 
einsrecht unerlaubt  ist  oder  \erbotcn  werden  kann  oder  wenn  er 
einen  politischen,  sozialpolitischen  oder  religiösen  Zweck  verfolgt". 
Der  Sprai  h:4c!)raiirh  von  „sozialpolitisch"  steht  niohi  fest,  er 
ist  so  schwankend,  dals  leicht '  jemand  den  Koalitionszweck  für 
einen  SOZialpolitisciien  erklären  wird.  Eigentlich  ist  politisch  und 
daher  auch  sozial[)olitisch  nur  der  Zweck,  tl-  *  -n  einer  .Xcnderung 
der  Rechtsordnung  besteht.  Wer  günstige  Lolm-  und  .Arbritsbe- 
dingungen  erstrebt,  braucht  damit  —  u  ie  wir  früher  gesehen  haben 
—  nicht  auf  eine  Aenderung  der  Rechtsordnung  bedacht  zu  sein, 
es  kann  ihm  auch  nur  um  einen  Vertrag  zu  thun  sein. 

Den  Einspruch  zu  erheben,  oder  nicht  zu  erheben,  steht  im 
Ermessen  der  zuständigen  Verwaltungsbehörde.  Sie  kann  daher, 
wenn  ein  Verein  mit  Koalition-:/ weck  sich  zur  Eintragung  anmeldet, 
unterscheiden,  ob  es  ein  Arbeitgeber-  oder  ein  .•\rbeiter\'crein  ist. 
Bei  solch  difterenticller  Be'iandlung  würde  die  N'erwaltun^^sbehorde 
insofern  im  (ieiste  der  Gesetzgebung  handeln,  als  diese  sich  der 
beruflichen  L'nternehmerorganisationen  mit  grölsier  Hingebung  und 
Sorgfalt  anninmit,  während  man  von  ihrem  Verhältnis  zu  den 
beruflichen  Arbeiterorganisationen  das  (iegentcil  sagen  kann.  Es 
braucht  hier  nur,  aulser  an  Handels-  und  ( iewerbekanimern,  erinnert 
zu  werden  an  die  freien  Innungen,  die  Zwangsinnungen,  die  Innungs- 
ausschüsse, die  Hafidwcrkskanuiicrn  und  die  lnnungs\  erbände  (( iew.O. 
Tit.  \'I),  die  alle  entweder  mit  juristischer  Persönlichkeit  ohne  weiteres 

Archiv  für  %tji.  GeseUgebuag  u  St»ti>tik.    XN  ,  5 


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66 


rhilipp  Lotmar, 


versehen  sind  oder  sie  vom  Bundesrat  erlaiij^cn  können.*)  Da  die 
Innungen  nach  Gew.O.  §  8i  b  befu^'t  sind,  ihre  Wirksamkeit  über 
die  ihnen  durch  §  8ia  gestellte  Aufgabe  hinaus  ,^uf  andere  den 

Ini)uii;^mitglicdern  gemeinsame  L^ewerbliche  Interessen  auszudehnen*', 
so  können  sie  auch  auf  die  hrkiti^^uni:  ;^ninsti<^'er  Lohn-  und  Arbeits* 
l)C(Hngungen  bctiacht  sein  d.  h.  den  Ko.ilitionszweck  verfolgen, 
Koalitionen  \-on  Ailicii^tl)ern  sein.  Als  solche  sehen  wir  sie  denn 
auch  vielfach  bei  Abx  liluis  von  Tarifverträgen  licrvortrctcn.  — 

Im  Interesse  des  T  1 1  i  fvcrtrags,  dem  sie  die  '^röüten  Dienste 
leisten,  ist  im  Vorsteliemicii  da>  X'eihältiiis  der  Koalitionen  zum 
Privatrecht  erörtert  und  dabei  geflissentlich  ab^'e>elu'n  wordeti  \on 
ihren  oft  behatuleUen  He/.iehunj^fcn  ZU  den  partikulären  ölTentlichen 
V^ereins-  und  Versammlungsrechten  wie  zu  der  Praxis  der  Ver- 
waltuuL^en.-)  Da  ganz  gewöhnlich,  wiewohl  fälschhch,  die  Straf- 
losigkeit der  Koalition  oder  gar  die  reirhsrechtliche  Straflosigkeit 
der  Arlx  iterausstände  mit  Koalitionsrcclit  identifiziert  wird,  so  schien 
es  nützlich,  der  geltenden  Kr»  hts  i  dming  an  der  Hand  der  Reichs- 
gesetze nachzugehen.  Dies(  Ki '  htsordnung  besteht  für  die  durch 
Gew.O.  §  152  betroffenen  KuaHtionen  in  gesetzlicher  Hemmung 
und  .\l)lchnnn'^^  Daher  werden  diese  Koalitionen  zusammengehalten 
nur  durcli  den  Gewissenszwang,  der  in  den  I{inzehien  wirkt,  und 
durch  den  Zwang  des  unpositiven  Rechts,  den  die  Koaherten  i^e^j^en« 
einander  üben,  wobei  wir  absehen  von  der  Unterkunft,  die  der 
Koalitionszweck  in  auch  zu  anderen  Zwecken  gegründeten  Gesell- 
Schäften  und  Vereinen  finden  mag. 

Der  niorahsche  Zwang  ist  /war  so  stark,  aber  nicht  so  zuver- 
Inssjfr,  wie  iler  Rechtszwani^,  und  die  straflosen  Mittel  des  unpositiven 
Rechts  sind  sehr  spärlich,  indem  schon  das  nächstlicj^'ende  und 
br uichbarste,  die  Drohung,  verpönt  isl.  Da  andererseits  die 
Hinderung  der  Koalition,  wenn  sie  nur  das  all^a'mcine  Strafgesetz 
respektiert,  sich  völli«;  frei  entfalten  darf,  so  ist  das  anhaltende  Da- 
sein der  faktischen  Koalitionen  nur  erklärlich  aus  einem  starken, 
durch  die  gegenwärtige  Arbeitsverfassung  begründeten  und  genälirten 

Gew.O.  §§  86,  looc,  101  Abs.  3,  1030  Abs.  i,  104g.  Im  obigen  Text 
durfte  daToa  «bgeseheo  werden,  dafs  den  Innungen  auch  gewisse  Arbeitnduner,  wie 
im  Gfofsbetrieb  beschxftigte  Werluneister,  angehören  können.  Die  bei  den  Innonga* 
mitgUedem  bescbüftigten  Gesellen  können  swar  nicht  InniingtmitgUeder  sein,  nehmen 
aber  nachGeu  o  95  an  der  Erfüllung  der  Aufgaben  der  Innung  and  ao  ihrer  Ver^ 
waltung  Teü.  sdweit  dies  durch  Gesetz,  oder  Statut  bestiinint  ist. 
^)  S.  z.  B.  Loewenfeld  in  diesem  Archiv  XIV,  482  ff. 


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Die  Tarifvertiige  swiscben  Arbeitgebern  and  Arbeitnebmenu 


67 


wirtschaftlichen  Bedürfnis.  Nur  eine  aus  den  Tiefen  unserer  politi« 
sehen  Ockonomie  hervorgehende  Triebkraft  vermag  die  legislative 
Vernachlässigung  und  die  administrative  Behinderung  zu  übermannen. 
Es  ist  daher  keine  gewagte  X'^crmutung,  dafs  die  Anerkennung, 
Regelung  und  Beschirmung  aller  Koalitionen  durch  das  positive 
Privat-  und  Strafrecht  ihre  Häufigkeit,  ihre  Haltbarkeit  und  ihre 
Wirksamkeit  sehr  vergröfsern  würde;  dies  mülste  folgeweise  den 
noch  andere  Zwecke  als  den  Koalitionszweck  verfolgenden  Arbeiter- 
vereinen zugute  kommen  unfl  müfste  endlich  der  Koalitionsthätig- 
keit  den  vornehmen  Charakter  der  Ausübung  tinrs  Rechts  ver- 
leihen, während  sie  sich  nun  als  unsträfliches  Unrecht  betrachten 
lassen  mufs. 

Vergegenwärtigt  man  sich  zum  Abschlufs  dieser  Erörterung  noch 
einmal  die  vielen  und  ungemein  innigen  Beziehungen,  die  zwischen 
Koalition  und  Tarifvertr^  obwalten  —  oben  S.  54 — 57  —  so  mufs 
man  einsehen,  daCs  das  ganze  Tarifvertragswesen,  nämlich  Hie  Leichtig- 
keit der  Abschlüsse,  der  personliche  Umiang  der  Geltung  und  die 
Dauerhaftigkeit  der  Tarift^erträge,  durch  jene  rechtliche  Anerkennung 
Regelung  und  Beschirmung  aller  Koalitionen  eine  noch  nicht  abschätz- 
bare Förderung  erfahren  würden.*) 

Man  denkt  häufig,  wenn  man  von  den  Koalitionen  spricht,  zu- 
erst an  die  Zwangsmittel,  die  die  Koalierten  wider  einander,  wider 
die  sich  Ausscbliefsenden  und  wider  die  Angehörigen  der  Gegen- 
partei anwenden:  allein  diese  Mittel  zum  Zweck,  die  nicht  den 
Zweck  bilden,  müssen  um  so  wirksamer  sein,  und  es  braucht 
darum,  indem  sie  als  wirksamere  bereit  stehen,  ihre  Anwendung  um 
so  seltener  realisiert  zu  werden,  je  fester  und  umfassender  die  Koa- 
litionen, und  je  geebneter  und  sicherer  damit  die  Wege  sind,  auf 
denen  die  koalierten  Parteien  in  ein  Vertragsverhältnis  zu  einander 
gelangen  können. 


^)  Vgl.  Zabn,  Schriften  des  Vereins  ftr  Sosblpolitik  45,  3ftl:  ,«Die  Vonos- 
letgung  ttr  eine  alle  Intereisen  berQdciichtigeBde  Ordanng  des  Bochdruckgewerbes 
ist,  dafs  beide  Interesienten  gldehmäTsig  organittert  sind  und,  am  auf  der  ßerflck- 

sichfigung  ihrer  Interessen  Seiten«!  der  Gegenpartei  bestehen  zu  können,  der  ver- 

eintfn  Aktinn  ihrer  Genossen  sicher  sind."  SipIic  auch  Soziale  Praxis  VIIT,  947- 
„F.in  derart  ige--  ^;e(lt-ihlichcs  Zusammenwirken  v-u  Arbeitgebern  und  Arbeitern  ist 
nur  muglich,  wenn  beide  sich  einer  guten  Urgaui!»alion  erfreuen."  M.  v.  Schuir 
ebenda  Sp.  1325  al.  2. 

5* 


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68 


Philipp  Lotmar. 


\1T.  Vertrctunj^. 

I.  Die  X'orlrclun.'  i-!,  \\  ii"  <lic  KoalitiDii  und  div  \'c! niittlutv_j, 
ein  I  lUf'^mitlcl  zur  AI  »M  lili(\r.uiiL;  vom  I  .iril\ crlrä^cii,  ii  'lcin  sie  einige 
von  <ii'ii  früher  hclr.u  liiclcii  S<-hwirri^^kciten  djcscr  Ab^>chliel6uu«; 
vcrniiiithTt  otlcr  aii>  tlrm  \\*c<^'e  räumt. 

\\'ar>  tl.is  \'crh.ihiu>  der  X'eilret uiiu;  zur  Koalition  anlangt. 
So  gilt  \on  beiden,  dals  >ie  I'.r;>cheinun^'i-n  nder  Teile  der  Or;^ani- 
sation  sind.  Die  .Vrheitj^eber  wie  die  Arlieiter  j^ellen  als  organisiert, 
wenn  sie  koalieit  ^ind,  ovler  wenn  sie  eine  X'ertretuni;  halben. 
Die  Ko.ililion  ihrerseits  luhrt  re^^ehnäKi-  zur  \\  rtretun^.  indem 
zwar  flieht  der  Koalitionszweck  eini'  X'erlretun^^  erhei:-eht.  aber 
manche  Ki  »alitiniislhätiirkeit  nielit  (»hne  X  ertretmiLJ  \  or-/enoninie[i 
werden  katni.  hl  der  Re^el  I)ildet  liie  Koalition  aueh  die  (Tru!.d- 
l.i-e  der  W  i tret lln'^^  Der  Koalitif»n  bedart  e,«>  stets  wo  die  eine 
kroutraliierende  Partei  aus  einer  .\Kluiieit  \'>n  Personen  besteht, 
und  die  Koalition  ist  bei  der  Partei  anN-r,.^oIdossen,  die  nur  aus 
einet  Per>on  besteht.  DaL^^ei^en  die  Xettretini;^^  kann  auch  im 
letzteren  l'.ill  Platz  -^Meilen,  h»  im  eii;en  .Xrbeit^ebei-.  L'nd  ilie 
Vertretunj^  wird  noeh  nicht  lia« Kirch  et  t» >rderlich.  dals  eine  Partei 
aus  einer  Mehrheit  liesteht:  die  Mehreren  können  auch  ei;,  jeder 
in  Person  handeln.  Ks  kann  z.  B.  eine  Arbeiterkoalition  ihre  Tarif- 
vcrtraj^sproposition  jedem  fijr  sie  inbetracht  kommenden  Arbeili;eber 
einzeln  machen  (S.  31  Anm.),  und  die  Proposition  kann  von  jedem 
Arbeitgeber  in  Person  angenommen  oder  ab;^elehnt  werden :  hier 
findet  auf  der  Arbcitgcberseite  trotz  der  Mehrheit  keine  Vertre- 
tung statt.  Ebenso  kann  eine  Mehrheit  koaUerter  Arbeiter  ihre 
Vertra^^iu  oposition  in  einem  von  allen  ausgehenden  und  unterzeich- 
neten Schreiben  ihrem  Arbeitgeber  zustellen:  auch  hier  findet  trotz 
der  Mehrheit  auf  der  Arbeiterseite  keine  Vertretung  statt.  Wenn 
hingegen  eine  Arbeiterversammlung  sich  auf  einen  Tarifvorschlag 
einigt  und  beschliefst,  denselben  den  Arbeitgebern  einzeln  zu 
machen  als  einen  von  der  Koalition  ausgehenden,  den  die  Arbeit* 
nehmer  jedes  Betriebes  ihrem  Arbeitgeber  zu  unterbreiten  haben, 
so  findet  insofern  Vertretung  statt,  als  jede  Arbeitnelimergruppe 
die  ganze  Koalition  d.  h.  alle  ihre  Mitglieder  vertritt. 

Was  das  Verhältnis  der  Vertretung  zur  Vermittlung  be- 
trifft, so  gilt  von  beiden  im  allgemeinen,  dafs  sie  Cakultativ  sind; 
d.  h.  der  Abschluß  eines  Tarifvertrags  kann  ohne  Vermittlung 
und  kann  ohne  Vertretung  stattfinden.   Kur  wenn  die  Vermittlung 


Die  Tarifverträge  /wischen  Arbeitgebern  und  Arbeitnehmern. 


69 


durch  das  Gewerbegericht  als  Einigungsamt  erfolgen  soll,  ist  eine 
Vertretung  der  (stets  vorhandenen  Mehrheit  der)  Arbeitnehmer 
unerlälslich,  und  eine  Vertretung  der  Arfoei^eber  dann  geboten,  wenn 
deren  Zahl  mehr  als  drei  betr^igt  (oben  S.  45).  Die  Vermittlung 
femer  ist  nur  von  faktischer  Bedeutung,  indem  sie,  selber  neutral, 
<brauf  beschränkt  ist,  die  zwei  Parteien  einander  nahe  und  zur 
Einigung  zu  bringen;  der  Vermittler  kontrahiert  nicht  Die  Ver- 
tretung hingegen  ist  auch  von  rechtlicher  Bedeutung,  indem  der 
Vertreter  nicht  neutral  ist,  sondern  einer  Partei  angehört,  selber 
kontrahiert. 

n.  Die  Vertretung  ist  entweder  eine  stehende,  oder  eine  ad  hoc 
ins  Leben  gerufene  Einrichtung;  ersteres  ist  dann  der  Fall,  wenn 
der  Vertreter  nicht  erst  för  diesen  vorhabenden  Tarifvertrag,  sondern 
überhaupt  för  den  Abschlufs  von  Tarifverträgen  da  ist  Es  kann 
z.  B.  eine  Koalition,  oder  Gewerkschaft,  ein  Verband,  oder  Verein, 
mit  einem  Vorstand,  einer  Agitationskommission,  einem  Tarifaus- 
schufs  u.  dergl.  versehen  sein,  die  jede  Koalitionsthätigkeit  und 
etwa  auch  noch  andere  gemeinsame  Angelegenheiten  zu  besorgen 
und  die  Koalition  bei  Eingehung  eines  Tarifvertrages  ohne  weiteres 
zu  vertreten  hat')  Ks  kann  aber  auch  im  gegebenen  Fall  för  einen 
nun  abzuschliefsenden  solchen  Vertrag  eigens  eine  Vertretung  be* 
stellt  werden.^  Ob  der  Vertreter  ständig  ist,  oder  nicht,  ist  ohne 
Einflufs  auf  den  Bestand  des  durch  ihn  geschlossenen  Tarifvertrags. 
Auch  die  hinterher  erfolgende  Auflösung  der  ständigen  Vertretung 
(z.  B.  der  Innung),  die  ihn  geschlossen  hat,  tastet  seinen  Bestand 
nicht  an. 

Die  Vertretung  kann  beruhen  entweder  auf  der  Aktion  allein 
des  einen  Kontrahenten  des  Tarifvertrags,  also  auf  einseitiger 
Bestimmung:  so  schaffen  sich  gewöhnlich  die  Koalitionen  eine  Ver- 

')  Der  nTariCiusflchiifs  der  deatichcn  Bachdrocker"  ist  nach  %  4I  dei  Boch- 

^rsckertarifs  ein  ständiges  „Organ  zur  Fettietzung  des  Twifs"  und  seine  Thätigkeit 

erstreckt  sich  nach  J;  43  (  vgl.  §  49)  n. «.  „auf  die  Beratung  und  Fcstsetzunfj  des 
Tarif«".  Der  Tarifvertrag  für  dns  Maurergewrrbc  in  Berlin  vom  24.  Juni  iSf>o  sirht 
die  Bildung  einer  stäiidi^'i»  Komniis>iion  aus  9  Arheitgehen«  und  9  Arbeitnehmern 
vor.  welche  .. Acht/ehnerkommis-.ii>n"  j;ihrlich  im  Herbst  zusamraenzutretcn  und  ^dic 
Arbeits-  und  Lohnvcrhaltnisse  für  die  Bauperiode  des  nächi>ten  Jahres  fcsUuseUen" 
bat.  Eine  ständige  Vertretung  ist  auch  die  looung.  Wenn  sie  nicht  ila  solcli«  eim 
Gewerbe  betreibt  und  Ar  dieses  kontrahiert,  ist  die  Innung,  die  einen  Tuifvertrag 
schliefst,  nur  Vertreterin  ihrer  Mitglieder  (der  Arbeitgeber). 
*)  Meistens  „Lohnkonmission"  genannt. 


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1 

I 

I 

•jO  Philipp  Lotmar, 

tretung.  Oder  die  Vertretung  ist  eine  auf  der  Vereinbarung 
der  Kontrahenten  beruhende  Einrichtung,  indem  die  Kontrahenten 
übereingekommen  sind,  dals  einer-  oder  beiderseits  eine  Vertretung 
statt  finden,  wie  sie  beschaflen  sein  und  wie  sie  zustande  kommen 
solle.  Eine  solche  Uebereinkunft  kann  die  Tarifvertragsverhand- 
tung  eröffnen,  oder  sie  kann  einen  Bestandteil  des  geschlossenen 
Tariivertrags  bilden,  indem  sie  letzterenfallü  für  die  Eventualität 
sorgt,  da(s  neue  V^crhandlunji^cn  erforderlich  werden.  \'on  dieser 
letzteren  Art  sind  z.  H.  <lic  Bestimmungen  des  deutschen  Buch» 
druckertarifs  vom  i.  Juli  1896  über  den  „Tarif-.\us>cluifs  der 
deutschen  Buchdrucker".'  der  eine  Wrtretun^^  der  Prinzipale  und 
eine  Vertretun;^  der  Gehilfen  darstelU  als  der  Kontrahenten  des 
Tarifvertrags.  Diese  durch  den  Tarifvertrag^  seihst  ^ere-^^elten  Ver- 
tretungen seiner  Kontrahenten  haben  die  Auffalle  der  Beratung 
und  Festsetzung  tles  Tarifs,  eine  Aufgabe,  di(  d.idurch  gestellt  wird, 
dafs  ein  Antrag  auf  Aenderung  des  bestehenden  Vertrags  einkommt, 
wodurch  eine  neue  VertragsvcrhandhuiL:  angeregt  wird.-) 

Die  einseitig  bestimmte  und  die  \ereinbarte  Vertretung 
unterscheiden  sich  hauptsächlich  dadurch,  dafs  die  erstere,  wenn 
sie  in  Funktion  tritt,  möglicherweise  von  der  Gegenjwrtci  als  Ver- 
tretung nicht  anerkannt  wird,  was  die  Abschliefsung  des  Wrtrags 
verhindert,-')  während  bei  der  vereinbarten  Vertretung  die  Anfech- 
tung der  Legitimation  sich  nur  auf  die  Nichteinhaltung  der  Regeln  « 
gründen  könnte,  die  man  über  die  Vertretung,  z.  B.  über  die  Art 
ihrer  Bestellung  vereinbart  hat. 

Gesetzlich  bestimmte  Vertretung  für  den  Abschluls  von 


')  Deutscher  Buchdruckertarif  §§  40 — ^43,  49 — 53. 
Siehe  auch  oben  .S.  21  Anm.  2. 

')  Oben  S.  40.  In  Petitionen  an  das  fireufsischc  Abijenr  hictenhaus  und  an 
den  deutschen  Reichstag  vom  2S  Mhrr  iSuj  mai  lUfn  6000  kuhrl)i'r;^lt»ut'*  <:;'*Itend. 
eine  Eingabe  des  Vorstandes  des  Cn'werkvcrein-.  christlicht-r  l5.  rgarhci''T  im  '  'Ijer- 
bcrgamtsbczirk  Dortmund,  welche  eine  Lohnerhöhung  betraf,  sei  von»  \'i'rstan(i  des 
bergbauUchea  Vereins  im  Ruhrrevier  zurückgewiesen  worden  „mit  der  Begründung, 
d«ft  der  Geweikverein  als  «rnichtigt  siir  Erörlenuig  der  Lohofnige  nicht  «agefehea 
werden  känne".  i,Wie  in  diesem  Falle  der  Gewerkverein,  so  ist  in  den  Jahren 
1890—94  mehrfach  der  Vorstand  des  deutsehen  Beig*  und  Htttienarheitenrerbandes 
in  der  gleichen  Weise  als  aicfatbereciitigter  Vertreter  von  den  Arbeitgebern  turäck- 
gewiesen  worden."  I>aher  wird  „die  gesetzliche  Anerkennung  der  Vertrauensleute 
der  Arbeiter  als  zu  Unterhandlungen  mit  den  Arbeitgebern  In  rechtigte  Vertretungen" 
gefordert.   Gluckauf,  Deutsche  Bergarbeiterzeitung  15.  Mai  1897. 


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Die  TarifvertrSKe  swiscben  Arbeitgebern  und  Arbettnebmem. 


Tarifvcrträ^^-n  giebt  «.>  üirht.  Die  von  der  Gcw.Ö.  134  Ii  als 
„ständige  Arbcitcraussciiussc"  anerkannten  Vertrctuii^'on  der  Arbeit- 
nehmer sind  vom  Gesetz  nicht  mit  der  Abschüclsutii^f  von  Tarifver- 
träj^en,  sondern  mit  viel  }i;erin^eren  Aufjjaben  betraut  wiidtii: 
Gew.O.  §  134  b  Abs.  3  Satz  2,  I34d  Abs.  2.  Was  das  t  towcrbe- 
j^erichtsgesetz  §  62  über  Zahl  und  Qualifikation  der  X'ertreter  be- 
stimmt, bezieht  sich  nicht  auf  jede  KinjTehuii;4  eines  l  arifvertraii^s. 
sondern  nur  auf  vuiter  Vermittlunj;^  des  ( icwerbej^erichts  als  Knii- 
gunjjsamtes  erfolgende.  Wenn  das  Gesetz  die  Formen  für  d  i  e  e 
Art  der  Eingehung  regelt,  so  mag  es  dabei  auch  bestimmen,  wie 
viele,  wie  wenige  und  welcherlei  Vertreter  das  Kirngungsamt  zu- 
lassen soll  oder  kann.  Wenn  es  aber  bestimmt:  „Ob  die  V^ertreter 
für  genügend  legitimiert  zu  erachten  sind,  entscheidet  das 
Einigungsamt  nach  freiem  Ermes>,en,"  so  kann  dies,  wo  es  sich  um 
Abschlufs  eines  Tarifvertrags  handelt,  mehr  nicht  heilsen  als;  das 
Kinigungsamt  entscheuiel  narh  freiem  F.rmes.>en,  ob  es  selber  die 
Vertreter  für  genügend  legitimiert  erachte.  Dagegen  kann  das 
Dasein  der  Legitimation  \om  Einigungsamt  nicht  in  verbind- 
licher Weise  bejaht  werden.  Der  Konlraiient,  der  die  Legitima- 
tion der  X'crtreter  des  Gegners  bestreitet,  kann  trotz  ihrer  „ent- 
scheidenden" Bejahung  durch  das  Linignngsamt  von  der  h.in- 
lassung  mit  dem  in  seinen  .Augen  nicht  iei^^itimierten  Vertreter 
abstehen  und  so  die  X'erhandlung  vor  dein  auch  \on  ihm  selbst 
angerufenen  Einigung>amt  vereitehi.  Lär>l  er  sich  auf  die  Verhand- 
lung ein  und  kommt  die  Einigung  zustande,  so  kann  er  diese  nicht 
wegen  Mangels  der  Legitimation  der  Vertreler  anfechten.  Anderer- 
seits hat  das  Entscheidungsrecht  des  Einigungsamtes  die  Bedeutung, 
dafs  dieses  seine  amtliche  Thätigkeit  versagen  kann  und  mufs,  wenn 
es  die  Vertreter  nicht  für  genügend  legitimiert  erachtet,  also  die 
Legitimation  verneint,  selbst  wenn  die  davon  betroffenen  Ver- 
treter vom  Gegner  als  legitimiert  anerkannt  werden. 

ni.  Die  Legitimation  der  Vertreter  ist  der  Besitz  der  Vertreter» 
eigenschaft.  Der  Vertreter  kann  entweder  nur  diese  besitzen  d.  h. 
nur  als  Vertreter  an  der  Vertragschlielsung  Teil  nehmen,  oder  er 
besitzt  au&er  der  Vertreterqualitat  auch  noch  die  des  Selbstkontra- 
henten d.  h.  er  gehört  dem  Kreis  der  Arbeitgeber  oder  der  Arbeit- 
nehmer an,  die  von  der  Rechtswirkung  des  zu  schtiefsenden  Tarif- 
vertrags betroflen  werden.  Den  Besitzer  dieser  letzteren  Eigenschaft 
nennt  das  Gewerfoegerichtsgesetz  62)  „Beteiligten"  und  es  be- 
stimmt, dafs  als  Vertreter  nur  Beteiligte  bestellt  werden  können. 


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Philipp  Lotmar, 


Man  darf  \  orauN>t  t/t  ri.  Jais  v<tl(  lu:  ,,Beleili-U-"  als  unmittelbar  am 
Aii^ranj  <k  r  Wi  liaiulliiiiL:  iiUt  rrv^irrt.  ilifsrll>r  mit  di  !ii  <jrol"steni 
hifcr  tuhrt-n,  und  auch  nicht  im  L  cbercifcr  das  /u  fr/iclciidc  Kin- 
vcrnchmen  k  icht  preislichen  werden. '  i  Khenso  Iäl>t  sich  ataichmen, 
dals  sie  als  Arbeitnehmer,  oiler  ArlHitj^'ilicr  <o  \icl  Ke:ntnis  des 
Betriebes  uiul  der  Braut  lie  erwürben  haben,  um  die  Beiieutun^  der 
in  den  1  arif\ ertra.'  aul/unehrnenden  Lcjhn-  und  Arbeitsbedin./un>'en, 
wurdi;,'en  zu  können,  suwolil  an  sich  als  in  ilircm  VerhtUtnis  im 
einander. 

Allein  andererseits  kann  der  „beteiligte"  X'ertrcler,  jedenfalls 
der.  der  Arbeitnehmer  ist,  in  foli;enden  Hinsichten  un7.ulän;4lich  sein.') 

bachmann  i>t  t'r  als  Arbeiter,  nicht  al>  l  nterhändler;  <las  zu 
einem  solchen  ert«  u  dt  rliche  deschit  k  besitzt  er  nur  /ulallit^,  und 
schwerlich  in  ilem  Malsr  wie  ein  l)erulsmalsij_;cr  \'erlrcter,  der 
dieses  (icschick  bei  m.uiclici  X'crhandluiiL;  erwoil)en  und  erj^robl 
hat.  Die  Bedeutun;^  dit  si  i  ( i.ibe  und  b.rtahrun^'  wird  man  n<ich 
mehr  wurdi^^en,  wenn  man  su  ii  den  .Arbeitnehmer  in  X'erliandlunL^ 
mit  dem  Arbeitgeber  denkt.  Denn  diese  strhen  einander  nicht  blols 
als  Parteien  eines  zu  >chlielsenden  Kontrakts  i;e',^'enübcr,  sondern 
.*-;nd  auch  durch  eine  Kluft  getrennt,  nuUin  BiKlun^s^'an}^  und 
W « ihüiabenheit  dem  Arbeitgeber  inrlit  seilen  ein  L  ebergewichl  an 
Form^ewandtheit  und  .Ansehen  verleihen. 

hitic  zweite  Quelle  der  relativen  Schwäche  eines  Vertreters, 
der  als  Arbeitnehmer  bet(  ilit^l  ist,  ist  die  hiermit  leicht  v  erlrnndene 
Abhän<;iLikcit  vom  Gei^enkontrahenlen.  Der  .Arbeitnehmer,  ma«^  er 
noch  im  Arbeitsverhältnis  stehen  otler  wieder  in  ein  solches  zum 
(.lej^enkoiUi  ahenten  oder  dessen  (icnossen  treten  sollen,  tnuls 
fürchten  für  den  Wirteil  l)iifsen  zu  miissen,  den  er  bei  der  V^er- 
haiulluni^r  gewonnen  hat.  Selbst  wenn  eigentliche  „Malsregelung" 
unterbleibt,  und  der  Wrtreter  ohne  weiteres  oder  gemäfs  einer 
\'erlraL:sklau>el  toben  S.  22)  seinen  .Arbeitnehmerposien  behält 
oder  wiedererhält,  fehlt  es  dem  Arbeitgeber  nicht  an  Mitteln  und 
Cielegenheiten,  den  .Arbeitnehmer  den  hrfolg  entgelten  zu  lassen, 
den  dieser  als  X'ertretcr  über  seinen  <  ie<^nri-  c ;  rnngen  li.ii. 

In  dritter  Hinsicht  i.st  zu  sagen,  dals  es  nicht  weinge  Betriebe 


'1  Siclu'  it  ili  ch  (icwerbegeritht  III,  I32  S  und  iie  bti  \V  e  i  ge r  t ,  Arbcits- 
Diii  hwrisc  S.  13  angeführte  bteile  aus  einem  Jahresbericht  des  tabrikinspektors  für 
VTittTlraiiken. 

•)  z.  B.  Gewerbegericht  II,  77. 


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Die  TarifVertrSge  zwischen  Arbeitgebern  und  Arbeitnehmern. 


73 


und  Branchen  giebt  von  solcher  Koniplizierihtit  der  l'roduktion, 
dais  der  nur  mit  einem  Teilprozefs  vertraute  Arbeiter  aulser  Stande 
ist,  das  Ganze  zu  übersehen,  namentlich  nicht  alle  die  Faktoren 
und  diese  flink  in  Rechnung;  zu  bringen  vermag,  die  für  die  Ge- 
staltung eines  weitverzweigten  Akkordlohntarifes  malsgebend  sind. 
Auf  diesen  Umstand  und  auf  den  cr>tangeführteii  i^nindet  sich  die 
von  den  britischen  ( iewerkvereinen  gemachte  Kriahrung,  dals  der 
Vertreter,  der  als  Vertreter  Dilettant  ist.  die  hiteressen  seiner  Partei 
weitaus  nicht  so  gut  wahrzuneliincD  vcimag,  als  ein  bcrufsmäfsiger 
Vertreter.')  l'^in  solrhcr  ist  vermöge  seines  im  X'ertreterberuf  er- 
worbenen <lijtlomatischcn  Geschicks  und  ^ei^er  umfassenden  Kenntnis 
aller  maisgebendcn  Thatsachen  den  ihm  gegenülu  rstehenden  Hetriebs- 
leitern  gewa<  hsen.  Manclu-  englische  Gewerkvcrcine  haben  es  mit 
dem  KrfcnU Ulis  vollkommenei  \'orbereitung  auf  die  schwicriLic  Auf- 
gäbe  eine->  X'erlreters  von  Arbeitern  bei  Kingehung  \  <>n  I  arit\  erträgeri 
so  ertist  genonunen,  dals  sjt^  sich  nicht  auf  die  behebi''e  IVaxis  im 
Hetriei)  und  in  der  l-'uhrung  \ on  rnterhandlungen  verlassen,  sondern 
die  \'urbereiiung>\\  ege  vorschreiben  und  tlen  Besitz  der  X'^ertrcter- 
qualifikation  durch  ein  formliclie^  Examen  nachweisen  las>en.  Das 
Buch  des  Ehepaares  W'ebb  giebt  hierviljer  sehr  interessante  Auf- 
schlüsse."") Hin  solches  Witahren  entsj)richt  dem  laiisi  xon  farif- 
vertragsverhandlungen  und  der  Befleutung,  die  einem  W(»hluber- 
legten  Tarifvertrag  zukommt.  i-.iiu  deiartige  Behandlung  dieser 
Angelegenheit  gewährt  aueli  einige  Sicherheit,  dals  von  der  Ver- 
tragschlieisung  unsachliche  Eintlu>se  auf  beiden  Seiteti  lerngchalien 
Wtulen.  .Sie  scheint  jedoch  imr  unter  der  \'oran-set/ung  nuiglirh 
zu  sein,  dafs  die  Arbeitgeber  auf  die  ( ieliendmacluing  solcher  Kin- 
fiü.-se  \erzichten  und  den  Standpunkt  verlassen  haben,  der  oben 
S.  3^>^39  besjirochen  worden  ist.  Hin  wohlgeordnete^  Wi  tretungs- 
wesen  kann  >ich  aber  auch  nur  auf  der  (irundlage  starker,  d.  h. 
begüterter,  haltbarer  und  umf.rssender  Koalitionen  bilden,  und  lU  reii 
Stärke  ist  an  ihre  rechtliche  .Anerkennung  geknüpft.  Wie  viel  auf 
die  Koalitionen   als  Grundlage   der  Vertretung  ^^S.  68}  ankommt, 

')  „Bcsondeis  in  den  Gewerben,  in  denen  Stücklohn  vorhemcht,  bat  der  Ammteur- 
anterhündler  aufs  Klarste  seine  Unfahijikcit  bewic-^en-  -.  Wt  t>h,  Tlieoric  und  Praxis 
der  englischen  Gewerkvereine  I,  i6l,  ,ln  i'.cr  H  u.]  ■•>acl»c  hatten  die  (jrwerhe,  in 
denen  Stuckarl)eit  herrscht,  notj^nlrungen  die  Wiclittgkeit  crkiiimt.  uhcr  die  Uieu^te 
besoldeter  Benifssa.  hvrrst;indi|icr  bei  den  Verhandlungen  über  kompluicrtc  Preis- 
listen Verfugen  zu  kiitiiien"    .1.  a.  O   S.  1S2. 

*)  Theorie  und  Praxis  der  engl.  Gewcrkvcreinc  I,  174 — 177,  161,  ibl,  iS2. 


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74 


r  h  i  1 1  {)  p  L  o  t  ra  a  r  , 


kann  den  folgenden  auf  die  Praxis  des  Berliner  Gewerbegerichts 
als  Einigungsamtes  gestützten  Sätzen  entnommen  werden,  die  sich 
doch  nur  auf  die  gegenwärtigen,  rechtlich  nicht  anerkannten  Koa* 
Utionen  beziehen :  „Auf  Seiten  der  Arbeiter  bot  sich  keine  Schwierig« 
kcit.  In  allen  Fällen  war  eine  anerkannte  \''crtrctung  der  Arbeiter 
in  Form  von  Agitations-,  Lohn-,  Strike-Kommissionen  v  orhanden, 
an  die  man  sich  wenden  konnte.  Hier  zeigt  sich  der  Nutzen  der 
Kampfor^anisationcn  der  Arbeiter  als  wesentliches  Hilfsmittel  für 
AufrechterhaltunfT  des  sozialen  Friedens.  Da/«- :<  i  fehlte  es,  wenn 
es  sich  um  gfrössere,  ein  «ganzes  Gewerbe  Ix  iuhrende  Differenzen 
handelt,  oft  an  einer  anerkannten  X'ertretunu,'  der  \rl)eit  e  b  c  r.'" ') 
Kine  innere  Stärkutii^  der  .\rbeitnehnier\  ertretuii;^^  kann  schon 
dadurch  l)ewirkt  werden,  dah  den  ..Heteili^ften"  ein  X'ertretcr  \on 
Beruf  zur  Seite  tritt.  Das  in  solchem  Rerufsvet treter  licL^endc 
SachversländiL,'enelement  kann  bei  der  X'ertra^schlieisuni;  \  i  )r  dt  !n 
Einij^un^samt  dadurch  zur  deltutii,^  ^M-hrarht  werden,  dai>  sirh 
Amt  durch  Zu/iehun;_;  von  \'ertraucn>iuännern  <ier  Arbeit^^eljcr  und 
der  Arbeitnehmer  ,,erL;;ln/t" ;  diese  X'crtraucnsmänner  liuricn  nicht 
zu  den  „Beteiligten  "  ;4ehören.') 

Iicrufs\  erlrctcr  wie  überhaupt  X'ertreter,  die  nicht  zu  den  Ai  - 
beitgebern  oder  Arbeitnehmern  der  Branche  zählen,  fiir  welche  der 
Tarifvertrag  bestimmt  ist,  werden  von  seiner  Rechtswirkung  nicht 
berührt  Das  ist  eine  Folge  der  Vertretereigenschaft.  Vertreter 
hingegen,  die  zu  den  Arbeitgebern  oder  Arbeitnehmern  ^eliören, 
iiir  welche  der  Tarifvertrag  bestimmt  ist  (S.  71,  III.),  werden  von  seiner 
Rechtswirkung  betrofTen,  trotzdem  sie  Vertreter  sind,  weil  sie  über- 
dies Glieder  der  kontrahierenden  Partei  sind.  Nur  in  dieser  Eigen- 
schaft werden  sie  betroffen.  Aber  die  Rechtswirkung  des  Tarif- 
vertrag ergreift  sie  doch  nur,  wenn  von  derselben  die  von  ihnen 
Vertretenen  ei^ffen  werden.  Denn  sie  kontrahieren  nicht  für 
sich  und  daneben  für  die  von  ihnen  Vertretenen,  sondern  sie  kon- 
trahieren für  die  Arbeitsgeber-,  oder  fiir  die  Arbeitnehmerpartei  und 
damit  auch  für  sich  selbst,  die  sie  dn  rincn  oder  der  anderen 
Partei  angehören.  Soweit  dalRi  keine  RcchLswirkuiiL;  für  die  Partei 
entsteht,  —  wegen  Fehlens  der  Vollmacht  und  Ausbleibet  >  der  Ge- 
nehmigung —  werden  auch  sie  von  keiner  Rechts  Wirkung  be- 
trolfen. 


*i  Cuno  In  S  i/iale  Praxis  \'  6;;,  (1^4  Wei^i^rt  onMi  ia  (126  a'.  4. 
'}  GewerbegerichtsgeseU  §  03.   Gewerbegericht  II,  75  unten,  76  al.  3. 


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Die  TmrifreitrSge  swischen  Arbeitgebern  und  Arbeitadunem. 


75 


Durch  die  Vertretung;  wird  nicht  nur  das  Negative  bewirkt, 
da(s  der  Vertreter  von  den  Rechtsfolgen  des  vertretungsweise  vor- 
genommenen Geschäfts  nicht  betroffen  wird,  sondern  auch  das 
Positive,  dafs  jene  Rechtsfolgen  zu  Gunsten  und  zu  Lasten  des  Ver- 
tretenen eintreten  (B.G.B.  §  164),  Diese  positive  Wirksamkeit  setzt 
aber  voraus,  dafs  der  X'ertretene  durch  eine  von  ihm  abgegebene 
Erklärung  das  (leschäft  mit  seinen  Wirkungen  auf  sich  bcziclio  und 
damit  am  vertretungsweise  vorzunehmenden  oder  vorgenommenen 
Geschäfte  Anteil  nehme.  Diese  seine  Teilnahme  ist  entweder  \'oll- 
macht  (d.  h.  Bevollmächtigung),  oder  Genehmigung  (B.G.B.  §  I77)- 
Die  V^ollmacht  geht  der  Vertretung  d.  h.  der  V'ertreterthäligkcit 
voraus,  die  (icnchmigung  folgt  derselben  nach.  Die  X'ollmacht  ist 
Hinwirkung  auf  die  V^ertreter  t  h  ä  t  i  g  k  c  i  t ,  l  eilnalinu'  an  der  Her- 
stellung des  T  h  a  t  b  c  s  t  a  n  d  e  s.  Der  Bevollmächtigende  verhilft 
dem  vcrtrcturjgswcise  vorzunehmenden  Geschäft  /.u  einem  gewissen 
Inhalt^)  Der  Genehmigende  übt  keinen  Einflufs  auf  die  Herstellung 
des  Thatiiestandes,  er  läfet  sich  das  ohne  sein  Zuthun  vorgenommene 
Gesdiäft  ge&lleni  übernimmt  nur  die  ihm  durch  dasselbe  zuge- 
dachten Rechtswirkungen,  hierin  besteht  seine  Anteilnahme.  Voll- 
macht und  Genehmigung  können  sich  auf  dasselbe  Geschäft  be- 
ziehen, d.  h.  bei  dem  nämlichen  Geschäfte  vorkommen.  Denn  die 
Genehmigung  kann  nicht  nur  die  ganze  Vollmacht  (wo  sie  fehlt) 
ersetzen,  sondern  auch  sie  erganzen,  d.  h.  es  kann  Vollmacht  da 
sein  und  soweit  sie  nicht  reicht,  Genehmigung  dafiir  eintreten. 
Hier  gründen  sich  Recht  und  Pflicht  des  Vertretenen  aus  dem  Ge* 
Schaft  teils  auf  seine  Vollmacht  teils  auf  seine  Genehmigung. 

Soweit  der  X'ertreter  nicht  bevollmächtigt  ist,  ist  er  nicht  im- 
stande, die  Rechtsfolgen  des  von  ihm  vorgenommenen  Geschäfts 
in  der  Person  des  \'ertretenen  eintreten  zu  lassen.  Er  kann  ent- 
weder trotz  des  Mangels  oder  der  Mängel  dgt  Vollmacht  und  im 
Bewufstscin  des  Fehlenden  auf  die  Genehmigung  des  X'ertrcteneti 
abstellen.  Oder  er  kann,  weil  er  seine  X'ollmacht  unzulänglich 
findet,  die  Vertretung  einstellen.  giin/Hi  h  oder  einstweilen,  bis  er 
die  fehlende  Vollmacht  sich  v  om  \'crtr(  u  lu-n  verschafft  hat. 

Bei  der  Abschiieisung  von  I  arifvertragen  durch  Vertreter  hndcn 


Es  ist  rechtlich  gleichgültig,  dafs  hei  Tarifvertrigea  die  von  den  Arhcitcrn 
XU  bevollmächtigenden  Vertreter  (z.  B.  die  I^ihnkornroissinn i  oft  selber  den  \V)!!macht- 
gebem  rlic  zu  stellende  Vertragsproposition  und  damit  die  deo  Vertrcteru  zu  er- 
teilende \olimacht  formulieren  und  vorlegen. 


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7^' 


rhtlipp  Lotmar, 


wir  diese  mitunter  mit  vollständiger  Vollniacht  ausgestattet«  so 
dafs  die  Rechtsfolgen  des  Tarifvertrags  alsbald  eintreten.')  Die 
solchenfalls  nach  den  Abschlüssen  ^cw  <  >linlicli  stattfindenden  Ver- 
sammlungen der  bcteilii;leii  Arbeiter,  tlie  sirh  uhcr  die  Erfolj^'e  ihrer 
Vertreter  aussj^rec  licn ,  liefern  mit  der  Billi^un^  oder  Gutlieilsunj^ 
tles  Vertrajjs  nichts,  das  fiir  seine  Rechtswirksamkeil  erforderlich 
wäre.')  Im  (uL^insat/  dazu  werdm  X'ertreter  für  den  Abschlufs 
eines  Tarifvertrags  luswcilen  nur  ila/u  Ik  \<'llinacliti;^'t.  einen  in  alle 
Einzelheiten  gehetuk  ;i  W  rtra;^^s  e  n  t  w  u  r  f  mit  »1er  ( iCL,'cn[)artei  zu 
\'e''ci'ili.ir(.ii .  der  erst  durch  ii,ir!it< -l-rinle  AnnaliTne  (mittel>t  Ah- 
stiinnuiiiL,' )  seitens  drr  \\rtrett  t:c-ii  /um  bindemlen  X  ertra-^^  erhi'ln  ri, 
ticunlich  _:*  n»  !imi;4t  wird,  'i  Nii  lit  seltt-n  kommt  es  ferner  \ur,  dai> 
die  X'olliiia»  !it,  die  den  X'ertrtttrn  erteilt  worden  ist,  sich  l)ei  der 
N'erhaiulluri'^^  al>  uii/ureu  liend  erwei-<t.  Nicht  dals  <ie  nicht  alle  tlie 
I'unkte  lictrifft,  auf  die  >ich  der  l  arih  ertrag'  be/ieheii  m>11.  aber  in- 
dem sie  der  iMitscheidun^^  der  \  erireter  keinen  Si-ichauni  Lust, 
oder  l  inen  /u  enj;i'n  Sj>ielraum  j^ie!»!.  setzt  >ie  tlic  X'ertroter  aulser 
Stand,  nach  Ablehnung;  ihrer  VorschUij^e  vom  (ie^ner  gemachte 
VorsohUij;c  in  bindender  Weise  zu  akzeptieren.  Sic  vermögen  dies 
nur  unter  dem  Vorbehalt  der  Genehmigung;  ihrer  Partei  zu  thun, 
oder  sie  können  jene  Vorschläge  blofs  ad  referendum  nehmen,  um 
sich  zur  Annahme  oder  Ablehnung;  l>evonmächtigen  zu  lassen.*) 

Beim  Tarifvertrag  kann  zweierlei  Genehmigung  vor- 
kommen, was  mit  der  ihm  eigenen  Natur  des  Kollektivvertrags 
zusammenhängt.   Folgender  Unterschied  ist  bedeutungsvoll. 

Der  Vertreter,  der'  keine  Vollmacht  des  Vertretenen  besitzt, 
kann  keinen  Tarifvertrag  zustande  bringen.  Der  \'on  ihm  ge- 
schlossene Vertrag  wird  zum  wirksamen  Tarifvertrag  erst  durch  die 
Genehmigung  des  Vertretenen.  Diese  Genehmigung  ^^cwährt  dem 
geschlossenen  Vertrag  Wirkung  in  der  Person  des  Genehmigenden, 
und  olme  diese  würde  er  kein  i  arifvertrag  scin.  \'on  dieser 
anfänglichen,   nämlich   den   Vertrag  erst   zum  Tarifvertrag 

')  biehe  z.  Ii.  Soziale  l'raxi*  IX,  IJü  al.  8.  9. 

Es  kann  inch  votkommen,  dafs  V«rt*«t«r  vo»  ihrer  Vollmacht  keinen  Ge- 
bmuch machen  nnd  die  entscheidende  Ztt»timmun(;serki&rung  den  Vertretenen  Bber- 
lassen  wolleo,  z.  B.  Soziale  Praxis  VI,  2S2  al.  X 

'i  S.  z.  B.  Zahn  in  Schriften  des  Vereins  fUr  Sozialpol.  Bd.  45,  S.  415  al.  2, 

418  al.  5,  vgl.  ricwrr'ir-cri^h*.  III.  I07. 

^    GeLjcrt  sulilir  BeiM:hräQkuo|{  der  VuUmacht  Weigert  in  Gewerbegericht 

« 

Ul,  5  al.  1,  62  al.  2 


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Die  TarifTertr&ge  nrUch«n  Arbeitgebern  und  Arbeitaebmeni. 


77 


machenden  Genehmigung  ist  die  Genehmigung  zu  unterscheiden, 
die  dem  schon  gültigen  Tarifvertrag  zu  teil  wird,  nämlich  durch 
Personen  zu  teil  wird,  die  zwar  beim  Abschlufs  vertreten  waren, 
die  aber  weder  zum  Abschluls  be\'ollmächtiL:t  .  noch  den  ohne  ihr 
Zuthun  ah;^a'schlossenen  X'ertra;^'  durch  ihre  antän^hche  ( ienelmiigunjT 
zur  (.iüitigkeil  geliraclu  linben  .  sondern  blols  die  Rechiswirkuni:;et\ 
des  gültigen  Tarifvertrages  auf  ihre  Person  beziehen,  m.  a.  \V.  ihm 
beitreten  (S.  31».  Dieser  lieiuitl  x.u  einem  auch  der  Kecht^wirkunt:,' 
nach  ferli^^-n  Tarifv  crtraif  ist  eine  ^Ienehmi;_fun!^^  deni^  sie  verleiht  dem 
im  Namen  aber  oline  Zuthui,  dc>  Lienehmi^cnden  \orgenommenen 
Wrlr.ij^r  Rechtswirkung  für  den  ( ienehmigendcn.  Weil  ab<.  r  dir^c 
Genehmigung  zu  einer  Zeil  erfolgi ,  da  der  l  .u  ifx  ertrag  Rcchts- 
wirkung  schon  besitzt,  so  mag  man  sie  im  (iegensatz  zu  der  aa- 
länglichen  als  nachträgliche  Genehmigung  bezeichnen.  Da 
jede  Genehmigung  nachträglich  ist  im  Verhältnis  zur  Vornahme  des 
genehmigten  Geschäfts,  so  ist  diese  „nachträgliche  Genehmigung" 
etwas  Besonderes,  dem  Tarifvertrag  Kigentfimliches. 

V.  Die  Vollmachtserteilung  zur  Abschliefsung  von  Tarifverträgen, 
sO¥ne  deren  anfangliche  Genehmigung  weisen  auf  Seiten  der  Ver* 
tretenen  eine  Eigentümlichkeit  auf,  nicht  bei  der  Arbeitgeber-,  wohl 
aber  bei  der  Arbeitnehmerpartei.')  Die  erstere  nämlich,  wenn  sie 
nicht  blofs  aus  einer  Person  besteht,  setzt  sich  doch  immer  aus 
einer  kleinen,  wenigstens  im  Verhältnis  zur  Zahl  der  Arbeitnehmer 
kleinen  Zahl  von  Personen  zusammen  (S.  33),  von  Personen,  die 
einander  kennen  oder  leicht  kennen  lernen  und  mit  einander  ver- 
kehren können,  so  dafs  wir  hier  bestimmte  Vollmachtgeber  halben: 
die  Vertreter  der  Arbeitgeber  vertreten  bestimmte  X'ollmachi- 
geben  Dies  wird  durch  zahlreiche  X'orkommnissc  belegt.  Wo 
immer  ein  Tarifvertrag  vertretungsweise  (mit  oder  ohne  X'ermitt- 
huv^)  abgochlossen  wird,  finden  wir  als  \'oIlmaehti,'eber  auf  der 
Arbeitgeberseite  eine  hestinnnte  Firma  oder  I>eslimmle  Mrmen, 
oder  gewisse  Arbeitgeberx  eriiände  (z.  B.  Deutscher  Buchdrucker- 
NxTcin),  Innungen.  Innungs\  erbände  n.  s.  w.,  die  Verzeichnisse  ihrer 
Mitglieder  führen,  deren  Milghed>.oljaften  ctw:i,s  namentlich  Be- 
kanntes, Begrenztes  und  Stetiges  darstellen.  Daher  läfst  sich  für 
die  Arbeitgeberseite  auf  bestimmte  Vollmachtgeber  hinweisei;. 

Was  7,ur  Darlff^ung  liiesor  Eigentuialii  hk<'it  im  r.ilc;cn>lL-n  von  der  Vull- 
marht  gesagt  wird  und  der  Einfachheit  halber  nur  von  ihr  gesagt  wird,  gilt  mutati'« 
luutaadis  ebeuiio  von  der  anfänglichen  Genehmigung,  ist  daher  auch  auf  dic^e  zu 
beziehen. 


78 


1'  h  1 1 1  }>  p  L  u  t  m  a  r  , 


Nicht  .so  auf  der  Arbeitnehmer.seite.  Iiier  ist  vor  allem  und 
natui^emäls  (S.  31)  die  Zahl  der  zu  Vertretenden  unvergleich- 
lieh  gröfser ;  schon  wenn  nur  die  Arbeitnehmer  eines  Betriebes 
zur  Tarifvertragsverhandlung  schreiten,  um  so  mehr  wenn  es  die 
Arbeitnehmer  mehrerer  gleichartiger  Betriebe  oder  aller  gleich* 
artigen  Betriebe  eines  Bezirkes  oder  eines  lindes  thun  z.  B.  die 
Böttcher  Dresdens,  die  Klempner  Stuttgart«?,  die  Maurer  Berlins 
uml  scirur  l^inj^ehiirij^f .  "»Irr  die  Ruchrlrurker  Deutschlands.  Hier 
liaben  wir  es  aber  nicln  blols  mit  einer  f^rölseren  Zahl  zu  thun, 
deren  Glieder  darum  einander  nicht  alle  kennen,  schwerer  einander 
kennen  lernen  und  mit  einander  verkehren  können,  sr.rdern  es  ist 
auch  diese  ;^^ro|Ve  Zahl  von  unl>estitnintesu  in  liesiand.  Zwar  giebt 
es  für  die  Arbeitneiitricr  der  nu-isten  Hernie  ir,.^'eiul  eine  Zusanimen- 
tassun;^'  und  bestände  diese  auch  nur  in  der  ^e^'enwärti^en  Zuge- 
li(>riL;keit  /.u  einem  bestimmten  Betriei),  Ihäti^'kcit  an  detii  näm- 
lichen Hau.  in  der  ;^deichen  \\'erk>>t.ilte,  (irube  u.s.  \v.  In  den  darüber 
hinau-iH-henden  Zusammciil.i^vuii^en,  als  ( lew erkvcreinen,  ( lewerk- 
scluiüen ,  W  rbändeti  n.  d.  i..  i>t  meist  i.ur  ein  kleiner  Teil  aller 
Rcrufs!^fenc)>sen  Nereinii't.  .\ber  wiiren  es  auch  mehr,  so  sind  es 
lUxh  nicht  alk-  und  uberdiis  bleibt  das  Schwanken  der  Zahl  be- 
stehen. Wie  die  Arbciinehmerschaft  eines  Betriebes  wechselt  durch 
Eintritt  und  Austritt,  so  und  noch  mehr  ist  die  Mitgliedschaft  von 
Arbeitnehmerverbanden  beständigen  Schwankungen  unterworfen; 
aufserdem  sind  von  den  Mitgliedern  die  kranken  und  die  wandern» 
den  verhindert,  sich  an  einer  Lohnbewegung  zu  beteiligen.  Und 
nun  bedenke  man ,  wie  es  auf  selten  der  Arbeitnehmerpartei  zur 
Erteilung  der  Vollmachten  an  ihre  Vertreter  für  den  Abschlufs  von 
Tarifverträgen  zu  kommen  pflegt. 

In  den  meisten  Fällen  werden  die  Vollmachten  in  öffentlichen 
Versammlungen  erteilt,  indem  hier  die  Vertreter  gewählt  und  ihnen 
die  Weisungen  g^eben  werden, ')  letzteres  nicht  selten  unter  dem 
Einflufe  der  zu  Bevollmächtigenden  (S.  75  Anm.).  Die  Vorstände 
des  Arbeitnehmerverbandes  oder  seines  lokalen  Zweiges,  für  dessen 


Ein  mnderes  Verfahren  ward«  bei  der  Wahl  der  Vertreter  der  Bochdrocker* 
Sehilfea  flir  die  Aafttellang  des  deatscbeo  Bucbdmckertarib  von  1.  JuU  1896  beob- 
achtet. Die  Arbeitnehmer  wihlteo  ibi«  Vertreter  durch  Wählte tteL  Die  Wahl 
wurde  durch  das  Leipziger  Gewerbegericht  ab  Einigungsamt  geleitet.  El  gingoi 
über  23000  Wahlzettel  ein.    Siehe  Gewerbqeericht  I,  17,  18.   Sociale  Fmth  V, 

855.  856- 


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Die  larilverträgc  zwiitcben  Arbeitgebern  und  ArbeiinebnicrD. 

Beruf  der  Tarifvertrag  geschlossen  werden  soll,  gelten  nicht  ohne 
weiteres  als  bevoUnaachtigt,  da  sie  doch  nur  die  Mitglieder  dieses 
Verbandes  oder  seines  Zweiges  vertreten  können,  und  die  Zahl 
dieser  Mitglieder  die  Zahl  derer,  fiir  die  der  Tarifvertrag  gelten 
soll,  nicht  erschöpft.  Es  werden  darum  Vertreter  gewählt,  d^e  die 
Organisierten  und  die  Xlrlitorganisierten  zu  vertreten  haben. 

Die  Wahl  und  Bevollmächtigung  des  Vertreters  in  ötTciitlicher 
Versatiimlung  hat  den  Vorteil,  seine  Legitimation  und  Vollmacht 
öffentlich  bekannt  und  notorisch  zu  machen.  Ist  die  Zahl  derer, 
die  am  Abschlufs  des  Tarif\  ertrags  durch  Bestellung  von  Vertretern 
teilnehmen  wollen,  grofs,  so  genügt  möglicherweise  nicht  eine 
\\r>arntnlung ,  es  müssen  deren  mehrere  gleichzeitig  oder  nach 
einander  abgehallen  werden.  In  diesen  und  \on  dic•^{'tl  \'cr>aiiim- 
lungen  wird  die  X'ollniacht  erteilt.  Aber  aus  welchen  Pers(<nen 
bestehen  diese  V^er^animlungen  r  Sie  sind  öfienllich,  jedermann  zu- 
gänglich und  bieten  keine  ( iewähr,  dals  nur  Personen  an  ihnen  und 
an  den  Abstinunungen  teihiehmen .  die  zu  den  beteiligten  Berufs- 
genoNsen  gehören.  Die  persönliche  und  die  sachliche  I'rage  wird 
bisweilen  nicht  in  tler  nämlichen  \'ersammlung  entschieden,  indem 
man  .sich  etwa  zunächst  über  die  Vertragsproposition  einigt,  die 
man  stellen  will,  und  in  einer  folgenden  Versammlung  die  Vertreter 
wählt,  die  jene  Firoposition  zur  Annahme  bringen  sollen.  Wer  an 
der  zweiten  Abstimmung  teilnimmt,  eignet  sich  auch  den  Beschlufs 
der  ersten  Versammlung  an,  da  die  Instruktion  für  die  zu  wählen- 
den Vertreter  hier  vor  deren  Wahl  festgestellt  ist  Es  kann  aber 
einer  an  der  ersten  Abstimmung  teilnehmen,  bei  der  zweiten  fehlen 
und  umgekehrt  Fluktuierend  wie  der  Bestand  der  Vollmachtgeber 
bei  der  ersten  Vollmachtserteilung  kann  er  auch  bei  einer  folgenden 
sein.  Den  Vertretern  sei  es  nicht  gelungen  die  Vertragspropositionen 
alle  durchzusetzen.  Sie  holen  neue  Vollmachten  iiir  die  Annahme 
der  neuen  Vorschläge  der  Gegenpartei  ein.  Es  besteht  aber  keinerlei 
Gewißheit,  dafs  die  Versammlung  oder  die  Versammlungen,  die 
die  neuen  Vollmachten  erteilen,  aus  ebenso  vielen  und  den  näm- 
lichen Personen  bestehen,  die  die  früheren  Beschlüsse  gefallt  liaben. 
Vergegenwärtigt  man  sich,  dafs  die  1  ahfverhandlung  in  zahlreichen 
Fällen  während  eines  Arbeiterausstandes  oder  einer  .\rbeiteraus- 
sperrung  gepflogen  WMrd,  so  mufs  man  nocli  deutlicher  die  l'n  be- 
st i  m  ni  t  Ii  e  i  t  d  e  s  \'  o  1 1  m  a  c  h  t  g  e  b  e  r  s  a  u  f  s  e  i  t  e  n  d  e  r  .\  r  b  e  i  t  - 
n  e  Ii  m  e  r  em>ehen:  denn  derlei  Unterbrechungen  der  Be>chäftigung 
mit  ihren  Folgen  venschaffen  nicht  blofs  vielen  Arbeitnehmern  die 


So 


Philipp  Lotmar. 


Zeit,  sich  als  K« »lUiahcincti  c'\nv<  r.'ii  ih  tr:i:;s  an  den  \'cr>ati)m- 
liin;4eti  zu  bcioili-'fn ,  in  d-Tit  ii  die  \'« ''trett  r  L^cwalilt  und  mit 
WcisuniH  ii  \crschrn  werden,  MHidein  >ie  lullten  auch  zu  Abwande- 
rungen und  Zuwanilerun^'en  X  'n  Hei  uf-^^en^NNcn. 

]*"erner  katni  man  niclit  .umehimn  —  au>  leiclu  denkbaren 
Gi  unden  -  dals  an  den  \'er>ammKniL;eii ,  die  ilie  X'erUelunj^  l^e- 
stellen  d.  Ii.  die  X'eitreter  wählen  ui;d  ihnen  die  X'dllmai'ht  erteilen, 
alle  die  Arl ti  itnehmer  teihiehnieM  ,  die  e->  anseht.  Aber  wären  >ic 
auch  alle  da,  die  M,uner,  die  Put/er,  die  l  i-clilei.  die  Former,  die 
Schneider  u.  s.  w.,  ilie  ir.  dem  Bezirk  arbeiten,  lur  den  der  ab/.u- 
schlicfscnde  Tarifvertrag  —  I^kaltarif  für  eine  Branche  —  .>,c  lteii 
soll,  so  tn'aucht  die  Bestellung  der  Vertretung  doch  nicht  einstimmig 
zu  geschehen.  Freilich  die  Vertreter,  die  nicht  von  allen  Berufs- 
genossen, und  nicht  von  allen  Teilnehmern  der  sie  bestellenden 
Versammlungen  bevollmächtigt  worden  sind,  haben  Vollmacht 
nur  von  denen  erhalten,  die  (tir  sie  gestimmt  d.  h.  sie  gewählt 
und  ihre  Instruktion  beschlossen  haben.  Diese  bilden  zwar  die 
Majorität,  aber  ihr  Beschlufs  kann  rechtlich  nicht  als  BeschluCs  aller 
gelten:  das  wäre  nur  möglich,  wenn  sie  alle  Repräsentanten  eine.s 
von  ihnen  verschiedenen  Ganzen  wären,  dann  könnte  der 
Beschlufs  iler  Mehrheit  als  Wille  de>  ("i.uizen,  dei  juristischen  Pcrjion 
gelten,  der  für  alle  Mitglieder,  auch  die  der  Minorität  an-ehörigen 
verbindlich  wäre.  So  etwas  trefTen  wir  auf  der  Arbeit- eberseite  an, 
wenn  7.  R  eine  Innun<^,  sei  es  für  „einen  gemein^  haftlicheii  (te- 
soliäftsbetriel)"  fGew.O.  §  81  b  Nr.  5),  sei  es  fui  die  ( ie>.diäftsbe- 
triebe  ihrer  MitL;liodcr  einen  1  arif\  ei  tra;4  ab>chliclsen  ' »  und  dafür 
ihren  X'orstand  als  X'ertreter  l)e\  ollniächti-'en  will.  Hin^^i  i^en  lu-i 
den  Arbeitnehmern,  deren  X'ersammlunL;  nicht  Mit^liei ler\ ersamm- 
lun;^'  einer  jui  iNtischen  Persor;  ist"'i,  k^innte  di  i  M  ii<iritätsbesidiluls, 
der  ilie  \  ollmaeht  erteilt .  bindend  tür  alle  1  i  ilnehmer  der  \'er- 
sammluni;  nur  sein,  wenn  man  sich  im  \orau>  hierüber  ;^a-einij^t 
hätte.  I'.ine  solche  EiniL^uuL;  pfl^'u;!  nii  ht  \  <»r/ukr)nnnen.  \'on  *ier 
Minderheit  ist  daher  keine   X'ollmacht   erteilt.  '/    Allein   wie  auf 

'    i.  n  .Sij/ial<-  Praxi»  VIII.  1053  (Berliner  Steifiset/eriniiung-. 

*)   Eiuc  Arbeitnehmerori^anisation   ist  kein--  -uristische  Person.    Ein  Tarlf- 
vcrtrai^   kanti  d.ilicr  juristlsvli  iiiclit  al*  von  •;olclier  <  >r^^.U)i«n(!':>n  gf-chloss^n  au^^'f 
sehen  u  ertlon    -     wie  i1<t  Sc!iii-  i>^jinicli  <'.<->  Kerliucr  Liuigungsatutcs  vom  (4.  Üc- 
zember  iScji)  annimmt  (^.Soziale  i'raxis  iX,  332). 

*}  Zwei  wo  vielen  Beispielen  solclier  Majoritätsbeschlüsse  bei  der  uiftas* 
licheo  Geoehmigung.  die  der  Vollro»chtertetlong  für  die  Wirksamkeit  des  Vertrags 


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Die  Tarifverträge  zwischen  Arbeitgebern  und  Arbeitnelimern. 


8t 


Seiten  der  Arbeitnehmer  und  um  so  mehr  je  gröfser  ihre  Zahl  ist, 
bei  der  Kontrahierung  des  Tarifvertrags,  bei  der  Wahl  der  Ver-' 
treter  und  bei  der  B^hlufsfassung  üt>er  deren  Uistniktion  incertae 
peraonae  stehen,  nämlich  die  Genossen  eines  bestimmten  Berufs 
innerhalb  eines  gewissen  Bezirks,  so  wird  auch  bei  der  Scheidung 
in  Mehrheit  und  Minderheit  der  Individualitat  gar  nicht  nachgefragt 
Die  Majorität  bringt  den  Tarifvertrag  zu  stände. 

Immerhin  ist  davon  auszugehen,  daTs  die  Angehörigen  der 
Minderheit,  die  die  Erteilung  der  Vollmacht  oder  der  anfänglichen 
Genehm^ui^  venagt  hat,  darum  vom  Tarifvertrag  nicht  be> 
troffen  werden,  selbst  wenn  die  Vertreter  nicht  blofs  im  Namen 
der  Majorität,  sondern  schlechthin  im  Namen  aller  interessier- 
ten Arbeitnehmer  kontrahiert  haben.  Und  dieses  Nichtbetroffen- 
werden  gilt  auch  von  denjenigen  Berufsgenossen,  die  in  der  bevoll- 
mächtigenden oder  genehmigenden  X'ersammlung  sich  der  Ab- 
stimmung enthalten ,  oder  an  ihr  nicht  teilgenommen  haben ,  oder 
gar  nicht  teilnehmen  konnten,  weil  sie  noch  nicht  zur  Zeit  lier  Ab- 
haltving jener  Versammlung,  sondern  erst  später  dem  Bezirk  und 
dem  Beruf  angehört  haben,  für  welchen  der  Tarifvertrag  abgeschlossen 
werden  sollte. 

Aber  alle  diese  unbestimmten  Pcr«;onen,  von  denen  keine  Voll- 
macht oder  anfängliche  GenclmTigung  ausging,  werden  dennooh  von 
den  Reehtsfolgen  des  Tarif\  crtrags  betrotl'en  ,  w  e  n  u  dieser  a  u  c  h 
in  ihrem  Namen  abgeschlossen  und  ferner  von  i  h  n  e  i\ 
genehmigt  wurde,  nämlich  nachträglich  genehmigt  wurde 
(S.  77).    Betrachten  wir  diese  zwei  Bedingungen  nach  einander. 

VI.  Die  ganze  kollektive  \'ertrag>chlicrsung,  als  welche  die  Kon- 
trahierung einch  l  anhertiags  erscheint,  beruht  auf  der  .Möglichkeit 
gleicher  Lohn-  und  .Arbeitsbedingungen,  einer  Gleichheit,  welche 
generelle  Abstufungen  (/..  B.  in  Lohn,  Arbeitszeit)  nicht  ausschlieist. 
Dies  gilt  für  Arbeitgeber  wie  fijr  Arbeitnehnu  i.  hur  beide  Parteien 
bedeutet  es  eine  vorlciliiafie  Regelung  der  Konkurrenz,  wenn  die 
Bedingungen,  zu  denen  jeder  Parteiangehörige  als  Arbeitgeber,  oder 

glddikoiaait  (S.  jOrj-j,:  Gewerbegericfat  III,  107  al.  3  (hier  «och  der  lelteoe  Fatl 
dms  Bcschlmiefl,  daft  sich  die  MiaoritKt  den  Votum  der  MftjoriUt  usterwerfe). 

Eine  Venaminlai^  der  Mannor*  und  Gnuiiturbeiter  b  Berlin  nimmt  nach  Inoger 
Debatte  mit  49  gegen  36  Stimmen  eine  Resolutinn  an,  welche  besagt:  „Die  Ver- 
sammlung heifst  die  swischen  den  Vertretern  der  Arbeiter  und  Unternehmer  verein- 
barten Abmachungen  gut  "    Vorwärts  lo.  September  tS99. 

Archiv  für  Mi.  CcMtxgebung  u.  Sutiuik.  XV.  6 


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82 


Pbnip|>  Lotmiir, 


als  Arbeitnehmer  einen  Arbeitsvertrag  eingeht,  die  nämlidien  sind, 
*  wie  sie  sein  Parteigenosse  annimmt  oder  bewilligt  Auf  diesen 
sachlichen  Erfolg  der  Aequalistening  jener  Bedingungen  ist  das 
Interesse  der  Kontrahenten  elne>;  Tarifvertrags  gerichtet.  Daher  ist 
die  individuelle  Hestiinintheit  der  Personen,  der  Arbeitgeber  wie 
der  Arbeitnehmer,  bei  der  Eingehung  von  Tarifvertrii^'en  von  unter« 
geordneter  Bedeutung,  mehr  natürlich  noch  bei  den  Arbeitnehmern, 
als  bei  dt  !i  Arbeitgebern. 

V\o  die  Arbeitnehmer  ge\vis>e  X'crtreter  bevollmächtigen, 
oder  deren  X'erliandliing  anfänglich  genehnii^en ,  vertreten  doch 
die^e  nirln  ituii\iduell  Ix  -tininite  Tcrsonen  und  nicht  nur  jene 
X'oIhnaiMitgeber  oder  Ratihabinten.  Sie  kontrahieren  vielmehr 
namens  \  on  Arbeitnciniiern  einer  bestimmten  K  a  t  «.■  g  <  >  r  i  e  ,  einer 
Kategorie,  die  tlurch  die  Zugehf>rigkeit  /u  beNtininitcn  Betrieben, 
zu  einem  bestimmten  Beruf,  /u  einem  bestinunten  Bezirke  gebildet 
wird,  einer  Kategorie  deren  An';,'r}iörige  wechseln.  Selbst  der  für 
die  .Arbeiter  einer  bestinunUii  I  .ibrik  geschlossene  lant\ertrag  soll 
nicht  blols  die  geger)v\  artigen  d.  h.  zur  Zeit  seines  .Abschlusses  vor- 
handenen, sondern  auch  künftige  d.  h.  später  eintretende  Arbeiter 
betreffen. 

Aber  auch  wenn  die  Arbeitnehmer  direkt  d.  h.  nicht  durch 
Vertreter  kontrahieren,  kontrahieren  sie  nicht  blofs  (Ur  sidi,  in 
eigenem  Namen,  sondern  auch  im  \amen  von  Berufegenossen,  die 
einmal  an  ihre  Stelle  treten,  oder  neben  sie  treten,  kurz  der  Kate- 
gorie von  Arbeitnehmern  angehören  werden,  fiir  welche  der  Tarif» 
vertrag  bestimmt  ist');  und  ebenso  wenn  die  Arbeitnehmer  über 
eine  ihnen  direkt  gemachte  Tarifproposition  der  Arbei^ber  ab- 
stimmen, und  eine  Majorität  sie  annimmt,  mufs  man  sagen,  dafs 
diese  mit  ihrem  Votum  das  Interesse  aller  Beteiligten  wahrnehmen 
und  damit  nicht  blofs  in  eigenem  Namen,  sondern  auch  als  Ver* 
tretcrin  der  Minderheit  acceptieren  will. 

Es  sind  nach  alle  dem  auf  der  .Arbeitnehmerseite  —  von 
denkbarer  ausdrücklicher  Beschränkung  abgesehen  —  noch  a  n  rl  e  re 
Personen  als  Vertretene  in  den  Tarifvertrag  einbezogen  als  die, 
die  als  Vollmachtgeber,  Ratihabenten  oder  Selbstkontrahenten  her> 

Wenn  Mf  Beschlufs  der  BraDchenversammlung  die  TarifveitragsproposilioB 
von  den  Arbeitern  jfder  Werkstatt  ihfem  Arbeitgeber  gemacht  wird,  so  handeln 
diese  damit  nicht  b!<.f=  in  eigenem  N'amrn,  sondern  trertreten  auch  ihre  Kollern, 
W02U  sie  aber  bevollmnchtigt  worden  .sind. 


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Dk  Tarifvcrtrlge  «friMfacs  Arbdtgebem  vnd  Arbcttnchmeni. 


«3 


\urireten,  und  diese  anderen  haben  an  der  Herstellung  des  That- 
bestandes  gar  nicht  ieil{,'enomnien. 

Das  Nämliche  kann  auf  der  Arbeitgeberscite  vorkununen. 
Freilich  wenn  die  Tarifproposition  nur  von  einem  Arbeitgeber  aus- 
geht, oder  nur  einem  Arbeitgeber  gemacht  wird,  so  ist  nicht  an- 
zunehmen, dals  dieser  eine  anders  kontrahiere,  als  blofs  für  seine 
Person.  Ebenso  wenn  die  Tarifproposition  mehreren  Arbeitgebern 
einzeln,  nicht  der  Arbettgeberschaft  gemacht,  und  von  diesem  oder 
jenem  abgelehnt  worden  ist :  auch  hier  können  nicht  die  acceptierenden 
Arbeitgeber  als  Vertreter  der  ablehnenden  betrachtet  werden.') 
Anders  dagegen  wenn  die  koalierten  Arbeitgeber  alle,  oder  in 
ihrer  Mehrheit,  sei  es  in  Person,  sei  es  durch  Vertreter,  den  ihnen 
zusammen  gemachten  Tarifvorschlag  angenommen  haben.  Hier 
sehen  wir  zwar  verhältnismäßig  wenige  individuell  bestimmte  Voll- 
machtgeber,  Ratihabenten ,  oder  Selbstkontrahenten  vor  uns,  und 
doch  werden  diese,  im  Hinblick  auf  die  zu  erzielende  Gleichheit 
der  Lohn-  und  Arbeitsbedingungen,  den  Tarifvertrag  nicht  blofs  für 
sich  selbst,  sondern  auch  namens  Ihresgleichen,  ihrer  Konkurrenten, 
geschlossen  wissen  wollen.  Daher  fungieren  ihre  W-rtrctcr  wie  sie 
als  Selbstkontrahenten  zugleich  als  Vertreter  von  Arbeitgebern  der 
gleichen  Kategorie.  Diese  möglicherweise  nicht  individuell  be- 
kannten, oder  noch  nicht  vorhandenen,  an  der  Herstellung  des  Ver- 
tragsthatbestandes  nicht  beteiligten  Arbeitgeber  sollen  wenigstens 
dabei  v  ertreten  sein,  auf  dafs  sie  doch  naciiträglich  den  Kontra- 
henten des  Tarifvertrags  gleichgestellt  werden  können. 'j 


')  iJic  Etuisarbeiter  von  (imunri  haVien  nach  dem  Vorw:Tts  vom  8  Oktober 
1899  ihren  Arbeitgebern  gewisse  Vorschläge  zu  eioem  Tarifvertrag  gemacht  Ihre 
Hauptforderungen  wurden  von  allen  Fabrikanten  lurflckgewiesen.  Die  Arbeiter 
littd  hlcfwif  in  einen  Strike  eingetreten.  „NachtrigUcli  bat  ein  Fatarikaat  be- 
wUligL*'  Er  kwiB  damit  mr  in  eigencni  KaoMO  fduuidelt  liebea.  —  Von  einer 
Lohnbewegqng  der  Bveslaiier  Seiler,  die  gcgenflber  allen  Hebten  aiattftuid,  wird 
berichtet  (Jahresbericht  des  Gewerlucbaftskartells  fOr  Bretlaa  f.  1S98  S.  18):  „Die 
meisten  Arbeitgeber  verpflichteten  sich  zur  Zahlung  des  geforderten  Minimallohnes, 
einer  derselben  auch  zur  '^'<-rorderien '  Einfuhrung  der  zehnstündigen  Arbeitsscit.*' 
lAtSc  Arbcitj^rbcr  koritr;ihii  rtcn  nur  für  ihre  Person. 

'•)  Bei  einer  Vertragsverhandlung  unter  den  Schuhmachern  in  Bremen  f  Aj>ril  1S97) 
erklarten  die  Vertreter  der  Arbeitgeber,  „sie  vcrtratcü  nur  die  Innung  mit  etwa  126 
lleistem,  die  aber  nicht  sümtlidi  Gdailfes  beschäftigten-'  ^Gewerbegericht  II,  75). 
Diese  letaleren  Meister  von  Alleinbetrieben  werden  fnr  den  Fall  vertreten»  dafs 
sie  eiaasal  Gehilfen  bcschSftigen. 

6* 


Philipp  Lotm^r, 


Die  erörterte  Erstreckung  des  persönlichen  Geltungsumfangs 
eines  Tarif\*ertrags,  die  auf  der  Arbeitnehmer-  wie  auf  der  Arbeit- 
geberseite in  der  Regel  intendiert  wird,  auch  wenn  sich  der  Ver- 
treter oder  der  Selbstkontrahent  der  Erstreckungsabsicht  bei  der 
Kontiahierung  nicht  bewulst  sein  sollte,  ist  um  ihrer  Selbstver- 
ständlichkeit willen  etwas,  worauf  der  Mit  kontrahent  eingeht, 
wenn  er  ihr  nicht  widerspricht  und  sie  damit  ablehnt*)  Allein 
durch  diesen  faktischen  HcpTani^'  wird  die  persönliche  Aus- 
dehnung: des  Tarifvertraj/s  noch  nichi  rechtlich  vollbracht.  Es 
ist  dazu  ein  Weiteres  erforderlich:  die  Krfiilluii'^  der  zweiten  der 
S.  8i  al.  3  genannten  Bedingungen.  Denn:  MSchiiel'st  jemand  ohne 
VertrctunL^smacht  ini  N'amen  eines  atideren  einen  Vertra<T.  so  hängt 
die  Wirksamkeit  des  \'ertra<,^s  für  und  gcL^en  den  Vertretenen  von 
dessen  Gene  h  n\  i   u  n    ab"  ( R.(  i.B.     1 77 

Im  Vorstehenden  liaben  wir  i^'csehcn ,  dais  (mit  den  vorbc- 
haltenen  Ausnahmen)  ein  Tarifvertrag;  natur  .jemals  auci»  im 
Namen  von  Arbeitsgeber-  und  \()n  Arbeitiiehmer[)t  r>onfn  abj^ochlossen 
wird,  die  keine  \'«  jlhiiarht  erteilt  utid  auch  nicht  antan|^hch  genehmigt 
haben.  Die  W  irksamkeit  des  I  arif\ ertrags  für  und  gc^cn  ihese 
Vcrsoncn  hängt  daher  \nn  deren  (ienehmigung  ab,  und  /.war  ihrer 
n ac  h  t  r  cä g  1  i  c  h  e  n  t jcnehmigung ;  denn  es  handelt  sich  um  einen 
bereits  gehenden  X'erlrag  (oben  S.  77). 

Diese  nachträgliche  Genehmigung  kann  ausdrücklich,  fxler  still- 
schweigend erfolgen.  Die  ausdrückliche  besteht  in  der  Erklärung, 
dem  Tarifvertrag  beitreten  zu  wollen.^)  Die  stillschweigende  ge- 
schieht entweder  durch  Anschluß  an  die  Koalition  von  Arbeitgebern, 
oder  Arbeitnehmern,  die  den  Tarifvertrag  i>ro|)onierend,  oder  accep- 
tierend  zustande  gebracht  hat  Oder  es  wird  die  Genehmigung 
stillschweigend  dadurch  erteilt  dals  der  vertretene  Arbei^eber  oder 
Arbeitnehmer  einen  Arbeitsvertrs^  eingeht,  ohne  besondere,  von 
denen  des  Tarifvertrags  abweichende  Bedingungen  zu  %'ereinbaren. 
Wer  als  solcher  Arbeitgeber  oder  Arbeitnehmer  einen  Arbeitsvertrag 

')  Die  Selhstverständüchkfit  ln-ruht  li.ir.iuf.  ilaf-i,  wie  im  \ ^)r.l.l^^<•heIu^etl  H^'^'^'ß^ 
wurde,  ^dic  Imstande  ergeben",  dats  im  .Nimca  der  Beteiligten  kontrahiert  wird. 
Vgl.  aCB.  §  164  Abs.  I. 

*)  Den  deutschen  Bncbdruckerterif  von  18941  ist  ein  kuries  Formular  ftr  diese 
ErklSraag  beigegebeo.  —  Die  PrioxipaU-  wie  die  Gehilfeamilglieder  des  Tariliuis- 
schusses  erliefsen  wiederholt  an  die  Prinüpale  AaCTordeningen  som  Beitritt  zum 
deutschen  BuchJruckcrtarif.  Vgl.  deutscher  Bucbdruckeriarif  nebst  Kommentar  (i 899} 
S.  20  ä.  Soziale  Praxis  IX,  93. 


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Die  Taril'vertrigc  zwiwbfn  Arbeitgebern  und  Arbeitnehmern, 


«5 


eingeht,  ohne  über  die  Punkte,  die  das  Recht  der  Privatdisposition 
überlassen  hat,  eigene  Abmachungen  zu  treffen,  erklärt  damit  den 
Willen,  nach  der  gemeinen  Regel  d.  h.  gleich  seinen  Berufegenossen 
behandelt  zu  werden.  Die  gemeine  Regel  kann  durch  dispositives 
Recht,  oder  durch  einen  Tarifvertrag  gegeben  sein.  Wer  daher  ohne 
individuelle  Abmachung  einen  Arbeitsvertrag  eingeht,  wird  seinem 
Willen  genuUis  gleich  seinen  Berufsgenossen  nach  dem  dispositiven 
Recht,  oder  nach  dem  auch  nuf  ihn  berechneten  Tarifvertrag  be- 
handelt. Auf  seine  Kenntnis  des  dispositiven  Rechts  kommt  es 
hierbei  anerkanntermalsen  nicht  an;  aber  auch  nicht  auf  seine 
Kenntnis  des  Tarifvertrags,  denn  Dasein  und  Inhalt  desselben  stehen 
der  Kenntnisnahme  der  Berufsgeno<vsen  offen.')  Der  unter  Ver- 
mittlung des  Gewerbegerichts  geschlossene  Tarifvertrag  wird  vom 
( icwerl)cgericht  öttentlirli  bckrinnt  gemacht  (S.  46).  Den  894  Textil- 
arbeitern in  Kottbus,  tlic  bei  der  Abstimmung  über  die  von  den 
Fabrikanten  gemachte  Proposition  unterlagen,  indem  diese  von  171 1 
Kameraden  angenommen  wurde,  was  zur  Aufhebung  des  Sirikes 
fiihrte,  konnte  Dasein  und  Inhalt  des  Tarifvertrags  nicht  unV)ckannt 
sein.  Dieser  ist  namens  der  Kottbuser  Textilarbeiter  geschlossen 
wortlen,  und  wenn  die  rcht  r>iiunnten  vorbehaltlos  neue  Arbeits- 
verträge mit  den  Fabrikanten  schliefsen ,  so  genehmigen  sie  damit 
den  auch  in  ihrem  Namen  geschlossenen  Tarifvertrag.'-)  Der  Setzer, 
der  vorbehaltlos  zum  erstenmal  in  eine  tariftreue  Buchdruckerei  ein- 
tritt, d.  i.  eine  solche,  die  fiir  seine  dort  beschäftigten  Berulsgenossen 
den  deutschen  Buchdruckertarif  gelten  läfst,  genehmigt  damit  still- 
schweigend diesen  Tarifvertrag.^) 

Durch  nachträgliche  Genehmigung  des  Tarifvertrags  wird  der 
Genehmigende  inbezug  auf  den  Tarifvertrag  demjenigen  gleich- 
gestellt, der  zu  seinem  Abschluls  bevollmächtigt  oder  ihn  anfanglich 
genehmigt  hat  Die  stillschweigende  Genehmigung  durch  Ein> 
^ehung  eines  Arbeitsvertrags  ist  wie  jede  andere  Genehmigung  frei- 
willig. Der  Vertretene  braucht  nicht  den  Arbeitsvertrag  zu  den 
Bedingungen  des  Tarifvertrags  abzuschlieÜsen.  Hierin  unterscheidet 
er  sich  von  dem  Vertretenen,  der  sich  durch  Bevollmächtigung, 

')  wie  für  dco  Absender  bei  der  Güterbeförderung  tlurch  Eüenbdm  die  tob 
dcreelbcn  pnblixieiten  Befftidcnuigsbedingnogeo. 
«)  Vgl.  Sodate  Pnxi*  V,  855. 

*)  In  einem  TArifrertng  der  Zinanerlcate  fai  Ben  vom  Sommer  1899  findet 
sirh  der  Satz:  ^Die  UebcKiDkaBft  wird  al»  Or t8gebr«iic1i  erkICrt  und  bleibt  bis 
Ende  1903  in  Kraft*". 


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86  Philipp  Lotmar. 

oder  anfan<:jliche  Genehini|rung  am  Abüchlul's  des  Tarilx'crtrags  be- 
teiligt hat.  Dieser  ist  —  wie  später  zu  erörtern  —  '^\e\ch  dem 
Selbstkontrahenten  an  den  Tarifvertrag  gebunden,  kann  keinen  %'on 
demselben  abweichenden  Arbcilsx'ertra;.;  eingehen. 

Angesichts  dieses  Unterschieds  ist  es  wichlifj^  ob  einer  ^ich 
am  Abschlufs  eines  Tarifverlra^rs  beleiU^'t  hat,  oder  nur  ohnedies 
dabei  vertreten  worden  ist.  Hei  den  Arbeit},'ef)ern  ist  dic^  '^'ewohn- 
hch  leicht  zu  entscheiden,  weil  hier  die  \'nI]machtL;Ll)er  Ii  du  iduell 
hervorzutreten  ptlcj^'cn.  IVberdies  ist  l)ei  den  Arl)eit;4eberf  die 
ausdrückliche  Cicfu-hini  nin^  durch  Beitritt  das  (iewöliiiliciie.M 
.Anders  bei  den  Arbeitnehmern:  ihre  Zahl  ist  viel  grölscr  und  die 
Stcllunj;  des  einzelnen  zum  ah/uschlietsenden  Tarifvertra-^^  wenitjcr 
deutlicli  erkennbar.  Allein  die  .Arbeitnchtner  sind  au(^li  weni^-er 
geneigt,  bei  Schliefsung  ihrer  Arbeitsverträge  von  einem  larifvei  - 
trag  abzuweichen.  Wenn  ihnen  ein  Tarifvertrag  milsbchagt ,  so 
trachten  sie  ihn  aufiuheben,  oder  abzuändern.  — 

Unsere  Annahme  voUmachtloser  Vertretung  beim  AbschluCs 
des  Tarüvertrags  mit  der  komplementären  nachträglichen  Genehmi- 
gung fulst  auf  den  wirklichen  Vorgängen  und  setzt  diese  mit  der 
privatrechtlichen  Theorie  in  Einklang.^)  VertragsofTerten  in  incertam 
personam  sind,  z.  E  von  den  öfTentlichen  Versteigerungen  her,  dem 
Juristen  geläufig.  Aber  hier  bei  den  Tarifverträgen  handelt  es  sich 
nicht  um  Offerten,  sondern  um  Vereinbarungen,  die  sich  auf  in- 

')  Aber  auch  die  stillbchwcijjcmJc  Geaehmigung  durch  V  .;i,ug  o.--.  Tarifver- 
tngs  ist  hier  nichts  Seltenes,  natueotlich  in  Druckereien.  Km  anderes  Beispiel  ia 
Gewerb^ricbt  n,  14.  Dm  Gerieht  bemerkt  richtig,  dafs  die  Putetea  des  Ariieit»» 
▼ertragt  beim  Abtcfalafii  de«  TarifTcrinigs  „veder  als  pektieraade  Teile  hervor- 
getreiea  siad,  aoch  dea  verhaadeladea  lateresseateo  besoadere  Volbaadit  erteilt 
habca".  Das  ritricht  irrt  aber,  weaa  es  die  I.oss.i^d^  de»  Arbeitgeben  vom  Tarif- 
Vettiaf  damit  rcchtfertigea  tn  können  meint,  daf>  icr  .\rbeitßchcr  sich  beim  Tarif» 
vertraj^sächlufs  „nicht  i>ersönlich  verptiicbtet.  soodero  lediglich  da»  VOB  aadetea 
vereinbarte  I*rovi.sorium  befolgt  hat." 

')  Wenn  die  Achtzehnerkommission,  welche  im  laritvcrtrag  lar  da^  Berliner 
Baageverbe  vom  24.  Juni  1899  eingesetzt  worden  ist,  das  riamUdie  Geltuug:>gebiet 
dieses  TWifvertmgs  bestimmt,  iadem  sie  die  Orte  aeaat.  ianerbalb  dcrea  er  zur 
Aaweadaag  konunt,  so  wird  damit  als  feststehend  voraasgesetct,  dafs  jeder  Arbeiter 
oder  Arbeitgel)er,  der  ia  jeaem  Bezirk  eiaea  Banarbeitsverttag  abschliebt,  iha  za  d«a 
Bedingungen  des  Tarifvertrags  abschlicr<it.  auch  wenn  er  für  seine  Person  an  der 
Eingehung  des  Tarifvertnij'S  nicht  Teil  genommen  hat  —  Die  suhiektive  .Aus- 
dehnung eines  Tarifvertrags  andrrt  nicfus  an  seiner  Identität  tur  das  Recht  (oheu 
6.  31  j,  ebenso  wie  ein  Verein  trutz  Eintrittes  neuer  Mitglieder  der  nämliche  bleibt. 


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Die  Taritvcrträgc  xwiM:hcn  Arbeitgebern  und  Arbeitnehmern. 


87 


ccrtae  personae  erstrecken  sollen.  Dieses  Sei  ist,  wenn  man  nicht 
vom  privatrechtlichen  auf  das  Gebiet  des  öffentlichen  Rechts  über- 
treten» den  Tarifvertrag  als  lex  publica  behandeln  will,  nur  erreich- 
bar mit  der  Annahme  vc^machtloser  Vertretui^  und  nachträglicher 
Genehmigung.*)  Die  Erstreckui^  des  Tarifvertrags  auf  Solche,  die 
ihn  nicht  kontrahiert  haben,  ist  in  England,  dem  Vaterland  des 
Tarifvertrags,  gebrauchlich.  Dieser  Gebrauch  befriedigt  ein  prakti- 
sches Bedürfnis,  ohne  sich  um  die  theoretische  Begründung  zu  be- 
mühen. „Wenn  die  vereinigten  Unternelimer  eines  Gewerbes  einen 
Vertn^  mit  einem  Gewerkverein  abschlielsen,  so  wird  die  ^gemein- 
same Satzung  von  den  UnternehTncrn  gewöhnlich  als  selbstver- 
ständlich auf  alle  Arbeiter  ihrer  Fabriken  ausgedehnt,  einerlei  ob 
dieselben  Mitglieder  eines  Gewericvereins  sind  oder  nicht."  Und 
dieser  Gcbraurh  ist  durch  den  ständi*;cn  Sekretär  des  Handels- 
miiii-stcriunis  amtlich  bcstäti}.^t  worden ,  indem  dieser  den  Schieds- 
spruch al);^fab,  „dafs  die  Knt.>cheidungen  der  lokalen  Einigungs- 
kammerii,  wenn  nicht  mit  einer  ausdrücklichen  Bescliränkung  er- 
lassen, in  gleicher  Weise  auf  ( ie\s  erkvereinler  und  Xichtgcwerk- 
vereinler  anzuwenden  wären,  wenn  auch  die  letzteren  keine  vertrag- 
schiiefsende  Taru  1  seien."  *) 

Unsere  Annahme  ist  aber  nicht  blols  in  tlen  Thatsachen  ge- 
gründet, so  dals  die  Erstreckung  ohne  Rücksicht  auf  ihre  Krsj)riets- 
Uchkcit  hingenonnner.  werden  müfste.  Vielmehr  wird  da.^  larit- 
vertragswesen  durch  jene  Ordnunc^  in  niclit  geringem  Mafse  gefördert. 
Wie  schon  bei  der  Koalition  betont  wortlen  ist,  werden  die  Halt- 
barkeit und  die  Wirksamkeit  des  Tarifvertrags  durch  den  persön- 
lichen Um£äng  seiner  Geltung  bestimmt  Indem  nun  die  vollmacht- 
lose Vertretung  mit  nachträglicher  Genehmigung  durch  die  Berufe- 
genossen ,  die  es  angeht,  dem  Tarifvertrag  auf  leichte  Weise  neue 


*)  Leber  diese  ]»rivatrcchtlirhfn  Gebote  setzt  sich  der  Schiedsspruch  df^  Ht- 
lincr  Kinipungsauitcs  hinweg  fSozialc  Praxis  IX,  330 — 334),  wenn  er  den  Tarifver- 
trag fUr  das  Mnurcrgewerbe  vom  24.  Juni  1S99  als  voa  „allea  Axbeitgebcm  des 
MMirafMrcrbtt  in  Barlb  und  dtn  Vorortea,  gleichviel  ob  sl«  iem  Arbditgcfaccbaad* 
Mg^hdftn  oder  akkC  . . .  gescUfluen**  aaiieltt.  Alle  Amt  Aibtilfeber,  toweit  sie 
nicht  adbit  kontmUeit  haben,  «raren  aUerdiap  bei  der  KoMrabienuff  vwtreteo. 
Nidu  Tcrtratcse  Arbeitfeber  koDoten  ainiiienDehr  durch  Beitritt  Tarlfvertragspartel 
gegenüber  den  Arbeitern  werden,  und  wenn  alle  Arbeitgeber  den  Tarifvertrag  ab- 
gochlosscn  hätten,  so  könote  nicht  vun  Beitritt  des  einen  oder  andern  die  Rede  sein. 

^)  Wcbb,  Theorie  und  Praxis  der  eagiischen  Gewerkvereta«  1,  186. 


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88 


Philipp  Lotmmr, 


Interessenten  zufuhrt,  wird  sein  persönlicher  Geltungsumiang  vcr> 
gröfsert. 

VIll.  Rechtswirkung. 

I.  Die  rechtliche  Natur  und  Wirkung  des  Tarifvertrags  konnten 
schon  in  der  bisherigen  Erörterung  desselben,  namentlich  seines 
Inhalts  und  seines  Abschlusses  nicht  unberührt  bleiben,  und  ins- 
besondere bei  der  Vertretung  war  daraufhinzuweisen,  dafs  von  den 
Rechtsfolgen  des  Tarifvertr^s  Personen  betrofTen  werden  können, 
die  an  seinem  Abschlufs  nicht  teil  genommen  haben:  damit  wurde 
der  Eintritt  von  Rechtsfolgen  voraus^'csetzt  Die  nun  anzustellende 
eigene  Untersuchung  der  rechtlichen  Natur  und  Wirkung  des  Tarif- 
vertrags bildet  den  Kern  einer  juristischen  Diskussion  desselben, 
indem  alle  Kr(»rterung  seines  Wesens  und  seines  Zustandekommens 
nur  auf  dem  Grunde  einer  ihm  zukommenden  Rechtswirkung  von 
juristischem  Interesse  ist.  Hätte  man  ihm  solche  Rechtswirkung 
iiht^rh.iupt  ab/usprechen,  so  würden  die  H'L:r<'n/inii^  des  Thal- 
besiandes  inid  die  Methoden  seiner  Vcrw  irklu  liutig  zwar  nicht 
wertlose  (  u  L^a^nstände  litterarischer  HchandluriL,'  <c\u,  aber  sie  wurden 
nicht  auf  dem  IVlde  der  Jurisprudt  '  /  lieL;cn,  sondern  auf  dem  der 
NationalokoiH »nue  oder  dem  der  l'f  liiik. 

Auf  diesen  Standpunkt  hat  >icli  wiederholt  Brentano  .^c-tellt, 
4ndem  er  die  heutitye  Unverhindlichkeit  der  Tarifverträge  anueluiiend 
zur  Beseitigung  jener  L  nvcrbiadlichkeit  und  zur  Legalisierung  dieser 
Verträge  folgende  gesetzgeberische  Vorschläge  macht. ' )  Vorab 
befürwortet  er  die  Aufhebung  von  Gew.O.  >i  152  Abs.  2,  weil  diese 
Bestimmung  „eine  vertragsmäfsige  Verpflichtung  zur  Beachtung  der 
von  Organisationen  von  Arbeitgebern  und  Arbeitern  für  ihre  Mit- 
glieder vereinbarten  Arbeitsbedingungen  unmöglich  macht"  Allein 
die  durch  Gew.O.  §  152  Abs.  2  zivilrechtlich  reprobierten  Koali- 
tionen sind  Verträge  der  Arbeiter  mit  einander  und  der  Arbeit- 
geber mit  einander,  während  die  Tarifverträge  Verträge  von  Ar- 
beitern mit  Arbeitgebern  sind.  Die  Unklagbarkeit  der  Koalitionen, 
aus  denen  Tarifverträge  hervorgehen,  hindert  zwar  die  Klage  der 
Koalierten  gegen  den  Parteigenossen,  der  den  Tarifvertrag  ge- 
brochen hat,  nicht  aber  auch  eine  Aktion  von  Seiten  des  Gegners. 
Und  gerade  die  Rechtswirkui^  unter  den  Parteien  des  Tarif- 

'(  Srhriften  .les  Vereins  lur      i.:iiilpaUük  Bd.  47,  S.  I29.    äouale  Pnxis  VIII, 
130b  und  ReaKiiuu  ouer  Kcfortu.-  ^.  60. 


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Die  TMifVcmige  «wischen  Aibdigebem  und  Arbdtnelimcni. 


Vertrags  hat  man  im  Auge,  wenn  man  die  juristische  Frage  nach 
seiner  Wirksamkeit  stellt  Diese  Rechtswirkung  ist  möglich, 
auch  wenn  die  Mehrheit,  aus  der  ein  Kontrahent  besteht,  d.  h.  die 

aus  einer  Mchrlult  von  Kontrahenten  bestehende  Vertragspartei 
nicht  durch  ein  Rechtsband  zusammengehalten  wird  Und  noch 
weniger  ist  es  erforderlich,  dais  die  Mehreren  ein  einziges  Rechts- 
subjekt bilden. 

Weiler  verlangt  Brentano,  dafs  Gew.O.  §  105  folgenden  zweiten 
Absatz  erhalte :  „Eine  solche  Utbereinkunft  kann  nicht  blofs  zwischen 
einzelnen  ( iewerbetrcibcndcn  inul  einzelnen  Arbeitern,  sondern  auch 
zwischen  einzelnen  (gewerbetreibenden  oder  Korporationen  von  Ge- 
werbetreibenden und  Korporationen  von  Arbeitern  rechtsverbindlich 
abgeschlossen  werden."  Allein  schon  durch  den  gelletuien  §  105 
der  (lew.O.  wird  die  Rechtswirkung  des  Tarifxertrags  nicht  aus- 
geschlossen, und  es  könnte  eine  Beschränkung  der  ihm  bereits  heute 
zukommenden  Wirksamkeit  bedeuten,  wenn  man  eigens  die  \\  irk- 
.samkeit  derjenigen  Tarifverträge  festsetzen  würde,  an  denen  eine 
Korporation  mitgewirkt  hat.  Aehnliches  ist  einzuwenden  auch 
gegen  den  weiteren  Vorschlag,  dem  §  105  folgenden  dritten  Absatz 
anzulügen:  „Wo  immer  eine  Korporation  von  Arbei^ebem  oder 
Arbeitern  die  Arbeitsbedingungen  für  ihre  Mitglieder  vereinbart, 
haftet  das  Korporationsvermögen  fiir  die  Erfüllung  dieser  Arbeits- 
bedingungen seitens  ihrer  einzelnen  Mitglieder.^  Die  Haftung  des 
Korporationsvermögens  ist  nicht  brauchbar,  wo  gar  keine  Korpoca- 
tion  kontrahiert  hat,  und  die  Kontrahierung  durch  eine  Korporation 
ist  dem  Tarifvertrag  nicht  wesentlich.  Auch  giebt  es  wichtige  Be- 
Stimmungen  von  Tarifverträgen,  deren  Einhaltung  durch  Haftung 
eines  Korporationsvermögens  schwerlich  garantiert  wird,  namentlich 
die  Bestimmungen  über  die  Arbeitszeit;  es  sei  denn,  dafs  bei  jener 
Haftung  an  die  Sicherung  einer  Konventionalstrafe  gedacht  ist. 

II.  Die  rechtliche  Natur  des  Tarifvertrags  wird  zweifellos  durch 
die  rechtliche  Wirkung  bestimmt,  die  sich  an  ihn  knüpft.  Indessen 
seine  rechtliche  Natur  im  allgemeinen  und  sein  V^erhältnis  zu  anderen 
juristischen  Thatbeständcn  lassen  sich  schon  vor  näherem  Eingehen 
auf  die  ihm  positiv  zukommende  Rechtswirkung  darlegen,  teils  an 
der  Hand  der  f.iktischen  X'orgäiige,  ilie  das  Leben  bietet,  teils  durch 
X'ergleichunt:  niit  juristischen  Thatbeständcn,  deren  rechtliche  Natur 
feststeht,  ancrkanrU  ist. 

Im  allgemeis  ea  besteht  die  rechtliche  Natur  des  Tarifvertrages 
darin,  dais  er  ein  privatrechtlicher  Vertrag  ist.    Er  unlcrtuilt  der 


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90 


Philipp  Lotmsr, 


Veitragsdefinition,  die  der  -angesehenste  Zivilist  des  neunzehnten 
Jahrhunderts»  Savigny»  mit  den  folgenden  Worten  gegeben  hat:^) 
„Vertrag  ist  die  Vereinigung  mehrerer  zu  einer  übereinstinunenden 

Willenserklärung,  wodurch  ihre  Rechtsi'erhältnisse  bestimmt  werden.* 
Dafs  der  Tarifvertrag;  eine  Vereinigung  mehrerer  zu  einer  überein- 
stimmenden Willenserklärung  ist,  lehren  die  bisher  vorgeführten 
Fälle  von  Tarifverträ,;M  ii  zur  Genüge.  l'nd  dals  jene  Willens- 
erldarung  die  Rechtsveri)ällnis>e  ihrer  Urheber  bestimmen  soll,  geht 
aus  dem  im  III.  Abschnitt  betrachteten  Inh.ill  der  Tarifverträge  her\'or. 
Ob  und  wie  es  wirklich  der  Fall  ist,  wird  in  der  holge  näher  zu  zeigen 
sein.  Hier  mochten  wir  tiarauf  liinwe  iM  n,  dals  die  Heteiligtei:  -selber 
ihrem  larifvertrag  Recht^wirkuiiL:  1  »iMine>>cii,  dals  sie  ihn  unter  den 
Schutz  dcN  Rechts  zu  stellen  überzeugt  und  gewillt -)  inul  keuu-Nw  egs 
gemeint  situl,  nur  eine  moralisch  verpflichtende  L  ebcreinkunft  ins 
Leben  zu  rufen.  Der  Tarif\ertrag  untersteht  daher  den  im  B.O.B. 
§§  145 — 155,  157  über  X'erträge  gegebenen  Regeln. 

Das  Obwalten  jener  Reclit^üborzcugung  lälst  sich  au.>  dem  Zu» 
sanuncntrcffen  folgender  Kr>cheinungen  entnehmen. 

Wo  Arbeitgeber  und  Arbeitnehmer  auf  den  AbschluCs  eines 
Tarifvertrags  ausgehen,  finden  wir  ne  auf  die  Legitimation  des 
Mijtkontrahenten  bedacht  Es  soll  der  Beteiligte  selbst  oder  sein 
Vertreter  sein,  dem  der  Kontrahent  sich  verpflichtet»  oder  den  der 
Kontrahent  obligiert  Wäre  es  nur  auf  B^rründung  einer  Gewissens- 
pflicht abgesehen,  deren  EHuUung  von  der  Gewissenhaftigkeit  allein 
abhangt,  so  brauchte  auf  die  Legitimation  weniger  Gewicht  gelegt 
zu  werden.*) 

*)  System  des  beuliffeii  ratschen  Rechu  III«  309. 

^  Abgeseheo  dSMrlidl  von  Mentalreservation,  die  nach  der  Ueberxeugung  des 
Berliner  Gewerhegrriclits  ..einer  grofsen  .N!<-lir-':ihl  d<-r  Konfektionärp^.  die  den  Tarif- 
vertrag vom  10  1-fhniar  iSt>0  fjehrochon  liiib'Mi,  zti/u:schrr ib.'n  ist.  itidftii  es  ihnen 
bei  ihren  ^.den  Arbeitnehmern  gemachten  Zugctandnissen  nur  um  eine  Bcileguag 
des  ihnen  in  der  Hochsaison  schadenbriDgenden  Strikes  tu  tbun  gewesen  ist.  dafs 
sie  aber  nicht  beabsichtigtea.  an  diesen  Vereiabaraogen  aacb  nach  der  Saison 
festmliattea  . . Gewcrbegericht  I,  78. 

*)  Bei  einer  Lohnbewegung  der  Berliner  Puuer  wurden  die  Forderaagcn  der 
Arbeiter  durch  den  Bund  der  Bau».  Maurer*  und  SSnunenneister  abgelehnt.  Knige 
seiner  Mitglieder  tibeigaben  die  Arbeit  einem  sogen.  Putiermeister  (S.  351  mit  der 
Weisung,  jene  Ford.Tunjen  zu  bewilligen.  Die  Putzer  verweigerten  aber  gleichwuh. 
die  Arbeit,  weil  m<-  b.schlossen  hatten,  nur  die  Unterschrift  (]<-<  B.»u  Herrn  oier 
Maurermeisters  anzuerkennen.    Nur  mit  diesen  Arbeitgebern  wollten  sie  den 


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Die  Tarifverträge  zwiaclK-ii  Arbeitgebern  und  ArbcitnchuR-rn 


9^ 


Ferner  wird  der  Beurkundung  de$ Tarifvertrages  die  Sorg- 
&lt  gewidmet,  die  rechtlich  bindenden  Verträgen  gewidmet  zu 
werden  pflegt,  indem  namentlich  fiir  schriftliche  Fixierung,  Ertei* 
lung  der  Unterschrift  u.  deigL  gesorgt  wird*)  Hierbei  handelt  es 
ach  keineswegs  nur  um  ein  historisches  Interesse,  um  Unterstützung 
des  Gedächtnisses,  sondern  um  nachhalt^c  Xxq^fandung  des  Wortes, 
auf  dessen  Einlösung  der  Empfänger  unter  Hinweis  auf  dio  Urkunde 
und  Handschrift  soll  dringen  können.-)  Dem  gleichen  Zweck  dient 
mitunter  die  Aushängung  des  in  Plakatform  gebrachten  Tarifver- 
trages in  den  Werkstätten  der  Arbeitgeber,  die  ihn  gochlossen 
haben  oder  ihm  beigetreten  sind,  welche  Aushängung  bisweilen 
durch  den  Tarifvertrag  selbst  verabredet  wird.  Auel»  dieses  Plakat 
nj)pellicrt  nicht  etwa  an  das  moralische  Gefühl,  sondern  soll  seinen 
It  liali  als  rechtlich  mafsgcbendcn  innerhalb  der  W'erkstatte  er- 
scheinen lassen,  ebenso  wie  dies  bei  der  in  Fabriken  ausgehängten 
obligatorischen  Arbeitsordnung  der  Fall  ist  (^Gew.Ü.  ^  134a  Abs.  I, 
134  c  Abs.  I,  I34e  Abs.  2). 

Ferner  entspricht  es  der  in  Rede  stellenden  .^uffassunLJ  der 
Paciscentcn,  dafs  sie  ihrem  durch  den  Tarifvertrag  bei,aüi.deteu 
Verhältnis  in  /ahllosen  Fallen  im  Tarifvertrag  selber  eine  Z  e  i  t  - 

Tarifrertng  abMihlierseii,  um  sich  dcsieD  Gdtaog  ftr  die  kAnfkigeo  FftUe  xu  sichern. 
(Vorwirtf  aa  September  1899.) 

')  ^Vegen  des  onter  Vennittlnog  des  Einigungsamtes  vereinharten  Tarifvertragt 
(Gewerbeger ich tsgcsetr  66,  68)  s.  oben  S.  46,  48.  Kommisstonen  der  Berliner 
Töpfermeister  und  ihrer  Gesellen  erscheinen  heim  Gewerl)e'.;ericht .  ^um  dort  den 
von  ihnen  vereinbartet)  Tarif  vor  dem  V'oniuendcn  protokollarücb  festtuicgea** : 
M.  V.  Schulz,  Soziale  Praxis  IX,  214. 

*)  Daher  wird  io  Arbeiter  TcrMnunlongen  darflber  bcriditet,  daft  Arbeitgeber 
wu  Bewill^iwig  der  Fordenuig  bcrdl  aeiea»  aber  llure  Untertchrift  venreigeni,  be- 
•ehloMco,  daft  auf  der  Abgabe  detaelbea  m  bertehen  »el,  nad  die  Meinung  belülmpft, 
dalä  protblioUarische  Fettsetzuagen  beider  Kommissionen  grdlMre  GaiMttie  bieten, 
ab  die  Unterschriften  der  einzelnen  Unternehtner.  (Vorwärts  vom  7.  u  13.  .September 
1899. ^  Auch  von  den  Arbeitgebern  wird  auf  die  Unterschrift  der  Arbeitnehmer 
Gewicht  gelegt.  In  den  TarifvcrliaiKHuußon  zwischen  dein  Verein  der  Importeure 
englischer  Kohlen  und  den  Schauerleutcn  in  Hamburg  wurde  vert-ml  art,  dafs  die 
Arbeiter  eiaea  R«v«n  oaleneichaen.  Zar  B^rtednag  des  Verliiugcn^  nach  dem 
Raveite  hatte  der  Vcftietcr  der  Aibaitgeber  geltend  gemacht:  ^Eiae  Verstiadigung 
aiit  einer  btUeblgea  LohakoauBtssioa  köaae  ihnen  die  gleiche  Sicherheit  nicht  ge- 
wihrea,  da  «ch  die  Arbeiter  aa  die  Bcschlflsae  dieser  Kommisaion  auf  die  Daaer 
doch  nicht  gebundea  halten  wftrdett.*  Protokolle  der  Hnmbargcr  Senatslcommtssioa 
(Hamborg  1898)  S.  114— iiS^ 


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9« 


rhHipp  Lotnar, 


grenze  setzen  fobm  S.  iq).  Diese  W-rtragstlaucr  bildet  einen 
wichtigen  Punkt  der  V'erhandlui^,  eiiu-n  PuTikt,  bei  dem  eine  Kon- 
zession zur  Erlangung  einer  besseren  I.olinhedinf^unfj,  ein  bleibender 
Dissens  zur  Vereitelung  der  Vertra^^^vschliorsuri^'  fuhren  känn.')  Mit 
der  zeitlichen  BcL^^cn/unL^  hängen  detaillierte  Bestimmungen  über 
die  Kündi<^'un<^  des  Tarifvertrags,  über  seine  Revision  und 
Krneucruiii^  /usammen,  wie  vie  nicht  selten  in  Tarifverträgen  anzu- 
treffen sind.  Alle  die>c  uikI  ähnliche  Abreden  über  die  Dauer  des 
V'ertragsv  erhilltinsscs  würden  wenig  Sinn  halben,  werni  die  Urheber 
dieses  X'erhälinis  nicht  als  unter  dem  Kecht»/\vaiig  ^teilend  be- 
trachten würtlen.  Liul  auf  diesem  Stantlpunki  -stehen  auch  die 
Ciegner  \on  Tarifverträjfcii  unter  den  Arbeitern,  wenn  >ie  (he  lang- 
wierige bindung  als  I  liiiderms  bei  der  Ausnutzung  der  Konjunktur 
\ei  klagen. 

Der  vorstehende  Komplex  von  Erscheinungen  ist  vollkommen 
erklärlich,  wenn  die  Parteien  des  Tarifvertrags  einander  rechtlich 
verpflichtet  zu  sein  überzeugt  sind,  während  er  schwer  zu  deuten 
ist,  falls  nur  auf  die  beiderseitige  Gewissenhaftigkeit  gerechnet  sein 
sollte.  Jener  Rechtsüberzeugung  der  Parteien  steht  nun  weder 
Form  noch  Inhalt  des  Tarifvertrags  entgegen,  und  seine  Anerkennung 
durch  das  Recht  ist  mit  der  Auflassung  der  VertragschlteGüenden 
im  Einklang.  Wenn  selbst  die  Annahme,  dafs  dem  Tarifvertrag 
Rechtswirkung  zukomme,  ursprünglich  ung^rründet  gewesen  sein 
sollte,  so  ist  sie  doch  seit  dem  Aufkommen  von  Tarifvertragen  so 
unzahlige  Male  gemacht  und  realisiert  worden,  d.  h.  es  sind  so 
zahllose  Arbeitsvertrage  auf  Grund  von  Tarifverträgen,  in  als  unver- 
meidlich gedachter  X'oU/.ichung  derselben  geschlossen  worden,  dais 
die  Rechtswirksamkeit  des  Tarifvertrags  mindestens  als  Schöpfung 
des  Gewohnheitsrechts  betrachtet  werden  mülste.  Gewifs  sind 
auch  nicht  wenige  Fälle  xorgekommen,  in  denen  man  si(^h  über 
einen  geschlossenen  Tarifvertrag  hinweggesetzt,  ihn  auf  die  eine 
oder  andere  Weise  gebrochen  hat,  ohne  dals  eine  (icgenwirkung 
des  positiven  Rechts  eingetreten  wäre.-)  Aber  einmal  können  diese 

Ernerei  c  B.  b«  der  Tarifverbandlnog  der  Berliner  Weifsgeibcr  (Vorwirft 
29.  Oktober  1899),  Letiterei  i.  B.  bei  der  der  Elberfelder  und  Bemer  Ziminerer 
(Vorwärt«  11.  Juli  1899).    Siehe  auch  Soziale  Praxis  VlII,  736  und  Freese,  Fa^ 

hrik.mtf-n sorgen  S.  24  iniit  Bezug  auf  WerksUtttarife) :  „Ihre  Dauer  ist  immer  2 
Jährt.  \\  :i!ir<  ii(l  tlicser  Zeit  ^ii  tl  ^ir  keiner  willkürlichen  Acndcruog  OOtcrworfeD. 
L>er  Ari>eiler  kann  deshalb  SLint-  Kraft  uii^chind'Tt  rutfaltcn." 

z.  H.  B»ckcr.str)kc  uiid  I'-rüCbu)kuU  iu  iiiiUii>urg  iiu  Jahre  S.  46,  6S. 


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Die  Tarifverträge  twi:>chen  Arbeitgebern  und  Arbeitnehmern. 


93 


Fälle,  so  zahlreich  sie  sein  mögen,  doch  verhältnismälslg  nur  eine 
kleine  Zahl  ausmachen,  da  es  sonst  nicht  geschehen  kSnnte,  dafs 
immer  neue  Tarifverträge  geschlossen  oder  Versuche  zu  ihrem  Ab* 
schlufs  gemacht  werden.  Und  femer  g:iebt  es  genug  Belege  dafür, 
dals  der  Bruch  eines  Tarifvertrags  von  der  dadurch  benachteiligten 
Partei  als  ein  Rechtsbruch,  als  ein  Unrecht  empfunden  wird. 

m.  Um  nun  aber  die  Behauptung,  dals  der  Tarifv'ertrag  ein  rechts- 
wirksamer Vertrag  ist,  nicht  blofs  mit  dem  objektiven  und  subjek- 
tiven Hergang,  sondern  auch  mit  der  juristischen  Natur  seines 
Effekts  zu  begründen,  müssen  wir  seine  Rechtswirkung  im  einzel- 
nen aufzeigen.  Zu  diesem  Ende  wollen  wir  ihn,  nicht  bei  der 
Gattung  Vertrag  stehen  bleibend,  mit  gewissen  anerkannten 
Arten  vergleichen  und  dadurch  seine  Eigenartigkeit  hervortreten 
lassen. 

Vorab  ist  leicht  einzusehen,  dais  der  Tarifvertrag  kein 
Arbeitsvertrag  ist,  so  of^  auch  beide  zusammengeworfen 
werden.  Unter  einem  Arbeitsvertrag  versteht  man  allgemein') 
einen  Vertrag,  in  dem  der  eine  Kontrahent  eine  von  ihm  zu 
leistende  Arbeit  dem  anderen  Kontrahenten,  und  dieser  dem  ersten 
einen  Entgelt  fiir  die  Arbeit  zusagt.  Nun  kann  es  freilich  vor- 
kommen und  konrnit  nicht  selten  dann  vor,  wenn  ausständige 
Arbeiter  Kontrahenten  eines  Tarifvertrags  sind,  dafs  der  Tarifvertrag 
unter  anderen  die  Bestimmung  enthält,  dafs  die  Ausständigen  an 
gewissem  Tage  die  Arbeit  wieder  aufzunehmen  haben,  dafs  sie  also 
im  Tarifvertrag  sich  zu  einer  Arbeit  anheischig  machen.  Allein 
eine  solche  Bestimmung  ist  dem  Tarifvertrag  nicht  wesentlich, 
kann  ihm  fehlen,  fehlt  ihm  oftmals,  fehlt  ihm  immer  dann,  wenn 
die  kontrahierenden  Arbeiter  nirht  ausständig  sind;  und  -  was 
die  Hauptsache  —  eine  solche  Bestimmung  ist  transitorisi-h,  sie 
bezieht  sich  blofs  auf  die  Gegenwart,  auf  die  obwaltenden  Um- 
stände und  auf  bestimmte  I'ersonen  von  Arbeitern.  Der  Tarifver 
trag  nach  seinem  gewöhnlichen,  bleibenden  und  wesentlichen  Inhalt, 
nach  welchem  er  zu  charakterisieren  ist,  ist  kein  Arbeitsv  ertrag  und 
zwar  darum,  weil  tlurch  ihn  niemaiul  zur  .\rl)cii  und  niemantl  zur 
Lohnzahlung  verpflichtet  wird.    Kein  Arbeiter,  der  ihn  abschlielst, 


*)  Der  Andrack  Arbeitsvertiag  ist  wicli  den  GetetMo  nicht  fremd,  wie  Gew.O. 
i  tS3  Abs.  1  Kr.  i,  Nr.  3,  §  124  Kr.  5,  §  134 b  Abi.  t  Nr.  S»  $  (34«  Abs.  3.  In* 
TiIidenTeisichcningsgcaett  $113  Abs.  i  Mr.  3  zeigen.  —  Hier  luuin  nicht  näher  anf 
die  Definition  eingegsngcn  werden. 


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94 


Philipp  l.otmmr. 


geschweifte  denn  einer»  der  ohne  Vollmacht  dabei  vertreten  wird, 
ist  aus  dem  Tarifvertrag  zur  Arbeitsleistung  verbunden,  so 
wenig  wie  ein  Arbeitgeber  aus  dem  Tarifvertrag  zur  Lohn- 
zahlung verbunden  ist.*)  Tarifverträ^^e  werden  sehr  oft  von  einer 
Mehrheit  von  Arbeitern  mit  einer  Mehrheit  \on  Arbeitgebern  ge- 
schlossen :  wenn  nun  damit  für  den  einzelnen  Arbeiter  bezw.  Arbeit- 
geber ein  Arbeitsvertrag  geschlossen  sein  sollte,  so  inüf-te  ersicht- 
lich sein,  welchem  Arbeitgeber  denn  ein  bestimmter  Arbeiter  zur 
Arbeit  verpflichtet  luul  an  welcher  Stätte  er  die  Arbeit  /u  leisten 
habe,  ebenso  wie  ersichtlich  sein  niüNtc,  welcher  -\rl)citgeber  von 
diesem  oder  jenem  Arbeiter  eine  Arbeitsleistung  zu  fordern  habe. 

Man  braurlit  nur  einen  beliebigen  Tarifvertrag  zu  betrachten, 
um  sofort  em/usehen.  ilats  man  tlaran  keinen  Arbeils\ertrag  habe. 
Durch  den  Tarifvertrag  z.  B.,  der  im  August  1898  \or  dem 
Kinigungsamt  in  l'Vankfurt  a.  M.  für  das  Maurergewerl)e  /ir^tanvic 
kam, finden  wir  \ereinbart  die  nurinale  Arbeitszeit,  die  Höhe  des 
Stundenlohnes,  die  Kinschrinikung  der  1  elierarbeil,  die  Löhfmng  der 
Ueberstunden ,  die  Abschaffung  der  Akkordarl)eit,  die  nicht  vom 
Arbeitnehmer  gewünscht  wird,  die  Lieferung  gewisser  Werkzeuge 
durch  den  Arbeitgeber,  die  Lohnzahlungszeit,  das  Ende  der  Aibeit 
vor  Sonn*  und  Feiertagen,  die  Ktindigung,  den  Ausschlufs  von  Ma(s> 
regelungen  und  die  künftige  Verhandlung  über  einen  Arbeits- 
nachweis. Man  sieht  ohne  weiteres,  dafs  eine  solche  Vereinbarung 
kein  Arbeitsvertrag  ist,  dafs  durch  dieselbe  nicht  wie  durch  einen 
Arbeitsvertrag  der  Arbeiter  A  verbunden  ist,  sich  an  einem  be- 
stimmten Tage  zu  gewisser  Stunde  beim  Arbeitgeber  B  auf  dessen 
Bauplatz  N  zu  stellen,  um  Maurerarbeit  zu  leisten. 

Der  Tarifvertrag,  der  kein  Arbeitsvertrag  ist,  ist  auch  kein 

')  Der  Tarifvertrag  ist  kein  Arheitivertrag  und  hat  auch  niclu  dir  Hcdcatung 
eine«  "lolchrn.  weiJcr  ü1>erh:uipt,  uitch  im  einrrlncn  Fall.  Unrichtit;  ist  die  pfijen- 
Icilijji-  I>hau]jtui»g  eines  siuldcutPchrn  ( ;t-\\erl)f.;.Ti<'hf<5 .  „Kur  jedfr,  Kinzfllall  hat 
aber  der  Tarif  (sc.  der  Buctidruckcr}  lediglich  die  Bedeutung  cinc^  Ark>citsver- 
trages..."  (Gew«ri>egerie!it  IV,  50./  Ei  iit  «»begreiflich,  wie  etwas,  das  Inia 
Arbeitsvertrag  ist,  die  Bedeatnog  eines  soldien  haben  kann.  —  Mit  Bezug  anf  Tarif» 
Verträge  fordert  Brentano,  Sociale  Pnuis  VIII,  1367,  das  Recht  »olle  anerfcennan, 
»was  thatsSdilidi  ist.  ninlich  dnfi  es  die  OrganisationeB  beider  Inttwssenten  amd, 
welche  fÖr  ihre  Mitglieder  den  Arbeittrertrag  abschlicfscn."  Allein  den  Arbeits- 
vertrag. aii<;  dem  der  Kontrahent  arbeits-  resp.  löhnvngspäichtig  wirdt  schliefst 
jedes  Mitj^Iifil  für  sich  ab. 

*)  Gcwerbcgericht  IV,  28. 


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Die  Tarifverträge  zwischen  Arbeitgebern  und  Arbeiinchiurra. 


95 


»korporativer"  oder  „kollektiver  Arbeitsvertrag",  obwohl  er  mit* 
unter  so  genannt  wird.')  Mit  „kollektivem  Arbeitsvertrag"  könnte 
man  bezeichnen  die  Mehrheit  von  Arbeitsverträgen,  die  gleichzeitig 
von  mehreren  Arbeitnehmern  mit  einem  Arbeitgeber,*)  oder  von 
mehreren  Arbeitgebern  mit  einem  Arbeitnehmer  abgeschlossen 
werden.*)  Was  aber,  wie  der  Tarifvertrag,  kein  Arbeitsvertrag  ist, 
kann  nicht  mit  einem  auf  eine  Mehrheit  von  Arbeitsverträgen 
passenden  Xamen  bezeichnet  werden. 

Der  Tarifvertrag  ist  ferner  kein  Vorvertrag  zu  einem 
Arbeitsvertrag  oder  zu  Arbeitsverträ<::en,  überhaupt  kein  Vorvertrag 
im  rezipierten  Sinne  des  Wortes.  Durch  den  Vorvertrag  wird  ein 
Kontrahent  oder  werden  beide  Kontrahenten  zum  Abschluls  des 
HauptvertraLrs  verbunden,  hier  eines  Arbeitsvertrags.  Xun  kann  es 
zwar  vorkoiTimen.  dals  im  Zusammenhang  mit  rarifvertragsvcrliatid- 
Uui^'cn  Arbeiter  entlassen  werilcn  —  indem  z.  R.  solche  Entlassung 
.■\nlais  einer  Arbeitsniederlegung  wurde,  oder  im  Gefolge  der 
letzteren  stattfand  —  und  <laraufhin  in  den  Tarifvertrag  eine  Be- 
.stimmung  aufgenommen  wird ,  ilafs  die  Kntlasscncn  wieder  anzu- 
stellen sind,  welche  Bcstimnuing  einen  X'urvertrag  zu  Arbeitsv  erträgen 
mit  tlen  Entlassenen  bildet.  Allein  eine  solche  Be>linnnung  ist 
nur  transitorischcr  Natur  8.212),  betriftt  nur  individuell  bestinnnte 
Arbeiter,  die  entlassenen,  hat  nichts  mit  dem  wesentlichen  Inhalt 
des  Tarifvertrags  zu  thun,  regelt  nicht  die  Bedingungen  künftiger 
Arbeitsverträge.  Abgesehen  von  solcher  acddenteller  Bestimmung 
wird  durdi  den  Tarifvertrag  iiir  keine  Partei  desselben  eine  Ver- 
bindlichkeit zur  Eingehung  von  Arbeitsverträgen  begründet  Der 
am  Tarifvertrag  teil  nehmende  Arbeitgeber  ist  hierin  rechtlich 
völlig  frei,  er  braucht  weder  die  mit  ihm  kontrahierenden  noch 
andere  vom  Tarift^ertrag  betroffene  Arbeiter  anzustellen,  und  er  hat 
dazu  auch  keinen  Anlafs,  lalls  es  ihm  an  Gelegenheit  zur  Beschäf- 
tigung fehlt  Und  andererseits  sind  die  am  Tarifvertrag  teilnehmen- 
den  Arbeiter  rechtlich  völlig  frei,  ihre  Arbeitskraft  ihrem  Mitkontra- 
henten oder  einem  Dritten  oder  niemanden  zur  VeHUgung  ZU  stellen. 
Es  hat  keine  Partei  mit  dem  Tarifvertrag  einen  Vorvertrag  zu  Arbeits- 

*)  t,  B.  von  Cree  fo  Wold  Zeitschrift  fftr  SocialwisseniclMft  II,  356,  357. 
/..  B.  ein  Landwirt  dingt  aaf  einmal  50  Schnitter,  ein  Gastwirt  Mitigiert 
30  Mosiker.  die  ein  Orchester  bilden. 

^)  z.  B.  6  junge  Kauflcute  engagieren  einen  Lehrer  der  Bnchhaltang  oder  der 
italienischen  Sprache,  zehn  Mädchen  einen  Tanxlchrer. 


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96 


Philipp  Lotmar, 


vertragen  geschlossen:  das  Ob  der  Eingehung  von  Arbeitsverträgen 
bleibt  den  in  Betracht  kommenden  Personen  nach  wie  vor  anheim- 
gestellt. Eine  Aehnlichkeit  zwischen  dem  Tarifvertrag  und  einem 
solchen  \'orvertrafj  l)fstelit  nur  darin,  dafs  sich  beide  auf  künftige 
Arbeitsverträge  beziehen.*) 

Der  Tarifvertrag  ist  endlich  kein  Vergleich»  obwohl  er 
nicht  selten  so  genannt  wird,  besonders  dann  so  genannt  wird, 
wenn  er  unter  Vermittlung  fies  Kinigungsamtes  geschlossen  \v<irilen 
ist.  Da  er  kein  V^ergteich  ist ,  kann  es  irre  fuhren ,  ihn  fälsrhlich 
Vergleich  zu  nennen.  Was  ein  Wrgleich  ist,  und  was  danach  allein 
Veigleich  heifsen  sollte,  ist  durch  LeL^alii'  !!!  ition  fc-^t .gesetzt.  Denn 
CS  sagt  B.Ci.B.  §  779:  ,Jiin  Vertrag,',  durch  den  iler  Streit  oder  die 
Unpewifsheit  der  Parteien  über  ein  Rechtsverhältnis  im  We^e  ^jejj;en- 
seitigen  NachL,fchcn<  beseitij^t  wird  (\'er<^leich) . . Der  \'er<^lcich  hat 
danarh  mit  dem  I  arifvertrag  gemein,  dafs  er  wie  dit-ser  ein  Wrtra^  i^t. 
Ferner  dals  das  „geij«'nsfiti*^e  Naclv^eben  '  der  Parteien,  das  dem  \'er- 
gleich  wesentlich  ist,  auch  beim  Tarifvertrag  vorkommen  kann 
(oben  S.  46  Anm.  4).  Aber  es  ist  dem  Tarifvertrag  nicht  wcst  ntlich. 
h.in  l  arifx  ertrai^  kann  ohne  «^etTenseitiges  Nachgeben  abgeschlossen 
werden,  indem  die  \on  l  inor  Partei  der  anderen  gemachte  \'ertrag>- 
proposition  \'on  der  letzteren  ohne  weiieio  a!i;;enommen.  oder  in- 
dem auch  von  der  letzteren  eine  oder  die  andere  Bestimmung  pro- 
poniert  und  von  der  ersteren  angenommen  wird,  ohne  dafs  man 
von  Nachgiebigkeit  der  ersteren  reden  könnte.  Femer  bildet  das 
gegenseitige  Nachgeben  einen  Bestandteil  des  Vergleichs,  es 
wird  im  Vergleich  nachgegeben,  die  Parteien  vergleichen  sich,  in- 
dem sie  einander  nachgeben,  inrährend  ein  beim  Tarifk'ertrag  etwa 
vorkommendes  Nachgeben  nicht  einen  Bestandteil  desselben, 
sondern  nur  eine  fektische  Voraussetzung  seines  Zustande- 
kommens ausmacht;  ebenso  wie  beim  Kauf  oder  bei  der  Miete  ein 
gegenseitiges  Nachgeben  vorkommen  kann,  ohne  dafs  darum  ein 
Vergleich  gegeben  ist  Der  Tarif\'ertrag  unterscheidet  sich  vom 
Vergleich  weiter  noch  dadurch,  dals  der  Vergleich  den  ,3treit  oder 


')  Weit  abwegiger  ist  e«.  wenn  das  Berliner  Geverbegericht  in  einem  Tarif» 
vertrag  erbticlct  „lediglich  eine  Offerte  der  Arbeitgeber  ao  die  Arbeitaehmer,  aaf 
Gnindlage  der  darin  aufgenommenen  Be<itimmungi*n  fernerhin  und  bis  auf  weiteres 
Arbeitsverträge  SChliefsen  zu  wollen."  So  «pricllt  sicli  !  i>  r.erii-ht  ulier  einen  Tarif- 
vertrag aus.  der  vor  dem  F.inipiins«3mt  „von  einer  Anzahl  Vertreter  der  .A!-H<MtgL'l>er. 
Arbeitnehmer  und  Zwischeomcister  vereinbart  worden"  ist.  Gewerbegericht  Ii,  I4. 


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Ok  Tarifverträge  zwischen  Arbeitgebern  udU  Arbcitnchatem. 


97 


die  Ungewißheit  der  Farteien  über  ein  Rechtsverhältnis  beseitigt", 
was  vom  TarifV'ertrag  nicht  gesagt  werden  kann.  Ein  Streit  oder 
eine  Ungewifsheit,  die  sollen  beseitigt  werden  können,  müssen  vor- 
handen sein.  Ein  Tarifvertrag  aber  kann  geschlossen  werden, 
ohne  dafs  ein  Streit  oder  eine  Ungewifsheit  vorhanden  ist;  er  kann 
im  tiefeten  Frieden  und  bei  voller  Gewifsheit  geschlossen  werden. 
Femer  beziehen  ach  der  Streit  der  Parteien  über  ein  Rechtsver- 
hältnis wie  die  Ungewifeheit  der  Parteien  über  ein  Rechtsverhältnis 
auf  ein  bestehendes  oder  von  den  Parteien  als  bestehend  vorge* 
Stentes  Rechtsverhältnis,  indem  dessen  Dasein,  Ursprunp^,  Umfeng, 
Dauer,  Kr«j^icbigk«t  U.  S.  w,  streiti|^  oder  ungewifs  sind.  Davon  ist 
beim  Tarifvertrag  nicht  die  Rede,  jedenfalls  wenn  wir  von  transi- 
torischen,  accidentellen  Bestimmungen  ah>ehcn  und,  wie  natürlich, 
den  i^lcibcnden,  regelmärsigen,  wesentlichen  Inhalt  im  Auge  haben, 
fiicr  haben  es  die  Kontrahenten  nicht  mit  einem  bestehenden 
Rechtsverhältnis,  sondern  mit  künftigen  zu  thun.  nämlich  mit  den- 
jenigen, die  durch  künftig  al)/.usrhlicrsendc  Arbcit>vcrträi;r  begründet 
werden.  Durch  den  X'erglcich  wie  durch  den  lariherirag  wird 
zwischen  den  Paeisceiiteti  ein  Rerhls\  erhältnis  i^cschalVcn :  wäiireiid 
dieses  aber  bei  dem  X'ergleich  eines  ist ,  das  an  die  Stelle  eines 
bisher  bestrittenen  oder  unj^ewis^en  tritt,  ist  es  beim  Tanfvertrn;:; 
ein  neues,  dem  weder  ein  bestrittenes,  nocii  ein  ungewisses  voraus- 
gegangen zu  sein  braucht. 

IV,  Wir  haben  bisher  das  Xegative  gesehen,  dafs  der  Tarifvertrag 
weder  für  einen  Arbeitsvertrag,  noch  für  einen  X'orvertrag  zu  einem 
solchen,  noch  für  einen  \'ergleich  gehalten  werden  kann.  Welche 
rechtliche  Natur  er  positiv  besitzt,  wäre  leichter  zu  sagen,  wenn 
nicht  die  mebten  Tarifverträge  von  kompliziertem  Inhalt  wären. 
Indessen  lassen  sich  die  hieraus  folgenden  Schwierigkeiten  mit  Hilfe 
eines  Unterschiedes  in  den  Bestimmungen  des  Tarifvertrags  über- 
winden, den  wir  oben  wahrgenommen  haben.  Es  hat  sich  (unter 
,Jnhalt*  S.  38/29)  gezeigt,  dafs  die  meisten  und  die  für  Arbeitgeber 
und  Arbeiter  wichtigsten  Bestimmungen  die  Lohn-  und  Arbeits- 
bedingungen im  engeren  Sinn  sind.  Nach  einigen  von  ihnen 
führt  er  den  Namen  Tarifvertrag,  sie  alle  und  sie  allein  machen 
seinen  wesentlichen  Inhalt  aus.  Ihnen  stehen  diejenigen  gegen- 
über, die  /war  oft  in  larifv ertragen  vorkommen,  aber  dem  Farif- 
vertra;^  fehlen  können,  während  sie  sich  nur  zur  Aufnahme  in  einen 
solchen  und  nicht  in  einen  Arbeitsvertrag  eignen.  Da  sie  nur  in 
diesem  Negativen  übereinkommen  und  einer  gemeinsamen  Rechts- 

ArduT  fiir  ans.  GcMtigcbwog  n.  Suti»iik.  XV.  7 


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^  Philipp  (.Otmar, 

Wirkung  entraten,  so  können  sie  fiir  die  rechtliche  Chatakterbierung 
des  Tarifvertrags  nicht  marsgebend  sein,  wenn  auch  ihre  Wirkung 

nicht  über«^'aii«,'en  worden  darf. 

Dil?  rechtliche  Natur  iK  s  Tarifvertrags  besteht  nun  darin,  dais 
die  dem  Tarifvertrag  wie  dem  Arbeitsvertrag  wesentlichen  Lohn-  und 
Arbcitsbedinguni^'en  (i.  e.  S.)  im  Tarif\ ertrag  generell  vereinbart 
werden.  Sie  könnten  von  jedem  Arl)eii*^ober  untl  Arbeitnehmer, 
der  am  Abschlms  des  I  arifvertraj^s  teil  ;^'enoininen  oder  den  Tarif- 
vertrag^ «^enehniij^'t  hat,  im  A  r  l)  e  i  t  s  \  ertra;^  (al>o  sj^e/iell)  fest^a-^rt/t 
werdet! .  wie  die:>  in  T-rman^a-lun,.'  eines  Tarifvertrai^s  '^'emMiehen 
müfste.  Allein  ihre  Testset/nn^  im  1  a  r  i  f  \  erira;^'  hat  die  lol^e  — 
und  d'es  ist  eine  R  e  c  Ii  t  s  \v  i  r  k  u  n  des  Tarifvertrages  — 
dats  sie  auch  nliiu  ^"est^et/.l^l^  im  Arbeits\ ertra»;  dennoch  als  Be- 
standteile des-elbeii  liir  das  Arl>eits\  erhaltnis  L^elten,  tlals  sie  von 
den  I'aciscenteii  tks  Arbeitsv  ertra^'s  in  diesen  nicht  erst  auf^a'nommcn 
zu  werden  brauchen,  weil  sie  kraft  des  für  ilie  r.icisccnten  \erbind- 
lichen  Tarifvertrags  ohne  weiteres  Bestandteile  ihres  Arbeits- 
vertrages sind.  Bei  Ein^ahun^^  des  Arbeitsvertrags  stehen  der 
Arbeitgeber  und  der  Arbeitnehmer  sich  einzeln  oder  als  Ein* 
zelne  ^agenüber,  sie  haben  aber  nicht  erst  das  zwischen  ihnen  zu 
begründende  Arbeitsverhältnis  in  Ansehung  der  Ix>hn-  und  Arbeits* 
bedingungen  zu  regeln,  \nelmehr  empfangt  ohne  ihr  Zuthun  dieses 
Arbeitsverhältnis  eine  durch  den  Tarifvertrag  gegebene  R^lung, 
also  eine  R^elung,  die  von  einer  Mehrheit  von  Arbeitnehmern 
oder  auch  von  Arbeitgebern  bereits  getroffen  worden  ist 

Der  Tarifvertrag  erweist  sich  insoweit  erstens  als  ein  Mittel, 
den  Abschlufs  von  Arbeitsverträgen  zu  erleichtern  oder  ab- 
zukürzen, indem  er  den  Urhebern  des  Arbeitsvertra-^s  eine  Rege- 
lung erspart,  die  ein  iiir  allemal  im  voraus  (ur  die  Arbeitsverträge 
der  Beteiligten  getroffen  worden  ist;  zweitens  als  ein  Mittel  die 
Arbeitsverträge  einander  gleich  zu  machen,  indem  er  auch  ohne 
hierauf  gerichtete  Bemühung  der  Urheber  von  Arbeitsverträgen 
diesen  Arbeitsverträgen  die  gleichen  Lohn-  und  Arbeitsbedingungen 
einverleibt;  und  drittens  als  ein  Mittel,  dem  Arl>eitsvertrag  zweier 
Individuen  auch  ohne  ihr  Zuthun  diejenige  Regelung  /u  geben, 
über  welche  sich  ihre  1' e  r  u  f  s  g  e  n  o  s  s  e  n  geeinigt  haben,  also  dals 
ilie  Kunlrahenten  >  Ariicilsvertrags  sicher  sein  können,  bei  ihrem 
individuellen  Vertrag  mit  den  Interessen  in  Einklang  geblieben  zu 
sein,  ilie  von  den  am  Tarifvertrag  beteiligten  Mehrheiten  ver- 


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« 

Die  Tarifvertrige  zwischen  ArbeHgebern  und  Arbeitnebfncm. 


99 


treten  w  iir(U  t)  -    Interessen  ilcr  einen  Partei  gegenüber  der  anderen 
und  *,fcmciiisainc  Interessen  «1er  P.'irteiL;enosscn. 

Die  erste,  im  \'orstehenderi  bespruohcne  Rechtswirkuii^f  des  • 
Tarifvertrags  ist  all|^cmein  anerkannt.  Was  die  Lohnbedin^uni^  im 
engsten  Sinn  anlangt,  nämlich  die  Hohe  des  Lohnes  oder  der 
Vergütung,  so  verfugt  für  Dienstverträge,  Wericverträge  und  Mäkler- 
verträge das  B,G3,  in  §§  612,  633,  653:  Jst  die  Höhe  der  Ver- 
gütung nicht  bestimmt,  so  ist  bei  dem  Bestehen  einer  Taxe  die 
taxmäfsige  Vergütung  (der  taxmäfsige  Lohn)  .  ;  .  als  vereinbart 
anzusehen".  Die  Worte  „ist  nicht  bestimmt''  besagen,  dafe  von  den 
Parteien  im  Vertrag  nicht  bestimmt  worden  ist  Das  ,3cstehen 
einer  Taxe"  kann  auch  von  Privatpersonen  und  von  ihrer  Verein- 
barung  herrühren  d.  h.  ein  Tari^ertrag  von  Arbeitgebern  und 
Arbeitern  sein. 

Die  ang^ebene  Rechtswirkung  des  Tarifvertrags  läfst  ihn 
als  einen  Vertrag  sui  generis  erscheinen.  Aber  nicht  darin 
ist  er  liinsichtlich  jener  Wirkung  eigenartig,  daCs  er  die  Personen, 
für  die  er  gilt,  nicht  zu  Leistungen  einander  verbindhch  macht, 
da  derartiges  auch  bei  anderen  X'erträgen  vorkommt  (z.  R.  bei 
manchem  Vergleich,  der  Kigentumsübertragung,  dem  Erlafsvertrag) ; 
wolil  aber  darin,  dafs  er  jene  Wirkung  nicht  ohne  weiteres,  sondern 
nur  unter  der  VoraussetzuiiL:  des  Absclilusses  eines  anderen  Ver- 
trags, nämlich  eines  Arbeitsvertrags  zu  aulseru  vermag. 

V.  Indessen  konmil  dem  Tarifvertrag  nuch  eine  zw  e  i  t  e  K  e  c  h  t  s  - 
wirk  Ving  zu,  tlic  ilui  anderen  X'erträgen  annähert.  Mit  dem  Ab- 
;>chlui,s  (»der  der  Genelunigung  eines  Tarifvertrags  sagen  die  hier- 
durch von  ihm  betroffenen  Arbeiter  und  Arbeitgeber  (die  Parteien) 
einander  zu,  im  Geltungsbereich  des  Tarifvertrags 
keinen  Arbeitsvertrag  a  b  z  u  s  c  h  1  i  e  1  s  e  n  zu  anderen  Be- 
dingungen als  den  im  Tarifvertrag  festgesetzten.  Aus 
dieser  Zusage  werden  die  Parteien  gegen  einander  berechtigt  und 
verpflichtet,  in  jenem  Bezirk  nur  tarifmäfsige  Arbeitsverträge  abzu- 
schliefsen.  Dies  kann  jedoch  unbedingt  nur  gelten,  wenn  ein  vom 
Tariivertr^  betroffener  Arbeitgeber  mit  ebensolchem  Arbdter  kon* 
trabiert.  Gegenüber  dem  aufsen  stehenden  Arbeitgeber  hat  der  dem 
Tarifvertrag  unterworfene  Arbeiter  kein  Recht  auf  Einhaltung  des 
Tarifvertrags.  Er  kann  daher  auch  nicht  aus  dem  Tarifvertrag  ver- 
pflichtet  sein,  mit  dem  aulsenstehenden  Arbeitgeber  nur  zu  den 
tariimätsigen  Bedingungen  zu  kontrahieren  und  sich  jeden  ab- 
*  weichenden  Arbeitskontrakts  mit  demselben  zu  enthalten,  sondern 

7* 


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lOO 


i'  h  1 1 1  p  p  L  u  l  m  a  r , 


blo(s  dazu,  einen  solchen  Kontrakt  nur  dann  zu  schUe(sen,  wenn  er 
die  tarifmafsigen  Bedingungen  nicht  zu  erlangen  vermag.  Das  Näm- 
liche gilt  vom  Arbeitgeber,  der  dem  Tarifvertrag  unterworfen  ist, 
gegenüber  einem  aulsenstehenden  Arbeiter. 

An  der  Erfüllung  jener  Zusage  oder  an  der  Einhaltung  des 
Tarifvertrags  d.  h.  daran,  dafs  nur  tarifmäfsige  Arbeitsverträge  ge- 
schlössen  werden,  ist  nicht  blols  eine  Partei  des  Tarifvertrag:! 
^c^^enübcr  der  anderen  interessiert  —  sonst  würden  sie  den 
Tarifvertrag  nicht  mit  einander  abge^^-hIo^^en  haben  — ,  sondern 
auch  jeder  Partci^ren osse  gegenüber  cJem  anderen  — 
sonst  würden  sie  sich  nicht  zu  gemeinsimer  N'ertr.ii^vrlilielVun;^  auf 
die  gleichen  Bedinf(un^en  ziisammcn^elhan  haben.  Die  l'anei- 
j^enossen  haben  an  der  Krfülluii;^  der  Zu>^aL,'e  durrli  ihre  .\n;^ehöri;j^eii 
darum  ein  Iiitere-'>e,  weil  dir  Nichlerkilluii''  ihre  eiL'ene  I'ositioti 
vcrschleciitern  katm.')  Man  kann  danach  sa.4<,  r!,  dals  ilas  \'er>j)rec!iei:, 
welche>  im  Farifx  ertra<^'  eiiu*  Partei  der  anderen  giebl,  aucli  im 
Hinbhck  auf  the  I*arteiL.'enf>Nsen  j^^-^^eben  werde. 

Indem  eine  Partei  des  I  arit\ ertra^s  der  anderen  /u>,«L;t.  beim 
Abschlufs  von  .Arbeils\  erträi;en  nirht  /.um  Nachteil  der  ( le^ei.partei 
oder  der  ei^a-nen  Partei'^eno'^seii  ander  e  al>  tarifmiilsi^re  liedini^vni'jen 
festzusetzen,  wird  durch  den  1  aritvei Ir.i^  die  linitanh.dtunL^  >olcher 
Benachteiligungen  erstrebt.  Es  fragt  sich  nun,  durch  welche  Mittel 
des  Rechts  dieses  Streben  unterstützt,  wie  die  aus  der  Zusage 
entspringende  Berechtigung  und  Verpflichtung;  vom  Recht  anerkannt, 
und  das  zweiseitige  Interesse  an  der  Zusage  sanktioniert  wird. 

VL  Wir  kommen  hiermit  zu  dem  wichtigsten  Punkt  einer  juris- 
tischen Untersuchung  des  Tarifvertrags:  dem  Bruch  des  Tarife 
Vertrags  und  der  vom  Recht  gewährten  Reaktion  gegen 
denselben.  Dabei  haben  wir  uns  nicht  mit  denjenigen  Vorkehrungen 
zu  befassen,  die  von  den  Parteien  selber  für  den  Fall  der  Verletzung 
des  Tarifvertrags  vereinbart  werden,  so  wichtig  sie  für  die  Aufrecht* 
erhaltung  des  Tarifvertrags  sein  mögen.*)    Wohl  aber  hat  di« 

'i  Man  denke  /.  B.  an  den  .\rl>eii^cher .  der  unter  dem  Tariic  /ah!'  mtd  da- 
durch beim  Absatz  die  anderen  Arbeitgeber  lioukurreruunfahig  wacht,  uder  an  Ar- 
b«itaebiiier,*dte  sich  anf  längere  als  die  ttfifmüfsige  Arbeitssett  cidImscd.  und  hier» 
durch  andere  Arbeiter  ftberflüssig  madien. 

*)  2.  B.  Intenrentifm  einer  Kommission,  oder  des  Einiguogsamtes,  Koaventionat* 
strafen,  Endigung  des  Arl>eitsverhältiiisses.  Der  beim  Eade  des  Kiefelder  Weber- 
ttrikcs  (1898)  geschlossene  TarifVertnK  bestimmt:  ,,Sollte  diese  Vereinbarung  von 
einer  Seite  nicht  volbtändig  gehaltea  werden,  so  ist  auch  die  andere  i>eite  nicht 


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Die  'l'arifverträg«"  zwischen  Arbeitgebern  und  Arbeitnehmern.  iQi 


folgende  Betrachtung  seiner  Verletzung  auch  auf  diejenigen  Be- 
stimmungen des  Tarifvertrags  Rucksicht  zu  nehmen,  die  nicht  Lohn- 
und  Arbeitsbedingungen  i.  e.  S.  sind. 

Von  einem  TariArertragsbruch  kann  nur  dann  die  Rede  sein, 
wenn  eine  Handlung  oder  Unterlassung  begangen  wird,  die  mit 
einer  Bestimmung  des  Tarifvertrags  in  Widerspruch  steht  Hier 
wird  die  S.  27/28  et^ähnte  Verschiedenheit  seiner  Bestimmungen 
bedeutend.  Soweit  nämlicli  der  Tarifvertrag  Spielraum  ^'cwährt» 
kann  ein  innerhalb  dieses  Spielraumes  sich  bewegendes  Verhalten 
nicht  vertragsbrüchig  sein,  so  wenig  wie  eines,  über  das  der  Tarif- 
Vertr^  gar  nichts  bestimmt,  oder  das  er  besonderem  Abkommen 
überlassen  hat.  ')  Inbezug  auf  l' eberarbeit  z.  B.  l^cgnügi  n  sich 
Tarifverträge  bisweilen  mit  (Irr  Bestimmung,  sie  sei  möglichst  zu 
vermeiden.  Der  drut'^clu'  Huchdruckertarif  34  verbietet  einen 
Lohnabzug  für  bt  in  ta:_;r,  die  durch  Landesge.setz,  die  Behörde  oder 
tlen  Prinzijml  angcorchict  sind,  behält  aber  die  Feststellung  der  so 
als  Feiertage  geltenden  Tagt  ..im  Zwoifcisfalle  der  Allgemeinheit 
der  l'riiizipale  und  der  Gehilfen .  bzw.  einer  von  beiden  Teilen 
niederzu-^t  tzenden  Kommission  eines  jeden  Druckortes  vor."  Die  Be- 
stimmung der  Lohngrölse  ist  in  vielen  rarifverträgcn  nicht  eine  abso- 
lute, sondern  in  gewissen  Grenzen  eingeschlossen,  namentlich  durch 
Angabe  eines  Minimums  getroffen.  Wo  letzteres  der  Fall  ist,  kann 
dieses  Minimum  im  Arbeitsvertrag  nach  oben  beliebig  überschritten 
werden.*)   Der  deutsche  Buchdrudcertarif  bestinmit  im  §  33  „das 


mdir  dmn  gebnndea.*'  Jatwedbcricht  der  HamdeUaanmer  in  Kiefeld  flir  1898 
S.  13.  —  AbecMhen  wird  hier  mach  von  den  nicht  vereinhuten  Renictioncn  wider 
den  Tbrifbnicb,  welche  von  einer  Partei  gegen  die  andere,  oder  gegen  die  eigenen 
PteteigenOHCD  geübt  werden,  wie  Androhung  von  Kundigong.  femer  Arbeiuniedcr^ 
Iqptng.  Sperre,  Versagung  der  Strikeunterstützung  tt.  dg]. 

')  z.  B  Sem  der  „Kohntarif  der  Kohlenarbeiter  von  Hamborg  utii  Ahona" 
vom  15.  Juli  1896  il'rotokoUe  «ler  Senatskommission  [iSoS]  S.  ^So,  3S11  am  Eii<le 
fest:  _Bei  unvorhergesehenen  hälleu,  als  Trimmen,  Bunkcriiühlcngebeu  aus  dt-m 
SchitTsraum,  verschiedene  Sorten  Kohlen  im  Kaum,  schlechte  Abmaltung  derselben, 
Wuser  im  Rum  de.  etc.  hnt  der  Aibdter  aid»  mit  dem  Arbeitgeber  m  einigen." 

,  ")  Die  «niadie  Angabe  des  Lohnntus  ist  im  Zweifel  als  Minimum  m  ht- 
trachten.  Xach  dem  Tarif vertn^  der  Berliner  Manrer  Tom  24.  Jnni  1899  bctilgt 
der  StnndenliAn  bis  31.  Desembcr  1899  60  Pf .  In  einem  Schreiben  des  Aibeit- 
geberbondes  an  die  Lohnkommission  der  Manrer  (Vorwirts  8.  Dezember  1899)  wird 
Beschwerde  daru))er  geführt,  dafs  ^1725  Maurer  höheren  als  den  im  Vertrage  mit 
den  Arbeitgebern  festgesetzten  LiOhn  bekommen".  Die  Beschwerde  wire  g^rtndet» 


102 


Philipp  i.utiuAt, 


Minimum  des  gewissen  Geldes",  sieht  aber  Fälle  vor,  in  denen 
unter  dieses  Minimum  herabgegangen  werden  kann.  Durch  die 
Gewährung  eines  Spielraumes  für  individuelle  Festsetzung  wird  die 
Gelegenheit  zur  .Verletzung  des  Tarifvertr^s  verringert,  kann  aber 
auch  der  Vorteil  der  kollekti\'en  \^ertragschlie(sung  beeinträchtigt 
werden.') 

Für  die  rechtliche  Reaktion  gCi^cn  die  \'erlctzung  eines  Tarif- 
vertrags kommt  es  niclu  hlols  auf  das  Dasein,  sondern  auch  auf 
die  Art  des  Tarifvertraj^sbruclis  an.  Flu-  wir  auf  diesen  Artunter- 
schied eii^ehen,  möchten  w  ir  auf  eine  Reihe  von  \'ertrags\'erletzun{;en 
verweisen,  die  nur  scheinbar  Verletzun^^en  eines  Tarifvertratj» 
sind.  Es  kommt  nicht  selten  vor,  dals  der  tarif^emäls  e  s  c  h  1  o  -  ^  •  n  c 
Arl)eils vertrag  nicht  tarif|^emäls  vollzn^Ten  wird.  Dies  kam  m  i 
vorkommen  bei  den  Lohn-  und  Arbeil.sbedin*;un^en  i.  e.  .S..  welche 
ipso  jure  den  .Arbeits\  ei  tiä;^eii  der  \om  Tarifvertrag  betroftenen 
Kontrahenten  an;:^ehören.  liier  hat  es  nun  den  Anschein,  al>  ob 
die  Niclilrnih.iitunt;  dieser  Lohn-  und  Arl)eit^!)edint^uni[cii,  die  elr;eii 
Bruch  de>  Arbeit  svertrai;^  bildet,  indiicki  /.u>;leirh  ein  liruch  des 
1"  a  r  i  f  vertra<:s  Wtu  c.  l  iul  e>  wurden  dann  tlie  mamiiciilaltiijcn 
Rechtsmittel,  welche  i;cj^cn  .•^olchc  \'erlct/ungen  des  Arbeits\'ertrags 
zu  Gebote  stehen^  ebenso  viele  Rechtsmittel  zum  Schutz  des  Tarif- 
vertrags sein.  Allein  die  juristische  Betrachtung  kann  das  Zusammen- 
fallen von  Arbeitsvertragsbruch  und  Tarifx'ertragsbruch  nicht  aner- 
kennen, und  wenngleich  der  Laie  unterschiedslos  von  einem  Arbeit- 
geber sagen  mag,  dafs  dieser  „den  Tarif  nicht  zahle",  so  mufs  sie 
unterscheiden  zwischen  der  Weigerung,  den  tarifmäßigen  Lohn  zu» 
zusagen  und  dann  auch  zu  gewähren,  und  der  Weigerung,  den 
tarifmäfsigen  Lohn  aus  dem  tarifmäfsigen  Arbeitsvertrag  zu  zahlen.  *) 

wcaa  jener  Lohnwtr  alt  Bfaxinnim  getneiat  gewtatu  wire.  S.  wich  Sotuile  Praxis 
IX,  333:  Schiedsspnich  Nr.  4.  —  Kommcu.  wie  in  der  Konfektion.  Stucke  rer- 

schiedener  Qualität  vor.  und  werden  nur  die  Stucke  ßcrin^-.tcr  Qualität  tnriTit-rt.  so 
ist  ilaini!  rcclitlich  der  t'rfolg  nicht  ausgo^chl-i^^'^:.  iaf«.  der  Lohn  für  die  besseren 
Qualltaten  üich  nicht  oder  nur  wenig  über  das  Miotmum  erbebt;  Oewcrbegericht  II, 
16.  1.  78,  79. 

*)  Jahccsberichte  der  Gewerbe -Aa&ichubeamten  in  Württemberg  für  1898 
S.  I85,  ia6. 

*)  I.  B.  betrigt  nach  dem  Tnrifvertrag  (tir  das  Berlioer  Maurergewerbc  (vom 
24.  Juni  1899),  Toa  Ausaalmien  nbgeseheo,  der  Stundenlohn  in  der  Zeit  vom 
1.  Janunr  bis  30.  September  1900  6a'.f  T'f.  F.u.  .\rbei^ber  stellt  einen  (nicht  zu 
den  Ausnahmen  gehurigen)  Maurer  an  mit  der  Erklärung,  er  werde  ihm  60  Pf.  per 


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Die  Tarifverträge  £wi>chen  Arbeitgebern  und  Arbettnehmem. 


Sobald  ein  Arbeits^'srtra^'  /.u  den  durch  den  TarUvertrag  ge^^ctzten 
Lohn*  und  Arbeitsbedingungen  abgeschlossen  worden  ist,  was  auch 
ohne  Besugnahme  auf  den  Tarifvertrag  geschehen  kann  und  überall 
der  Fall  ist,  wo  vom  Tarifvertrag  nicht  abgewichen  wird,  alsobald 
ist  der  Tari^rertn^  vollzogen.  Seine  Vollziehung,  soweit  er 
Lohn-  und  Arbeitsbedingungen  enthalt,  besteht  in  nichts  Anderem 
als  in  Abschlüssen  von  Arbeitsvertragen,  denen  er  einen  gewissen 
Inhalt  erteilt  Ein  vollzogener  Tarifvertrag  kann  aber  nicht  mehr 
gebrochen  werden. 

Bei  der  Festsetzung  der  Lohn-  und  Arbeitsbedingungen  im 
Tarifvertrag  haben  freilich  seine  Teilnehmer  auch  die  Realisierung 
dieser  Bedingungen  im  Auge.  Aber  diese  Realisierung  soll  auf 
Grund  von  Arbeitsverträgen  erfolgen,  denen  sich  jene  Bedingungen 
als  Bestandteile  einführen.  Die  Versagung  ihrer  Realisierung,  nach» 
dem  sie  einmal  i^dingungen  eines  Arbeitsvertrags  geworden  sind, 
kann  nur  von  einer  Partei  des  gesrHlo<-senen  Arbeitsvcrlrar^s  aus- 
gehen und  Bruch  nur  eines  Arbeitsvertrags  sein,  nur  als  solcher 
mit  Klagen  bekämpft  werden.  ') 

Man  kann  zugeben,  dafs  derartige  Arbeitsvertragsbrüche,  wenn 
sie  sich  fiäufen,  den  Bestand  des  Tarifvcrtrai;s  bedrohen  —  denn 
ein  Tarifv  ertrag,  dessen  Lohn-  und  Arbcitsbcthiuj^uiv^^en  zwar  in  einen 
Arbeitsvertrag  eingclicn,  aber  dann  nicht  ein;^'clialleii  werden,  führt 
nur  noch  eine  theoretische  Existenz  ~  dies  darf  aber  die  l'heorie 
nicht  abhalten,  die  V^orstellung  eines  indirekten  Bruchs  de^  Tarif- 
vertrags als  irrig  abzulciinen. 

VTI.  Der  wirkliche,  nicht  blofs  scheinbare  Bruch  eines  Tarif- 
vertrags, dem  wir  uns  nun  zuwenden,  ist  von  dreierlei  Art. 

Die  erste  besteht  darin,  da(s  eine  von  den  Bestimmungen 
des  Tarifvertr^rs  nicht  befolgt  wird,  die  gar  nicht  in  den  Arbeits- 
vertrag eingehen,  die  daher  nur  im  weiteren  Sinn  zu  den  Lohn-  und 
Arbeitsbedinguf^en  gezahlt  werden  können  und  den  Tarifvertrag 
nicht  rechtlich  charakterisieren  (oben  S.  28/29).  Wenn  z.  B.  Arbeiter 
im  Tarifvertrag  die  Wiederaufnahme  der  Arbeit  zusagen  (S.  93) 


Stunde  geUcD  und  nUt  ihm  mach  nicht  mehr.  Oder  aber  er  stellt  einen  tokhen 
Mrarer  an  ohne  ErfcUrang  Uber  den  Lohn  und  nhlt  ihm  wir  60  Pf.  per  Stande. 

*)  Daher  giebt  e»  hier  auch  keine  Klage  der  Geooisco  des  Vertragsbrüchigen, 
die  ja  nar  am  Tarifvertrag,  nicht  am  Arbeitsvertrag  beteiligt  sind.   Kar  wenn  die 

Koalition  klagbar  ist,  kunaen  die  Koalierten  den  Bruch  des  Aifaettsveitrags  als 
Brach  der  Koalititw  verfolgen  (unten  S.  117  Nr.  a). 


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Philipp  Lotmar« 


und  ohne  gültigen  Grund  ihr  Wort  nicht  halten,  so  brechen  sie 
damit  den  Tarifvertrag.  Sie  können  aus  ihrer  Zusage  vom  Arbeitgeber 
verklagt  wertlen,  wie  wenn  sie  dir  X'ollziehung  eines  Arbfits\ertrags 
vcnvcij^'crn :  B.G.B.  §  286,  §326.  VWnn  uniL^rki  lirt  ein  Arbeitgeber 
im  l  arifvcrtrag  zugesagt  hat,  die  Arbeitnehmer  tnler  gewisse,  z.  B. 
durch  hntla>^'!M/  «^'emafsre^ahc,  anzustellen,  utul  er  ImIt  o'me  gültigen 
Grund  sein  Wort  nicht,  so  bricht  er  danüt  den  lanfvertrag.  Er 
kann  auf  Kiniosung  seines  Wortes  verkla-^^t  werden,  indem  seine  im 
1  ai  it\ ei trai;  ;.:c;4el)ene  und  angenommene  Zusage  als  V  orvertrag  zu 
eiiu  rii  Arbeitsx  erltag  betrachtet  wird  1 S.  05).  Dals  al>er  in  beiden 
angetuiirlen  1' allen  ein  Ikuch  de>  I  aril  Vertrags  vorliegt  und 
nicht  blols  der  Bruch  eines  Arbeilsv  ertrag oder  eines  \'or\ ertrag?» 
zu  einem  solchen,  gründet  sich  darauf,  d.ils  im  eisten  Fall  alle 
Mitglieder  der  Arbeitnehmer|»artei  die  Zusa^i"  i^egchen  haben,  dals 
tlie  Arbeit  ut  idc  wu-der  aufgerioinnu  ti  wi  ivien.  und  el)i'nM»  im 
zweiten  l'all  .1  1 1  e  ^blglieder  iler  Arbc itnehnierj>artci  die  Zusage 
der  Wiederanstellung  enjpfangen  haben.  Durch  die  erstere  Zusage 
haben  sich  alle  Tanfkontrahenten  der  Arbeiterpartei  verbindlich  ge- 
macht,  die  Wiederaufnahme  der  Arbeit  herbeizuführen,  oder  zu- 
sammen, jeder  teilweise,  für  den  Schaden  atifzukommen,  den  die 
ungerechtfertigte  Nichterfüllung  jener  Zusage  dem  anderen  Kontra- 
henten  zuftigt.  Durch  die  zweite  Zusage  hat  sich  der  Arbeitgeber 
als  Tarifkontrahent  allen  Arbeitern,  mit  denen  der  Tarifvertrag  ge- 
schlossen ward,  verbindlich  gemacht,  die  Wiederanstellung  vorzu- 
nehmen, oder  den  aus  seiner  ungerechtfertigten  Weigerung  ent- 
standenen Schaden  zu  ersetzen.  Demgemäfs  kann  im  ersten  Fall 
nicht  blofs  der  ausbleibende,  sondern  jeder  Arbeiter,  der  den  Tarif- 
vertrag geschlossen  hat,  aus  dem  Tarifvertragsbruch  des  Ausbleiben- 
den verhältnismäfsig  in  Anspruch  genommen  werden,  und  ebenso 
kann  wegen  Verweigerung  der  W'icdci-anstellung  nicht  blofs  der 
davon  betroffene  Arbeiter  di  n  Arl)eitgel>er  verantwortlich  machen, 
sondern  an  seinem  Teil  hk  h  jeder  andere  Arbeiter,  der  als  Kon- 
trahent im  Tarifvertrag  die  Zusage  der  Wiederanstellung  emp&ngen 
hat.  Diese  Ausdehnung  und  Verteilung  der  Haftung  wie  der  For- 
derung cntspriclu  dem  ( icineinschaftsgefühl ,  aus  dem  die  Arbeiter 
durch  den  Tarifvertrag  Recht  und  Pflicht  des  einzelnen  unter  die 
Obhut  und  Verantwortung  aller  Teilnehmer  gestellt  haben.  Wo 
eine  .Mehrheit  von  Arbeitgebern  v(.rhanden  ist,  die  ihre  Arbeit- 
geherinteres-en  durch  Teilnahme  an  ei  nein  Tarifvertrag  gemein- 
sam wahrnehmen,  findet  jene  Ausdehnung  und  \'erteilung  der  1  laf- 


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Die  Tarifverträge  zwischen  Arbeitgebern  nnd  Arbeitnehmern 


105 


tung  wie  der  Fordernis'  auch  bei  der  Arbeitgeberfartd  des  Tarif- 
vertrags statt  Sie  ist  beidemal  unabhängig  von  der  Klagbarkeit 
der  Koalition,  die  durch  Gew.O.  §  152  versagt  ist,  wird  durch  diese 
Unklagbarkeit  nicht  behindert  Sie  beruht  allein  auf  dem  durch 
den  Tarifi^ertrag  begründeten  Verhältnis  zur  GegenparteL 

Gleich  den  zwei  angeführten  sind  die  übrigen  Fälle  von  Bruch 
des  Tarifvertrags,  soweit  sie  der  ersten  Art  angehören,  zu  behandeln. 
Wenn  z.  B.  ein  Arbeitgeber  wider  die  im  Tarifvertrag  gegebene 
Zusage  ach  der  Benutzung  eines  gewissen  Arbeitsnachweises  ent- 
hält, oder  mehr  Lehrlinge  anstellt,  als  nach  der  Gehilfenzahl  zu- 
lässig wäre,  S(i  würde  er  auf  Einhaltung  der  einschlagenden  Be- 
stimmungen des  7  arifvertrags  verklagt  werden  können.  Zu  dieser 
Klage  wäre  jeder  Arbeitnehmer  !>crerhtigt,  der  der  Arbeitnehmer- 
partei des  Tarifvertrags  angehört.  Dafs  für  ihn  gesorgt  ist,  dafs  er 
in  einem  Arbeitsverhältnis  steht,  also  nicht  persönlich  darunter 
leidet,  dafs  der  Arbeitgeber  nicht  die  den  Arbeitnehmern  zusagende 
Bezugsquelle  von  Arbeitskräften  bcnut/.t ,  oder  die  Arbeitsgelegen- 
heit durch  einen  Lehrling  als  billigere  Kraft  benutzen  lälst  und  sie 
damit  einem  Aus^'elcrnten  verschliefst  —  dies  hiiulert  jenen  Arbeit- 
nehmer nicht,  das  durch  den  Abschlufs  des  Tarif\  crtra-^s  wahr- 
genommene Interesse  aller  daran  Beteiligten  in  Schutz  zu  nehmen. 

Befindet  sich  auf  der  Arbeitgeberseite  eine  Mehrheit ,  so  hat 
auch  hier  jeder  tlas  Recht  einen  Bruch  des  Tarifvertrags  unserer 
ersten  An  zu  verfolgen,  der  auf  seilen  der  anderen  Partei  begangen 
worden  ist,  mag  dies  gleich  nicht  in  seiner  Arbeitgebersphäre  d*  h« 
in  seinem  Betriebe  geschehen  sein.  Hingegen  könnte  nicht  auch 
umgekehrt  wider  einen  Arbeitgeber,  der  selber  die  Schranke  der 
Lehrlingszahl  beobachtet,  wegen  ihrer  Ueberschreitung  durch  einen 
anderen  Arbeitgeber  auf  Entlassung  überzähliger  Lehrlinge  geklagt 
werden. 

Ueberhanpt  kann  weder  ein  Arbeiter  noch  ein  Arbeitgeber 
einer  Klage  auf  eine  Leistung  aus  dem  Tarifvertrag  ausgesetzt  sein, 
die  für  ihn  aufser  dem  Bereich  der  Möglichkeit  liegt,  im  Gegensatz 
zur  Schadeosersatzleistung,  die  der  eine  Kontrahent  für  seinen 
Teil  so  gut  wie  der  andere  machen  kann.') 

')  Siehe  die  Fttlle  «af  S.  103  nttten,  104.  Soll  ans  dem  dort  crwihaten  Vorvertng 
Bichl  Ulf SchedensenaU  (B.G.B.  §§^86,  326).  sondern  «afVollxag  d.h.  «vf Wieder- 
fliistcUung  geklagt  werden,  so  kann  nur  der  Arbeitgeber  Beklagter  «ein.  der  nach 
dem  Tarifverliag  wieder  ansteileD  loU. 


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lOO 


Philipp  Lotmar, 


Vni.  Die  zweite  Art  von  Bruch  des  Tarifvertrags  besteht  darin. 
da&  ein  von  den  Bestimmunt^cn  des  Tarifvertrags  abweichender  Ar- 

beitsvertraj^  al)^eschlosscn  wird.  Kint-  derartige  Verletzung  des  Tarif- 
vertrags ist  häufiger  und  wichtij^cr,  als  die  zuvor  bc>|>r(»chciu'  erste 
Art.  Sic  verletzt  ihn  in  seinem  Wesen,  indem  sie  sich  über  die 
ihm  wesentlichen  Bestimmungen»  die  Lohn-  und  Arbeitsbedin^un^^en 
i,  e.  S.  hinwegsetzt.  Diese  sollen  nach  der  hitcntion  derer,  die  den 
Tarifvertrarj  zustande  gebracht  oder  nachträglich  genehmigt  haben, 
ohne  weiteres  in  die  .\rl)cits\  crträge  der  vom  Tarifvertrag  Betrofifenen 
eingehen.  Der  damit  intendierten  Wirkung  nämlich  die  indivi- 
duelle Fotsetzung  jener  Lohn-  und  Arl)eitshediti.^Min^en  uberflüssig 
zu  machen,  alle  .Arbeitsverträge  in  diesem  wesentlichen  i'unkt  gleich 
und  dabei  so  zu  gestalten,  wie  e>  den  Intere-^sen  der  am  Tarif- 
vertrai4  beteiligten  Mehrheiten  \on  iierufsgenn^cn  enl>j>rit-ht  'S.  98'  — 
dieser  Wirkung  wird  durch  den  .M)>chluls  xoii  .\rbeils\ei tragen  zu 
larifw  itirigeti  Bedingungen  entgegengeliaiHielt.  l  'nd  ferner  wud 
durch  solchen  Abschluls  tlem  Versprechen  entgegengehaiuiell ,  da> 
die  Parteien  eines  Tarifvertrags  einander  gegeben  haben ,  nämlich 
dem  Versprechen,  beim  Abschlufs  von  Arbeitsverträgen  nicht  zum 
Nachteil  der  Gegenpartei  oder  der  eigenen  Parteigenossen  andere 
als  tarifmafage  Arbeitsbedingungen  festzusetzen  (S.  991. 

Durch  Abschluls  eines  Arbeitsvertrags  zu  tarifwidrigen  Be- 
dingungen wird  der  Tarifvertrag  nur  verletzt,  wenn  Personen  jenen 
Arbeitsvertrag  schlie&en,  die  vom  Tarifvertrag  betroffen  werden, 
und  wenn  die  Lohn-  und  Arbeitsbedingungen  des  Arbeitsvertrags 
sich  aulserhalb  des  Spielraums  bewegen»  den  dessen  Urheber  bei 
Festsetzung  der  Lohn*  und  Arbeitsbedingungen  im  Tarifvertrag  der 
individuellen  VertragschlieCning  gelassen  haben  (S.  loi).  Die  Ver> 
letzung  kann  hiernach  bestehen  z.  B.  in  der  Ausbedingung  eines 
höheren,  oder  niedrigeren  Stück-  oder  Zeitlohnes,  einer  längeren,  oder 
kürzeren  Arbeitszeit,  einer  längeren,  oder  kürzeren  Kündigungsfrist, 
denn  als  Maximum  oder  Minimum  im  Tarifi'ertrag  festgesetzt 
worden  ist. 

Die  rechtliche  Reaktion  gegen  den  larifv  ertragsbruch,  der  mit 
dem  Abschlufs  eines  .Arbeitsvertrags  zu  tarifwidrigen  Lohn-  und 
Arl)eitsl)edingungen  begangen  wird,  ist  ebenso  einfach  al>  j'iivat- 
rechtlirh  ctm  höpicnd  und  dem  Sinn  der  kollektiv  en  X'ertragschliei^un 
entsi)recliei.il :  der  .-M^^chlurs  eines  solchen  .-\rbeils\  ertrag>  ist  unzu- 
Ulssig,  ein  solcher  .-\rl)eits\ ertrag  ist  ungültig.  Der  Kollektiv- 
vertrag ist  für  den  Individualverlrag  nicht  derogierbar. 


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Uic  Tarifverträge  Awisdien  Arbeitgebern  und  Arbeitnehmern. 


107 


Dies  hat  indessen  nicht  die  Bedeutung,  dals  bei  Ungültigkeit 
des  tarifwidrigen  Arbeitsvertrags  ein  Nichts  vorhanden  ist,  und  der 
etwaige  faktische  Vollzug  des  ungültigen  Arbeitsvertrags  gar  nicht 
nach  Vertragsrecht  zu  behandeln  wäre.  Vielmehr  werden  R^ht 
und  Pflicht  der  Teilnehmer  eines  Tarifvertrags  auf  und  zur  Ein- 
haltung  des  Tarifvertrags  beim  Abschluls  von  Arbeitsvertragen  da* 
durch  geschützt  und  realisiert,  dafs  die  Aibeitsvertrage  tarifmäfsig 
zustande  kommen,  auch  wenn  eine  tarifwidrige  Ab- 
weichung unternommen  worden  ist.  Die  durch  den 
Kollektivvertrag  für  alle  einschlagenden  Arbeitsverträge  gesetzten 
Lohn-  und  Arbeitsbedingungen  können  von  den  Kotitrahcntcn  der 
Arbeitsverträge  nicht  ausgeschlossen  werden.  Jede  Partei  eines 
Arbeits\  ertrags,  der  im  sachlichen  und  [^)ersönlichen  Geltungsbereich 
des  Tarifvertrags  geschlossen  wird,  kann  daher,  /.  B.  was  Lohn, 
Arbeitszeit  und  Küiuli'^ning  anlangt,  auf  Vollzug  nach  den  Be- 
dingungen des  Tarifvertrags  iKsfchrn  und  klagen,  auch  wenn  sie 
selbst  an  einer  \on  diesen  Bedingungen  al)u  eichenden  und  darum 
ungültigen  L'ebereinkunft  itn   Arbeitsvertrag  teiigenonniien  hat. 

Die  \urstchen(le  .-Xuftassung  wird  von  den  Gewcrbegerichleii, 
wie  es  scheint,  nicht  geteilt,  ohne  dals  die  entgegengesetzte  von 
ihnen  begründet  wird.  Das  Stuttgarter  (iewerbegericht  begnügt 
sich  in  einem  Falle  zu  sagen,  der  Tarif  sei  „nicht  in  dein  Sinne 
bintleiul,  dalV  das  Ciericht  aiulcrwciiigc  Abmachungen  einfach  igno- 
rieren dürfe"  ^  er  müsse  „so  lange  angewendet  werden,  als  nicht 
klar  und  deutlich  seine  Geltung  ausgeschlossen  bt"J)  Die  Möglich- 
keit dieser  Ausschliefsung  wird  dabei  gar  nicht  in  Frage  gestellt  Ihre 
Bejahung  durch  ein  süddeutsches  Gewerbegericht  beruht  auf  einer 
oben  S.  94  Anm.  i  angeführten  unhaltbaren  Ansicht  vom  Tarif\'er- 
f rag.  -)  Unbegreiflich  ist  die  oben  S.  96  Anm.  berichtete  Ansicht 
des  Berliner  Gewerbegerichts,  wonach  der  Tarifvertrag  kein  Vertrag, 
sondern  nur  eine  Offerte  ist,  also  dals  es  zur  Ausschließung  ihrer 
Bestimmungen  für  den  Arbeitsvertrag  nicht  einmal  einer  Ueberein- 
kunft  bedarf,  sondern  die  Offerte  mit  ihren  Lohn-  und  Arbeits- 
bedingimgen  einseitig  zurückgezc^en  werden  kann. 

Dals  die  Lohn-  und  Arbeitdiedii^ngen  des  Tarifvertrags  un- 


*)  Geweriwgericht  I,  36. 

*)  Gcwerbegeridit  IV,  50:  „FOr  jeden  EnxtlftU  hat  aber  der  Tarif  lediglich 
die  Bedeutimg  eines  Arbeitsvertrages,  so  liafs  er  zwai  nicht  einseitig,  wohl  aber 
darch*  gegenseitiges  Uebereiokoanen  aufgehoben  werden  kann . . 


io8 


Philipp  Lotmsr, 


abdingbar  sind  und  trotz  abweichender  Uebcreinkunft  in  den  Arbeits- 
vertrag eingehen»  läfst  sich  ferner  nicht  durch  den  Hinweis  auf 
B.G.B.  §  612  bestreiten.  Nach  diesem  Gesetz  ist  (wie  wir 
.99  gesehen  haben),  falls  die  Höhe  der  X'crgütunpj  nicht 
bestimmt  worden  ist,  htim  Bestehen  einer  Taxe  die  tax- 
mafsige  Vergütung  als  vereinbart  anzusehen.  Indem  das  Gesett 
den  taxmäisigen  Lohn  t  intreten  läisi,  für  den  Fall  die  Parteien  des 
Arbc  itsvcrtrat^s  den  Lohn  nicht  hestinnnt  iiaben,  verfügt  es  gewifs 
für  den  Fall  des  Maiit,els  einer  Lohnhcstiinmun«^' ;  aber  es  \  erfügt 
daruit  doch  nicht,  dals  der  laxinäl>-i^c  Loini  nur  in  diesem  Fall 
eintieie,  also  nie  eintreten  könne,  wo  eine  abwcichencle  I.ohn- 
bc^tiniiminL:  \  i>ti  <!<  ri  F.irteien  '^u  trotTen  worden  ist.  So  kann  nach 
der  ( lebuhteiKiKlmin^  fiir  Rechlianw.ilte  i*  93  „der  Hetrai;  der  \*er- 
gutun^;  durch  \\  rt1aj4  abweichend  \on  ilen  \'or>chriften  die>e>  '  »e- 
.set/es  fe>t^n"sel/.t  werden",  aber  nur  ,,M)lerii  der  Kr«  htsanwalt  nicht 
einer  Partei  zur  W'.ihi  nehinuni]f  ihrer  iite  l)ei;4e()rdnet  oder  als 
Verteidiger  besteilt  ist".  Ist  solches  der  l-.ill  und  setzen  Klient 
und  Rechtsanwalt  durch  Vertrag  ilie  Vergütung  abweichend  vom 
Gesetz  fest,  so  greift  trotz  entj^e^enstehcndcr  Parteibestimmung, 
trotzdem  eine  Parteibestimmung  vorhanden  ist,  die  Taxe 
Platz.  Was  hier  von  einem  gesetzlichen  Tarif  gilt,  kann  auch  von 
einem  Vertragstarif  gelten,  ohne  dafs  ein  Widerspruch  zu  B.G3w 
§612  entsteht 

Den  Tarifvertrag  in  seinen  wesentlichen  Bestimmungen  für 
nicht  derogierbar  erklaren  heifst  ihm  eine  Ordnung  zuschreiben,  die 
vom  Gesetz  ausgehend  als  zwingend  bezeichnet  wird.  Indessen 
braucht  diese  Parallele  von  jener  Annahme  nicht  abzuschrecken, 
kann  doch  auch  in  zwei  anderen  Hinsichten  die  im  Tarifvertrag 
liegende  Regelung  der  gesetzlichen  an  die  Seite  gestellt  werden. 
Denn  wie  diese  so  kommt  auch  jene  zur  Wirksamkeit  nur  unter 
der  Voraussetzung,  dafs  ein  konkreter  Vertrag  geschlossen 
wird,  d.  h.  nur  wenn  der  .\  mit  dem  H  in  gegebener  Zeit  an  ge- 
gebenem Ort  einen  Arbeitsvertrag  -clil!«  fst,  kai  ii  der  Tarifvertrag 
wie  das  (iesciz  wirksam  werden.  Und  wie  das  (lesclz  für  indi- 
viduell unbestimmte  Per>onen  erlassen  ist ,  ebenso  wird  durch  den 
larilx  ertrag,  wenigstens  fiir  die  Arbeitnehmerseite,  das  Arbeitsver- 
hältnis individuell  unljestimniter  Personen  geregelt  (oben  S.  82). M 

Wenn  der  Tarifvertrag,  wie  wir  annehmen,  den  abweichenden 

Vgl.  auch  oben  S.  K7  zu  Aoiu.  I. 


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Die  Tarifvertrife  twiäcbcn  Arbettgebern  und  Arbcitnehmeni. 


Arbeitsvertrag  verbietet  und  so  verbietet,  daGs  die  Abweichung 
nichtig  ist,  so  hat  er  damit  eine  Kraft«  die,  einem  Verbotsgesetz 
einwohnend,  dieses  zur  lex  perfecta  macht  Indesst  ti  i^t  eine  solche 
Kraft  des  Vertrages  nicht  unerhört.  Das  römische  Recht  i«nnt 
solche  Verträge:  wer  z.  B.  durch  X'ertrag  der  Veräufserung  einer 
Forderung  entsagt  hat  und  sie  dennoch  vornimmt,  hat  damit,  wie 
meistens  gelehrt  wird ,  einen  nichtigen  V^eräufserungs vertrag  ge- 
schlossen. Man  wird  vielleicht  einwenden,  dafs  hier  der  Veräufserer 
mit  einem  Dritten  pacisciere,  in  un-^eieni  I'alle  aber  nicht,  und 
dafs  es  doch  den  Kontrahenten  das  Tarifv ertra^i-s  unl)ononinien  sein  ' 
müsse,  von  ihrem  selbstge^cbenen  Gesetz  zurückzutreten  und  es  im 
Arbeitsx ertrag  abzuruulcrn.  Allein  gerade  dies,  dals  die  Urheber 
des  I  arifvertrags  umi  die  l  'rheber  des  .Xrbeit^vertrags  identisch 
seien,  müssen  wir  verneinen  und  nachlier  \\  iderle<.Ten. 

Im  Bisherigen  (S.  107—109)  sind  denkli.ire  iMiuvände  zurück- 
gewiesen worden;  im  Folgenden  wollen  wir  begründen,  dals  der 
Tarifvertrag  für  die  ihm  unterstehenden  Personen  in  dem  Sinne 
bindend  ist,  dafs  sie  ihre  Arbdtsverträge  nur  zu  den  Lohn>  und 
Arbeitsbedingungen  i.  e.  S.  schHe(sen  können,  die  im  Tarifvertrag 
festgesetzt  sind. 

Diese  Lohn-  und  Arbeitsbedingui^n  werden  im  Tarifvertrag 
nicht  blofs  aushilfsweise  bestimmt  und  nur  zu  dem  Zwecke, 
den  Kontrahenten  des  Arbeitsvertrags  die  individuelle  Regelung  zu 
ersparen.  Vielmehr  wollen  die  Urheber  des  Tarifvertrags  mit 
den  Lohn-  und  Arbeitsbedingungen  die  wichtigsten  Bestandteile 
des  Arbeitsvertrags  generell  fixieren,  sie  wollen  damit  der  indi- 
viduellen Festsetzung  den  Raum,  auf  dem  sie  sich  entfolten  kann, 
schmälern,  diese  soll  die  Lohn- und  Arbeitsbedingungen  als  g  e  g  eben  e 
Bestandteile  des  Arbeitsvertrags  vorfinden  und  damit  die  Möglich- 
keit verschlossen  finden,  nach  ihrem  individuellen  Bedürfnis  mehr 
oder  weniger  zu  verlangen  oder  zu  bewilligen,  als  die  Urheber  des 
Tarifvertrags  und  diejenigen,  die  ihn  genehmigten,  im  Interesse  des 
Ciewerbes  für  gut  befunden  habef. 

Dazu  kommt  ferner,  xl  a  I  s  der  eine  Tarifvertrag  k  e  i  11  e  .s  - 
W  e  g  s  d  i  c  n  ä  ni  1  i  c  h  e  n  K  o  fi  t  r  a  h  e  n  t  e  n  h  a  t  w  i  e  d  i  e  A  r  b  e  i  t  s  - 
Verträge,  die  in  seinem  Gefolge  e  s  c  h  1  (1  •>  s  e  n  werden; 
namentlich  sind  die  Lohn-  und  Arbeitsbeduigungen  für  deri  jetzt 
vom  Arbeiter  B  mit  dem  Arbeitgeber  A  abzuschlielsenden  Arbeits- 
vertrag im  Tarifvertrag  keineswegs  nur  zwischen  A  und  B,  sonrlern 
auch  mit  C,  D,  E  u.  s.  w.  vereinbart  worden ,  so  dals  man  nicht 


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HO 


Philipp  i.otmtr, 


sagen  kann :  wenn  A  und  B  nun  ander«  Bedingungen  festsetzen,  so 
treten  sie  blofs  von  ilirer  ci^^cncn  un<l  nur  sie  an<,'e!icnden  Fest- 
setzung zurück;  vielmehr  greifen  sie  damit  in  «lie  scituT/eit  von  A 
auch  mit  C,  I),  K  u.  s.  w.  \  ereinharte  ein,  die  sich  auf  die  von  A 

mit  B  7.U  <dilit  fseiuleii  Arbeitsverträge  mithezo^'en  hat. 

Kin  Vertraj^f  mit  mehreren  eingej^angen ' ),  an  dessen  Einhaltung 
<,'ej^oiiüher  allen  die^e  allr  interessiert  sind,  kann  nicht  durch  Sej)arat- 
abkomnien  mit  einen»  l'-inzflnen  dirscm  Kin/elnen  und  damit 
allen  i,'c-^enühcr  aiifser  Krall  u:csitzi  werden.  Dies  würde  aber 
•  bei  (lultij^keit  eines  abwciclu  ndcn  Arbcitsvertra^'^s  der  I*all  sein.  Hin 
.solcher  Arbeitsvcrtra-^  wunlc,  olnvohl  ein  V'ertra:;.  dennoch  —  iin 
Verhältnis  vcine^  einen  K<inlrahenteti  {/..  B.  des  Arbeit^ebersy  zu  den 
(ieii<«>->rn  des  ^^tknntrahentcn  'z.  IV  d«  n  anderen  Arbeitern)  — 
ein  einseitii^er  Rücktritt  vom  i  arifvertraj;  sein,  der  nicht 
freistehen  kann. 

Mit  der  Kingehun»,^  eines  Tarifvertrags  haben  die  raciscenten 
nicht  Wofs  (wie  S.  99  ausgeführt  wurde)  versprochen,  keine 
tarilwidrigen  Arbeitsverträge  abzuschliefsen ;  vielmehr  haben  sie 
auch  die  rechtliche  Möglichkeit  solcher  Kontrahierung  aus*- 
schliefsen,  die  Dispositionsfreiheit  insoweit  beschränken  wollen. 
Dafe  sie  (als  Arbeitgeber  oder  Arbeiter)  nach  diesem  Ziele  trachten, 
geht  daraus  hervor,  dafs  sie  nach  Kräften  darauf  bedacht  sind,  die 
möglichen  Konkurrenten  und  Unterbieter  in  den  Farifvertrag  hinein- 
zuziehen, indem  sie  hierin  das  einzige  Mittel  erblicken,  tarifwidrige 
Arbeitsverträge  nicht  aufkommen  zu  lassen.  Wenn  sie  es  nun  auf 
den  Ausschlufs  jener  rechtlichen  Möglichkeit  abgesehen  haben,  wenn 
derselbe  im  Sinne  der  Tarifkontrahenten  liegt,  so  hiefse  es  in  ihrem 
Sinne  den  Tarifvertrag  für  ungültig  erklären,  wenn  man  die  von 
ihm  abweichenden  Arbeitsverträge  für  gültig  erklärt 

Die  im  Vorstehenden  vertretene  Auffassung  vom  \'erhältni.s  des 
Tarifvertrags  zu  den  Arbeitsverträgen  findet  ein  sie  bestätigendes 
Scitcnstück  am  Verhcältnis  der  .-\  r  b  e  i  t  s  o  r  d  n  u  n  zu  den  Arbeits 
verträc^eii ,  wenic^stens  zu  «gewissen.  Die  Arbeitsordnung  und  zwar 
die  obligatorische  der  ( iewerbeordnung  (iii;  134a— -I34f,  154  Abs.  2) 
kommt  in  mehreren  I  iauptpunkten  mit  dem  1  arifvertrac^  überein. 
Heide  Nind  t(cnerelle  Re»;elun^en  des  Arl)eitsvertrags,  denn  sie  liefern 
Liihii-  und  Arbeitsbedingungen  für  eine  unbestimmte  Mehrheil  von 


'1  D<r  Tarifvertrat;   i^t  trdt.-  .Ur  Mehrheit  [hei  einer  Paitci  oder  bei  beiden) 
nur  ein  Vertrag:  .S.  29  al.  3,  .S.  30  al.  l. 


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Die  TuifvertrHj!«  zwischen  Arbeitgebern  und  Arbeitnehmcni.  i  i  [ 


Arbeitsverträgen.  Sie  können  dies  mehr  oder  weniger  absolut,  d.  h. 
mit  gröfserem  oder  kleinerem  Spielraum  iur  die  individuelle  Rege* 
lung  thun.  Der  Inhalt,  tlcn  die  Arbeitsordnung  n.icli  §  134b  haben 
inuls,  hx  auch  in  \icUn  rarilverträgen  zu  finden;  ferner  gilt  die 
Arbeitsordnung  wie  der  Tarifvertrag  lur  individuell  unbestimmte  Ar- 
beitnehmer; und  riidlich  kommt  «ie  wie  der  Tarifvertrag  für  den 
einzelnen  Arbeiter  dadurch  zur  (icltung,  dafs  dieser  einen  Arbeits- 
vertra«;  abschlicfsi,  indem  solchenfalls  die  Bestimmun-^fcn  der  Ar- 
beitsordnunf;  ebenso  wie  die  des  Tarifvertra<;s  für  das  Rechtsver- 
hältnis von  Arl)eit'^a'l>er  und  Arbeittielitner  niarsml)eiid  sind,  auch 
ohne  da!s  jtne  Bt  siiniiminLa-n  ausdrücklich  in  den  Arbeitsvertrag 
aufgenommen  worden  suici.    Ks  verfi!<:^t  nun 

al  134c  Abs.  2  Satz  i:  „Andere  als  die  in  der  Arbeits- 
ortlnung  oder  in  den  §i;  123,  124  \ < ir^e-^ehenen  (iründe  der  Ent- 
lassung und  des  Austritts  aus  der  Aibtit  ihiiti  ii  im  Arbeitsvertrage 
nicht  vereinbart  werden,"  Das  bedeutet,  dals  eine  solche  von 
der  Arbeitsordnung  abweichende  V  ereinbarung  ungültig  ist  und  un- 
geachtet derselben  die  in  der  Arbeitsordnung  vorgesehene  Regelung 
Flau  greift 

b)  §  134c  Abs.  2  Satz  2:  „Andere  als  die  in  der  Arbeitsord- 
nung vorgesehenen  Strafen  dürfen  über  den  Arbeiter  nicht  ver- 
hängt werden."  Die  „in  der  Arbeitsordnung  vorgesehenen  Strafen" 
müssen  in  ihr  nach  Mafsgabe  von  §  134b  Nr.  4  bestimmt  sein. 
Jede  von  dieser  Bestimmung  abweichende  Strafe  ist  eine  „andere" 
Strafe.  Wenn  nun  eine  andere  Strafe  als  die  in  der  Arbeitsordnung 
vorgesehene  über  den  Arbeiter  nicht  verhängt  werden  darf,  so  kann 
sie  auch  nicht  gültig  im  Arbeitsvertrag  vereinbart  werden.  Der 
Arbeits\  erlrag  ist,  soweit  er  in  seinen  Strafbestimmungen  von  der 
Arbeitsordnung  abweicht,  ungültig,  und  ungeachtet  dieser  l>esonderen 
greift  die  in  der  Arbeitsordnung  vorgesehene  allgemeine  Regelung 
Platz. 

Man  nimmt  gewöhnlich  an, '  1  ilals,  was  hiernach  in  Ansehung 
der  Kündigungsgründe  und  der  Strafen  vom  \'erhältnis  des  Arbeits- 
vertrags zur  .Arbeitsordnung  gilt,  \on  anderen  Bestimmutii^en  der 
.Arbeitsverträge  nicht  .^elte.  dals  vielmehr  ohne  Rücksicht  auf  den 
Spielraum  der  Bestimmungen  der  Arbeitsordnung  diese  durch  Ar- 
beitsverträge auiser  Kraft  gesetzt  werden  könne.    Wir  müssen  diesen 

'     ■.  H    I  .1  ii  ti  rn  ;i  II  1) .   Kuiminntar   ,  j  Gcvv.O.  5;  134c  .Nr.  2.     U  n  g  c  r  .  Eol- 
8cheitluü^;f n         Gcwcrbcgerkhts  /.u  Berlin  Nr.  152.    Oewerbegericht  V,  25. 


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112 


Fliilipp  I.Otmar. 


Punkt  hier  dahin  gesteUt  sein  lassen :  fiir  die  Bejahung  würde  nicht 
sprechen»  dafs  in  Gew.O.  §  134c  Abs.  2  zwei  Abweichungen  aus* 
geschlossen  werden,  und  für  die  Verneinung  würde  sprechen,  dafs 
bei  Gültigkeit  jeder  Abweichung  von  der  Arbeitsordnung  ihr  Inhalt 
durch  Arbeitsverträge,  die  mit  allen  Arbeitern  geschlossen  werden, 
abgeändert  werden  könnte,  während  doch  §  1543  Abs.  $  einen 
solchen  Weg  zu  Abänderuti^en  ihres  Inhalts  ausschliefst,  und  diese 
Bestiniiuun;^  /.\vin<:^cn(l  ist.') 

Die  ( iou  oi  heordnung  lehrt,  dals  wenigstens  in  gewissen  Fällen 
der  individuelle  Arbeitsvertrag  gegenüber  der  generellen  Arbeite 
Ordnung  nicht  aufkonimen  kann.  Ist  .solches  nun  schon  bei  der 
Arbeitsordnung  nmi^üch,  so  kann  es  um  so  eher  und  in  weiterem 
Umfan<^  fiu  dt  ii  Tarif\ertra^'  n!.;^MMinmmci^.  werden.  Der  Tarifvertrag; 
ist  ein  X  ertra  ',  die  Arbeit^ordnuni«,  wie  \on  vielen  und  mit  uuteii 
Gründen  <;;elchi  t  wir«!,  eine  e  i  n  s  e  i  t  i  e  \'erlu;^ui.L;.  Kann  der  l  'r- 
hcbcr  einer  soliMu  n  xnn  ihren  Be>linnnuii^'eii  l  ii  ht  inuiier  in  Ar- 
bcitsvcrträt,'ef •  abweu  licn,  so  ist  eine  solche  l  ii>iatthatt i^keit  .,'tx'en- 
iiber  einer  zweiseitigen  Ke^elun-^^f  nocii  eiiileuchtcntlei .  l  nd 
sell)st  wenn  man  die  Arbeitsori^lnun^  fijr  etwa>  Zwei>eili:.;e>,  d.  h. 
als  tlurrh  X'ereinbarun,^'  j^elteiid  ansieht,  no  ist  sie  doch  weit  davon 
entfernt,  ein  Kollektivvertrag  zu  sein,  wie  der  I'arifv  ertra>^  es  ist. 
Und  von  dieser  seiner  ihn  auszeichnenden  Natur  rührt  es  her,  dafs 
der  Arbeits%'ertrag,  den  ein  Teilnehmer  des  Tarifvertrags  abschliefst. 
nicht  über  den  Tarifv'crtrag  die  Oberhand  gewinnen  kann,  den  eine 
Mehrheit  zustande  gebracht,  dem  eine  Mehrheit  ihr  gemeinsames 
Interesse  anvertraut  hat.  — 

CC.  Der  Tarifi'ertrag  ist  endlu:h  noch  einer  dritten  Art  des 
Vertragsbruchs  ausgesetzt:  er  kann  nämlich  durch  eine  Arbeits- 
ordnung gebrochen  werden,  indem  deren  Inhalt  in  Wider- 
streit zu  dem  des  Tarifvertrags  tritt.  Dieser  Bruch  des  Tarifvertrags 
kann  natürlich  nur  von  einem  Arbeitgeber  bej^an^en  werden,  da 
nur  ein  solcher  eine  Arbeitsordnung  erlassen  kann.  Es  ist  daher 
hier  an  einen  Arbeitgeber  zu  denken,  der,  sei  es  allein,  sei  es  neben 
anderen  Arbeitgebern  seiner  Branche  einen  Tarifvertrag  geschlossen 


^)  S  Ab«,  3:  „AbäoderttDgeD  ikrts  Inbalts  können  nur  durch  dcttErlafs 
von  Nachu^tgeD  oder  in  der  Weise  erfo^en.  daf«  an  Stelle  der  bestehenden  eine 
neue  Arbritsordnong  erlassen  wird."  Siehe  auch  Cnger,  Entscheidongen  Nr.  154: 
in  der  Konsequenr  dicker  Entscheidung  liegt  die  Ungültigkeit  des  der  Arbmtiordnnng 
widersprechenden  Arbeitsvertrags. 


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Die  Tahfvcrtrüge  swischcn  Arbeitgebern  und  Arbeitncbmen. 


und  darin  gewisse  Besiiunnun^en  über  Anfang:;  und  Kmk  der  rcgel- 
mäfsigen  täglichen  Arbeitszeit,  über  Zeit  und  Art  der  Abrechnung 
und  der  Lohnzahlung  und  über  die  unbefristete  Kündigung  verein- 
bart hat  und  gleichwohl  eine  von  dieser  Vereinbarung  abweichende 
Arbeitsordnung  erläTst  (Gew.O.  §  1 34  b). 

Fragt  man  nun  nach  den  rechtlichen  Reaktionen,  die  es  gegen 
solchen  Bruch  des  Tarifvertrags  gebe,  so  läTst  sich  zunächst  auf  die 
Möglichkeit  verweisen,  daTs  der  Arbeitgeber  von  seinen  Vertrags- 
^^em  auf  Abänderung  des  Inhalts  der  Arbeitsordnung  verklagt 
werde,  welche  Abänderung  durch  Erlals  einer  neuen  tarifgemälsen 
Arbeitsordnung  zu  geschehen  hätte.  Bei  diesem  Idagerischen  Ver- 
langen wird  vorausgesetzt,  dafs  die  tarifwidrige  Arbeitsordnung  trotz 
der  Tarifwidrigkeit  gültig  sei,  also  dem  Tarifvertrag  vorgehe.  Diese 
Subordination  des  Tarifvertrags  wird  auch  in  einem  Urteil  des 
Berliner  Gewerbegerichts  angenommen,  aber  aus  einem,  wie  uns 
scheint,  nicht  stichhaltigen  Grunde.')  Der  Tarifvertrag,  wird  hier 
gesagt,  würde  „immer  nur  die  Bedeutung  einer  privatrechtlichen 
Vereinbarung  haben  und  neben  entgegenstehenden  öffentlich  recht- 
lichen Bestimmungen  nicht  in  Betracht  kommen."  Allein  dafs  die 
(rew.O.  zwingende  Bestimmungen  über  den  Krlafs  von  Arbeitsord- 
nungen und  die  Kategorien  ilins  Inhalts  gicbt.  ist  doch  walirlich 
kein  (irund,  die  Bestimmungen  selb>l  einer  gegebenen  Arl)eitsoi(l' 
nung  für  öffentlich  reclitliche  zu  halten.  l^nd  mit  dieser  un- 
schlüssigen Argumentation  dürften  gewifs  .tiu  h  diejenigen  Tarifver- 
träge als  öffentlich  rechtliche  angesehen  zu  werden  verlangen,  die 
in  Anweridang  des  Gewerl)egerichtsgesetzes  unter  Vermittlung  des 
lanigungNamtes  zustande  kommen. 

Die  Frage  nach  dem  Rangverhältnis  von  Tarifvertrag  und 
Arbeitsordnung  ist  auch  aus  der  GewO.  nicht  mit  Sicherheit  zu 
entscheiden.  In  §  134c  Abs.  1  sagt  sie:  „Der  Inhalt  einer  Arbeits» 
Ordnung  ist,  soweit  er  den  Gesetzen  nicht  zuwiderlauft,  (lir  die 
Arbeitgeber  und  Arbeiter  rechtsverbindlich."  Die  Folgerung  e  con- 
trario würde  in  diesem  Falle  lauten :  Wenn  der  Inhalt  der  Arbeits- 
ordnung, soweit  er  den  Gesetzen  nicht  zuwiderlauft,  rechtsver- 
bindlich ist,  so  genügt  es  fiir  seine  Rechtsverbindlichkeit,  dals  er 
nicht  gesetzwidrig  sei,  mag  er  immer  einem  Tarifvertrag  zuwider- 
laufen. Indessen  lafst  sich  diese  Folgerung  auch  ablehnen.  Der 
Einklang  mit  den  Gesetzen  brauchte  dem  Gesetzgeber  nicht  er- 

^)  Unger,  Eotschcidangen  Nr.  iS3> 
Archiv  für  loi.  GcMUgebunc  u.  Statittik.   XV.  S 


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rb  1 1 1  p  p  Lu  t  nia  I  , 


schöpfende  Bedingung;  der  Rechtsverbindlichkett  zu  sein,  er 
konnte  sie  als  eine,  als  die  ihm  wichtigste  hen-orheben,  und  es 
könnte  die  Rechtsx'erbindlichkeit  auch  durch  den  Einklang  mit 
Tarifverträgen  bedingt  sein.  Allein  was  hiemach  gegenüber  dem 
Wortlaut  logisch  angeht,  nämlich  dafs  eine  Arbeitsordnung  zwar 
nicht  den  Gesetzen  zuwiderläuft,  aber  doch  nicht  rechtsverbindlich 
ist,  können  wir  historisch  nicht  für  wahrscheinlich  halten.  Als  die 
fragliche  Bestimmung  gegeben  wurck-,  die  einen  ßestandteil  des 
sog.  Arbeitersrhutz^csctzes  vom  i.  Juni  1891  bildet,  waren  Tarif- 
verträge nodi  nicht  so  häufige  Vorkommnisse  in  Deutschland,  wie 
sie  es  neuerdings  geworden  sind,  und  jedenialls  hatten  sie  noch  nicht 
die  allgemeine  Beachtung  und  die  Schätzunjij  «gefunden,  die  ihnen 
seitdem  zu  teil  j^ewordcn  ist.  Die  Annahme,  dafs  die  in  GcwO. 
§  134c  «gesetzte  Bedin<^iiiv^f  der  Rerht>\erl)itidli'-!ikeii  Arbeits- 
ordnungen niefit  exklusiv  gemeint  sei  und  der  hiiikl.iUL;  mit  Tarif- 
verträgen, auch  nur  unbeuufst.  vorbehalten  -ei.  ist  hiernach  so  wenig 
nahe  liegend,  dafs  man  sich  ihr  nicht  hinj^ebeii  darf. 

Dann  aber  stehen  wir  vor  dem  Krgebnis,  dals  der  1  ariU  ertrag, 
den  ein  .Arbeitgelier  für  sieh  allein  oder  an  der  .^eitc  seiner  Be- 
rn fs-renossen  mit  den  Arbeitein  seiner  Btanrhi-  ■  a'^<■|ll( )s>en  li.it,  un- 
mittelbar  darauf  von  ihm  beliebig  wieder  umge>lolsen  und  zum 
Nachteil  seiner  Genossen  wie  der  Arbeiter  vereitelt  werden  kann 
durch  denErlafs  einer  Arbeitsordnung.  Im  Verhältnis  zu  dieser  ist  der 
Tarifvertrag  danach  etwas  Prekäres  und  seine  Unterordnung  unter 
die  Arbeitsordnung  wäre  nur  durch  den  Gesetzgeber  zu  beseitigen. 
Die  Arbeiter,  denen  der  Tarifvertrag  durch  die  Arbeitsordnung  ge- 
brochen  worden  ist,  konnten  auch  ohne  dies  auf  ihre  Zurückziehung 
klagen  (oben  S.  1 1 3).  Aber  eingreifender  würde  dem  Tarii^'ertrag  ge- 
dient sein,  wenn  er  aus  seiner  untergeordneten  Stellung  durch  das 
Gesetz  hervorgezogen  würde.  Hat  es  die  Arbeitsordnung  zu  einer  ge- 
setzlichen  Regelung  gebracht,  so  kann  der  Tarifvertrag  noch  viel  ge- 
wichtigere Ansprüche  auf  legislative  Pflege  erheben.  Denn  er  kann 
im  Gegensatz  zur  Arbeitsordnung  eine  Regelung  nicht  blofs  fiir 
einen  Betriel),  sondern  für  viele,  ja  für  alle  Betriebe  eines  Bezirkes 
herbeiführen.  Sein  Inhalt  entspricht  im  grofsen  Ganzen  den  bei  der 
\  erhaadlufi^  von  den  beiden  Parteien  selbst  geltend  gemachten 
Interessen,  soweit  nicht  das  X'erlangen  nach  gröfeeren  X'orteilen  im 
Inhalt  um  den  Gewinn  des  X'ertragsabschlusses  selber  hingegeben 
wurde.  Die  .Arbeitsordnung  hingegen  empfängt  ihren  Inhalt  alleiii 
vom  Arbeitgeber,  denn  dab  die  grolsjährigen  Arbeiter  Gelegenheit 


Die  TuifvertcSge  zwuchen  Arbettgebem  md  Arbritaehmern.  1 1  j 


erhalten  müssen,  sich  ül)ci  diesen  hihalt  zu  äuijäern  (liewÜ.  §  i34dj, 
ist  keine  X'crbür^un^  eines  Kinflusses.  — 

Bei  der  L'ntcrsuchunjj;  der  Keciuswirkun;^  des  larih  ertrai;s, 
dem  Schwerpunkt  einer  juristischen  I">r<)rterun|^  dessell)en,  sind  wir 
freilich  zulel/t  auf  eine  Unzuläno;liclikeit  des  heutij^en  Rechts  ^c- 
stofsen.  Allein  wenn  wir  uns  beim  Abschluls  noch  einmal  den 
Befund  vep^a^<4^eiuvärtif^en ,  so  dürfte  sich  das  Ucberp^ewicht  recht- 
licher Wirkungskraft  über  die  erwähnte  Schwäche  als  sehr  be- 
trächtlich herausstellen.    Denn  Folgendes  hat  sich  ergeben : 

Der  Tarifvertrag,  soweit  er  die  Parteien  einander  zu  Leistungen 
verbindet  —  was  auf  Bestimmungen  beruht,  die  ihm  nicht  wesent- 
lich sind  —  ist  so  wirksam  und  klagbar  wie  ein  anderer  Vertrag, 
und  er  ist  es  in  gewissem  Mafs  noch  mehr,  da  die  auf  der  Arbeit- 
nehmerseite immer,  auf  der  Arbeitgeberseite  möglicherweise  vor- 
handene Mehrheit  von  Kontrahenten  zu  einer  Vervielfältigung  der 
Klage  aus  dem  einen  Vertrage  fähren  kann. 

Der  Tarifvertrag,  soweit  er  die  Lohn-  und  Arbeitsbedingungen 
L  e.  S.  generell  festsetzt  —  was  seine  wesentlichen  Bestimmungen 
sind  —  bewirkt,  dafs  jene  Bedingungen  ohne  weiteres  in  die  Arbeits- 
verträge der  \  om  Tarifvertr^e  betroffenen  Personen  eingehen.  Diese 
Wirkung  hat  der  Tarif\  ertrag  mit  anderen  Generalfestsetzungen  von 
Vertragsbedingungen  z.  B.  mit  behördlichen  Taxen  gemein. 

Die  eigentümliche  Natur  des  Tarifvertrags  macht  sich  dann 
geltend,  wenn  von  ihm  abweichende  Arbeitsverträge  abgeschlossen 
werden,  indem  das  Kollektivversprechen,  das  die  Mehrheit  ^'egcben, 
oder  empfaii;^fen  hat,  sich  gegen  den  X'ersuch  iiidi\ iduellcr  Ab- 
weichung dert^estalt  <hirchsctzt.  dals  dieser  X'ersuch  milslingt,  und 
die  kollektiv  vereinbarten  Lohn-  und  Arbeitsbedingungen  sich  jedem 
Arbeitsvertrag  mitteilen. 

Diese  Präponderanz  des  l  aritvertrags  über  den  Arl)cit->\  ertrai^. 
die  den  Haupttitel  seines  pri\  atrechtlichen  W  eites  au>macht,  steht 
mit  allgemeinen  (irundsatzen  nicht  im  Widerspruch  und  findet  ihr 
Seitenstuck  am  Verhältnis  der  dem  Tarifvertrag  ähiihchen  Arbeits- 
ordnung zu  allen  oder  doch  zu  gewissen  Arbeitsverträgen. 

Die  vorstehenden  Ergebnisse  rechtfertigen  den  eingang.>  dieses 
Abschnitts  erhobenen  Widerspruch  gegen  die  Annahme  rechtlicher 
Unverbindlichkeit  des  Tarifvertrags  und  sollten  dessen  Befürwortern 
willkommen  sein,  indem  sie  zeigen,  dafs  er  schon  jeut,  bevor  ihn 
die  Sonne  des  Gesetzes  beschienen  hat^  nicht  so  schwach  und 
rechtsverlassen  ist,  wie  selbst  seine  Anhänger  meinen. 

8* 


ii6 


i'hiltpp  Lot  mar, 


iX.  Zur  Gesetzgebung. 

Im  vorigen  Abschnitt  hat  sich  gezeigt,  dafs  die  rechtlichen  Be- 
dürfnisse des  Tarifvertrags  durch  das  geltende  Recht,  wenn  es 
richtig  angewandt  wird,  gedeckt  werden,  ausgenommen  den  Punkt, 
dafs  der  Arbeitsordnung  der  Vortritt  vor  dem  Tarifvertrag  eii^^eraumt 
ist.  Ist  letzteres  ein  oflfenbarer  Mangel,  so  kann  doch  auch  jene 
Bedürfnisdeckung  nur  als  eine  notdiirftit;("  angeschen  werden.  Die 
iiuKUriic  Gewerbegcscizi,'cl)unj^  beschäftigt  sich  ausdrücklich  mit 
dem  I  anf\  ertrng  nicht,  wohl  weil  sie  aus  einer  Zeit  herrührt,  in 
der  diese  Erscheinung  weniger  beaclitet  wurde.  Die  Gewerbe- 
ordnung ^^edenkt  seiner  nicht  Ix  -ondcrs ,  ihr  ij  105  ist  nur  eben 
weit  genug  gefalst,  um  auch  auf  den  i  arif\  ertrag  l)ezo^en  werden  zu 
können  'S.  80I ;  irgendwelcht-  Rcgehnig  des  Tarifvertrags  ist  in 
der  ( rt  werheordnung  nicht  eiithaht  n.  I  )icsrs  ( ic>>ct/.  das  sich  iiber 
die  .\rl>ritS(>r(Unnig  der  gntrscren  Hctricbf  \  t  rl »reitet,  entliält  keinerlei 
X'erfuguiig  ül)er  den  niifidestens  gleich  uichiigcn  Tarifvertrag.  .Aur!) 
das  ( 1  c  w  c  r  l)  e  g  e  r  i  c  h  t  s  g  c  s  e  t /.  kommt  *lem  Tarifs  ertrag  mir 
impiicitc  zugute,  l^s  .steht,  wie  wir  gesehen  hal)cn,  einige  Normen 
für  die  Wrinitllung  des  \1  »schhis-st  s  xon  'Tarif\ertriigen  auf.  Aber 
dabei  wird  der  grün* lU -1  i\deii,  jMtHhiktix  en,  aul  die  Zukunft  ge- 
richteten, tür  zahllose  Arbeitsverträge  malsgebenden  Bedeutung  des 
Tarifvertrags  keine  Rechnung  getragen ,  sondern  die  einigungsamt- 
liche Thäti^'kcit  des  Gewerbegerichts  wird  als  eine  hingestellt,  die 
„in  Fällen  von  Streitigkeiten,  welche  zwischen  Arbeitgebern  und 
Arbeitern  über  die  Bedingungen  der  Fortsetzung  oder  Wiederauf- 
nahme des  Arbeitsverhältnisses  entstehen",  einzutreten  hat,  also  dafs 
das  Gesetz  nur  die  voi^relallenen  und  noch  bestehenden  Differenzen 
im  .Auge  hat  und  deren  gegenwärtige  Begleichung  durch  die 
Intervention  des  Amtes  herbeiluhren  will.  Das  Gesetz  zeigt  sich 
för  die  Herstellung,  nicht  auch  für  die  Erhaltung  des  Friedens  be- 
sorgt Dafs  die  „Vereinbarung",  um  deren  Zustandekommen  das 
ßnigungsamt  sich  bemühen  soll,  in  den  meisten  Fällen  ein  Tarif- 
vertrag ist  und  als  solcher  die  gröfste  Tragweite  hat,  kann  sich  der 
Leser  de>  i  iewerbegcrichtsgesetzes  nicht  vorstellen,  und  ist  erst  bei 
der  Handhabung  des  (  iesetzes  fiir  weitere  Kreise  offenbar  geworden. 

Wenn  nun  der  1  arifvertrag,  obwohl  kein  Gesetz  ihn  ex  professo 
behandelt ,  sich  naturwüchsig  seit  einem  halben  Jahrhundert  ent- 
wickelt ,  in  den  letzten  Jahrzehnten  an  Frequenz  beständig  zu- 
genommen und  in  seinem  Musterexemplar,  dem  Buchdruckertarif, 


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iJic  Tarifverträge  zwiikcben  Arbeitgebern  und  Arbciuichmeni.  nj 

wie  in  den  von  den  Gewerbegerichten  perficierten  Exemplaren 
immer  gröfsere  Würdigung  gefunden  hat:  so  darf  man  mit  Sicher- 
heit erwarten,  dafs  eine  ihm  eigens  zugewandte  Gesetzgebung  seine 
LeistungsßUiigkeit  ungemein  stetem  würde.  Unter  der  besonderen 
Obhut  des  Gesetzes  würden  seine  Vorzüge  sich  deutlicher  entfalten 
und  seine  Schwächen  zurücktreten,  es  wäre  ein  stärkerer  Antrieb 
zur  Benutzung  dieses  Mittels  gegeben,  und  ausgedehnte  £r£üirung 
würde  die  Mängel  vermeiden  lehren,  die  ihm  da  und  dort  zum 
Vorwurf  gemacht  werden. 

Die  Gcsctzgebui^  über  den  Tarifvertrag  hat  zu  bestehen,  teils 
in  der  Abschaffung  von  Bestimmungen,  die  der  Wirksamlceit 
des  Tarifvertrags  hinderHch  sind,  teils  in  der  Hinführung  von 
Restimmungen .  die  dem  Tarifvertrag  X'orschub  leisten,  oder  be- 
stehende Ik'stimmun;^cn  in  diesem  Sinne  reformieren.  A  u  f  z  u  h  t-  h  e  n 
ist  V  o  r  a  11  e  ni  ( i  e  w.  O.  i;  i  5 2  A  b  s.  2  ,  w  e  1  c  h  e  r  d  e  r  K  o  a  1 1 1  i  t  ni 
die  Xatur  eines  gültigen  \' er  trag  es  versagt,  indem  er 
Klage  und  Einrede  unter  den  Koalierten  ausschliefst  fS.  60).  hür 
einen  wirkungskräftigen  Tarifvertrag  ist  es  keineswegs  erforderlich, 
dals  die  Mehrheit  der  Arbeitnehmer  oder  der  Arbeitgeber  Glieder 
einer  (Tcscllschatt.  oder  gar  einer  Korporalion  seien,  und  letzteren- 
falls  eine  jurisii>chc  IVrson  kontraiiicre.  l  ikI  doch  ist  es  von  grofser 
Bedeutung,  dafs  unter  den  Parteigenossen  ein  klagbares  Rechtsver- 
hältnis bestehe.  Es  ist  von  Bedeutung  hauptsächlich  darum,  weil 
anderen&Ik  das  Interesse,  das  die  Genossen  einer  Partei  daran  haben, 
4afs  der  Tarifvertrag  von  den  Ihrigen  eingehalten  werde,  schütz- 
los  ist,  und  daher  auch  von  der  Gegenpartei  auf  dieses  Interesse 
rechtlich  nicht  gerechnet  werden  lann.  In  den  folgenden  vier 
Punkten  äu&ert  sich  die  Wicht^keit  der  Aufhebung  von  §  152 
Abs.  2  für  den  Tarifvertrag: 

1.  ist  damit  gegeben  die  rechtliche  Möglichkeit  einer  Kon- 
ventionalstrafe unter  den  Parteigenossen  ftir  den  Fall  einer  Tarif- 
widrigkeit (vgl.  S.  62), 

2.  ist  damit  auch  ohne  Konventionalstrafe  den  Parteigenossen 
die  Möglichkeit  gewährt,  g^en  einen  der  Ihrigen  zu  klagen  auf 
Einhaltung  des  Tarifvertrags  und  des  tarifmäfsigen  Arbeitsvertrags, 
während  heute  die  Parteigenossen  schutzlos  sind,  z.  Bw  wenn  einer 
der  Ihrigen  mehr  Lehrlinge  hält,  als  der  Tarifvertrag  gestattet,  oder 
die  Arbeitszeit  über  den  tarifmäfsigen  Umfang  ausdehnt.  Das  im 
Tarifv  ertrag  dem  Gegner  gegebene  X'ersprechen  hat  heutzutage  Rechts- 
wirkung nur  im  X'erhäitnis  zu  diesem  d.  h.  der  Taritkontrahenten  zu 


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ii8 


Philipp  Lotmar, 


einander  (S.  lOO).  Erzeu^n  aber  die  Koalition  ein  Rechtsverhältnis 
<U  I  Koalierten,  so  hat  jenes  Versprechen  Rcchtswirkunj^  auch  unter 
den  Genossen  jeder  Partei;  denn  mit  der  Zusai^'C  an  den  Cie'^nier 
übemiinnn  jeder  t(e<:,'enüber  seinen  (icnovsen  die  Pflicht  sich  aller 
Tarifwidri^^keit  zu  enthalten.  Sein«-  Partei- enosscn  sind  an  der  Kr- 
fullunt^^  dieser  Pflicht  intereNskrt  und  durch  die  Kla^harkeit  in 
den  Stand  i^esetzt,  dieses  Interesse  ihm  tiei;enuber  zur  Geltung  zu 
brin^'en. 

3.  Wenn  lieute  ein  luiter  einen»  1  arit\  ertrai;  stehender  Arbeit- 
^rel)er  oder  Arbeiter  mit  einem  Fremden,  iL  h.  nicht  von  tliesem 
Tarifvertrag^  Hetrottenen  einen  tarifwidrii^^en  Arbeitsvertrag  schlielst, 
so  ist  dieser  \'enr;i^  ^"hi^ .  i^»'»»^'  i'<irtei^'en(»sen  jenes  Arbeit- 
j^'ebers  oder  Arbeiters  steht  keine  Reaktion  da^^e^en  zu.  Nach  Auf- 
hebung von  Gcw.O.  §  152  Abs.  2  können  sie  sich  durch  Kon» 
ventionalstrafe  daj^^cf^'en  sichern  und  auch  ohne  dies  ^e^en  ihren 
Parti  i^cnossen  klagen,  der  sich  durch  den  Tarifvertrag  auch  ihnen 
gegenüber  verpflichtet  hat»  an  demselben  schlechthin  festzuhalten. 

4.  Nach  Aufhebung^  von  §  152  Abs.  2  Gew.O.  kann  eine 
Koalition  als  ein  nicht  rechtsfähiger  V^erein  aufbieten,  und  die 
Mehreren,  die  in  seinem  Namen  einen  Tarifvertrag  schliefsen»  haften 
dem  Gegner  als  Gesamtschuldner:  B.G3.  §  54. 

Abzuschaffen  wäre  ferner  die  Bestimmung  der  Gew.O.  §  1 34 c 
Abs.  I,  insofern  ihr,  wie  im  \origen  Abschnitt  angenommen  wurde 
(S.  1 14),  der  Sinn  zukommt,  dals  der  Inhalt  der  Arbeitsordnung  auch 
dann  verbindlich  ist,  wenn  er  einem  Tarifvertrag  zuwiderläuft,  von 
dem  ihr  Urheber  betroffen  wird.  Der  citierte  AbsaC«  müfste  daher 
etwa  lauten :  „Der  Inhalt  der  Arbeitsordnung  ist,  ^ow«  it  er  den  Ge- 
setzen oder  einem  für  den  Arbeitgeber  geltenden  iarifvertrag  nicht 
zuwiderläuft,  für  den  Arbeitgeber  und  die  Arbeitnehmer  recfftsver- 
bintllich." 

Die  Kiniuiirung  von  i:,'^c<etzlichen  Bestinuiiungen  über  cfcn 
Tarifvertrag  miilste  teils  in  der  ( lewerbeordnung,  teils  im  Ciewerbo- 
geru  htsgesrt/  i^eschehen.   Die  (iewerl>eordnung  hätte  sich  mit  dem 
n  arif\  ertrag  .zu  befassen  in  ihrem  \'ll.  l  itel,  aber  nicht,  wie  mit  fler 
Arbeitsordnung  geschieht,  im  Abschnitt  IV,  iler  die  Verhältnisse  der  \ 
Fabrikarbeiter  regelt,  si.iuiern  cntwetler  im  Abschnitt  I  ,, Allgemeine  * 
\'er lialtiiisse",  oder  besser  noch  in  einem  eigenen  Abschnitt  ,,  1  arif- 
verträge":  denn  Tarifverträge  kommen  >chon  heute  nicht  blofs  bei  S 
Fabrikarbeitern  und  denjenigen  anderen  gewerblichen  Arbeitern  vor,  \ 
für  welche  die  Bestimmungen  über  die  Arbeitsordnung  nach  Gew.O.  \ 


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Die  Tarifverträge  zwisdicn  Arbe-itg<-b«rn  und  Arbeitnelinicm.  1 19 


§  154  Abs.  2  gleichialk  gelten,  und  es  soll  den  TariivertfSgen  die 
Geltung  erhalten  werden  fiir  jede  Art  gewerblicher  Arbeiter  im 
Grofe-  wie  im  Kleinbetrieb,  im  Handwerk  und  in  der  Hausindustrie, 
auf  Bauten  und  in  Häfen,  in  der  Seeschiffahrt  und  im  Bergwerk. 

Ueber  die  Personen  der  Tarifkontrahenten  liätte  die  (rewerbe- 
ordnung  zunäcl^st  /u  I)e«>ttmmen  und  sodann  über  Fmm,  Inhalt  und 
Wirkung  des  Tarifvertrags. 

Was  die  Form  anlangt,  so  sollte,  was  bisher  schon  meistens 
freiwillig  ^^cschehen  ist,  durch  das  (lesetz  vorgeschrieben  werden, 
nanilirh  dnl's  der  Tarifvertrag  schriftlich  geschlossen  werde.  Kbenso 
mulstc  itxler  Beitritt  (die  nachtriiLdiche  Genehmigung)  schriftlich  er- 
klärt werden.  Die  Urkunde  des  larifvertrags  wäre  •  wie  tlie  Ar- 
beitsordnung nach  (lew.O.  l  V|c  Abs.  2)  vom  Arbeitgeber  „an  ge- 
eigneter, allen  beteiüt^'tcu  Arbeitern  zut^änglicher  Stelle  auszuhängen" 
und  es  müiste  ,,der  .\ushang  .stets  in  lesbarem  Zustande  erhalten 
werden".  .\uf  diese  rrkuntie  wäre  jeder  anzustellende  Arbeiter  /.u 
verweisen,  und  es  dürfte  kein  Arbeitsvertrag  mit  ihm  abgeschlossen 
werilen,  er  habe  denn  den  ihm  bekannten  Tarifvertrag  als  für  ihn 
geltend  erklärt.  Es  würde  sich  aber  sehr  empfehlen  im  Form- 
erfordernis noch  einen  Schritt  weiterzugehen.  Kein  Tarifvertrag 
sollte  gültig  sein,  wenn  er  nicht  vor  dem  Einigungsamt  verlautbart, 
oder  durch  dessen  Vermittlung  abgeschlossen  worden  ist.  Auch 
der  nur  verlautbarte  müfste  der  Prüfung  des  Einigungsamtes  in 
Hinsicht  auf  Klarheit  und  Gesetzmäfsigkeit  unterliegen,  und  die  Be- 
seitigung solcher  Mangel  wäre  den  Parteien  aufeugeben.  Als 
Einigungsamt  hätte  in  Ermangelung  eines  Gewerbegerichts  u.  dgl. 
der  Gemeindevorsteher  zu  fungieren;  für  das  Handels-  und  Schiff- 
fahrtsgewerbe  wären  andere  Mittebpersonen  zu  bestimmen.  Den 
Abschluis  vor  dem  Einigungsamt  u.  dgl.  obligatorisch  zu  machen, 
falls  er  nicht  aufsei^erichtlich  erfolgt,  böte  den  Vorteil,  dafs  so  die 
Arbeitgeber,  die  sonst  die  V^erhandlung  mit  den  Arbeitern  ablehnen, 
leichter  zum  Aufgeben  dieses  Standjiunktes  gebracht  werden  können : 
vorausgesetzt  nämlich,  wovon  noch  die  Rede  sein  wird,  dafs  da-s 
von  einer  Partei  angerufene  Einigungsamt  die  andere  verbindlich 
vorladen  kann.  Der  vor  dem  Fünigungsamt  verlautbarte,  oder  <^e- 
schlo.ssene  Tarifvertrag  ist  nnrli  (Tewerbegericht.sgesetz  66  zu  l)c- 
handcln.  Die  oben  geforderte  schriftliche  Beitrittserklärung  wäre 
vom  Hntr(U-nden  an  den  Vertreter  seiner  i^artei  zu  richten  und 
von  diesem  <leni  I'üni^uri'^samt  mitzuteilen. 

Was  sodann  den  Inhalt  des  Tarifvertrags  anlangt,  so  kann  der- 


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I20 


Fhilipp  Lotm«r. 


selbe  —  wie  der  der  Arbeitsordnung;  (Gcw.O.  §  134b)  —  aus  obliga* 
torischen  und  aus  fakultativen  Ik-stinimungcn  bestehen.  Zu  den 
obli^'atorischen  ä^a'horen  die  über  den  Lolin  in  den  verschiedenen 
Hinsichten,  nach  denen  er  in  den  bisheri^an  Tarifverträ-^en  bestimmt 
wurde  (S.  14  -18)  und  jcdcrif.ilK  >cin  Hetra^;.  h'erner  niüfstc  der  1  arif- 
vertrat;  enthalten  eine  Hestimniun,;  liber  ^ciI1e  ei,4cnc'  ( liilti^keits- 
dauer,  seine  Kündii^unt;  und  I-.nunicrun^',  ebeusu  die  Hezeichnui  i; 
einer  I'erscjn,  Kommission,  Behörde  u.  s.  \v.,  der  die  Auslei^un.;  de^ 
Tarif\  ortrai,^-«  und  die  Beurteihuii^  \'on  Beschwerden  über  seine  \'er- 
letzun;4  /ukonunen  soll.  P'ndlicli  hätte  jeder  larifv  ertrag'  eine  Be- 
stimmung zu  (lunsten  der  Koalition  zu  enthalten  —  weni'^sten> 
solange  als  nicht  strafrechtlich  die  Ko.ilitiun>h eihcit  ^^arantie^t  ist. 
Nach  der  früher  besprochenen  Bedeutun^^  der  Koalition  für  das 
Tarif\  crtragswesen  (S.  67)  ist  das  Gedeihen  desselben  an  die  Koali- 
tionsfreiheit  geknüpft  Es  genügt  aber  nicht  die  S.  I17  in  erster 
Linie  geforderte  privatrechtliche  Anerkennung  der  Koalitionen»  und 
ebensowenig  die  privatrechtliche  Ungültigkeit  von  Vertragsbe- 
stimmungen, in  denen  ein  Kontrahent  dem  anderen  verspricht,  sich 
der  Koalition  zu  enthalten.  So  lange  eine  Hinderung  an  der 
Koalition  straflos  möglich  ist,  mufs  wenigstens  durch  den  Tarif- 
vertrag die  Ausübung  des  Koalitionsrechts  garantiert  werden,  damit, 
folls  hierin  der  Tarifvertrag  gebrochen  wird,  auf  Unterlassung  ge- 
klagt werden  könne  (vgl.  CP.O.  §  890). 

Ueber  dieWirkun^^  des  larifvertrai^js  brauchte  die  Gewerbe- 
ordnung; sich  nur  m  einem  l'unkt  zu  äufsern,  nämlich  nur  inbezug 
auf  die  Lohn-  und  Arbeitsbedingungen  i.  e.  S.  Und  blofe  um  jeden 
Zweifel  an  ihr  auszuschliefsen,  nicht  um  diese  Wirkung  allererst 
einzuführen,  hätte  sie  zu  erklären,  dafs  jeder  Arbeitsvertrag,  den 
Personen  für  ihr  (lewerbe  abschliefsen,  die  von  einem  für  dieses 
Gewerbe  {Geltenden  Tarif\  ertrag  betroffen  wen k  11,  nur  mit  den 
Lohn-  und  Arbeit sbedin;^uiiL,'en  zustande  kommt,  die  der  Tarif- 
vertrag vorschreibt.  I\inc  .\bwcichun;;,  d.  h.  eine  l  eberschreitunt; 
des  vom  Tarifvertrag  der  individuellen  Kc,.;clung  belassenen  Spiel- 
raums Wtäre  damit  für  ungültig  erklärt.  — 

Kin  anderer  Teil  der  neuen  Normen  für  den  Tarifvertrag  wurde 
durch  .Aenderung  des  (i  e  w  e  r  be  g e  r  i c  h  t  sg e  se  t  ze s  zustande 
konnnen.  Es  mülste  so  umgestaltet  werden,  dals  die  einigungs- 
amtliche Thätigkeit  des  tiewerbegerichts,  und  zwar  seine  Ver- 
mittlung von  Tarifvertragsschlüsi>en  leichter  und  wirksamer  sich 
entfalten  kann.    Derartige  Vorschläge  sind  von  anderen  Seiten 


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Die  TarifvertrSge  zwüchen  Arbeitgebern  und  Arbeitnehmera. 


I2i 


Wiederholt  und  mit  guten  Gründen  {gemacht  worden,  so  dafs  hier 
ein  näheres  Eingehen  unterbleiben  kaum  (y^l  S.  45  Anm.  i). 
Hauptsachlich  —  und  zumal  wenn  man  jeden  Tarifvertragschluts, 
der  nicht  aufsergerichtlich  gelingen  .will,  vor  das  Einigungsamt  ver- 
weist kommt  es  darauf  an,  das  Einigut^samt  schon  auf  einseitige 
Anrufung  in  Thätigkeit  zu  setzen,  indem  man  ihm  die  Ladung  der 
anderen  Partei  möglich  und  zur  Pflicht  macht.  Dies  schliefst  nicht 
ans,  was  wiederholt  \'orkani,  tlafs  das  I^inigungsamt  im  Kcdürfiiisi.ill 
sich  Ireiwiliig  um  die  Herheiführung  jener  Anrufung  bemühe,  herner 
sollte  das  einmal  angerufene  Einigungsamt  hrsciicinungs/wang  und 
\'erhandlungsz\vang  üben  können,  sowie  über  die  Legitimation 
etwaiger  X'ertreter  endgültig  zu  entscheiden  haben  (vergl.  S.  71). 
Wenn  aber  eine  Koalition,  die  durch  Aufiiebung  von  (iew.O.  §  152 
Abs.  2  zu  einem  Rechtsgebilde,  mindestens  zu  einer  Gescllsehatt, 
geworden  i>t,  mit  ihrer  X'ertretung  bestimmte  Personen  betraut  hat, 
so  darf  es  niclu  mehr,  wie  zur  Stunde,  im  „freien  hrmes.->en"  des 
Einigungsamtes  li^en,  jenen  Personen  die  Legitimation  abzuerkennen. 
Im  ganzen  verdient  die  Vermittlui^  von  Tarifverträge  durch  das 
Gewerbegericht  darum  jegliche  Förderung,  weil  sich  erwarten  lädst, 
dafs  je  mehr,  je  umfassendere  und  klarere  Tarifverträge  auf  diesem 
W'ege  zustande  kommen,  um  so  eher  Streitigketten  aus  den  auf 
Grund  solcher  Tarifverträge  abgeschlossenen  Arbeitsxxrträgen  hint- 
angehalten werden. 

Denkt  man  sich  die  hier  nur  angedeuteten  Grundziige  zu  einer 
Reform  des  Rechts  vom  Tarifvertrag  näher  ausgeführt,  ergänzt  und 
legislativ  verwertet,  so  darf  man  sich  von  der  gesetzlichen  Pflege 
dieser  Einrichtung  Früchte  versprechen,  welche  die  staatliche  Gesetz- 
gebung über  das  Arbeitsverhältnis  dessen  Teilnehmern  in  absehbarer 
Zeit  nicht  zu  bieten  imstande  wäre.  Demi  kommt  die  tariKrertrag- 
liehe  Bestimmung  der  Lohn-  und  Arbeitsbedingungen  mit  der  gesetz- 
lichen darin  überein,  dafe  sie  für  eine  unbestimmte  Reihe  von  Ar- 
beitsverträgen gilt,  so  ist  sie  doch  in  diesem  Hauptpunkt  dem  (lesetz 
nach  zweierlei  Hinsicht  überlegen.  Hin  mal  nämlich  geht  die 
erstere  stets  und  unmittelbar  \on  interessierten  Sachverständigen 
aus:  es  sind  die  als  Arbeiter  und  Arl)eitgel)er  am  ( lewerbe  Be- 
teiligten, die  ohne  anderes  Ziel  als  ihre  Lage  zu  verbessern  und  auf 
Grund  von  selb.sterworbener  Kenntnis  die  Kegeln  aul^lelien,  für  sicii 
und  Ihresgleichen  eine  Ordnung  srhaft'en,  während  der  heutige 
Gesetzgeber  den  zu  regelnden  Stoff  blofs  mittelbar  emi)fängt  und 
die  Stimme  der  Arl>eiter,  unter  fremden  Einflüssen,  nur  schwächer 


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122    Philipp  Lotmar,  IMeTarifvertric*nroebeD  Aiteitgebem«.  ArbdtnehiiMfn. 


und  minder  rtin  vernehTncn  kann.  I  crner  «rhält  die  autonome 
Odnun^,  eben  weil  sie  durch  Heteihj^le  j^c^chatlen  wird,  teils  einen 
Inhalt,  teils  einen  (  ira<l  der  Ausbildim^f,  wie  er  auf  dem  VVei,'e  der 
staatlichen  ( iesetzi^t  1)Uiil;,  wt  nn  jemals,  dt)cli  nur  in  ^rofser  und  Un- 
gewisser Ferne  erlatiL^'t  werden  könnte.  Denn  die  Beslirnmunjr 
eines  Minimallohnes  mit  den  hier  niöj^lichen  Abstufunj:jen,  einer  ins 
einzelne  gehenden  Stueklohnliste,  einer  maximalen  Arbeitszeit  für 
die  erwachsenen  männlichen  Arbeitnehmer  jn  den  verbreiteten  Ge- 
werben —  eine  Festsetzung  dieser  und  vieler  anderer  Lohn-  und 
Arbeitsbedingungen  wird  man  von  der  Gesetzgebung^  in  absehbarer 
Zeit  nicht  erwarten  dürfen.  Dafs  dergleichen  aber  durch  den  Tarif* 
vertrag  geleistet  werden  kann,  wird  durch  die  Er&hning  bewiesen. 
Um  wie  viel  müfste  daher  seine  Leistungsfähigkeit  durch  eine  ihm 
gewidmete  Gesetzgebung  gefördert  werden.  Dann  würde  noch  mehr 
zum  Vorschein  kommen,  dafs  der  Tarifvertrag  die  Fortbildung  des 
Privatrechts  für  den  .Arbeitsvertrag  grofsenteils  zu  ersetzen  und  Bahn 
(ur  dasselbe  zu  brechen  vermag.  Die  künftige  Geset^;ebung  über 
den  Arbeitsvertrag  wird  aus  den  Tarifvertr%en  zu  schöpfen  haben. 

Un<l  jene  Fortbildung'  auf  dem  gesetzlich  geschützten  indirekten 
Wege  des  I arifvertrags  ist  der  Aufstellung  objektiven  Rechtes  vot^ 
zuziehen.  Denn  nicht  nur  ist  dieses  Verfahren  schwerfälliger,  CS 
vermag  sich  aucli  den  örtlich  und  zeitlich  wandelbaren  Hedürfnisscn 
der  Arbeiter  und  Arbeitureber  nicht  in  dem  gleichem  Mal'se  anzu* 
passen»  wie  der  Tarifvertrag. 


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Die  BerufiB>  und  Qewerbezähhmg  im  Deutschen  Reich 

vom  14.  Juni  2895. 

Von 

Prof.  Dr.  H.  RAUCHBERG 

in  Prag. 

Zweiter  Teil. 

Berufsgliederong  und  soziale  Schichtung. 

FoftMinng.; 

IX.  Die  häuslichen  Dienstboten. 

Die  hauslichen  Dienstboten  nehmen  eine  Mittelstellung  ein 
zwischen  den  Erwerbthätigen,  mit  welchen  die  bisherige  Darstellung 
sich  beschäftigt  hat,  und  den  Familienangehörigen  ohne  eigenen 
Hauptberuf,  denen  der  nächste  Abschnitt  gewidmet  ist.  Gleich 
diesen  letzteren  werden  sie  nicht  zu  den  Berufsthätigen  im  eigent« 
liehen  Sinne  gerechnet,  denn  ihre  Wirksamkeit  ist  in  erster  Linie 
eine  hauswirtsrhaftliche,  keine  volkswirtschaftliche.  Daher  wurden 
sie  bei  der  Berufsgliederung  der  gesamten  Bevölkerung  dem  Be- 
rufszweige des  Dienstgeber«;  zugezählt.  Andererseits  ist  ihre  Thätig- 
keit  vom  privatwirtschaftlichcn  Standpunkte  aus  offenbar  als  Erwerb 
anzusehen.  Dem  ist  iladurch  Rechnung  getragen  worden,  dar>  man 
den  häuslichen  Dienst  als  eine  besondere  Kategorie  der  Heruf- 
stellung  gelten  lälst.  Je  nachdem  volks-  oder  j)riv'atwirtschaftlichc 
(iesicht'^puiikte  .stärker  hrtntit  werden  sollen,  können  also  die  Die- 
nenden /u  den  F.rhalteiuM  oder  lu  <.len  Krwerbendcn  geschlageti 
werden.  Auch  hinsiclitlich  ihrer  Ik-deutung  für  die  soziale  Schich- 
tung können  zwei  (iesichtspunkte  i^eltend  gemacht  werden.  .An 
und  für  ^ich  belrachtct,  gehören  die  liäuslichen  Dienstboten  zweifels- 
ohne der  unbemittelten  Klasse  an;  sie  können  in  dieser  Hinsicht 


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124  Rauchberg, 

im  allgemeinen  den  Arbeitern  gleichgestellt  werden.  Andrerseits 
darf  die  Gesiitdehaltung  bis  zu  einem  gewissen  <  it  adc  al>  ein  Sym- 
ptom des  Wohlstandes  der  Dictist*,'el)er  "gelten.  Unter  dieser  Voraus- 
setzung^ sind  die  Verhaltnis/ahlen  ül)er  die  Häuh;:^kcit  der  Dimst» 
boten  ein  Gradmesser  für  die  \vinschaftli('hc  und  soziale  L^e  der 
einzelnen  Berufe,  sozialen  Schichten  und  Ciebietsabschnitie. 

Wie  bereits  früher  erwähnt  V)  ist  die  Zahl  der  häuslichen  Dienst- 
boten seit  1882  nur  um  ein  (  leriiiL^es  -^e^tiegen,  weniger  als  die 
Gesamtbevölkerung,  so  dafs  ihr  Anteil  daran  etwas  abgenommen 
hat   Es  wurden  häusliche  Dieni>tboten  gezählt 

im  Jahre  1895  im  Jihiv  188a 

absolut   auf  100  Einwohner     absolut  auf  100  Einwohner 

minnlidi 

weiblich  . 


•    .    •    •       25  ;>-;f) 

0,10 

42  5>o 

0,19 

.    .    .    .  I3i;q>7 

4,08 

1 382414 

5.56 

zusamna-n  t339jit> 

2.59 

1 3249^4 

2.9J 

Rechnet  man  die  Dienstboten  mit  zu  den  Erwerbthatigen.  üo  waren 
von  je  100  Erwerbthatigen  Dienende 

1805  1SS2 

männlich  ....      0,16  0,32 
weiblich  ....    19.97  23.14 
im  ganzen    6,06  6.99 

Nach  dieser  Bererhniiiigswcise  beträgt  der  relative  Rückga  fast 
ein  Prozent.  Der  Prozentsatz  der  Diener  ist  auf  die  Hälfte  des 
Standes  von  1882  gesunken,  jener  der  weiblichei  Dienstboten  von 
fast  ein  Viertel  auf  nur  ein  t  üaftel  aller  weiblichen  En^'erbthätigen 
zurückgegangen. 

Bei  der  Beurteilung  dieser  Bewegung  ist  vor  allem  daran  fest 
zuhalten,  daüs  —  wenigstens  für  das  Deutsche  Reich  im  ganzen  — ► 
nicht  von  einer  absoluten  Abnahme  die  Rede  sein  kann,  sondern  nur 
von  einem  Zurückbleiben  hinter  der  raschen  Zunahme  der  Krwerh- 
thätigen.  Nur  eine  Keilt  xw  irkung  da\on  i-^t  e>^,  dal's  dit-  Prozent- 
sätze der  Dienenden  nuuniehr  kleiner  austallcn.  D.il-  !u-  kia>>^e 
der  Dieiieiuien-  mir  so  langsam  zugcnoninien  hat.  ist  »iwohl  aus 
formalen  als  auch  aus  materiellen  Ursachen  zu  erklären.    Ich  bin 


')  Vgl.  ikn        .  HJ.  dirses  .\rchi\>  S.  2üy. 


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Die  Berufs«  und  Gewcrbrxäbluug  im  Dcutüchcn  Reich  vom  14.  Juni  1895.  125 


geneigt,  den  formalen  Ursachen  sehr  grolsen  Einflufe  einzuräumen. 
Die  Grenzen  zwischen  persönlichen  Dienstleistungen  und  cigcntHcher 
Berufearbdt  sind  nämlich  fliefsend,  insbesondere  in  einem  landlichen 
Haushalte.  Die  gleichen  Momente,  welche  dazu  geföhrt  haben, 
dafs  1895  die  Familienangehörigen  in  höherem  Ma(se  als  erwerbend 
eingetragen  wurden  wie  1882  *),  waren  zweifellos  auch  iiir  die  Regis- 
trierung der  Dienstboten  von  Einfluß:  eine  gröfsere  Zahl  von 
zweifelhaften  Fällen  ist  nunmehr  im  Sinn  der  Erwerbthätigkeit  ent- 
schieden  worden.  So  ist  insbesondere  der  auffällig  starke  Ausfall 
bei  den  männlichen  Dienern  zu  erklaren.  Auch  durch  die  nach- 
folgende Untersuchung  nach  Herufsabteilungen  wird  diese  Annahme 
bestätigt  werden.  .\us  der  üebersicht  auf  S.  127  ist  zu  ent- 
nehmen, daiis  die  Zunahme  im  fjanzen  hauptsächlich  deswe^ren 
so  i^crinj^'rügig  und  gefallen  ist,  weil  die  Dienenden  in  der  Berufs- 
abteilung Landwirtschaft  um  5021O  abgenommen  haben.  Nun  ist 
ihre  Berufsstellung  in  der  l  ;uid Wirtschaft  besonders  zweifelhaft. 
Erinnern  wir  uns,  dafs  die  landwirtschaftlichen  Knechte  und 
Mägde  eine  Vermehrung  um  129707  aufweisen,  -)  so  liegt  die 
Vermutung  nahe,  dafs  jener  Ausfall  hier  in  geänderter  (ie^^talt 
wieilcr  auftauclit.  Aehnlich  verhält  es  sich  mit  der  Bcrufs- 
al'ii  iluiig  Handel  und  Verkehr,  wo  1895  1474  Dienstboten  weniger 
als  I^^.S2  angegeben  worden  siiul.  Der  Ausfall  ist  /war  ganz  un- 
bedeutend, im  Hinblick  auf  die  kräftige  Hntwirklung  diesrr  Hrrufs- 
iltteilung  aber  höchst  auffallig.  Offenbar  ist  eine  Anzahl  \(mi  Per- 
sonen in  sciicher  Stellung,  welche  1SS2  noch  als  [)crsünlicher  Dien^^l 
galt,  1895  bereits  zu  den  (iehilfen  im  (rewerbc  gerechnet  worilen; 
ich  erinnere  nur  an  die  zahlreichen  Kutscher,  Hausknechte,  Laden- 
mädchen U.8.W.,  die  sich  auch  in  der  Wirtschaft  nützlich  machen. 
Es  ist  das  mehr  eine  —  an  sich  ja  ganz  erfreuliche  —  Aenderung 
in  der  Beurteilung  der  Dienstleistungen,  welche  die  Zahlen  der 
Dienstbotenhaltung  aber  herabdruckt.  Auf  geminderten  Wohlstand 
kann  daraus  keinesfalls  ge9chlos.sen  werden. 

Neben  diesen  formalen  Veranlassungen  dürften  allerdings  auch 
materielle  Momente  auf  die  Dtenstbotenhaltung  gedrückt  haben. 
Zunächst  die  allgemeine  Tendenz  zur  Verkleinerung  der  Haus* 
haltungen,  welche  der  modernen  Entwicklung  eigen  ist.  Familien- 
glieder mit  eigenem  Erwerb  verlassen  früher  als  sonst  das  elterliche 


Vgl.  die  Ausfiiluniiiscii  Bd.  XIV  dieses  Archivs  368. 
>)  Vgl.  im  XIV.  Bd.  dieses  Archivs. 


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126 


H.  Kauchberg, 


Haus  um  Lin/olr.liau>iiaiiun^cn  zu.  fuhicü.')  Die  1mi.;c  der  städtischen 
VVohnverhälinis>e  erschwert  die  Dicnstbotenhaltunj^,  mancherlei  tech- 
nische Einriclitun^cn,  Gas-  und  Wasserleitungen,  Aufzüge,  Gasherde 
u.  dergl.  machen  sie  entbehrlich.  Denn  allmählich  dringt  der  technische 
Fortschritt  selbst  in  die  konserx'ativen  Innenräume  des  Hauses,  in 
Küche  und  Speisekammer  ein.  Und  seine  Wirkung  ist  auch  hier  die 
gleiche  wie  sonst,  er  erspart  menschliche  Arbeit:  man  kommt  mit 
weniger  Dienstboten  aus.  Auch  ist  der  Geschäftskreis  der  Haus* 
haltung  dadurch  eingeschränkt,  dafs  immer  mehr  Arbeitsprozesse 
ausgeschaltet  und  von  arbeitsteiligen  Betrieben  besorgt  werden. 
Dann  ist  der  Hausfrau  auf  dem  Arbeitsmarkte  eine  gewaltige  Kon* 
Icurrenz  in  der  Arbeitsnachfirage  der  Industrie  erwachsen,  die 
nicht  nur  mit  höherem  Geldlohn,  sondern  auch  durch  gröfsere 
persönliche  Unp^cbundcnhcit  lockt.  Endlich  sind  die  gebesserten 
Heiratschancen  der  Dienstmädclicn  mit  /u  l»oi ürk-^i.  lnii;cn.  Dienst- 
boten müssen  ledig  sein.  99  Prozent  dcr>elben  sind  es.  Mit  der 
Vcrehelichunj^  treten  sie  aus  dem  Dienst.  So  kommt  es,  dnfs  sie 
nicht  allzulang  dal)ei  bleiben.  44  Prozent  der  Dienstmädchen  sind 
unter  20,  39  Prozent  20 — 30  Jahre,  somit  S3  Prozent  unter  30  Jahre 
alt.  Die  anderen  .Altersstufen  sind  so  schwach  bcsct/.t,  weil  die 
Mädchen  schon  vorher  wc^L^chcir.itci  halien.  So  kommt  dat 
die  Dicn>tlioiLMihaltun|4  luchl  im  gleichen  Mal>e  zu'^enonunen  hat 
wie  die  Hc\  olkcrun;^.  In  zahlreichen  Fällen  wenicn  für  Arhcits- 
x'errichlun^en,  die  sonst  den  Dienstboten  zufallen,  haii->haliiniL,'sii  cmde 
Hilfskräfte  heranp^ezf)i;en,  wie  denn  auch  thatsachlich  die  Zahl  der 
Personen,  die  \  on  häuslichen  Diensten  leben,  ohne  jedoch  der  1  laus- 
haltung  der  Diensigcber  anzugehören,  von  162076  auf  231  572  ge- 
stiegen ist.  Es  besteht  kein  Zweifel,  dals  diese  Tendenzen  in  Zu- 
kunft immer  stärker  her\'ortreten  werden.  Die  Frauen  der  wohl* 
habenden  Klasse  werden  »ch  darein  finden  müssen,  mit  weniger 
Dienstboten  auszukommen.  Und  die  Fortschritte  der  Technik  und 
der  Arbeitsteilung  werden  ihnen  das  leicht  machen,  wenn  sich  die 
Hausfrauen  nur  dazu  verstehen,  einen  guten  Teil  ihrer  Geschäfte 
der  volkswirtschaftlichen  Produktion  zu  überweisen.  Ich  befürchte 
nicht,  dafs  das  Leben  der  Frauen  dadurch  ärmer  wird.  Im  Gegen- 
teil: sie  werden  erst  Freiheit  erlangen  zur  Pflege  geistiger  Inter- 

Dafs  die  BenifstShlung  «6  unterlassen  hat,  die  Daten  über  die  Zusammen- 
setzong  der  HanshaUungcn  zu  verwerten,  habe  ich  schon  früher  bedauernd  erwihnt. 
Aber  (Iber  jene  Tendenx  werden  wir  auch  durch  die  Volksxahlitngen  naterriditet. 


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Die  Berufs-  aad'  Gewerbedthlang  im  Iieatsdicii  Reich  vom  14.  Juni  1895.  12J 


essen  und  zur  Teiinalime  an  den  Angelegenheiten  des  öffentlichen 
Lebens. 

Da  die  Dienst botenhaltu  11;^^  bis  zu  einem  ^^ewissen  Grad  durch 
den  Wohlstand  bedingt  ist,  so  bestehen  ^rölsere  Unterschiede  in 
dieser  Richtung  zwischen  den  sozialen  Klassen  als  zwischen  den 
einzelnen  Kerufeii.  Es  führt  zu  nichts,  die  Dienstbotenhaltung  nach 
Bcriifszweigen  zu  untersuchen,  wenn  man  dabei  nicht  auch  auf  die 
sozialen  Unterscheidungen  der  Berufsstellung  eingeht.  Darum  werden 
in  der  nachstehenden  Uebersicht  der  Berufeabteilungen  A— C  weiter- 
hin  nach  den  Kategorien  der  Beru&stellung  zerlegt. 


Berafsabteiluii^  u  BerafuteUuag 


A.  Laadwiftschafi 


B.  Indintrie 


Selbständige 

.Vngestellte 

Arbeiter 


I  SellMtliidige 

Angestellte 
Arbeiter 

ziuammen 

Selhstiin<1i}jf 
Angeslellte 

Arbeiter 


C.  Handel  ikVerkehr' 


D.  Himl.  Dienste  etc. 

E.  Oeffentl.  Dienst  etc. 

F.  BemfskMe  SelbstMncfiKe 

im  gansen 


Auf  je  ioo  l:.rwerb- 
thitife  jeder  Beruft- 
bittsl.  Dienstboten  abteilm^ und  »oktalen 


1SS2 

1895 

1S82 

349693 

394  773 

13.6« 

I7.«S 

1275« 

13290 

I3,a6 

»9.94 

16850 

0,29 

374697 

434913 

4fS« 

268255 

266110 

13,01 

12,09 

27  267 

«4157 

10,34 

14.29 

24612 

22  294 

0,41 

0.54 

320  1 34 

302  561 

3,87 

4.73 

24499a 

266656 

29,04 

38,«' 

19504 

20571 

1 1.27 

H,53 

94B1 

8224 

0,77 

i.»3 

283977 

39S4SI 

13,15 

18,81 

1270 

2  189 

C^29 

0.55 

191 122 

164570 

«3^ 

"5,96 

168  t  16 

 »3$^_ 

7^5 

9,98 

1 339316 

1324924 

5.«4 

6,9« 

Die  drei  Berufsabteilungen  A  —  C  zusammen  i^cnomnion,  entt^illcn 
auf  je  IOO  Selbständige  15.76,  auf  100  AnGf^^strlhc  Ii,i8  und  auf 
IOO  Arbeiter  0,36,  durchschiuttlirh  aber  auf  h>o  Krwcrbthäti^e  5,17 
häusliche  Dienstboten. '  j  In  sämtlichen  Berufsabteilungen  und  Berufs- 


')  Richtiger  wäre  es  freilich,  luna»  li-;t  lih'jrni^jon  l'rwi-rhth:iti>;«-*n  auswusch eidim, 
welche  keine  OieoÄtboten  halten,  und  deren  Vcrhältni>  lu  jenen  mit  Diea^tboten 
fwtiMtellen,  die  Dienstboten  aber  lediglich  in  den  Dieostgebera  in  Beuehong  ai 
AUein  an  den  bierfilr  erfocderlicben  Unterscfaeidangen  fehlt  es  in  den  iMUmg^ 


128 


}I.  Küuchberg, 


stellung^en  ist  die  Dienstbotenhaitun ^  gtk'tn  zurückgegangen; 
nur  bei  den  Selbständigen  der  Industrie  hat  sie,  wenn  auch  unerbeb* 
lieh  zugenommen.  Auch  bei  der  Untersuchung  nach  Berufsgr  u  p  p  e  n , 
und  berufsarten  kommt  es  vor  allem  auf  deren  soziale  Struktur  an.  Je 
stärker  die  Arbeiter  darin  vertreten  sind,  desto  geringer  bleibt  verhält- 
nismäfsig  die  Dienstbotenhaltung.  Innerhalb  der  Arbeiterklasse  bleibt 
sie  durchaus  gering.  In  keinem  Beruf  erreicht  sie  hier  2  Prozent, 
nur  in  18  Berufszweigen  übersteigt  sie  t  Prozent.  Erhebliche 
Unterschiede  zwischen  den  Arbeitern  der  versclüedenen  Berufsarten 
sind  in  dieser  Hinsicht  ausgeschlossen.  Wohl  aber  treten  solche 
schon  auf  bei  den  .\tigesteilt(  n.  Obenan  stehen  die  Angrstclhcn 
(Irr  (  iru|>]>e  For-^tw  irtschaft  un*l  hischerei  mit  36,07,  der  chemisriun 
Industrie  mit  16,08  und  des  Bergbaues  und  liuttcnwcsetis  mit  15. SS 
Dienstboten  auf  la)  Er\verl)tliätiL,'c.  Atn  tiefsten  steht  der  Prozentsatz 
mit  5,6s  bei  den  AngestelUi-fi  der  künslleris(  hen  H<'triel>(Mi  mit 
6,43  Ixi  den  Ant;e«;ti'Utcn  der  Heklei<lunL:sin(histrie.  Atn  gr<»rsten 
sind  die  Abstimde  bei  den  SelbstTindi j;en.  weil  die  '-elb^tändige 
StelhiriL;  in  den  eiii/ehicn  Berufen  eine  >ehr  \  er»rhie<l«  n«  w  irt- 

^rli.iftliehe  vMid  so/iale  Hc-deulunj^  hat.  WO  \  iele  Alleitinu  i^ter  CKler 
^MMi^tiL^c  Isleine  Leute  <la/u  gerechnet  werden,  bleibt  da>  \  erhältiiis 
sehr  un;;ünstig.  "^o  kuinnien  in  der  Hekiei(hnigsindustrie  nur  3.4 ^. 
in  der  Holzindustrie  7,35-  der  I  e\tilir)dustrie  8,23  l)ien>lboten 
auf  100  Selbstaiuli;:c.  Anders  in  Ikrukii.  welche  einen  f^rölsercn 
Hetricbsumfang  bedingen  und  woselbst  verhalt nismäfsig  wenig  Selb- 
ständigen zahlreiche  Abhängige  gegenüber  stehen.  In  solchen  Berufen 
können  die  Selbständigen  auch  zahh'eiche  Dienstberten  halten ;  so  ent- 
fallen deren  im  Bei^bau  und  Hüttenwesen  85,94  und  in  der  chemischen 
Industrie  94,03  auf  je  100  Selbständige.  Unter  den  einzelnen  Be* 
rufsarten  stehen  obenan  Geld-  und  Kredithandel  (130,56 
Apotheker  (118,48  Forstwürtschaft  (105,57  *»).  Brauerei  (88,90*0) 
etc.;  die  Reihe  schliefst  ab  die  Wäscherei  und  Plätterei  mit  1,90 
Dienstboten  auf  je  100  selbständige  Erwerbthätige. 

Die  Entwicklung  seit  1882  hat  im  allgemeinen  die  Abstände 
erweitert.  Bei  der  Mehrzahl  der  Berufe  und  Berufsstellungen  haben 
die  schoti  früher  erw.Uuiten ,  ziemlich  allgemein  wirksamen  \'eran- 
lassungen  die  Dienstbotenhaitung  herabgemindert,  besonders  in  der 
Gruppe  der  Angestellten.  Andrerseits  h  it  die  Diensbotenhaltung  der 
Selbständigen  insbesondere  in  jenen  Berufen  zugenommen,  in  welchen 
sie  ohnedies  schon  sehr  stark  war;  so  ist  sie  in  der  (iruppe  Bergbau  und 
Hüttenwesen  von  72,49  auf  85,94,  in  der  chemischen  Industrie  von 


Die  lieruf»-  und  Gewcrbeiäblung  im  iJeuuchen  Reich  vom  14.  Juni  1895.  129 


von  91,96  auf  94,05  Prozent  der  Erwerbthätigen  gestic^jen.  Hier 
hat  der  gesteigerte  Wohlstand  den  Einflufs  jener  Gegentendenzen 
überwunden. 

Da  sich  der  Wohlstand  in  den  grö(seren  Wohnplätzen  kon- 
zentriert» so  wächst  die  Dienstbotenhattung  mit  den  Einwohner- 
zahlen. Unter  je  loo  Einwohnern  waren  liäusliche  Dienstboten 


Differetu 

1895 

i88s 

189$  gegen  1882 

in  den  Grofsstildten  .    .  . 

S.ö 

-  t,5 

„    „  MitteUtfdtcn .  .  . 

3,64 

4.5 

—  0,9 

„   „  Kldutidten  .  .  . 

a.«i 

3.7 

-0,9 

„        Lftndsttdten  .  . 

s^ 

«,9 

—  M 

mif  dem  Iladien  Lude  .  . 

1,9a 

—  0,3 

Im  Vergleich  zu  1882  hat  der  Anteil  der  Dienst  boten  in  sämt- 
lichen Grölsenkategoricn  abgenommen,  und  /war  umso  mehr,  je 
volkreicher  die  Städte  sind,  ein  Beweis  dafür,  dals  es  hauptsächlich 
die  gesteigerten  Schwierigkeiten  des  städtischen  Lebens  sind,  welche 
die  Dienstbotenhaltung  herabmindern.  Im  übrigen  hängt  die  geo- 
graphische Verteilung  der  Dienstboten  in  erster  Linie  von  der  ört- 
lichen Grestaltung  der  Beniüsgliederung  ab.  Zahlreiche  grofsbäuerlichc 
Betriebe  bringen  auch  starke  Diensbotenhaltung  mit  sich,  Parzellen- 
betrieb  drückt  sie  herab.  Umgekehrt  in  der  Industrie:  die  Gegenden 
mit  tiberwiegendem  Großbetrieb  haben  wenig  Dienstboten,  auch 
wegen  den  verlockenden  Arbeitsgelegenheiten  fUr  Frauen  in  den 
Fabriken.  Andrerseits  wächst  die  Zahl  der  Dienstboten,  je  aus- 
geprägter der  städtische  Charakter  der  einzelnen  Landesteile  ist. 
je  nachdem  die  einzelnen  Bestimmungsgründe  zusammentreffen, 
■sich  gegenseitig  verstärken  oder  einander  hemmen,  schwankt  auch 
die  Dtenstbotenhaltung  von  Gegend  zu  Gegend. 


X.  Die  Familienangehörigen  ohne  eigenen 

1-Iauptberuf. 

Schon  im  IL  Abschnitte  cUeses  Hauptteiles  unserer  Unter- 
suchungen hat  sich  herausgestellt,  dals  die  nicht  erwerbend  thätigen 
Familienangehörigen  ebenso  wie  die  Dienenden  seit  1882  langsamer 
zugenonunen  haben,  als  die  Erwerbsthatigen.  ^)   Waren  damals  noch 


>)  VgL  den  XIV.  Bttad  dieses  Archivs,  S.  aiglK. 
Archiv  Sir  ms.  G«flctig«b«ii|  u.  Statistik.  XV. 


9 


130 


H.  Raochbcrg^ 


55,08  Prozent  der  Bevölkerung  Angehörige  ohne  eigenen  Hauptbenif, 
^o  sind  es  1895  nur  mehr  53,15  Prozent;  noch  immer  aber  gehört 
die  gröfsere  Hälfte  der  Bevölkerung  dieser  Kategorie  an. 

Behufs  genauerer  Untersuchung  müssen  die  Familienangehörigen 
zunächst  weiter  fje^'lietlcrt  werden  nach  dem  Geschlechte  und 
nach  dem  Alter  'der  Erwerbfähigkeit.  Denn  hiervon  hängt  ja  die 
Beteiligung  an  dem  Erwerblebcn  und  damit  auch  der  l'ebertritt 
aus  der  Kategorie  der  l*"amilienangehörigen  in  jene  der  Berufs» 
thätigen  in  erster  Linie  ab.   £s  wurden  gezählt 

Farn  ilicnaog«  hörige 
mSnnlich    weiblich  zusammen 
unter  14  Jahr   ....     8159817     831944a  16379259 
14  Jahr  und  darüber  .   .       690244    10447782    11 138026 

zusummcn     SS50061     186O7224  27517285 

Um  die  Häufigkeit  der  Familienangehör^en  ohne  eigenen  Haupt- 
beruf richtig  zu  beurteilen,  müssen  sie  zu  jenen  Personen  in  Beziehung 
gesetzt  werden,  von  denen  sie  erhalten  werden,  also  nicht  zur  Ge- 
samtbevölkerung, sondern  zu  den  Erwerbthätigen.  Und  zwar  wäre  es 
methodisch  richtig,  die  Erwerbthätigen  zu  diesem  Zwecke  vorerst 
darnach  zu  gruppieren,  je  nach  dem  sie  (ür  Angehörige  zu  sorgen 
haben  oder  nicht,  und  die  Familienhäupter  weiterhin  nach  der  An- 
zahl der  Angehörigen.  Hierauf  wären  diese  letzteren  zu  ihren  Er- 
nährern, nicht  auch  zu  den  alleinstehenden  Erwerbthätigen  in  Be- 
ziehung zu  setzen.  Bei  der  Bearbeitung  der  Materialien  sind  jedoch 
diese,  der  Haushaltungs-  oder  F'amilienstatistik  angchörigen  Gesichts- 
punkte nicht  berücksichtigt  worden,  so  dafs  wir  darauf  angewiesen 
bleiben,  unseren  Verhältnisberechruni^cn  die  Gesamtzahl  der  Lr- 
weri^thätigcn  zu  Grunde  zu  legen.  Darnach  entfallen  auf  je  loo 
Erwcrbthätige 

A  n  ^'  c  h  t.  r  i  g  e 
unter  1 4  Jahr    über  1 4  Jahr  Überhaupt 

1895  1882  189s  1882  189s  1882 

männlicli.  n  Geschlechts  35,61  39,72  3.01  2.85  38,62  42.57 

weiblichen         „       .   .   .   .   .     35i^7  3»89  45,60  48,74  81,47  »8,63 

tiberhaupt   JiA^  79,6i  48,61  51,59  190,09  I3«!» 

Je  100  Frwerbthätige  hatten  darnach  1805  für  II  AhlhIh iri,.^e 
weniger  zu  sorgen  als  1882.    Die  Abnahme  betrifft  hauptsächlich 


Digiii^icu  L 


Die  Berufs-  und  GewerbeziUilung  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  1895.    13 1 

die  Kindel  unicr  14  Jahren  und  erscheint,  soweit  dies  der  Fall  ist, 
hauptsächlich  als  eine  Rcf lexwirkun;^^  der  Zunahme  der  Erwerb- 
thälij^en.  Allerdings  ist  auch  der  Umstand  mit  zu  berücksichtigen, 
daTs  die  Erwerbthätigkeit  nunmehr  schon  in  zarterem  Alter  be- 
ginnt. Viel  kann  das  jedoch  nicht  ausmachen»  weil  im  ganzen  nur 
181 453  Erwerbthätige  im  Alter  bis  zu  14  Jahren  gezahlt  worden 
sind.  Auf  dieser  unteren  Altersstufe  besteht  auch  kaum  ein  Untere 
schied  in  den  Zahlen  iur  die  beiden  Geschlechter.  Wohl  aber  auf 
der  oberen  Altersstufe:  sie  ist  ganz  überwiegend  von  Personen 
weiblichen  Geschlechts  besetzt,  von  Ehefrauen,  die  von  ihren 
Männern  versorgt  werden  —  73*39  Prozent  jener  Gruppe  sind  ver- 
heiratet — ,  von  Töchtern,  die  bis  zu  ihrer  Verehelichung  oder 
doch  über  das  schulpflichtige  Alter  hinaus  erwerbslos  im  Elternhaus 
verbleiben,  während  das  beim  männlichen  Geschlecht  selten  der 
Fall  ist.  Die  Abnahme  der  Angehörigen  über  I4  Jahre  ist  also  aus- 
schlierslich  den  Frauen  zuzuschreiten;  sie  ist  die  Folge  erhöhter 
Frauenarbeit. 

Wie  ist  das  Zahlcnverhiiltnis  zwischen  Erwerbthätigen  und 
Fainilienangehörigen,  zwischen  Ernährern  und  Ernährten  zu  deuten? 
Es  wurde  in  dem  Zählungswerke  von  1882,  wohl  im  Anschlüsse  an 
die  Auffassung  K  n  gel  "i,')  die  Bei  ast  u  ngsziffer  genannt.  Damit 
verbantl  sich  die  X'orstellung,  als  ob  die  ernährten  Angehörigen 
gleichsam  einen  Druck  avisübten  auf  den  wirtschaftlichen  Auftrieb, 
un{l  als  ob  diejenigen  Berufe  und  sozialen  Klassen,  die  für  mehr 
Angehörige  /.u  sorgen  haben,  ühler  daran  wären  und  eine  gröfsere 
I^st  zu  tragen  hätten.  Das  tiittt  nun  gewifs  privatwirtschaftlich  in 
zahlreichen  l  allen  zu.  X'olkswirtschaftlich  und  gesellschaftlich  be- 
trachtet, erscheint  jedoch  .sowohl  die  Familienentfaltung  als  auch 
die  Stellung  der  Familienangehörigen  im  Erwerfoleben  nicht  so- 
sehr als  die  Ursache  wie  vielmehr  als  die  Folge  der  wirtschaftlichen 
Lage.  Mächtigste  Naturtriebe  drängen  zur  Familiengründung  und 
•Entfaltung;  Kulturtriebe  sind  es,  die  den  Wunsch  erwecken,  die 
Frau  von  harter  Berufeaibeit  zu  befreien,  die  Kinder  durch  ausr 
giebigere  Vorbildung  hierzu  befähigen.  Je  günstiger  die  wirtschaft- 
liche und  soziale  Lage,  desto  besser  wird  dies  gelingen,  desto 
leichter  können  die  damit  verbundenen  Lasten  von  dem  Familien- 
haupte ertragen  wreden.  Ich  erblicke  daher  in  dem  Verhältnisse 
zwischen  Ernährern  und  Ernährten  ein  Anzeichen  für  die  Leistungs- 

>)  Engel,  der  Wert  des  Menichen.   Berlfai,.  J883.  . 

9» 


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1^  H.  Kaachberg, 

iahigkeit  dieser  letzteren  und  ihres  Benifsstandes,  nicht  den  Aus- 
druck ihrer  Belastung,  sondern  ihrer  Tra^faiii^kcit,  'j  und  ich  freue 
jnich  zu  sehen,  da(s  das  Zählungswerk  von  1895  meiner  Auffiosung 
und  der  ihr  entsprechenden  Terminol<^ie  beigetreten  ist 

Die  Richtigkeit  dieser  Aui&ssung  wird  erwiesen  durch  die 
Gestaltung  des  besprochenen  Verhältnisses  nach  sozialen  Schiditen, 
welche  zu  verfolgen  die  Berufezahlung  von  1895  zum  ersten  Male 
Gelegenheit  bietet  In  den  3  entscheidenden  Berufeabteilungen 
Landwirtschaft,  Industrie,  Handel  und  Verkehr  treffen 

Angehorig»" 
auf  je  too         unter  14  Jahr    14  Jahr  u.  darttb.  ttberhaapt 

Selbständige    .    .    .      133.68  94,7>  S28.40 

AnffMtellte.   .   .   .      81,9a  67,41  149,33 

Arbeite)   56,87  3S.07  88,94 

Das  Verhältnis  der  Ernährten  zu  den  Ernähren  hebt  sich  also 
mit  der  Lebenslage  der  einzelnen  sozialen  Klassen.  Das  fr[\i  sowolil 
fiir  die  unter  als  auch  für  die  viber  14  Jahr  alten  Angehörigen.  .\uf 
dt  r  iK^heren  Altersstufe  sind  die  L'ntcrschiede  sogar  noch  beträeht- 
lieher  und  sozial  von  gröfserer  Bedeutung  als  auf  der  unterer  .  Hier 
sind  sie  hauptsachlich  bedingt  durch  den  Altersaufbau  und  die 
Eamilienstandsverhältnisse  der  ein/ehien  sozialen  Klassen,  \vo\on 
ihre  Fannlienentfaltung  ja  abhängt.  Hingegen  ist  auf  der  höheren 
Altersstufe  der  Zeitpunkt  des  Eintritts  in  das  Erwerbsleben  >o\\  ic  des 
Austritts  aus  demselben  entscheidend.  Ein  Blick  auf  die  nach- 
folgende tabellarische  Darstellung  lehrt,  dafs  die  Unterschiede  haupt- 
sächlich in  der  Lage  des  weiblichen  Geschlechts  begründet  sind. 
Auf  100  Erwerbthätige  treffen  weibliche  Familienangehörige  über 
14  Jahr:  bei  den  Selbständigen  87,86,  bei  den  Angestellten  63,59, 
bei  den  Arbeitern  nur  30,56.  Hier  treten  die  Klassenunterschiede 
also  grell  zu  Tage.  Denn  die  Differenzen  hängen  hauptsachlich 
davon  ab,  in  welchem  Malse  die  Frauen  der  einzelnen  socialen 
Klassen  an  dem  Erwerbleben  teilnehmen. 

Da  die  Klassenunterschiede  in  erster  Linie  entscheiden,  mufs 
auch  fär  die  Untersuchung  nach  Berufezweigen  die  Kombination 
mit  der  Berufsstellung  durchgefühlt  werden.  Das  geschieht  för  die 
grofsen  Berufsabteilungen  in  der  nachfolgenden  Uebersicht 


')  Rauchberg,  Die  Bevölkerung;  Oesterreichs   Mf  Gnmd   der  Ei^febottse 
der  Volkiii&hlnng  vom  31.  Deiember  1890,  S.  J50  f. 


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Die  Bcruls-  und  Gewcrbczäblung  im  DeuUchen  Reich  vom  14.  Juni  1895. 


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134 


H.  Kauchbetg, 


Betrachten  wir  die  Berufsabteilungen  im  ganzen,  so  stehen 
obenan  Handel  und  Verkehr  mit  143,01,  der  öffentliche  Dienst  mit 
Ausschluß  von  Armee  und  Marine  mit  142,11  und  die  Industrie 
mit  140,70  Angehörigen  auf  je  lOO  Erwerbthätige.   Den  absoluten 

Zahlen  nach  liegt  das  Hauptgewicht  bereits  auf  den  Schultern  der 
Industrie.  Werden  die  einzelnen  Kategorien  der  Herufsstellung 
mit  berücksichtigt,  so  ernähren  die  selbständigen  l^ndwirte  ver- 
hältnismärsig  die  meisten  Angehörigen  255  auf  je  100  — , 
während  die  landwirtschaftlichen  Arbeiter  die  geringste  Familien- 
entfaltung haben.  Hinsichtlich  der  absoluten  Zahl  der  Angehörigen 
werden  die  selbständigen  Landwirte  jedoch  von  den  Arbeitern  der 
Industrie  entschieden  übertroffen,  inshcsi »lulerc  hinsichtlich  der  Kinder 
zahl.')  Angehörige  unter  14  Jahren  ernaiirt  die  Landwirlsrhait  rund 
6  Millionen,  die  Industrie  über  7  Millionen;  auf  die  sen)Stätuligci\ 
l  aiifhvirte  koMinien  da\  on  nicht  ganz  4  Millie)r;eii,  auf  die  indu>trlellen 
Aibeiiei  aber  h>l  4,5  Millionen.  Je  it>j  l-.rw erl)thälige  /ichcii  in 
der  Landwirtsehaft  73.4«^.  tltr  Industrie  aber  86,27  familien- 
angehörigc  Kinder  unter  14  J.ihrcn  auf.  Wir  sehen  also,  die  Land- 
wirtschaft vermag  ihr  altes  Renomiticc .  die  zahlreichste  Nach- 
konunenschaft  zu  stellen,  der  Industrie  ^eL;(-nüber  nicht  zu  behaupten. 
Wenn  die  Zahl  der  Gestellungspflichtigen,  die  ein  Berufestand  liefert, 
ihm  besondere  Geltung  im  Staate  zu  verschaffen  geeignet  ist  — 
und  das  ist  doch  ein  beliebtes  agrarisches  Ai^ument  —  so  haben 
die  industriellen  Arbeiter  jedenfalls  besseren  Anspruch  daraut 

Auf  das  Verhältnis  zwischen  den  Erwerbthätigen  und  den 
Familienangehörigen  nach  einzelnen  Beru&gruppen  und  -Arten  ein- 
zugehen, würde  zu  weit  fuhren.  Wohl  aber  ist  hier  der  Ort,  die 
milienent&ltung  der  der  einzelnen  sozialen  Klassen  der  Selbständigen 
zu  untersuchen.  Ihre  Gliederung  nach  Merkmalen  des  Betriebs* 
umfiinges  ist  schon  im  V.  Abschnitte  dieses  Haupttciles  erörtert 
worden,  ebendaselbst  unter  N'r.  3  auch  die  Mitwirkung  der  Familien- 
angehörigen an  den  Betrieben  des  Haushaltungsvorstandes-  *)  Es 
erübrigt  nunmefu"  noch  die  X'erteilung  der  Angehörigen  ohne  eigenen 
Hauptberuf  auf  jene  sozialen  Klassen  zu  untersuchen.  Das  geschieht 
in  den  ersten  3  Reihen  der  nachstehenden  Uebersicht  In  den 
letzten  beiden  Reihen  werden  die  selbständigen,  die  mittliätigen 


'  i  Das  hiin^'t       wie  im  Xr\'.  Abschnitte  dargeUian  wird  —  mit  der  Gestoltunf 

der  Fftnülicnstantl>verhültnisse-  uufs  eiij,'>t»'  zujammm. 

*)  Vgl.  den  XIV.  band  diencä  Archive  S.  620,  O25  u.  62Ü  tf.  sowie  S.  635  (T. 


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Die  Berofa»  und  Gewerbec&Uong  im  Deutschen  Reich  vom  I4.  Juni  1895.  I35 


und  die  nicht  erwerbenden  Familicü.uijrehörigen  zusammen«^'C7.0i^etj, 
um  SO  die  Gesamtstärke  der  einzelnen  sozialen  Klassen  der  Selb- 
ständigen darzustellen.  Damit  wollen  wir  uns  im  nächsten  Ab», 
schnitte  beschäftigen.  Ich  habe  die  Zahlen,  nur  um  Raum  zu 
sparei^  hier  angefügt. 


Fmntlictungcbunge  Sdbitiiidige  und 

Somle  ohne  eigenen  Hniptbentf  *)  Familienftngehörife 

Klassen:  auf  je  100  zusammen 


Betriebe  mit 

absolut 

in  Proz. 

Selbständ. ») 

absolut 

in  Pros. 

I.  Landwirtschaft. '1 

l.     unter  2  ha. 

873426 

14.94 

166,27 

1  6^2  q;6 

IT.     m—  e 

I  54845» 

26,48 

328,01 

*  i°6  44  J 

TfT      e—  10 

1360256 

23,27 

251,18 

s^i6a  VII 

IV    10—  CO 

1  802  371 

30,83 

266,06 

Ittl  818 

a'»'4 

V.  50—100  „ 

189  066 

3-23 

281,76 

325  26S 

3.06 

VI.  100  u.  mehr  ,. 

72  S92 

1,25 

235.98 

I  18430 

1,11 

zusammen 

5846463 

ICX3,üO 

231,87 

lob)6  626 

100,00 

2.  Industrie  für  eigene  Rechnung. 

f            I  Pitt« 

1671468 

47.76 

161,40 

3  7  W  04*^ 

421,55 

u.  a—  5  „ 

1495015 

4>,49 

«47.77 

2301 143 

41.30 

176  276 

5.04 

259.32 

374200 

4»93 

83  886 

2,40 

268.S6 

•  *4  «73 

2,23 

V.  21— 100  „ 

91  640 

2,62 

274.67 

131  763 

2.36 

VI.  Aber  ZOO  „ 

24015 

0,69 

270,53 

34009 

0,61 

niMunmen 

34<»93«> 

100,00 

I9«»4» 

5573343 

100,00 

3.  HausindiMtrie. 

1.        1  Peis. 

958232 

70.72 

111,39 

490265 

70,36 

n.  2-  5  „ 

97  307 

194.47 

190560 

27.34 

lU.  6—10 

6916 

I,yo 

247.17 

•«793 

1,69 

IV.  über  io  „ 

2672 

0.73 

252.07 

4261 

0.6  t 

susunnicn 

3(^5  »27 

100,00 

127,70 

696879 

100,00 

Hiiadet  und  Verkebr«) 

I.        1  Pen. 

791 37a 

5».64 

174.39 

1245177 

4».»3 

n.  a-  5  t, 

6 1 3  00  ] 

40,00 

194.73 

»  13253'; 

43.87 

m.  6—10  „ 

80  loS 

5.  »3 

232.48 

131  i<r- 

?.oH  ■ 

IV.  11—20  „ 

31  73» 

2.07 

245,20 

48693 

1,89 

V.liberflo  „  _ 

16205 

... 

a4«t39 

34104 

0,93 

1532507 

100^ 

186,31 

.3581704 

100,00 

')  Die  Gliederung  der  mitthäti(;en  Familienangehörigen  nach  den  socialen 
Klassen  der  Srlb>tandif;rn  auf  S.  635  de«;  XIV.  Pnn'I<->^. 

')  Die  absoluten  Zahlen  und  die  Gliederung  der  .Selbständigen  nach  r^o^ialea 
KJaaaen  «of  S.  620,  625  ti.  628  des  XIV.  Bandes. 

*}  Ohne  Glrtneiei,  Tienoeht  und  Fischerei. 

*)  Obne  Post-,  Telegraphen-  und  Eisenbahnbetrieb, 


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136 


il.  KauchberK, 


Die  Familienangehörigen  ohne  eigenen  Hauptberuf  sind  darnach 
ganz  anders  nach  socialen  Klassen  gegliedert  als  die  Selbständigen 
und  auch  anders  als  die  mitth&tigen  Familienangehörigen.  Wie  die 
Vergleichung  mit  den  im  XIV.  Bande  auf  S.  635  hierüber  mitgeteilten 
Verhältniszahlen  zeigt,  überragen  infolge  der  reicheren  Familienent« 
ialtung  der  höheren  Klassen  die  Prozentsätze  der  erwerislosen  Ange- 
hörigen hterselbst  jene  der  Selbständigen,  während  sich  das  bei  den 
unteren  Klassen  umgekehrt  verhält.  Die  mitthätigen  Familienange- 
hori*^en  treten  ganz  überwiegend  auf  der  untersten  Stufe  auf  so  dafs 
das  Schwergewicht  der  Angehörigen  ohne  eigenen  Erweii>  nach  oben 
hin  verschoben  erscheint.  Eine  Ausnahme  hiervon  machen  nur  die 
untcr-t(  n  beiden  Klassen  der  Land^virt^chaft,  in  dem  der  Parzellen- 
bctricl)  <iic  l'amilienentfaltung  nicht  behindert,  aber  nicht  genügende 
Gelegenheit  zur  vollen  Beschäftigung  der  I'\unilic'nt,dic(Ur  bietet. 

.•\n  interessantesten  ist  die  3.  Zahlenreihe  unserer  Lebersiclit. 
Tn  Verbindung  mit  der  damit  korrcs|)ondierenden  3.  Zahlenreihe 
der  L'ebersicht  auf  S.  635  des  XIV,  Handes  zeigt  sie,  wie  die  Fa- 
niilienentfaitung  /usamuienliängt  mit  dem  rmfait<:a'  des  Betriebes 
und  mit  der  sozialen  Stellung  des  FamilienhaujiU  >.  Falsi  man  näm- 
lich ilic  mitthätigen  und  die  sonstigen  I'amilienangohorigen  zusammen, 
so  entfallen  deren  im  ganzen  auf  je  1000  Selbständige 


in  den  sozialen 

in  i!rr 

in  licr  Industrie 

in  der 

im  Handel 

Klassen  'j 

l^adwirtscbait 

lür  eigen«  Kcclinung 

Hausindustrie 

und  Verkehr 

L 

210,86 

161,40 

111,39 

»74,39 

II. 

291,67 

280^83 

»59*7« 

m. 

303t38 

3ai,47 

280^74 

IV. 

388,88 

«97,99 

3«>«,97 

276,27 

V. 

384,74 

«94,93 

:} 

VI. 

283,40 

283,11 

259,47 

Ganz  dieselbe  Erscheinung  wiederholt  sich  in  allen  drei  Benils> 

abteilungen:  die  Familienent&ltung  ist  auf  der  untersten  Stufe  der 
sozialen  Schichtung,  bei  den  Unbemittelten,  am  geringsten.  Sie 
wächst  dann  an,  um  beim  Mittelstande  —  der  IV.  Stufe  in  der  Land- 
wirtschaft, der  HL  Stufe  bei  den  anderen  Berufen  —  ihren  Hohe- 
punkt  zu  erreichen.  Auf  den  höheren  Stufen  des  Wohlstandes 
nimmt  sie  wieder  ab.  Auf  den  unteren  Stufen  ist  es  der  Druck 
der  Not,  der  sich  feindlich  und  hemmend  entgegenstellt;  in  den 
oberen  Schichten  wirken  wirtschaftliche  Erwägungen*  und  sonstige 


')  Die  Abstafangen  sind  die  gleichen  wie  in  der  Tabelle  auf  S.  135. 


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Die  Berufs-  and  Gewerbexäblung  im  Deuttcben  Reich  vom  14.  Juni  1895.  i^j 


egoistische  Motive  in  der  gleichen  Richtung.  Die  Tragweite  dieser 
Konstatierung  kann  nicht  leicht  überschätzt  werden.  Zwei  Vor- 
urteile entgegengesetzter  Art  werden  dadurch  widerlegt  Zunächst 
die  Befürchtung  als  ob  die  proletarische  Volksvermehrung  relativ 
die  stärkste  wäre.  Dann  die  Annahme,  dais  jede  Veibesserung  der 
wirtschafdichen  La^e  auch  zu  einer  rascheren  und  möglicherweise 
bedrohlichen  Volksvermehrung  führe.  Die  Wahrheit  li^  gerade  in 
der  Mitte.  Notlage  hindert  die  Familienent&ltung,  höherer  Wohl- 
stand hemmt  sie;  der  Mittelstand  ist  es,  der  in  allen  Berufen  die 
stärksten  Familien  aufzuweisen  hat  Vor  drohender  Uebervölkerung 
brauchen  wir  uns  nicht  zu  fürchten,  seitdem  wir  das  Gegenmittel 
kennen,  das  sich  in  den  drei  Hauptzweigen  der  Volkswirtschaft 
gleichmäfsig  bewährt  hat:  es  i>t  der  Wohlstand,  der  retardierend 
wirkt  So  vermag  unsere  Kultur  von  selbst  ihr  inneres  Gleich- 
gewicht wieder  herzustellen,  wenn  es  nämlich  durch  allzurasches 
Anwachsen  der  Bevölkerung  ernstlich  bedroht  sein  sollte.  Allein 
davon  kann  ja  ernstlich  garnicht  die  Rede  sein. 

Der  Prozentsatz  der  Familienangehörigen  ohne  eigenen  Haupt- 
~l)eruf  —  5,  Spalte  der  Ucbcrsicht  auf  S.  135  —  zeigt  die  gleichen 
Abstufungen,  aber  mit  gewissen  Abweichungen.  Er  bleibt  auf  den 
unteren  sozialen  Stufen  erheblich  zurück,  weil  hier  die  Familien- 
angehörigen, insbesondere  die  Khefrauen,  in  höherem  Mafsr  im  Be- 
triebe des  Faniilienoberhauples  niitlhätlg  sind.  Es  verbleiben  hier 
also  verhältnismärsig  weniger  Angehörige  in  der  Kategorie  der  Er- 
werblosen. Aus  der  gleichen  L'rsache  erscheint  die  hainilienent- 
faltung  der  oberen  sozialen  Schichten  verstärkt,  so  dals  die  that- 
sächliche  .Abnahme  der  Kinderzahl  in  der  Tabelle  auf  S.  135  erst 
auf  der  obersten  Stufe  bemerkbar  wird,  in  der  Hausindustrie,  sowie 
im  Handel  uml  X'erkehr  überhauj>i  nicht. 

W'u  köimen  also  zu.sammenfassend  sagen  :  Die  Familienentfaltung 
ist  am  stärksten  im  Mittelstande,  die  Familienarbeit  in  den  unteren 
sozialen  Schichten  der  Selbständigen,  erwerbloses  Leben  im  Scholsc 
der  Familie,  wie  nicht  anders  zu  erwarten,  in  den  höheren  Klassen. 

')  Es  ist  hier  nicht  drr  Ort  zu  £cij;cn,  dafs  tu  einer  Z^-it,  die  den  allrn  Kultur- 
völkern  die  Produktion  des  ganzen  Erdballs  zur  Verfüguu^  stellt,  und  in  welcher 
der  tecbaücbe  Fortidirbt  zn  dner  ongealiiitcn  Bebemcfanag  der  Infäeren  Natur  Ittr 
ncnschlicbe  Zwecke  gefUhrt  bftt,  Uebenrölkenmg  blofs  solchen  Stimtm  droben  kam, 
welcbe  die  Teilung  der  Erde  oder  den  Eintritt  in  die  tccbniicb'Boaale  Evobition  ver» 
dornt  bnbcn. 


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Ij8  il-  Rauch  her ß. 

XI.  L  c  l  >  c  r  h  I  i  c  k  über  die  ^  o  /  i  a  1  e  S  r  Iii  c  Ii  t  u  n  g 

il  c  r  IM'  N  a  m  t  e  n  Ii  i  \  «"» I  k  c  r  u  ii  ^. 

In  (Jen  \  oi  1k  ri^a'hcnden  6  .\h>chniUen  habe  ich  die  Elemente 
der  sozialen  Sclnchtung  des  Deutschen  Volks  vorgeführt.  Es  soll 
nunmehr  der  Versuch  gemacht  werden,  die  wichtigsten  Zahlen  zu 
einem  (iesamtbild  zusnninH'n/ufa>seii.  Eine  dcrartii{c  l  ebprsiclu 
liat  die  Hearl)t  itui)i^^  der  Ik-rufs/ahlung  von  1.SS2  ':;;i-Hrf<.Tt  '  ,  ntr!it 
al)cr  jene  von  Ich  ;4iui*|)ierc  nunmclir  die  Zitürii  v^>u  i.St>5 

in  ähnlicher  Weise  und  stille  sie  jeru  ii  \on  1Ö1S2  gegenüber.  So 
gelangen  wir  zu  der  umstehenden  I  al)elle. 

(Siehe  die  Lcbcr^icht  aut  S.  139. 1 

Die  VerhSItniszahlen  unserer  Tabelle  sind  berechnet  i)  (ur  die 
Erwerbthätigen  allein  und  2)  fiir  die  Summe  der  Erwerbthätigen 
und  der  von  ihnen  erhaltenen  Angehörigen,  also  für  die  Gesamtzahl 
der  Klassenzugehörigen.  Die  häuslichen  Dienstboten  werden  dabei 
als  eigene  erwerbthätige  Klasse  behandelt  und  zur  Berufsabteilung 
D  gezahlt.  Die  Berufsabteilungen  E  öflTentlicher  Dienst  und  F  be- 
rufslose  Selbständige  werden,  da  ja  die  Gesichtspunkte  der  sozialen 
Klassenbildung  hier  nicht  in  der  gleichen  Weise  zutrefTen,  wie  bei 
den  anderen  Beru&abteilungen,  nicht  weiter  zerlegt,  sondern  in 
Gänze  in  Rechnung  gestellt.  Es  ist  schon  früher  darauf  hingewiesen 
worden*),  dafs  es  hauptsädilich  formale  Momente  sind,  welche  1S95 
zu  einer  aufserordentliclK  n  Erweiterun|T;  der  letzterwälititen  Beruf'<- 
abteilung  geführt  haben.  Infolp^edesscn  ist  der  Promilleanteil  der  Bcrufs- 
abteilungen  A— C,  für  welche  die  soziale  Klassifizierung^  durchgeführt 
wird,  entsprechend  zurückgegangen,  und  damit  auch  der  Anteil  der 
sozialen  Klassen,  in  welche  sie  zerfallen;  nur  die  .Angestellten  machen 
hierin  eine  Ausnahme.  I  Vüher  enltielen  auf  die  Selbständigen  der 
Berufsabtciluiigen  A — C  26.0  l'ro/ctit  <lcr  (jesamlbevolkerufig.  jetzt 
nur  22,6  Prozent,  auf  die  .Arbeiter  früher  53.6,  jetzt  52.8  Prozent, 
wogegen  der  .Anteil  der  Angestellten  \  on  i,;  auf  2,6  Pro/t-iit  ge- 
stiegen ist.  Rechnet  man  noch  die  Lohnarbeit  und  die  havisli<  hen 
Dienste  7ur  .Arbeiterklasse,  so  beträgt  ihr  .Anteil  an  der  (lesamt- 
be\ olkci  uiig  59,0  Prozent  gegen  02,2  Prozent  im  Jahre  1SH2.  Wie 
sich  das  X'erhakiiis  innerhalb  der  einzelnen  Rerutsabtcilungen  naeh 
F^inbczichung  der  Familienangehörigen  gestaltet,  wolle  aus  der  Tabelle 
selbst  entnommen  werden.   Es  erhellt  daraus  auch,  dafs  es  lediglich 

>)  Statistik  dr>  Deiil-i-hi  n  Reichs,  N\-u  •  |-         15d.  2  S.  69*. 
Vgl.  den  11.  AbschniU  S.  269  dc:>  Xl\ .  iliiudeü. 


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Die  Beruf»-  und  Gcwerbeiählung  im  i>eut»cbcn  Reich  vom  (4.  Juni  I&95.  i 


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140 


H.  Rauchberg, 


der  Ausfall  an  landwirtschaftlichen  Arbeitern  ist,  welcher  den  Pro- 
zentanteil der  Arbeiterklasse  dnigermafsen  herabgedrückt  hat  Durch 
die  Zunahme  der  Arbeiter  in  der  Industrie,  sowie  im  Handel  und 
Verkehr  ist  dieser  Auslall  absolut  reichlich,  im  Verhältnis  zu  den 
anderen  sozialen  Klassen  doch  nahezu  wett  gemacht  worden.  Inner- 
halb der  Arbeiterklasse  aber  hatten  1 882  noch  die  landwirtschaftlichen 
Arbeiter  tlas  Uelicrgcwirht,  1 895  haben  es  bereits  die  gewerblichen. 
Uncl  ijoch  viel  kräftiger  tritt  das  zu  Tage,  wenn  man  anstatt  der  Er- 
werbthätigen  aliein  die  Summe  der  Klassenzugehörigen  ins  Auge  iaist. 

Dals  die  nach  der  Unterscheidung  des  Arbeitsranges  —  Selb* 
standige,  Angestellte,  Arbeiter  —  gebildeten  sozialen  Klassen  keines- 

v.t  -  einlieitlich  sind,  sondern  Personen  von  mitunter  sehr  ver- 
schiedenartiger Lebensstellung  umfassen,  ist  früher  schon  mehrmals 
hervorgehoben  worden.  Insbesondere  gilt  dies  von  der  Klasse  iler 
formal  Selbständigen.  Wir  haben  sie  daher  im  VI.  Abschnitte 
dieser  Untersuchungen  nach  den  l'mfang  ihrer  Betriebe  weiterhin 
in  «»ziale  Kategorien  eingeteilt.  Jene  (irup|)ierung  l)c/.t»g  sich 
aber  nur  auf  die  ErwerbthätiL[cn .  niclit  auch  auf  die  l  ainilien- 
angchörigcn.  Soweit  dieselben  im  Betriebe  iiiitili.itii;  ^ind,  haben 
wir  >ic  in  der  Uebcrsicht  auf  S.  635  des  XI\".  l^aiidcs,  suwcil  sie 
FamilienaiiL,a'hi>rige  sind,  auf  S.  135  des  laufenden  Bandes  nach  den 
sozialen  Klassen  der  betreft'enticii  Selbständigen  geglie<lert.  Ks  er- 
übrigt tuii  in«  !)r  noch  die  dcsamtstäi  kc  jcnei  Klassen  zu  berechnen. 
Das  ist  tiic  Aufgabe  der  letzten  beiden  Spalten  der  oben  ci  u ahnten 
Uebcrsicht  auf  S.  135. 

Das  Zählungswerk  benutzt  diese  Materialien  dazu,  um  sämtliche 
in  jene  Uebersichten  einbezogenen  Mitglieder  der  Selbstandigenklasse, 
die  Selbständigen  sowohl  wie  ihre  Angehörigen,  weiterhin  zusammen- 
zufassen nach  den  3  uns  bereits  bekannten  Abstufungen:  unbemittelte 
Klasse,  Mittelklasse  und  vermögende  Klasse.  Das  Ergebnis  ist  das 
folgende : 

anbemittelte  Klasse 
Berofsabtcilungeii:        absoliit  */« 

Luidwirtschaft       .  .  1 717  873  15,87 

Industrie   3197313  5i|00 

HMidd  and  Verkehr*)  1 34$  177  48,33 

zosamtnen  6155363  31,34 


llittelkluM 
absolat  *'« 
8959869  83,03 
3906 136  46,36 

I3«a4a3  5°^ 
13178438  67,09 


vennögende  Klaaie 
absolut  % 
119344  t.ii 
165773  3,64 

34IO»  0.93 

309330 


».57 


V  fthnc  1- orstwirtsthaft. 

Obnc  Post-,  Tel<-,graphen>  und  Eüscnbahnbcuieb. 


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Die  Ucrufs-  und  Gewcrbexählung  im  DeuUcben  Reich  vom  14.  Juni  1895. 


Werden  auch  noch  die  Abhängigen  der  hier  in  Betracht  ge- 
.sogenen  Berufe  mit  ihren  Angehörigen  in  Rechnung  gestellt,  so 
entfiülen  von  je  loo  Erwerbthätigen  samt  Angehörigen 

in  der         in  der      im  Handel 
Landwiitochaft  Indnitric  nnd  Vcricdir  im  gancen 

4wf  die  Sdiidit  der  Selb- 


tt.  Kwar 
auf  die 


•tftndigen    .  . 

vermögende 
Mittelklasse    .  . 
unbemittelte  Kkvsc 
auf   die    Schicht   der  Ab 
hängigen  


60,67 

31.45 

59.3  i 

46,69 

«•67 

o.«3 

0.5S 

9*74 

50.37 

14.58 

3«M5 

9,63 

l6,04 

18,61 

 14.63 

68,35 

40.69 

54.3» 

Diese  Gliederung  um£ai(st  jedoch  nur  42  Millionen  Personen 
oder  81,27  %  ^^i*  Bevölkerung  des  Deutschen  Reichs.  £s  fehlen 

daraus,  von  der  Forstwirtschaft  und  den  Post-,  Telegraphen-  und 
Eisenl)ahiibetrieben  abgesehen,  die  Berufeabteilungen  D,  E  und  F, 
sowie  die  Dienenden.  Die  hierher  gehörigen  Erwerbthätigen 
werden  im  Zählungswerke,  zum  Teil  schätzungsweise,  auf  die  oben 
unterschiedenen  sozialen  Schichten  aufgeteilt.  Damach  kommt  man 
zu  folgender  Besetzung  derselben: 

Sdiicht  der  SelbstiBdigen 

a.  vermögende  IQuse  .    .  . 

b.  Mittelklasse  .... 

c.  unbemittelte  Klasse  .    .  . 


im  ganzen 

Schicht  der  Abhängigen    .    .  . 

zusammen 


«bsolnt 

646  242 

15874  600 
6492384 
23013  226 
28  757058 

51  770284 


in  Prosenten 

30.66 
ia.54 
44.45 

55.55 

100,00 


Damach  würde  rund  der  dritte  Teil  der  Bevölkerung  des  Deut- 
schen Reichs  der  vermögenden  und  der  Mittelklasse  zuzuzahlen  sein, 
wogegen  zwei  Drittel  auf  die  unbemittelte  Klasse  der  Selbständigen, 
sowie  auf  die  Abhangigen  ent&llen. 

Ich  habe  schon  im  VL  Abschnitte  dieser  Untersuchungen  dar- 
gethan,  da(s  jede  derartige  Abgrenzung  der  einzelnen  sozialen  Klassen 
mehr  oder  weniger  willkürlich  ist,  und  die  Gründe  angeführt,  welche 
insbesondere  die  Annahme  rechtfertigen,  dafs  die  im  Zählungswerke 
gezogenen  Grenzlinien  die  Mittelklasse  der  Selbständigen  zu  staric, 
die  unbemittelte  Klasse  zu  schwach  besetzt  erscheinen  lassen. 

Die  gleichen  Bcfienken  bestehen  auch  gegenüber  der  Aufteilung 
der  Angehörigen  unter  jene  sozialen  Klassen  und  insbesondere 


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1^2  H.  kauclibrrg, 

gegenüber  dem  Schlüssel,  wonach  die  Ergänzung  bis  zur  Hohe  der 
Gesamtbevölkening  erfolgt  ist  Auch  hierbei  scheint  nnir  das  statis- 
tische Reichsamt  all  zu  optimistisch  vorgegangen  zu  sein  und 
insbesondere  die  Grenzen  zwischen  der  unbemittelten  und  der 
Mittelklasse  zu  nieder  gezogen  zu  haben. 

Ich  habe  im  Abschnitte  einige  Korrekturen  an  der  Dar^ 
Stellung  des  statistischen  Amts  anj^cbracht  und  an  der  Hand  derselben 
berechnet,  da(s  in  den  3  Berufsabicilungen  A — C  *)  1,5  Prozent  der 
Enverbsthätigen  auf  die  vernu"»geiidc  Klasse,  rund  42  Prozent  auf  die 
Mittelklasse  und  57  Prozent  auf  die  unbemittelte  Klasse  entfallen. 
Die  ^Irirhrn  Berechnungen  auch  für  die  .\nL;clu*)ri^'cn  und  sodann  für 
die  (ioannhcit  der  Klasscn/ugehöriLTcn  (liin  h/uführen,  bin  ich  aulser 
stand,  wt  il  die  <iliederung  der  Angehörigen  nach  ilen  von  mir  ge- 
wählten Abslufungcti  nicht  nachgc\vie-.en  und  k(Mn  SchUissel  \ur- 
'i  itidrn  ist,  um  die  I'anulieiiajvgehörigi  11  auch  nur  scliät/ung^weise 
liarnacli  aut/uteilen.  \\  enn  ich  nachstehend  nieineiseits  eine  Schätzung 
tlcs  gegenseitigen  \'erhältnisses  der  einzrhien  sozialen  Klassen  v«'r- 
suclie,  so  kann  dies  nicht  für  die  gesamte  lk-\  >  ilkerung,  sondern  nur 
für  tiic  Lrwerbthatigen  im  I  laujitberuf  geschehen.  Wollen  wir  dabei 
an  der  bereits  früher  eingeführten  Dreiteilung  —  vermögende  Klasse, 
Mittelklasse  und  unbemittelte  Klasse  —  festhalten,  so  kann,  um  auch 
die  Abhängigen  in  die  Uebersicht  einzubeziehen,  angenommen  wer- 
den, dafs  die  Angestellen  im  grofsen  und  ganzen  der  Mittelklasse,  die 
Arbeiter  und  Dienenden  der  unbemittelten  Klasse  angehören.  In 
der  früher  vorgenommenen  Klassifikation  der  Selbständigen  in  A — C 
fehlen  aus  den  auf  S.  630  des  XIV.  Bandes  angedeuteten  Ursachen 
39  5^3  Personen,  welche  ich  nach  dem  für  alle  übrigen  gefundenen 
Verhältnisse  auf  die  3  sozialen  Schichten  aufteile.  Damach  ist  ihre 
Besetzung  die  folgende: 
Berttfsabteilnngen  A— C         Selbstiadige       Abhiagige  zasammcii 

Venniigcnde  Klasse   80481  —  804S1 

Mittelklasse.  AiiKcstflltc    ....      2291181  621825  2913006 

Unbemittelte  Klasse^  Arbeiter    .   .      3103384         12816553  15  918936 

im  ganzen  A-C      5474046         »343*377  i89ia4aj 

* 

Demnach  entfallen  von  je  loo  Berufsthätigen  der  Landwirtschaft» 
der  Industrie,  sowie  des  Handels  und  Verkehrs  auf  die  vermögende 
Klasse  043,  auf  die  Mittelklasse  154  und  auf  die  unbemittelte 
.Klasse  84,2.   Was  die  anderen  Berufsabteilungen  anbelangt,  so  ge- 

'j  Ohne  Korslwirlschaft,  Post-,  Telegraphen-  und  Eisenbahnbetrieb. 


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Die  BcruU-  und  Gt-werbciählung  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  1895. 

hören  die  Berufsabteilung  F  häusliche  Dienste  und  Lohnarbeit 
wechselnder  Art,  sowie  die  hauslichen  Dienstboten,  die  im  Haus- 
halte des  Diens^ebers  leben,  durchaus  der  unbemittelten  Klasse 
an.  Schwierig  ist  die  Aufteilung  der  Berufeabteilungen  E  und  F. 
Wir  bleiben  dabei  auf  recht  willkürliche  Schätzungen  angewiesen. 
Von  den  a-Personen  der  Berufsabteilung  E  öffentlicher  Dienst,  mit 
Ausnahme  des  Lehrpersonals,  rechne  ich  ein  Drittel  zur  \'er- 
mc^enden,  zwei  Drittel  und  das  gesamte  I  .elirpersonal  zur  Mittel- 
klasse. Die  Unteroffiziere  und  Gemeinen  der  Armee  und  Kriegs- 
flotic  werden  in  dem  gleichen  Verhältnis  zwischen  der  Mittelklasse 
und  der  unbemittelten  Klasse  aufgeteilt,  alle  anderen  c-Pcrsonen  zur 
unbemittelten  Klasse  geschlagen.  Darnach  entfallen  in  der  Berufs- 
abicilun^  E  auf  die  vermfi<rende  Klasse  So  688  Personen,  auf  die 
Mittelklasse  776455  und  auf  die  unbeniiUcite  Klasse  568818. 

In  der  HcruN.ibtcilun;^^  I*"  wollen  wir  von  den  Rentnern  un<l 
den  Studiereni  ein  Zeiiniel  als  vermö^'cnd  Lrelu  n  lassen  und  den 
Rest  zu  ^deichen  I  cilcn  zwischen  der  Mittelklasse  und  den  l  'n- 
beinittelten  aufteilen.  .Alle  anderen  Personen  dieser  Berufsabteilunj,'. 
können  unl)edenklieh  zu  der  unbemittelten  Klasse  <jeschla^en  werden. 
Dann  f^ehciren  in  dieser  Rerufsabteihui!^  zur  unbemittelten  Kia.s.se 
[  205920  i'ersoncn,  zur  .Miiiclklasse  7O6544,  zur  vermögenden  Kla.sse 
170344. 

Alles  in  allem  verteilen  sich  darnach  die  Erwerbthatigen  und 
berufslosen  Selbständigen  folgendermalisen  auf  die  be^rochenen  drei 
socialen  Schichten: 

absolut     ia  PnMcnteii 
Vermtigcnde  Klasse  .   .   .      331513  M 

Mittelklasse  4456005  18.4 

Unbemittelte  Klasse  .   .   .    1946548  t  So,2 

zoummen   34352999  100,0 

Kund  \icr  l'unftcl  iler  Personen  mit  einem  naii]id)rruf  und  der 
berufiu>.en  Selbständigen  gehören  demnach  zur  unbemittelten  Klasse; 
ein  l  ünftel  ragt  darüber  hinaus.  Die  vermögende  Kla.sse  macht  1,4 
Prozent,  die  Mittelklasse  18,4  i'rozcnt  aus.') 

')  XMcse  Bcreduinng  stimmt  im  groften  voA  gaaxcn  mit  den  SchltsmigcB 
Schmollers  auf  dem  evaageliscb-sotialeQ  KonKKfs  von  1897  n  Leipag  ttbania» 

Verhandlongcn  «tc,  GüCtiaf^n  1897,  S.  Iiaff.  Auf  Grund  einer  Kombination  der 
Ergebni^s^  der  Einltommrnsteueneranlapunc.  sowie  der  Berufs-  nn<l  Grwcrbrzählung 
Kelangt  ScbmoUer  ta  dem  Ergebnis,  dafs  im  Deutschen  Reich  von  je  100  Familien 


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»44 


H.  Rauch  berg. 


Nochmals  möchte  ich  nachdrücklich  davor  warnen»  die  Be- 
deutung der  von  mir  oder  im  Zahlungswerk  angestellten  Berech- 
nungen  über  die  Starke  der  einzelnen  sozialen  Klassen  zu  über« 
schätzen.   Sie  sind  vielmehr  unter  folgenden  Gesichtspunkten  zu 

beurteilen : 

Die  Berufszählun^  hat  uns  über  die  Berufsstcllun^  oder  den 
Arbeitsrang  der  Erwerbthätigen  unterrichtet  Die  Betriebszählung 
hat  ferner  Gelegenheit  gegeben,  diejenigen  Personen,  die  ihren  Haupt- 
beruf formell  wenigstens  in  selbständi<7er  Stelluf^  ausüben,  nach 
den  verschiedenen  Abstufungen  des  Betriclisumfanj^es  zu  gruppieren. 
Es  l.iL,'  rmn  nahe  anzunehmen,  dals  den  rntersrhie<len  der  Berufs- 
Stellung  und  des  Retriel)sumfanges  auch  solche  der  ^'»/ialon  Stellung 
überhaupt  cntsj>rer!nMi,  ><>  dafs  aus  jcfien  Abstufungen  auf  lic  Hfsetzung 
der  einzchien  sozialen  Klassen  ges<^'hlos^cn  werden  könne.  So  riciUig 
das  auch  im  allgemeinen  ist.  so  schw  er  sIikI  jedoch  die  <  ii  enxlinien 
zu  ziehen.  Denn  die  ein/.ehien  --o/ialen  Schichten  gehen  unmerklich 
in  einander  ül)er.  W  cder  begrift  licli .  noch  in  ihrem  Personen- 
bestande  können  sie  scharf  von  einander  geschieden  werden.  Nur 
auf  Grund  eines  ganzen  Komplexes  voi\  Merkmalen  kann  <lie 
Klassenzugehörigkeit  der  einzelnen  hidividuen  oder  Familien  be- 
stimmt werden.  Nur  ein  Teil  dieser  Merkmale  kann  überhaupt 
statistisch  erfafst  werden,  und  die  Berufszählung  hat  hiervon  btofs 
zwei  heraushoben:  Berufestellung  und  Betriebsumf^ir  g.  Es  liegt 
auf  der  Hand,  da(s  sie  nicht  ausreichen  zur  Abgrenzung  der  so- 
zialen Klassen.  Sie  lassen  blofs  erkennen,  welcher  Art  die  soziale 
Schichtung  sein  müfste,  wenn  die  Betriebsoi^ganisation  allein  hierfür 
in  der  That  ma&gebend  wäre.  Aber  sie  ist  es  nicht  Wie  auch  immer 
man  die  Ziffern  gruppieren  mag,  sie  liefern  nur  ein  Bikl  der  Be- 
triebsorganisation des  Deutschen  Volks,  betrachtet  unter  sozial- 

2,oS  ;:ur  oherstm  Klasse.  22,92  zum  oberen  Mittelstand.  31,25  zum  untcn-n  Mittel- 
Stand  und  43.75  zu  den  untrr-  n  Kla>':en  i;>-horrn  Der  ..unt'  r.-  Milt  •I<t.in<!  "  \iu>l  'li<- 
,, unteren  KLi«---'!!'"  zusammen  wur'ien  l»--!!;!!;!!;^  .ier  \m  T-  vt-'  !>■  /irt-  rt'-ti  .,i;ti!>'-iiiitt«"lt<*ii 
Klasse''  enlaprechen .  der  „obere  Mittel>und"  s<  iini' II  dei  kt  su  h  beiläutig  mit 
der  Mittelklasse  in  meiner  Darstellung.  Alle  deraitigen  Scbätzaii((en  und  Berech- 
mmeen  könncD  nur  als  ganz  bctliuflge  angesehen  werden.  Wenn  trotxden  svct  «of- 
tßax  verschiedene  Weise  angestiellte  Berechnioigen  einander  so  nahe  kommen,  so 
.kum  mgenoomeii  werden,  dnfs  sie  wenigstens  dieQnmdzilge  der  socialen  ScUchtnng 
richtig  wiedeT|;eben.  Dafs  Schmollers  Schätzung  ein  etwas  v.'^>"^t>geK9  Bild  liefert, 
stimmt  (^anz  gut  damit  zusammen,  dafs  seine  Einheiten  die  Familien^  meine  die  bc* 
rufitbätigen  lodividueo  sind. 


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Die  Berufs-  und  Gewerbexählung  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  1895. 

politischen  Gesichtspunkten,  aber  nicht  ein  Bild  der  wirklichen  sozialen 
Schichtung.  Mag  man  die  Grenzlinien  bei  diesem  oder  jenem  Be* 
triebsumfan^  ziehen,  sie  werden  gewifs  überwiegend  Gleichartiges 
zusammenfassen,  mitunter  aber  auch  Verschiedenartiges.  Unser 
Bestreben  kann  nur  daraufgerichtet  sein,  die  Scheidung  möglichst 
reinlich  zu  bewirken,  d.  h.  die  Linien  nach  der  Berufsstellung  und 
dem  Betriebsumfang  so  zu  ziehen,  daüs  sie  mit  der  Abgrenzung 
nach  anderen  Gesichtspunkten  m^Hchst  übereinstimmen. 

Auch  ist  dabei  zu  berücksichtigen,  da(s  die  zur  Bezeichnung 
der  sozialen  Klassen  gewählten  Ausdrücke  —  in  unserem  Falle 
vermögende  Klasse,  Mittelklasse  und  unbemittelte  Klasse  hier 
nicht  dasselbe  bedeuten,  wie  im  allgemeinen  Sprachgebraucli.  Hier 
werden  sie  dur«  h  die  statistischen  Grenzlinien  enger  umschrieben, 
und  nur  in  dieser  Beschränkung  wollen  sie  gelten.  Zur  vermögenden 
Klasse  f^^ehoren  also  in  den  Beruüsabteilungen  A — C  grundsätzlich 
nur  Selbständige  mit  Betrieben  von  einem  gewissen  Umfange, 
wenngleich  sicherlich  die  X'ermögenslagc  und  sonstige  soziale 
Stellung  vieler  Angestellter,  ja  s(jgar  manches  Arbeiter-  eine  be^^sere 
sein  ma}^^  Besonders  schwierig  i-l  die  Ab^renzini;^^  der  Sell)>>tan<li;^a"n 
der  Mittelkla>:se  und  der  unbeinittellen  Klasse  nach  dem  Betrielxs- 
umfang;  ich  \  erweise  in  tlie^er  Richtung  im  einzelnen  norlmials 
auf  meine  Aii>fulirLinu'en  im  Abschnitte  unter  Nr.  1.  i-.s  trifft 
aber  w^ohl  anch  nicht  in  allen  hallen  zu,  wenn  die  Angestellten 
durchaus  zur  Mittclklas>e,  die  Arbeiter  zur  unbenuiielten  Klasse 
gerechnet  werden.  Die  Angestellten  greifen  nach  oben  und  unten 
hin  über,  und  auch  von  den  Arbeitern  mögen  viele  eine  Stellung 
errungen  haben,  die  sich  dem  Typus  der  Mittelklasse  annähert 
Dais  endlich  die  Aufteilung  der  Berufsabteilungen  E  und  F  eine 
ziemlich  willkürliche  ist  und  sich  nur  als  ein  Notbehelf  rechtfertigen 
lä&t,  um  zu  einer  Gesamtübersicht  über  die  soziale  Schichtung  zu 
gelangen,  habe  ich  schon  früher  nachdrücklich  betont. 

Bei  dieser  Sachkige  wäre  es  vielleicht  richtiger,  von  sozialer 
Betriebsoiganisation  anstatt  von  sozialer  Schichtung  oder  Gliederung 
sdüechtweg  zu  sprechen.  Aber  dieser  Ausdruck  ist  nun  einnnal 
üblich  geworden  zur  Bezeichnung  des  hiermit  erörterten  Komplexes 
von  statistischen  Ergebnissen,  und  SO  mag  er  denn  beibehalten 
werden.  .Allein,  nochmals  sei  es  hervorgehoben:  es  ist  nicht  die 
soziale  Schichtung  selbst,  die  uns  hier  vorgeführt  wird,  sondern  nur 
die  Betriebsorganisation,  die  ihr  zwar  zu  Grunde  liegt,  aber  doch 
nicht  ausschlielslich  für  sie  mafsgebend  ist.  Und  andrerseits  ist  die 

Archiv  für  tos.  Gcscugebuoc  u.  Suti«ik.    XIV.  lO 


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146 


Ii.  Kauchbe rg, 


soziale  Schichtung;  auch  nicht  der  einzige  Gesichtspunkt,  worunter 
jene  Betriebsorganisation  zu  beurteilen  ist 

Die  sozialen  Schichten  werden  von  zwei  gewaltigen  G^en- 
bewegungen  durchzogen,  seitdem  das  Kastenwesen  des  Feudalstaats 
der  staatsbürgerlichen  Gesellschaftsordnung  weichen  mufste.  Mit  jeder 
durchgreifenden  Aendcrutig  der  Wirtschaftsverfassung  in  Technik  und 
Betrieb,  in  Besitz  und  Kinkommen,  schwindet  ein  Teil  der  alten 
Aristokratie  und  neue  F.lcmcnte  steigen  in  die  oberste  Scliichtc 
empor,  l'nd  dir  ichc  He\ve<^ung  pflanzt  sich  fort  von  Schicht  zu 
Schiebt.'  Zu;^leieli  mit  ihrer  Zusammensetzung  ändert  sich  dabei 
auch  das  .Niveau  ihrer  Lehcnshahun<^'.  ihrer  Ansprüche  und  Krrungen- 
selmften  und  üir  j^M-t:,'ens(.'iti^es  N'erhältni';.  l  nd  in  (hesein  '„'rolVen 
rnil)il(hir!<;>j>r(»/eis  ist  die  Hedtutun;^^  der  Herul^stellun,,'  alhn.ihhrh 
eine  andere  ^^eworden.  i  )u  .lufsteii^t  nde  Kla>scnl)r\ve'^un^;  äulsert 
sich  iiielit  tun'  in  dem  Autliicb,  th^r  die  ein/ehien  hiduiducn  aus 
ihrer  Kla<>e  ui  t  inc  Ix  ihcre  nnporträ^t,  «sondern  aueh  in  der  Hebung 
fies  Nixeaus  der  xt/.i.iUii  Sehiehten  im  L;an/.en.  Dieser  Hewet^untJ 
veriUdL^en  die  starren  Katej.uiricn  des  Arbritsran;:^es  —  Sclbstcindigc, 
An^estelUe.  .\rbeiter  — ,  uoraul  the  berulsst.tlistik  lieschränkt  bleibt, 
nicht  zu  fol^^en.  Sie  ^deichen  einem  festen  l'e^cl,  und  wir  brauchen 
eine  schwimmende  Skala,  die  mit  dem  Gesamtniveau  steigt  und 
fällt  Formal  selbständige  Stellung  bietet  lange  nicht  mehr  in  dem 
gleichen  Mafse  wie  früher  die  Gewähr  eines  «^ewissen  Wohlstandes, 
Ansehens  und  Einflusses,  und  umgekehrt  bedeutet  die  Stellung  als 
Arbeiter  lange  nicht  mehr  so  streng  und  unbedingt  wie  früher  den 
Verzicht  darauf.  Mit  einem  Worte:  die  Berufsstellung  ist  für  die 
Lebenshaltung  und  damit  bis  zu  einem  gewissen  Grade  für  die 
soziale  Stellung  nicht  mehr  von  gleicher  Wichtigkeit  wie  früher. 

Sollen  wir  deswegen  die  sozialpolitische  Bedeutung  unseres 
statistischen  Materials  geringer  veranschlagen?  Ja  und  nein.  Sie 
ist  ^^erint^er  zu  veranschlagen  insofern»  als  der  Schlufs  aus  der  Bc- 
rufs>tehung  auf  die  Lebens-  und  Wohlstandsverhältnisse  immer  un- 
sicherer wird,  ."^o  sehr  auch  <lie  !^j»it/en  sieh  erliebcn  mögen,  im 
allgemeinen  findet  in  dieser  Hinsicht  eine  Annäherung  zwisdien 
den  vergeh ieflcnen  Katcf^oricn  des  Arbeitsranges  statt.  Ihre  Grenzen 
bedeuten  nicht  in  gleichem  Malse  wie  fKiher  scharfe  Unterschiede 
der  Lebenshaltung.   Darum  darf  das  starke  Hervortreten  der  Ab* 


'i   .•\us{;>vi-irhnett r  historisrlu-r  l"rb<-rl>li(k   hieriibt  r   in   iN-m   M'hon  frülu-r  er« 
'wähatrn  Vortrage  Scbmollers  auf  dem  cvaDgcliM:b<sozialen  Kongrefs  von 


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Die  Berufs»  and  Gewerbez&hlung  im  Dealschen  Reich  vom  14.  Jooi  1895.  I47 

liän<^'i<^en,  inhe';«  Hulcre  der  Arbeiter  j];egenüber  den  Selbständigen, 
wie  icli  früher  dargetban  habe  ').  keineswegs  als  Proletarisicrung  im 
Sinne  von  Verelendung  gedeutet  werden. 

Hat  die  Berufsstellung  au  privatwirtschaftliclicr  Bedeutung  ge- 
wonnen, so  ist  ihr  so/ialpolitischer  Kiiifluls  dafür  im  Wachsen.  Je 
mächtiger  das  Klassenbewufstsein  nicht  blofs  der  Arbeiter,  sondern 
auch  der  Angestellten  und  Unteraehmer  wächst,  desto  stärker  stützt 
es  sich  auf  die  formale  Stellung  im  Berufe,  welche  nunmehr  inner- 
halb jeder  dieser  Kategorien  Personen  von  den  verschiedensten 
Einkommen-  und  Vermögensverhältnissen  zu  einer  einheitlichen 
Kksse  verbindet  Die  Bildung  und  Abgrenzung  dieser  Klassen  be- 
ruht in  der  That  hauptsächlich  auf  der  Berufestellung  im  Sinne  der 
Benifsstatistik  und  insofern  ist  die  sozialpolitische  Wichtigkeit  ihrer 
Ergebnisse  eher  hoher  als  germger  einzuschätzen. 

XII.  Der  Nebenerwerb. 

Schon  im  m.  Abschnitte  dieses  Hauptteiles  habe  ich  erwähnt  *), 
dafe  die  Berufsgliederung  nach  dem  Hauptberuf  allein  nicht  richtig 
beurteilt  werden  kann.  Noch  ist  die  volkswirtschaftliche  Arbeits* 
teilung  nicht  soweit  vorgeschritten,  dafs  sie  jeden  Erwerbenden  in 
den  Dienst  einer  einzigen  Berufsbethätigung  gestellt  hätte.  Der 
Prozels  der  Berufibildung  ist  noch  im  Zuge:  fortwährend  werden 
Personen  aus  der  in  sich  abgeschlossenen  Hauswirtschaft  au^elöst 
und  in  die  volkswirtschaftliche  Produktion  einbezogen,  insbesondere 
von  (kr  Basis  der  Landwirtschaft  aus.  Aber  sie  treten  nicht  -ofort 
und  ganzlich  aus  der  Haus-  oder  i^iul Wirtschaft  in  die  xolkswirt- 
schaftiichc  Berufsarbeit  über.  Bei  den  Einen  bleibt  die  bisherige 
ökonomische  Ba.sis  unverändert  und  die  neue  Bethätigung  erscheint 
nur  als  Nebenerwerb.  Bei  den  Anderen  ist  sie  schon  entscheidend 
geworden  für  die  [  chensstellung  und  wird  aU  Hauptberuf  eingetragen, 
wübreiul  das  frühere  ökonomische  Milieu  iin  Xeljenerwerfj  nach- 
wirkt, (rleich  einem  jaiiuskoi)f  l)lirkt  also  der  Nebenerwerb  /uglcich 
vorwärts  und  rückwärts  auf  dem  Wege  unserer  wirtschaftlichen  Ent- 
wicklung. Das  ist  der  i  laupt^esjrht'^jtunkt  für  die  Beurteilung  der 
Nebenerwerbserhebung.  L>anel)en  laufen  noch  andere  Strömungen 
mit,  insbesondere  der  Uebergang  von  klcnigewerblicher  Produktion. 

1)  Vgl.  den  XIV.  Bd.  S.  613  f. 
*)  Vgl.  S.  284  dejt  XIV.  Budes. 


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148 


II.  Raucht) erg. 


zum  Handel  mit  einschlägigen,  von  der  Grofsindustrie  hergestellten 
Waren,  die  Verbindung  vcrschiedenartit^er  gewerblicher  Verrich- 
tungen zu  einheitlichen  Produktioaszwecken  oder  doch  in  einem 
und  demselben  Geschäftsbetrieb,  die  Ergänzung  des  Einkommens 
aus  Berufen,  die  ihren  Mann  nicht  ausreichend  ernähren,  aber  auch 
nicht  völlig  in  Anspruch  nehmen  durch  anderweitige  Erwerbthätig- 
keit,  der  allmähliche  Uebergang  von  Familtenangehörigen  ins  Er- 
werbleben und  ähnliche  Veranlassungen  mehr  zu  nebensächlicher 
Erwerbthätigkeit 

Sichere  Gieii/.eii  lassen  sich  dabei  nicht  ziehe;.,  weder  dem 
Hauptberufe  noch  der  er\verl)I<>sen  Steihmg  als  I^'.imilieiian^'ehörige 
gegenüber.  Die  Kriterien  des  Nebenerwerbs  waren  bei  der  Erhebung 
von  1895  die  gleichen  wie  1882:  es  mufs  eine  Krwerbthätigkeit 
stattfinden  —  arbeitsloses  Kinkommen  '^^iU  nicht  als  Neljenerwerb  — 
und  sie  mufs  einen  we-^enllichen  Teil  des  (  n.•■^anUeinko^llne^s  bringen. 
Dabei  ist  es  j^leich^ülti^,  ob  sie  neben  dem  I  Iauj)tberuf  oder  von 
Personen  dhne  Hauptberuf,  ob  sie  zur  Zeit  der  ZähluriLj  oder  /u 
einer  atidcren  Jalnc-^/cit  aus^a'übt  \v  ;d.'i  Kriterien  sind  aber 

nur  in^otcrn  wirksam,  als  sie  in  da^  ik  rulsbew  uistsein  der  Be\olke- 
rung  Lin^anfj  gefunden  haben.'  Das  ist  nun  beim  Nebenerwerb  iti 
viel  geringerem  Malse  tler  l  all  wie  beim  Hauj)tbcrul.  \  iele  Be- 
schättigungen,  welche  nach  der  Absicht  de:  hiliebung  als  Neben- 
erwerb hatten  angegeben  werden  sollen,  siiul  von  den  Befragten 
als  zum  Hauptberuf  gehörig  angesehen  und  deslialb  nicht  besonders 
eingetragen  werden,  Koch  schlimmer  bt  es  mit  solchen  Erwerbs- 
arten bestellt,  welche  man  überhaupt  nicht  als  Berufsthätigkeit  zu 
bezeichnen  gewohnt  ist,  wie  z.  R  das  Austragen  von  Zeitungen  etc., 
oder  welche  doch  gewisse  Gesellschaftskreise  fiir  sich  nicht  als 
solche  gelten  lassen  wollen,  wie  z.B.  zahlreiche  Frauen  des  Mittel- 
stands die  Anfertigung  weiblicher  Handarbeiten.  Von  grö&tem  Ein- 
flüsse war  dabei,  dafs  nach  der  Anleitung  zur  Ausfüllung  der  Haus- 
haltungsliste die  Spalten  fiir  den  Hauptberuf  bei  jeder  Person  unbe- 
dingt einen  Eintr^  enthalten  mufsten,  nicht  auch  die  Spalten  fiir 
den  Nebenerwerb.  Es  bestand  demnach  nicht  die  gleiche  zwingende 

*)  1883  sollte  war  die  rcgelmäi^ig  aiugeUbte  Erwerbthittgkeit  ftk  Nelien- 
«nrerb  gelten.  1895  hat  man  an  dem  ErforderoU  der  RegelmüfsigkeU  nicht  fest- 
gehalten. Praktisch  besteht  kaum  ein  Unterschied,  da  auch  189$  nur  eine  solche 
Th&tigkeit  als  ^'eh<-n<;t^\v^l•  ^ih.  dir  einen  wespntUchen  Teil  d<-$  Gesamteinkommens 
bringt,  somit  in  der  Regel  auch  einen  wesentlichen  Teil  der  Arbeitsseit  in  An- 
spruch nimmt. 


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Die  Hfrufh-  und  Gcwcrbcziililuug  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  1895.  j 


Veranlassung  für  den  Befragten»  sich  selbst  und  der  Erhebung  gegen- 
über Rechenschaft  abzulegen  über  die  Nebenerwerbsverhältnisse,  wie 
über  die  Hauptberufsverhaltnisse.  Man  konnte  sich  beim  Nebenerwerb 
um  die  Antwort  drücken,  indem  man  die  betreffenden  Spalten  des 
Fragebogens  leer  liefs,  beim  Hauptberuf  nicht  Und  so  mulste  denn 
die  Erhebung  des  Nebenerwerbs  ungletchmäfsig  und  lückenhaft  aus- 
fallen. Wir  haben  zwar  keine  Anhaltspunkte  dafür,  um  das  Mals 
der  Auslassungen  exakt- zu  bestimmen,  allein  die  Durchmusterung 
der  sachlichen  und  örtlichen  Details  läfst  keinen  Zweifel  darüber, 
dafs  notorisch  wichtige  Xebenerwerbszweige  viel  zu  schwach  besetzt 
erscheinen,  also  in  weitein  l'mfant^^e  nicht  eingetragen  worden  sind. 
Auch  mögen  sich  gewisse  Schwankungen  dadurch  rrc^cbcn,  dafs  die 
(irenze  zwischen  Haui)t-  und  Nebenberuf  nicht  gleichinälsig  ein- 
gehalten worden  i^t.  Das  sind  eben  die  un\  ermeidlic  hcn  Schwierig- 
keiten der  Neljetierwerbsaufnalnne :  sie  wird  tkn  Ncl)cncT\verb  nie 
ganz  erfassen  sondern  immer  nur  Xälieruiigswcrte  liekrri.  weil  hier 
die  •'Ul)iektiven  Momente  eine  noch  grölsere  Rolle  spielen  wir  beim 
Hauptberuf.  Was  im  Zweifel  Hauj>tl)cruf  und  wa>  lU  Neben- 
erwerb zu  gelten  habe,  muls  (henso  tlcr  Kntscheidung  der  Be- 
fragten ulierlasseii  bliibcn,  wie  die  I  rage,  ob  eine  Thätigkeit  ein- 
traglich giMug  ist,  um  überhaupt  als  N'ebencrwetb  angesehen  zu 
werden.  Die  Bearbeitung  kann  und  soll  daran  nichts  nachbessern. 
Sie  war  1895  im  Rechte,  wenn  sie  es  vermied,  die  Berufsangaben 
ex  post  nach  den  Materialien  der  landwirtschaftlichen  und  gewerb- 
lichen Betriebsaufnahme  zu  berichtigen,  was  1882  geschehen  ist 
Das  hat  allerdings  die  Anzahl  der  Nebenerwerbfalle,  insbesondere 
auf  dem  Gebiete  der  Landwirtschaft,  herabgemindert,  kommt  aber 
der  Wahrheit  jedenfalls  naher.')   Anlafs  zu  einer  Berichtigung  lag 

')  Die  landwirt«cbafiliche  BetriebwnfiMlnne  hat  555S367  LandwirtscbkAs- 
betriebe  ergeben,  die  Benifsxahlanf  aber  a  5sa  539  selbstündige  Landwirte  im  Hanpt- 
beruf  tmd  3159606  im  Xfbcnbemf,  zusammen  46S3145,  mithin  am  S76 172 

wrnij,'rr  als  landwirt-chafdiche  Betriebe.  Der  L•adwir(^fllaftsb«nd  drs  Zählung»-, 
wrrks  erklärt  dies  daniil.  (i  ifs  von  der  Bctriebszählang  auch  zahl roiclic  Zwergbetriebe 
erfal'.t  worden  ».ind.  «Irren  Frtrh^ni*  zu  Pöring  hlt-iht.  um  drn  !?csit/er  zur  Ein- 
tragung; f'.m  ^  l.iiulw  irt  M  (i.iltlu  lifii  .\rb»-ncrw<"rbs  zu  v<-ran1.is>«ii.  (Irorf;  von 
Mayr  iialt  in  ilem  Aui^atze  „Die  I>eut*ihe  Landwirtschalt  und  die  Bcrulsstutihtik 
TO«  1S95",  Beilage  zur  Allgemeinen  Zeitung  vom  19.  April  1899,  and  noch  nach- 
drtldtlicher  in  der  No.  160  der  Allgemeinen  Zeitung  vom  17.  Juli  1899,  ^Die  Be- 
deutung des  Nebenberufs  für  die  allgemeine  Berufutatistik'',  sowie  in  seiner  Be- 
sprechung der  Berufszfihlung  im  Allgem.  ütati^tis«  h<  n  Archiv  V.  Bd.  S.  709fr.  diese  Er- 
Itllrung  fär  nicht  ausreichend  und  meint,  dafs  die  landwirtschaftliche  Bethätigung  in  den 


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il.  Raachberg, 


nur  vor,  wenn  ein-  und  dieselbe  BeschäfliL^unti,  und  zwar  in  der 
gleichen  Beniüsstellung,  sowohl  als  Haupt-  als  auch  als  Nebenberuf 

Berufsaaswciscn  nicht  in  ibrem  ToUen  Umfang  wiedergegeben  werde.  Die  Einwendaag 
de*  ZibliingBwerks.  dafs  der  landwirtschaftliche  Nebenerwerb  ein  nicht  zu  über> 
«eheadcs  iufneret  Merkmal  eben  am  Grandbetits  habe  and  daher  bei  der  Erhebung 

«cbiwierig<*r  übergangen  werden  konnte  als  soastiger  Nebenerwerb,  will  von  Mayr 
nicht  gelten  lassen.  Rs  sei  im  Gegenteil  eher  üblu  li,  dafa  auch  l.amlwirti*  <-u  h  nach 
ilir«T  sonstigen  Berulsbcthäligung  benennen  und  «-intrafii-n,  so  dais  ii»  r  lamiwirtv  haft- 
Ih  lic  }{.iuplbrruf  mitunter  mir  als  NVbencrwiTb  ang<-g«'l)fn  wcrdr,  in  aiid«rrr-n  Kiillcn 
aber  dieser  leUterc  ^.lU/.lu  li  unter  den  Tisch  falle.  Leber  die  HauptberuUverbaltm.vte 
der  bhaber  landwirtschaftlicher  Betriebe  werden  wir  durch  den  Landwiitichaft«band 
genügend  aufgeUirt  (S.  46*  ff.).  Es  ist  richtig,  46,14  Prozent  aller  jener  Eetriebs- 
iiihaber,  ja  selbst  In  der  Klasse  des  Grofsgrandbesitaes  von  100  ha  und  darüber 
noch  inuner  5,34  Prozent  gehören  anderen  Hauptberufen  als  der  Landwirtschaft  an. 
Wenn  nun  ein  erheblicher  Teil  davon  es  unter1a>^rn  hat,  Landwirtschaft  au>-l\  nur 
als  Nebenerwerb  anzugegeben.  so  muf»  daraiu  lux  [1  kcin<-swegs  auf  dt'*  l.ürkfn- 
haftigkeit  jontT  Frhcbun^  geschlossen  werden.  L'enn  es  gehört,  wie  wir  bereits 
wissen,  zu  den  Kriturien  des  Nebenerwerbs,  dals  eine  e  r  w  e  r  b  e  n  <1  e  1ha- 
tigkeit  vorliege  und  daf»  i»ie  einen  wesentlichen  Teil  des  Kinkotnmens 
bringe.  Nun  ist  Grundbesitz  an  sich  eine  Besitzthatsache,  nicht  notwendig  eine  He» 
rulsthatsache.  Es  entspricht  völlig  den  Intentionen  der  Zihlnng,  wenn  diese  beiden 
Dinge  nicht  miteinander  verwechselt  werden.  Grundbesitzer,  die  ihren  Besitz  weder 
selbst  bearbeiten  noch  unter  Uirer  persönlichen  L<-ituiig  bearb«-iten  lassen,  sond-rn 
nur  als  Quelle  arbeit-'lo>en  Rentcneinkonimc!i<  l  ' »rächten,  sind  daher  v.dlig  im 
Rechte,  wenn  sie  unterhis'icn.  sich  als  Landwirt-  im  Nebenberuf  einzutragen, 
ebenso  jene,  denen  ihr  Grundbrsii/  —  und  mag  er  auch  über  loo  ha  umfa^>'-ti  — 
eben  nicht  einen  wesentlichen  l'cil  ihres  Einkommen!»  bringt.  Denn  nur  in  dicAcra 
Falle  durften  sie  nach  den  Ihnen  gewordenen  tiErliutermigett**  einen  Nebenberuf  al* 
vorhanden  aanehmen.  Hitt  man  sidi  das  vor  Augen,  so  wird  man  die  Thatsachc, 
dafs  die  Inhaber  von  876  t6a  landwirtschaftlichen  Betrieben,  denen  —  nebenbei  bo* 
merkt  —  durchaus  nicht  ebensoviel  Besitzer  entsprechen,  weder  im  Haupt-  noch  im 
Nebenberuf  als  Landwirte  sich  eingetragen  haben,  nicht  als  ein  Gebrechen  der  Er* 
hebung  auffassen,  sondi-m  virlm»-hr  als  ein  wiihtir;r',  Svn)',iti»m  fiir  die  geminderte 
Bedeutung  lies  (»rundbesilzcs  \'urn  .*>tand|iunkte  des  -.unjektu eii  lieruf'>b<-wu(sts'"ins 
und  Bcrufsintercsses  aus.  Der  Vorwurf,  als  ob  die  berufs»lati»tik  die  agransclicu 
Interessen  in  sn  schwacher  Besetzung  zeigte,  ist  nicht  gerechtfertigt.  Das  mag 
bei  der  Darstellung  nach  dem  Hauptberuf  allein  zutreffen;  durch  die  Nebenberufs« 
daten  wird  jedoch  die  richtige  Beurteilung  angebahnt.  Jene  viel  umstrittene 
DifTerenz  von  876 1 72  Betrieben  ohne  die  entsprechenden  Berufssubjekte  erteilt  uns 
vi.  tn  .'lir  einen  Wink,  d.ifs  man  die  agrarischen  I^teres^en  nicht  schlechtweg  nach 
der  Zahl  uder  der  Kliu  lie  lier  Hi  triebe,  suiidern  nai  h  deri-n  ökonomischer  und  beruf- 
licher Wichtigkeit  fr.r  d  -n  Inlialter  zu  h  tne-sen  habe.  Und  wer  vermochte  eiu 
kompetcntcrea  L'rtcil  darüber  abzugeben  als  dieser  selbst  in  seiner  Berufsdeklaration  r 


Die  Berufs-  und  GewerbexäUuiig  im  DeuUcihen  Reich  vom  14.  Juni  1895.  i^i 

eingetragen  war.  Darin  liegt  ein  Widerspruch;  nur  der  Hauptberuf 
wurde  gezätUt  Anders,  wenn  jene  doppelt  verzeichnete  Beschäf- 
tigung im  Haupt-  und  N'chcnberuf  in  verschiedener  Stellung;  be- 
trieben wird,  z.  B.  landwirLscliaftiiche  TaL:^löhncrei  verbunden  mit 
selbständigem  Landwirtschaftsbetrieb.  Das  ist  ganz  wohl  vereinbar 
und  kommt  häutig  vor.  Ein  Anlal^  zu  Aenderungen  ist  hier  nicht 
g^cben. 

Wohl  aber  crgiebt  sich  gerade  in  dioeni  beisjiiclsweise  an- 
gegebenen Falle  eine  «^^ewisse  Schwicrii^'kcit  für  die  \'ci\deiohutig 
mit  den  P>gcbni.sscu  von  1882.  Wie  ich  schon  bei  anderer  Ue- 
Icj^cnlieit  erwähnt  habe  ist  nämlich  für  die  landwirtschaftlichen 
Taglühncr  mit  selbständi'jijcm  Landwirtschaflsbelriel)  1882  eine  eigene 
Kategorie  der  Kerufsstelhnig  vorgesehen  gewesen.  1895  ist  sie  auf- 
gchissen;  Personen  in  solcher  L.'ige  gellen  entweder  als  selbständige 
Landwirte  oder  als  landwirtschaftliche  Taglöhner.  In  beiden  Fällea 
war  die  andere  Beschäftigung  als  Nebenberuf  einzutragen.  Folge- 
richt^  müiste  demnach  iiir  die  Vergleich  ung  der  Ergebnisse  von 
1882  und  1895  jene  kombinierte  Kategwie  der  BerufssteUung  vor 
1882  als  aus  Haupt-  und  Nebenberuf  zusammengesetzt  angesehen 
werden,  und  es  wäre  die  1882  ermittelte  Zahl  der  Personen  mit 
Nebenerwerb  um  838  766,  jene  der  NebenerwerbsfiUIe  um  875  887  zu 
erhöhen.  Bei  diesem  Verfahren  eigiebt  sich  jedoch,  wie  die  Auf> 
Stellungen  auf  S  153  erkennen  lassen,  ein  so  betrachtlicher  Ausfall, 
dafs  er  nur  zum  Teil  aus  materiellen  Veränderungen  erklärt  werden 
kann.  Offenbar  hat  die  geänderte  formale  Behandlung  der  Verbindung 
von  selbständigem  Landwirtschaftsbetrieb  und  landwirtschaftlicher 
Taglöhnerei  1895  so  wie  auf  die  Zahl  der  landwirtschaftlichen  Tage- 
löhner, -j  auch  auf  die  Ergebnisse  über  den  Nebenberuf,  zunächst 
innerhalb  der  Landwirtschaft  und  dann  überhaupt  gedrückt.  Das 
wird  für  die  Folge  mit  zu  berücksichtigen  .sein. 

Maupt-  und  Nebenberuf  müssen  aKo  in  ihren  \\'echselbcziehun  _;eri 
untersucht  werden  durch  sorgfältige  Kombination  der  iiieruiier 
gemachten  Angaben.  So  erfahren  wir,  wie  die  Haupt-  und  Neben- 
berufe und  die  dadurch  gekennzcu  hiicten  Interessengruppen  in- 
einander iiheri^reifen  und  erlangen  einen  Einblick  in  die  mannig- 
fachen Verwicklungen  des  Erwerblebens. 

Diese  Kombinationen  finden  in  zweifacher  Kiclitung  statt,  mj- 


')  Vgl.  die  Berne rkunjjcu  auf  .S  Oio  Uc!>  .\IV.  B^itiUcN. 
*)  Vgl.  ebendaselbst  S.  bjS. 


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152 


H.  Raucbberg, 


wohl  vom  Hauptberuf  als  auch  vom  Nebenerwerb  ausgehend.  Von 

den  einzcltjen  Positionen  des  Hauptberufs  au^-^^ehend,  indem  für  die  Per- 
sonen mit  Hauptberuf  anf;e<,H]>rn  wird,  (»b  sie  einen  Nebenerwerb 
haben,  ob  spe/it  ll  in  der  Landwirtschaft  oder  in  anderen  Krwerb- 
ZWeigen,  ob  in  sell)Ständiger  oder  in  unstlbständiLcer  Stellung.')  Voo 
tler  Seite  des  Nebenerwerbs  aus  findet  eine  Koml)ination  mit  dem 
I  lauj>tl)erul  insofern  statt,  als  zunächst  die  einzelnen  Nebcnbcrufs- 
fälle  nach  dem  vollen  Detail  des  Ikrufsscheinas  auft)ereitet  worden 
sind  und  dann  /u  jeder  Position  nn^cL^eben  wird,  ob  die  dahin  gc- 
liöri^'cn  l'cr^diu  p  dem  Haujitbcrut  r.ach  erwerbend  >md  oder  nicht, 
ferner  für  den  l  all  <k  r  I  j  u  crlolluiti^^keit  ob  >ie  selbständig  oder  unselb- 
5;tän<lij4  aus^^tübt  w  ird,  und  zwar  auch  hier  wieder  <ib  in  der  I.andwirt- 
schatt  oder  in  anderen  Ikrulen.  Da  eine  und  die>elbe  Person  mehrfachen 
Nt  br  t  rwerb  haben  kann,  bedmicn  die  Sunmien  jener  Posten  nicht 
mi  hi  Personen  nut  Nebenerwerb,  sondern  Nebenerw  erbs  I  a  11  c.  Ihre 
Zahl  ubertrifft  beträchtlich  jene  der  Personen  mit  Nebenerwerb. 
Aus  der  Zusammenfassung  der  Hauptberufs  und  Nebenerwerbs- 
daten wird  sich  schliefsUch  die  Gesamtzahl  der  Berufetälle  für  jeden 
einzelnen  Berufszweig  ergeben. 

Bei  unseren  Untersuchungen  wollen  wir  zunächst  vom  Haupt- 
beruf  ausgehen  und  sehen,  wie  viele  Benifsthätige  (bezw.  berufelose 
Selbständige)  in  den  einzelnen  Berufsabteilungen  einen  Nebenerwerb 
ausüben.  Dann  ist  die  Gliederung  der  Nebenerwerbsfalle  und  ihre 
Verteilung  auf  die  Berufsstellungen  des  Hauptberufs  zu  erörtern, 
und  schliefslich  der  Einflufs  des  Nebenerwerbs  auf  die  Berufeglie* 
derung  überhaupt. 

Die  Personen  mit  Nebenerwerb,  die  im  Hauptberuf  er- 
werbthätig  sind,  verteilen  sich  foigendermafsen  auf  die  einzelnen 
Berufsabteilungen ; 

(Siehe  die  iifhen -(r}irii<Jr  Lebersicht  auf  S.  I5.v) 
Der  Nebenerwerb  nimmt  ab.     1895   wurden    505829  Berufs- 
tliätiLic  wt  iiii^er  mit  Nebenerwerb  ermittelt  wie  1882;  das  sind  12,72% 
des  Standes  von   1882.     Von  je  100  hauptsächlich  Heruf.>.lhäti^'en 
hatten  1882  noch  20,90  einen  Nebenerwerb,  1895  nur  mehr  14,29.  -) 

>)  Hingegen  fehlt  dieM  Angabe  für  die  Familieoangehörigen  und  Dienenden. 
Wir  erfahren  nrar,  wie  viele  Nebenerwerbs f&Ue  auf  diese  Kategorien  entfallen, 
nicht  aber  wie  viele  PerMwe«  daran  beteiligt  sind,  und  welchen  Bcmfsxwcigen  «ie 

hauptberuflich  an}:rboreB. 

*  liber  c!ni  Kürkj^ang  uml  die  Zahl  der  Nebenerwerbs t alle  vgl.  weiter 
nnten  die  Auslühruni^en  uut  S.  15^. 


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Die  Berufs-  und  Gewerbezahlung  im  iJcut-schcn  Reich  vom  14.  Juni  1895.  i 


:  SS2 


Aimtii 

Proxeatc  der 

ABSalU 

Prozente  der 

QCT 

hauptb« 

•ruflich 

Amr 

bnnptbemflicb 

BernfabteUnngen 

T*rT»vOTlf*TI 

Erwcrbthütieen 

Env-erbthätieen 

mil 

jeder 

mil 

mit 

jetler 

mit 

Neben- 

Berufs- 

:il>tei- 
lung 

Neben- 
beruf 

Neben- 

' Benifil- 

Neben- 
beruf 

erwerb 

über- 
haupt 

erwerb 

ahaei. 
Itmg 

iiber- 
haupt 

A  LandwirtsctMA  .  . 

1049542 

12,66 

3»*o6 

1510 170 

»8,34 

37.95 

B  Indnstrie  .... 

1491 865 

18,02 

45.58 

1 6933*» 

«6,47 

WS 

C  Handel  und  Verkehr 

384105 

16,43 

n.73 

3979*7 

l)  Häusllichc  Dienste  . 

31  333 

7.24 

0,96 

55960 

14,08 

Ml 

E  Ocffrntlicber  Dienst 

1 15  260 

8,08 

3.52 

142  218 

13.79 

3.57 

F  Benifslo^^e  .... 

20  \  33  ; 

6,15 

170679 

'3.27 

4.S2 

zusammen 

3373446 

14,29 

itx>,oo 

3979275 

20,96 

Der  Rück^^ang  betrifft  beide  Geschlechter  und  kehrt  in  den  meisten 
Berufstellungen  wieder.  Was  zunächst  die  beiden  Geschlechter 
betrifft,  so  hatten  einen  Nebenerwerb 

vun  je  100  bvruf&thätigen  1895  1S82 

MSnnem   17,82  2Si46 

Frauen   5,12  8,22 

Die  Beteiligung  der  Frauen  am  Nebenerwerb  erscheint  weit 
geringer  als  am  Hauptberuf:  hier  25,35.  duri  q,^)",,  der  betreffenden 
Erwcrbthätigen.  Ks  ist  jrdoch  zu  herüfksirhti-cn .  dafs  es  sich 
hier  nur  um  <«>Ic!u'  Frauen  handelt,  welche  auch  einen  Hau|>tberuf 
au^ulicn.  W'escnthch  anders  würde  sich  das  Verliältnis  gestalten, 
wenn  \vn  auch  den  Nebenerwerb  der  Familienangehörigen  mil  in 
Rechnung  stellen  könnten.  ^) 

Nach  Berufsstellungen  und  Berufsabteilungen  sind  die  Neben- 
erwerbsverhältni.s.se  die  folgenden : 

Es  haben  Nebenerwerb 

von  je  100  hauptsächlich  ErwcrbthStigen 


Benifsstellnni; 

der  Land- 

des Handels 

Uberhaupt 
in  A,  B  u.  C 

wirtschaft 

der  Indnatnc 

und  Verkehrs 

1895  1882 

1895 

188a 

1895  i88a 

1895  1882 

SelbstSadige  .  .  . 

ao.39  «7,92 

34.3t 

41,84 

»8,90  39.79 

26,95  5«^ 

Angestellte.  .  .  . 

«6,71  37,35 

11,84 

»7.79 

■3.50  6,a7 

9,08  16,72 

9,06  18,28 

ia,65 

18.42 

10,64    15.  i> 

10,88  18,12 

'1  Vp,].  (iif  .\n^.it»-n  über  dm  AxxuW  drr  Familienaiifehörigen  und  speziell  der 
Frauen  an  den  Nebenerwerbs  fällen  auf  S.  159. 


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H.  Rancbberg, 


Dafs  die  Selbständigen  verhältntscnäfsig  am  häufigsten  einen 
Nebenerwerb  ausüben,  erklärt  sich  daraus,  dais  er  durch  BesitZ' 
Verhältnisse  b^ünstigt  wird.    Insbesondere  von  der  Industrie,  von 

der  die  meisten  N'ebenerwerbsfälle  abz\vci;^en,  f^ilt  dies,  dann  auch 
vom  Handel  und  Verkehr:  Grundbesitz  kommt  hier  als  landwirt- 
schaftlicher Nebenerwerb  zum  Ausdruck.  Kr  ist  das  Residuum  des 
früheren  landwirtschaftlichen  Berufs,  von  dem  entweder  der  (ie- 
/ähltc  oder  sein  Vorfahr  zu  gewerblicher  oder  Handelsbelhätij^ung 
übergelaufen  ist.  Zutj^leich  wirkt  er  al>  \'< >i sj »ann,  um  hier  zur 
besseren  Bcrufs>tclluiig  zu  gelangen.  Damit  stimmi  auch  ubercin, 
dals  der  Nebenerwerb  ganz  überwiegend  in  selbstandiLMn-  Stellung 
ausgeübt  wird  imd  zwar  verluiltnisinalsig  am  häutigsten  \un  ><>lchen, 
die  auch  im  1  lau['ll)eruf  selbständig  sind.  Im  ganzen  sind  von  je 
\Ol)  lkrul>iliatigoii  mit  Nebenerwerb  «^1,93  im  Nebenerwerb  selb- 
ständig. In  den  3  Berufsabteilungcn  I^ndwirlschafi,  Industrie,  I  landel 
und  Verkehr  sind 


voo  je  100  im  Hauptberuf 


im  Nebenenrerb 
selbstSndig  «bbängii; 
SelbftKndigen   85,84  14,16 

AnpcsteUten   90.30  9.70 

Arbeitern   7^16  21,84 

xusamnieii      82,40  i7f6o 
• 

Dafs  aber  auch  sonst  die  selbständige  Stellung^  beim  Neben- 
erwerb so  sehr  überwiegt,  erklärt  sich  aus  dem  geringen  Um- 
fange seiner  Betriebe.    Gehilfen  wirken  dabei  nur  in  selteneren 

Fällen  mit,  und  andrerseits  wird  dem  Nebenerwerb  nur  jene  Zeit 
gewidmet,  die  der  Hauptberuf  frei  läfst.  Damit  nimmt  ein  Arbeil- 
geber nur  schwer  vorlieb.  Nur  auf  eigene  Rechnung  kann  solche 
freie  Zeit  verwertet  werden. 

Die  Abnahme  des  Nebenberufs  i>t  —  von  den  formalen  Ver- 
schiedenheiten der  Bearbeitung  der  Materialien  im  Jahre  1882  und 
1895  abgesehen  —  nach  meinen  einleitenden  Bemerkungen  zu  er- 
klären aus  den  Fortschritten  der  volkswirtschaftlichen  Arbeitsteilung. ') 


')  Dftfs  der  Nebenenrerb  nur  oavoUatlndig  erfafst  worden  itH^  habe  ich  schon 
nof  S.  148  n.  149  anvKefllliit.  Die  Vergleichnag  der  Ergebnisse  von  1895  lak  jener  von 

1882  wird  iladuroh  kuuni  becinträclitigt,  weil  beide  Erhebungen  die  gleichen  Schwi«?rig« 
keiten  /u  iiiir-rwindfn  hatten  und  demnach  wohl  auch  so  xir-mli-h  die  gleichon  Lücken 
aufweisen.  Aus  d<  r  V••r^ohiedenheit  der  Ergebnis>e  von  1SS2  iSa^  darf  d<'mnaeh 
fUglich  »uf  die  allgememea  Entwickclungstendenzen  de^  Näbeaerwerb»  zuriickge- 
!>chloa»cn  werden. 


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Die  bcruta-  und  Gewcrbc^ählunj;  im  Deut^>clicn  Reich  vum  14.  juni  1S95.  1 


Wenigstens  io  der  Industrie  sowie  im  Handel  und  Verkehr  trifft 
das  zu.  Der  Hauptberuf  nimmt  hier  die  Menschen  immer  strenger 
in  Anspruch;  er  beherrscht  immer  starker  ihr  Beni^efiihl,  so  dafs 
die  Rudimente  der  früheren  Wirtschaftsstnfe  absterben  oder  doch 
bei  der  Eintragung  in  die  Haushaltungsliste  nicht  mehr  mitspielen. 
Der  überraschende  Ausfall  im  Nebenerwerb  der  landwirtschaftlichen 
Arbeiter  —  509728  im  Jahre  1895  gegen  1075245  im  Jahre  1882— 
ist  in  erster  Linie  jedenfalls  aus  den  bereits  früher  erwähnten  for- 
malen  Aenderungen  in  der  Registrierung  der  landwirtschaftlichen 
Taglöhner  mit  Land  zu  erklären. 

Eine  bemerkenswerte  Ausnahme  bilden  die  selbständigen  I-and- 
wirte.  Sic  sind  die  einzige  Grupf)c,  in  welclicii  der  N'ebencrwerli 
häufi'^er  t^rwordcn  ist.  früher  410034  selbständige  I-andwirte  mit 
Nebenerwerb  oder  17,92",,,  jetzt  495  90S  oder  20,39  "/o-  r)a-;  jiaUt 
aber  völlig  zu  meiner  Theorie.  Hier  haben  wir  das  vorausblickende 
Antlitz  ties  Januskopts  vor  uns:  der  N'eljeneruerb  ist  der  Vorlxjte 
der  Industrialisierung,  des  l'ebergatigs  von  der  I^md Wirtschaft  zu 
Gewerbe,  Handel  und  Wrkelir.  Noch  werfen  sie  ihren  Schatten 
nur  erst  in  der  l  urrn  des  Nebenerwerbs  voraus;  bei  einer  späteren 
Zählung  ist  das  Verhältnis  in  manchen  Fällen  vielleicht  schon  das 
umgekehrte. 

Drei  Momente  sind  dafUc  malsgebcnd,  von  weichen  Haupt- 
berufen aus  der  Nebenerwerb  am  häufigsten  ausgeübt  wird:  ihre 
Verbreitung  auf  dem  Lande,  das  Verhältnis  der  Selbständigen  zu 
den  Abhängigen,  die  Beteiligung  der  Frauen.  Am  häufigsten  ist 
der  Nebenerwerb  mit  solchen  Berufen  verbunden,  die  von  der  ge- 
schlossenen ländlichen  Hauswirtschaft  abzweigen  und  daher  ihren 
Sitz  auf  dem  flachen  Lande  haben.  Da  bei  den  Selbständigen  der 
Nebenerwerb  mehr  als  zweimal  so  häufig  auftritt  als  bei  den  Ab- 
hängigen, bei  den  Männern  mehr  als  dreimal  so  häufig  wie  bei 
den  Frauen,  so  entwickelt  er  sich  kräftiger  von  solchen  Berufen  aus, 
welche  verhältnismäfs^  wenig  abhängige  Personen  und  wenig  Frauen- 
arbeit verwenden. 

Durch  häufige  Ausübung  eines  Nebenerwerbs,  insbesondere 
seitens  der  Selbständigen,  ragen  folgende  Berufsgruppen  hervor: 


Ei  haben  einen  Nebenerwerb  von  100 


in  den  Beroftgnippen 


Fontwirtschaft  u.  Fischerei  . 

Bergbau.  Hüttf nwi-st-n  <*tL.  . 
Induslrie  d^r  .Steine  u.  trdeo 


48,63  46.35 


42,42  20.20 
55.59  21. 4i 


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156 


II.  Kauchbrrg, 


M>  t;illv<  r.i.'t'<  itiai;^   .......  ;o,2;  16.06 

.\aiiruiij:s-  u.  ( jrnui&mutcl    ....  ;2,')4  21,47 

Paupf  w«rhf   4<'.57  22,84 


in  den  Beraf^cnlppeft 


Beruts^nij'jK  n  mit  geringstem  .Nebenerwerb  sind  tla^^e^'en 


r.ckU-iilimi,'  u.  Rfmi),'unp  .    ,    »    ,    ,  22,75  I2.<J7 

l'(>lv>:r.i;ihis«  In    (irurrlx-   -S,'^r>  4-49 

Kiuislltri>LlHr  licirirb   11,07  6,49 

lUndeUgewerbe   24,06 

Versichenin^sßrwerbe   13.77  6,a3 


\'<>lli'^^er  I'.iiiljlirk  cr^chlielst  sich  frcilirh  <  r^t,  weiui  aurh  auf 
die  AuMibiiii^^  des  Nebenci  w  ii  von  <Uii  ein/einen  Berulsarlen  aus 
einf^t'j^an^'eti  wird.  Dann  wird  es  klar,  wie  iiinif^  die  gewerbliche 
Ikthälit^un^^  iKu  h  mit  der  Landwirtschaft  zusammenhängt  und  von 
welcher  Bedeutun;;  diese  letztere  für  alle  anderen  Berufe  ist.  L'm  nur 
einige  der  wichtigsten  Berufszweige  herauszuheben,  die  mehr  als 
10  000  Krwerbthätige  mit  Nebenerwerb  umfassen,  so  haben  einen 
Nebenerwerb 


In  Solcher  \\'ei>e  sind  ;j;erade  die  am  meisten  verbreiteten  (ie- 
werbe  nebenberuflich  mit  der  Landwirtschaft  verknüpft.  Es  giebt 
ihrer  verhältnismäfxif^  nur  wenige,  in  welchen  nicht  wenigstens  ein 
Drittel  der  Selbständigen  einen  laiuhvirtschafiiichen  Nebenerwerb 
hat:  14  Berufsarten  glebt  es,  in  welchen  dies  bei  der  q^röfscren 
Hälfte  der  I'all  ist.  Auch  für  die  Hausindustrie  sjäclt  der  land- 
wirtschaftliche Nebenerwerb  eine  wichtige  Rolle.  So  hat  von  d<"n 
selbständigen  hausindustriellen  Korbmachern,  Tischlern  und  Webern 


Selbständige 
der  ßerafsart 


aii^olut  icx?  Selb  >tänd  igen 

aber-  in>beb.  m  der  über-  in  der  Land- 
b.(upt    Landwirtschaft  haupt  Wirtschaft 


Getreidemühlen  

Grol>>iHaf-)Schn)icdc  .  .  . 
StcHrnai-hcr  n.  Wagner  .   .  . 

MauriT  

/.uuincrfr  

BScker   

Tischler  

Flrivi  b<  r  

H' iif  rbrrijung  u.  Ert|uickung  . 

.scbul)in;ulicr  


36849  35481  87,6  83,t 

44181  42984  70,9  68,9 

26460  256S6  66,5  64.6 

.>^'>53  s«»b  ()i.S  37,7 

32  loS  2o(.i4  01,5  57,4 

403a»  34093  5*.o  44iO 

52946  49249  49,8  46,3 

;on4  2648;  43. j  38,2 

75643  61  (.S3  43,1  35,  j 

87254  7bOj6  40.4  36.5 


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Die  Berufs-  und  Gewerbcz&hlung  im  Deubchen  Reich  vom  14.  Juni  1895.  i^j 


beiläufig  der  dritte  Teil,  von  den  Schuhmachern  und  Zigarrenmachern 
doch  rund  der  fünfte  Teil  einen  landwirtschaftlichen  Nebenerwerb. 

Die  geog  1  a p htscbe  Gestaltung  der  Nebenerwerbs- 
Verhältnisse  ist  bedingt  durch  die  Ausbildung  der  volkswirtschaft- 
lichen Arbeitsteilung  in  den  einzelnen  Gebietsabschnitten.  Wo  sie 
kaum  erst  begonnen  hat  und  ebenso  dort,  wo  der  Prozefs  der  Pro- 
duktionsteilung und  Beruisbildung  schon  weit  vorgeschritten  ist, 
tritt  der  Nebenerwerb  verhältnismäßig  selten  auf;  am  häufigsten  ist  er 
dort,  wo  die  Umbildung  von  der  hauswirtschaftlichen  zur  volkswirt- 
schaftlichen Produktion  eben  stattfindet  So  bleibt  er  tief  unter 
dem  Reichsdurchschnitte  —  X4>39%  der  Erwerbthätigen  und  be- 
rufelosen Selbständigen  —  in  Berlin  (1,74 '/o),  Hamburg  (240  •/J, 
Bremen  '4,75  **o)>  '"^  Königreich  Sachsen  (7,37  *o),  aber  auch  in  Ober- 
bayern (8,78  Ostpreufsen  (10,55 ''J,  Posen  (ii,6H"„),  West- 
preuCsen  (ii,86",o)-  Maxima  werden  erreicht  in  Schaumburg- 

Lippe  mit  29,90  und  Wotfnlcn  mit  25.41  "  ^,  wovon  26,06  bzw. 
22,40",,  in  der  I-andwirlschait.  l'ebcrhaupt  ist  für  die  örtliche 
Gestaltung  des  Ncbciicrwcrl)s  der  in  der  I.andwirtsrhaft  und  der 
von  der  Landwirtschaft  aus  ausgeübte  Nebenerwerb  in  erster  Linie 
mals^a-bend.  Dieser  let/t<re  iiängt  hiiu\  icflerum  etii^e  zusammen 
mit  den  ( irun<ibesitz\  crhältiii^sen.  Klciiibesit/  und  st.irke  Vertretung 
der  selbständigen  Landwirte  fuhren  /u  Nebenerwerb  in  andeien 
Berufen,  Grolsbetneb  und  geringe  X'ertrctung  der  Selbständigen 
lassen  ihn  nieht  recht  auf koninieii.  So  ist  der  anderweitige  Neben- 
erwerb der  Personen,  die  mit  ihrem  Haui»tberuf  der  Landwirtscliaft 
angehören,  am  häufigsten  in  Hohenzollern  (18,65 Baden 
(il,28";(,)  und  Württemberg  (10,87",,),  geringsten  in  West- 
preufsen  (246  ^^^X  Posen  i^2,69  "  0)  und  Mecklenburg-Streliu  (2,75 

Bei  der  entscheidenden  Rolle  sowohl  der  Landwirtschaft  als  auch 
der  Ausbildung  der  Arbeitsteilung  war  von  vornherein  zu  erwarten,  dafs 
die  Nebenerwerbsverhältnisse  in  Stadt  und  Land  nach  Ortsgrolsen- 
klassen  charakteristisch  abgestuft  sein  würden.  Das  wird  in  der  That 
durch  die  nachfolgende  Aufstellung  bestätigt: 

Von  100  Erwerbtliatic<"n  «-tr  j<->J<T 
Ortsgiörsenklasseo     Pcnonen  mit  Nebenerwerb   Ortsgrössenkl.  haben  Nebcnorwcrb 


in  der 

in  anderen 

absolut 

Prozent 

ttberhanpt  Lnndwiitsch. 

Berufen 

Grofsstädtp    .    .  , 

70991 

3.17 

3,18 

0,58 

1,60 

Mittelstädte    .    .  . 

1 23  007 

3.76 

1.94 

Kleinstädte    .    .  . 

11,70 

»■«.49 

10,07 

2,42 

Laiuiglldtc    .  .  . 

538  «7« 

16.44 

»9.84 

»6.37 

3.47 

iadiet  Land     .  . 

2 158  158 

^'593 

«8.83 

I3J4 

5.09 

im  Ganzen 

100 

I4t39 

10,5» 

3,7* 

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I^g  H.  Kauchberg, 

» 

Je  ^röfscr  die  Orte,  <lesto  strenf^cr  ist  ihre  Wirtsrhaftsorf^anisation 
iinfl  desto  \veni>;cr  Raum  lälst  sie  für  die  Ausubiin^^  eines  Neben- 
berufs. Er  nimmt  daher  ab  bei  steigender  Einwohnerzahl.  Auf 
dem  flachen  Land  ist  er  jedoch  seltener  als  in  den  Landstädten» 
weil  auf  dem  Lande  die  Verhältnisse  noch  nicht  entwickelt  genug 
sind,  und  weil  daselbst  die  ganz  überwiegende  Mehrzahl  schon  dem 
Hauptberuf  nach  der  Landwirtschaft  angehört,  welche  sonst  das 
Hauptgebiet  des  Nebenerwerbs  bildet 

Wesentlich  anders  stellen  sich  die  Nebenerwerbsverhältnisse 
dar,  wenn  man,  die  Angaben  über  den  Nebenerwerb  summierend» 
die  Art  des  Nebenerwert»  nach  Nebenerwerbsfällen  unter- 
sucht.  Es  wurden  solche  registriert 

im  Jahre  1895  im  Jahre  18S« 


Pn». 

Pro«,  aller 

Pros. 

Pros,  aller 

in  der 
BcrafsabteilnuK 

ab!>olut 

samdicher 
Neben- 

Haupt« 

absolut 

"Etlicher 

WTirn- 

Haapt- 

berufe 

Vterufe 

brrufe 

lirnile 

A  I.amlwirtschaft 

73.7« 

4065;  645 

70,10 

3305 

B  Industrie 

619  jbO 

12.51 

0,90 

527  Ö04 

10,28 

7.62 

darunter  Haittiodtntrie  S9437 

i,ae 

I4>79 

C  Handeln.  Verkehr 

569877 

11,51 

»9,59 

429609 

8,37 

91,48 

D  Häu>lii  In-  Dienste, 

'raj.:cl<  i1in 

16765 

o,u 

3.73 

17093 

0,33 

4.12 

E  tJeffciitli«  lit-r  I  >i<Mivt    0;  4  ;6 

« .93 

6.27 

04  22S 

1,83 

8.37_ 

/.ufammcn 

4949701 

100 

19.24 

3  « 34  1 79 

100 

22.55 

An  den  4949 701  Xcbcnenverbsfiillen  der  Hrhcbung  vofl  1895 
sind  beteilig  5072111  im  Hauptberuf  Erwerbthätige  mit  3274036 
Fällen  und  201  335  berufslose  Selbständige  mit  208626  Fällen. 
Mehrfacher  Nebenerwerb  kommt  also  verhältnismäfsig  selten  vor. 
Aufserdem  treffen  1467039  F'^älle  auf  Angehörige  uhne  Hauptberuf 
und  l  )i(  n('iide:  auf  wie  \'iel  Personen  ist  allerdin^i^s  nicht  frstp^estcUt 
worden.  Im  Vergleich  zu  1SÖ2  ergeben  sich  folgende  Verschiebungen : 

NebcnbernftfEllc  somit  1895  mehr  (-f-) 

1895         1882  bezw.  weniger  (—)  als  i88a 

Erw<rbth:itip<*  im  Hauptberuf    .    3274036    4073397  —  799 361 

B-  niMosf  S' llivtündigf     .    ,    .      208626       1 87  786  -(-  20840 

Angchurigc  und  Dienende     .    .    1467039      872006  -)-  594043 

zu5,amnicn    4949701    5134179  —  1 84  478 

Es  ist  höchst  bezeichnend,  dafs  die  Nebenberufe  der  im  Haupte 
beruf  Erwerbthätigen  um  799361  oder  20 ''^^  abgenommen,  hin* 


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Die  Beruf«-  und  Gewerbeziblong  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  1895. 

{»fffeii  jene  der  berufslosen  FaniilienanL^chöri^en  und  Dienenden  ') 
um  504043  (»der  68*',,  zugenommen  haben.  Bei  diesen  ist  die 
häufi;^'(.'re  Beteiligung  am  Nebfru  rwerb  das  X'orzeiclieii  früheren  und 
zahlreicheren  Hintritts  in  das  Hrwcrbleben  überhaupt;  der  Neben- 
erwerb ist  gkichsam  die  Vorstufe  für  die  spätere  hauptberufliche 
Bethätigung.  Die  Abnahme  bei  jenen  ist,  wie  schon  früher  bemerkt, 
dahin  zu  deuten,  dafs  sie  mit  ihrem  Hauptberuf  nunmehr  Streiter  und 
einseitiger  in  die  arbeitsteilige  Oi^nisation  der  Volkswirtschaft 
einbezogen  sind.  Sie  haben  die  Spuren  der  hauswirtschafUichen 
Thatigkeit  abgestreift,  die  ihnen  in  der  Form  des  Nebenerwerbs' 
anhingen. 

Die  Abnahme  betrtflTt  nur  das  männliche  Geschlecht  ( —  696093), 
wohingegen  die  weiblichen  Nebenerwerbsfalle  um  511615  zu- 
genommen haben,  ausschliefslich  infolge  der  stärkeren  Beteiligung 
der  Familienangehörigen  und  Dienenden.  Wir  stehen  hier  vor  einer 
wichtigen  Etappe  des  Vormarsches  der  Frauen  in  das  Gebiet  des 
Erwerbs.  Mit  dieser  Bewegung  stimmt  es  auch  äberein,  wenn  an 
den  Nebenberufen  der  Erwcrbthätigcn  hauptsächlich  Männer,  an 
den  Nebenberufen  der  I"amilienangehörigen  aber  ganz  überwiegend 
Frauen  beteiligt  sind,  und  wenn  deren  l'ebergewicht  hier  seit  1882  er- 
heblich zugenommen  hat.  Von  je  100  NebenberufsfaUen  treffen  nämlich 


im  Jahre  1S95  im  Jahre  188a 

auf  Minner  anf  Frauen  avfMSnner  anfFrancn 


der  Enrcrbthiitifen  im  Hauptberuf 

9»,90 

8,to 

91,57 

Ms 

der  beraflosen  SelbstSndigen  .  . 

34,«7 

56.64 

43.36 

der  iüigehorigen  mid  Dienenden 

4.00 

96,00 

9».79 

im  ganzen 

6417a 

35.28 

75.95 

34.05 

Fassen  wir  nunmehr  die  bereits  auf  <\rr  vorhergehenden  Seite 
mitgeteilte  Gliederung  der  Nebenberufe  nach  den  ^^rolsen  Herufs- 
abteiluHLM-ii  ins  Auge,  so  sehen  wir  auf  den  ersten  Blick,  um  wie- 
viel Tiiciir  die  l.andwirtschaft  am  Nebenerwerb  bctciÜL^t  ist  wie  am 
1  lauj)tl)eruf  73.71  aller  Nebenbenberufc,  aber  nur  j^'jj^",,  aller 
I  lau])tb<Tufc  entfallen  auf  die  Berufsabteiluii;^^  A  1  .andwirt'-chaft. "-) 
Ebenso  wie  als  Hauptberuf  ist  die  Landwirtschaft  auch  als  Neben-  • 


>)  Die  Dienenden  cind  an  der  Gesamtzahl  der  NebenhenifsAllc  jener  beiden 
Kategorien  nüt  rond  ein  Zehntel  beteiligt. 

')  Allerdings  ist  es  wahncheinlich.  dafs  die  Nebenberufe  in  der  Landwirt» 
schall  vollstKndiger  erfafst  wurde  als  alle  anderen  Berufe,  weil  hier  im  Landwirte 


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|5o  Kauchberg, 

beruf  zuröckj^'Cj^an^^cn,  denn  1882  betrug  ihr  Anteil  noch  79,19"  «; 
alle  anderen  Berufsabteil  uiij^cn  aber  haben  verhältnismälsig  ge> 
Wonnen,  am  meisten  die  Industrie.  Die  Abnahme  der  landwirt- 
schaftlichen Nebenberufe  betrifft  übrigens  nur  solche  Personen,  die  im 
Hauptberuf  erwerbthätig  sind,  bei  allen  anderen  haben  sie  zuge- 
nommen, insbesondere  bei  den  Familienangehörigen,  welche  sich 
nebenberuflich  als  landwirtschaftliche  Arbeiter  bethätigen.  Es  wurden 
deren  gezahlt 

1895  l8$3 

Männer  6S720  60654 
trauen      107603t)     '>55  3il 

l  amilieiian^^oliörige  Frauen  sind  demnach  in  grofser  Zahl  in 
den  landwirtschaftlichen  Xtbcnerwerh  cinf^^ctrelen.  Hinj^c^en  er- 
giebt  sich  hier  ein  noch  crhchlirhcrer  Ausfall  an  solchen  Personen, 
welche  im  Haui)tberuf  erwcrblhatijr  sind.  In  dieser  rirujjpe  hal)en 
die  Männer  um  739  So  5,  die  Frauen  um  90  4 16  al)ujcn<  Mumcn. 
Das  Hi.;el)nis  dieser  Bewc^un^  ist  nicht  nur  die  •^chon  früher 
konstatierte  Abnalunc  der  landwirtsrhafiheiicn  Ncbeiiberule,  son- 
dern auch  eine  sehr  erhel)lii-he  X'erschiebuiig  de>  i  ic>clileclns- 
Verhältnisses  der  daran  beteillLMcn  Persotjen  zu  dunsten  tles  weib- 
lichen ( iesohlechts.  Ks  i>i  die  ^leu  iic  Hcw  e.,'un,^'  wie  im  Hauptberuf, 
nur  ^eht  sie  im  Xebenerwerl)  noch  viel  weiter. 

Der  liintrilt  weiblicher  Familienangehörij^'er  in  den  Nebenerwerb, 
hauptsächlich  in  abhängiger  Stellung,  ist  es  auch,  welcher  überhaupt 
liir  die  Zunahme  der  Frauen  mit  Nebenerwerb  in  Industrie,  Handel 
und  Verkehr  mali^ebend  gewesen  ist   Es  wurden  Frauen  gezahlt 

EnrerbUiitige  im 
mit  Nebenerwerb  Angehörige  Mmuptbenif 

iSo;        1SS2  iSq;  1882 

in  dcT  Industrie    .    .    .      120132      58852  32923  314^5 

im  Handel  uad  Verkehr     17^307     51307  42  777  28705 

Wir  sehen  also:  die  'gesamte  FntwicklunL,'  des  Xebencnverbs 
wird  beherrscht  durch  die  stärkere  Beteiii^un«^  der  Frauen  an  der 
Berufsarbeit,  wofiir  der  Nebenerwerb  das  Durchgangsstadium  bildet. 

--  -  -  —  * 

idMftsbetrieb  em  nicht  zu  Übersehende«  Surseres  Merkmal  gegeben  war  und  fiberdies 
dnrdi  die  LandwirtacbaAsfcarte  bei  der  Erhebung  noch  besonder»  darauf  hingemesea 
worden  ist. 

*)  Vgl.  dazu  die  Bemerkungen  auf  S.  376  des  XIV.  Bandes  dieses  Archivs 

Uber  das  Eintreten  von  weiblichen  Arbeitskräften  an  Stelle  der  abwandernden 
liehen  in  den  hauptberuflichen  Landwirtschaftsbetrieb. 


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Die  IWruts-  uud  ücwcrbciählung  im  Deutlichen  Rcidi  vom  14.  Juni  1895.  i5l 


Auch  fiir  die  Benifsstellung  im  Nebenerwerb  ist  die  Betel li^^ung 
der  Frauen  entscheidend.  Die  1895  verzeichneten  Nebenberufe 
w'urden  nämlich  ausgeübt 

in  der  SteUmig  von  dwdi  littaner  dnich  Fnuicn  Überhaupt 

Selbstliidigen .  .  2643471  33094>  «974412 

Angcstelhen  .   .  31053  1031  32084 

Arbeitern  .   .   .  528851  1 414354  1943205 

In  erster  Liiiii  t.illt  da^;  starke  L'cber^'cwiclit  der  selbständig 
auj5^cublen  Xcbcnbtrute  auf;  bic  marhen  60  "„  aller  Ncbencrwerbs- 
fälle  aus.  woi^a-^'en  die  Selbständigen  im  Hauptberuf  nur  etwa  ein 
Drittel  der  hrwerbtluiti^en  betraj^en.  'J  Allein  nur  beim  männ- 
lichen Geschlecht  treten  die  Selbständigen  so  sehr  hervor.  V^on 
den  Frauen  wird  der  Nebenberuf  ganz  überwiegend  in  abhängiger 
Stellung  ausgeübt;  ebenso  wie  im  Hauptberuf  sind  ihrer  auch  hier- 
bei kaum  ein  Fünftel  der  Erwerbenden  selbständig.  Demzufolge 
entfallen  von  je  100  Nebenberufen  *) 

ausj;cül)t  in  der  Stellung  von  aul  M;inn<  r  aul  1  r.uien 

Selbständigen   8S.S7 

Angestellten                            9^79  3,21 

Arbeitern                              27,22  73,78 

Das  erklärt  sich  daraus,  dals  ein  innerer  Zusammenhang  besteht 
/wischen  der  Berufsstellun'jij  im  Hauptberuf  und  im  N\  bencrwerb. 
Die  selbständij^'e  oder  utisclbständii^i- Stellun-^'  im  IIaupii)cruf  ist  in 
<ler  Mciir/.ahl  der  Fälle  aucfi  mals^^febcrul  fijr  die-  Stellun^^  im  .\'el)en- 
erwerb.  Da  nun  schun  im  Hauptberuf  die  Stellun;^  der  Männer 
eine  so  v  iel  ;^'ünsti<^ere  ist,  so  kann  es  nicht  Wunder  nehmen,  werin  ihre 
l^el)erlef;enheit  im  Ncbenln  1  uf,  wo  auch  noch  tlie  Hesitz\ i  rhältnissc in 
<ler  Ke;4el  zu  (iuusten  der  Miuiiirr  nHtS[)ielen,  noch  sclKirfer  hervor- 
tritt. Wozu  noch  kommt,  dals  die  Anj^chörij^en  und  Dienenden 
mit  Nebenerwerb  ^anz  überwiegend  weiblichen  Geschlechts  sind. 
Von  1 467  U39  Nebcnerwerbsfallen,  an  denen  sie  teilhaben»  treffen  nur 
58751  auf  das  männliche  Geschlecht,  aber  1408288  auf  das 
weibliche.  Die  BesiUverhältnisse  und  die  soziale  Stellung  des 
Ernährers  im  Hauptberuf  sind  in  der  Regel  nicht  danach  an- 
gethan,  den  Frauen  in  ihrem  Nebenerwerb  zur  Selbständigkeit  zu  ver* 

'}  Vgl.  die  verschiedenen 'Bcrecbnnngen  hierüber  auf  S.  616  des  XIV.  Bandes. 

*)  l'eIxT  dir  I'  r  i!i;^'un;:  der  beiden  Geschlechter  an  den  Brnifsstelhmgen  des 

Hauptbcruls  viTj;K-uhc  den  XIII.  Abschnitt. 

Archiv  für  tot.  OcMUgebung  u.  Statistik.   XV.  ' ' 


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l62 


11.  Kattchb«rg, 


helfen.  I  >ci  Xcbcncrwcrl)  hat  alx»  tur  die  !>ci<!«-n  (  K-x  lik-chtcr  eine \  < »IÜlT 
verschiedene  Bcileutun;^^ :  «leti  Männc  i  ti  briii;^'t  er  eine  lir^'aii/.un;^ 
des  Kiiikominens  atis  <!(  ni  I  Im] <ll)erul,  in  der  Kei^el  ;^^estut/t  auf 
liesit/  und  ;^^e\\X'nnen  iii  sei! »landij^er  Stelluiv^  ;  für  die  I-  rauen  aber 
lietleutet  er  uiivilf )stäiidi;^e  Arl)eil.  ilercii  Krtr<iL;ni>  nicht  ausreicht, 
um  -^ie  au>  der  K.ite.^orie  der  l'.iin!lienan;^eli< )ri;^^cn  in  jene  der 
haujjtberut lieh  I'.r\verl>lluiU;^en  ubertreten  /u  la>sen. 

Nai  h  lieruf>  l,^  r  u  p  )>  e  n  wird  die  Wrteikinj^  iler  Nebener\verb>talle 
in  den  drei  Bcrufsabteiiun^en  I^ndwirtschaft,  Industrie  und  Handel 
und  Verkehr,  sowie  ihr  Verhältnis  zu  den  daselbst  ausf^eübten  Haupt» 
berufen  in  der  umstehenden  Tabelle  dar^^estellL  Zu  diesem  Zwecke 
wird  in  der  3.  und  4.  Spalte  unserer  Uebersicht  die  Zahl  der  Haupt- 
und  der  Xebenerwerbsfalle  jeder  ein2elnen  Beruf^pnippe  zusammen- 
gefaOst,  so  dafs  wir  die  Summe  aller  Berufsbethätigungen  in  jeder 
Berufsgruppe  erhalten,  sowohl  der  haupt-  als  auch  der  nebenberuf- 
lich ausgeübten.  Die  Verhältniszahlen  zeigen  zunächst  den  Anteil 
jeder  Berufsgruppe  an  der  Summe  aller  Nebenberufsfalle  der  Berufs- 
abteilungen  A— C  und  dann  den  Anteil  des  Nebenberufs  an  der 
Gesamtzahl  der  Berufsfalle  in  jeder  Gruppe. 

Si.  l,.    '        1 .  rsicht  auf  S.  163. 

Die  Landwirtschaft  dominiert.  s.,\vi)hl  unter  ilen  Nel »enberufen, 
als  auch  im  X'erhältnisse  zutn  Hauptberuf.  Auf  lOO  Berufsfalle  in 
der  Landwirtschaft  trafen  1SS2  ^^,17.  1S95  noch  immer  30,58  land- 
wirtschattliche  NebenerwerlisHdle.  Insbesfinderc  in  selbständiger 
Stellun;^^  riickt  der  latulwirtschaftliche  Nebenltcruf  ziemlich  nahe  an 
den  I  i.iui  1 1  '  ruf  heran,  deini  e--  1  <  itul;  die  Zahl  der  selbstän- 

dij^^en  Laiulw  u  te  im  1  l.iui >tt >e:  iit  J  522  5  ^9.  im  Nebenberuf  abei- 
2  159000.  Im  ubrii^en  lian^'^t  die  leinere  (  diederuti-^^  iler  Nebenberufe 
ab  von  ihrer  technischen  Ari)eit>()r;.4ani'Nati»>n  uml  der  ( ieleu^cnheit. 
welche  iladurch  zur  nebensächlichen  Ik  ilian;.^nMi;.,^  in>bes<ni<lere  \  <:in 
Personen  oiine  ei'^enen  }LiU|)tberuf  L;e;4ebeii  ist.  l)al)ei  In -teht 
kein  Zu>.innninliaiiu;  zwixdien  di-r  .ibsululen  und  der  reLiti\cn 
Häuligkeit  der  N'-ebcnl)ei  ufe.  .Nächst  der  Landwirtschaft  treten  ab- 
solut am  meisten  hervor  das  Haiulels<;e\verbe,  Beherbergung  und 
Erquickung,  die  Industrie  der  Nahrungs-  und  Genufsmittel.  Relativ,  also 
im  Verhältnis  zum  Hauptberuf,  i-st  der  Nebenberuf  am  hau h lösten 
in  der  Landwirtschaft,  im  Versicherungsgewerbe,  in  der  Beherber^unj^' 
und  Erquickung,  in  der  Forstwirtschaft  u.  s.  w.,  im  Handcisgewcrbe 
und  in  der  Industrie  der  Nahrungs*  und  Genufsmittel. 

Im  Vergleich  zu  den  Ergebnissen  von  1882  hat  der  Neben- 


Die  Berufs-  und  GewerbcriLMimg  Im  Deutschen  Reich  yom  14.  Juni  1895.  16^ 


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 5        •    ■    ■  1^    '    '       -  'S 

ii  -  .rill  •  •  -iJ^  ill.s^l 

II» 


164 


H.  Rauchberg, 


crwerb  in  der  Mehr/;vlil  <lor  Hcrufs;^rii] •] u  ii  utul  /war  zuni  Tv\\  n<  !i! 
crhcblirh  /u  m-hi )miii<Mi.  I)ic  \virliti'^>tc  uiul  für  fi.i^  <  iCNanu- 
er;^cbtiis  cnt>cluii Inv !<■  An^iiahnic  bildet  die  bereit^  liiiiläii^licli 
crürtcrtc  Abnaliiiie  der  iit  beiibenifli'  h  au>f^eubtcii  Landwirtsciiaft. 
Daneben  ist  inuli  der  Rürk;;aiii;  in  der  rextilindustric  hervorzu- 
heben, dessen  Znsaniinenhan*;  mit  dem  Ruck^^aiif^  der  I  lauswebcrei 
auf  der  Hand  liegt.  In  der  Regel  haben  die  absoluten  Zahlen 
jedoch  zui^u-nommen.  Da  aber  die  Hauptbenifsfölle  in  sämt- 
lichen Benifsi;r Uppen,  Nahrungs-  und  Genulsmittel  sowie  Beldddung 
und  Reinigung'  aufgenommen,  noch  rascher  sich  vermehrt  haben, 
so  bleiben  die  Verhältniszahlen  fär  1895  hinter  jenen  für  1883  mehr 
oder  minder  zurück.  So  wie  im  ganzen,  tritt  auch  innerhalb  der 
einzelnen  Benifsgruppen  und  in  der  ganz  überwiegenden  Mehrzahl 
der  Berufsarten  die  nebcnberutliche  Bethätigung  immer  mehr  in 
den  I^intergrund  gegenüber  der  hauptberuflichen.  In  einer  ganzen 
Reihe  von  Berufszweigen,  woselbst  die  Hauptberufe  seit  1882  ent- 
schieden zugenommen  haben,  sind  die  Nebenberufe  sogar  zurück- 
gegangen, obwohl  sie  lS()5  wahrscheinlich  \  olIständiger  erfafst  worden 
sind  wie  |882.  Die  Arbeitsteilung  hat  seither  eben  gew*altige  Fort- 
sei): ittr  gemacht,  nicht  nur  in  der  Spezialisierung,*)  sondern  auch 
in  der  F.nergic.  womit  sie  die  gesamte  Thätigkeit  der  Menschen 
umfafst.  Der  Sj)ielraum  für  den  Nebenerwerb  ist  enger  geworden. 
Mögen  die  Neljeriberiite  in  den  meisten  Herufsgruppen  an  Zahl 
noch  gewachsen  sein,  in  ihrer  Bedeutung  sind  sie  vom  Hauptberuf 
entschieden  zurückgedi angt  worden. 

Damit  stimmt  auch  uberein.  dafs  der  Nebenerwerb  in  ilen 
Städten  eine  geringere  Rolle  s])ielt  wie  auf  dem  flachen  I^ande  und 
desto  mehr  in  den  I  lintergrund  tritt,  je  höher  die  Kinwoluier/ahl 
der  Städte  sich  erhebt  und  je  ausgebildeter  ihre  WirtM  haftsorgani- 
sation  wird.  Schon  früher  habe  ich  ge/eigt,  wie  die  rc  lali\  c  I  läufig- 
keit der  nebenberuflich  thätigcn  Personen  bei  steigernden  Gröfsen- 
stufen  der  Wohnplätze  abnimmt.')  In  Ergänzung  jener  Aufstellung 
wird  nachstehend  berechnet,  welchen  Anteil  die  Nebenberufe  an 
der  Gesamtzahl  der  Berufe,  Haupt-  und  Nebenberuf  zusammenge- 
nommen haben,  die  in  jeder  Ortsgrofsenklasse  ausgeübt  werden. 
Von  je  100  derartigen,  in  jeder  Beruüsabteilung  ausgeübten  Berufen 
sind  Nebenberufe 


*)  Vgl.  hierBber  die  Ansnihrangcn  auf  S.  157. 
*)  Vgl.  oben  S.  274  des  XIV.  Handas. 


4 


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Die  Bcrofs»  und  G«werbexähliiiig  im  Deatsclicn  Reich  vcm  14.  Juni  1895.  1^5 


in  drn 

in  den 

m  d«!n 

in  d.  n 

auf  dem 

Bcrufsabtvilungen 

.Mlllol- 

N  leiti- 

I  .and- 

platten 

städten 

>tüdti'n 

studten 

>tüdtcn 

1  .andc 

Landwirtschüft    ,  . 

47, 1  > 

Influ>tric  .... 

3.02 

2.37 

3>34 

5.47 

»4,25 

Itandel  a.  Verkehr 

7,00 

to,io 

17,12 

»3,4» 

37.99 

U&usliche  Dienste  . 

»,43 

2,92 

3.84 

5.74 

OefTendichcr  Diemt 

«.37 

1.86 

3,01 

7,29 

18,58 

ttberhanpt 

7,60 

16,58 

»4,32 

23,89 

Die  ZiflTernreihe  (lir  die  Benifsabteilun^  Landwirtschaft  ist 
anders  gestaltet  als  die  Reihen  der  übrigen  Berufsabteilungen.  Bei 
diesen  wird  der  Ncl)enl)criif,  wie  eben  bemerkt,  mit  wachsender 
Kinwohnerzahl  in  der  Kegel  immer  sellener.  Hingegen  steht  der 
landwirtschaftliche  .Nebenerwerb  in  den  LatKistädten  am  höchsten 
und  fällt  nach  beiden  Richtungen  hin.  Ra>i  her  g^egen  das  platte 
Land  /.u,  weil  dort  das  X'orherrsclien  der  Landwirtschaft  als  Haupt- 
beruf weniger  ( iele^'enheit  zur  nebenberuflichen  X^crbindung  der 
Landwirtschaft  mit  an<leren  b'  rulcn  l>ielct,  l.uv^^ainer  nach  oben 
hin,  in  iler  Richtung  l-l^'K'-''^  <  »rofsstädte.  \\  e:^^en  tler  gerin^^eren 
Wrtretung  agrarischer  liUeroNcn  in  den  .Städten  iil)erhauf>t.  Zu- 
gleich l)elehren  uns  diese  Ziffern  darüber,  dals  die  Laiuiwirt.schaft 
für  die  Land-,  Klein-  und  Mittelstädte  l)eiläufig  zur  Hälfte,  für  die 
( irofsstädte  zum  dritten  I  eile  nur  als  Nebenerwerb  in  Betracht 
kommt. 

Alle  bisher  ang("stellten  Untersuchiuiu^en  stimmen  darin  überein, 
(lafs  das  .Schwergewicht  des  Nebenerwerbs  in  der  Landwirtschaft 
/u  suchen  sei.  Drei  X'iertel  aller  Nebenberufe  sind  laiuiwirlschaft- 
licijc,  und  von  den  h.iuptberuflich  i'.rwerbihäiigen  die  einen  .Neben- 
erwerb ausüben,  gehört  rund  ein  Drittel  der  Landwirtschaft  an. 
Wie  tief  sie  in  der  Form  des  Nebenerwerbs  gerade  in  die  wich- 
tigsten Gewerbe  eingreift,  haben  die  auf  S.  156  mitgeteilten  Verhält- 
niszahlen gezeigt.  Auch  habe  ich  schon  in  anderem  Zusammenhange 
darauf  hingewiesen,  wie  sehr  die  Berufsgliederung  des  deutschen 
Volks  zu  Gunsten  do*  Landwirtschaft  verschoben  erscheint,  wenn 
man  die  Haupt-  und  Nebenberufsialle  summiert  und  die  Gesamtheit 
aller  Berulsbethätigungen  der  Untersuchung  zu  Grunde  legt.'} 


*)  Siehe  den  XIV.  Sand  dieses  .Archivs,  S.  284. 


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i66 


H.  Raucbberg, 


Danach  er«;cbcn  sich  nämlich  BcruCsfallc 


fttr  die  Berafsftbtrilungrn : 

189s 

1883 

I^andvirtschaft  .... 

11940919 

12303141 

8900606 

6924069 

Handel  und  Verkehr  .  . 

39oSj88 

1 9999317 

HSqsI.  I> i  n  t<\  l.obnarb. 

414675 

Oi-ff'-ntliilicr  Dienst    ,  , 

I  521  V17 

Berufslose  

2  KV  2  V),S 

1  354  480 

im  ganzen 

27863384 

34124673 

In  \*frlialliiis/;ilileii   uiirl   mit   den    I  lauj  >ll  k  rufen  un<^l  Nchcri 
hcrufea   für  sich  allein   vcrj;lichcn,   ist   die   (.ilicdcrung   die  fol- 
gende : 

I'ls  ciufailen  auf  die  nebenbczcichnctcn  Berufsabteilungen  von 
je  ICX> 


Haupt- 

Nrlu-n- 

Haupt-  u.  Nebenberufen 

Rerufsabtcilmi^'cn : 

berufen 

berufen 

zusammen 

l.andwirt^cli.vU    .  . 

36.19 

73.7« 

43.86 

Industrie  .... 

36,14 

13.51 

3»,94 

Handel  n.  Verkehr  . 

10.21 

11.51 

10.44 

HSttsl.  Dienste  etc. 

1,89 

0,34 

1,61 

(>.'fr,  lUlicber  Dienst 

6,33 

1.93 

5.46 

Berufslose  .... 

9.35 

7.69 

TXi  im  Xelienerwcrb  die  l  ,an<lu  ii  ts(-li.ift  sowie  I  latidcl  und 
Verkehr  xcrhältni'^niärsi!^'  stärker,  alle  anderen  Herufsabteiluni^en  dem- 
entsprccheiui  soluväeher  hesct/.t  erscheinen  als  nach  der  (iliederun'^ 
im  Hauj>iheruf,  so  bewirkt  die  Kinrechnimi^  der  Nebenberufe,  dals 
die  ersti^enannien  l^erufe  nunmelir  in  der  liesamtzahl  aller  Berufs- 
nüle  stärker  hervortreten.  Insbesondere  j^ilt  das  von  der  Land- 
wirtsrhaft ,  deren  Prozentanteil  sich  bei  dieser  Berechnungsweise 
von  36  auf  43  crhüiit. 

Es  entsteht  nun  die  Fraise,  wMcfern  danach  die  auf  Grund 
der  Zahlen  über  den  I  Iau|>tl*eruf  L;ew'  innenen  \'orstellunc3^en  über 
das  ge<,'cnseiti£;^e  Verhältnis  der  einzelnen  Herufsq^rujipen  und  ihrer 
besonderen  lntere>sen,  insliesondcre  über  das  \'erhaltnis  der  Industrie 
zur  Landwirtschaft  zu  berichtigen  sind.  Ein  exakter  Ausdruck 
(lir  die  Bedeutung  des  Nebenberufs  neben  dem  Hauptberuf  läfst 
sich  überhaupt  nicht  gewinnen,  v.  Mayr  hat  angeregt,  die  ge< 
samte  Berufsthätigkeit  jeder  Person  als  Einheit  anzunehmen,  und 


Die  Berufs»  und  GewerbeiShlung  im  Deubschen  Reich  vom  14.  Juni  1895.  167 

im  l  alle  nieluiachcn  Bciuts  die  Zui^ehörii^koit  zu  dci»  ciiizeliicii  Be- 
rufen in  Bruchteilen  zahlenmäfsijr  7,11  l)c->iinimen. ')  Kr  ist  sehr 
im  Rechte,  wenn  er  selbst  die  Durchfiihruiij:^  jenes  \'orschla;^'s  einer 
statistischer  veranliL^tcn  Zukunft  überlassen  will.  Ich  brauche 
daher  nicht  erst  auf  die  jisycholo«;ischcn  und  technischen  Schwieri«;:^- 
kciten  hinzuweisen,  die  sich  ihm  ent<:;^eprenstellen.  Jedenfalls  bleiben 
wir  vorläuli«;  darauf  anj^ewiescn,  die  Zahlen,  so  wie  sie  sind, 
im  Lichte  der  gesamten  volkswirtschaftlichen  F.ntwicklung  zu  unter- 
suchen. Der  leitende  Gesichtspunkt  dabei  ist,  wie  schon  früher 
hervorgehoben,  die  Entwiddung  von  der  ländlichen  geschlossenen 
Hauswirtschaft  zur  arbeitsteiligen  Volkswirtschaft.  Wie  dieser  Ent- 
wickelungsgang  auf  das  Benifsbewufstsein  des  Volks  einwirkt,  zeigen 
die  Angaben  über  den  Hauptberuf;  welche  Spuren  aus  früheren  Wirt- 
Schaftsstufen  zurückgeblieben  sind,  die  Angaben  über  den  Neben- 
erwerb. Daneben  regen  sich  in  den  Nebenerwerben,  insbesondere 
in  jenen,  die  von  der  Landwirtschaft  aus  ausgeübt  werden,  wohl 
auch  gewisse  Ansätze  zur  Fortbildung  in  der  Richtung  nach  der  In- 
dustrie. 

An  anderer  Stelle  habe  ich  bereits  hervorgehoben,  da(s  die 
Verschiebung  der  Beru&gliederung  in  der  Richtung  nach  der  Industrie 
zwar  eine  Verstärkung  der  industriellen  Interessen,  keineswegs 
aber  die  Verschärfung  ihres  Gegensatzes  zu  den  landwirtschaftlichen 
Interessen  bedeutet.*)  Denn  jene  Erweiterung  der  ^gewerblichen 
und  1  landelsthätigkeit  ist  ja  —  cntwicklungsgcschichtlich  —  /imieist 
durch  Abzweigung  in  der  Form  der  Berufsbildung  aus  der  Land- 
wirtschaft heraus  erfolgt,  und  sie  hat  ihren  Arbeitsbedarf  zum  guten 
Teile  gedeckt  aus  dem  Nachwuchs  des  flachen  Landes.  Die  länd- 
Hchen  Grundlac^'cn  der  deutschen  Volkswirtschaft  sind  de^hnl!)  na- 
tiirlicli  vichi  afihandeii  gekommen.  Die  landwirt.schafllichen  Betriebe,  * 
ilire  K-ulturtlachen  und  Krnteertrage  haben  nicht  ab-  sondern  /.u- 
gcnommen. '(  .Aber  ihre  berufliche  Bedeutung  ist  eine  iM-ringcre 
gcwortlen.  \'on  je  100  landwirtschaftliclien  Betrieben  tretten  nur 
59,65  auf  solche  Inhaber,  die  ihrem  Hauptberuf  nach  der  Berufs- 
abteilung Landwirtschaft  angehören,  40,35  konunen  auf  andere 
Berufe.    Nach  Grölscnkategoricn  i>t  das  Verhältnis  das  folgende: 


1)  SUtistik  und  GeselUchaftalebre  IL  S.  137. 

*)  Vgl.  den  nt  Absdinict  di»es  Hanptteila,  S.  aSi  des  XIV.  Bandes. 
')  Vgl.  hierüber  den  dritten  Hanptteil  dieser  Untenucimi^en. 


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l68  Rftuchbcrg, 

Von  je  100  Inhabern  von  I^ndwirtschaftsbetrieben  der  neben 
bezeichneten  Grofsenklassen  gehören  ihrem  Hauptberuf  nach  an 


Gröfsenklassen  der  anderen 

der  landwtrtschaAsbetriebe        Landwirtacbaft  Berufen 

t                    unter     2  ha  41,10  5Si90 

a  ba  bis     5  „  76.17  23.83 

5           ..       20   „  ql.()S  8.32 

20  „    ,,    100  „  g6.4C)  3,51 

Joo      u.  darüber  94-76  5,24 


Wir  sehen,  in  welchem  Mafsc  I  rindwiri-i  haft  von  Personen  bc» 
trieben  wird,  die  mit  ihrem  Hauptberufe  anderen  Berufen  zu^jehören. 
Die  Zahl  der  Krwerbthätigen  im  Hauptberuf  hat  seit  18S2  in  der 
Landwirtschaft  imi  ein  Gerin-^cs  zu^enonmien  und  die  Zaiil  ihrer 
An^ehörit^^en  hat  siv^h  \crrin;^crt;  sie  sind  zu  anderen  Hcrufen 
übcrL^e^Mii^en.  '  j  ( icL;cnubcr  den  \  iclfarh«'n  Krwcrb^nio^dichkeiteii. 
die  sich  hier  cnittiicii,  und  dei  I-.nLr;;ie,  wuiiit  nii-  \crlol<^l  wcnicn, 
muls  die  I .andwirt^cliatt  zurückstehen.  hiwicweit  der  I  andwirt- 
schatt>i)Ctrieb  von  l'ersDUi'n  mit  anderweiti^fem  Hauptberuf  wenii;- 
stens  in  den  \cbener\verl)sverhiiltni>Ncii  nachwirkt,  haben  wir  in 
dicsi-m  Abschnitte  i^esehen.  Nicht  als  Rieht),, --tclhini^',  sondern 
als  l-.r^.mzunj^f  des  Hildes,  das  durch  die  II.ui] »tbcrufNi-laien  -ge- 
wonnen wurde,  sind  die  Zahlen  über  den  landwirtsch.iftlichen 
Nebenberuf  aufzufassen.  Die  oft  sehr  subtilen  Grenzlinien  zwischen 
Haupt'  und  Nebenberuf  sind  schon  durch  die  Fragestellung  in 
der  Hausbaltungsliste  angedeutet.  So  oft  Inhaber  von  Landwirt- 
schaftsbetrieben nicht  die  Landwirtschaft,  sondern  einen  anderen 
Hauptberuf  angegeben  haben,  so  ist  dies  ein  Bekenntnis  darüber, 
dafe  eben  nicht  die  Landwirtschaft,  sondern  jener  andere  Beruf  es 
ist,  „auf  dem  hauptsächlich  die  Lebensstellung  beruht  und  von  dem 
der  Erwerb  oder  dessen  grölster  Teil  herrührt".  Denn  darüber 
sollten  sie  nach  den  „Erläuterungen"  zur  Haushaltungsliste  Rechen- 
schaft ablegen.  Die  Angaben  über  den  Nebenerwerb  besagen  so- 
dann, inwieweit  die  Landwirtschaft  „einen  wesentlichen  Teil  des 
Gesamteinkommens  aus  erwerbender  Thatlgkeit  brin-:jt".  Ist  dies 
nicht  der  Fall,  so  dürfen  wir  nicht  erwarten,  die  Landwirtschaft 
auch  nur  als  Nebenerwerb  angegeben  zu  finden.  Wir  haben  es 
dann  mit  einer  Bcsilzthatsache,  nicht  mit  einem  Falle  von  Berufs- 
bethätigung  zu  thun.    So  erklärt  es  sich,  dals  — >  wie  in  der  An- 

_   ^  • 

•)  Vgl.  die  Darlei^ngen  auf  .S.  276  des  XIV.  Bandes. 


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Die  fierufs-  und  Gewerbetihlung  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  1S95.  169 


merkung  i  auf  S.  149%.  ausföhrlicher  dai^etban  wird— die  Anzahl  der 
Beni&lalle  in  der  Landwirtschaft  hinter  den  von  der  Betriebsauf- 

nähme  erfafsten  Landwirtschaftsbetrieben  nicht  unerheblich  zurück- 
blciln.  Wir  haben  also  die  Zählunf^serfjebnisse  streng  im  Sinne 
der  Fragestellung  zu  interpretieren.  Geschieht  dies,  so  besteht  kein 
Anlals  anzunehmen,  dafs  die  Ergebnisse  nicht  im  Sinne  der  Fragen 
ausj^efallen  seien  und  dafs  die  Landwirtschaft  dabei  verkürzt  erscheine. 
Wohl  aber  wäre  dies  der  Fall,  wenn  man  sie  nach  dem  Haupt- 
berufe allein  beurteilen  wollte.  Denn  erst  die  Nebenberufsdaten 
haben  i;c/.eii^t,  in  welclieni  L'inf.m«,'  die  Landwirtschaft  auch  von 
anderen  Berufen  aus  aus;^euhi  wird,  in  welcher  Stelluni;  im  Neben- 
erwerb und  von  welcher  Stellung'  im  llau[»lbcruf  aus,  und  wie 
sich  die  verschiedenen  Wirtsehaftsstufen  der  einzelnen  Ürtsgröfsen- 
klassen  in  ihren  Nebenerwerbsveriiallnib>en  spiegeln.  ')  » 

Um  aber  schliefsüch  wieder  auf  die  alte  Kontroverse,  ob  Agri- 
kulturstaat oder  Intlustriestaai,  zunick/ukoninicn,  so  ist  es  nunmehr 
vollends  klar  geworden,  dals  kein  konlradiklori.schcr  Gegensatz 
zwischen  diesen  beiden  Begriffen  besteht.  Die  FVage  kann  nicht 
nach  dem  Majoritätsprinzip  entschieden  werden»  so  dafs  die  Berufs* 
Zahlung  gleichsam  als  eine  Volksabstimmung  hierüber  aufisu&^en 
wäre.  Die  agrarischen  Grundlagen  der  deutschen  Volkswirtschaft  sind 
ungeschn^ert  erhalten  geblieben.  Aber  der  industrielle  Ueberbau 
ist  so  gewaltig  gefördert  worden,  dafe  er  nunmehr  einen  erheb* 
lieh  gröfseren  Teil  des  Deutschen  Volkes  beherbergt  als  früher. 
Und  seine  Bewohner  vermögen  es  sich  darin  behaglicher  einzurichten 
und  sich  freier  darin  zu  bewegen. 


•)  Sorfjfaldge  Durchführung  t]\e^cs  Gedankens  in  Wttrttemberg.    Vgl,  Her- 
mann Losch,  Berafskombinationcn,  Allgem.  Ztg.  Nr.  171  v.  29.  Joli  189. 

(Schlufs  des  II.  Hanptteils  folgt.) 


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GESETZGEBUNG. 


DSUTSCHBS  REICH. 

Das  neue  deutsche  Invalidenversicherungsgesetz 

vom  i^,  Juli  J899. 

Von 

Dr.  ernst  lange 

io  Berlin. 

Der  KiUwurl  eines  Tnvalidenversirlicruii;4s;^H>sct/.cs,  den  ich  auf 
S.  4S() — 50)  des  XIII.  Bandes  dieses  Arcliivs  einer  Resj)reehun^ 
unterzogen  habe,  untl  der  sich  aul  S.  5()0 — 650  desselben  Bandes 
abgedruckt  findet,  ist  nunmehr,  nachdem  er  durch  den  Rcich.stag 
wesentliche  Aenderungen  er&hren  hat,  Gesetz  geworden.  Die  fol- 
genden Darlegungen,  die  zur  Einfuhrung  dienen  sollen,  bilden  natur- 
gemafs  die  Fortsetzung  des  soeben  erwähnten  Aufsatzes,  und  es  ist 
daher  die  dort  gewählte  Einteilung  des  Stoffs  beibehalten. 

I .  Die  Verteilung  der  Lasten  und  Einnahmen. 

Das  im  Entwürfe  vor£jeschlagene  Prinzip  des  finanziellen  Aus- 
gleichs zwischen  den  einzelnen  \'ersicherun;:^>anstalten  hat  die  Zu- 
s!iinnuino^  des  Reichstags  gefunden.  Im  einzelnen  sind  aber  sehr 
erhebliche  Aenderungen  beschlossen  worden.  Angenommen  worden 
ist  die  Schaffung  eines  Gemeinvemiogcns  neben  den  Sondcn  crmögcn 
der  einzelnen  Anstalten.  Dagegen  soll  nicht,  wie  der  Kntwurf  vor- 
gesehen hatte,  eine  Teilung  des  schon  vorhandenen  \'ermögens  der 
Anstalten  in  Geniein-  iuk!  Sondervcrmögcn  vorgenommen  werden, 
sondern  es  soll  das  (.iemein\  crmcV^cn  nur  aus  den  künftigen  Bei- 
trägen gebildet  werden.    Jede  Anstalt  bleibt  also  im  Vollbesitze 


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Erust  Lange    Das  neue  deutsche  Invalidenvcrsicherung>gc:,oU  v.  1 3.  Juli  1899.  iji 

ihres  bisher  angesammelten  Vermögens.  Von  den  künftigen  Bei- 
trägen indefe  sollen  40%  dem  Gemeinvermögen  und  60%  den 
Sondervermdgen  der  Anstalten  zu  gut  kommen.  Dem  Gemeinver- 
mögen  fallen  dafUr  zur  Last  drei  Viertel  sämtlicher  Altersrenten 
und  die  Gnindhcträgc  aller  Invalidenrenten,  aufserdem  die  Renten- 
Steuerungen  infolge  von  Krankheitswocheii  und  die  Abrundun;^^cn 
der  Monatsrenten  auf  volle  5  Pfennig.  Dabei  sind,  wie  wir  im 
2.  Abschnitt  des  näheren  sehen  werden,  die  Orundbcträge  der 
Invalidenrenten  gfer^en  den  Entwurf  bedeutend  herabgesetzt. 

Gcmeinlast  und  Cremeinvermög^en  sind  also  vom  Reichsta«,'  sehr 
einj^cschränkt  worden.  Ahj:jesehcn  von  der  fjänzlichen  Ausscheidun}^ 
der  schon  vorhandenen  Vermögensbestände,  sind  aus  den  60",,  der 
Re^ierun<^s\orla<:;r  in  dem  (ie-^ctz  40",,  L^eworden.  T)ie>^e  \'er- 
srliicbun;^^  ist  in  erster  Linie  eine  I-DI^h*  der  andern  Norinierunj^  tier 
<  iruiulbeträ<^e  der  Invalidenrenten;  zum  '^^crint^eren  Teile  wird  sie 
dadurcii  bewirkt,  dafs  ein  Viertel  der  Altersrenten  den  Sonderver- 
möfren  der  Versiclierun;4s,\nstalten  zur  Last  fallen  soll.  Diese 
Teilung  der  .Altersrenten  mm  bedeutet  einen  direkten  Hruch  mit 
dem  Prinzip,  dafs  die  Renten,  soweit  sie  von  der  Dauer  der  Bei- 
tragsleistungen unabhängig  sind  —  also  geleistet  werden  müssen, 
sobald  die  Voraussetzungen  des  Anspructe  überhaupt  gegeben  sind 
~  gemeinsam  von  allen  Anstalten  getn^en  werden  sollen.  Trotz- 
dem hat  der  Reichstag  geglaubt,  darauf  bestehen  zu  müssen.  Man 
meinte,  da(s  die  Gefohr  einer  leichtfertigen  Bewilligung  von  Alters- 
renten vorläge,  wenn  die  bewilligenden  Anstalten  finanziell  an  der 
Altersrentenlast  nicht  direkt  beteiligt  wären.  Die  namentlich  von 
Seiten  der  Regierungs\*ertreter  geltend  gemachten  Gegengründe,  in 
Sonderheit  auch  die  rechnerisch  wohl  begründeten  Bedenken,  ob 
nunmehr  die  finanziell  ungünstig'  dastehenden  Versicherungsanstalten 
aus  ihrer  bedrängten  Lage  völlig  befreit  werden  würden,  schlugen 
nicht  durch  —  ich  muls  hinzufügen :  leider!  Denn  ich  bin  der 
Ueberzeugung,  und  zwar  auf  ( irund  vieljähriger  praktischer  Erfah- 
rungen auf  dem  verwandten  (iebiet  der  Unfallversicherung,  dafs  die 
beliebte  Teilung  der  Altcrsrentenlasten  kaum  irgend  welchen  Ein- 
flufs  auf  die  Rentenfeststellung  haben  wird;  die  ganze  Architektonik 
des  (icsetzes  aber  ist  datlurch  schon  hier  —  gleichsam  im  ( irund- 
rifs  —  zerstört.  \\  ir  werden  später  sehen,  dafs  der  Reichstag  aueli 
nach  anderen  Richtungen  iiin  mit  demselben  Erfolg  gearbeitet  hat. 

Diejenigen  In\ .iln ienanstalten.  die  in  der  Hauptsache  landwirt- 
schaftliche Bevölkerung  umfassen,  werden  bekanntlich  infolge  der  Alters- 


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172 


Grsetzgebuni; :  Deutsch«»  Reich. 


fjruppicrun^  der  V^ersichcrten  durch  die  Altersrenten  stärker  be- 
lastet als  die  Anstalten,  in  deren  Bc/.irken  Industrie,  Mandel  und 
Verkehr  vorherrschen.  Cierade  sie  sind  die  schon  jetzt  finanziell 
am  iinL^ünsti^'sten  dastehenden  Anstalten  —  man  denke  nur  an 
Ostprculsen  und  .\iederba\crn  — ,  sie  werden  daher  dadurch,  dals 
sie  nun  auch  weiterhin  noi  h  einen  1  <  il  der  AlterM  cnlen  traLjen 
iini^^cii,  dnji|)ilt  schwer  Ljetroll'en  \\ei<ien.  l  ur  ilie  ^esanite  mehr 
ireiwillij^H-  I  hatij^keit,  die  ihnen  d.i->  (Icselz  nahe  Ic^t,  vor  allem  für 
die  Krankciijitk m',  werden  ihnen  daher  weni«:^  oder  -^ar  keine  Mittel 
mehr  übriL,^  blnbin.  Dazu  konunl  noch,  dals  die  laiui-  und  forst- 
wirtschatlliclua  Arbeiter  vielfach,  vornehndich  im  Osten  Deutsch- 
lands, der  Krankenversicherung  noch  gar  nicht  unterworfen  sind. 
Dies  hat  für  die  betroffenen  V^ersicherungsanstalten  den  Nachteil, 
dafs  ertlich  der  grofsen  Masse  ihrer  Versicherten  die  Fürsorge  der 
Krankenkassen  überhaupt  fehlt,  und  sodann  dafs  sie  bei  Uebemahme 
des  Heilverfahrens  auf  ihre  eigene  Rechnung  keinen  Anspruch  auf 
Ersatz  des  Krankengeldes  durch  die  Krankenkasse  (§  1 8  Abs.  3  des 
neuen  Gesetzes)  geltend  machen  können.  Diese  Anstalten  haben 
also  nun  das  grölste  Interesse  daran,  dafs  die  fand-  und  forstwirt- 
schaftliche Bevölkerung  auch  hinsichtlich  der  Krankenversicherung 
recht  bald  den  industriellen  Arbeitern  gleich  gestellt  werde,  und 
das  ist  vielleicht  die  einzige  gute  Seite,  die  sich  an  der  ganzen  be* 
sprochenen  Bestimmung  auffinden  lälst. 

Das  Verhältnis,  in  dem  die  Beiträge  für  das  Gemeinvermögen 
und  für  die  Sondervermögen  (40 : 60)  geteilt  werden,  gilt  zunächst  für 
II  Jahre,  nämlich  vom  I.Januar  1900  bis  zum  3  t.  Dezember  X910. 

Stellt  sich  alsdann  heraus,  dafs  das  Gemein vermoj;en  zur  Deckung 
der  Gemeinlast  nicht  ausreicht  oder  nicht  erforderlich  ist,  so  hat 
der  Bundesrat  für  10  weitere  Jahre  über  die  Höhe  des  für  das  Ge- 
mein verm<");^en  buchmäfsi^  auszuscheidenden  Teils  der  Beiträge  ZUr 
Ausgleichung  der  entstandenen  I-'ehlbeträc^c  oder  l'ebcrschüsse  ZU 
beschliefsen.  Dasselbe  wiederholt  siel»  stets  nach  dem  Ablauf  eines 
weiteren  Zeitraums  xon  c»  J. ihren.  Ist  eine  Erhöhung  des  für  das 
Uemeinvermögen  licstimniten  Teils  der  Heiträge  iiötiLT,  so  ist  die 
Zustimmung  tlr>  ^\eichsta:^^  erforderlich.  —  jedenlalls  w  ird  auf  diese 
Weise  verhütet,  dais  einzelne  Anstalten  dauernd  mit  L'nterbilanz 
arbeiten.  Der  Hauptzweck,  den  die  Regierung  mit  ihrer  Vorlage 
verfolgte,  ist  also  erreicht. 


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ErnstLftOge,  D»s  neue  deutsche  lovalidcnvenichennigigriids  v.  1 3.  Juli  1899.  ] 

2.  Die  Berechnung  der  Renten  und  die  Erhebung  der 

Beiträge. 

Der  Regierungsvorlage  entsprechend,  werden  durch  das  Gesetz 
folgende  fönf  Lohnklassen  gebildet : 

*I.  Klasse  bis  s»  einem  Jabresarbeitsverdienat  von  350  Mk.  elnschUerslich 
IL     „     von  einem  Jabfesarbcitsverdiemt  von  mehr  ab  350  Mk.  bis  zu  550  Mk. 
IW.  „      „  ,1  I,     „        55®  w    II  I»  ^5**  »• 

IV     t,      it      n  it  »t     »»    I»  850  ff    II  II  1 150  II 

V.    II     I,      II  II  II     II    II  1150  f* 

Die  Grundsätze,  nach  denen  die  Ermittelung  des  Jahrcsarbeits- 
Verdienstes  zu  geschehen  hat,  haben  in  einem  Punkte  eine  wesent- 
liche Verbesserung  gegen  das  bisherige  Gesetz  erfahren :  Wenn  im 
voraus  für  Wochen  oder  grössere  Zeitraume  eine  feste  bare  Ver* 
gütung  vereinbart  und  diese  höher  ist  als  der  Durchschnittsbetrag. 
der  fiir  den  Versicherten  der  Regel  nach  mafsgebend  wäre,  so  ist 
diese  Vergütung  bei  Berechnung  des  Jahrcsarbeitsverdienstcs  zu 
Grunde  zu  legen.  Auch  kann  der  Versicherte  stets  die  \'ci»iche- 
rung  in  einer  höheren  Klasse  beanspruchen,  sobald  er  bereit  ist, 
den  sich  daraus  eingebenden  Mehrbetrag  der  Beiträge  selbst  zu 
trafen. 

De:  Rct^ierunrjsentwurf  schlug  nun  vor,  den  Lohnklasscn  die 
fol^'cnden  W'ochcnbciträ'^c,  Renlcnffrundbcträ^'c  und  Stpii^rruriL^^-atzc 
entsi)rcchcn  zu  lassen,  flie  alle  in  denselben  einfachen  ^  k  ,  cr- 
hä!tni>scn  zu  cirMudt  r  -t'  lu  11  i\vf)bei  der  norh  zu  icd»  r  Keutc  hiii- 
zutreleiulc  Reicii>/.u>(  hüls  von  50  Mk.  unberücksichtigt  bleibt): 


I.olm- 

\V<H  licri- 

K  ?nt  rn  f,'run '  1  hrt  rag, 

Stcigemngi' 

Veritältni«« 

kUN>c 

bcitrag 

lagl.  Ah'-r-rcntc 

>at/ 

zahl 

Pf. 

.Mk. 

If. 

L 

ts 

60 

S 

t 

IL 

18 

99 

3 

«'t 

IIL 

«4 

ito 

4 

IV. 

30 

150 

5 

«Vt 

V. 

3^ 

180 

6 

3 

Vcrhäluii'>uhl     6  3000  I 


Diese  einfachen  Grofsenbeziehungcn  waren  durchaus  geeignet, 
das  ganze  Versicherung.sgeschäft  klar,  durchsichtig  und  fiir  jeder- 
mann verstandlich  zu  machen.  Ist  in  allen  I^hnklassen  die  Wahr» 
schcinlichkcit  des  Rentenialls  ^das  Risiko,  die  gleiche,  so  Ist  es 
zweifellos  auch  rein  ver5icberung.nechnisch  richtig,  dafs  Rente  und 


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*74 


Liv^i'Ugi-Wun^ :  l>t'Ut>chc!>  Kcich. 


Beitr.ig  stets  in  i^lcichem  Verhältnis  zu  einander  stehen.  Diese 
Voraussetzung  ist  nun  zwar  offenbar  nicht  ganz  zutreffend;  denn  in 
der  landwirtschaftlichen  Bevölkerung,  die  in  der  Hauptsache  den 
unteren  Lohnklassen  angehört,  kommen  —  wie  bereits  auf  S.  491. 
bis  493  des  Xm.  Bandes  des  Archivs  ausführlich  dargelegt  worden 
ist  —  infolge  der  besonderen  Altersgruppierung  durchschnittlich 
mehr  Renten  zur  Auszahlung  als  in  den  übrigen  Berufsarten.  Ge- 
rade dadurch  vor  allem  war  ja  der  finanzielle  Au^leich  zwischen 
den  einzelnen  Anstalten  notwendig  geworden.  Aber  diese  Ungleich- 
heit mufs  von  Jahr  zu  Jahr  an  Bedeutung  verlieren,  da  die  älteren 
Personen  später  auch  ihrem  Alter  entsprechend  längere  Zeit  hin- 
durch ihre  lUitrÜLie  bezahlt  halben  werden.  Aulserdcm  sulltca  ja 
auch  die  Invalidenrentengrundbeträge  und  die  Altersrenten,  deren 
1  lohe  unabhängig  von  <Jcr  Dauer  der  Heitrags/ahlung  ist,  dem  (ic- 
niein\ crniögen  zur  Last  fallen,  also  prinzijticll  \  der  Gcsimthcit 
getragen  werden.  Die  sonstii^;en  I.ci^lunge^  der  An>lalten  - —  Bei- 
.  tragserstattuni^en,  Krankenfu; -^mi  ^c  —  k<  itiiicn  hierbei  als  tinanzieU 
weniger  ins  Oewicht  lalKm!  aui.scr  Acht  bleiben. 

jcileiifalls  würden  soiiut  etwai^^e  liikoiigruen/en  zwischen  Bei- 
trag un».!  Ki--ikt)  nicli  der  Kegierunj^swtrlage  de-n  schlcehter  ;^c- 
lohnten  \'er>ichei  len  zu  gut  gekommen  sein,  was  \<<u\  ^o/uiU 
polilisclicn  .Sland|)unkl  aus  gewils  nur  einen  X'urzug  bedcuien  kann. 

Trotzdem  hat  sich  der  Reichstag  den  \'orschlagen  der  Regie- 
rung nicht  angeschlossen,  sondern  die  Beiträge  und  Renten  folgender- 
mafsen  festgesetzt  (ohne  den  Rcichszuschufs  von  50  Mk.): 


Lohn- 

Wutlieu- 

Altcrs- 

Gruuilhclraj; 

.Slolgl•r^nJ;^atz 

klasse 

beitrag 

rcDte 

der  Invalidenrente 

Pf. 

.Mk. 

Mk. 

Pf. 

I. 

•4 

60 

60 

i 

II. 

90 

70 

6 

lU. 

120 

80 

8 

IV. 

;o 

150 

90 

10 

V. 

160 

100 

II 

Wie  man  sieht,  fehlen  die  einfachen  Gröfscnverhältnisse  hier 
vollkommen.  In  den  Zahlenreihen  scheint  mehr  oder  weniger  Will- 
kür zu  herrschen.  Erreicht  ist  aber  zweierlei :  erstens,  dafs  die 
unteren  Luhnklas.sen  jetzt  mehr  bela>.tet  sind,  tl.ifüi  aber  auch  im 
ganzen  höhere  Kenten  zu  erwarten  haben,  und  zweitens,  dal-  die 
I^tcigerung  der  R(  nun  jt  tzt  gcgeniilier  dem  (irundbetrag  viel  mehr 
ins  Gewicht  tällt,  als  der  iintwuif  beabsichtigte,  und  somit  durch 


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El  D8t  Laug  c ,  D»ä  neue  deutsche  Iuvalid«:UYcraicheruug!>|ic!>eU  v.  13.  Juli  iSi^ij.  ij^ 

die  grölsere  ünanzielle  Bedeutung  der  Steigerungssätze  das  Interesse 
an  der  energischen  Fortführung  des  Markenklebens  nach  Erreichung 
der  Anwartschaft  auf  die  Rente  überhaupt  erhöht  wird.  Den  Unter- 
schied  zwischen  den  Renten  nach  dem  Entwurf  und  dem  neuen 
Gesetz  läfst  die  folgende  Aufstellung  erkennen,  bei  der  indels  auch 
im  Entwurf  die  im  letzten  Absatz  dieses  Abschnitts  besprochene 
Ergänzung  der  an  500  fehlenden  Wochenbeiträge  durch  solche  der 
1.  Lohnklasse  vorgenommen  worden  ist: 

lüTiliitoireiitc  (obne  RcidMinsdiiifs)  in  Mark  üi  <kn  Lohnklasscn 
ZaU  L  IL  IIL  IV.  V. 


der  nach  den  Bestimmungen  des 


3titr:»^'-- 

Fiit- 

r,r- 

Fm- 

Ge- 

Eut- 

r.<- 

l-nt. 

(i.-- 

liit- 

(  i.  - 

wocheu 

wurü 

scUfS 

wurls 

setzes 

wurls 

sclzes 

wurla 

wurls 

SclZl'S 

aoo 

64 

66 

78 

76 

92 

84 

to6 

92 

I20 

lOO 

300 

66 

69 

87 

84 

108 

96 

129 

loS 

»50 

t20 

500 

70 

7S 

105 

100 

140 

120 

17? 

140 

210 

160 

700 

74 

Si 

III 

I  12 

IS5 

160 

222 

184 

1000 

60 

120 

ItHJ 

160 

300 

190 

240 

220 

1500 

90 

105 

«35 

160 

180 

aoo 

225 

240 

270 

2S0 

3CXX> 

100 

120 

150 

190 

240 

250 

290 

300 

Die  t.i>lc  Kla>>c  wird  also  durchweg  bc>N(  r  :^(  >tclll,  al>  der 
Ciesctzt  ntw  Ul  f  ljcab.siclitij^l  hatu-,  m  liui»  die  /weile  Klas>e  aber  zu- 
nächst schlechter  —  trotz  des  erhöhten  Hritrn'^'>  uud  erst  nach- 
dem fast  700  Wochenbcitril^'e  ^elei>lel  uordi/u  sind.  alhnalilicU 
besser,  bis  sclilielshcli  allerdin«2^s  bedeutend  höhere  Renten  ctklebt 
werden.  Bei  den  höheren  Klassen  werden  tlie  DitVerenzen  zu  Tn- 
gunsten  der  jüngeren  Invaliden  zunehmend  grul'ser  und  tritt  der 
Vorteil  der  Gesetzesbestimmungen  erst  in  immer  höheren  Lebens- 
altern ein.  Ob  bei  dieser  Sachlage  die  Gesetz  gewordene  Ordnung 
der  Dinge  lur  die  mittleren  und  namentlich  die  höheren  Lohn- 
klassen,  im  ganzen  genommen»  einen  Gewinn  gegen  die  Vorschläge 
des  Regierungsentwurfs  darstellen,  scheint  mir  mindestens  zweifel- 
haft. Es  ist  sicher  ein  grofser  Uebelstand,  dafs  nun  gerade  der 
Arbeiter,  der  in  jungen  Jahren  invalide  wird,  verhältnismäfsig  sehr 
viel  schlechter  gestellt  sein  wird  als  der  ältere.  An  jenen  wird  das 
Leben  in  der  Regel  noch  höhere  Anforderungen  stellen  als  an 
diesen,  er  wird  oft  noch  eine  zahlreiche  l'amilie  zu  versorgen, 
Kinder  zu  erzielien  haben  u.  s.  w..  während  der  alte  Mann  im  all- 
gemeinen nur  für  sich  und  v  ielleicht  noch  für  seine  Frau  zu  sorgen 
haben  wirtl.  \'otn  privatrechtlicheii  Standpunkt  an^  mag  es  rieliti;:j 
sein,  dafs  mit  den  Leistungen  des  X'crsichcrten  (Zahl  der  verwendeten 


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176 


G«-*setzgol)ung ;  Dculichcs  Reich. 


Beitragsmarken)  die  G  c^^^enleistung  der  Versicherun^nstalt  (Invaliden- 
rente) einigermafsen  Schritt  halt,  vom  sozialpolitischen  Standpnnkte 
aus,  wo  die  Bedürfnisfrage  den  Ausschlag  giebt,  ist  die  Sache 
aber  wesentlich  anders  zu  beurteilen.  Je  jünger  der  In%'a]ide  ist,  um 
so  intensiverer  Fürsorge  bedarf  er  im  allgemeinen.  Fafst  man  die 
Arbeiter\'ersicherung  mehr  als  ein  Werk  sozialer  Fürsorge,  denn 
ab  ein  auf  Leistung  und  Gegenleistung  beruhendes  Versicherungs« 
geschäft  auf,  so  hat  die  „Verbesserung",  die  der  Reichstag:  dieser 
Stelle  mit  dem  Regierungsentwurf  \or^enommrn  hat,  in  cicr  Thal 
ihre  sehr  grofsen  Bednikrn.  AbL^esilien  von  der  I.  und  vielleicht 
auch  noch  vnn  der  II.  Lohnkla>sc ,  hätte  die  Regierungsvorlage 
sicherlich  mehr  Elend  aus  iler  Welt  i^cschafft,  als  das  (iesetz  thun 
wird.  Dieses  Hr-^ebnis  ist  keinestall.s  geeignet,  den  l)creits  be- 
.sprorhcncn  Wrlu^t  der  klaren  und  einlachen  Grölsenbeziehungen 
vergtNSfii  zu  ni.ii-hcii. 

Im  hJiizeÜalle  sollen  lU  r  Hcrcchnuii':  (k  >,  ( iruntlbetra<:s  der 
Invalidenrente  die  5(x  )  W'ociu  iilu  itrii^e  der  höchsten  Lohnklassen 
zu  (  irundc  ;4«"h*ijt  werden.  Konmu  it  fiu'  diese  y  >  Wochen  v  er- 
schiedene I -<  ihiikl.i»i  ii  in  Betracht,  ><-  wirtl  tlcr  Durchschnitt  der 
diesen  Lohnkla^sen  entsprechenden  UrundbetrÜL^e  in  Ansatz  gebracht. 
Sind  noch  nicht  5cx)  Wochenbeilräge  geleistet  woiden,  s<i  werden 
für  die  fehlenden  Wochen  Heiträge  der  I.ohnklasse  I  eingesetzt. 
Auf  diese  Weise  wird  unmöglich  gemacht,  dafs  der  Grundbetrag 
durch  spätere  Beitragszahlungen  in  einer  niedrigeren  Lohnklasse 
wieder  herabgedrückt  werden  kann  —  ein  Fehler,  der  den  Ursprünge 
liehen  Regierungsvorschlägen  anhaftete,  wie  auf  S.  500  Band  Xm 
des  Archivs  auseinandergesetzt  worden  ist.  Diese  sehr  wesentliche 
Verbesserung  ist  übrigens  von  den  Vertretern  der  Reichsregiening 
selbst,  nicht  vom  Reichstag  ausgegangen. 

3.  Rentenfeststellungsverfahren.  Organisation. 

Das  im  Gesetzentwurf  voi^eschl^ene  Rentenfeststellungsver- 
&hren  hat  auch  sehr  wesentliche  Aenderungen  erfahren  und  zwar 

in  dem  Sinne,  dafs  die  Rentenstellen  nahezu  beseitigt  sind.  An 
ihre  Stelle  sind  der  Regel  nach  die  unteren  Verwaltungsbehörden 
(I^ndratsämter,  Polizeiverwaltungen.  Amtshauj>tmannschaflen .  Be- 
zirksämter u.  s.  w.)  getreten.  Das  X'erfahren  wird  sich  nach  dem 
neuen  Gesetz  im  allgemeinen  lolgendermalsen  gestalten: 

Der  Antrag  auf  Reiitenbewilligung  oder  auf  Beitragserstattung 
ist  an  die  für  den  Wohn-  oder  letzten  Beschäftigungsort  des  \'er- 


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Ernst  Lange,  Das  nene  deitttch«  InvaUdenverticheroa^Kc^cU  v.  13.  Juli  1899.  i 

sidierten  zuständige  untere  X'erwaltungsbehörde  zu  richten.  Diese 
prüft  den  Anspruch  und  stellt  den  Sachverhalt  nach  Möglichkeit 
klar.  Gewinnt  sie  die  Ueber/.eujjung.  ials  dem  Rentenansprüche 
stattzugeben  ist,  so  übersendet  sie  die  X'erhandiungen  mit  ihrer  gut- 
achtlichen Aeulserung  dem  X'orstande  der  für  ihren  Bezirk  zuständigen 
Versicherungsanstalt.  SchHelst  si('h  dieser  dem  Gutachten  der  unteren 
\'or\valtungsbehöidc  an,  >o  Ntcllt  ot  den  Bcgitin  und  die  f  löiie  der 
Rente  sofort  fest,  erteilt  dem  Hcrcchiigten  darüber  schriftHchen  Be- 
scheid und  bringt  die  Rente  wie  bisher  in  monathchen  Raten  durch 
die  Post  zur  Auszahlung.  Anträge  auf  Beitrag^erstatlung  hat  die 
untere  \'cr\vallungsijehördc  mit  den  X'erhandlungen  ohne  (iutachten 
an  die  zuständige  X'ersicherungsanstalt  weiter  zu  geben,  die  dann 
daruijer  .selbstäntlig  betnidet. 

Gelangt  die  untere  Verwaltungsbehörde  zu  der  Ansicht,  dals 
der  Anspruch  auf  Rente  nicht  gerechtfertigt  ist,  so  hat  sie  die  Saciie 
vor  Abgabe  ihres  Grutachtens  unter  Zuzt^ung  je  dnes  Vertreters 
der  Arbeitgeber  und  der  Versicherten  in  mündlicher  Verhandlung 
zu  erörtern.  Der  Rentenbewerber  ist  von  dem  Termin  zu  benach- 
richten  und  auf  seinen  Antrag  oder  auch  ohne  diesen,  wenn  es 
die  Aufklarung  des  Sachverhalts  erfordert,  hinzuzuziehen.  Aus  dem 
Gutachten  mufs  dann'  zu  ersehen  sein,  wie  jeder  der  beiden  Ver* 
treter  gestimmt  hat.  Giebt  die  untere  Verwaltungsbehörde  ihr  Gut- 
achten fär  die  Gewährung  der  Rente  ab,  ohne  die  Vertreter  erst 
gehört  zuhaben,  und  glaubt  der  Vorstand  der  Versicherungsanstalt  dem 
Gutachten  nicht  zustimmen  zu  können,  so  ist  die  Sache  zur  Anhörung 
der  Vertreter  an  die  untere  X'erwaltungsbehörde  zurückzugeben. 

Vor  der  Kntscheidung  über  die  Entziehung  von  Invalidenrenten 
und  die  Einstellung  von  Rentenzahlungen  hat  der  \'orstand  der 
Versicherungsanstalt  ebenfalls  das  Gutachten  der  für  den  Wohnort 
des  Rentenempfängers  zuständigen  unteren  \'erwaltungsbehorde  ein- 
zuholen. Gelangt  die--e  zu  der  Ansirlit,  dafs  ihr  (iutarhten  für 
die  hntzieliung  einer  In\alitlenrente  lauten  müs.se,  so  hat  sie  die 
Sache  iti  ders^Mben  W  ei.se  zu  behandeln  wie  die  von  ihr  ungünstig 
beurteilten  Rentenansprüche. 

An  Stelle  der  unteren  X'erwaltungsbchörden  können  auf  Be- 
stimmung dei  holicren  Wrw altungsbehorde  nach  .Anhörung  oder 
auf  Antrag  de?»  \'or>iande->  der  zuständigen  Versicherung.saastalt 
bestimmte  ( jL-meindebehordeji  treten. 

Auch  auf  Rentenstellen,  die  im  wesentlichen  in  der  früher 
(S.  502 — 503  Band  XIII  des  Archivs)  bereits  dargelegten  Art  organi- 

ArcUv  für  mc.  Oeictcfabimf  ».  Sutiuik.  XV.  12 


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17» 


GeMtigrbung :  DeuUchn  Reich. 


siert  ^iiid,  k(">nncn  diese  (ieschafte  ubertragen  werden.  Zur  Errich- 
tung sol(  her  Keriieiistellen  >iiul  /ustaiulif; 

a).  tler  \'<>r stand   der  \'ersiclieruii;^'saiistalt   unter  Zustitiunung 
de>  Aussclins>c>  uiul  je  nach  Laj^'c  der  l>in;^'e  tlcs  Konununal- 
ver Landes,  der  I -ande>-Zemralbcliorde  oder  -Zentralbehörden 
(id«T  des  Kei^ll^kan/ler^ ; 
b;  die  I  an<lr>  Zeiitralbeliörde  oder  nntt  r  l  instimden  der  Reichs- 
kanzlei ini  ImIIc-  de^  ;4<-scliaUlK  licn  Ikdurftiisses,  insbesondere 
in  (lebenden  niil  diclUer  Ik\ < >lkerun^,  n.ich  Anhörung'  von 
Vorstand  und  Ausschufs  der  Versicheruni^sanstalt  sowie  dcü 
zuständigen  weiteren  Kommunalverbandes. 
Die  Wahl  der  Vertreter  der  Arbeitgeber  und  der  Versicherten 
sowohl  wie  der  Beisitzer  der  Rentenstellen  erfolgt  durch  die  Vor* 
stände  der  Krankenkassen  u.  s.  w.  in  der  bereits  auf  S.  503  des 
vorigen  Bandes  skizzierten  Weise.  Die  Anstrengun^^en,  die  im  Reichs- 
tag von  einigen  Seiten  gemacht  wurden,  dieses  Wahlgeschaft  auf 
eine  mehr  demokratische  Grundlage  zu  stellen,  sind  leider  voll- 
kommen gescheitert. 

Wie  man  sieht,  bedeutet  das  neu  geschaffene  Rentenfeststellungs» 
verfohren  im  Vergleich  zu  dem  bisher  zu  Recht  bestehenden  zwar 
einen  entschiedenen  Forlsehriit,  denn  der  ganze  Vorgang  spielt  sich 
jetzt  in  der  Nahe  des  X'ersicherten  ab,  dieser  selbst  kommt  zu  Wort 
und  kann  seine  S.iche  vor  seinesgleichen  \ertret(ri.  Gegen  den 
Regierungsentwurf  aber  haben  wir  es  an<  h  hirr  nicht  mit  einer 
Verbesserung,  sondern  niit  einer  bedeutenden  V'erschlechtt-rung  zu 
Ihun ;  denn  die  Rcntcnslellcn  —  jene  Finrichtung,  an  die  sich  so 
viel  HotlnuM^a-n  für  die  Reform  der  \rheilcrversicherung  überhau|>i 
knup»ften  —  sind  bis  auf  einen  Keim  ciitfernt.  Zu  hf»tfen  i-vt  freiheb, 
dais  sich  dieser  Keim  dank  der  ihm  innewohnendin  Triebkraft  mit 
der  Zeit  /u  ei:iem  j^^rulseren  (  )r;^'anismus  entwickehi  wird.  Die 
(ie«>ct/,  ;4c\V(.»rdene  ( )rchnnig  der  Uiti^e  erscheint  nandich  auch  vom 
rein  ]>raktischen  Standj'unkt  au>  recht  bedenkhch.  Die  Arl)eit-Iast, 
che  den  unteren  X'erwallun^sbehürden  ziii^einutet  wird,  i>^t  un;^^eheuer 
und  (litt  Iii »ar  im  Reichsta;,'  \on  manclien  Seiten  weit  unterschätzt 
worden.  In  vielen  I'.illen  u  erden  die  Beh«»rden  scliwer  tlaran  zu 
traj^'en  haben  nicht  inu  äul^erlieh,  sondern  vor  allem  auch  im 
Hinblick  auf  ihr  Verhältnis  zur  Bevölkerung  ilire>  Bezirks.  Jede 
Entscheidung  zu  l  iigunsten  der  Versicherten  wird  der  zuständigen 
unteren  Verwaltungsbehörde  zur  Last  geschrieben  werden,  wahrend 
die  Rentenbewilligungen  als  etwas  Selbstverständliches,  nicht  etwa 


* 


Ernst  Langr,  Das  neue  deutsche  Invalidenvcrsjcherungsgesctz  v.  13.  Juli  1 S99.  | 

als  etwas  Vertfienstliches  hingenommen  werden.  Das  ist  das  Schicksal 
aller  derartiger  Oigane,  namentlich  der  ersten  Instanzen  —  und  alt 
solche  werden  jetzt  in  der  Praxis  die  unteren  Verwaltungsbehörden 
dem  Publikum  gelten.  Es  ist  gut,  wenn  man  sich  in  dieser  Be- 
ziehung von  vom  herein  gar  keinen  Illusionen  hingiebt :  die  Zurück- 
weisung eines  Anspruchs,  die  Entziehung  einer  Rente  schafft  dem 
Fcststellunfjsorgan  mehr  GeL^ner,  als  die  Bewilligung  von  hundert 
Renten  Freunde.  Dem  Landrat,  dem  Bürgermeister  u.  s.  vv.  —  nach 
den  bestimmten  Aeufserunffen,  die  vom  Regierungstische  aus  im 
Reichstag  gefallen  sind,  soll  die  der  Behörde  durch  das  Invaliden- 
versicherungsgcset/  übertragenen  Gescliäfte  der  Chef  persönlich 
leiten  —  wird  dadurch  seine  sonstige  Thätigkcit  nicht  erleichtert 
werden.  Schon  die  Thatsache,  dafs  er  die  \'ertretcr  /.ur  niiindlichen 
Verhandlung  über  einen  Rentenantrag  einberuft,  /.eii^t  in  den  meisten 
Fällen,  dafs  er  sell)St  Gegner  der  Bewilligung  ist ;  er  wird  damit 
sofort  zur  Partei,  das  Odium  ckr  etwaigen  Zurückweisung  des  An- 
spruclis  bleibt  an  ilim  haften,  je  gewissenhafter  er  seine  Aufgabe 
lümmt,  um  so  unaiigeneiimer  wird  sich  ihm  das  fühlbar  machen. 
Fs  ist  daher  zu  hotTen,  dafs  sich  in  den  Kreisen  der  WrwaUun^^s- 
beamtcn  selbst  bald  eine  starke  Nei^iung  geltend  machen  wird,  ihre 
F^ntlastung  von  dieser  Hürde  zu  erstreben,  d.  h,  auf  die  Errichtung 
von  Rentenstellcn  hinzudrangen.  Möchte  unser  Optimismus  in  dieser 
Beziehung  sich  nicht  als  übertrieben  erweisen! 

Die  Landeszentralbehdrde  ist  befugt,  den  Rentenstellen  statt  der 
Begutachtung  die  Beschlufsfassung  über  die  Rentenbewilligung  zu  über* 
tra^n.  Für  eine  materielle  Erweiterung  der  Aulgaben  der  Rentenstellen 
bieten  .sonst  nur  noch  die  Bestimmungen  des  §  80 'Raum,  wonach  der 
Vorstand  der  Versicherungsanstalt  unter  Zustimmung  des  Ausschusses 
der  Rentenstelle  die  Kontrolle  über  die  Entrichtung  der  Beitrage 
und  mit  Genehmigung  der  Landes*Zentnilbehörde  auch  noch  weitere 
Obliegenheiten  übertragen  kann.  Das  ist  alles.  Sollte  indels,  wie 
wir  hoffen,  die  Errichtung  von  Rentenstelksn  mit  der  Zeit  in  lel> 
haften  Fluis  kommen,  so  würde  zweifellos  die  Logik  der  Thatsachen 
dafür  sorgen,  dafs  sich  ihr  Arbeitsgebiet  bald  hierüber  hinaus  bedeutend 
erweiterte  (z.  vergl.  auch  das  S.  505  Bd.  XIII  des  Archivs  Gesagte). 

Durch  eine  organisatorische  Neuerung  hat  der  Reichst«^  das 
Gesetz  bereichert,  die  ihrer  grundsätzlichen  Bedeutung  wegen  hier 
nicht  übergangen  werden  darf.  Nach  §  II  kann  nämlich  durch 
Beschluls  lies  Bundesrats  der  See-Berufsgennssenschaft  ge- 
stattet werden,  die  Invalidenversicherung  für  die  Personen  mit  zu 


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i8o 


Gewtzg«bui^:  DeutMhet  Reicli. 


übernehmen,  die  in  den  zur  Genossenschaft  gehörenden  Betrieben 

oder  in  einzelnen  Arten  dieser  Betriebe  l)eM:Iiafti<j;t  werden,  sowie  für 
die  Unternehmer,  die  gleichzeitig  der  Unfallversicherung  und  der 
Invalidenversirherun'^  unterliegen.  Bedingutig  ist  jedoch,  dafs  dann 
von  der  See-Bcruüsgcnossenschaft  zuL^'Ieich  eine  Witwen-  und 
Waisen  ver so rgju  nj^  fiir  die  Hinterbliebenen  der  Versicherten 
begründet  wird.  Werden  diese  Kinrichtun.jen  'getroffen,  so  sim!  die 
Personen,  iiir  die  sie  bestimmt  sind,  kraft  des  (iesetzes  darin  ver- 
sichert. 

Die  Scc-Berufsü'enosscnschaft  selbst  hat  Hie  N'eranlassun':  zu 
dieser  Hestinmivni.,'  ^ci^clien;  es  ist  daher  walir-chcinlirli,  dals  die 
Einrichtung  ihal.sai  hiich  ins  Leben  treten  und  somit  die  erste 
Witwen-  und  Wai>en\ersorgung  im  Rahmen  der  neueren  Arl>citer- 
versicherung  —  freilich  nur  fvii  einen  >eiir  be>clii<inkten  Krei^  \on 
Personen  —  zwangsweise  eingeführt  werden  wir»!.  Wie  tn.m  nun 
auch  ilicscni  besonderen  Plan  gegenüberstehen  in  ig.  intcrc-^^aiil  ist 
der  V^crsuch  auf  jeden  h  all,  und  es  ist  sehr  wohl  denkbar,  dals  weitere 
gesetzgeberische  Mafsnahmen  hieran  spater  anknüpfen  werden  und 
«Hnit  die  Einrichtungen,  die  hier  zu  erwarten  sind,  dazu  dienen 
werden,  die  längst  als  notwendig  ericannte  allgemeine  Witwen-  und 
Waisenversorgung  zur  That  werden  zu  lassen.  Von  diesem  Stand- 
punkt aus  kann  man  den  §  Ii  des  Invalidenversicherungsgesetzes 
auch  dann  mit  Freuden  begrüfsen,  wenn  man  davon  überzeugt  ist, 
dals  gerade  die  Beru&genossenschaften  nicht  die  fUr  die  allgemeine 
Durchiührung  der  Witwen^  und  Waisenversorgung  geeignete  organi- 
aatorische  Grundlage  bieten. 

Die  S.  $08  Bd.  XIII  des  Archivs  erwähnte  \'on  der  Regierung 
gefönte  Beschränkung  der  Selbstverwaltu  ag  durch  die  Garantie- 
verbände hat  der  Reichstag,  wie  zu  erwarten  war,  nicht  genehmigt. 
Der  Vertreter  der  Garantieverhai  k  i  n  Ausschuls  der  Anstalten  ist 
ganz  geCstllen,  und  die  rnifunj  (!l-s  X'oranschlags  der  Versicherungs- 
anstalten ist  der  Aufsichtsbehörde  übertragen  worden.  Diese  ist 
befugt.  Anstände  zu  erheben,  insoweit  der  Voranschlag  etwa  den 
gesetzlichen  oder  statutarischen  \'orschriften  nicht  entspricht.  Be- 
schlüsse des  Ausschusses,  die  solchen  .Anstanden  nicht  gerecht 
werden,  muls  der  Vorsitzende  des  Anstaltsvorstandes  aufechten. 

4.  Sonstige  Aenderungen. 
Alle  übrigen  Abafi'Jcrungen  des  bisherigen  Rcchtszustandcs,  die 
das  neue  Gesetz  bringt,  treten  gegen  die  besproclieneii  Hauptpunkte 


Ernst  Lange,  Das  nrue  deutsche  Invalsdenvenicberongigcsetz  v.  1 3.  Juli  1 899.     1 3 1 


zwar  an  Bedeutung  zurück;  doch  sind  einige  immerhin  von  so 
grofsem  Interesse»  dafs  sie  noch  eine  eingehende  Besprechung  ver- 
dienen, zumal  ihnen,  soweit  ae  fiberhaupt  schon  im  Regierungs- 
entwurfe enthalten  waren,  in  unserer  früheren  Arbeit  nur  wenige 
Worte  gewidmet  waren. 

Was  zunächst  den  Kreis  der  von  der  Versicherung  er- 
fafsten  Personen  anbelangt,  so  ist  es  hinsichtlich  der  zwangs- 
weise Versicherten  bei  dem  Regieningsvorschlage  geblieben.  Es 
wird  ako  die  Versicherungspflicht  ausgedehnt  auf  alle  Angestellte, 
deren  dienstliche  Beschäftigung  ihren  Hauptberuf  bildet,  Werk- 
meister, Techniker,  Lehrer  und  Erzieher,  sofern  sie  Lohn  oder  Ge- 
halt  beziehen,  ihr  Jahresarbeitsverdienst  aber30CX)Mk.  nicht  übersteigt. 
Die  Schiflsführer  werden  diesen  Personen  gleichgestellt,  sie  unter* 
liegen  also  jetzt  nur  der  \^ersiclierungsj>nir]i(.  wenn  sie  einen  Jahres- 
arbeitsverdienst von  nicht  mehr  als  2000  Mk.  erzielen,  (iefallen  ist  da- 
gegen die  im  Entwurf  vorgesehene  Bestimmung,  dals  solche  Per- 
sonen, die  Lolinarl)cit  nur  in  bestimmten  Jahreszeiten  für  nicht  mehr 
als  zwölf  Wochen  übernehmen,  im  übrigen  aber  ihren  Lebensunter- 
halt selbständig  erwerben,  von  der  Versicherungspflicht  befreit 
sein  .sollten. 

Höchst  interessant  ;^esialleleii  sich  die  VerhandUnii^a-n  über  die 
X'ersirhf ruti;^^  der  ausländischen  Arbeiter,  <l(TU'n  tler  .-Xulent- 
halt  in  DeulN<  hland  nur  tur  eine  bestimmte  Dauer  ^^  stattet  ist  und 
<lie  narli  Ablauf  tliocr  Frist  wieder  in  das  Auslanii  zurückkehren 
niussiii.  Der  Ikindesrat  hat  /.war  die  Befugnis  erhalten,  zu  l)e- 
stiinnK  ii,  da  s  diese  rer<niien  der  Wrsicherungsj^flicht  niclit  unter- 
liegen, .iber  tlie  .Xrbcitgcbcr  sind  in  diesem  l  alle  verj>tlirhtel,  den 
Beitrag  an  die  X'ersiclierungsanstalt  zu  zahlen,  den  sie  für  ihre  aus- 
ländischen Arbeiter  entrichten  müfsten,  wenn  diese  versicherungs- 
pflichtig wären.  Es  braucht  nicht  bescMiders  auseinandergesetzt  zu 
werden,  dafe  diese  letzte  Bestimmung  vom  rein  versicherungs- 
technischen Sundpunkt  aus  gar  keinen  Sinn  hat,  denn  den  Bei- 
trägen stehen  keine  auch  nur  möglichen  Leistungen  der  Versiche- 
rungsanstalten gegenüber.  Es  handelt  sich  hier  vielmehr  um  eine 
Abgäbet  die  von  den  Ausländer  beschäftigenden  Unternehmern  zu 
dem  Zweck  gefordert  wird,  damit  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
verhütet  werde,  dafs  sich  die  Chancen  der  ausländischen  Arbeiter 
im  Vergleich  zu  denen  der  inländischen  in  der  Konkurrenz  um 
die  Arbeitsgelegenheit  allzu  günstig  gestalten.  Man  hat  es  hier 
mit  einer  Art  von  Schutzzoll  gegen  die  auslandische  Arbeit  zu 


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t82 


Gesetzgebung    Deutsche.'»  Keicii. 


thun  —  mit  einem  Zoll,  den  die  inländischen  Unternehmer,  die  aus* 
ländtsche  Arbeiter  beschäftigen,  zu  zahlen  haben,  und  der  den 
Invalidenkassen  zu  gut  kommt  Hiermit  ist  ein  Schritt  von  gröCster 
prinzipieller  Bedeutung  gethan.  Denn  es  ist  klar:  so  gut  wie  man 
diese  eine  liir  die  einheimischen  Arbeiter  ungünstige  Chance  hier 
durch  eine  den  Unternehmern  auferlegte  Zahlungsverpflichtung  aus- 
zugießen sucht»  kann  man  auch  andere  durch  die  Gesetzgebung 
geschafiene  oder  durch  die  Verhältnisse  und  die  Natur  gegebene 
Chancen  /u  Gunsten  der  cinlieiinischen  Arl)eiler  beeinflussen. 
liegt  kein  Grund  \  or,  bei  diesem  einen  schüchternen  Versuch  stehen 
zu  bleiben.  Das  Schl^^wort  vom  „S<^hui/.  der  nationalen  Arbeit" 
gewitMit  so  einen  ganz  neuen  Sinn.  Der  Schutz  \or  der  ausländi- 
schen Konkurrenz  erstreckt  sich  nicht  mehr  nur  nuf  die  Produkte 
der  nationalen  ArluMt,  sondern  vor  alletn  auf  den  heimischen  Arbeitet 
selbst.  Die  ^eschatlenen  Dinji^e  treten  in  den  ninterj:^r<ind.  die 
schafiendcn  Personen  in  <ien  X'order^rund.  X'iele  Zeichen,  u.  a. 
auch  der  immer  enjjjere  X'erkehr.  in  den  (he  euroj)äischeM  \'<»lkcr 
mit  einif^en  überseeischen,  \\»r  allem  den  mongolischeii  Ras-Nen 
treten,  weisen  darauf  hin.  dals  diese  Art  von  „Schutz  der  nationalen 
Arbeit"  mehr  und  inehr  das  titteiitliciic  Interesse  in  Anspiuch  nehmen 
wird.  Darauf  hier  weiter  einzulochen,  müssen  wir  uns  \  cr>a,4cn ;  e^ 
solhe  hiii  nur  der  erste  \cr>tockte  Sciiritt,  den  die  Deutsche  Ge- 
setzgebung nach  dieser  Richtung  hin  gcthan  hat,  in  seinem  Wesen 
gekennzeichnet  werden. 

Die  Haustndustriellen,  sowie  Gewerbetreibende,  die  nicht 
r^relmäisig  wenigstens  einen  Lohnarbeiter  beschäftigen,  bleiben  im 
wesentlichen  so  gestellt  wie  bisher.  Sie  linterliegen  also  nicht  kraft 
des  Gesetzes  der  Versicherung,  sondern  der  Bundesrat  hat  nur  die 
Befugnis,  die  Versicherungspflicht  auf  sie  ftir  bestimmte  Berufs- 
zweige  auszudehnen ;  er  braucht  das  jetzt  aber  nicht  mehr  allgemein 
zu  thun,  sondern  kann  die  Vorschrift  auf  gewisse  Bezirke  be- 
schränken. Ferner  kann  der  Bundesrat  jetzt  bestimmen,  dafs  und 
inwieweit  solche  Unternehmer,  die  sich  Zwischenpersonen  (Faktoren, 
Zwischenmetster  u.  s.  w.)  bedienen,  rücksichtlich  der  von  diesen  be- 
schäftigen Hausindustriellen  die  durch  das  Invaliden\ ersicherungs« 
gesetz  den  Arbeitgebern  auferlegten  Pt^ichten  zu  erfüllen  liaben. 

Alle  diese  Personen  sind,  soweit  sie  vom  Bundesrat  nicht  für 
versicherungspflichtig  erklärt  worden  sind,  wie  nach  bi>herii,fem 
Gesetz,  berechtigt,  sich  selbst  zu  versichern.  Dieses  Recht  steht 
jetzt  auch  den  Arbeitern  zu,  die  der  Zwangsversicherung  nicht  unter- 


Ernst  Lange,  Das  neue  denUche  InvalidenTcnichervngigeseU  v.  13.  Juli  1899,  igj 

lir-^M-n,  weil  ihnen  als  Kntj^elt  für  ihre  Tliätij^keit  keine  Rarver- 
ji^utuii,;,  sondert)  nur  freier  l'nterhalt  gewährt  wird,  sowie  den  Per- 
sonen, die  nur  vorübergehende,  vom  Bundesrat  als  nicht  versiche- 
rungspflichtige Beschäftigun'.^  erklarte  Dienstlcistun^^fcn  verrichten. 
Alle  diese  Personen  L,'ehoiiii  ihrer  ganzen  sozialen  Lage  nach 
durchaus  dem  Arijeitcistandc  im  engeren  Sinne  an.  Aulserdein 
ist  aber  das  Recht  zur  Selbst  Versicherung  noch  auf  weite 
Schichten  des  sogenannten  Mittelstandes  au^edehnt  worden  und 
zwar  auf 

1.  Betriebsbeamte,  Werkmeister,  Techniker,  Handlungsgehilfen 
und  sonstige  Angestellte,  deren  dienstliche  Beschäftigung 
ihren  Hauptberuf  bikiet,  sowie  Lehrer,  Erzieher  und  Schiffs- 
fuhrer,  sobald  ihr  Jahresarbeitsverdienst  zwischen  2000  und 
5000  Mk.  liegt; 

2.  Gewerbetreibende  und  alle  Betriebsunternehmer,  die  nicht 
regelmafsig  mehr  als  2  versicherui^pflichtige  Lohnarbeiter 
beschäftigen. 

Als  Bedingung  ftir  den  Eintritt  in  die  Selbstversicherung  gilt 
ganz  allgemein,  dafs  das  vierzigste  Lebensjahr  noch  nicht  vollendet  bt 

Endlich  sind  alle  Personen,  die  aus  einem  die  \''ersicherungs- 
pflicht  oder  die  Berechtigung  zur  Selbstversicherung  begründenden 
Verhältnisse  ausscheiden,  berechtigt,  die  V^ersicherung  weiterhin 
fortzusetzen  oder  zu  erneuern  und  zwar  in  beliebiger  Lohnklassc. 

Im  Reichstage  wurden  diese  Bestimmungen  von  verschiedenen 
Seiten  sehr  entschieden  bekämiift,  wobei  man  von  der  Ansicht  aus- 
ging, tlals  havi|)tsächlich  die  , .schlechten  Risiken",  d.  h.  Personell,  die 
voraussichtlu  li  friür/citi;.;^  zu  Renteneniptiingcrn  werden,  von  dei-  frei- 
wilhgcn  \'ersi(  iieruiig  ( lebrauch  machen  würden.  Die  I^>ten  der  frei- 
willigen V  ersicherung  würtlcn  infolgedessen  tlurch  die  Beiträ;.'e  der  frei- 
willig Versicherten  niclit  gedeckt  werden,  was  dann  nicht>  anderes 
bedeutete,  als  dals  die>e  im  ganzen  genommen  günstiger  gestellten 
PJenu-nte  direkten  Nutzen  vr)ti  den  Beiträgen  der  zwangsweise  vi-r 
sicherten  Arbeiter  zögen.  Ich  bin  der  Meinung,  dals  in  die>en 
Argumenten  die  praktisclie  Bedeutung  der  freiwilligen  Versicherung 
völlig  verkannt  wird.  Thatsächlich  wird,  wenn  nicht  in  irgend 
einer  Form  eine  Art  Zwang  eintritt,  wenig  von  dem  Rechte  der 
Selbstversiehening  Gebrauch  gemacht  werden:  wer  sich  gesund 
fiihlt,  wird  glauben,  die  Versicherung  nicht  nötig  zu  haben,  und 
wer  sich  schwach  und  krank  fühlt,  wird  meinen,  das  Kleben  habe 
für  ihn  doch  keinen  Zweck  mehr.   Dagegen  ist  die  freiwillige  Ver- 


Gesrtzgrbung :  Dculsrhcs  Knch. 


Sicherung  von  unschätzbarem  Wert  für  die  Einrichtung  von  Pensioos- 
und  ähnlichen  Kassen  aller  Art.  Jeder  gewerbliche  oder  kaufinännische 
Unternehmer,  jeder  Unterstützungsverein  u.  s.  w.  kann  jetzt  seine  An* 
gestellten  oder  hilfsbedürftigen  Mitglieder  auf  Grund  des  §  14  des  In- 

\-alidcn  versicheningsgesetzes  leicht  einigermafsen  vor  Not  und  Elend  im 
Alter  und  ht  i  F.r\vf  rl)sunfalii^^keii  schützen,  indem  er  sie  veranlagt,  sich 
selbst  /u  \  crsirli(  I  II  odtr  die  X'ersicherimg  freiwillig  fortzusetzen,  nach- 
dem die  Ff1i(  ht  dazu  aufgehört  hat.  Der  rDicrnehiner,  der  Verein  etc. 
kann  dann  die  Beiträge  ganz  oder  teil \\ (i-i  si  ]l>>i  ijiRrnehnicn .  auch 
noch  eine  Ziisrhiiisk  is'^e  '^TÜnden  u.s.W.  Jedenfalls  werden  durch  diese 
Maisrej^ein  Vorteile  tur  die  An^^^telltcn  ftder  Miti,liedcr  fjcschafTen, 
wie  sie  keine  andere  Hlinrichtun^  [»it-ien  kann.  Wird  doch  vor  allem 
auf  diese  Weise  das  Reich  j^e/wuii^^en,  in  (icstalt  des  Zuschusses 
von  50  Mk.  /.u  jeder  Jahresrente  tlirekt  zu  der  \'ersor;.nin<^  bei/u- 
tra;^'rii  !  I  haisächlich  herrscht  jetzt  überall  das  HestrclH  ii.  die  Zu- 
kunli  (kr  v<.>n  ihrer  Arbeit  lebenden  Personen,  aucli  soweit  >ie  der 
gesci/lichen  Zwani^^sx ci  >i(  lu  run^'  nicht  unterlie<^^en,  —  alr-o  in  erster 
Linie  ilei  ,,l'ri\ alltcaniteii"  im  weitesten  Sinne  des  Worts  —  mög- 
lichst sirlier  zu  stellen.  Der  Wun>ch  scheitert  aber  vielfach  an  der 
.•^^chwu  I  :^ki  it,  die  nötigen  ( leKKuninu  ii  h(  i  bci/UM  j)allen.  Hier  ist 
nun  ein  Mittel  gegel)en,  das  au!■^cru^^lentlich  zu  erleichtern.  Ich  bin 
überzeugt,  dafs  man  in  ausgedehntem  Malse  davon  Gebrauch  machen 
wird,  sobald  es  erst  allgemein  in  seiner  praktischen  Bedeutung  er- 
kannt sein  wird.  Damit  schwinden  aber  dann  die  Besorgnisse  der 
Gegner  der  freiwilligen  Versicherung  zu  nichts,  denn  von  einem 
vorwiegenden  Zuströmen  der  ungünstigen  Risiken  kann  unter  diesen 
Verhältnissen  natürlich  gar  nicht  mehr  die  Rede  sein. 

Uebrigens  ist  auch  die  Wartezeit  bei  der  Invalidenrente  für 
die  freiwillig  Versicherten  bedeutend  verlängert  worden.  Sie  be-  - 
trägt  nämlich,  wenn  nicht  mindestens  100  Beiträge  auf  Grund  der 
Versicherungspflicht  geleistet  worden  sind,  500  Beitragswochen, 
anderenfalls  nur  20a  Dabei  kommen  die  für  freiwillige  Versicherung 
geleisteten  Beiträge  überhaupt  nur  auf  die  Wartezeit  in  Anrechnung, 
wenn  mindestens  icx>  Beitrage  auf  Grund  eines  die  Versicherungs> 
pflicht  oder  die  Bereclitigung  zur  Selbstversichcrung  begründenden 
Verhältnisses  gezahlt  worden  sind  (§  29).  Aul'serdem  ist  die  Ge- 
fahr des  fcrlöschens  der  sich  aus  der  X'ersicherung  ergebenden  An- 
wartschaft bei  der  Selbstver-i«  lirruni,'  bedeutend  gröfser  als  bei  der 
Zwangsversichenmg;  denn  bei  der  Selbstversicherung  und  ihrer  Fort- 
setzung müssen  zur  Aufrechterhaltung  der  Anwartschaft  innerhalb 


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Era&t  LanK^i  Das  neue  deutiicbr  Invalidcnvcrsichcruog»gcü«tz  v.  13.  Juli  1S99. 


zwekr  Jahre  nach  dem  auf  der  Qtiittungskarte  vermerkten  Aus« 
stellun^'stage  mindestens  40  Beiträge  entrichtet  werden,  bei  der 
Zwangsversicherung  und  ihrer  freiwilligen  Fortsetzung  aber  geniigen 
20  Beitragswochen.  Dem  Mifsbrauch  der  freiwilligen  Versicherung, 
besonders  der  Selbstversicherung,  sind  also  starke  Riegel  vorgeschoben. 

Die  Wartezeit  bei  der  Invalidenrente  ist,  wie  wir  soeben  ge- 
sehen haben,  für  die  zwangsweise  Versicherten  gegen  das  ake  Gesetz 
verringert :  von  335  auf  200  Wochen ;  ebenso  ist  sie  bei  der  Alters« 
rente  liir  alle  Versicherten  von  1410  auf  1200  Wochen  herabgesetzt 
Auch  sonst  sind  die  Voraussetzungen  fiir  die  Erlangui^  der  Renten 
durchaus  erleichtert:  der  Begriff  der  PJrwerbsunfahigkeit  ist  der 
Rcj,ncriingsvorlaj:je  entsprechend  vereinfacht  und  erweitert  (s.  S.  $OJ 
Bd.  XIII  des  Archivs»,  die  Wartefrist  für  die  vorübergehend  Er- 
werbsunfähigen auf  ' ,  Jahr  hc  t  abgesetzt  Da  indefs  den  Kranken- 
kassen die  Fürsorge  für  die  Kranken  nur  '/^  Jahr  lang  zwai^sweise 
obliegt,  so  klafft  hier  in  der  Gesetzgebung  immer  noch  eine  grofse 
Lücke.  '  ,  Jalir  lang  bleiben  die  Kranken  sich  seli)si  ül)erla.ssen, 
entbehren  sie  jeder  gesetzlichen  hiirsorge.  Was  etwa  Krankenkassen 
und  b nalidenanstalten  in  dicker  Zeil  für  die  Kranken  thiin,  l;» '^chicht 
irciwilltL;  und  l)cruht  nicht  auf  gesetzlichem  Zwang.  Der  Rcich:>tag 
hat  daher  eine  Resolution  ang<*n(MTimcn ,  worin  die  \  erbündeten 
Regierungen  ersucht  wrifU  n,  dcniniu  li^t  eine  Nnvclle  zimi  Kranken- 
versicherungsgesetz vorzulegen,  durch  die  die  Mindestfursorgc  der 
Krankenkassen  von  13  auf  26  Wochen  erhöht  wird. 

Kine  recht  bedenkliche  Hestnnimnig  hat  der  Reichstag  mit  dem 
§  43  in  das  (jresetz  eingefugt.  Nach  ij  15  begründet  die  Erwerbs- 
unfähigkeit, wenn  sie  durch  einen  Unfall  herbeigeführt  ist,  den 
Anspruch  auf  Invalidenrente  nur  insoweit  als  die  Invalidenrente  die 
Unfallrente  übersteigt  Kommt  es  nun  auf  diese  Weise  überhaupt 
nicht  zur  Auszahlung  einer  Invalidenrente  und  ist  der  Versicherte 
durch  den  Unfell  dauernd  erwerbsunfähig  im  Sinne  des  Invaliden- 
versicherungsgesetzes geworden,  so  ist  ihm  auf  seinen  Antrag  die 
Hälfte  der  für  ihn  entrichteten  Beiträge  zu  erstatten,  wogegen  dann 
die  durch  das  bisherige  Versicherungsverhältnis  begründete  Anwart- 
schaft auf  Invaliden-  uod  Altersrente  erlischt  Es  ist  also  fiir  die 
Unfallinvaliden  hier  ein  Recht  geschaffen,  dafs  dem  der  weiblichen 
Personen  bei  Eingehung  einer  Ehe  und  der  Hinterbliebenen  ver- 
storbener Versicherter  gleicht  Wenig  licfsc  sich  auch  dagegen  sagen, 
wenn  die  ßerufsgena^nschaft  oder  die  Behörde,  die  über  die  l'nfallrentc 
zu  befinden  hat,  gezwungen  wäre,  nun  auch  ihrerseits,  dem  Urteil 


i86 


( ifsrUjjcbum;     U'-ul*ch<"»  kcifh. 


der  Versicherungsanstalt  cntsi)rechend,  die  Rente  als  dauernd  tu  be- 
trachten. Thatsachlich  sind  aber  beide  Feststellui)^sor<;ane  \  öUig  un- 
abhängig von  einander.  Die  Benifsgenossenschaft  oder  die  an  ihre 
Stelle  tretende  Ausföhnuigsbehorde  kann  noch  nach  Jahren  auf 
Grund  der  Bestimmungen  der  Unlallversicherungsgesetze  die  Rente 
herabsetzen,  ja,  unter  Umstanden  ganz  einstellen,  und  der  von  dieser 
Malsregel  BetroflTene  ist  dann  in  der  üblen  I^age,  g^en  die  Rück- 
Zahlung  einer  verhältnismäßig  recht  kleinen  Summe  die  Anwart- 
schaft auf  die  Invaliden«  und  Altersrente  \'erloren  zu  haben.  Hätte 
er  den  verhängnisvollen  Antr^  nicht  gestellt,  so  wäre  ihm  die  An-  . 
wartüchaft  voll  erhalten  geblieben,  denn  nach  §  46  Abs.  2  Z.  2  des 
hualidcnversicherungsgesetzes  wäre  die  Zeit,  in  der  er  die  Unfall- 
fallrcntc  bezog,  so  betrachtet  worden,  als  hatte  er  \n  versicherungs- 
pflichtiger Beschäftigung  gestanden.  Selbst  bei  der  grölsteti  \^or- 
sicht  und  (U  ni  weitesten  Wohlwollen  auf  beiden  Seiten  Werden  der- 
artige bedauerliche  Fälle  in  der  Zukunft  kaum  ganz  vermieden 
werden  können.  Aueli  hier  macht  <\ch  der  Mangel  an  Zusammen- 
hang zwischen  den  einzelnen  Zwei^^en  der  Arbeiterversicherung  auf 
das  ein|ifiiidlirhste  bemerkbar  —  ein  neuer  Fingerzeig  für  di«'  Rich- 
tung, die  weitcrlnii  die  furtschreitende  Fntwickeluiv^  nehmen  muls. 

Die  Rc^timminigcn  über  die  K  r  a  n  k  e  n  p  f  1  e  14  e  durcli  die  \'er- 
sicheruni;>an,stahcn  waren  schon  in  dem  Regierun^>cntwurf  gegen 
das  bisherige  (lesetz  wesentlich  verbessert;  der  Reichstag  ist  nach 
die^e^  Richtung  hin  noch  ciniL^e  Schritte  weiter  gegangen.  \^or 
allem  ist  bei  der  1  \*bi  i  iuhnu  des  Heil\  crlahren^  durch  die  \'er- 
sicherungsanstalten  den  hamilienangehörigen  der  erkrankten  Ver- 
sicherten für  alle  Fälle  ein  Recht  auf  Unterstützung  gewährt.  Ferner 
ist  das  Wrhältnis  der  Versicherungsanstalten  zu  den  Krankenkassen 
und  Berufsgenossenschaften  genau  geregelt 

Als  Mittel  zur  Vorbeugung  der  Invalidität  ist  eine 
intensive  Krankenpflege  zweifellos  von  grofser  Bedeutung.  Die 
Reichstagskommission  war  auf  diesem  Wege  noch  weiter  vorwärts 
geschritten  und  hatte  dem  Gesetzentwurf  Bestimmungen  eingefi^ 
wonach  die  Versicherungsanstalten  das  Recht  haben  sollten,  für  ihre 
Bezirke  oder  fUr  bestimmte  Beru&zweige  oder  Betriebsarten  ihrer 
Bezirke  Vonschriften  zu  erlassen,  durch  die  die  Arbeitgeber  verpflichtet 
wurden,  bestimmte  Hinrichtungen  zum  Schutz  der  Versicherten  gegen 
gesundheitsschädliche  Einflüsse  zu  treflfen.  Auch  sollten  die  Anstalten  be- 
fugtsein,  durch  Beauftragte  die  Befolgung  der  X'orschriften  überwachen 
zu  lassen.  Im  Plenum  des  Reichstags  wurden  indel's  diese  Vorschläge,  die 


ErnstL&nge,  Das  neue  deutsche  Invalidenventicherunesg)r»etz  v.  1 3.  J  uli  i  S99.  ] 


im  woetiill«  iu  ii  den  ResliminuniTcii  des  UntalK  crsichcruiii^si^rsetze!» 
über  die  l  rilalKeiliütuiig  nachj^cbildcl  waren,  vcrworten  —  wie  ich 
glaube,  iTiit  Recht.  Die  Unfall-  und  Erkrankungs-  oder  Invaliditäts- 
verhütung  ist  meines  Erachtens  eine  Aufgabe  so  umfassender  und 
zugleich  so  heikler  Natur,  da&  sie  lücht  nebenher  in  den  Arbeiter* 
Versicherungsgesetzen  mit  erledigt  werden  kann.  Dieses  gan/.e  Ge- 
biet sozialer  Fürsorge  bedarf  einer  besonderen  gesetzlichen  Regelung, 
die  allein  mindestens  ebenso  umiassend  und  schwierig  sein  wird, 
wie  die  ganze  Versicherungsgesetzgebung  zusammen  genommen. 
Schon  die  Leistungen  der  Berufsgenossenschaften  auf  dem  Gebtete 
der  Unfallverhütung  werden  viel&ch  auCserordentlich  überschätzt. 
Thatsachlich  ist  nur  für  einzelne  Industriezwdge,  besonders  für  den 
industriellen  Grofsbetrieb,  nach  dieser  Richtung  von  den  Berufe- 
genossenschaften  etwas  —  in  dieser  Beschränkung  ja  an  sich  höchst 
Anerkennenswertes  —  geleistet  worden.  Für  die  grofse  Menge  der 
Kleinbetriebe  versagt  hier  die  Thätigkeit  der  Berufsgenossenschaften 
fast  vollständig.  Noch  übler  würde  es  aus  vielen  nahe  Uzenden 
Gründen  den  \'ersicherungsanstalten  bei  ihren  Bemühungen  um  die 
Erkrankungsverhütung  ergehen,  obgleich  zugegeben  werden  mufs, 
dafs  sie  wegen  der  stärkeren  Beteili^unf;  der  N'ersichertcn  an  der 
Verwaltung  und  der  gröfsercn  Dezentralisation  ihrer  Kinriciitung  den 
Berufsgenossenschaften  auf  diesem  Arbcitsfelde  immerhin  in  mancher 
Beziehum^f  überlegen  sein  würden.  Jedenfalls  wäre  das,  wa>  sie 
hätten  leisten  können,  inuner  nur  klägliciics  Stückwerk  gebliebetj, 
und  —  was  das  schlimmste  dabei  i-<t  —  die  /.u  erstrebende  einheit- 
liche gesetzliche  Regelung  die.>es  ganzen  Zweige^  s<»/.ialer  Fürsorge, 
in  deren  Mittel[)unkt  voraussichtlich  ein  \\  ()hnuni.;sgeselz  stehen 
wird,  wäre  dadurch  sicherlich  >eiu  erschwert  und  aufgehalten  worden. 
Dafs  die  Sorge  für  die  l'nfalKerhütung  den  Berufsgenossenschaften 
übertragen  ist,  wird  sich  schon  mehr  und  meiir  aL>  I  lenminis  geltend 
machen.  Man  thut  daher  gut.  nicht  noch  weitere  ähnliche  Hinder- 
nisse zu  schaffen,  selbst  auf  die  Gefahr  hin,  die  jetzigen  Zustände 
noch  einige  Jahre  länger  zu  erhalten,  als  sonst  nötig  wäre. 


Aus  der  Uebersicht,  die  wir  im  Vorstehenden  über  die  wich* 
tigsten  Aendeningen  gegeben  haben,  die  der  bisherige  Rechtszustand 
durch  das  neue  Gesetz  erlitten  hat,  'wird  der  Leser  entnommen 
haben,  dais  es  sich  hier  zwar  um  viele  kleine  Verbesserungen  des 
Bestehenden  handelt,  dafs  aber  wenig  oder  nichts  eigentlich  Neues 


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i88 


Ge^t-tzgrbuiif; :  Deulschrs  Reich. 


geschaflen  ist.  Hieraus  erklärt  es  sich,  dafe  bei  der  Schluis^Mdm- 
mung  im  Reichstag  das  neue  Gesetz  nahezu  einstimmig  angenommen 
worden  ist:  niemand  hatte  in  der  That  Veranlassung,  gegen  das 
Gesetz  mit  seinen  vielen  offenbaren,  gleichsam  harmlosen  Vorzügen 
zu  stimmen.  Grofse  Fortschritte,  epochemachende  Wendungen  der 
Gesetzgebung  pflegen  sich  nicht  so  ruhig  zu  vollziehen.  Sie  haben 
stets  ihre  grundsätzlichen  Gegner,  und  ihre  fast  einstimmige  An- 
nahme In  den  gesetzgebenden  Körperschaften  ist  so  gut  wie  aus- 
gt-^(  blossen.  So  sicln  r  wie  es  ein  trauriges  Zeichen  für  den  im 
Reichstage  herrschenden  (n  ivt  .  cwescn  wär^  wenn  dieses  Gesetz 
«lort  i^rolseii  Widerstand  getumlen  hatte,  so  sicher  ist  es  auch,  dals 
die  Thalsache,  dals  solcher  Widerstand  nirlit  da  war,  die  prinzipielle 
Unbedeutcndheil  des  gesrhaffeiien  Werks  bezeugt.  Um  nicht  mifs- 
versianden  zu  wcrdoi.  wollen  wir  jedoch  hier  noch  ausdrückHch 
hervorheben,  dal>  dir  Kleinarbeit,  die  bei  der  \'« Tbereiluni^^  und  der 
Beratung  des  neuen  (i(set/ts  —  in  erster  Lüne  auf  Sritdi  der 
Reirhsregierung  — -  gek  isicl  worden  ist,  »|uantitati\'  sehr  bedeutend 
und  vielfach  auch  (jualitaliv  vor/iiglieh  gewoeii  ist. 

Dals  die  Sprache  drs  (  n-it/etit  wurl.s  \  iel  /u  wünschen  übri^ 
lieis.  i>t  liereits  auf  S.  — ;'«»  di-.s  vorigen  Haniles  des  Archivs 
erörtert  wonlen.  Das  aunnu  hrige  (ieset/.  unlei >cheidel  sich  in 
dieser  Be/iehung  wenig  \on  dem  laiiwurf  .So  sehr  das  auch  zu 
bedauern  i>t,  kaiui  doch  den  Reichstag  kaum  ein  X'orwurl  l reifen, 
denn  die  Aufgabe,  den  Entwurf  nach  dieser  Richtung  hin  gründlich 
zu  verbessern,  war  ftir  ihn  praktisch  wohl  gar  nicht  zu  losen.  Eine 
bessere  Sprache  unserer  Gesetze  zu  schaffen,  ist  ein  in  der  Zukunft 
liegendes  Ziel,  das  nur  erreicht  werden  kann,  wenn  von  anderer 
Seite  her  —  von  der  Schule  —  energische  Mitwirkung  erfolgt  Darauf 
näher  einzugehen,  ist  jedoch  hier  nicht  der  Ort. 

Wir  lassen  nunmeiir  den  Wortlaut  des  Gesetzes  folgen: 

Inv«lid«iiv6rsicherangsK«Bets  vom  13.  Juli  itM. 

Wir  Wilhelm,  von  Gottes  Gnaden  Üfut-thcr  Kais<r.  K  aiig  von  Preufscn  etc. 
▼crordnni  im  Xamen  des  Reichs,  nacti  criolt^tcr  Zustimmung  da  Btmdesrats  und  de» 
Reichstags,  was  folgt: 

An  die  Stelle  des  Gesetzes,  betreffend  die  Invaliditits-  und  Ahersversicberniig, 
vom  23.  Juni  1889  tReichs-Gcsetsbl.  S.  97)  und  des  Gesetze«,  betreffend  die  Ab> 
indenmg  d«  157  drs  Invaliditäts-  und  Alter-vpr^irhcrunp'.gesetaea  vom  8b  Jni 
189t  (Reicbs-GeseUbl.  S.  337)  treten  die  nachstehenden  Bestimmnogett. 


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Invaluli-nversichcrungsgeseU  vom  13.  Juli 


189 


I.  Umfang  und  Gegenstand  der  Versicherung. 

§  1.    (Vfrsichcningspflicht.^    Narh  Mafsgabc  der  Bestimmungen  dieses  Geaetses 
Veidrn  vom  von<«nd»-ti«n  scclizc hnti-u  l.cbrnijahr  ab  versichert 

1.  Fer^ncu,  welche  aU  Arbeiter,  Gekilfeu,  Gestellen,  Lehrlinge  oder  Dienst- 
boten gegen  Lohn  oder  Gehalt  betchEftiKt  werdea; 
a.  BetricbtbcMDte,  Werknciiter  and  Tcdmiker,  HaadlnagagcliUfen  «ad  •Lehr» 
Imge  (MsscUiefsUch  der  in  Apothckeii  bcscbifticteii  Gehilfen  und  Lehr- 
Uage),  sonstige  Angestellte,  deren  diemtlicbe  Seiehiftigang  ihren  Haupt- 
beruf bildet,  :u)wie  Lehrer  und  E^rneher.  tfaitlich  sofern  sie  Lohn  oder 
Gehalt  beziehen  ihr  regelmäfsiger  JahreMTbeitsverdientt  «her  «weitetnend 

Mark  nicht  uhfr>tci}jt,  sowie 
3.  die  gegen  Lohn  o<ier  Gehalt  be»chiUtigten  Personen  der  Schitl>i»esaLzung 
deutscher  Seefahrzeuge  2  desGesetxes  vom  rj.  Juli  1887,  Reicbs-Gesetsbl. 
S.  399)  und  von  Fahnwugen  der  BinuenschiftÜMt,  SeblAOl^"^  jedoch  nnr 
dnan,  wenn  ihr  regelmifsiser  Jahreaarbcltsverdientt  «a  Lohn  oder  Gehalt 
iweitavaeod  Mark  nicht  ttbenteigL  Die  Ftthranf  der  Keichaflacge  anf 
Grund  der  gemafs  Artikel  II  §  7  Abs.  I  des  Gesetzes  vom  15.  Mär/.  18S8 
iReichs-Ge^etzbl.  S.  711  erteilten  Ermächtigung  macht  das  ScbtiT  nicht  in 
einem  deutschen  Seelahrzeug  im  Sinne  dieses  Gesetzes. 

<5  2     Durch   Besrhlufs  «Ics  Pundrsrati  kann  <ii'-  \<>rs-hnM  <1«-^  1:  i    für  be» 
stimmte  Herufszweige  all;,"  mcui  oder  rnit  Beschränkung  aut  gewi>»o  Bezirke  auch 

t.  auf  Gewerbetreibendt:    und   sonstige    Betriebsuntemehmer ,   welche  nicht 

regelmäfsig  wenigstens  einen  Lobnarbeiter  beschäftigen,  sowie 
a.  ohne  Rlcksicht  anf  die  Zahl  der  von  ihnen  beichiftigten  Lohnarbeiter 
anf  solche  selbitindige  Geweibetrribende ,  welche  in  eigenen  Betriebs» 
Rtitten  im  Aofimg  md  Hb'  Rechnn^  anderer  Gewerbetreibenden  mit  der 
Herstellung  oder  ßearbeitang  fewcrblicher  ErseogniMe  bescbiftict  werden 
( I  f.iusgewerbetreibende  I, 
erstreckt  werden,  und  zwar  auf  letztere  auch  dann,  wenn  sie  die  Roh-  und  Hilfs- 
stoffe selbst  be,rli.itTen,  und  auch  für  die  Zeit,  während  welcher  sie  vorübergebend 
fttr  eigene  Rechnung  arbeiten. 

Dnrch  Beichlnfs  det  Bnndesiats  kann  bestimmt  werden, 
1.  dafs  nnd  inwieweit  Geweibetrribende.  in  deren  Auftrag  und  filr  deren 
Rechauag  von  Hansgeweibetreibenden  (Abt.  i  Ziffer  a)  gearbeitet  wird, 
gehalten  sein  sollen,  rttdcsichtlich  der  Hausgewerbetreibenden  und  ihrer 
Gehilfen,  Gesellen  und  Lehrlinge  die  in  diesem  Gesetze  den  Arbeitgebern 
auferle;jten  Verp(li<  lit>inf;en  zu  erftillrn. 
3.  dji\\  UH'I  inwieweit  ( iewerlietreibende,  in  deren  Auftrage  Zwi^.rhenpTsnnen 
(Ausgeber,  Faktoren,  Zwischenmeister  etc.;  gewerbliche  Erzeugnisse  her- 
lteilen oder  bcariieiten  lassen,  gehalten  sein  sollen,  rflcksidatlich  der  von 
den  Zwiachenpenonen  hierbei  beichlfligtcn  Hanigewerbelreibenden  (Abs.  1 
Zi0ier  a)  and  deren  Gehilfen,  Geaellcn  nnd  Lehrlinge  die  in  diesem  G«> 
leiae  den  Axbeitgebem  auferlegten  VerpSiehtnafen  in  erfllllen. 


190 


Gnctzgebung:  Deutsches  Reich. 


3.  I  .'hn   ixlrr  ("»riuill   ^^rlim  aui  h  Tantiim-  ri  m  l  Naturalbezüge.  Für 

dir>rlli<ii  wi  ll  iIt  1  »ur.  h^i  liiiifTswi  rt  in  An^aU  gebracht,  th»—er  Wert  wird  Ton  der 
aittercn  V'cr\valtuiijjsb<  li<irilt  fr^tjjoclzl.  • 

Eine  Beschiftigun];,  für  velche  «Is  Ent|;elt  nur  freier  Unterhalt  gewährt  wiri 
gilt  im  Sianc  dieses  GeseCses  nicht  als  eine  die  VenichcnafiBplIkht  bcgtttuknde 
Bescbiftignng. 

j$  4.  Durch  Beschluis  des  Bundesrats  wird  bestimmt^  inwieweit  Torttber- 
gcbende  Dienstletstongen  als  versicherungspflichtige  Bescbiftigwig  in  Sinne  dieses 

GeselZ'  s  nicht  anzuselif-n  >iiKi. 

1  >t  r  Ituiulosrat  i»{  hrliij^!.  /u  hrstminien,  (ial>  Auslatulrr,  wrUhen  der  Aufent- 
halt im  Inlüiulr  nur  l'iir  «-in<-  l>c-tiinn)tc  l>auer  behördlich  gestattet  ist  und  die  nach 
Ablauf  dieser  Zeit  in  das  Ausland  zurückkehren  müssen,  der  Ven>icberuQgspflicht 
nicht  unterliegen.  Sofern  eine  solche  Bestimmung  getiofTen  wird,  haben  Arbeitgeber, 
welche  solche  Ansiinder  beschiftigen,  nach  niherer  Bestimmung  des  Reiclis-Ver> 
sicherungiamts  denjenigen  Betrag  an  die  Versicherungsanstalt  zu  zahlen,  den  sie  fllr 
die  Verstchentng  der  Ausländer  aus  eigenen  Mitteln  wUrden  entrichten  mBssen  (§  ij 
Abs.  31,  wenn  dert-n  \'ersii  hfrunf^spflicht  bestände. 

sj  >.  I'.i-iinite  lies  kru'lis,  der  Huntlesstaaten  und  iler  Koniniun.ilvi  rbände  sowie 
Leluf-r  und  l-.r/.iolu  r  an  lUentlu  hcn  .Vhulen  oder  .\nstalten  unt<  fliegen  der  Wr- 
:>icherung>pfUchl  nicht,  !>olange  sie  lediglich  zur  Au.sbildung  lur  ihren  zukunlttgen 
Beruf  beschiftigt  werden  oder  sofern  ihnen  eine  Anwartschaft  auf  Pension  im 
Mindestbetrage  der  Invalidenrente  nach  den  Sätxen  der  ersten  Lohnklasse  gewShir- 
leistct  ist 

Beamte  der  Versicherungsanstalten  und  zugelassenen  besonderen  Kasseneinrich« 
tungcn  unterliegen  der  Versicherunj,'s]>flii'ht  nicht,  sfif^-m  ihnen  eine  Anwartschaft  auf 

Pension  in  der  im  Abs.  i  Jx  't-ichnrtfn  \]  <}\r  1  evvalirl'-i-t.-t  i..t. 

Der  VersicluTungspdi«  tit  tintt  rli'-p-  n  Irrii'-r  nii  ht  IVr-oiK  n,  wejrlic  l  ntrrricht 
gegen  Entgelt  erteilen,  sulern  dies  während  ihrer  wiüscni>cliattlicheu  Ausbildung  für 
ihren  zukünftigen  Lebensberuf  geschieht,  Personen  des  Soldatenstandes,  welche  dienst» 
lieh  als  Arbeiter  beschäftigt  werden,  sowie  Personen,  welchen  auf  Grund  der  reichar 
gesetzlichen  Bestimmungen  eine  Invalidenrente  bewÜUgt  ist 

Der  Versicherangspflicht  unterliegen  endlich  nicht  diejenigen  Personal,  derep 
Erwerb&rähigkeit  info1;:e  von  Alter,  Krankheit  oder  anderen  Gebrechen  dauernd  auf 
wenij:cr  als  ein  Drittel  herabjjesetrt  ist.  Dies  ist  dann  anzunehmen,  wenn  sie  nicht 
nuhr  imstande  sind,  durch  rin-  iliren  Kräften  und  Fähigkeiten  entsprechende  1  hälig- 
keit,  die  ihnen  unter  billiger  IkrucksKlitiguni^  ihrer  Ausbildung  und  ihres  bisherigen 
Berufs  zugemutet  werden  kaiui,  ein  Drittel  desjenigen  zu  erwerben,  was  körperlich 
und  geistig  ge^nnde  Persmien  derselben  Art  mit  Ihnlicher  Ausbildung  in  dersdbea 
Gegend  durch  Arbeit  su  verdienen  pflegen. 

§  6.  Auf  ihren  Antrag  sind  von  der  Versicherangspflicht  zu  befreien  Per« 
s<^>nen,  welchen  vom  Reiche,  von  einem  Bundesstaat,  einem  Kommunalverband, 
einer  Versicherungsanstalt  oder  zugelassenen  besonderen  Kassencinrichttinj;  oder 
Welchen  aul  (  irund  trüberer  P>  «^chaltigung  als  Lehrer  cnler  !  r/ieher  an  otientlichen 
Schulen  oder  Anstalten  i'cusioncn,  Wartcgcldcr  oder  ähnliche  ISezügc  im  Mindest- 


^  ij .  .-Lo  Ly  Google 


Invalidenvcnicheiuiigsgrscti  vom  13.  Jnli  1899. 


»9.« 


betrage  der  iDvalidrnrrntr  nacb  den  Sätzen  (Irr  rntcn  Lohnklasso  bewilligt  sind, 
o<lcr  welchen  aut  <jruncl  clrr  reiohsjjesctzlichen  Brstinimungfn  über  riilAllv<  rsichcnmg 
der  Bezug  einer  ährlichen  Rente  von  mindestens  «lemsclbi  11  I'.rtragf  zusteht.  I>asse1be 
gilt  von  solchen  Personen,  welche  das  siebcn/.igstr  l,t:l)cns.jahr  vollendet  haben, 
l'rber  deo  Antrag  entscheidet  die  untere  Verwaltungnbcburde  des  Beschäftigungsorts. 
Gegen  den  Bescheid  derselben  ist  die  Beschwerde  an  die  zonftdiit  ▼orgesetate  Be- 
hörde anllssig,  welche  endgültig  cnbcheidet.  Bei  Zurftcknalune  des  Antrags  tritt  die 
Vertichemngspflicht  wieder  in  Kraft. 

In  der  gleichen  Weise  sind  auf  ihren  Antrag  von  der  VerüchemngspAicht  au 
befreien  Personen,  weldic  Lohnarbeit  im  Laufe  eines  Kalenderjahres  nnr  in  be* 

stimmten  Jahreszeiten  fUr  nicht  mehr  als  zwölf  Wochen  oder  überhaupt  fiir  nicht 
mehr  als  fünf/i^  Tag«-  iibernehnicii,  im  iibri},'«-n  ab»-r  ihrm  I  rbt-nsuntcrhalt  als  Bc- 
triebsuTitcni' Inner  'nler  anderw^-ii  5tll»»tantiig  i-rwi-rben,  cnler  uhii'-  1  .ohn  oder  Gehalt 
thiitig  sumI,  so  lange  für  dieselben  nicht  bereits  einhundert  VVmhen  lang  Beiträge 
entrichtet  worden  sind.  Der  Bundesrat  ist  befugt,  hierftber  nähere  Bestimmungen  ux 
erlassen. 

7.  Durch  Bescblufs  des  Bimdesnits  kann  auf  Antrag  bestimmt  werden, 
dafs  und  inwieweit  die  Be^mmungen  des  §  5  Abs.  I  bis  3  und  des  §  6  Abs.  i 
auf  Beamte,  welche  von  anderen  öfTentliehen  Verbfinden  oder  von  Körperschaften 
ai^estellt  sind,  sowie  auf  Lehrer  und  Enieher  an  nicht  öfientüchen  Schulen  oder 
Anstalten,  sofern  diesen  Prr«,onen  eine  Anwartschaft  auf  Pension  im  Mindest  betrage 
der  Invalidenrente  nach  den  Sätzen  der  ersten  I.ohnkhisvr  fjewiihrlejKfrt  ist,  und  auf 
Personen  Anwendvinj^  finden  sollen,  welche!»  auf  Grutul  Irviherer  Aii'-Ielluii^  l>ei  solcheji 
\  c  rbaiuUii  ndcr  kurperschaftcn,  .N,  hulen  »xlcr  .Anstalten  Pensionen,  Warlegelder  oder 
ähnliche  ßczu^e  in  dem  genannten  Mindestbctra;:'   der  Invalidenrente  bewilligt  sind. 

i5  S.  I  Bcsiintit  r>  Kas-eii'  iTiru  litiiugeti.)  V'ersK herungsptla hligc  Personen,  welche 
in  Betrieben  des  Reichs,  eine?.  Bundesstaats  oder  eines  Kummunalvcrbandes  bescbäf» 
tigt  werden,  genügen  der  geseulidiett  VeniAerungspflicht  durch  Beteiligung  an  einer 
für  den  betreffenden  Betrieb  bestehenden  oder  zu  errichtenden  besonderen  Kassen- 
rinrichtung,  durch  welche  ihnen  eine  den  reichsgesetdidi  vorgesdiencn  Leistaagen 
gleichwertige  Fdrsorge  gesichert  ist,  sofern  bei  der  betreffenden  .Kaaseneinrichtnag 
folgende  VonnsMtningcn  zutreffen: 

I.  Die  fieitriige  der  Versicherten  dürfen,  soweit  sie  nir  die  Invalidenversiche- 
nmg  in  Hohe  des  reirhsgesetzlichcn  .\ns|)ruchs  entrichtet  werden ,  die 
lliilfte  des  für  den  letzteren  nach  J;  ;2  r.n  erhebenden  Beitrags  nicht  über- 
steigen. Diese  Bestimmung  tindet  keine  Auwcuilung,  sofern  in  iler  bc- 
treffenden  Kasseneinrichtung  die  Beiträge  nach  einem  von  der  Berechnungs» 
weise  der  32,  33  abweichenden  Verfahren  aufgebracht  und  infolge- 
dessen höhere  Beitiige  erforderlich  werden,  tun  die  der  Kassenetnricbtung 
ans  Invaliden-  und  Altersrenten  in  Hähe  des  reichsgesetzliehen  Ansprachs 
obli^enden  Leistungen  zu  decken.  Sofeni  hiernach  höhere  Beiträge  m 
erheben  sind,  dürfen  die  Beiträge  der  Ver»tcberten  diejenigen  der  Ariieit* 
geber  nicht  ubersteigen. 


192 


G««eUg<buiig :  0«at«ch«s  Reich. 


2.  B<i  der  Verwaltung  der  KasN^n  miissrn  die  VersichertcB  mindesten*  Qadl 
Malsf^a!)»'  I?'"-.  \'<-rli:iltni>M-^  ilir- r  Hriträgr  zu  d»"n  Britnigea  der  Arbeitgeber 
durch  in  grluMinfr  Wahl  grwähhr  \>rtr«*t<T  br^t'-ili<^t  s«-in 

3.  Bei  Berechnung  drr  Wart^-z'-it  und  drr  R<-ntr  ist  drn  b^i  solch»-n  Ka»sen- 
einrichtungen  beteilij^tcn  Per^oucn,  soweit  a  tticb  um  das  Maü  des  reichs- 
gcsetzUchen  Anspruch«  handelt,  nnbeschmdet  der  Besthnmong  des  §  46  die 
bei  VersichenmgMnstaltcn  (§  65)  sorttckgelegte  Beitragsieit  in  Anrectomg 
in  bringen. 

4.  Ueber  den  Anspruch  der  einzelnen  ßr?t(?ili|,;ten  auf  G<*währung  von  bivft- 
liden-  und  Altersrente  muls  ein  st-hied>t;ericbtlich<*s  X'erüshrea  unter  Mit» 
wirkunjj  von  Vertretern  drr  \'<"r.%icherten  /.ufjclassen  sein 

5.  WVnn  liir  die  Gewährung  der  reiolisgi-srtzlirhrn  Lfutunj^rn  L>.^<md>Tc 
Beitrage  von  den  Versicherten  erhoben  werden  oder  eine  iLrhobun|j  der 
Beitrtge  derselben  Angetreten  ist  oder  eintritt,  so  dflrfdi  die  leichs» 
gesctslichen  Renten  «nf  die  sonstigen  KMsenleistnngen  aar  intoveü 
gerechnet  werden,  dnfs  der  nur  Aussshlnng  gelangende  Teil  der  letsteicn 
fUr  die  einzelnen  Mitgliederklassen  im  Dniebschnitte  mindestens  den  Reich»» 
snschnfs  erreicht. 

Der  Bundesrat  bestimmt  auf  Antrag  der  zuständigen  Reichs-,  Staat»-  oder 
Komraunalbehord«-  wrl.'h<-  Kassenrinrichtungen  1  Pcniion!.-,  Alters  ,  InvalidenkasM-n) 
den  vorstehenden  Anlordcrungen  entsprechen.  Den  vom  Hund^'sr.it  an^-rkannten 
Kassencinrichtungen  dieser  An  wird  zu  den  von  ihnen  zu  lei5teud<n  Invali  l-Mi-  und 
Alterkrcnleu  der  Kcicb»£u^huU  ^§  35/  gewiUtrt.  Metern  ein  Anspruch  aut  solche 
Renten  anch  nach  den  reich  sge$etslichen  Bestimmungen  bestehen  würde. 

§  9.  Vom  I.  Januar  1891  ab  wird  die  Beteiligung  bei  solchen  wm  Bundes- 
tale angelassenen  Kasseneinricbtungen  der  Versieberang  in  einer  Versicherungsanstalt 
gleich  geachtet 

Wenn  bei  «ner  solchen  Kasseneinrichtung  die  Beiträge  nicht  in  der  nach 
§§  130  ff.  vorgeschriebenen  Form  erhoben  werden,  hat  der  Vorstand  der  Kassen» 

einrichtung  den  aus  der  letzteren  ausscheidendrn  Personen  di^  Dauer  ihrer  Be- 
teiligung und  l\  r  'li'-sen  Zeitraum  tii'-  Hohe  ilcs  bezogenen  Lohnes,  die  Zugehorig- 
kfit  zu  einer  Kruiikciikass«'  sowie  die  l>aufr  etwaiger  Krankheiten  55  30 1  zu  be- 
scheinigen. Der  Bundesrat  ist  belügt,  über  Form  und  lohalt  der  Bescheinigung  Vor- 
schriften zu  erlassen. 

$  10.  Durch  Bt  -»chluls  des  Hund-  srat^  kann  auf  Antrag  bestimmt  werden,  dals 
die  Bestimmungen  der  §§  5,  6  aut  Mitglieder  anderer  Kaiiscneinrichtungeu,  welche 
die  FOnofge  flir  den  Fall  der  Invaliditit  und  des  Alten  snm  Gegenstand  haben, 
Anwendung  finden  soll. 

§  11.  Durd)  Beschlttfs  des  Bundesrats  kann  der  auf  Grund  des  Gesetses  vom 
13.  Juli  1887  (Reichs-Gesetzbl.  S.  339)  errichteten  See-Berafsgenossenschaft  gestattet 
werden,  unter  ihrer  Haftung  eine  besondere  Einrichtung  zu  dem  Zwedte  sn  be» 
grflnden,  die  Invalidenversicherung  nach  Mafsgabc  dieses  Gesetzes  für  diejenigen 
Personen  zn  flbemehmcn,  welche  in  den  cor  Genossenschaft  gehörenden  Betrieben 


invalidcnvcr3ich<Tui)g<>ge»cU  vom  13.  Juli  1899. 


193 


oder  einselnea  Atten  dieser  Betriebe  beach&fUgt  werden,  sowie  fOr  diejenigen  Unter« 
nebner,  welche  gleidixeitig  der  Un&Uversicherung  und  der  .InTmlidettversichenuig 

untf  rliffjen.  Eine  iolclir  Einrichtunf:  <!  irf  jcdocb  nor  gestattet  werden,  w^nn  für  die 
Hintcrbli'-lu  non  «Icr  darin  ^'t-rsichcrien  P  rs'>n«*n  von  d-r  r,rn,)v>i?nschaft  zugleioh 
eino  Witwen-  und  Waisr-nvt'rsorgunc  hi-gruii  l'-t  wird.  \\>rd>'n  soliln«  Finrirhtimgen 
gctrofTen,  so  sind  in  denselben  diejenigen  rcr»onen,  lür  weiclie  sie  bestimmt  sind, 
krail  Gcsrtics  versichert. 

Werden  die  Versidierten  zu  Beiträgen  herangezogen,  so  sind  dieselben  in 
gleicher  Weise  wie  die  Arbeitgeber  bei  der  Verwaltung  m  beteiligen. 

Der  Teil  der  Beitrige,  weldier  auf  die  Arbeitgeber  entfElU,  darf  im  Dvrdi* 
schnitte  nicht  niedriger  sein  ab  die  Hälfte  der  BeitrSge,  welche  anf  Gmnd  dieses 
Gesetaes  (§  3»)  ra  zahlen  sind.  Di«  Beiträge  der  Venieheiten  dürfen  nidit  höher 
sein  ab  die  der  Arbeitgeber. 

Werden  die  Beiträg.-  der  Versicherten  ahpfsluft,  SO  sind  auch  die  Renten  fllr 
die  ninlcrblii-l«-nen  im  jjleicli.-n  \^•rh.Hltni^  abjEU^tufcn. 

r)ie  Wartezeit  darf  werier  für  di  ■  Inv.ilidenversirherung  noch  für  die  Witwen» 
und  W.itsrnversnr^junij  hoher  bemessen  w-  rd 'ii    ;iK  im  i;  2n  vnrgesclien  ist. 

Den  Versicherten  imifs.  wenn  r^ie  xeitwcilii;  aut  ausl.-mdiNchen  Schiffen  Be- 
!>chäitigung  nehmen,  ihre  Familien  aber  in  Deulächlsind  verbleiben,  oder  wenn  sie 
aus  andwen  Grftiden  aus  der  versidiemngspflichtigen  Beschäftigung  ausscheiden,  die 
Weberventdierung  gcn&fs  den  Bestimmungen  dieses  Gesetses  nicht  nur  hinsichtlich 
der  liivalidenTersichening,  sondern  auch  in  Bezug  auf  die  Witwen»  und  Waisen- 
venoffgung  gestattet  sein. 

§  13.  Auf  die  hn  9  11  beieichneten  Einrichtungen  finden  die  Bestimmungen 
der  $}  8,  9  entsprechende  Anwendung;  sie  unterliegen  der  Beaufsiditigvng  durch 
das  Rcichs-Versichemn^amt  nach  Mafsgabe  der  §g  108  bis  1 10  dieses  f'.esetzes. 

Die  für  die  UnfiUlversicherung  errichteten  Schiedsgerichte  sind  auch  für  die 
von  der  See-Berufsgenassensrhaft  iihemommen-  Invaliden\ ersichening,  sowie  für  die 
von  ihr  eingerichtete  Witw-  n-  und  Waisenver>or^ung  zustandig. 

§  13.  Beschlü^-'-  der  Geno>senschaft  durch  welche  die  im  ?j  1  I  h'V..>i -hnct -n 
Finrichtunf;en  getrolTeii  werden,  die  hierfür  erlassenen  M.ituten  un<i  d.-r.n  Abände- 
rungen bedürfen  der  ( jeiiehmigung  des  Bundesrats.  Der  Bundesrat  bcschlielst,  nach- 
dem zuvor  die  im  §  91  des  Gesetzes  vom  ij.  Juli  1SS7  beseichneten,  fttr  die  Ver- 
ridieiten  berufenen  Beisitxer  der  Schiedsgerichte  gehört  worden  sind. 

Der  Bundesrat  bestimmt  den  Zeitpunkt,  mit  welchem  die  Einrichtung  in  Wirk> 
mmkeit  tritt. 

9  14.  (Freiwillige  Versicherung.)  Folgende  Personen  sind  befugt,  freiwillig  in 
die  Versicherung  einautreten,  so  lange  sie  das  viersigste  Lebensjahr  nicht  vollendet 
haben  (Sclbstversicherung)  t 

I.  Betriebsbeamte,  Werkmeister,  Techniker,  Handlung'  ^^ehilt  n  und  sonstige 
Angestellte,  deren  dienstliche  Beschäftigung  ihren  Hauptberuf  bild  -t,  ferner 
Lehrer  und  Erzieher  sowie  Schiffsfltlirer.  sämtlich  sofern  ihr  regelmäfsigcr 
Archiv  für  v».  (iMUgebmg  u.  Siatiftik.  XV.  <3 


L.ivjM^L,j  L,y  Google 


J«)irrsarl>rits%-cr<lif  nM  an  l.uhii  iMjrr  (irlalt  ni<-hr        twritans^nd  Mark, 

!it    :i'-  r  «!i<-:t.u>.cn<l  Mi'rk  hrtrayt; 
2-    ( i. -A  ■ -1  ■      i!  -  i,.;.-   iiml      iii-'i'^'.-  r.'-tr'- !''.mit<-rn' Innrr.    u. :\\r\,t  r<<'.-l. 
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>i  '\\  ii    I  i.u.-t;>  \v.  rli.  tr- ili'Hii.',    ■•iiniliu  ii   mav- it   iitrhl   <Iur«  h   Brx  hluN  des 
l'.iiinlt'-r..t»   5;  j  At>*.  I   ilie  Wr^tHierunfj'piljrht  auf  Mir  »•r'.tr«'ckl  wurden  ist; 
,V  lVr*i>n<-n.  wich«*  aut  iirand  «Irs  ^  j  Al*s.  2  uml  $  4  Ab*.  1  der  Wr» 
skh«-rui)):v|itlK-|)t  nicht  untcrlir;:fn. 
l>i«-sr  IVrMjncn  sind  trmrr  bt-m-laißi.  lirim  Au<>s<'hci«lrn  au'«  drm  di«  Hrrrrbti^jung 
wr  >«'ll»*t\«*r'»irlii'runj;  t>c};Tun«lcsidcn  Vi'rhältni-»!»*  die  S<'ll««.t%'rrMt'h«»runjj  fi>rt«ao<i/«rn 
und  nach  di>n  Hr<>itn)mun;;i'n  «Iv«  ^  4(1  zu  «rnfucrti. 

IVrMtn'ii,  w.  li  h<'  :iii>  «'in^-m  ili<-  N'-  r-i.  }iriim^v|,;Ih  lit  ln'},'ri;ni)>  init  n  \  .  tlulTtiix 
ai  "!  In  iilrii.  >iinl  !h  iu;;t.  «Ii«'  Wf-icli«  run^  lr>'i\villij;  fiiruuM-t£<-n  «wK-r  la  cm<  urrii 
(\\  ■  u>  rv.  r»ii  hi-rui;^;  >. 

I>ie  in  IMri»'lirn,  Olr  wrlclu»  eint  lM>!.*Hitlrr»'  Ka«-»<rncinrirl»ti.:i^  S,  10.  il, 
<>rnr|itvt  ist.  lif-rhällijrtrn  IVr^mcn  tler  im  Alx.  i  /itTrr  1  bis  3  Ix'tviclinrtm  Art 
>ind  h«'r«'cliti;»t,  -»ich  bi'i  tlcr  Kaü'w'nfinricbtun;;  lr«'iwilli}»  «u  v«"r>ich«"m  (Al»8.  I ». 
l)ie  in  stdch<*n  Mctrirlirn  bc>>cliälti):l«'n  vrrsicbvrunysiitbi'htij»rn  IVrsunon  sind  f«rrni*r 
b«-im  Aus^ch'•il!<  II  ,(u>  «lern  tlic  \Vr!«ir|n'run;;<-jilliclit  b«  ;:rünilfnd«*n  Arbeits»  odrr 
I    •!  • , .  '  li.  tu^t.  -iih  l"'i  der  bf-omlcron  Ka'.>«"n<  iiiru  litim^'  'Vfitor  r.u  v.t- 

Mi  Im  ni    A'i-,   -I.   M>   li'u:'-   vj.-   >\iclil  «liucli  «-in      u      ArhcitN-  o<l- r   ! •  rli.iltn 
l>.  I    1  iii>  r   .iiiil-  rrii  b> •  •  n  K.i'-^i-ni  iiiru  liUiti:;  uilcr         vm.-T  \  rr-i'  !i' ruii^-..iii»lalt 
vor>u  hl  ruii^-j':!u  htij;  \vortl<  ii.    >i)  l.in^<  du-  Vorau<>ftzun^»'n  liir  di«'  (rfiwiUij;e  \Vr- 
sichcrung  bei  einer  btf»ondtTrn  Ka»M'ntrinnrti1un;;  };f;:<-lten  »imi.  findet  die  freiwillige 
VerMchcrunu  b«'i  ein«*r  Ver>irhcrunij'.an>taU  nicht  statt. 

§  15.  KfC^T'-nätand  der  Ver>icherung.  I  (le^en^ttund  der  V<-rMrb(*nmg  ist  der  An* 
Spruch  auf  GfWährung  einer  Rente  fllr  den  Fall  )ler  £r\ivrbsunlalii{;keit  oder  des 
Mut- 

iirt  ".t-    .  rli'ilt  islu'c-  IC';.  .i'.:t  -I.is  I .t-bon5;ilttT  <Jfrii'ni\''^  Vt'r^irhfrt<\ 

W'-l'l.c!  Uli  Mfnic  >1<  >  ji  ;  AI  -  4  'l,ii;.-ti;.l  i w  r r  1  «^iinfähijj  i-t.  l-iii-'  <;'ir>  !i  t  iin'ii 
L  iuall  luTli<  ;j;rluJiil<-  l.rwt  rbsuiii.diijiki  u  ix  jjiuiiui  i  unlH:j«ch  ub-t  d«"r  V«)r.M  lirilt»  »  des 
{$113  den  .\ns)>ruch  auf  Invalidenrente  nur  insoweit,  als  die  zu  }!ewährende  Inv-aliilen» 
rillte  die  gewährte  L'nfallrente  äber.»tri|;t. 

Altersrente  erhält  ohne  Kücksidit  auf  da»  Vorhandensein  von  Erwerbsunfähig« 
keit  derM-ni];e  Ver^icherte,  welcher  da«  5ieben/.i};vte  Lebcn-'iahr  vollendet  hat. 

16.    Invalideurrnf.      \].-a\:    .iuch  dervnipe  nicht  dauennl  «"ruc-rWinfähiije 
\'.  rvu  !;■:!'■ .    '.v.-li  h<T  -i  i  Ii -uiul/\v.vn,"L:   \N'  n  )u-n    »iiuintftlir' »rlu-n  erwerbs« 

unlaliii;  iji-u  i-scTi  ist.  liu  a  .  tti  r>-  I».i',i<i      i:i.r  l.r  w  t-rb^ui:1 u' 

^  17.  1  ><-m  V»T»i«  it.  rt.  !i  vtclit  cm  Aii^j  lu.  Ii  ;iul  Itiv.ili'i' lU'-titc  iiiilit  /u.  « .  nn 
er  die  Erwerbsunl;ibij:kfit  vor-ui/lx  Ji  ht-rbt  if^i  lührt  bat.  I>ir  I irnähraiig  der  Rente 
kann  gan^  oder  tcilwei>e  vi'r-.agt  werden,  wenn  der  \'er>icherte  <lie  Erwerbsunfähig* 
keit  bei  Itegehung  eines  durch  strafgerichlliches  Urteil  fe<.tße«,tellten  Verbrechens 
Oller  vorsät/lichen  Vergehen*  «ich  /ugeiogen  hat.  In  Fällen  der  let£teren  Art  kann 
die  Rente,  sofern  der  Vcr>icherte  eine  im  Inlaiide  wuhm-nde  Familie  besitzt,  deren 


Invaliden vrrsichcnitigsKcsetz  vom  15.  Juli  1899. 


I  vit'  '  h  <  r  hi>h<fr  ans  seinpm  Arbeitsverdienstr  bestritten  hat,  ganz  oder  teilweise 

der  F.iiiiilic  überwiesen  werden. 

^  iS.    Ist  flH  Vi-rsifherter  «lorfjotalt  erkrankt,  dafs  als  Vo]^c  ikr  Kranklicit 

Fr\v.-rli^inir:ili--^-k«'i;  r,i  b.--iir}^.-n  ist.  w.  Ii  h-*  «-iiKTi  Anspnjrh  auf"  1  ■  i  Itsj^.-v, '/liclic  Iii- 
v.ili'!'-::"li'.'-  l"-^'r  ;inl' t.  -o  r~t  i]i<-  \'i  r 'i. ri  >Mlt  b<  tilLjt.  /,Ut  Aliwcnduii},'  dio-fs 
.N;uhtfil>  ein  Heilvcrlalircii  m  cUin  ilir  grcij^tKt  tT>chciucmlcn  Unilang  ciotretcn  tu 
lassen. 

Die  Versiclicning.>«an>talt  kann  das  Heilverfahren  dnrch  Unterbringung  dei  Er- 
krankten in  einem  Krankenhaus  oder  in  einer  Anstalt  fUr  Genesende  gewähren*.  Ist 
der  Erkrankte  verheiratet  oder  hat  er  ein«  eigene  llaushaltung  oder  ist  er  Mitglied 

der  llaushültung  seiner  Familie,  >u  bolart  <-s  hierzu  .v.-tncr  Zustimmung. 

I.ä;'>t  (Hl-  ViT-ii  h'  ruit^'-.ui'Lili  .-in  1 1.  ih  -  rl.iljn  ;i  cimrft<-ti.  -a  lu-ii  hv'x  V<t- 
sii-Iit-rti-ti,  \vi  ]  Ii'  «1.  r  r- u  h-,-  in\<  :  l.inil'^L,''  -'''.'li>  li'  H  krank' tu ur^  .r^i-  iiTitcrlicfjeii, 
vi>m  r>'';,"''i''  -  I  b  iK  .  ri.iiir.  it^  an  bi;-  zu  closcn  !'.<  .  thI];^!;:»^  <!:'•  \'' i  ]/'iii  liUi!i};i-ii 

<lt-r  Krankt  iiK.i-"-.-  j;i  j;- 11  tifn  \  «  reicherten  auf  die  \Vr.sic}ii-rnn^san.>ialt  ul'i  r.  Dicker 
hat  die  Krankenkasse  Ersatz  za  leisten  in  H(»he  desjenigen  Krankengeldes,  welches 
der  Vcn>ichcrte  von  der  Krankenka«>se  für  sich  beanspruchen  konnte. 

Während  des  Heilverfahren»  i$t  ftir  solche  Angehürigen  des  Versicherten,  deren 
Unterhalt  dieser  bisher  aus  seinem  Arbeitsverdienste  bestritten  liut,  eine  Unterstützung 
auch  dann  /»i  aIi!  n.  wenn  d'-r  N  - rvit  li.-rtc  (1er  reiclis-  oder  lan(l<"ij;esH/.Iirlii-n  Kranken- 
v.-r<.( >r^\ni<;  iii  ht  uiit'-rü' f:t.  I 'i. -c  .\!i;^'cln -rii:' nr,Tit<'r-.t!it/.iinj^  l.clr:!;^'!.  sofern  i!cr  N'-t- 
su  ii'  it''  .!<  r  r>  ;i  iis-  oi'.rr  Kimli -'-l/ln  Ii' ri  K r.irii;.  ;il',ir-"r;:'-  bis  /Mm  E\:\'^Tr}U  :\  der 
\  «.•r>u iu  rüaj^.^.uwl.»U  untcrl.i^,  liu-  Hallte  di  -i  tur  ilin  waliri  n»!  der  g<->cl/.lu:in  11  Dau«  r 
der  Krankcnunterstfltzung  mafsgebend  gewesenen  Krank«  n;:<  ldes,  im  übrigen  ein 
Viertel  des  fiir  den  Ctrt  seiner  letzten  Beschäftigung  oder  seines  letzten  Aufenthalts 
matVgebenden  ortsüblichen  Tagelohns  gewöhnlicher  Tagearbeiter.  »Wenn  der  Ver- 
sicherte Invalidenrente  erhält,  kann  dieselbe  auf  die  Angehörigenunterstfltzung  an- 
gerechnet Werden. 

§  19.    Die  Versicherungsanstalt,  welche  ein  Heilverfahren  eintreten  läfst,  ist 

b'  bu'!.  dir  !•  lir- itc'-  für  den  Erkrankten  dir  Krank<'nka<(se,  welcher  «r  aiiL,"  hört 
oi'it  r  .'.uh  T/t  .ai;:'-1i'  Tt  hat.  in  d<-ni  '•ni',"'n  L'nil.mfj.'  zu  iilM-rtr.ipen,  Welchm  di  -  V<T- 
siclieruTiL'- m-t.dt  l\:r  ^.''-Imt-  n  t-r.i.  lui-t.  Wi-r-h  ii  d.idiin'h  «l-  r  K.ts^r  l,ei>tung»*n  Ar.f- 
erlej^t,  weh  hr  -il"  r  Lnil.ui^  ii<-r  vcn  ilir  >'-t/bi  h  '»der  •-tatiii.iri'-rh  /,u  b-istendi  ii 
Fürsorge  hinau«.^.  h«-n,  bo  hat  die  VersiclKruug>anstalt  die  entstehenden  .Mehiko^)teu 
zu  ersetzen.  Bestand  eine  Fiirsurgeptlicbt  der  Krankenkasse  nicht  mehr,  so  ist  ihr 
von  der  Versicherungsanstalt  bei  («cwährung  der  im  §  6  Abs.  i  ZitTcr  1  des  Kranken- 
veniichcrung<«geset/cs  bezeichneten  Leistungen  das  halbe,  bei  Unterbringung  des  Ver- 
sicherten in  ein  Krankenhaus  oder  in  eine  .\nstalt  fiir  Genesende  das  einundeinhalb- 
fache Krankengeld  zu  ersetzen,  sofern  nicht  höhere  Aufwendungen  nachgewiesen 
werden. 

§  20  Als  Krank- nkd-'cn  im  Sin,m«  der  Bc«!imn\un;t'n  in  den  §§  18,  19 
^<Au  n  ..u.h  dl.  '.iiiz'  ii  I  l:lt^ka>s.-n.  woh  Jh  di.  im  ^  75a  des  Kraukenversicherangs- 
gesel/.is  vort^'  M-lKiic  amtlich)-  Üt-sclirinigung  besitzen. 

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196 


GesetZK4*bung :  Dcuticbcs  Reich. 


§  si.  bt  die  Krankhdt,  wegen  deren  das  Heilverfahren  eingeleitet  wurde, 
auf  einen  nach  den  Keich»geseUen  Ober  Unfallvrrsicherang  tn  entschädigenden  Unfall 
snrfickxufUhren,  und  ist  durch  das  Heilverfahren  der  Eintritt  der  Rrwerbtunfthigkeit 

(§§  15,  16)  verhindert  und  zugleich  eine  Entlastung  di-s  enL'>chädigung«pflichtigea 
TrSgers  der  Unfallvt-rsichcruni:  h.  rhcij^.  führt  wordi-n,  iii.I'-m  «ü--  L'nfallrnt^chiidifjung 
ganz,  ndi-r  /11m  Teil  iiiilit  zu  bcwillij^'-n  wiir  >)il<  r  in  \\  <  tjfjiH  l; 'k' >iiitn-n  i>t  >o  hat 
die  V.  rvj,;]].  rui!^>aii-t;ih  t,"  ^;>'n  iii'->cn  I  rii^T  An-.jiru>  li  aul  Lr^^it;  ii'*r  Ku^t'-ii  de» 
Heilvcrtahrcns  m  dem  im  §  19  Sau  3  vorgesehenen  Lmlanj;e.  l.ui  hr^au  lur  Kosten 
des  Heilverfahrens,  welche  vor  dem  Beginne  der  vierzehnten  Woche  nach  dem  Unfall 
entstanden  sind,  kann  nicht  beansprucht  werden. 

Ffir  die  Ansprüche  des  Versicherten  an  den  Träger  der  Unfallversicherung  ist 
die  Uebemahmc  des  Heilverfahrens  durch  die  Versicherongsanstalt  der  Uebernahme 
durch  den  Träger  der  l'nfallvrr-iiohcniiij^  j^h  ich  ailitfn. 

§  22.  Wird  der  Vcr>irh>Ttc  infol;;e  der  Krankheit  erw  er'Diunlidiif;  >i>  kann 
ihm,   falls  i-r   sicli  den  gf-n  iil-.         ■  *^  ^  \  -r-i  Ii  riiiit^-anstalt  ^^'■•trolTen'-n 

Mat>nahmen  oliiic  gox-tj^lii  ht  n  oil.-r  son-t  trilti^^t  u  Grun  l  i  nt/.o;;.  n  hat,  di--  Invalidr-n- 
rente  auf  Zeit  ganz  oder  teilweise  versagt  werden,  Metern  er  auf  dioc  l  olgcn  hin- 
gewiesen worden  ist  und  nachgewiesen  wird,  dafs  die  ErwerbsunHihigkeit  durch 
sein  Verhaken  veranlafst  ist. 

§  23.  Strdtigkeiten,  welche  aus  den  Bestimmungen  in  den  §$18  bis  ao,  22, 
zwischen  den  Versicherungsanstalten  and  den  Versicherten  entstehen,  werden,  sow -it 
sie  nicht  bei  der  Rentenfeststellung  zum  Austrage  gelangen,  von  der  Aufsichtsbehörde 
der  ViTsicherungsanstalt<  n  <'nt>chied.  n 

Streitigkeiten,    wiche    au>    den    1». -timnr.infj^-n    111    d.  n   jij;    iS  20.  22 

zwischen  den  Versichcrung.-aiistallen  und  den  Krankenkassen  entstehen  wi-rden,  »ofem 
es  sich  um  die  Geltendmachung  der  den  Versicherungsanstalten  emj^eiaumten  Befug- 
nisse handelt^  wa  der  Aufsichtsbehörde  der  beteiligten  Krankenkasse,  sofern  es  sich 
aber  um  Ersatxansprfiche  handelt,  im  Verwaltungsstreitverfahrm  oder,  wo  ein  solches 
akht  besteht,  ebenfalls  durch  die  Aufsichtsbdiürde  der  beteiligten  Krankenkasse  ent- 
schieden. Die  Entscheidung  dieser  Aufüichtsheliörde  ist  im  ersteren  Falle  endgültig; 
im  letzteren  I-alle  kann  »ie  innerhalb  eines  Monats  na^  Ii  ]■  r  Zustellung  im  Wege 
des  Rekurses  nacli  Mafsgabe  der       20,  21  der  Gewerbeordnung  angi^fochten  werden« 

Streitigkeiten  über  Frsatzanspruche  in  den  Fallen  de*  ^  21  werden  durch  das 
Reichs-Vcriicherungsanit  cnt>chieden. 

§  24.  Durch  statutarische  Bestimmung  einer  Gemeinde  (Ur  ihren  Bezirfc  oder 
eines  weiteren  Kommunalverbandes  (Ur  seinen  Bezirk  oder  Teile  desselben  kann, 
aofeiB  daselbst  nach  Herkommen  der  Lohn  der  in  land«  oder  forstwirtschafUicben 
Betrieben  beschäftigten  Arbeiter  ganz  oder  zum  Teil  in  Form  von  Naturallei'^ttingen 
gewährt  wird,  bestimmt  werden,  dafs  denjenigen  in  diesem  I'.e/irke  wohnenden 
kentenempHing  rn,  welche  inn.-rl-.alb  iless.-lben  als  Arbeiter  in  land-  und  forstwirt- 
sclialtliclun  l"lticb<n  ihren  Lohn  nl  r  («  halt  ganz  i)der  /.um  Teil  in  Fomi  von 
Naturalleistungen  bezogen  haben,  aucli  die  Rente  bis  zu  zwei  Dritteln  ihres  Betrage» 
in  dieser  Form  gewährt  wird.  Der  Wert  der  Katuralleistuigen  wird  nach  Durch» 
Schnittspreisen  in  Ansatz  gebracht   Dieselben  werden  von  der  höheren  Verwaltnngs- 


Invalidcnversichening&gescU  vom  ij.  Juli  1899. 


197 


bchördc  festgesetzt.  Die  stfttotarischc  Bestinmnng  bedarf  der  Genelimigaiig  der 
höherrn  Verwaltnngsbeh&tde. 

Solchen  rersoneB,  weldieii  wegen  gewoltnheUsmifsiger  Tmnksadit  nach  An» 
Ordnung  der  znstänüigrn  Brhörde  g<istipr  GftrSnkr  in  offrntlichrn  fk-hankstättcn 
nicht  V«  rabtVilpt  wi-nlcn  ilürfen,  ist  die  Rente  in  dcrjcni^,-!  n  Gemeinde,  für  deren 
Be/.irk  -  int  >oUlu-  Aiii  rdnun^  pf  ?roff''n  worden  ist.  auch  ohne  dal's  die  Voraus- 
i>et/.iin(:<'n  des  Abs.  i  vorliegen,  ihrem  vullea  Betrage  nach  in  NaturallcLstuiigen  tu 
gewaiiren. 

Per  Anspruch  auf  du*  Rente  geht  an  demjenigen  Betrag,  in  welchem  Nataral« 
letsiongen  gewahrt  werden,  auf  den  Konunonalverband,  ttar  dessen  Bezirk  eine  solche 
Bestimmung  getroiTett  ist,  über,  wogegen  diesem  die  Leistung  der  Naturalien  obliegt 
D<-m  Bezu};sberechtigten ,  auf  welchen  vorstehende  Bestimmungen  Anwendung 
finden  »ollrn.  i^t  dies  von  dem  Komnuinalverbonde  mitzuteilen. 

n.  r  ^^■/ut,'^l^erec^^it:;te  ist  Vi.  hiyt,  l>inn»-n  zwei  Wochen  nach  d<  r  /n  ^  llung 
dieser  Mitti  ihin^  dir  F.iit^t  iieidunj;  der  Koniinun.il- \i!f>.icht>beli< ird.  ;nizurutcn.  Auf 
demselben  We^e  werden  all'-  übripen  Streiti;;keiten  entschieden,  \v<  1»  lie  aii>  der  An- 
wendung dieser  Bestimmungen  zwischen  dem  Bezugsberechtigten  und  dem  Kommunal- 
verband  entstehen. 

Sobald  der  l'ebergang  des  Anspruchs  auf  Rente  endgQltig  feststeht,  imt  auf 
Antrag  des  Kommnnalverbandes  der  Vorstand  der  Versicherungsanstalt  die  Postrer^ 
waltung  hiervon  rechtzeitig  in  Kenntnis  zu  setzen. 

$  25.  Auf  Grund  statutarischer  Bestimmung  der  Versicherungsanstalt  kann 
der  Vorstand  einem  Kenten,  inpllintier  auf  seinen  Antrag  an  Stelle  der  Rente  Auf- 
nahme in  f  in  Invalidenhaus  oder  in  iihnlicht  von  Dritten  unterhaltene  Anstalten  auf 
Kosten  der  Ver^icherunj^isan-talt  ^'ew iilir-  n.  Der  \iit;;«  iioiiiMu-ne  iM  auf  ein  Vierlcl- 
jalir  lind,  wenn  er  di«  {"rklriruii^  nu  iit  einen  Mmiitt  vor  Ablauf  <!irs,  >  Zeitraums 
zurutknininU,  jedesmal  auf  ein  weiteres  \  iorteljahr  an  den  Verzicht  auf  die  Rente 
gebunden. 

^  26.  Ut  der  Berechtigte  ein  Ausländer,  so  kann  er,  falls  er  seinen  Wohnsitz 
im  Deutschen  Reich  aufgiebt,  mit  dem  dreifachen  Betrage  der  Jahresrente  abgefunden 
werden.  Durch  Beschlufs  des  Bundesrats  kann  diese  Bestinunuag  ftlr  bestimmte 
Grenzgebiete  oder  fUr  die  Angehtirigen  solcher  auswirUgen  Staaten,  durch  deren 

Gesetzgebung  deutsclun  Arbeiten!  eine  enf^f  r-  <  hendc  Fürsor^ic  für  d<?n  Fall  der  Er^ 
werbsunfahigkeit  oder  des  Alters  gewährleistet  ist,  aufscr  Kraft  gesetzt  werden. 

47.  (Aufbringung  d«r  Mittel.)  Die  Mittel  tur  Gewährung  der  in  diesem 
Gesetze  vor^resehenen  T.ristuncen  Werden  Tom  Reiche,  von  den  Arbeitgebern  und 
▼on  ili-n  Vrr'i!r!'..-rf'Ti  .ntf^,'i"!'r.i.lii_ 

L>ie  Aull  riii;:uii;:  'Irr  Mut.  i  .  rtMli^t  s>  it.tis  d>-s  Kelchs  durch  Zuschi:»--'-  /ii  d-  n 
in  jedem  Jaiire  thatsachlu  h  zu  zahlend<  n  Kenten  (§  35),  seitens  der  Arbcilgebi  r  und 
der  Versicherten  durch  laufende  BeitrSge. 

Die  Beitrage  entfallen  auf  den  Arbeitgeber  und  den  Versicherten  zu  gleichea 
Teilen       143,  144,  154)  und  sind  fllr  jede  Beitragswoche  <§  jo)  tu  entrichten. 

§  38.   vVoraushctzungen  des  Anspruchs.)  Zur  Erlangung  eines  Anspruchs  auf 


Grsougi*UunK   Deut»ch<'S  Reich. 


Invaliden-  o<lrr  Altrrsr<  nte  Ut,  aufi'  r  d'  lu  Nacliw.M-  ■  (  I  r\v<-rl»unlahi^k«'it  Ix*- 
iicliunj;-.«  ri>r         ^.     t,'Ii,  |i  v.>r^'.  -  Ii.  ii.  ii  Alt'  r>.  rrf<»t>]- rluh  ; 

1.  tti.    /ui  11 -kl' -uii^  (1.  r  \ .  ir;^.  scliri>l)in<-n  \Varli-£i'j| ; 

2.  du-   l.f  KUU^  M'H  1^  lUiijJi-n. 

^  29.    (\Vartc2i-it.)    Die  Wartrztrit  lirtratrt: 

1.  bei  der  Invali<lvnrentc,  nrrnn  mitulcstvns  üinhunda-rt  Beiträgr  Auf  <}rund 
der  Vrrsiirlicruu(;spflicht  grlristct  worditi  »ind.  /w<-ihuadfrt  Hfitra);»wuch«n, 
imdfronla11>  (tinf hundert  B«itraj^wochcn ; 

2.  lu  i  der  Alt.  r-n'iit.  c intuusi-nd/wi-ihundort  Bi-itra}.'-wocln-n. 

I-Mi  IUI  ilif  lr<  ivs  illi^r  \  .  r-it  Iktuii^  ^  i4  ;^'  l.-i-1--l.u  U'  iti ki-tuin-  n  .luf 
•  Iii-  W  urtf/'-it  Inr  <lir  Invalid- iirrtit.-  nur  «Luiii  /.ur  Anr-  ' Liiuii^,  u  .-nti  tr..ijil -  -t-  ii* 
ciuiiundcrt  Jk-ilräjjc  uul  «Irund  ciiica  die  V<  r.>ali.Tuu;^»j>tUclil  otl>.  r  Her«  i  liti^jung 
mr  !»t>lb.>tvcrsicberini»^  tu  ^4 rundenden  \Vr1iäUni»cs  };elei>tet  worden  «nd. 

Die  Vorschrift  desi  Ab*.  2  findet  keine  AnwendimK  auf  Beitrüge,  welche  von 
den  Venticbertcn  innerhalb  der  ersten  Tier  Jahre,  nachdem  die  VerMcheruncspflirhi 
für  ihren  Berufszweig  in  Kraft  getreten  ist,  freiwillig  geleistet  wurden  sind. 

j{  jo.  ( B.  i(r.it;sl<  istiiiij^'. ,  1  iir  j.  d<- WdiIk-,  in  wdi  hcr  d-T  Versicherte  in  rinom 
die  W  rsiLlicrun^;>]>t1ii  ht  b'-jjnünii  tid.  ii  \rli'"it.>-  tKl<T  I>i<>n*.tvi'rli:dttii— o  gestan<l'  n  hat, 
it>t  ein  \'t  rM>  ii.  rim;,'-l>citra^;  /.u  <  iitrii  Iii- ii  I'-i-it rajiswoclie).  I>U"  tteitiagswochr  bc» 
ginnt  mit  firm  Mmita^;  einer  i<'dt  n  Kali  iiderwiK  Ii'-. 

Als  l^^'ilr;i^^wcK.■lu'n  »cr*lcn,  ohne  dai»  Hcilr.i^c  cnliiclitcl  zu  wcideu  brauLhen, 
diejenigen  vollen  Wochen  in  Anrechnung  gi-bracht,  während  deren  Versicherte 

1.  behufs  Erfiillung  der  Wehrpflicht  in  Frieden»-,  Mobilmachung»-  oder  Krieg;«- 
leiten  zum  Heere  oder  zur  Marine  eingezogen  gewesen  sind, 

2.  in  Mobilmachung»-  oder  Kriegszeiten  freiwillig  militärische  Dienstleistungen 
verrichtet  haben, 

3.  wefjen  bi-^c!n-mi^ter,  mit  /l  itw  ei..T  i  T\\i  rli-<unl;iiii;^keit  verbünd. -n  -r  Krank- 
heit an  d>  r  1-. irlN'  t/.mij,'  ilirer  r.erul-tli:itu;keit  verhiiid.-rt  ;;e\i.'>.-ii  ^ind. 

Diese  Anrechnunj;  «  rlolgl  jiduch  nur  bcj  solchin  i'cr»onen,  welche  vor  den 
in  Rede  stehenden  Zeiten  benifsaiäfsig  eine  die  Versicherungspflicht  begründende 
Beschäftigung  nicht  lediglich  vorübergehend  aufgenommen  haben. 

Die  Daner  einer  Krankheit  ist  nicht  als  Beitragszeit  in  Anrechnung  zu  bringen, 
wenn  der  Beteiligte  sich  die  Krankheit  vorsätzlich  oder  bei  Begehung  eine»  durch 
strafgcrichtüchcs  l'rteil  festi^'e^tellten  V.  rbr.  t  lu  n^,  durch  schuldhafte  Beteiligung  bei 
Scbl:ij;erei.-ii  oder  kaul häiid'dn  od.-r  (Uireh   I  riinkl.illijjk.-it  /ui:../.i::.  n  hat. 

Hei  Krankheiten,  wcdche  iinunterbroile-n  l;in;;<  r  aK  eii\  Jahr  \välir.-n .  kunuiit 
die  Uber  di.-.>en  Zeitraum  hinausreichcndc  Dauer  der  Krankheit  aU  Heitragsicii  nicht 
in  Anrechnung. 

Die  an  eine  Kranklieit  sich  anschliefsvnde  Gene^ungszeit  wird  der  Krankheit 
gleich  geachtet.  Dasselbe  gilt  von  einem  regelmäfsig  verlaufenden  Wochenbette  fitr 
die  Dauer  der  dadurch  veianlafäten  Erwerbsunfähigkeit,  aber  höchstens  für  se<'hü 
Wochen  von  der  Entbindung  an  gerechnet. 

§  31.  Zum  Nach\vei>  rin.  r  Krankheit  301  gentigt  die  Bcschcinij^un};  des 
Vorstände»  derjenigen  Kraiikcnkass>e        1661    be^iebungisweise  ilcrjenigcn  eiugc- 


InvaUdcnx^Taicherung^ccsietz  vom  13.  Juli 


199 


schriebenen  od«r  muf  Gniiul  landesrcchtlioher  Vorschriften  cmcbt«teii  HilfsluMe» 
welcher  d«r  Versicherte  angehört  hat,  filr  diejenige  Zeit  aber,  welche  aber  die  Dauer 
der  von  den  betrefTenden  Kassen  su  gewährenden  Krankenunterstiitzung  hinausreichl, 
sowie  flir  diejenigen  Personen,  welche  einer  derartigen  Kasse  nicht  angehört  habeli, 

die  Br-s(-hcinigong  der  GeraeindcbcliÖrdc.  Di'-  Ka^^.  iuorstätuJr  >incl  verpflichtet, 
diese  Hestheinißiinßen  den  Vt- rsii  Ii.  rt<  ti  ^olort  nach  FHe.-ndij;ini}j  »1er  Krankenunter- 
stützung  oder  der  l-"itr>i>r^'-  wulir. ml  li.  r  <  l-  ii' -unt;>/<'it  von  Anit>\ii'e;jcn  aii>/.UstrlK  n 
und  können  hierzu  von  der  Auts]cht>l>eh<>rdc  durch  GeldNtratc  bia  lu  einhundert 
Marie  angehalten  werden. 

Ffir  die  in  Reichs-  und  Staatsbetrieben  beschäftigten  Personen  können  die  vor- 
stehend bexeichneten  Bescheinigungen  durch  die  vorgesetzte  Dienstbehörde  ausgestellt 
werden.  FOr  diese  Fälle  ist  dir  Krankenkasse  durch  die  Aufsichtsbehörde  von  der 
Ausstcllun^^pflicht  zu  entbinden. 

r>er  Nachweis  geleisteter  Militärdienste  erfolgt  durch  Vorlegung  der  Milttär- 
paptere. 

32.  Hiihf  der  Mei(r:i;^<-  1  Die  Rir  ilie  P.eitra;,'->woche  zu  enfricht'-tid.-n  B'-i- 
iragc  werden  nach  I.ülinklas»'-n  ^4)  im  voraus  auf  h«-N!iinmt  ■  Zeitraum.-,  und  zwar 
zunächst  für  die  /eil  bin  zum  31.  l»e/emlier  1910,  demnächst  für  je  zehn  weitere 
Jahre,  durch  den  Bundesrat  einheitlich  te>ti»csetit. 

Die  Beiträge  sind  so  zu  benessen,  dass  durch  dieselben  gedeckt  werden  die 
Kapitalwerte  der  den  Versicherungsanstalten  zur  Last  fallenden  Beträge  der  Kenten, 
die  Beitragserstattnngen  und  die  sonstigen  Aufwendungen  der  Versicherungsanstalten. 

In  den  verschiedenen  Lohnklassen  sind  die  Beiträge  (ttr  die  einzelnen  Ver* 
sicherten  gleich  zu  l>emr>sen  und  lediglich  nach  d.  r  hirrh^chnittliclien  Höhe  der  in 
denselben  von  den  \'er>ichemnf;sanstalten  zu  gewiilirenden  Kenten  altzustufcn. 

Vor  Ablauf  der  im  Ab>.  1  bestimmten  /eilräunu-  li.it  <la^  K'-icli!) -Ver>icherungs- 
amt  die  /ulänj:lirhk<  it  d'-r  Heifrrice  zu  prüfen  I>ai>ei  sind  Kehlbetrage  od.-r  Teber« 
&chüs!>e,  welch«-  si»  h  aus  ih-r  I  rhebunj;  <ler  bislierig«-n  Beiträge  heraus;,'estelh  haben, 
in  der  Weise  zu  berücksichtigen,  dafs  durch  die  neuen  Beiträge  unter  Beaditun^  der 
Wirkungen  des  §  125  eine  Ausgleichung  eintritt. 

Bis  zur  Festsetzung  eines  anderen  Beitrags  sind  in  jeder  Ventichenuigsanstalt 
an  wöchentlichen  Beiträgen  zu  erheben: 


in  I^hnklasse  I   14  Pf. 

n   ao 

.t       „        III   M  » 

f,        IV   30  .. 

V   30  ., 


Eine  an<lerweit<-  l  >  <t-<  t/unj;  der  Beitrii^^e  bedarl  tler  /iistimmunji  des  keichsta^es, 

s  33.  i<  It-tiiriiila-t.  Sonderlast,  b  d.-  Versii  hi-runcsanstalt  verwalt  -t  ihre  Ein- 
nahmen und  ihr  \  ■•runij,;>  n  f i<-m'-in\ rrnii >^'>-n  und  >.>n  1  rvs-rniogi-n  s.dl)^t:iiidif;.  Aus 
denselben  sind  die  von  allen  Ver»icherun^str.i<;>  rn  yem«:iiisam  aufzubringende  l^ast 
(Gemeinla»t)  und  die  den  einzelnen  Versichrrung»ira);em  verbleibende  besondere  Last 
(Sonderheit)  zu  decken. 


L.ivjivi^L.^  Ly  Google 


200 


GekcUgrbunj; :  DrutMrhcs  Reich. 


Die  Gemvinlsst  wird  gebildet  dnrcli  drei  Viertrl  sämtlicher  Altersrenten,  di« 
GnmdbetrSge  aller  Inv»]idenrenteo,  die  RenteRstrigermgcB  infolge  tob  KnakhcH»- 
wochen  40)  tmd  die  Kentenabrondongen  •§  38).  Alle  abrigen  Verpflidrtaagcii 
bilden  die  Sonderlast  der  Versicherangsoaxtalt, 

Zur  DpcWunj:  (1<t  (jcmeinlast  w»  rrl»  n  in  jeder  Ver»ichrruii;;«.anstalt  ▼om  I.  Juonr 
KKKJ  ab  vier  /rhnl«-!  lirr  f?cilr:t{,N'  hiKlitii.ilsi}^  au>-p<">>chi«-(leii  1  <  icnicinvermogrn).  Dem 
(  trrin  invt  rnii  ij:<  n  >m<l  tiir  >t  in<  n  i>iachm;ilbi^'cn  l'.rstaii<J  vuii  «1er  X'ersirhrrungsanvtalt 
ZniM-n  j;uUUhclir«  ibcn.  Den  Ziiuiluis  bt'Nlironit  Ut  r  Hunii'  >rat  liir  die  im  |^  32  Abs.  l 
be&timmten  Zeiträume  finbritltdl  (Hr  «lle  Versichirung>anbtaltcn. 

Ergiebt  »Ich  bei  Ablauf  der  im  g  33  Abs.  1  bt-zeichncten  Zeitrtttinc«  dafs  das 
Gcmeinvermügen  xur  Deckung  der  GemeinlaKt  nicht  ausreicht  oder  nicht  erforderlich 
ist,  so  hat  der  Bundesrat  für  den  nächstfolgenden  Zeitranm  Uber  die  Höhe  des  fftr 
das  GcTTX-invcnnügen  bm  Imiüf-i^'  auizuscheidriulcn  Teiles  der  l^  iträ^e  xvecks  Ans» 
gleichung  drr  entütandenen  h  <  i  ll>»  tr:i>;r  twler  t'cberschüsse  zu  beschlicfsen. 

Finc  Krhiihun^  (l<-s  für  .l..-  <  ",.  in.  iT)v<Tni  i;*!-!!  Viu<  !imäfsig  auszuscheidenden  Teils 
der  Bi-itr;i;^r  br<larf  <l.  i  /u-timiuuii^'  <!<  ~  k<  u  ii-ta^,'»-^. 

Das  am  31.  lAzi-mber  lüyy  ain;t>animcU«-  ^r!>amte  Verai'ij;iti  der  Versicherung^ 
anstalten  und  weiter  das  bei  Ablauf  der  im  {(  3a  Abs.  1  bexeichaetcn  Zdtitanie  aift> 
gesammelte  Vermtigen  der  Versicherungsanstalten,  soweit  es  nicht  buchmlfsig  für  di« 
Gcmeinlast  ausgeschieden  ist,  darf  xor  Deckung  der  Gemeinlast  nicht  herangeiogen 
werden. 

§  34.  (Lohnkla>s.n  Nach  der  II  . he  des  Jahmiarbeitsverdienstes  werden  f&r 
die  Versicherten  folyt-ndc  I  .ohnkl;l^^en  ^,'i  bililet ; 

Rla.ss«'     I  bis  /.u  ,?;u  M;irk  ••iii-rhbi-Hbrh. 

II  voll  tii"  lir  ab  350  bi,s  m  550  Mark, 

,.     III  550   „    ,.   850  ,. 

IV  „  S50  .,   „  1150  ., 

„     V   „      „    „iiSO  ^Ivlc- 
FUr  die  Zugehörigkeit  der  Versicherten  m  den  Lohnkla^scn  ist  mit  den  ans 

den  nachfolgenden  Bestimmnngen  sich  ergebenden  Abweichungen  nicht  die  Höh» 
des  -1  t  iichlichen  Jahresarbeitsverdienstes,  sondern  ein  Durchschnittsbetrag  mai*> 

gebend. 

Im  eiiizclnrii  j;ih  .iL  Jahn  -.irl'i-:t-\  •  riliriist : 

1.  lür  .Mitjilicdcr  ciucr  Uria-,  Ücincbs-  (Fabrik-),  Bau-  oder  Inaungs-Kraukeu- 
kasse  der  dreihundertfache  Betrag  des  fikr  ihre  Krankenkassenbeitrige  nia£i> 
gebenden  durchschnittlichco  Tagelohns  betiehungsweise  wiiklidicn  Arbeite 
vtrdienstes  (S§  20,  26  a  Abs.  3  Ziffer  6  des  Krankenversicheningagesetses); 

2.  fttr  die  hl  der  Land*  und  Forstwirtsdiaft  bcschSftigtcn  Personen,  soweit 
sie  nicht  einer  unter  Ziffer  1  bczeidincten  Kr.^Ilkl•nka^^<•  angchKrcn,  ein 
Hetrap.  dir  fiir  si?  von  der  höheren  Vcrwaliuii<,'sbchi)r<b  unter  Bcrück- 
^ichti^;unJJ  des  J;  _^  als  durtiisi hnitllicher  Jahresarbcitsvcrdi<  iist  l^  stzuscLi'in 
ist,  bei  Bctriebsbeamten  wird  edtnh  der  für  jeden  von  ihnen  nach  §  3 
des  Gesetzes  vom  5.  Mai  iSSo  >  k<  ichs-GcseUbl.  1321  malsgcbende 
Jahrcsarbeitsvcrdienst  zn  Gründe  gelegt; 


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Invalidrnvcrsicherung&geiirtz  vom  13.  Juli  1S99. 


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3.  für  die  tnf  Grand  de«  Gctetses  vom  13.  JnU  1887  (Reidia-GcMtibL  S.  329) 
venicheiten  Sedente  und  «adcrcn  bd  der  Sectdiifiahit  bcteiligteii  PenooMi 
der  Durchädiiiittsbetiag  des  Jahresarfaeitsvcrdlenites,  welcher  genifs  |§  6 
and  7  «.  t.  ().  vom  Reichskanzler  bexiehmgiweise  von  der  höheren  Ver- 

waltunpsbelh >rdc  fpst}:o>e(zt  worden  ist; 

4.  iUi  Mitglie«kr  «lucr  K.napp<-rhaftskav^e  ihr  lireihundcrttachc  betrag  des 
von  dem  Kas&cn vorstände  l»-stzu>ct/.c-nden  durclischiiittliclicn  täglichen  Ar- 
bcib>verdi«nstes  derjenigen  Klasse  von  Arbeitern,  welcher  der  Vcr&icherte 
angehört,  jedoch  nicht  weniger  als  der  dreihnadertfache  Betrag  des  oiti* 
ttblichea  Tagdohns  gewöhnlicher  TageaibeHer  des  BeschiAigmgsortes  (g  8 
des  Krudcenversicheningsgeselies) ; 

5.  im  übrigen  der  dreihondertfache  Betrag  des  ortsüblichen  Tagelohns  ge> 
wohnlicher  Tageturbetter  des  Beschäftigungsorts  f§  8  des  Kranken  versiehe« 
rung<.ge>etzes) ,  soweit  nicht  für  einzelne  Berufszweif^e  von  der  höheren 
Verwaltunfjsbebordf  «-in  anderer  lahn-'-arbcitsvcrdiesi-t  t-'-t;^'--'-!.'!  wird. 

Lehrer  und  Erzieher  gehören ,  soweit  nicht  ein  JahrcsarbLitsvcrdicnst  von 
mehr  als  11 50  Mark  aad^ewiescn  wird,  mr  vierten  Klasi«. 

Hofcm  im  Tonns  fllr  Wodien,  Monate,  Vierteljahre  oder  Jahre  eine  feste  bare 
Vergtttnqg  verdnbart  und  diese  höher  ist,  als  der  nach  Abs.  2  fltr  den  Verstcherten 
mafsgebende  Durchschnittsbetrag,  so  ist  diese  Veigfttnag  sn  Gnmde  za  legen. 

Der  Versicherte  kann  <He  N'crsicherang  in  einer  höheren  als  derjenigen  Lohn- 
klasse, welche  nach  den  vur^tLhtiidcii  Be-timmungen  für  ihn  malsgebend  sriji  würde, 
beanspruchtii.  In  diesen  Lallen  isi  i>  dorh  der  auf  den  Arbeitgeber  enttalbnde 
Teil  des  Beitrags,  sofern  nicht  die  \'<.  r:>ichcrung  in  tlcr  höheren  Lohnklassc  von  dem 
Arbeitgeber  nnd  dem  Ver<>icherten  vereinbart  i!>t,  nicht  nach  der  höheren,  soodem 
nach  der  fltr  den  Versicherten  malsgebeaden  Lohnklasse  sa  bemessen. 

Die  Landes>Zentralbehönle  kann  anordnen,  dafs  die  nadi  Abs.  2  fllr  die  ein- 
sclnen  Orte  «arsgebenden  Lohnklaasen  md  Beitiige  (g  3a)  sowie  die  Klassen  von 
Versicherten,  welche  aa  dem  betreffenden  Ort  in  die  einseinen  Loknklassen  entfallen, 
von  der  Versicherungsanstalt  in  jedem  Ort  ihres  Bexirks  bekannt  zu  machen  sind. 

§  Ber- i  hnung  der  Renten  !     l>ic  Renten  werden  nach  •\<-t>  Lohnklassen 

i§  341  und  nach  jalirevht-trapen  her<rhn<t.  ^ie  b<st<-hen  aus  einem  in  der  Huhc 
verschiedenen  Betrage,  welcher,  vorbclialtlich  der  N'orschrift  des  §  40  Abs.  2,  von 
den  Vcrsicherungsanstallcn  anfsnbriingen  ist,  imd  ans  einem  festen  Zoschnssc  des 
Reichs,  der  fllr  jede  Rente  j&hrlldi  flbifxig  Mark  betrigt 

S  36.  Die  BerednnBig  des  von  den  Versichemngsanstalten  aofzubringenden 
Teiles  der  Invalidenrente  erfolgt  in  der  Weise,  dafr  einem  GmndbcCnige  die  der 
Zahl  der  Beitragewochen  entsprechenden  Steigemngssttse  biwngercchnet  werden. 

Der  Grondbetrag  belauft  sich 


fUr  die  Lobnklasse    I  auf  60  Mark, 

1«      it  fi  III     9 1  f  I 


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Gi*»rt/4:>  i'ui)^    neut<<chtfi>  Reick. 


Der  Bert'chnunj;  d«»  (vrundb<-trag«  d«>r  InvaUd(tir«-nt<'  werden  »tets  ftinfhundert 
Beitrajfswoclien  tu  Grtin«lf  g«'l<7:t  sind  «•.•ni^or  al-  fünniuntlTt  P.  iir.»f^.w.> -hcn 
ii:irli^"»wirs.-n,   sn   wt-rii'-ii   titr   ili--   l'  lili n.l.  n  Wo  iir:i-.-   d.  r  I  .■  liuikl.i ■,>»•  I  in 

Ati-.vt/,  l>ra<  li(  :  «ind  in-  ln  aK  tuntluuid<  rl  r.-  itr.i^'-woi  Ii' n  !i.n  h;;--wio->>  n  ~<i  Niiid 
.sl«'t>  di>'  tun) liuiid.rl  H'Mtr^t)^'-  d.-r  !>•  h1i>i<-ii  Loliukla^MM»  /.u  «iiiind--  i\x  l.-g<-n. 
Kommen  lur  dioc  füiil  liumlrrt  Woclu-n  vcrschicdcni-  l.ohnkl;i«>rii  in  Brtracht,  so 
wird  als  Gnindbetrsif!  der  Durchschnitt  der  diesen  Beitragswochen  entsprechenden 
GnindbetrXgc  in  Ansatz  gebracht. 

Der  Steigerungssatz  beträgt  fUr  jede  Beitrag»woche 

in  der  LohnklaMc   I   3  Pfemtig. 

«•     fl  M  II     6  „ 

t»    »♦  •«        III  S 

„  IV  10 

.,     ..  ,.  V  12 

Für  die  Beitragswoche  kann  nur  ein  Stcigorun^ssau  in  Anrechnung  gebracht 
werden.  Sind  mehr  Beitragsmarken  verwendet,  als  hiernach  BHtragswochen  in  An- 
rechnung gebracht  werden  dürfen,  und  können  die  zu  Unrecht  beigebrachten  Marken 
nicht  mehr  ermitt<*U  werden,  so  sind  dir  Bfiträ^;«»  durch  Ausncheidung  der  fhr  die 
niedrigeren  Lohnklassen  entrichteten  Marken  bis  auf  die  zulässige  HiH:hjtcahl  lu 
mindern 

37.    l>er  von  den  Vcrsicücruu^aansUltcn  aufzubringende  l'cil  der  Altersrente 

beträgt . 

in  di-r  Lolinkla^ac    l     60  Mark, 

»t  ».      »      n   90  ,. 

  UI  ISO  .. 

„    „  ,.  V  :So 

Knnimi-n  Ufitrriße  in  vcrM-liicdenen  Luliiiklasvcn  inbetracli!  wird  i.-r  Ihirrli- 
ürliiiilt  d<^r  di-'-.-n  Hritr:if:;>-n  rntsprcchoiKl'-ii  Alt- r ~r<Milt*  >:<-\vrilin  ■'Hid  n.' 1  r  al-  '  in- 
Uiu^ciul/wi  ilaiiid- n  l*f!<  raR^v\  u(  lii-n  narlii^i-w  i« --i-u,  so  sind  di<-  <  uitau^<-ndÄweihundcrt 
Beitrajic  der  höchsten  l,ohiikLi.s»en  der  Berechnunf;  zu  (jrunde  zu  Ic;;en. 

§  38.  Die  Renten  sind  auf  volle  fünf  Pfennig  flir  den  Monat  nach  oben  ab- 
zurunden vnd  in  monatlichen  TeilbetrSgen  im  voraus  zu  zahlen.  Für  denjenigen 
Kalendermonat,  in  welchem  die  den  Wegfall  oder  das  Kuben  des  Rentenanspruchs 
bewirkende  Thatsache  eintritt,  ist  der  gezahlte  Monatsbetrag  der  R.ntc  zu  belassen. 

§  39.  Für  einen  Versicherten,  welcher  bei  einer  d-^r  nai  h  jjj;  S.  10,  1 1  ni- 
pelassfnfn  Kasseneinriehtunj^en  beteiligt  f;ewes»»n  wird  bei  H  ererb  nunc  der  Kentr 
für  je<le  Woclic  ticr  I'eteili^jun;^  narli  dem  I.  jamiar  tSyi  diej.-iu>^c  I .ohnkLissc 
in  Rechnung;  gebracht,  wekiicr  derselbe  nach  dem  von  ilim  wirklich  bczüjjcncn 
Lohne  angehört  haben  würde,  wenn  er  bei  einer  Versicherungsanstalt  x'ersichert  ge- 
wesen wäre.  Hat  der  Versicherte  gleichzeitig  einer  Knappsichaftskasse  oder  einer 
Orts-,  Betriebs-  (Fabrik-),  Bau-  oder  Innungs-Krankenkasse  angehi^rt.  so  bestimmt  sieb 
die  in  Rechnung  zu  bringende  Lohnklasse  nach  den  Bestimmungen  des  $  34  Abs.  a 
Ziffer  I  beziehungsweise  4  und  des  §  34  Abs.  3. 


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IiivaUcli*m-cmchvn]ngv];r.<»cU  vom  13.  Juli 


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4  >.  Für  li'w  nach  30  aU  Bcitragxzeit  p'-li  -i»  ' •  Pau' :  boacheiiiijjter  Krank» 
h'-itrii  und  niilitäri>cii<*r  DienstleUtungen  wird  bei  Berechnung  der  R^nte  die  I^hn« 
kla&s<-  II  zu  flrundf  ^'^l"  },'t. 

Drii  auf  dio  Diuu  r  militärischer  Uicn»tleUtungcu  entlallcmlen  Anteil  der  Ri-ntc 
flbemiiumt  das  Kcich  125J. 

§41.  Die  Invalidenrente  beginnt  mit  dem  Tagr,  an  wekhem  der  Vertuit  der 
Erwerbsf&higkeit  eingetreten  ist.  AU  dieser  Zeitpunkt  gilt,  sofern  nicht  ein  anderer 
in  der  Entscheidung  festgestellt  wird,  der  Tag,  an  welchem  der  Antrag  auf  Be-> 
willigung  der  Rente  bei  der  xnstSndigen  Behörde  eingegangen  ist  ^§  112  Abs.  I). 

Die  Altersrente  beginnt  frühestens  mit  dem  ersten  Tage  des  einund^iebenzigsten 
Leben  s';»hrs. 

I  nr  /'-it-  n.  <li.  hoin»  ring.inj^c  (]<••,  Antrag-  aut  Howilligmig  einer  Kcnlc  länger 
al>  ein  Jahr  /.uru«  kho^r-ii,  wird  die  kentc  nicht  g.  wiihrt. 

Stirbt  ein  Ver»ich«-rter,  d<-s»cu  Renteuantrai;  nocli  /.u  >«-in<'n  Lcl»«.*iten  l>ei  der 
xttstandigen  Behörde  eingegangen  war,  so  ist  zur  Fortsetzung  des  Verfahrens  und  im 
Falle  der  Bewilligung  der  Rente  zum  Bezüge  der  bis  zum  Todestage  ßUligen  Renten* 
betrSge  an  erster  Stelle  der  Ehegatte  berechtigt,  sofern  derselbe  mit  dem  Renten* 
berechtigten  bis  zu  dessen  TckIc  in  Jl;iu^lirher  OfiiK'inscli.ili  ^'.-l.bt  hat;  wenn  ein 
solcher  nicht  vorhanden  ist,  tritt  die  Kechtsnacbfolge  nach  den  Bestimmungen  des 
bürgerlich. n  K<-clits  '  jn. 

§  42.  (|- r-t.ittun^;  von  l'.<-itr:if;.  n.)  \Vfil'lich<-n  Tn  >nn>  ri.  w<-lrli<'  ein-'  I  ii--  i-iii- 
gehen,  bevor  ihnen  du.-  eine  Reiilc  ^Jjf;  15,  16)  bew  lUij;.  luif  Knt-tchcidung  zu^'  -i-  llt 
ift,  steht  ein  Anjipmch  auf  Erstattung  der  Ilälfle  der  fttr  sie  geleisteten  Beitrag'*'  zu, 
wetm  die  letzteren  vor  Eingehung  der  Ehe  ftlr  mindestens  cweihtmdert  Worhon  ent- 
richtet  worden  sind.  Diewr  Ansprach  mufs  bei  Vermeidung  des  Au$schlu»4e<>  vor 
Ablauf  eines  Jahres  nach  dem  Tage  «Icr  Verheiratung;  geltend  genucht  werden.  Der 
zu  erstattende  Betraj  wird  auf  volle  Mark  nach  oben  abgerundet. 

Mit  der  Kr>tattung  erlischt  die  durch  das  frühere  VersichcrangsverhäUnis  be« 
griindtif  Anwartschaft. 

§  43.  Werden  versicherte  i'crMJttcn  durch  «  iiu  n  L  nfall  dauernd  crwerb-.- 
unlahig  im  Sinne  dieses  Gesetzes  and  steht  ihnen  nach  ^  15  Abs.  a  Satz  2  dir  die 
Zeit  des  Bezugs  der  Unfallrcnte  ein  Ansprach  auf  Invalidenrente  nicht  zu,  so  ist 
Ihnen  anf  ihren  Antrag  die  Hilfte  der  für  sie  entrichteten  Beiträge  zu  erstatten. 
Der  Ansprach  mufs  bei  Vermeidung  des  Ausschlusses  vor  Ablauf  von  zwei  Jahren 
nach  (Um  Vnf.xU  prlt.nd  macht  werden.  Die  Bestimmungen  di^  §  4a  Ab»,  t 
Satz  J  und  Abs.  z  fnuh-n  Anw.  iulunf; 

§  44.  Wenn  fine  niännlichr  rt-rsmi.  ttir  welch'-  miiid'stcn>  tur  zweihundert 
Wochen  Mritraf;.-  entrichtet  wordi-n  >itid.  vi-rstiriit.  betör  ihr  ili<-  eine  Kenie  icjj;  15, 
16)  bewilligende  Entscheidung  zugcatelll  ist,  atcht  der  hintcrlasscnen  Witwe  oder, 
falls  eine  wiche  nicht  vorhanden  ist,  den  hinterlassenen  eheliehen  Kindern  unter 
fünfzehn  Jahren  ein  Anspruch  auf  Erstattung  der  Hälfte  der  für  den  Ver!>torl>enen 
f  ntrichteten  Beiträge  zu. 

Wenn  eine  weibliche  IVr^^n,  für  welche  mindestens  für  zweihtmdcrt  Wochen 
Beiträge  entrichtet  worden  sind,  verstirbt,  bevor  ihr  die  eine  Rente       1$.  1(1)  be< 


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Gnetx^rbun]; :  Dentschn  Reidi. 


wil1ip'Ti<lf  Fiit^rluMilun;;  /ii;;f^t»'llt  i^t,  gO  bteht  den  liint<"rla»srn»'n  vatrrl(is<-ti  Kindrrn 
imtrr  fiiii(/>  hn  Jahren  «  in  An«.jinu-h  auf  Frstattung  der  Halft r  der  ftir  <lir  Verstorbene 
riitnrlitetrn  IViträ^^r  /.ii.  Fin  ;:l<-jcher  An^prurh  stellt  iint<*r  dfn-'lt>'-n  Voraus« 
•»etzutij.'rn  di  fi  IniHerla^srncn.  norli  nirht  funl/.t  hn  Jahre  alt»!i  Kiii>l<-rn  einer  »"h  hen 
weildithen  l'cr>un  zu,  deren  Liicuiauu  bich  %'on  der  häu.<>lich«u  Gemeinschalt  fern- 
gehalten und  sich  der  Pflicht  der  Vnterhaltanf;  der  Kinder  entaogen  bat.  Wmt  ditt 
weibliche  Person  wegni  Erwerbsnnfthigkeit  ihres  Ehenumns  die  Emtbrerin  der  Fa- 
milie, so  steht  ein  gleicher  Erstattungsanspruch  dem  hinterlasseocn  Witwer  so. 

Der  Erstaitiin^sansprucb  mufs  bei  Vcrmeidang  des  Ausschlusses  vor  Ablauf 
eines  Jahres  naih  d. m  l'o.Ie  des  Versicherten  erhoben  werden.  Der  n  erstattende 
Betrag  wir<l  .uit  \.  Ii-  Mark  nach  oben  ahi!'-nni']et 

"»chwt  ht  l>euii  I  oiie  des  \  rr-icherten  iierrits  ein  Kentenfeststellungsverfahren, 
so  sfidulst  dir  Krstattim[;-anspruch  den  Anspruch  der  l".rhen  auf  die  rückständigen 
Kentenbcträge  aus,  solange  nicht  eine  den  letzteren  anerkennende  Entscheidung  zu- 
gestellt ist. 

Vorstehende  Bestimmungen  finden  keine  Anwendung,  soweit  den  Hinler- 
bliebenen  aus  Anlafs  des  Todes  des  Versicherten  auf  Grund  der  UnfaUversicherangi« 
gesetzc  Renten  gfwiihrt  werden. 

45.  Durch  übereinstimmenden  t''  >-t  Idufs  de«,  Vorstandes  und  de>  Aus- 
sclui-bes  kann  Ix-liniiiU  w  «  r<l<  n,  d.tl'b  die  L  «  l«.  rscl;ü-se  des  SoiifU-rr  rrniotjens  einer 
Versichcruni^Nanstalt  iilur  ileii  zur  Deckung  ihrer  \'erpllichtungen  dauernd  crlurder- 
lichen  Uedarl  /.u  anderen  als  den  im  (je.setze  vorgesehenen  Keistungen  im  wirtscJiaft« 
liehen  Interesse  der  der  Versicherungsanstalt  angehörenden  Kentenempianger,  Vei^ 
Mcherten  sowie  ihrer  Angehörigen  verwendet  werden. 

Solche  Beschlüsse  bedfirfen  der  Genehmigung  des  Bundesrats.  IMe  Genehmigung 
kann  widerrufen  werden,  wenn  das  Sondervermögen  der  Versicbemngianstalt  nur 
dauernden  Dockung  ilr.  r  \'f  rpflichtunp  nicht  mehr  ausreicht. 

§  46.  ( Frl  's<  i'-  Ti  dri  Anwartschaft  1  l>ie  aus  der  Wrsiciienmgspfltcht  sich  er^ 
gebende  .\n\vartscliatt  erhsiht,  wenn  während  zweier  Jahre  nach  dem  auf  der 
Quittuiigskarte  (J;  131)  ver/.-ichn«  len  .\usbtellungs»tag  ein  <lie  VcrMcheriing.>p!lichl  be- 
gründendes Arbeits,  oder  Dien^tverhültnib,  auf  Grund  dessen  Beiträge  cnuichtct  sind, 
oder  die  Weiterversicherung  14  Abs.  2)  nicht  oder  in  weniger  als  insgcsinit 
awansig  Bcitragswodien  bestanden  hat. 

Den  Beitragswochen  im  Sinne  des  vorigen  Absatzes  werden  gleich  behandelt 
die  Zeiten, 

1.  weiche  nach  §  30  als  I?eitragszeiten  angerechnet  werden, 

2.  wHhrend  <l«Tfn  (!er  Anwärter  eine  l'ntallrente  für  eine  Vemiinderun^'  der 
ErwfrVis!;ilii;;k'-it  um  niiinle-tt-ns  zwanzig;  l't.i/i-m  üdrr  au-  Kav>rn  der  m 
den  ijj;  8,  JO,  11,  52  ijczcichnetcn  Art  Invaliden-  oder  Altersrenten  bezog, 
ohne  gleichzeitig  eine  nach  diesem  Gesetze  versicherungspfliditige  Betddtf* 
tigung  auszuüben. 

Bei  der  Selbstversicherung  und  ihrer  Fortsetcnng  t§  14  Abs.  l )  müssen  mr  Auf- 
rechterhaltung der  Anwartschafl  während  der  im  Ab«,  i  bezeichneten  Frist  nin> 
destens  vierzig  Beitrüge  entrichtet  werden. 


biTalidcBverstchenuigigeseU  vom  13.  Juli  1S99. 


Die  Anuart-schafl  lebt  wieder  auf,  M^bald  durch  Wicdcreintrotcn  in  eine  ver* 
veniclierunKspflicbtigc  BcschXftigang  oder  durch  frciwittig«  Beitragileistung  das  Ver- 
siehcningBverhSltBis  «nieo«rt  und  danach  «ine  Wait«seit  too  sweihand«rt  Bettrags* 
Wochen  snrttckfelegt  ist 

f  47.  (Entziehung  der  lovalidonrcnte.)  Tritt  in  d<*n  Vcrhältnisst^n  drs  Em> 
pflnRcrs  einer  Tnvalid«"nrrntP  ein«-  Veränderung  ein,  welche  ihn  niclit  mehr  ah  er- 
werbstltaflihig  15,  16)  erscheinen  läfst,  so  kann  demselben  die  Rente  entsogen 
werden. 

Ist  be|;rundcte  Annahme  vurhaudcu,  dals  der  Emplanger  einer  Invalideiirenle 
bei  DurchflUmmg  eines  Heitverfthrens  die  Erwerbsfithigkeit  wieder  erlangen  werde, 
so  kann  die  Versicherungsanstall  su  diesem  Zwecke  ein  Heilverfahren  eintreten  lassen. 
Dabei  finden  die  Bestimmungen  des  j$  18  Abs.  2  bis  4,  §§  19  bis  ai,  33  mit  der 
Mafvgabc  Anwendung,  dafs  an  Stelle  der  Angebdrigenunterstützung  die  Invaliden* 
reute  treten  kann.  Hat  sich  il<-r  Kentcnempf&nger  solchen  Maisnahmen  der  Ver« 
sichening«ianstalt  ohne  gesef /Ii.  hcn  oder  son>t  triftigen  Grund  entzogen,  «o  kann  ihm 
die  Reute  auf  /•  u  t;an/.  uder  teilwei>o  cnt/o^cn  werden,  solcru  auf  diese  l  oltr-  n 
hingewiesen  worden  ist  und  nachgewiesen  wird,  dafs  er  durch  sein  Verhalten  die 
Wiedererlangung  der  ErwcrlMfiLhigkeit  vereitelt  hat. 

Die  Entaiehung  der  Rente  tritt  mit  Ablauf  des  Monats  in  Wirkianikeit,  i 
welchem  der  die  Entxiehnng  anasprechende  Bescheid  sagestellt  worden  ist 

Wird  die  Rente  von  neuem  odec  wird  an  Stelle  einer  nach  §  16  gewahrten 
Invalidenrente  eine  Rente  für  dauernde  Erwerbsunfähigkeit  15  bewilligt  oder  wird 
eine  Altersrente  bewilligt,  so  ist  die  Zeit  dci  früheren  kentenbe/.u;,'-.  dem  Versicherten 
ebenso  wie  eine  b'  S<  heini;,'te  Krankheits^eit  ij^  40  Ah•^.  I  anzurechnen.  Iiie  Vor- 
schriften des  §  30  Abä.  5  und  des  §  36  Abs.  l,  3  Anden  auf  diese  Zeit  keine  An- 
wendung. 

§  48.  (Ruhen  der  Rente.)  Das  Recht  auf  Bezug  der  Rente  ruht: 
t.  für  diejenigen  Personen,  welche  anf  Grund  der  reichsgesetslicben  Be- 
ttimmungen fiber  Unfallversicherung  eine  Rente  bedeben,  solange  und 
soweit  die  Unfallrcnte  unter  Hinarechnung  der  ihnen  nach  dem  gegen- 
wärtigen <'-•' •■  zugesprochenen  Rente  den  siebenundeinhalbfachen  Grund- 
betrag der  Invalidenrente  (J;  36  Abs.  2,  3  übersteigt: 

2.  für  die  in  den  6  Ab>.  l,  §  7  be/eirhneten  Personen,  so  l.ui;.;c 
und  so  weit  die  denselben  gewährten  Pensionen.  Warte^elder  oder  ähnlichen 
Bezüge  unter  Hinzurechnung  der  ihnen  nach  dem  gegenwärtigen  Gesetze 
zugesprochenen  Rente  den  in  Ziffer  i  bezeichneten  Höchsbetrag  Über- 
steigen; 

3.  solange  der  Berechtigte  eine  die  Dauer  von  einem  Monat  Übersteigende 
Freiheitsstrafe  verbfifst.  oiV  r  solange  er  in  einem  Arbeitshaus  oder  in  einer 

Besserungsanstalt  untergeijracht  ist : 

4.  solange  der  Ber<-<:hti;,'te  niiht  ini  InLin^le  seinen  gewohnlichen  Autenthalt 
hat.  I)urch  Bcschluls  des  Bundesrats  kann  diese  Bestimmung  für  l>estimnite 
Grenzgebiete  oder  für  solche  auswärtige  Staaten,  durch  deren  Gesetzgebung 
deutschen  Arbeitern  eine*  entsprechende  Fttnorge  filr  den  Fall  der  Er- 


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206 


w«'rl>i!Ui)l:ihiyk<  u  um!  tl•■^  Altern  i;rwähr1<'istft  au(-».-r  Kraft  ^'cscLit 
wewlrn. 

llAt  in  den  Fällen  firr  /i(rt>r  3  i)«>r  K«>ntenlterr«*hii;;te  rin^  im  Inland«»  trohnemie 
Kaniilif.  Uerfn  rmerhall  «t  blshrr  aus  feinem  Arlieitsvenlü-nstr  bestritten  hat,  so  ist 
dif-MT  ilie  kentf  zu  Ulx-nnviM-n. 

\Vältr«*iul  des  i;.  /;;;-^  v.  t)  liivaliii' iir.  nt-  tu'  ;  <!■  r  Aii-prut'b  auf  die  Altersrente. 
Aul  dj<->-'  ri  i'.iU  fiti'i'-t  >h.-  1'-  Miiiiinuii;;  drs  >:  3*»  ^  ' '  -  \'i\v.-ii'Ui»t^' 

§  4<i.     ,  V'-tS.il'nt-   /Ii  .iinliT'-n   An-priirh«-»       I  >■•■  ^-  ••.•t.Mf  h-T   VHr-i  l:r;it 

Wnthentle  W-rplii«  htuu^  vmi  tit  iiu  niil<:u  uii'l  At  :h.  ir.  <  :  l>;iii<l- ti  zur  lUl-  r^tuiziiiig 
hill'sbedurJ'ii^fr  l'ersonen  «wie  XMMipe  j;cs«-t/lich<.',  statntariM'he  oder  auf  Vertrag 
beruhende  Verprtirhlungrn  iVT  Filro^irpe  für  alte,  kranke,  crwer1><«unfHhig<  oder  liilfs- 
lM-durfti};c  Personen  w.'rdt-n  duroli  die«-*  Gesetz,  nicht  Iw-röhrt. 

Wenn  v»in  einer  (i«'m«Mude  oder  einem  Armenvrrband  an  hilf^bedärftine  Per» 
sionrn  l'ntcr>f!it.' •  :i  für  einen  Zeitraum  jj'lfis.tet  wenUn  ti  r  w  l  h  -n  diesen 
l'er"-<in.!i    (in    \i,-;.:niii   -isit  Itnali'l'-ü-   n<],x  Ali'r^r.-tiv-   /ri  ^.iii'l   <»l  r   iiimIi  zusteht, 

so   ist    llilli  ll    Ir.    Il  (t    tluM  ii    l  flx-rwrl^llll,;    voll  k'-lltrllii<-t!.r.''  ll    \  r  .lA'    ,'U    lil-t.  Il. 

ist  ilu  l  iu»  rs(üt7.»iti;;  cim-  vorilh«Tj^<-li«'n<le,  so  koiux  u  hrsat/  Ii' i>  h^tt  n-.  >iroi 
^ll>u.^t^l*t•^lii;,'^.•  der  Rente,  utul  zwar  mit  nicht  mehr  als  der  Ilülüe.  in  Anspruch  g^'- 
Hammen  werden. 

l»t  die  Unterstützung  eine  fortlaufende,  so  kann  als  Ersatz,  wenn  die  l'nter- 
Stützung  in  der  (»«Währung  des  Unterhalts  in  einer  Anstalt  besteht,  für  dessen  Dauer 

uml  in  drin  zur  Frsat^l.  istutif:  erfor.lr-rlifh«-»  Hi  traj.-!-  'Ii--  fortlaufende  feberweisung 
«Ur  vi.ll.n  Ri-nt'-,  im  ührij^i-n  die  furtlaufende  l'eberweisung  von  htkihstens  der 
hall»<-n  K<  iit'-  Ix-.iii^jinu'ht  wf-nl-  ii. 

50.  1  >>-r  Aritr.u:  .nit  T.  1  u  .  ■si.ii^  m>ii  Ki-iU<Mii><'tr.ij;.-ii  .  j<  49  Abs.  2  bis  4^ 
i>i  S»  1  «  iner  dir  im  ij  i  id  AI-.  1  /-u^uii  li^<  u  IWhorde  anzumelden;  soweit  c.-  sich  um 
den  Ersatz  flir  eine  voräberf>ehende  Unterstützung  handelt,  i<4t  der  Anspruch  bei  Vcr- 
roeidung  des  Ausschluüscs  spätestens  binnen  drei  Monaten  seit  Beemligung  der  Unter* 
Miitzunt;  geltend  zu  machen. 

licn  (m'iik  iiitlen  und  Armenvt-rbänden  steht  die  Oeltendmarhung  des  Ersatz» 
aii-i  IM.  '  .n;'  1)  dann  zu,  wenn  <lie  liiltvlir-dürtti;,'«'  l't  rson,  welcher  ein  Ansi»nu"b  auf 
liiviil;di-ti-  I' Irr  AUtT-r-  nte  /ii-t.rul.  M>r  Stell. M-'.  K'-jitrTi.uur.iL."^  Verstorben  ist, 
l)ie  l'fstiiiimun^:  \'.n  ^   i.\  .V>-    .\  r.\f]-'  i-;!;-!,]-,-!  ln-mlf  w.-iinutii:. 

Streiti^k<  ucn,  \v.  l<  hr  /wi^cli-  n  dm  Iii  u  ilij^ini  uIh  i  d<  n  .\ii.sj)ruch  aut  L  clu-r- 
wcisung  v<in  Ent>ichädi};r.ngsl»ctr:i^en  cnt<«teheD,  wenlen  im  Verwaltungsstreitverfahren 
oder,  wo  ein  solches  nicht  besteht,  durch  die  dem  Kr!iat/.l>erechtigten  vorgesetzte 
Aufsichtsbehörde  entM-hicden.  Die  Entscheidung  der  letzteren  kann  innerhalb  eines 
Monats  nach  der  Zustellung  im  Wege  des.  Rekurse?»  nach  Mafsgabc  der  20.  31 
der  (»ewerbeordmmf;  angefochten  werden. 

J;  ;i  I^ic  l>r-tiMimuiii.'i*n  l'-r  .\0  V  rr,  i«,.,i  nv.r]\  tiT  l!rtri'  !isun'>  rii<-1iniiT 
nnd  K.'.~-'  II    \v<  1,  lir  ilif  1:1  II  1  i.  tii'  ili'l'  II  oii'  i  .\nu.  ir  .  ■  II  ■  1  l H'.^r \'cr; itl i<-litung 

zur  l  lUt  r-tut.'uii^  Hili-l"-di;ri!ij;.T  .ml  »iiunii  j.;i-~'  t/rit  hs  t   \  <tr-.  lintMi  erlulli-n. 

52.  i'alirilikassen,  Kiujip*cliall-ka>*fn,  Sorna nuska-scn  unti  andere  für  jje- 
werbliche,  landwirtschaftliche  iKler  ähnliche  Unternehmungen  bestehende  Kasseti'» 


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luv;iIidciivcr»icbvrun^s£CMi'U  vom  13.  Juli  1-899.  2O7 

einrirhtunj;«'!) ,  welche  ihren  nach  den  rrichsieesetzlichen  Bestimmungen  versicherten 
Mil}!ltrdem  fttr  den  Fail  des  Alters  oder  der  Erwerbsnnßhigkeit  Renten  oder 
Kapitalien  gewähren,  sind  berechtigt,  diese  UnteratQtzangen  fflr  solche  Personen, 

wrirli.-  Auf  Gruml  >l.  r  r-  irl.-;; 's<  t/1ii  ii.  n  I^-^timmungen  einen  Anspruch  aiuf  Invaliden- 
n  l.  r  Ahi  r-mitcn  haben,  um  clrn  Wert  dor  Kt/l'-n  n  oder  zu  einem  geringeren  Be« 
tr.,).'-  .'u  .  riiKif^i^'.  n,  •.Kfrm  plcii  ]i/.<  iti^  dit-  1'.  itt  i;:'-  der  Hctricbsuntcrnrhmf r  und 
Ka>>c  nn;::i,'l  r  mU-r  im  Kiillc  der  /u-niiunun;:  dt  r  l'.(  lrirli-.(int<-rnclHiicr  wi-nij^'-iciis 
dicjeinj4«  u  d.;r  KAssi  nnüiglicdcr  in  cin-.pi,  clK  iidcm  \  erli;iUuiN<ic  hcrub^ctuiudcrt 
werden.  Auf  statalenmäfsige  Kas»cnleistuni;rn,  welche  vor  dem  betreffenden  Be- 
schlüsse tlvr  «ustäniligen  Organe  oder  vor  dem  I.  Januar  1891  an»  der  Kasse  be- 
willigt worden  sind,  erstreckt  sich  die  Krmäfsigung  nieht. 

Die  hierzu  erforderliche  Abänderung  der  Statuten  bedarf  der  Genehmigung 
drr  /iistUndi}:.!!  1  ,andi>bchürdr.  Die  Irt/.tcre  ist  befugt,  eine  entsprechende  Ab« 
:iii''.'  tnn^  il-T  St.iti.ti-n  i!irrr-«'i(>  :nit  rlii -^'iiltiL;>-r  Wir^^iint,'  vor/un'dim*'ii.  -^nf.-rn  <\\<' 
zu  <l<  i)  i-rw  :dint<  M  K.i--'  nr;nri>  li'un;;-  !!  In  itr.i^'- iid^  ri  n-  !  > -uiit'TTH'lini-T  oder  tlic 
Mchrii'  it  der  Ka<st*iinutt,lj<  di  r  di«*  Aliaiidi  runq  b«  amra^t  liabcn,  <li«;  Irt/trro  aber 
von  den  zuständi^^cn  Ori»ancn  »1<t  Kiu«>sc  abgelehnt  worden  ist. 

Der  KrmäfMgung  der  Beiträge  bedarf  es  nicht,  S4>fcm  die  durch  die  Herab» 
minderung  der  l'nter>tiit2ung«-n  ersparten  Betrüge  zu  an<lcren  Wohlfahrtseinrichtungen 
für  Betriel>>beamte,  Arl>eiter  oder  deren  Iliuturbliebene  verwendet  wertlen  sollen  und 
dirvc  .inderweile  Verwendung  durch  das  Statut  r  It  und  von  der  Aufaichts» 
b'-l  ir  l'  j^'cmdinii^it  wird,  oder  soweit  die  I{fitrii;;e  in  d<  r  bi>l»rrijjcn  Höhe  erforder- 
lich »uid,  um  die  der  Kasse  verMfib«-nden  I,tM^^uIl^;' !i  /u  d«i-kcn. 

i  53.    Die   Hestimmmigen  des  ^  4(1  Abs.   2   /ii;  r  2   mil  <  ;^  tuulen 

aui  i)  .iiit  di>-  zur  l-''''r'i)r;:i-  ti;r  Iti\ .didilfit  iiiiri  Alter  li<  steli>-ii(li n  K.,~si  ii  AiiwriiilLinfj. 
!ii;'.-.rlitli  Ii  der«  :i  uil  (irund  urt>»tatutarischcr  HcNtmmnin;;en  eine  Vt  rpHichtung 
zum      untte  b<  ■-t<  ht. 

54.  Tti-uu  i  U  ileti  iiiirh  M.ii^u'-die  t\<  r  reK-liv^r-.,  t/lii  lh  II  I '.e>l i iiinuin;.; eti  lun, 
bt  /.uj4e  vt)H  Invalidenrciuen  U  rei  liiij;Icn  TerMjaen  ein  ^e!>cl/.liclier  An^[>rueli  aul  Kr- 
satz  des  ihnen  durch  die  Invalidität  entMandencn  Schadens  gegen  Dritte  «usteht, 
geht  derselbe  auf  die  Versicherungsamtalt  bis  zum  Betrage  der  von  dieser  zu  gc- 
wKhr<-nden  Rente  Uber. 

5J  55.  ■  l'npföndbarkeit  der  Ansprüche.)  Die  LVbertragiing  der  aus  den  reichs- 
ge^tzlichen  Bestimmungen  Oc^etze  hielt  ergebenden  Ansprüche  auf  Dritte  sowie  deren 
Verpfandung  oiier  I'iamlung  hat  nur  in«oweit  rechtliche  Wirkung,  als  sie  erfolgt : 

t.  «ur  Deckung  eines  Vorschusses,  welcher  dem  Berechtigten  auf  seine  An« 
>prüch«"  vnr  Anwoi-ung  der  Herne  von  -einem  Arbeitgeber  oder  eineni 
r>r;Mri  -      t  \  <  r-ii  lierung^anstalt  odrr  d<;m  Mitglied  eine^  solchen  Organs 

2.  zur  Üeckuii;:  der  im  j  >>5o  Alis.  4  der  i  u  dpru/.ciMndnunt;  in  licr  l''a^hung 
der  Bekanntmachung  vom  30.  Mai  1898  1  Reichs-« «etietzbl.  S.  3691  bezeich« 
nrten  Kt»r<lerungen ; 

3.  zur  Deckung  von  Kf>rderungen  der  nach       49,  51  ersutzb<*rechtigten 


208 


Gf>cti^'-bung    l>ful>cl>c-.  Rf ich. 


Gemeinden  und  Arm<'nv«rbände  sowie  d«r  an  drren  Stelle  getretenen  Be> 
triehsttntemebmer  un<1  Kaisen. 

Die  Rcnlrnfordrrimgen  diirlen  nur  auf  Ersatzfordrrunc«Tn  für  h^r-ogr-n--  L'ntall» 
renten  und  I*  nt><  Itii.lij^uti;^»-!!.  snwrMt  d-r  AnNprurh  a\if  dic^r  54.  113  \H>.  2 

auf  dir  \  -  r^iv  lierun^saiKi.ih  ülxT^^f'ßangcn  i>t.  auf  pr^duddct»-  BrUragr,  aut  grtahlte 
Vorschüsse,  aui  2U  Lnrecht  gctahUc  KeiUcnbelra^c,  aut  die  zxi  eratattenden  Kuüten 
de»  Verfahrens  und  auf  die  von  den  Or|;ancn  der  Versicherungsanstalten  rerhingten 
Geldstrafen  aufgerechnet  werden. 

Ausnahmsweise  darf  der  Berechtigte  den  Anspruch  auf  die  Rente  gaaa  oder 
mm  Teil  auf  andere  übertragen,  sofern  dies  von  der  unteren  Vcrwaltungsbelidnic 
genehmigt  wird. 

IL  Organisation. 

§  56.  Die  Durchführung  der  InvalideOTersicberung  erfolgt  uatt*r  Mitwiritung 
der  Laadcsverwaltungs»  und  der  Postbehörden  durch  Versicherungsanstalten  und  tbrc 
Organe  (§§  65  ff.),  durch  Schiedsgerichte  ($|  103  ff.i  ->owi>-  durch  da«  Reichs-Vefw 
stdieningsamt  und  die  Landes-Versicherung^mter  [j^  io&  If.i. 

A.  Mitwirkung  der  i^andesverwaltungsbehörden. 

§  57.  Attfser  den  ttbrigen  aus  diesem  Gesetze  sich  ergebenden  Aufgaben 
lii^  den  unteren  Verwaltungsbehörden  (§  169)  insbesondere  ob: 

t.  die  Entgegennahme  und  Vorbereitung  von  AntrKgen  auf  BewOligung  von 
Invaliden-  und  Ahrrsr^rUrn    ;   U2)  oder  auf  Beitrnj;<cr$tattnng«n  (§  IS8) 

sowie  di«-  P.>  oiiiarl)tuii^,'  dri  Antrat;»-  auf  Ri-ntfnV)ewillit^nn':"*n : 

2.  diL-  Bcj,'iit.i<  liUm;:  d.-r  I .iit/i'  huii|4  von  Invalidenrentni  (^^  47,  t2l); 

3.  die  Hfgutachtuii;,'  der  Kinslellung  von  Kenlenzahluncen  1  JjJ}  48.  12I1. 

4.  die  Benachrichtigung  des  Vorstandes  der  Versicherungsanstalt  über  di«-  zur 
Kenntnis  der  Verwaltungsbehörde  kommenden  FiUe,  in  weldien  Grund 
zu  der  Annahme  vorliegt,  dafs  Versidiertr  dmch  ein  Heilveriähren  vor 
baldigem  Eintritte  der  Erwerbsunfähigkeit  werden  bewahrt  werden  (§  18)» 
dafs  Empfänger  von  Invalidt-nrenten  bei  Durch fuhrmig  eines  Heilverfahrt-n> 
die  Erwerbsfähißkcit  wiedererlangen  werdi-n  i;  47  Abs.  2'.  dass  die  In- 
validenrente zu  entziehen  ist  47  Abs.  1 1  oder  Rentenzahlungen  einzu- 
>tfllcn  sind  j^f  4S  : 

5.  die  AuikunliscricUung^  ül)i'r  allr  du-  Invalidenversicherung  belrclVenden  An- 
gelegenheiten. 

§  $8.  In  den  Fällen  des  §  57  Ziffer  I  hat  sich  die  Begutachtung  auf  die 
Vcnicherungspflicht  (§§  (  bis  7)  oder  das  Versichenmgsrecht  ($  141.  anf  das  Mafa 
der  Erwerbsfihigkeit  des  Rentenbewerbers  {ff%  5, 1$.  t6)  sowie  darauf  su  entrecken, 
ob  und  inwieweit  von  den  Befugnissen  der  ^  17.  32  Gebrauch  zn  machen  ist 

In  den  Fällen  des  §  57  Ziffer  2  hat  sich  die  Begutachtung  auf  das  Mab  der 


lDvalidenversicherungdge»«u  vom  13.  Juli  1S99. 


209 


EnresbdBttickeit  des  Rcntenempf&iigcrs  (fi  47  AIm.  l  >  towie  damil  m  enCKckea,  ob 
«ad  nwnwdt  tdu  dar  Bdiigab  det  §  47  Abs.  2  Sats  3  G«lm«eh  n  mdi««  ist 

Die  Begutachtung  mnfs  ferner  über  alle  diejenigen  Fr^m  sidi  Terbreite«, 
welche  fiir  die  Vontudes  der  VentchonmctaiutftU  von  Balwf 

«rachcsBefi. 

§  59.  Ist  dif  untere  VerwaltunRsbi-horde  in  den  Füllen  dr<  §  ?7  ZiAt  i 
und  2  der  Ansiclit.  daU  das  Gutachten  ^jepen  dif  Gewährung  einer  Rrnt-  odt-r  tur 
die  Entziehung  einer  Invalidenrente  abzugeben  sei,  »o  hat  üt:  vor  Abgabe  ihre«  Gut- 
achtens die  im  §  58  bezeichneten  Fragen  unter  Zuziehung  je  eines  Vertreters  der 
Aibeitfebcr  mul  der  Vcnidwitcn  {%  61)  in  aHndlicher  VerliMwIlnng  m  eritrtenu 
Auf  idaca  Antrag  oder  wenn  «•  die  AufklSrung  des  Saehverbahs  erfordert,  i«t  der 
Rentenbewerber  oder  Rentenenip&ngcr  rar  mOndUeben  Verbandhuig  aamaiebcn;  m 
jedem  Falle  ist  derselbe  von  dem  Termine  zur  mündlichen  Verhandlung  zu  benacfa- 
richtigen.  Aua  den  Gittachtea  wau(»  ersicbtUch  «ein,  wie  jeder  der  beiden  Vertreter 
gestimmt  hat. 

Der  Vorstand  der  Versirherung^anstalt  ist  berechtigt,  auch  in  anfi  -r.  n  als  den 
in  den  57,  58  angegebenen  Fällen  und  Uber  andere  Fragen  da>  Gutachten  der 
anteren  VerwaUungsbehfirde  in  der  im  Abs.  i  angegebenen  Form  zu  verlangen. 

S  60.  Die  höhere  Verwaltnngsbehörde  (§  169)  kann  nach  Anhörung  oder 
•ttf  Antrag  des  Vorstandes  Ar  den  Bearic  einer  Versicberungsanstalt  oder  Teile  des- 
aelben  bestimmte  Gemeindebehörden  als  untere  Verwaltnngsbebdrden  im  Sinne  des 
§  57  beaeicbnen  und  mit  der  Wakraehmong  der  in  den  §$  $7,  58  vorgesehenen  Ge* 
schifte  betrauen. 

§  61.  Fflr  den  Benrk  jeder  unteren  Verwaltungsbdifmle  (§  57)  werden  Ver- 
treter der  Arbeitgeber  und  der  Versicherten  gewählt;  deren  Zahl  beträgt,  solange 
nicht  durch  dipienip'^  Behörde,  welche  dir  Wahlordnung  erlassen  hat  63).  eine 
profserf  Zahl  hf^timmt  ist,  aus  d.*r  Klasse  d>«r  Arbeitgelx-r  und  der  V-rsirh-M t'-n  je 
vier.    Dil-  I?<->tinjniung>-n  tlcr  ij§  87  bis  94.  97  find<-n  cntN}tr'n-h''n(li-  .Xnu  >-n(liing 

62.  Di«*  V.>rtreter  der  .■\rb<>itge'{)''r  und  tler  Versicherten  werden  von  den 
Vorstanden  der  im  Bezirke  der  unteren  Verwaltungsbehörde  vorhandenen  (.)rU-,  Be- 
triebs* (Fabrik;*),  Bau*  und  Innungs^Knukenkassen,  Knappschnftskasscn,  Seemanns- 
Wisfti  imd  anderen  air  Wahrung  von  bteressen  der  Seeleute  bestimmten,  obrig- 
keiüieh  genehmigten  Vereinigungen  von  Seeleuten  sowie  von  den  Vorständen  der* 
jea^en  en^ieschriebcnen  oder  anf  Grund  lande^gesetzlicher  VorschriAen  errichteten 
HiUakassen  gewählt,  welche  die  im  §  75  a  des  KrankenversicherongsgcHrtzes  vr>rge- 
»ehene  B<-M*ln'inigtmg  besitzen  und  drrfn  I'../.irk  >ich  über  den  B'-.'irk  unf-Tt-n 
Verwaltungsbi  liMrdi-  nicht  hinaus  erstreckt.  Soweit  dio  im  jj  i  bo/cu  ha -u-ii  i'«T,nnen 
aolchen  Kas>en  nicht  angehören,  ist  nach  Bestimmung  der  Landesregierung  den  Ver- 
tretungen der  weiteren  Kommvnalverbinde  oder  den  Verwaltungen  der  Gemeiade- 
Kiankcnvenicheraiig  beiiehungsweLse  landesrecbtUchen  Einrichtungen  ihnlicher  Art 
eine  der  Zahl  dieser  Personen  entsprechende  Beteiligung  an  der  Wahl  einairSamen. 
Soweit  die  Vorstände  der  beieichneten  Kassen  und  Vereinigungen  ans  Vertretern  der 
Arbeitnehmer  msammengesetzt  sind.  nfh(n<-n  bei  der  Wahl  die  den  Arbeitgebern  an- 
Archiv  fiir  Mc.  Gesetzgebonf  «.  Statiaulc.  XV.  14 


L.ivjM^L,j  L,y  Google 


2IO 


K^horrmlrn  Mit(;lird<-r  dr»  Vorstands  nur  an  drr  Wahl  drr  Vertreter  der  Arbeit* 

prlx-r.  ili.  ,1.1)  Vt  r^i.  1;.  r('-n  an^rhörrm!»  rt  Mit;:Ii<  (l<  r  dr,  Vori-tafKlrs  nur  an  der 
\Va})l  i!<T  \".  rtr<  ti  r  r  \'iT^!r]irr?rn  t'  il.  N  or^'iiml'-,  iii  (l<-nrn  .\rl>ritg'-h<T  nicht 
vrrtrfti  ii  -Ulli.  Tx-lini'-n  nur  an  il<  r  W  ii<  r  V<  rtri  trr  «Irr  \'rr-ii  Iii  rtrn.  Vor>taTni<\ 
III  di-ri' n  Arl'.  :tii.  lim.  r  lu»  ht  v«  rtrt  ten  Mini.  n<  limcu  nur  ;in  tli-r  Wahl  der  Vertreter 
eU-r  Ail'-'H^;,  l>.  r  t-  il. 

Vur>t:»ti<ic  M>lili<'r  Krank>iik.i>N<-n,  tur  »U-ren  Mitj:lieil.-r  rin«-  hrMinclere  Ka>sen- 
einrirhtunß  im  Sinne  der  8,  lo.  Ii  besteht,  sind  nicht  berechtigt,  tat  den  Wahlen 
trilzunehmcn. 

IHr  Vertreter  drr  Arbt-itgelier  und  der  Versicherten  müssen  im  Bezirke  der 
unteren  Vrrwaliungshi-hörde  und  mindestens  2ar  Hälfte  an  deren  Spitze  oder  in  einer 
Entfernung  bis  zu  lo  km  vtm  demselben  wohnen  und  dürfen  nirht  Mitglieder  de» 
Vorstandes  (§  73)  mler  eines  Schie<lsgerichts  ({J  103)  sein. 

§  63.    IHe  Wahl  der  Vertreter  rrfol|*t  nach  näherer  IWimmnng  einer  Wahl« 

(»nimm;;,  \v.  1i  Ii--  vun  der  für  den  Sitz  der  Vrrsichrrungsan'-t.ilt  -  1  tändigen  Landes- 
/«•ntrall'«  li> Tile  niii-r  «l'-r  \'<r\  di. -.-r  Ix  -«iinTm.-n  f%-h  'r.i.  m  i-t!.i--.  ii  i>t,  iintrr  T.i-itimf; 
«■in»-v  !*■<  auK r.i^li  ii  <li.  -.  r  l'-  li  tr.K-,  l".  i  tii'  in-atn.  ii  V- r-i.  hrrim;;-an-tah<  n  wird  <li.- 
Waliloninijti^',    -oteni   »  in    luin  t  r^lainJiii>   niit<  r   >1.  n    lu  t.  Laiiiio^r«  j^u-run^rn 

nicht  <-r£it-lt  wird,  durch  den  Reichskanzler  crlas.sen  un<l  die  \Vahl  durch  einen  von 
demscllM-n  ernannten  Beauftragten  geleitet. 

Zum  Zwecke  der  Wahl  der  Vertreter  kann  der  Be2irk  der  unteren  Verwaltung;«* 
behordc  in  kleinere  Wahlbezirke  geteilt  werden. 

Streitigkeiten  Uber  die  WTahlen  werden  von  derjenigen  Behörde  entschieden, 
welche  die  Wahlordnung  erlassen  hat. 

3$  64.  Die  Vertreter  der  Arbeitgeber  und  der  Verücherten  sind  auf  die  ge- 
wissenliafte  Erfüllung  ihrer  Obliegenheiten  durch  die  untere  Verwaltungsbehörde  su 
verpflichten. 

Durch  die  höhere  Verwaltungsbehörde  sollen  über  die  Reihenfolge,  in  welcher 
die  Vertreter  au  den  Verhandlungen  zuzuziehen  sind,  Bestimmungen  getroffen  werden. 

Die  den  Vertr<  t»m  /.u>tchenden  Bexügc  (jjsj  61,  92)  sowie  die  sonstigen  durch 
dav  Verfahren  entstehenden  baren  Auslagen  sind  von  der  Versicherungsanstalt  zu 
erstatten. 

r>i<  unti  rc  Verwaltttugbbehörde  ist  befugt,  Zeugen  und  Sachvcrstindige  uneidlicb 

zu  veriuhnu-n. 

I  >cr  \  ur>tand  der  \\'rsicheruiig>aiistalt  l'^t  bt  tu^;!,  aul  Antr.a^  d«-r  unteren  \  er- 
wallun^^-bthurdc  den  Bclciiij;trn  solche  Kusti-n  tlois  Vcrlahren^  zur  Last  zu  legen, 
welche  durch  Mutwillen  oder  durch  ein  auf  \'ersciil<']i[iun^  oder  Irreführung  be> 
recbnetes  Verhalten  derselben  veranlafst  worden  sind. 

Im  Übrigen  wird  das  Verfahren  vor  der  unteren  Verwaltungsbehörde  durch  die 
Landes<Zentralbehörde  geregelt. 


Invalidmvrrsichrrungj-grsctz  vom  13.  Juli  1899. 


211 


B.  X'ersicherungsanslalten. 
I.  Errichtung. 


4j  <>>.  Die  Vrrsichcruiijivanstaltf  ii  wr  r<!'  11  nach  Hrstimmunjj  der  Landes- 
regH-iiiiiiicn  lur  wcittrr  Komniunalvi-tb;tti(l<  üircs  GebicU  oder  für  das  Gebiet  des 
buutit-shlaats  oder  Teile  desselben  errichtet. 

Auch  kann  fttr  mehrere  Rondessuaten  oder  Gebietsteile  derselben  sowie  Übt 
mehrere  weitere  Kommiuuüverbinde  cin«s  Bondesstaats  eine  gemeinsame  Vcrsiche- 
ran^sanstalt  errichtet  werden. 

In  der  Versicherungsanstalt  sind  alle  diejenigen  Personen  ra  versichern,  wekhe 

in  drrrn  !^'-/irke  iK-^chäftigt  werden  \  f  <li<*  Rctimmang  des  Beschiftigimgsorts 
fiiiili  n  <ln-  \'orso)iriftcn  des  c  a  <lt^  Krankctivcrsirhcningsjres'-t/rs  Anwendunp. 
Nowni  i'.K  r>.-^ch:iHi^unfj  in  einem  lUtriciie  ^t  utlinilft ,  (!>"vsfti  Sit/,  in  <l'-ni  Uezirk 
einer  anderen  Versiclierungsanstalt  bcle^'cn  ist,  kann  mit  /ustimmunjj  der  beteiligten 
Versicheningsanstalten  die  Versicherung  auch  bei  der  Versicherungsanstalt  des  Be* 
trielMsitzei  erfolgen.  Diese  Zuatirnmang  mnfs  auf  Antn^  des  zur  Beitragsleistong 
verpflichteten  Arbeitgebers  erteilt  werden,  wenn  die  beschäftigten  Personen  Mitglieder 
einer  fllr  den  Betrieb  errichteten  Betriebs*  (Fabrik*)  Krankenkasse  sind.  Findet  die 
Besrlialn^'un^  vorüVx  rgehend  im  Ausland,  aber  in  einem  Hetriebe  statt,  dessen  Sita 
im  Iidaude  belegen  ist,  SO  erfolgt  die  Versicherung  bei  der  Versicherungsanstalt  des 
Betriel>^sitr»s. 

l'.<  1  ausl;in<iis<  hm  Uinm  iisrhitfen  gilt  als  ll.^t  haltij;uii;,'sorl  d>  s  I'ersun.d-.  der 
.Sitz  derjenigen  Veri.icherunj;san.stall,  in  deren  I'.ciirkc  da>  Schifl'  bei  Uebcrlahren  der 
Grenxe  inerst  eintritt. 

^  66.  IMe  Errichtung  der  Verichenmgsanstalten  bedarf  der  Genehmigung  des 
Bundesrats.  Soweit  die  Genehmigung  nicht  erteilt  wird,  kann  der  Bundesrat  nach 
Anhörung  der  beteiligten  Landesregierungen  die  Errichtung  von  Veisichexnngso 
anstalten  anr)rdnen. 

!j  67.   I>-  r  Sit/  d'-r  \'>  r^t<~heninf^^.i!i~tal!  wird  durch  «lie  Landcsrej;tcnin^  h^-stimmt. 

l~i  dii-  \'<-r- K  hi  i un;;s.iiiNtalt  tar  nat  tif  re  l'.unile>^t.xat<-n  o<]fr  (ieliict-.!'  i!i-  der- 
s^elhen  errichtet,  !>o  bestimmt  den  .SiLr,  lall.s  eine  Vereinbarung  der  beteiligten  i^andes- 
rcgicrungen  nidit  zustande  kommt,  der  Bunde.sraL 

§  68.  Die  Versicherungsanstalt  kann  unter  ihrem  Namen  Rechte  erwerben 
und  Verbindlichkeiten  eingehen,  vor  Gericht  klagen  und  verklagt  werden.  FQr  ihre 
Verbindlichkeiten  haftet  den  GUtub^eeni  das  Anstaltsvermögen,  soweit  dasselbe  <nr 
Deckung:  der  Vrrpflichtungen  der  Versicherungsanstalt  nicht  ausreicht,  der  Kommunal- 
verbanti.  tür  \v<  li}i<  n  die  Ver^ichrrunpsanstall  errichtet  ist,  im  Falle  seines  Unver- 
md^'ms  Hier  wenn  di'-  WrsicherimgMDütalt  fUr  den  Bundesstaat  oder  Teile  desselben 
erri<  ht<  l  i^t,  «Irr  Himd>-s'-taaf. 

Ist   die  X'crsicherungsanstall    bar   mehrere    Kunuuunalverbüude   oder  Bundes- 
staaten oder  Teile  solcher  errichtet,  so  bemifst  sidi  deren  im  Falle  der  Unzuling* 
lichkeit  des  Anstaltsvermügens  eintretende  Haftung  nach  dem  Verhiltnisse  der  auf 
Grand  der  letzten  Volküsahlung  festgestellten  Bevölkerungsziffer  derjenigen  Bezirke 
mit  wrlchcn  sie  an  der  Versicherungsanstalt  brteiligt  sind. 


«4* 


212 


GeseUBebung :  DenUchet  Reich. 


Die  Mittel  der  \  erMch«:run|;.'.*m3»tAlt  dürfen  für  and'-r«-  aU  in  die>«in  üe- 
MtM  vorgesehenen  Zweck«  nicht  venreulet  werden.  Ihre  Einnihmen  and  An*» 
{■ben  and  goiondert  <u  verrechnen,  ihre  Bestände  gesondert  xu  verwahren. 

Die  Veriicherang5iMi!tt«It  darf  mndere  als  die  in  dieiem  Gesetc  ihr  Uber« 
tragcnea  Geschälte  nicht  Qbcraehmco. 

9  69.  Die  durch  die  enrte  Einrichtong  der  VersichemngsaMtaU  entstehendes 
Kosten  sind  von  dem  Kommunalverbande  oder  dem  Biinde»taat,  ftlr  welchen  sie 

errichtet  wird.  \  ir."i  ■  hi<  fM-n.  Für  gemeinsaiTK' V'-r^i.-h'Tunjj^nstalten  sind  die  Vor« 
!>rlni>>^c  iK-im  Man^-  l  rioer  Vereiabaning  nach  dem  im  §  68  Abs.  9  vorgesehenen 
Verhältnisse  lu  Ii  ivi»-n. 

Die  prlri>t«-tfn  \  or>f hüvsi-  >ind  von  der  Ver&icherung:ian»lall  au»  den  zunüclut 
eingehenden  Versicherungsbeiträgen  zu  er-ttatten. 

s.  Statut 

§  70.  Mir  jede  Versicherungsanstalt  i«l  ein  Statut  ni  errichten,  welches  vmm 
dem  Anwchnase     76)  beschlossen  wird.   Dasselbe  muf«  Bestimmmg  treffen: 

I.  ttber  die  Zahl  der  dem  Vorstand  angehörenden  Vertreter  der  Arbeitfeber 

and  der  Versicherten; 
3.  über  die  2^1  der  Mitglieder,  die  Obliegenheiten  und  Befognisse  sowie 

die  !>.-riifung  dr>  Aus>chuv>es,  Über  die  Bestellong  seines  Vorsitxenden  nnd 

über  dio  Art  il'-r  Besohlufsfavsung : 

3.  Über  die  I  orm.  in  welcher  der  X'  ^r^tand  -sfinf  WillTi-'-rkiarungen  kund- 
zugeben und  iür  die  Vcrsichcrung>atistaU  i\i  zeichnen  liat  sowie  Uber  die 
Art,  In  weldier  die  Besdilnfsfassung  des  Vorstandes  and  seine  Vertretung 
nadi  anfsen  erfolgen  soll; 

4.  über  die  Vettretang  der  Versichenmgianstak  gegenüber  dem  Vontaadc; 

5.  Aber  die  Zahl  der  Beisitxer  der  Schiedsgerichte,  welche  aus  der  KloMe 
d*ir  Arbeitp-'h'T  (ind  der  Versich<Tt'-n  minde-iten>  j.-  vit-r  betragen  mulSt 
und  Uber  <li-  Reihenfolge,  in  welcher  die  Beisitxer  su  den  VerhsAdlangen 
zuzuziehen  sind ; 

6.  über  die  Hohe  der  nach  §  74  Abs.  3,  ^  92  zu  gewährenden  VergütongM; 

7.  ttber  die  Aulsteüung  des  Voranschlags ; 

S.  ttber  die  Anfstelinng  und  Abnahme  der  Jahresrechmmg,  soweit  hieriNicr 
nicht  von  der  Ihr  den  Sita  der  Versicherungsanstalt  «ustttndigen  Landes- 
Zenttalbehtfrde  Bestimmungen  getroffen  werden; 

9.  ttber  die  VeröfTentlichtuig  der  Rechnungsabschlüsse ; 

10.  über  die  Öffentlichen  Blätter,  durch  welche  Bekanntmachungen  lu  erfblgon 

haben ; 

11.  über  (In-  Vorau5s<-tzunj;<Mi  einer  AbiinJerun^  de>  Statutü. 

§  71.    Dem  .^u^>^Iul>^<'  niu>>'  ii  vorbehalten  wt-r  l  -n 

1.  die  Wahl  der  nicht  beanitett-n  Mitglieder  de»  Vori»tsutdes  sowie  die  Wahl 
der  Beisitzer  der  Schiedsgerichte ; 

2.  die  Feststellung  des  Voranschlags; 


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Invalidenver»ichrrung»ßeseu  vom  13.  Jali  1899. 


213 


3.  die  Prflfaag  der  jAhresreclnraiq;  und  die  Avfitellnig  von  BrinBcraafca 
gegen  dieselbe; 

4.  die  Znitinuaug  so  BescUttncn  des  VontHndcs,  veldie  die  Erwerbanf  ,  dia 

Wräu  Irrung  oder  die  Bi-lastang  von  Grundstücken  der  Versichenuigsansttk 
br  Irr  fron,  sofern  nicht  nach  dem  pflichtmälingen  Enncncn  des  Vontnad« 

<j«-fahr  im  Verzug  ist; 

5.  >!ir  Hrscklaf»fas»ung  Uber  die  Bildung  von  RflckvcnkhenrngSTerbindcn 

t>    i;ic  Abänderung  d«rs  Matuts; 

7.  dir  Icbcrwachung  der  Geschäftsführung  des  Vorstandes. 
Der  Fntwurf  des  X  oraiisc  hlar;>  /iff«  r  2I  ist  >pätr*itens  rwei  Wochen  vor  der 
zur  l- f  ^tsrt/imj;  dfskflhen  anb«-raunit'-n  Nitzung  des  Au.sst  liuss^  s  der  Aulsichtsbehörde 
in  Absclinlt  vorzulegen.  Diese  ist  befugt.  Anstände  zu  erheben,  insoweit  der  Vor- 
«nschlag  oder  Teile  de>>selben  den  gesetzlichen  oder  sitatutarisclien  Bestimmungen 
nicht  entsprechen.  Der  Vorsitscndc  des  Vorstandet  ist  verpflichtet,  den  Beachlnft  des 
Ansichnses,  durch  welchen  die  AastfUide  der  Anfsichtsbehörde  nicht  berOdmchtigt 
Verden,  gemifs  §  75  an  beanstanden. 

§  7a.  Das  Statut  bedarf  sa  seiner  Gültigkeit  der  GencbBUgiuig  des  Reichs* 
Vcrsicheningsamts.  Dem  Ictsteren  sind  die  von  dem  Ansschnfs  tibcr  das  Statut  g«> 
fafsten  Brschlfiwe  mit  den  Pratokollen  durch  den  Vorstaad  binnen  einer  Woche 

einzureichen. 

tjrßt  n  tlio  Fnl-rli.  i<lun>;  tlo  k<  ichs -V'  r^u  tuTunf^'samts.  tluroh  welche  die  Ge- 
n«  }miif:iiii}^  ^•  rva>,'t  winl  iindft  binn<'n  eiin  r  Krivl  \ 011  vii  r  Wochen,  vom  Tage  der 
Zu>ti  llunj^  an  «I-  ti  \'i 'r-.i.in<l  ab,  tlit-  Beschwerde  an  il<  n  runde>rat  statt. 

Wird  inn«  rhalli  (Ii- ^t  r  Frist  lU-schwerde  nidit  eingelegt  oder  wird  die  Ver- 
tagung der  Genehn^igving  dc<«  Statuts  vom  Bunde.srat  aufrecht  erhalten,  so  bat  das 
Reichs  »Versichernngumt  innerhalb  vier  Wochen  eine  abennaüge  Beachlnlsfaisang 
änznordnen.  Wird  auch  dem  anderweit  beschlossenen  Statute  die  Genehmigung  end- 
gültig  versagt  oder  kommt  ein  Besdilufs  des  Ansschnsses  Uber  das  Statut  nicSit  m 
••tand.  so  wird  ein  solches  vom  Reichs-Versicheningsamt  erlassen,  b  letsterem  Falle 
hat  das  Keichs-Versicherungsamt  auf  Kosten  der  VersicheruQgsanatalt  die  zur  Ans» 
fUhrung  de^  .Statuts  erforderlichen  Anordnungen  /.u  treffen. 

.\bandcrinigen  des  Statuts  b<  iliufi-n  der  Genehmigung  des  Reichs-V'ersicherungs- 
airits.  tiegen  die  W-rsaguii^;  der  t lenehnii^uiig  tinilet  V>innen  vier  WochcO,  vom 
Tage  iler  /ustellur^,'  .d\  dir  l'.-schwertle  an  den  Hunde-rat  statt. 

Naili  1  cst^tellung  des  Statuts  sind  »lurrh  den  Vorstand  im  ,,keichs-Anzcigcr" 
und  in  dem  für  die  Veruffentiichungen  der  Landes-Zentralbchorde  bestimmten  Blatte 
der  Name,  Sitz  und  Bezirk  der  Versicherungsanstalt  sowie  der  Name  des  Vorstandes 
bekannt  «u  machen.  Verindenmgen  sind  in  gleicher  Weise  zur  öflentlichen  Kenntnis 
SU  bringm. 


214 


3.  VorsUnd. 


s5  7.>  ■  \"  '  1  i  n  ng^anstah  wir.l  durcli  einen  Vorstand  verwaltet,  )iOW«it 
ni<  lit  •  in/.  Inc  Angclc^fiiiitiUen  durch  Gesetz  oder  Statut  anderen  Organ^^n  ttber> 
tragen  >inil. 

I  >rr  \"(jr>l.unJ   h.it  \''TM;  iifriiii^>;iris!.ilt  j^-Tirhtli  Ii  uTi'l  ui.i>'-r;:'-ri>  litldii  f.u 

vertreten.  Die  Verlrctunjj  cr>lrt-ikl  ^lcl^  aucli  uul  ilicj»iuy<ii  (jficliuli»"  und  R-'chts- 
handlimgen,  für  wekbe  nach  den  Gesetzen  eine  Spt'zialvollmacht  erforderlich  iit. 

§  74.  Der  Vorstand  der  Versicherungsanstalt  hat  die  Eigenschaft  einer  öflfent- 
liehen  Behörde.  Seine  Geschfifte  werden  von  einem  oder  mehreren  Beamten  de« 
weiteren  Kommiuudverbandes  oder  Bunde^taats,  fllr  welchen  die  Versicherung^anätait 
errichtet  ist,  wahrgenommen.  Die  beamteten  Vor>tanii-init;;Ii'-ili  r.  von  i1-'n  -n  --in>-5 
al-  Vorsitzentlrr  zu  l)c/i-i<  linL'ii  i>t ,  winlm  n.i  Ii  .M  r^;;.il)f  der  latui<-^{^''N'-t/.licli'-n 
Vorsclinttfu  von  ilt  m  KoniiininaK crliatiil«-  bt■/i.•!lu^^^..\v.•i^>•  von  d<-r  I .aini'  -r-  jjirrung 
bcslclU.  l'.rstreckt  bich  der  Bezirk  der  Vcrsit;hcrungsan>laU  üb'-r  mehrere  weitere 
KommiinalverbSnde,  so  werden  die  Beamten  von  der Lande»regicMing  bestellt;  dirM 
kann  die  Bestellung  auf  einen  der  weiteren  Kommunalverbande  übertragen.  Erstreckt 
sich  der  Bezirk  der  Versichenugsatistalt  über  Gebiete  mehrerer  Bundesstaaten,  so 
entscheidet  über  die  Bestellung  der  Beamten,  falls  ein  Einverständnis  unter  den  be< 
teiligten  l  .uidrsrt-^'i'-nniL; -n  nicht  erzieh  wir<l.  der  Reichskanzler.  Die  Bezüge  der 
Beamten  und  dir«T  Hintr-rbli<  l>fn<-n  >itid  von  dor  Vcrsic!KTun<;sanstah  zu  vcruütrn. 

Nohen  d<-n  vurj^i-nanntrn  H''anitcn  nir.>>en  <!cni  \'.>r-.taii.i.-  \  »"rtretcr  <l<?r  Ar- 
beitgeber und  d<T  Versicherten  angehören.    Besoldung  wird  dmen  ni'  ht  gewahrt. 

Durch  das  biatul  kann  bestimmt  werden,  dal»  ileut  \'orstandc  neben  den  vor- 
genannten noch  andere  Personen  angehören  sollen.  Dieselben  können  nach  Be- 
stimmung des  Statuts  besoldet  oder  unbesoldet  sein.  Sofern  ihnen  Besoldungen  zu 
gewShren  sind,  bat  der  Ausscbufs  (§  76;  die  Anstellungsbedingungen  festzusetzen. 

§  75.  Der  Vorsitzende  des  Vorstandes  liat  Beschlüsse  der  Organe  der  Ver* 
sicherungsan.stah,  weldie  f;ejr,.n  die  gesetxlichrn  oiler  statutarischen  Vorschriften  ver- 
stofsen,  mit  aiif~<  lii.  l>en>i<T  Wirkung  unter  .\nj;.di.-  der  (iründe  in  beanstanden.  Die 
Anfechtung  erlolgl  mittels  Beschwerde  an  die  Aufsichtsbehörde. 


§  76.  Fflr  jede  Versicherungsanstalt  wird  ein  Ausschuf»  gebildet,  welcher  aus 
mindestens  je  fUnf  Vertretern  der  Arbeitgeber  und  der  Versicherten  besteht  Die 
Zahl  der  Vertreter  wird  bis  zur  Genehmigung  des  Statuts  durch  die  fUr  den  Sitz 
der  Versicherungsanstalt  zuständige  Landes-Zentralbehörde,  spliter  durch  das  Statut 

bestimmt. 

Dii  se  N'ertreter  w  i-rdt  ti  \ on  den  N'er'rrt.-ni  der  .\rl"-it;^i  l><  r  und  d-  r  \''T>ir!!  Tten 
bei  den  unteren  \'<  r\valtun^^l><  li..rden  1 J;  Ol  >uwi>  \un  d-  n  lM  i>it/,ei-n  der  Renten- 
stcUcn      Si)  je  getrennt  von  den  Arbeitgebern  und  den  Versicherten  gewählt. 

$77.  Die  Wahl  der  Vertreter  erfolgt  nach  näherer  Be:stimmung  einer  Wahl> 
Ordnung,  welche  von  der  fiir  den  Sitz  der  Versicherungsanstalt  zuständigen  Landes- 
Zentralbehörde  oder  der  von  dieser  bestimmten  Behörde  zu  erlassen  ist,  unter  Leitung 


4.  AuMChofs. 


Invahilcnvcr3ichcrung.>};e-<«:U  vom  ij.  Juli  l!>9<^. 


eines  Beauftragten  dieser  Behörde.  Bei  gemeinsamen  Venicherungsanütalten  wird 
die  Wahlordmmg,  sofern  ein  Einverstlndnis  anter  den  beteiligten  Landesregierungen 
nirht  erzielt  wird,  «lurch  dm  Rcictiskamler  erlassen,  und  die  Wahl  darch  einen  von 

demsrlbm  ernannten  Beauftra>;t>-ii  j:«  lrit<-t 

Für  jcficTi  \'crtrr  t<-r  >in>i  miiwl-  -t<  ii>  fiii  rr-t'-r  und  zweiter  l£r>atzmann  zu 
wählen,  welche  diii'><li"ti  in  Behindfruii^'-talleii  zu  ersetzen  und  im  Falle  des  Aus- 
scheiden:» lilr  den  Rest  der  Wahlperiode  in  der  Reihenfolge  ihrer  Wahl  eiozulrelen 
haben. 

Streitigkeiten  ttber  die  Wahlen  werden  von  derjenigen  Behörde  entschieden, 
welche  die  Wahlordnung  erlassen  hat 

§  78.  Den  Vur>itz  im  Ausschussr  mhft  bis  zur  f  lenchmigung  des  Statuts  der 
Vorsitzende  des  Vorstandes  der  Vcrsicherun','>.inst.iU.  Derselbe  beruft  die  Mitglieder 
des  Ausschu'i's.-s.  Für  diejenigen  Mit glif'iior.  w.-lche  am  Erscheinen  beliind-T?  sind 
und  dies  (1,'in  \  ur^itzeuden  des  Vorstandes  rechtzeitig  mitteilen,  sind  die  Ersatx» 
männer  zu  laden. 

Die  Mitglieder  des  ilber  das  Statut  beratenden  Ausschusses  erhalten  fßr  ihre 
Teilnahme  an  diesen  Beratungen  Vergütungen,  welche  von  der  fttr  den  Sitz  der  Ver- 
sicherungsanstalt zutlndigen  Landes-Zentralbehörde  zn  bestimmen  sind. 


79.  F'ür  die  Wahrnehmung  der  den  untfr<-n  \  ■  rwaltungsbehordcn  nach 
^ji  57  bis  59  obliegenden  Ciochult'-  k  >nti»~n  für  den  liezirk  der  \''Tsir(i<Tung-,- 
anstalt  oder  Teile  dcssclbcm  vom  Vorstände  der  Vers  icher  uug.-anstall  Rentenstellen 
errichtet  werden. 

Erforderlidi  ist  jedo^  die  Zmtimmung  des  Ausschusses  der  Ver»cherungs« 
anstalten,  anfserdem  bei  Verricfaeningsanstahen,  fttr  welche  die  beamteten  Mitglieder 
des  Vorstandes  von  einem  Konunnnalverbaade  su  bestellen  sind,  auch  die  Zustimmung 
des  mit  der  Verwaltung  der  Angelegenheiten  dieses  Kommnnalverbandes  betrauten 
Organs,  l>ei  Versicherungsanstalten  ab<-r.  für  welrh'  die  beamteten  Mitglieder  des 
Vorst.andes  von  der  L.ind<-sregierung  zu  bestell,  n  simi,  die  Zustimmung  d>  r  l.andeN- 
Zcntralb<dior<le  o<ler.  solcm  mehrere  I  ;indos-/.<-nlralb«'borden  beteiligt  sind  und  eiu 
Einverständnis  unter  ihnen  nicht  erzielt  wird,  di<-  Zustimmung  ile»  Reicliskan/lers. 

Die  Landes-Zentralbehördc  kano  im  Falle  des  geschäftlichen  BedUrfuissi^a,  in^ 
besondere  in  Gegenden  mit  dichter  Bevölkerung,  nach  Anhörung  von  Vontand  und 
Attsschufs  der  Vercicherungsanstalt  sowie  des  mit  der  Verwaltung  der  Angelegen- 
heiten  des  zustSndigen  weiteren  Kommunalverbandes  betrauten  Organs  fttr  Bezirk« 
Unt<  rer  Verwaltungsbehörden  oder  ftir  einzelne  Gemeinden,  in  welchen  nicht  gcmäfs 
§  60  die  Wahrnehmung  der  in  Abs.  i  v<)rg<'s<h<'nen  fir-schäft'-  d<n  Gi-meinde- 
beh<»rden  ubi-rtrap-  n  ist.  di-  I  rrK  litun;;  \>>u  Kt  iit' nstcll^  n  anordnt  n.  Sollen  xdche 
St<-l!--n  für  bi  /irkr  .  irirliti  t  w.-nl.  ii,  w.  li  li.-  sicli  aul  tli<-  Gebiet«-  mf lir.  r^-r  Bund«-'»- 
sLuiii  II  .5r>trecken.  su  kaiiü  der  k^■K•il^kanzler,  falls  ei»  Linverstäntlnia  unli-r  den  bc» 
tciligicn  Landesregierungen  nicht  erzielt  wird,  ihre  Errichtung  anordnen. 

Die  Kentenstelle  ist  Organ  der  Versicherungsanstalt  und  hat  die  Eigenschaft 
einer  öffentlichen  Behörde. 


5.  Rentenstellen. 


2l6 


Gr&rtz^rliung .  iJrutschc»  Reich. 


§  80.   Aafwr  dm  im  d  79  Abs.  1  bexekhnctcn  Aufgaben  km  der  Vontnd 

»l«-r   \'t  r^if  hrrungsanstalt  unter  Zustimmung   rlc«*  AVMChTisiies  der  Rmtenstellc  die 

Kontroll«  iiV>«*r  Hi--  Fntrirhtung  (U  r  I!<  ilr;i(:r  iihortragen ;  in  pl'  ichrr  \V<  i<.,-  im«]  mit 
(i«-n«-hmi^'un{;  di  r  lur  ili  11  Mtz  der  kcntcnsfrllr  /u^lundi^;«  n  1  and< --/»  niraUM-tiorde 
konnrn  d»r  Krnttnsitlle  durch  den  Vorstand  noch  w«-it«:rc  ( )bhcg«:nhciicii  über- 
tragen werden. 

§  81.  Jede  RcntcMtcllc  bcttcbt  «os  einem  ctindigcn  Voniticndcn,  mindatena 
einem  StellTertreter  und  aui  Beisitzem;  ihr  werden  die  erforderlich«»  HiU<b«Hali9 
beigegeben. 

Die  Fots.  izun^'  d(  r  Amtsdaucr  und  der  Bezüge  des  Vorsitzenden  und  der  Stell- 
vertreter .  rlol;,'t  durrh  d«  n  Vorstand  der  V«  rsiihemngsanstalt.  Die  Ernennung  des 
VorsitV' ndt  n  uml  der  Stellvertrt  ler  erlolgt  lux  Ii  .\n>!>'n»ng  ile>  Vorstandes  dur<  li  die 
mit  der  \"erwaltun>;  der  .\ii^'«li-^'enbrit'n  d.^  U'  i!<  ren  K<>n  -miu.d Verbandes  bcirautf 
Behörde ,  liir  diejenigen  An.>talten  aber,  m  welchen  dje  tie.tniteten  Mitglieder  des 
Vontandes  von  der  Landcs>Zentralbebörde  zu  ernennen  sind  i§  74  Abt.  t),  dttth 
die  letztere. 

NanM  and  Wohnort  des  Vorsitsendcn  «nd  seiner  StellTCftretcr  siad  in  dem 
Besiriie  der  Rentenatellc  vom  Vorstände  der  Versichervngmnstah  so  vcrOffentlkbcn. 

Wird  die  Stelle  des  Vorsitzenden  der  Kentenstelle  von  einem  mittelbaren  oder 
unmittelbaren  Staat>.beanuen  im  Nebenamte  verwaltet  >o  unterliegt  .  r  hinsichtlich 
!>einrr  Thatigkeit  als  \  orsitzender  der  Kenten»teUe  nur  der  lÜsziplin^U'gcwaU  der  ihm 
im  iiauptamtc  vorgesetzten  1  )ien>tbeh' irde. 

Die  Hilfsbeamten  der  Kenten»telle  sind  ileamte  der  Versicherungsanstalt;  ihre 
Bestellnng  erfolgt  durch  den  Vorstand  der  Venichemngsanstalt  nach  Anbörang  des 
Vorsitsenden  der  Rentenstelle. 

§  82.  Die  Zahl  der  Beisitzer  betrigt,  solange  nicht  durch  die  Versicberungs» 
anstalt  eine  gröfsere  Zahl  bestimmt  ist,  aus  der  Klasse  der  Arbeitgeber  und  der 
Versicherten  'e  vier. 

Aut  di>-  Wahl  der  Beisitzer  finden  die  VurMÜmftcn  der  6a,  63  ent» 
sprechende  Anwendung. 

J;  63.  Der  Vorsjucnde,  dessen  McUvcrtreier  und  die  Beisitzer  sind  auf  die 
t;e wissenhafte  Erfüllung  der  Obliegenheiten  ihres  Amtes  zu  verpflichten;  dasselbe 
gih  Ittr  die  Hilfsbeamten  der  Rentenstelle,  insoweit  sie  nicht  bereits  ab  Beamte  der 
Versicherungsanstalt  einen  Diensteid  geleistet  haben.  Die  Verpflichtung  des  Vor- 
sitzenden erfolgt  durch  die  ernennende  Behörde  (§  81  Abs.  3)  oder  einen  von  ihr 
hiermit  betrauten  xfrentlichen  Beamten,  die  Verpflichtung  der  anderen  Penonen 

durch  den  \  orsilzcnden. 

I>uri-li  das  Matut  können  über  dir  keihentolije,  in  welcher  die  Beisitzer  ZU  den 
Verhandlungen  zu/uziehen  sind,  P.evtimmungen  getroffen  wenien. 

Der  Vorsitzende  setzt  die  den  Beisitzern  zu  gewahrenden  Bezüge  <)2j  fest. 
Ihm  steht  die  mmittelbare  Dienstaufsicht  Uber  die  Hilfsbeamten  der  RentensteUe 
zu;  Disziplinarstrafen  gegen  dieselben  verhängt  jedoch,  sofern  sie  bei  der  Renten» 
stelle  im  Hauptamt  angestellt  sind,  der  Vorstand  der  Versicherungsanstalt,  im  Übrigen 
die  ihnen  im  Hauptamte  vorgesetzte  Diemtbebörde. 


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lnvalidcnver!»ichc*rung»gc6rU  vom  IJ.  Juli  i899>  21^ 

K  84.  Auf  ^*  Zniielniiig  je  eine«  Vertreten  der  Arbeitgeber  mi  der  Vei^ 
sicbeiten  bei  Entattnag  von  Gutaditcit  finden  die  Vonchriften  de«  §  59  Abs.  i 
ctttspuecbende  Anwendung. 

I>ie  Rcntenstelle  ist  befugt,  Zeugen  mid  .Sucbventindige  imcidlkb  sn  Ter» 
ncfamca. 

5  85.  Die  Kosten  der  Rcntenstelle  ein^^hli^-Mich  firr  Bezüge  des  Vorritzenden, 
iler  Bei^it/rr  und  der  Hi1fst>eamt«-n  sowie  die  Kosten  des  Verfahrens  vor  der  Renten» 
stelle  W&iiX  (!ir  Vrrsicherun;,"<aii^talt. 

Dil  ^.t  ^tlm^lUIiJ;  de>  |<  04  Ab-.  5  1ind«  t  <  nt>j>ri  iiH  nde  Anwendung.  Im 
übrigen  wirii  das  Verfahren  der  kenienstellen  durch  den  Vurüland  der  Versicherungs- 
anstalt geregelt. 

};  86.  Die  Landes  - /.«-ntralbehurde  kann  Reni>  n-iell- ji ,  wi  lcbe  ihren  Sit/,  im 
Gebiete  des  Bondesstaats  haben,  »tatt  der  Begutachtung  der  Anträge  auf  Bewilligung 
von  InvaUdni»  und  Altenrenten  and  statt  der  Begutacbtong  der  Entziehung  von  In» 
validenrenten  und  der  Einstellong  von  Rententahlungen  die  Besdilulsfawuqg  Aber 
diese  Antrfige,  Entxiehuiigen  und  Zahlungseinstdlongen  Mmie  die  BeacUufsfasraag  Uber 
Anträge  auf  Heitratiser-tattung«!»  übertragen.  An  Weisungin  (1.-^  Vorstandes  ist  die 
RentensteUe  bei  H»- Schlüssen  dies.  r  Art  nicht  gebunden.  Jedoch  ist  die  Rcntenstelle 
v.  rpflichtft,  über  di«-  Ent/iehun;:  li.  r  R.  nte  und  die  Kinstellung  von  Rentensahlungen 
einen  l'.«'scli»  i(l  /u  rrbivsm,  solern  dies  vom  \'orstande  l>cantragt  wird. 

i>ie  im  c;  64  Ab*.  5  dem  Vorstand  der  Versicherungsanstalt  eingeräumte  Be- 
fugnis Steht  in  diesem  Falle  der  Rentenstelle  lu.  Im  fibrigen  wird  das  Verfahren 
von  der  ftlr  den  Sits  der  Versicherungsanstalt  mstSndigen  I.4uides»Zcntralbehörde,  bei 
gemeinsamen  Versicherungsanstalten  aber,  sofern  ein  Einverstlndnis  unter  den  be> 
triligtrn  I^dcsregierungen  nicht  erzielt  wird,  durch  den  Reichskanzler  geregelt 

6.  AUgenMine  BeatimmnngMi. 

1$  87.  Die  Anzahl  der  Vertreter  der  Arbeitgeber  and  der  Venicfaerten  in  den 
ürganrn  der  Venicherungsanstalt  mufs  gleich  sein. 

^  8S.  Wählbar  zu  Vertretern  der  Arbeitgeber  und  der  Versicherten  sind  nur 
deutsche,  männlichr,  volljährige,  im  n</irke  der  V.-T>,irh.-nangsanstalt  wohnende 
P<-rsonen.  \w  wählbar  ist,  wer  cum  Amt  eine»  Schoflen  unfähig  ist  ja  des 
Gericlit  ^  \  <•  r  1 .1 ->un>^-}:>->«.-tzes|. 

Waliliiar  iu  Vertretern  der  Arbeitgeber  sind  nur  die  Arbeitgeber  der  nach 
Mafsgabe  dieses  Ge»et2es  versicherten  Personen  und  die  bevollmächtigten  Leiter  ihrer 
Betriebe,  zu  Vertretern  der  Venicberten  die  auf  Grund  dieses  Gesetzes  versicherten 
PerMinen.  ^ 

$  89.  Diejenigen  Versicherten  I,  2,  14),  welche  ab  Arbeitgeber  versiehe« 
nmgspflichtige  Personen  nicht  blofs  vorübergehend  beschäftigen,  werden  bei  der  Bil* 
dang  der  Organe  der  Venicherungsanstalt  den  Arbeitgebern  zugerechnet. 

§  90.  Die  Wahl  der  Vertreter  der  Arbeitgeber  und  der  Venicberten  erfolgt 
auf  runf  Jahre.   Die  Gewählten  bleiben  nach  Ablauf  dieser  Zeit  solange  im  Amt, 


2KS 


hin  ihre  Nachtulgrr  <la»  Amt  an|;ctretrn  habrn.  Die  Aua»rhi'ideii<J<*n  »ind  wieder 
w&iillKir. 

I'.T><>Il.-n.    Wrli  lir    -ii.-   W  .ilil    .  ilitl.-    /.ul:i->l;^rii    Ciruiv!  O4     U i  >l--l Iii  -n  olltlf 

nu^'-iHlr  l'.iit-i.  liiil(ii;;mi^'  /II  lii  11  >it/iin;^' II  iiivlit  i' rht/.-iti^  M'1.  .-iiit,  ibl-i)  <j'i'-i  ilifii 
Obliej;<-nln  itfn  in  ;uui«-rfr  \V<'is<-  iidt  cni^iclun.  k.<nn-n  vom  \ OrsUzcinicii  des  Voi- 
standes  mit  Geldütnfr  bis  jeu  fünfhundert  Mark  und.  wenn  ei»  »ich  um  B<*isitz«r  der 
Rentcnstrllen  bandelt,  vom  Vorsitxcnden  der  Rentfustolli*  mit  (!e)d«tFaf<>  bi«  zu  ein» 
huadertundfltnfsig  Mark  Wiegt  wer4]«n. 

Kommt  eine  Wahl  nicht  4U  stände  oder  verweigern  <lie  Genrähhen  ihr  I>ien»t* 
Icistung,  so  hat,  s>oI.in;,'.-  und  «>weit  »ti-  ^  i!.  r  l  all  ist,  die  Tür  ih  n  Sit/  .ie»  Organs 
ziisthnHif;.-  untfTf  V.■r^*.ll^un^^b'•llordc  die  Vertreter  aus  der  Zalil  der  Arbeitgeber 
und  di-r  N'i  tsii  !n  rt>  n  ni  ••nn-nnrn 

§  91.  Werden  liiii.>irlitlii  h  rin<  >  ( i.  v\  dilt'-n  1  liaT-.i  !!■  ti  !>•  k.uitit  ,  w.-l.  lif 
dessen  Wählbarkeit  nach  Mai>^ahe  die>cs  Gf>.i<te«.  au.s>clilicisrn  o.lcr  wolcln*  »ich 
als  grobe  Verletzungen  der  Amtspflicht  darstellen,  «o  ist  der  Gewählte,  nachdem  ihm 
Gelegenheit  zor  Aeu^'rung  g<^ben  worden  ist,  durch  Beschlufs  de>  Vorstandes 
seines  Amts  zu  entheben.  Gegen  den  Besuchluf«  ist  innerhalb  eines  Monats  Be- 
schwerde beim  Koichs« Versicherungsamt  zulässig;  sie  ist  ohne  aufschiebende  Wirkung. 

|j  02.  (r.lirciiKint.  r )  Dif  d<Ti  ( 'r^aneri  der  Versicli<  run;:^an>taU  aiiij -Iii  ri.-nden 
\''-rlr<-l>-r  <]<  r  Ar;i.  it;:<  h<  r  utid  d.  r  \'<  r^Kli.  rli-n  v>TW;\U'  n  iiir  Amt  al-  tlir>-namt 
und  i-rlialt'-n  nat  h  niUi<  ri  r  l?i->tiininuti^  d<->  Matiit^  Kr>atz  liir  hurr  Au>la^;  'ii.  die 
N'crlfcter  der  Vcr.sii  ln  rt<  n  auUerdt-m  <  infn  rauM'lilK-jraj;  lur  /oitverlu.'.l  odr-r  Kr»aU 
für  den  ihnen  entgangenen  Arbeitsverdienst.  Den  am  Orte  wohnhaften  BeisiUem 
der  Rcntenstellen  aus  dem  Stande  der  Arbeitgeber  kann  unter  Wegfall  des  EisaUes 
fUr  bare  Auslagen  ein  Pauschbetrag  f&r  Zeitverlust  durch  das  Statut  zugebilligt 
werden. 

9^.  (Halbing  der  Mitglieder  der  Or};ane.  ,  l>ie  Mitglieds  d.-r  <  )i;^'ane  haften 
dor  \  iT>ic  lif-run;:sans(alt  für  getreiu-  ( i<'M  halt-.\  erwaltiin;;  wi.-  Vomuindn  ilir^-n  Mün- 
deln inid  untf  rli-  i,<  n,  w  «'iin  sie  absichtli.  li  /um  Naoliteilo  »ier  Vcrsicheraiigsuii>talt 
handeln,  ilcr  ssialhi  >{iuHiuinjj  il<->  J<  j<i6  do  Mratpoct/.hucli-. 

§  94.  (ALdcliuung  der  Wahlen.)  Wahlen  tu  Lhrenämtern  können  vi>n  den 
Arbeitgebern  der  nach  Mafsgabe  dieses  Gesetzes  versicherten  Personen  und  von  b^- 
voUmicIitigtvn  Betriebsleitern  solcher  Arheitgelter  nur  aus  denselben  Gründen  alige- 
lehnt  werden,  aus  welchen  gentäfs  ^  1786  Abs.  t  ZilTer  3  bi»  4  und  8  de»  Bürger- 
lichen Gesetzbuchs  das  Amt  eines  Vormundes  abgelehnt  werden  kann.  Die  Wahr» 
nehnum^'  eine?,  auf  <  i n  1  A-  -  :  {^enw&rtigen  Geseires  oder  d.-r  rnfallversirli.  runsjs» 
<;i-Nef/.  od- r  rl.  >  kj.iiik- iu<-r>iLlierunp>};es>-l/e>,  üliertragenen  l'luenaint>  >t'dii  d.-r 
Kuiuung  einet  Vornutndseli.itt  ^deuh.  Durch  das  Statut  i§  70)  können  noch  andere 
.Ablehnuugng runde  IcslgocUt  werden. 

Die  Wiederwahl  kann  für  eine  Wahlperiode  abgelehnt  werden. 

§  95.  So  lange  der  Vwstand  oder  Ausschufs  noch  nicht  gebildet  ist,  oder  so 
lange  diese  Organe  die  ErfUlltmg  ihrer  gesetzlichen  oder  statutarischen  Obliegen- 
hetten  verweigern,  hat  der  Vorsitzende  des  Vorstandes  die  letzteren  auf  Kosten  der 
Vemcherungsanstalt  wahrzunehmen  oder  durch  Beauftragt«  wahrnehmen  tu  lassen. 


lnvaliUi'nvcri>iclHTung»ge.sct£  vom  13.  juli  1^99. 


219 


§  96.  (Abstimmung.)  Bei  Abstimmung  der  Organe  giebt  im  Falle  der 
SUmmeagleichhcit  die  Stimme  des  VorsiUenden  den  Ausschlag. 

§  97.  (Unbehinderte  Ausflbnng  der  Funktionen.)  Die  Vertreter  der  Versicherten 
haben  in  jedem  Fall,  in  welchem  sie  xur  Wahmefamong  ihrer  Obliegenheiten  berufen 

werden,  die  ArbritgrlxT  hiervon  in  K'-nntnis  zu  srt/.n  I>ii^  N'iclitlfistung  «ler  Ar- 
brit  wrilirrn«!  dt-r  Zeit,  in  \i  .  Iclif  r  dir  br/.richniMf ri  P<tmiii- n  iluri  Ii  fii.-  \\  .ih;  n-  lmning 
jener  <  iblieccnh'  it.-n  .<n  der  Arbeit  verhindert  >ind.  b»  r<-,  lai^'?  !-ti  \rb'  ii^ -Ii,  r  ni' ht, 
das  Arbeitsvcrhaltnib  vor  dem  Ablauf  der  vertragüniäUigcn  Dauer  do^clben  aufzu- 
heben. 

§  98.  (Bearatenpers«jnal.  I  Den  bei  der  Vcrsichcrung^aiistall  und  ihren  Or- 
ganen im  Hauptamt  besch&fUgten  Bureau»,  Kanxtei«  und  Unterbeamten  sind.  soweK 
sie  nicht  nach  dem  für  sie  geltenden  Landesrecht  als  Htaatt-  oder  Kommnnalbeamte 
anzusehen  sind,  nach  nSherer  Bestimmung  der  Landesregierung  die  Rechte  und 
Pflichten  von  Staats«  oder  Kommunalbeamten  n  übertragen. 

§  99.  (ROckversichemngsverbinde.)  Mehrere  Versicheranstalten  können  verein- 
baren, die  I^ten  der  Invalidenversicherung  ganz  oder  zum  Teil  gemeinsam  /u  tragen. 

7.  Veränderunp^en. 

J{  :c>0  Verhuilerungen  der  Bezirke  der  Vorsicherunu-aiistalten  sind  zulii^-i^;,  nO- 
lerii  sie  von  dem  Au^-fhuf-  einer  befeilif;ten  Wr^ii  li.nin;.'>.iii^t.ilt  mb  r  vd»  det  k<r- 
girrung  eines  Üuiul«  5>iaat3,  dessen  (iebiet  (be  \  rr>u  lierunj4>anilall  ganz  txicr  teilweise 
urofafst,  beantragt  und  von  dem  Bundesrat  genehmigt  werden.  Vor  der  Beschlufs* 
fassung  Uber  die  Genehmigung  sind  die  Ansschti»sc  der  beteiligten  Versicherungs- 
anstalten, sowie  die  Regierungen  derjenigen  Bundesstaaten,  deren  Gebiete  bei  der 
Verinderung  beteiligt  sind,  su  hören.  Bei  Versicherungsanstalten  für  die  Bezirke 
weiterer  Kommunalverlwndc  vind  auch  die  Vertretungen  der  letzteren  befugt,  Anträije 
auf  \'eränderungen  zu  stell. n  ,  vor  der  ( ienelnnipiinq  von  Ver.nnderungen  der  B-virke 
solcher  Versieherun^san.stalteu  müssen  die  \  erUctungcn  der  beteiligten  Kommunal» 
vcrbänile  jjehort  werden. 

blinc  Zuiiaiiuuenlcgung ,  i'cilung  «>der  Aufhebung  bci>tehender  Versicherungs- 
anstalten bedarf  der  Zustimmung  des  Reichstages. 

Die  VerSnderung  des  Bezirks  einer  Versicherungsanstalt,  welche  nur  die  Folge 
einer  Verinderung  des  Verwaltungsbezirks  ist,  für  welchen  die  Versicherungsanstalt 
errichtet  wurde,  füllt  nicht  unter  die  vorstehenden  Bestimmungen. 

§  101.  Scheiden  örtliche  Bezirke  ans  dem  Bezirk  einer  Versicherungsanstalt  aus, 
so  verbleiben  der  letzteren  in  vollem  L'mfan^'c  das  bis  zum  Zeitpunkte  des  Aus- 
sch<  i<1ens  angesammelte  Vermögen  sowie  alle  bis  zu  diesem  Zeitpunkt  enistandeaen 

Verpflichtunjjcn. 

Führt  die  Veriuidcrunj;  zur  Auflösung  der  \'er-.icb>run^san^tult,  so  jjelit  d-ren 
Vermögen  mit  allen  Recliten  und  l'ilichteti,  .sofern  da.s!>clbe  nicht  von  den  beteiligten 
Landesregierungen  denjenigen  Veraicherungsaniitalten,  welchen  die  Bezirke  der  auf* 
gelösten  Anstalt  Überwiesen  werden,  Übertragen  oder  mit  Genehmigung  der  beteiligten 
Landesregierungen  %'on  einer  Versicherung:«ansta1t  übernonunen  wird,  auf  den  weiteren 


220 


KommimalverbBnd  bezirhaiif(swrise  Bimdc«itaat,  bri  femdnMmcii  VerridMnnc»- 
aasteltrn  anteilig  auf  ilir  Kntnmiiiialmbiiidc  oder  BmideistaateB  fibcr,  flU  welch« 

die  Vrrsichpninpsanstalt  rrrichtet  war. 

l>»r  rrnf;in<,'  in  wrlclu-m  bri  Aufl<'^unp  einer  grmcinianirn  Vrrsiclierungs- 
anstiAlt  dir  Kommim.iK .  rl>:iii<!f  «.«Irr  HurKlrNstaaten  an  dem  l>berjjangc  des  Ver- 
mögen» zu  iK-u-iligf n  Mnti ,  wird ,  solem  darüber  eine  himgong  aicbt  susta&dc 
kommt,  durch  den  Buidesnit  oder,  wcim  mir  Kommonaheifaiade  eine»  BimdwtMUi 
beteiligt  sind,  durch  die  Landet-Zentralbehörde  beidiDait 

§  J02.  Streitigkeiten,  welche  in  betreff  der  VcriitogciisaBaeinandersetmug 
switchen  den  beteiligten  Venidierungsautalten  cntitcfacn,  werden  mangeb  Vcr« 
ständigung  Uber  eine  schiedsrichterliche  Entscheidang  von  dem  Reichs* Venichenmgs- 
amt  entschieden. 

C.  Schieds{*erichtc. 

I5  ;o3.  1  ur  den  bezirk  jcdrr  V  ersicbi-rungsaiisUlt  wird  utmde&tciu  ein  Schicds» 
gericht  errichtet. 

Die  Zahl,  die  Bezirke  und  die  Sitse  der  Schiedsgerichte  werden  von  der  Zen- 
tralbehörde  des  Bundesstaats,  in  dessen  Gebiete  die  Versicherungsanstalt  ihren  Sitx 
hat,  bestimmt.  Für  gemeinsame  Versicherungsanstalten  wird  diese  Bestimmung,  so- 
fern ein  Einverstfindnis  unter  den  beteiligten  l^andesregierungcn  nicht  enielt  wird, 
vom  Reichitkansler  getroffen. 

(}  104.  Jedes  Schiedsgericht  besteht  aus  einem  ständigen  Vorsitzenden  und  aas 
BeiMtzem. 

I)cr  Vor>itzende  wird  aus  der  ikr  nüontli.  lif  11  H»  aimr-n  von  der  Zentral- 

l'i  ht'fdf  dt  s  Huiidt  sstaats,  in  welchem  der  Sitz  do  .V  iiietl^^cnclit!-  belej^'en  ist  er- 
nannt. Für  den  Vorsitzenden  ist  in  gleicher  Weise  mindesleos  ein  .Stellvertreter  zu 
ernennen. 

Die  Beisitzer  werden  in  der  durch  das  Statut  bestimmten  Zahl  von  dem  Anif- 
Schüsse  der  Versicherungsanstalt,  und  zwar  zu  gleichen  Teilen  in  getrennter  Wahl- 
handlung von  den  Arbeitgebern  und  den  Versicherten,  nach  einfacher  Stinunenmehr- 
heit  g<\v:ddt. 

hie  llilthlieatnten  des  Schied>>j:;eric!it!)  >ind  Beamte  der  \'er>ichenin[j>an-stalt ; 
ihre  Bestt  lUiiig  erfolgt  durch  den  \'nrvtan<l  der  V'ersicberungsanstalt  nach  Anhörung 
des  Vorsitzenden  ile^  Schied-^ericht>. 

Die  Bestimmungen  im  ^  62  Abs.  3,  64  Abs.  s,  §  f*^  -Vbi».  l,  3,  S7  bis  92 
Satz  1,      94,  97,  98  finden  mit  folgenden  Maßgaben  entsprechende  Anwendung: 

t.  die  Mitglieder  des  Schiedsgerichts  dürfen  nicht  Mitglieder  des  Vorstuides, 
Vertreter  der  Arbeitgeber  und  der  Versicherten  bei  einer  unteren  Verwal- 
tungsbehörde oder  Beisitzer  einer  Kentenstelle  sein; 

3.  die  Enthebung  eines  gewählten  Beisitzers  erfolgt  durch  den  Vorsitsenden 
des  Schiedsgerichts,  vorbehaltlich  der  Beschwerde  an  die  höhere  Verwal- 
tungsbehörde ; 


^         i.y  Google 


Invmlide&venichenwgagesoU  rom  13.  JbU  1899. 


221 


3.  die  Auferiegung  der  Kosten  gemäf»  §  64  Abs.  5  erfolgt  durch  den  Vor» 
sitsenden  des  Schiedmcriclita. 

§  105.  Name  und  Wohnort  des  VorsiUenden  und  äciner  Stellvertreter  sind  im 
Bnirke  des  Sdueibferiebts  von  der  Laiides*Zentralbeliörde  amtlich  ta  ▼eröflentlidien 
«ad  dem  Reiehs-Versidienmgmnt  nitiateilen. 

§  106.  Der  Vorritsende  beraft  das  Schiedsgericht  und  leitet  die  Vcrhandlongea 
desselben. 

Das  Schiedsfericht  ist  befugt,  Zeugen  tnnd  SachverstEndige  in  vemehmea,  und 

Ihre  Aussagen  eidlich  erhärten  zu  lassen. 

Das  Schiedsgericht  entscheidet  in  der  Besetzung  von  fünf  MitgUedenii  onter 
denen  sich  ]r  zwei  .^rbrit^ehi-r  und  zwei  Versicherte  befinden  müssen. 

Die  Enlbcheidun^;'-!!  lies  .Schi<-dsp'Ticbt>  crfolgrn  nach  Stimmenniflirli<Mt  und 
»oUen  spätestens  inacrtulb  drei  Wochen  nach  litrer  \'erkünduag  den  l'artoien  zu- 
gestellt werden. 

Die  Zttsidning  der  Beisitser  erfolgt  in  der  Regel  nach  einer  im  voraus  auf- 
gestellten Reihenfolge.  Die  Bestimmung  des  §  83  Abs.  a  findet  Anwendung.  Will 
der  Vorsitzende  ans  besonderen  Gründen  von  der  Reihenfolge  abweichen,  so  sind 

(fiese  aktenkundig  zu  machen. 

Im  übrigen  wird  das  \'frfal>rrn  %or  ilmi  .Schiedsgerichte  durch  Kaiserliche  Ver- 
ordnung mit  Zustimmung  des  Bundorat'»  geregelt. 

^  107.  Die  Kosten  de^  Schi>-<l>rj.Ti<!ht^  f'in-.<-!i!it-Nli  Ii  d<T  Pxv.ü^'f  d'-r  B-i- 
sitzrr  und  ib-r  Hilfsbeamten  sowie  die  Kosten  de»  Verfahrens  vor  demi,eU>en  trägt 
die  Versicherungsanstalt. 

Dem  Vorsitzenden  des  Schiedsgerichts  und  dessen  Stellvertretern  darf  eine  Ver- 
gütung von  der  Verrichemngmnstalt  nicht  gewählt  werden. 

Ueber  die  Beschaffimg  der  Gcschiflsiftame  und  GescbiftsbedOrfhisse  des  Schieds- 
gerichts wird  vom  VorsitaendeB  im  Einvernehmen  mit  dem  Vorrtaade  der  Versiche- 
rungsanstalt Bestimmung  getroffen.  Bei  Meinungsverschiedenheit  entscheidet  die 
Lande«.Zentralbehörde  des  Bundesstaats,  in  welchem  der  Sita  des  Sctiiedsgerichts 
belq(en  ist. 

D.  Reichs-Versicherungsamt  und  Landcs- 
Versicherungsämter. 

§  108.  (Reicha-Venkherangsamt)  Die  Verrichemngsuastallen  unterliegen  der 
Beanfsiditigang  durch  das  Reidis-Versichenmgnint.  Das  AnMchtsreeht  des  letatereo 
entfcekt  aidi  auf  die  Beobachtaag  der  geaeldUehcn  nnd  slaintafiaehen  Von^Aen 

Alle  Entscheidungen  des  Reichs- Versicherangmmts  sind  endgültig,  sofweit  in 

dicaem  Gesetz  nicht  ein  Anderes  bestimmt  ist. 

Das  Reichs- V^ersicherungsamt  i>t  befugt,  ji'dfrz<*it  eine  Prüfung  der  (iosrhäftÄ- 
fUlirong  der  Vrr?iicherungsanstalten  varzun'-hm'-n  Dir  Mitglieder  <l<:r  Vorstände  und 
sonstigen  Organe  der  N'crsicbcruttgsanstaUcn  sind  auf  Erfordern  des  Reichs^Versicbe- 
rangsamts  verpflichtet,  ihre  Bücher,  Beiige,  Werlpapiere  und  Geldbestlndc  sowie 


222 


CivM-t/ßrhunR:  I>rutMbrH  Krirh. 


ihr«  «uf  <1rn  Inhalt  drr  Bücher  und  dir  Fr«>t<>rtziinj;  drr  Kent^fti  «>tc.  briQglichen 
Srhrirt«tiic1cr  vorzulrgt-n  und  dir  i>onsit|;cn  Mitteilungen  zu  machen,  die  zor  Aus- 
iiliuni;  des  Aursichtsrtrhts  als  erforderlich  erachtet  werden.    Das  Keich»*Ver»irhe> 

runjisanrt  kann  die-«- II  <  ii  h^T^u  sowie  i\it  Hrlolpung  <It  r  ^.  -i  i/li  hen  and  statuta* 
fischen  \'ur^<  Viri1t'  ii  iiur<  h  <  f  liKiralcn  bis  zu  cintausrntl  Mark  an!  ih -n 

5;  'OM  I  Kr  ic  (i- -\'.-rvi.  Ii,  riii»;:-.init  «-ntM  liri  i.  t  untu  s.  |i,i<irt  i','-r  k'-i  iitf 
l'Ut!>  i  ,    Au  t    >Ui  U\^kr\U-n.  It'     vir  il    .nil    <ll'-   K- ■  lU';    m\il   l'tllrhtcil    d<T  <  >r<^  .»nr 

drr  VtT>itli<-nmj;s;kn*taltrn  «»wie  «Icr  Mii<:lnii<r  «ln-rr  iJr^.mc,  aui  Au%l'^ung 
(U-r  Statuten  und  auf  die  tHiltigkeit  der  vullzogmen  Wahlen,  soweit  ttlier  letztere 
nicht  nach     tij  Abs.  3,  j$  77  Ab».  3  und  {$  82  Ab«.  3  zu  befinden  ist.  beziehen. 

Auf  die  dienstlichen  Verhältnis«  der  auf  Grund  de»  fi  74  Abs.  I  b«»tellten 
und  der  im  $  Si  2  tiexeirhneten  Beamten  findet  diese  Vorschrift  keine  Ati> 
w«-ndun{;. 

!;  Mo.  1  hl-  1  11; -.  lir  i.lini;:!-?!  i!<  s  K-  i.  h- -\'iT-i>  li,  ruTi;_''-:niit'-  <-rti>lj,'fti  m  i|i-r  T'.•- 
^•  •/un)^  •.Uli  rnniil<-xt<  Iis  \irr  Mil  ;1ii-.|<tti  iins-liIi'Nli,  Ii  lir-  \'.  >; -n/.  iii  !--n.  ijrn<T  w<-l.  li'-n 
^ilh  jc  rill  \  rrtrrtrr  »it  r  Arlicii^t  lif  r  und  der  \  ersu  licrtrn  iK  inuU  n  mui>,  un«l  unter 
Zuziehung  eines  richterlichen  Beamten,  wenn  ei  steh  handelt: 

1.  um  die  Ent>cheidung  über  eine  Anfechtung  von  Be^chlü-sen  der  Organe 
<ier  Versicherung^an^talten  l{|  75), 

2.  uro  die  Ent'icheidung  vernvigensrechilicher  Streitigkeiten  bei  Veränderungen 
de-  Ri  -i, indes  der  Ver>ioli'  ruti^-an>talten  i§  I02), 

3.  imi   [  r^.it/.«n-xpräche  g«^en  BcrufsgeniKsen^liaften  (§  23  Abs.  3,  113, 
:jS  Abs.  iL 

4.  kill)  «In  i- iUm  li«iiiuii^  auf  koviMomrn  j^i^^fn  ilie  i.ntNcheidungen  der  Schied— 
tl*''^'<'l't*"       '  '6). 

BevchlifüNe ,  durch  welche  Revisionen  ohne  mündliche  Verhandlung  zurück- 
gewiesen werden  if}  117  Abs.  2^  erfolgen  in  der  Besetznng  von  drei  Mitgliedern, 
unter  denen  sich  je  ein  Vertreter  der  Arbeitgeber  und  der  Versicherten  befinden  mnfs. 

Als  Vertreter  der  Arbeitgeber  and  der  Versicherten  gelten  aucli  für  «Ir-n  Bf-- 
r<  u  h  (liox  s  vft/.  v  die  auf  Grund  der  UnfallTersich<'run'^'-':'  sct7,c  /u  nichistan<ii^<-n 
N!if;;!ir(lt  rü  d<'>  Kcicli-.  -  Vrr-irhi  rurit^vaiiits  ^i-wülillni  V<  rfr<--UT  ilcr  Hctrirb'<unt«"r. 
nriiiiu  r  und  der  Arl>'-it<-r,  oluu-  r-cscIiraTikuii^  aiil  die  ATii;t'l<';;''nlR-it<Mi  iliro  Ih-sotv- 
dt  rcn  H<  ruf>/.wciys.  Uie  Enthebung  eines  Vcrtreltrs  der  ,\rlK-Uj;pbcr  oder  der  Ver- 
sicherten (§91)  erfolgt  durch  das  Reichs  •Verstcherungsamt. 

Im  übrigen  werden  die  Formen  des  Verfahrens  und  der  GeschSAsgang  des 
Reichs- Vertiicherungsamts  durch  Kaiserliche  Verordnung  unter  Zuo<timmung  des  Bundes- 
rats  geregelt.' 

S{  III.  fLandes-VersicherungsSmttr.  Sod-m  lur  .la^.  Ci.-birt  eines  Bundes- 
Staat-  ein  I.aiidi  s-Vcrsirhcnmjjsamt  erri<  litct  i-t  >»2  de-  l  iilalK  (■r>ichcrunpsge-.rtzrs, 
100  d<  s  (  M'>tt/i  s  votii  J.Mai  iSSo,  Ri-irlis  <  lesft/bl.  S.  I  ;2 1  unterlirjjen  di>>ieni:-'T) 
Vcr<iictKTUtij;s.itistaU«;n,  wcii  !ir  su  h  übi-r  das  (ii  bi<  (  dieses  Hundesstaats  nirht  hinaus 
erstrecken,  der  Beaufsichtigung  durcli  das  Landes- Versicherungsamt.  Auf  die  Landes- 
versicherungsamter  finden  die  Vorschriften  der  §§  108  bis  tio  entsprechende  An- 
wendung. 


Inval^dvnvrr^iche^l»gü|{esetx  vom  13.  jali  1899. 


223 


In  dm  An^;<  Irj^c-nhciten  der  drn  Landes- Ver^ichtningsamtcm  unterstellten  Ver- 
sichenniKsiinNtaUen  grhen  die  in  dm  72,  91.  102,  127,  140,  156,  161,  178  und, 
sofern  auch  die  in  Anspruch  genommene  Berafsgenossenschaft  der  Anfricht  desselben 
Landes» Vendchenrngsamts  unterfteUt  it4,  die  im  §  23  Abs.  3,  $113  Abs.  6  and 
1$  128  Ab>.  3  dem  Rdichs-Verstcbeninesamt  übertragenen  Zuständigkeiten  auf  das 
Landes- V»-r>irh«*ranp'-amt  i;l»<T. 

f'ir  Kcirirn  n        Vrriiihr<  ns  uml  ih  r  ( 'j»  -.  häft>-f»;ing  bei  dem  Landes  «Versiebe- 
rung«amt  werden  durch  die  Landore^icrung  geregelt. 


§  I!2.  (Feststellung  der  Rente.  1  FVr  A!i<|iriii-h  auf  Bewill i<:unf,'  «  iner  Rente 
imt'T  rinrf-icliini}:  i!- r  .air  l'.<  «^riindiinj:  dit  ii.  nd<  n  ll-w- !*.stiu  ki-.  in'.lxxuxlcre  der 
l'-'^t'  !i  < Juiuuii^;-k.irt'-  <j  i  !  1  bvi  der  ti'.r  drn  Wnlinort  ikI.t  Iii  •.fliiilii^^un^'sort  Ars 
\  e  r-K  )it  rt*  n  und,  wenn  '-r  <  iTi.-ii  solchen  im  hdiiml'-  nioln  m -hr  liat,  l»<  i  <1it  f  ür 
seinen  letzten  Wohnort  od<r  tl<'NchuUiguug-«urt  /u^tiiiidigcii  uiucren  Verwaltungs- 
behörde oder  Rentenslelle  annunelden.  LHe  I..andcs«Zentralbehürde  i«t  befugt,  anzu* 
or«1nrn,  dafs  die  Anmeldung  bei  einer  anderen  Behörde  rechtüwirksam  erfolgen 
darf;  letzteie  hat  die  Anmeldung  an  die  (Hr  ihren  Bezirk  zustindige  untere  Ver» 
waltungsbehörde  od'  r  Kentcnstelle  weiterzugeben. 

I>ic  untere  \  t  rw.iltuiif;sl>eh')rde  oder  Rentenstt-ll«-  hat  dir  /.ur  Klartttellottg  des 
}:vf  'h.iUi  rrf, ,r4,  rlii-li<-n  Krh<*l)Uiij:>-n  an/ustdlen  und  dir  V'rrh.nu'Jr.nf^rn  nut  ilircr 
|i;iHa(  htiu  heil  Arniv.-riin[:  57  l>is  5g,  -y,  S4  AI».  11  dem  Vorstande  der  lür  ihren 
I^.ez)rk  zuständigen  Vcr»iclK-rung>aDstalt  zu  ubcrsciirlm. 

Glaubt  der  Vorstand  dem  für  die  Gewährung  einer  Rente  abgt  grbeneii  Gnt« 
achten  der  unteren  Verwaltnngsbehi>ide  oder  der  Rentenstelle  nicht  entspredien  an 
können,  hO  i«t  die  Sache,  soweit  es  sich  um  die  Frage  der  Versicherungspflicht 
(§§  I  bis  7)  oder  des  Versichcrnngsrechts  ift  14J  oder  uro  das  Mafs  der  Erwerb»» 
Oiltii^krit  drv  Kentenbewerbers  l§§  5,  15,  161  handelt,  an  die  untore  Verwalttmgs- 
brhurdr  Kdcr  dir  krnten«trl!<-  /.ur  Anhörung:  der  Beisitzer  59  Abs.  l)  zurück« 
zugeben.  tuV.-  h'/xm-  TK"h  nirlit  ^rViurt  -ind. 

Wird  lirr  angrmrlilrti;-  An>{^riu  h  anrrkannt,  >o  dir  Huhf  und  der  Beginn 
der  Rente  >orort  fotzuätrllen.  Dem  Empüngsberechtigtcn  ist  &odann  ein  schrift» 
lieber  Be>>cheid  zu  erteilen,  aus  welchem  die  Art  der  Berechnung  zu  ersehen  ist. 

Wird  der  angemeldete  Anspruch  nicht  anerkannt,  so  ist  derselbe  durch  schrifl« 
liehen,  mit  GrUnden  zu  versehenden  Bescheid  abzulehnen. 

§  113.  Die  Annahme,  daf&  die  Erwerbsunf-ihigkeit  durch  einen  narh  «Im  Uti- 
fallvrrsirhirimp^prsi-t/.rn  m  ent-rhridicrndrn  Inlall  verursacht  i.st,  brgriindet  nicht 
dir  drs  .\nv|iru<h»  aut  ln\ alidrnrrntr.     f  s  ist  virlnirhr,  -.(»(»-rn  itii  iihrijjcn 

dir  \  .irau-v-ruun^;.  II.  unirr  drn«  n  tine  Invaiidcnrrntc  bewilligt  werden  darl,  vor- 
liegrii,  dioc  Keutc  IrNtzuslellen. 

Ist  Kodann  die  Invalidenrente  filr  einen  Zeitraum  gezahlt,  fllr  welchen  dem 
EmpflUiger  ein  Anspruch  auf  l'nfallrentc  zusteht,  so  geht  dieser  Anspruch  insoweit 


III.  Verfahren. 


224 


GrseUgrbung .  DeuUche»  Reich. 


aaf  die  VenicheniiigMiMt»lt  ttber,  als  die  gewSbrtc  Invalidenrente  die  zu  geirührende 
UnfiUlrente  nidit  UbentteigU 

IHe  VcrsicbenmipanftBlten  aind  berechtigt,  die  an  Stelle  des  VerletiAeB  die 

Feststellung  der  Unfallrentc,  soweit  diese  noch  nidit  erfolf^  ist.  zu  h<^antra;en  und 
nötigenfalls  das  durch  di'-  I  nUilh  r  rsii-herungspcsH/.»-  vorgrschriebene  Verfahren  durrh^ 
zuführ'-n,  auch  an  Stell.-  df-.  Verletzten  Rerht>niitt<-I  eiii/.u1'*i;en  und  iwar  ohne 
kücksu  ht  auf  Kriüten,  wrl<  iir  ohne  ihr  VersrhulrU-n  vrMrn  li<-i)  >ind. 

Die  Vcr»tchcruug»anbtaltcn  sind  auch  dann  berechtigt,  nach  Ab».  3  die  I-est- 
itellnng  Ton  Unfallrenlen  herbciaufllhren,  wenn  ab  Folge  hienron  ein  Töllige^  oder 
teQwei$es  Rohen  der  Invaliden»  oder  Altersrente  eintreten  wflrde. 

War  in  den  Fillen  des  Abs.  l  von  der  Versidienu^sanstah  ein  Heilverfahren 
eingdeitet,  so  finden  die  Bestimmungen  des  §  ai  entsprechende  Anwendung 

Streiti{;keiten  aus  .\nluts  des  Eftattanapruchs  (Abs.  a,  5*  werden  durdi  daa 
Reichs-Versicherungsamt  cntsrhi.-den. 

§  114.  Gegen  den  Bescheid,  durch  vi'-lch«n  der  An>pri:.li  aul  In^alid'^n-  olfr 
Altersrente  abgewiesen  wird,  sowie  gegen  den  Bescheid,  durch  welchen  die  Hohe 
und  der  Beginn  der  Rente  festgestellt  wird,  steht  dem  Rentenbewerber  die  Beratung 
«nf  schiedsgerichtliche  Entscheidung  sn.  Die  Bemfnng  hat  keine  «afüchiebende 
Wnknng. 

Zur  Entscheidung  ttber  die  Berufung  ist  dasjenige  Schiedsgericht  berufen,  das 

filr  den  Bezirk  der  unteren  Verwaltungsbehörde  oder  Rcntcnstelle  snstindig  ist.  Die 
Berufung  ist  bei  Vermeidung  <1>  n  .Ausschlusses  innerhalb  eines  Monats  nach  der  Zu« 
Stellung  des  Bescheides  hei  liirscm  Schied sg.rs  lit  ein/.ulft^.-n 

Die  Fri^i  gilt  auch  dann  als  gewahrt,  wenn  luucrhalb  »ler^elb.-n  .iie  Berufung 
des  Rentenbewerbers  bei  einer  anderen  Behörde  eingegangen  ist,  leuti-re  hat  die 
Benfungsschrift  nngetEumt  an  das  auftindige  Schiedsgericht  abzugelten. 

Der  Bescheid  nmb  die  Beseiehnnng  der  BerufiaigBfrist  und  des  Ar  die  Be- 
mfnng sHtiiMUgen  Schiedsgerichts  enthalten. 

Eine  Ansfotignng  der  Entsckeidung  des  Schicdsgerichu  ist  dem  Rentenbe» 
Werber  sowie  dem  \'orstande  der  Versicherungsanstalt  zuzust'-lb'n. 

ß  115.  Das  Schiedsf^friiht  hat  wenn  es  den  Anspruch  auf  Rent'-  fiir  (.«■t^rund'-t 
erachtet,  /ugleicli  die  Holte  uini  Iti  li<-c;inii  der  Rente  fest/Ustclien.  Hat  das  Schird«- 
gericht  in  besonderen  Ausnahmeiailen.  welche  das  Keichs-X  ersichcrungKamt  n.ihcr 
bestimmen  darf,  den  Anspruch  auf  Rente  nur  dem  Grunde  nach  anerkannt  und  nicht 
gleidueit^  Aber  die  Höhe  nnd  den  B^nn  der  Rente  entschieden,  so  hat  der  Vor- 
stand der  VersicherungsaMtalt  in  denjenigen  Fillen,  io  welchen  daa  Rechtsmittel 
der  Reviuon  eingeigt  wird,  vorläufige  Rentnnbetrige  unveni^lidi  zu  bewill^en. 
Gegen  die  vorläufige  Bewilligung  von  Rentenbetragen  findet  ein  Rechtsmittel  nicht 
statt.  Sobald  der  Anspruch  auf  Rente  rechtskräftig  feststeht,  hat  der  Vorstand  deren 
Hohe  und  Beginn,  sofern  dies  nicht  bereits  früher  ;^eschehen  ist,  feMzustellen  i)li2). 
Die  vorläufig  gezahlten  Beträge  werden  auf  die  euügiiltig  angewiesene  Rente  an- 


§  ti6.  Gegen  die  Entscheidung  des  Schiedsgerichts  steht  beiden  Teilen  das 
Rechtsmittel  der  Revision  so.   Die  Revision  des  Vorstands  hat  aufiichiebeade  Wir- 


gerechnet. 


lavalidenversicherangsgeieU  vom  13.  Juli  iii99>  225 

kuag  iiitoweit,  als  es  «ich  um  Betrüge  haaddt,  die  fikr  die  Zeit  vor  dem  Erlab  der 
ugefochteneii  Entscbeidoog  oechtrigiich  gezahlt  werden  soUea.  Im  fUirigeB  hat  die 
Rerision  keine  aatschiebende  Wirlniag. 

Ucbcr  die  Revision  entscheidet  das  Reichs-Versicherutigsamt.  Das  Rechtsmittel 
ist  hei  demselben  7Mt  Vermeidunj  des  AupschJus^f>  innerhalb  eines  MhikUs  nach 
der  Zustellung  lior  Kntsi  hi-iduiiij  (ies  S<  hi!''!>;i:^erichts  einzulegen;  die  Besümniung  des 
§114  Abs.  J  lindct  entsprechende  Anwendung. 

Die  Revision  kann  nur  darauf  gestutzt  werden; 
1.  dafs  die  angefochtene  Entscheidung  aaf  der  Nichtanwendung  oder  auf  der 
anrichtigen  Anwendung  des  bestehenden  Rechtes  oder  auf  einem  Ventofse 
wider  den  klarea  Inhalt  der  Akten  beruhe; 
8.  dafs  das  Verfahren  an  wesentlichen  Mangeln  leide. 

§  117.  Bei  Einlegung  der  Revision  ist  an^u^eben,  worin  die  Nichtanwendung 
o<lcr  die  unrichtige  Anwendung;  di->  bestehenden  Rechts  oder  der  Vcrstof»  Wider 
den  klaren  Inliait  der  Akten  oder  worin  die  behaupteten  M;ingel  des  N'- rfahreij«  i^e- 
funden  wftdt-n.  I  Keirh^-Wrsicherungsamt  ist  bi.i  -  -iner  Entscheiduuj^  au  dic- 
jcnigen  CJrundc  nicht  gebunden,  welche  zur  Rechtfertigung  der  ge&teliten  Antrage 
geltend  gemacht  worden  sind. 

Fehlt  die  Angabe  solcher  Grttnde  oder  ergiebt  ^ch  aus  der  Prüfung  der  An- 
trJtge.  dafs  die  angegriffene  Entscheidung  nicht  auf  der  (fichtuwendung  oder  un- 
richtigen Anwendung  des  bestehenden  Rechts  beruht,  sowie  dafs  das  Verfehlen  nicht 
an  wesentlichen  Mängeln  leidet  und  dafs  ein  Ve^stof^  ui  b-r  den  klaren  Inhalt  der 
Akten  nicht  vorliejjt,  oder  ist  die  Revision  v»T>r.ritet  einj^jelegt.  so  kann  das  Keichs- 
V'ersicherungsaint  das  Rechtsmittel  ohne  mündliche  Verhandlunp  ruriü  kwci^i'n.  An- 
dernfalls hat  das  Reichs- Versicherung.satnt  nach  mundlicher  Vcrhandluug  zu  ent- 
scheiden. 

Wird  das  angefochtene  Urteil  aufgehoben,  so  kann  das  Reichs-Verstcherungs» 
amt  tugleich  in  der  Sache  selbst  entscheiden  oder  dieselbe  an  das  Schiedsgericht 
oder  an  den  Vorstaad  surttdtverwetsen.  Dabei  kann  das  Reichs>Versicherungsamt 
bestimmen,  dafs  dem  Renteabewerber  eine  ihrem  Betrage  nach  bestimmte  Rente 

vorläufig  zu  zahlen  ist.  Im  Falle  der  Zuruckverweisung  ist  die  recht  Ii  die  Heurteilang, 
auf  welche  das  Reichs- Vcrsictierunpsamt  die  Aufhebung  geStOtZt  hat,  den  weiteren 
Entscheidun){en  oder  Hescheiden  zu  tirunde  zu  legen. 

^  118.  Die  Versicherungsaii-'alt'^n  ».ind  h»-fugt .  von  der  Riickfnrdt-run^  der 
{^emnfs  115  bis  II7  vor  rechtskraftiger  Entscheidung  gezahlten  Rentenbeträge 
abzusehen 

lly.  Auf  die  Anfechtung  der  rechtskräftigen  Entscheidung  über  einen  An- 
spmdi  auf  Rente  finden  die  Vorschriften  der  Zivilprozefsordnung  über  die  VVicdcr- 
«ufiiahme  des  Verfahrens  entsprechende  Anwendung,  soweit  nicht  durch  Kaiserliehe 
Verordnung  mit  Zustimmung  des  Bundesraths  ein  Anderes  bestimmt  wird. 

%  lao.   Die  Wiederholung  ebes  Antrags  auf  Bewilligung  einer  Invalidenrente, 
welcher  wegen  des  Fdilens  dauernder  ErwerbsunOhigkeit  endgültig  nbgelehnt 
worden  war,  ist  vor  Ablauf  eines  Jahres  seit  der  Zustellung  der  endgftltigen  Ent- 
Archiv  für  ms.  GeceUgebung  u.  Slatittik.   XV.  I5 


226 


Gr»rtzgt'bun^ :  Deutsches  Reich. 


achddnag  nur  dann  zulässig,  wenn  glaubhaft  bescheinigt  wiid,  daft  iniwitchoi  Um* 

ctäiide  ringvtreten  sind,  aus  denen  sich  das  Vorhandensr'in  der  dauernden  Erwerbt- 

ut)f:ihigk«Mt  ilrs  AJitrai:^>;*r'!!'-r<;  tTgicbt.  Snfcrn  eine  sokhr  F<f«;ch»"inijjunp  nirht  liri- 
j^chraclit  w  ini.  hat  dir  umerc  Verwallungsbchi 'r<ic  oi!cr  Kciitciistcllc  den  vorzeitig 
wii-drrholtcD  Antrag  durch  Vertugung,  gegen  welche  ein  KechtsmKtel  nicht  stattiindet, 
zurückzuweisen. 

^  121.  L  (.-her  die  Entziehung  der  Rente  i§  47i  sowie  die  Kin&tellung  von 
Rentenzahlungen  (§  48)  crlafst  der  Vorstand  schriftlichen  mit  Granden  ni  TerKhenden 
Bescheid. 

Vor  der  Entscheidung  ist  die  f&r  den  Wohnort  des  ReoteocmpfXngers  snstEn- 
dige  untere  Verwaltungsbehörde  oder  Rentenstclle  gutachtlich  zu  hören  (§§  57  bis 

59»  79,  84  Abs.  I). 

Der  §   :i2  Abs.  j  und  die  ^jj  I14,  II6  bis  II9  finden  im  übr^en  cat- 

sprechfiul«-  .\ r,^v rwiuu^. 

vj  122.  1  ier  uiitrrtMi  X'erwaltun^sbvhorde  t>lcr  H<-ntf Tist-  llr  ist  von  allen  auf 
üire  llft^iita».  litung  hiti  vnm  \  orsiaiidc  getroflV-nen  Fiitscliciduii^'Ln  Kenntnis  zu  gehen. 
Sofern  Kcntctistcllcu  errichtet  sind,  hat  der  Vurstand  aulserdem  der  für  den  Wohnort 
des  Rentenempfängers  suständigen  unteren  Verwaltungsbehörde  ftber  die  den  Be> 
rechtigten  anstehenden  BezCige  Mitteilung  zu  machen.  Da*  Gleiche  gilt  beim  Eintritt 
von  VerindeningcQ. 

§  123.  (Anszahlnng  der  Renten.)  Die  Anssihlung  der  Renten  wird  auf  An- 
weisung des  Vorstandes  der  nach  g  112  Abs.  2  ittstindigen  Versicherangsanttalt 

vorschuf^wr  i^c  durch  die  I'ostverwaltuiigcn.  und  rwar  in  der  Regel  durch  diejenige 
Postanslalt  l  ewirkt,  in  deren  Hezirk  der  EmpfanK^berechtigte  zur  Zeit  des  Antrags 
auf  Bewilli^ning  der  Rente  seinen  Wohnsitz  hatte  Der  Vorstand  der  N'ersicherungs- 
anstait  bat  dein  Berechtigten  die  mit  der  Zahlung  der  Rente  beauftragte  I'o»tanstalt 

zu  bezeichnen. 

Verlegt  der  £nii>faiigsberechtigte  Seinen  Wohnsits,  SO  hat  auf  seinen  Antrag 
der  Vorstand  der  Versicherungsanstalt,  welcher  die  Rente  angewiesen  hatte,  die 
letztere  an  die  Postanstalt  des  neuen  Wohnorts  zur  Auszahlung  zu  überweisen. 

Die  Zentral'Postbehörden  sind  berechtigt,  von  jeder  Versicherungsanstalt  einen 
Betriebsfonds  ein/uzioheii.  Derselbe  ist  in  viertel  jährlichen  oder  inanatlichen  Teil- 
ralilunf^cn  an  die  den  Versichcrunjjsanstalten  von  der  Zentral-rn^thebori'.r'  ,mi  be- 
7ei(  '[ui>  fiden  Kassen  abzuführen  und  darf  die  für  die  Vrrsicherunp'^aiiSMlt  im  laufenden 
Rechnungsjahre  vorau<;sichtIich  ausruyahlendeti  Betrnpe  nicht  uluTsteigen, 

§  124.  I  kechtiunp^.-N  lle  (  Die  Kcchnung^^!clle  des  Reichs W'rsicherutjj^samts 
hat  alle  bei  dem  letzteren  nach  Mafsgabe  dieses  Gesetzes  vorkommenden  rechneri- 
schen und  verstcherangstechnischen  Arbeiten  auszuführen.  Insbesondere  liegt  der- 
selben ob: 

1.  die  Verteilung  der  Renten  {§§  125,  174); 

2.  die  Abrechnung  mit  den  Postverwaltungen  (§§  126  ff.)  und  die  Berechnung 
des  diesen  von  jeder  Versicherungsanstalt  vorzuschiefsenden  Betriebsfonds 


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Inv»lidciivexsichennigsgescta  vom  13.  Juli  1899. 


227 


3.  die  Mitwirkoog  hn  dm  im  Vollzüge  des  Gesetzes  hemsteUcndcii  stftH- 
ttiscfaen  Aibetteo; 

4.  die  MitwIrkOBg  bei  Festsettoog  der  Veisieliemgsbeitrilge  3s). 

Des  Reichs-Versicbeni^lSMiit  bestinmitt  welche  MittcUangca  der  RedmoBgaitdle 
m  diesen  Zwecken  von  den  Wrsichcrungsanstaltcn  zu  machen  sind. 

125.  fV^crteilung  der  Renten. 1  r>if  Rechnungsstelle  verteilt  (\\c  Renten  auf 
das  Reich,  das  Genacinvennogen  und  auf  das  Sondervcrmogcn.  Dem  Reich  sind  für 
jede  Rente  fünfzig  Mark  Zuscliufs  (§  35)  un»l  für  jede  ohne  Beitragsleistung  in  An- 
recbnuDg  kommende  Beitragswoche  bis  zu  anderweiter  Feststellung  durch  den 
Bundesrat  ein  RcntenantMl  von  achtzehn  Pfennig  zur  Lest  su  k-gcn      40  Abs.  2). 

Die  Steigemngssltse  der  Invslidenrenten  sowie  ein  Viertel  der  Altersrenten 
sind  von  dem  Sondervemögen  der  eintclnen  Versicberangsanstalten,  nlle  übrigen 
Rentenanteile  von  dem  Gemeinvermögen  zu  tntgen.  Die  Steigerangsbeitrl^e  fallen 
derjenigen  Anstalt  «ur  Last,  welcher  die  entsprechenden  Beiträge  zugeflossen  sind; 
da^  Viertel  jeder  Altersrente  ist  nuf  difienicrrii  An'italtcn  ?u  verteilen,  welchen  die 
Beiträge  für  den  hetreflTenden  Rentenempfänger  rui^ctlosscn  sind,  und  zwar  im  Ver- 
hältnisse des  Wertes  dieser  Beiträge.  Der  anw^cisenden  Versicherungsanstalt  sind 
die  dem  Sondcrvcrtnugen  einer  anderen  Versicherungsaastalt  zur  LasI  fallenden 
Rentennntcile  nm  Sdilnsw  des  Redinnngsjshres  mit  ihrem  Kapitnlwert  einmnUg  sn 
erstatten  (§  196). 

Znr  Feststellnng  des  Mofsstnbs,  in  welchem  die  im  «bgelanfenen  Rechnnngs- 

jahre  [;e/ahlten  Rentenbetrige  der  Post  zu  crstitten  sind,  ermittelt  die  Rechnnngs- 
stellc  für  jedes  Jahr  und  für  jede  Versicherungsanstalt  den  Kapitalwert  der  von  ihr 
zur  Zahlung  angewiesenen  nnch  laufenden  Renten  sowie  den  hiervon  anf  das  Reich, 
das  Geincinvermo^en  und  auf  das  Sondervermu^en  der  einzehi.-n  \  I•r^i^i  '-rungs- 
anslalten  entfallenden  Anteil.  Leber  die  Berechnung  des  Kapitalwcrts  trifft  der 
Bundesrat  Bestimmung. 

§  136.  Die  Zentral-Postbehdrden  haben  der  Redumngsitelle  NadiwetBongea 
ttber  diejenigen  Zahlnngen,  wdche  im  verflonenen  Rechnungsjahr  auf  Gnmd  der 
Anweisungen  der  Versichenugsanstalten  geleiatet  worden  sind«  zuustellen.  Die  Rech« 
nungsstellc  hat  die  vorgeschn5«enen  Beträge  nach  dem  gemäfs  125  Abs.  3  fest« 
gestellten  Maf^stab  auf  das  Reicli,  ias  Grineinvermögen  und  das  Sonde rvermoc^en 
zu  verteilen.  !  »ic  liiernach  auf  das  <  iLiiieiiivcriiiui^'Hfi  samtlicher  .\nstalten  cntfallcndcD 
Zahlungen  sind  von  den  einzelnen  Versicherungsanstalten  im  Verhältnis  der  iur  die 
Gemein  last  bestimmten  Teile  ihres  Vermögens  an  erMattea. 

Auf  Gnmd  dieser  Verteilung  hat  die  Rechnmgsstelle  jeder  Versidierangsanstalt 
den  Betrag  mitsuteilen,  den  diese  ans  dem  ftr  die  Gemdnlait  bestimmten  Teile 
ihres  Vemttgens  einerseits  und  aus  ihrem  Sonderveimögen  andererseits  sn  erstatten 
hat;  dabei  sind  zugleich  die  gemifs  %  135  Abs.  2  von  den  eiacelnen  Anstalten  ein* 
ander  sn  erstattenden  Kapitalwerte  ans  dem  abgelaufenen  Rechnungsjahre  festzu- 
stellen. Die  den  Bt-rechnungen  zu  Grunde  liegenden  Zahlen  sind  anzugeben.  Gegen 
die  Verteilung  und  .Vbrechiiung  ist  die  Beschwerde  bei  dem  Rcichs-Versicheningsaint 
zuläs&ig.  Leber  die  dem  Reich  zur  Last  fallenden  Beträge  ist  dem  Rcichskauilcr 
(Keiehsamt  des  Innern)  Vorlage  sn  machen. 


15» 


228 


Ge:»eU){'^l>"ng     DeuUcki<*^  Reich. 


Den  SÜCDtral'Postbehorden  hat  die  Rcchnuagsritelle  mitcnteileo,  welche  Betrige 
von  dem  Reich  und  roa  den  einceloeii  Versicheningsansulten  zu  entauen  sind. 

§  137.  (Erstattung  der  Vor^  husae  der  Postveru  altiint^rn  )  Die  VanichentagS'* 
anstalten  haben  die  von  der  Reciniun^sstelle  ihnen  roitgctliciltcn  Beträge  t§  126)  den 

Postverwalhns^'cn  binnen  rwi-i  ^^  »ohen  nach  Kiiiijani^  «I-t  Mitteilung  zu  ersfattrn. 
Dir  Krstattuu^  erfi)!;^t  :iu>  den  i)pr<'itrn  Mittfln  iler  An^tAlt.  -Sitnl  solche  nicht  vor- 
handen, so  hat  der  weitere  Kommunalvcrband  beziehungsweise  der  buDdr>.*taat  die 
erforderlichen  Beträgt*  vorzuschiefsen.  Bei  gemetOMmett  Versicherungsanstalten 
erfolgt  die  Aufbringung  dieses  Vorschusses  nnrh  dem  im  %  68  Ab«.  2  festgesetzten 
VcrhSltnisse. 

Gegen  Versicherungsanstaken,  welche  mit  der  Erstattung  der  Betrige  im  Ruck- 
stande bleiben,  m  auf  Antmg  der  Zentral-r>»t]>ehorde  von  dem  Reichs* Versidie- 
lungsamt  das  /\van(j>beitreibungsverfahrcn  cin^ulr-iten 

i;  12S  (  1j -lattutij,'  von  Hcitrii^jen  1  »"r  An^]H  ich  auf  Eritattunc  ^*'»"  B^'i- 
tr;i.4iMi  ji);  .\2  l>i>  441  i>t  unter  Heilirin^jun^  der  zur  1  iejjruiidijiiß  'lienetiOen  Beweis- 
slücke bei  der  unteren  \'erwaltungsl>ehorde  oder  kentcnstelle  des  Wohnorts  oder 
des  letitcn  ficsefaifiigungsorts  oder  bei  der  von  der  Laades^Zentralbehorde  be> 
stimmten  Behörde  (§  112  Abs.  i)  geltend  cu  machen. 

Die  untere  Verwaltungsbehörde  oder  Rentenstelle  hat  die  Verhandlungen  dem 
Vorstände  der  flir  ihren  Besirk  xusttodigen  Versicherungsanstalt  tu  ubersenden. 
Dieser  hat  über  den  Anspruch  einen  schriftlichen  Be«:heid  zu  erteilen. 

Der  jj  113  findet  ent.^itrechende  ,\nw end jn^',  wenn  der  ^ode^t'all.  welcher  den 
Anspruch  auf  Britr.iijserstattung  begrumlrt  «Ijrch  -itiet)  ri.ic!»  den  UntuUversicherUJigs- 
gesctzen  zu  entschadis^enden  Untall  herl)eiyL  liilirt  uordcu  i^t. 

Gegen  den  Bescheid  steht  dem  Erstatlungsberechttgteu  die  Beschwerde  au  da:» 
Kdchs-Versichemngsamt  su.  Die  Beschwerde  ist  bei  Vermeidung  des  Ausschlusses 
innerhalb  eines  Monats  nach  Zustellung  des  Bescheids  bei  dem  Keichs-Verstche» 
lungsamt  einzulegen. 

Die  Bestimmungen  des  §  114  Abs.  3  sind  in  den  Killen  der  Abs.  I,  4  ent* 
sprechend  anzuwenden. 

Die  \'ersicher>ii»(jsan'italten.  an  welche  »leinerreit  )]ie  nunmehr  .-uruLkerstatfeten 
Beitrage  entrichtet  worden  sind,  haben  der  erstattenden  \'crsicheruni;san.stalt  Kr.«atz 
zu  leisten;  die  Abrundungsbeträge  ^j^  42  Abs.  1,  43.  jj  44  Abs.  ji  verbleiben  zu 
Lasten  der  erstattenden  VersicherungsanstaU.  Das  Verfahren  wird  vom  Rcichs- 
Versicberangsamt  geregelt.  Die  Versicherungsanstalten  können  durch  Vertrag  auf 
die  Ersatzleistungen  gegenseitig  verzichten;  der  Vertrag  ist  dem  Reichs- Versiehe> 
nmgsamt  mitzuteilen. 

§  129.  I  F.Dt^cheidung  durch  Rentenstellen.)  Sind  Rentensteli^n  auf  Grund  der 
Vorschriften  de<  ~i  S6  die  dort  1>  -eichnelen  Hefuijni.sse  übertragen,  so  finden  die 
Vorschriften  der  ^§  i  12  bi:>  122,  12S  mit  folgenden  Mafsgaben  entsprechende  An- 
wendung. 

Die  Entscheidungen  der  Keutcn.stcllc  erfolgen  nach  .'^itiuiuieuniehrlieil  in  der 
Besetzung  von  drei  Mitgliedern,  unter  denen  sich  aafscr  dem  Vmitienden  oder 
seinem  Stellvertreter  je  ein  Vertreter  der  Arbei^eber  und  der  Vecsicherten  befinden 


Invahdrnvrr!>ichrrungi>gcsrtz  vom  13.  Joli  1899. 


229 


maft,  wenn  nach  AB»idit  de«  Voraitteiidefi  oder  sclae»  Stellvertreters  die  VcrMgaiic 
eiMr  beantragten  Rente  oder  die  Gewihnug  ciDes  gerhigCTeM  als  des  beaatragtcn 

Rentenhetrafjes  oder  die  Entziehunß  einer  Invaliilcnrrntc  in  Frage  steht 

In  den  Fällen,  in  welchen  der  Anspruch  auf  Rente  oder  Beitragserstattiing 
ganz  oder  zum  Teil  anerkannt  oder  die  Entziehung  einer  Invalidenrente  oder  die 
Einstellnng  von  Rentenzahlungen  abgelehnt  oder  ausgesprochen  wurden  ist,  hat  der 
Vorsitzende  der  Kenienstelle  nach  Erteilung  des  Kescheids  dem  Vorstände  derjenigen 
Verticherungiian!>ialt,  die  für  den  fictirk  der  RentenstcUc  snstiBd^  ist,.  Baverzuglich 
die  Vertiaadlungen  xu  Übersenden  nad  dabei  diejenigen  Entselieidnngen  sn  besdchnen, 
welche  grgen  seine  Stimme  ergangen  sind. 

Der  VorBUnd  der  Versicfaemngsanstalt  ist  befugt.  Entscbcidongen  der  Renten- 
steile,  durch  welche  der  Anspruch  auf  Rente  oder  Peitrnß<:erstattBng  ganz  oder  nun 
Teil  an<r'f<annt  oder  die  Entziehung  der  Invalidenrente  oder  die  Einstellung  von 
Rfnten/ahhIn^;en  al'^jcleiint  worden  ist.  durch  Berufung  oder  lU-^ch werde  geniaf$ 
55  114  Abs.  I.  5;  128  .\hs.  4  anzufechten,  hie  Herufutig  und  Beschwerde  des  Vor- 
sliindes  haben  aufschiebende  Wirkung,  die  Berufung  aber  nur  insoweit,  aU  es  »ich 
om  Betrigc  luindelt,  die  für  die  Zeit  vor  dem  Erlafs  der  Entscheidung  der  Rcnten- 
stellc  nachträglich  gciahlt  werden  sollen. 

Die  Berufung  oder  Beschwerde  ist  bei  Vermeidung  des  Ansschlnsses  innerhalb 
eines  Monats,  nachdem  «He  Verhandlungen  der  Renteostelle  bei  dem  Vorstande  cin- 
gegan^'en  sind  Vh^  3).  bei  dem  eustSndigen  Schiedsgerichte  oder  dem  Reichs- 
Versichcniiij.;-.-iiiit  e i  11. ■,! Irrten. 

§  I  ^o.  Marken  I  Zum  /-.vecke  fler  Lrtu  liur  i:  li' r  Meitraije  wer'len  von  jeder 
Versicheriingsaiistalt  für  die  einzelnen  Lohnklaf^scn  Marken  mit  der  Bczeiclinung 
ihres  Geldwertes  ausgegeben.  Das  Reichs  Versieheningiiamt  bestimmt  die  Zeit- 
abschnitte, für  welche  die  Marken  ausgegeben  werden  sollen,  sowie  die  Untere 
acheidungsmerkmale  und  die  Glkhigkeitsdauer  der  Marken.  Innerhalb  zweier  Jahre 
nach  Ahlauf  der  Gultigkeits^er  kOnnen  ungültig  gewordene  Marken  bei  den  zum 
Markraverkauf  bestimmten  .Stellen  gegen  gUUige  Marken  umgetauscht  werden 

Die  Marken  eii^er  \■ersicherun^j;<^an«t.^lt  können  bei  allen  in  ihreui  Itezirke  be- 
le«;enen  l'o.-taiistalleii  und  ainieren  von  di  r  \  crsicheruiir^>an>t:ilt  rin.  urichtenden  VcT- 
kaufi.steilcn  gtgen  Erleginijj   K-s  Xennwert!--  knufücli  erworben  wenien. 

§  131.  iQuitlung^kartc.)  Die  Entrichtung  der  Beiträge  crJolgt  durch  Ein- 
kleben eines  entsprechenden  Betrags  von  Marken  in  die  Quittungsk«te  des  Ver- 
sicherten. 

Der  Versicherte  ist  verpflichtet,  die  Quittungskarte  sich  ausstellen  su  lassen 
und  sie  behufs  Einklebeos  der  Marken  oder  zum  Entwerten  der  Marken  sn  den 
hierfür  vi  rt^e^chenen  Zeiten  vorzulegen  (5i;J<  14J.  i4i>,  150V    Er  kann  hierzu  voo 

der  ( 'rt^|"li/elb( '(Mirdc  oilor  von  dem  Vorsitzenden  der  Kentensttelle ,  soweit  dieser 
die  Kontrolle  über  die  l'eilra^jsci.trif  litung  lijii  161  tT.)  ubertragen  durch  Geld- 
»irafcn  bjs  zu  zehn  Mark  angclialten  werden.  Ist  der  Versicherte  mit  einer  <^>uiltungs- 
karte  nicht  ver.<ichen  oder  lehnt  er  deren  Vorlegung  ab,  40  jst  der  Arbeitgeber  be- 
rechtigt, für  Rechnung  des  Versicherten  eine  solche  anzuschaflen  and  den  vemuslagten 
Betrag  bei  der  nächsten  Lohnzahlung  einzubehalten. 


230 


G«setig«bitD( :  Dcatsdics  Reich. 


Der  Versicherte  ist  berechtigt,  .luf  srinc  Kosten  co  jeder  Zeit  die  AiUftelltUf 
einer  neuen  <^»uittun!j>karte  grgen  Ruckgabe  der  älteren  7U  hean<<pnicheD 

4;  1^2  Dt»-  <,>iiitfiin^<;karfr  cn'.h,  h  da'^  Jahr  um-]  <i-i,  Tae  <*rT  Ausgabe,  iVxr 
üher  den  Cieliraucli  erla>ietitii  Hcstimuiun^t-n  t  iJ"U  mi  i  die  Ntrafvürschrift  d»"s 
^  1S4.  Lu  übrigen  bestiiuiut  der  Bundesrat  ihre  Eiurichtuag.  Für  die  Sclb&lver- 
sichenmg  und  deren  Fortsetzong  14  Ab«,  t)  kann  vom  Bnndcinte  die  Verwendung 
besonderer  Qaittungsknrten  vorgewhrirben  and  die  unbefugte  Verwendung  anderer 
Quittungtkarten  mit  Strafe  bedroht  werden. 

Die  Kosten  der  (Juittungsknrte  trigt.  soweit  sie  nicht  für  Recboung  des  \'er* 
i^icherten  su  bcscbafTen  ist  (§  131  Abs.  a,  3),  die  Versicbentngsnnstalt  des  Ausgabe- 
bczirkü. 

>  '33'  .U'de  <juittun^;sk:irlc  bietet  Raum  7ur  Aufnahme  der  Mark<-ti  für 
mindestens  zweiund fünfzig  Beitrag!)wocheo.  Die  Karten  sind  für  jeden  Versichertco 
mit  fortlaufenden  Nummern  tu  Tenehen;  die  erste  filr  ihn  ausgestellte  Karte  iat  am 
Kopfe  mit  dem  Namen  derjenigen  Versicherungsanstalt,  in  deren  Besirk  der  Ver- 
sicherte SU  dieser  Zeit  beschäftigt  ist,  jede  folgende  mit  dem  Namen  derjenigen 
Versicheruiq^Mtnstalt,  welche  sich  auf  der  nichstvorhergehendcn  Karte  vermerkt 
findet,  lu  bcreichnen.  Stimmt  der  auf  einer  späteren  Karte  enthaltene  Xame  mit 
dem  auf  der  ersten  Karte  enthaltenen  Namen  nicht  überdn.  SO  ist  der  auf  der 
ersten  Karte  eiithaltenr  Name  niafsgel)end 

tj  134.  Die  Ausstellung  und  der  Umtausch  der  (^uittuugskarten  erfolgt  durch 
die  von  der  Landca-Zentralbehurdc  bc/cichucte  btcUc. 

Die  hiernach  xnstkndige  Stelle  hat  die  in  der  zurdckgegebenea  Karte  ein- 
geklebten  Marken  derart  aufsurechnen,  dafs  ersichtlich  wird,  wie  viel  Betragswochen 
für  die  einzelnen  Lohnklassen  dem  Inhaber  der  Karte  anzurechnen  sind.  Gleich- 
seit^(  bt  die  Dauer  der  bescheinigten  Krankheiten  und  milittrischen  Dienstleistungen 
des  Inhabers  anzugeben,  wcirh«-  in  die  Zeit,  für  welche  die  Quittungskartc  gilt  ent- 
fallen Ucbv-r  l-e  aus  dieser  Aufrechnung  sich  ergebenden  Endzahlen  ist  dem  In- 
liaber  der  Karte  eine-  fiescht-inigun^  /u  (rtcilfii. 

fj  135.  Eine  Quittungskartc  verliert  ilire  Cjuliigkcit,  wenn  !.ic  nicht  iniicrliall^ 
zweier  Jahre  nach  dem  auf  der  Karte  verzeichneten  Ausstellungstage  zum  Umtausch 
eingereicht  ist.  Ist  die  Annahme  b^ründet,  dafs  der  Versicherte  ohne  sein  Ver- 
schulden den  rechtzeitigen  Umtausch  versäumt  hat»  so  kann  der  Vorstand  der  Ver- 
sicherungsanstalt des  Beschiftigungsorts  auf  den  Antrag  des  Versicherten  die  fort- 
dauernde Gültigkeit  der  Quittuagskarte  anerkennen. 

Der  Bundesrat  ist  befugt  anzuordnen,  dafs  die  Gdltt^&eitsdaner  der  Karten 
durch  Abstempelung  verlangt^rt  werden  kann 

§  136.  Verlorene,  unbrauchltar  gewordene  oder  <'erstörte  ( hiittungskarten  sind 
durch  neue  zu  ersetzen.  In  die  neue  Karte  sind  die  in  der  älteren  nachweisbar  ent- 
richteten Beiträge  in  beglaubigter  Form  zu  übertragen. 

§  137.  Der  Versicherte  ist  befugt,  Unsen  zwei  Wochen  nach  Aoshindigung 
der  Bescheinigung  134)  oder  der  neuen  Quittungskarte  (9  136)  g^en  die  Auf- 
rechnung der  Karte  und  den  Inhalt  der  Bescheinigung  (§  134)  scmie  gegen  die  Ueber- 
tragung  (§  136)  Einspruch  zu  erheben.   Gegen  die  Zuräckweisung  des  Einspruchs 


Invaltdcnversicberungiigcsetz  vom  13.  Juli  1^99. 


231 


findet  binncii  ^leidicr  Frbt  Beschwerde  bei  der  ttninittelbttr  vorgesetzten  Dienst» 
behordc  stntt.   Die  letstere  enticheidet  hierOber  sowie  über  andere  das  Vcrfidiren 

betretende  Beschwerrlen  endgültig. 

§  138.  Die  abjjc^cbcncn  Ouittung^skarten  sind  an  die  \'ersich<"ning«an'<talt  des 
Bezirkes  /u  übersenden  un  1  von  dieser  au  diejcDige  VersicheruogsaustaU,  deren 
Namen  sie  tragen,  zu  überweisen. 

Diese  ist  befugt,  den  Inhalt  von  Quittongskarten  desselben  Versicherten  ia 
Sanmellaurten  (Konten)  »1  Abertmfen  und  dttte  •&  Stelle  der  Einselnriwnden  aaf» 
nibewnhren,  die  letsteren  aber  m  vernichten.  Das  Verfidwcn  sowie  die  Einricktan^ 
der  Samntelkarte  wird  vom  Bnndcmt  bestimmt. 

Der  Bundesrat  bat  die  Vomussetnngen  nnd  die  Formen  an  bestimmen,  nnter 
denen  die  Vernichtung  von  Qtüttnngskarten  auch  in  anderen  Fällen  zu  erfolgen  hat. 

§  139.  Die  Eintragung  eines  Urteih  über  die  Führung  oder  die  Leistungen 
des  Inhabers  sowie  sonstige  durch  dieses  Geset?  nicht  vorgesehene  I"intrri':;un2en 
oder  Vermerke  in  oder  an  der  Quittungskarte  sind  unzulässig.  (^)uittuügskarten.  in 
welchen  derartige  Eintragungen  oder  Vermerke  sich  vorfinden,  sind  von  jeder  Be« 
hArde,  welcher  sie  sngchen,  einanbehalten.  Die  Behörde  hat  die  Erselsnng  derselben 
dnrdi  neue  Karten,  in  welche  der  «tlüssige  Inhalt  der  ersteren  nach  Mafsgabe  der 
Bestimmung  des  9  136  tit  ftbemdmien  ist,  sn  veranlatsan. 

Dem  Arbeitgeher  sowie  Dritten  ist  untersagt,  die  Quittnogskarte  nach  Ein* 
klcbung  der  Marken  wider  den  Willen  des  Inhabers  rurückzubchaltcn.  Auf  die 
Zurückbehaltung  der  Karten  seitens  der  zuständigen  Behörden  und  <  >rganc  su 
Zwecken  des  Umtausc  hes,  der  Kontrolle,  Berichtigung,  Aufrechnung,  l  ehertragung 
oder  der  Durchfuhrung  des  Eiazugsverfahrens  (§§  148  fr.)  fmdct  diese  Bestimmung 
keine  Anwendung. 

Qvitinngskniten,  weldie  im  Widerspindie  mit  dieser  Vondirift  sorfidtbehalten 
werden,  sind  dordi  die  Ortspoliseibehttrde  dem  Zuwiderhandelnden  abcnnehmen  und 
dem  Berechtigten  ansauhindigea.  Der  entere  bleibt  dem  letsteren  für  alle  Nach- 
teile, welche  diesem  aus  der  Zuwiderhandlung  erwachsen,  verantwortlich. 

v{  140.  I  Fiitrichtung  der  Beitrüge  durch  die  .Arbeitgeber.  1  Die  Beitrage  des 
Arbeitgeliers  und  des  Xersitht-rten  «ind  von  demjenigen  Arbeitgeber  /u  entrichten, 
welcher  den  Versicherten  wahrend  der  Beitragswoche  (J^  30)  bcsch.iftigt  hat. 

Findet  die  Bescbfiftigung  nicht  während  der  ganzen  Bcitragswuche  bei  dem- 
selben Arbritgeber  atntt,  so  ut  von  demjenigen  Arbeitgeber,  welcher  den  Versicherten 
auent  beschlftigt,  der  volle  Wodienbeitmg  su  entrichten.  Wurde  dieser  Ver> 
pflichtung  nicht  genügt,  und  hat  der  Versicherte  den  Beitrag  nicht  selbst  entrichtet 
(§  144),  so  hat  derjenige  Arbeitgeber,  welcher  den  Versicherten  wellerhin  beschüf- 
tigt.  den  Wochenbeitrag  zu  entrichten,  doch  steht  ihm  gegen  den  zunächst  Ver« 
pflichteten  Anspruch  auf  Ersatz  ru.  Steht  der  Versicherte  gleichzeitig  in  mehreren 
die  Versicherungspflicht  begründenden  Arbeits-  oder  Dienstverhältnissen,  SO  Iwften 
die  Ari>eitgcber  als  (>esamtscbuldner  fur  die  vollen  Wochenbeilrage. 

bofcro  die  thatsächlich  verwendete  Arbeitszeit  nicht  festgestellt  werden  kann, 
ist  der  Beitrag  fär  diejenige  Aibeitsz«t  an  entrichten,  weicht  zur  Herstellung  der 
Arbelt  anniherad  (ur  erforderlich  zu  erachten  ist.   Im  Streitfall  entscheidet  auf 


232 


Gextsgehunii; :  Deutsch««  Reich. 


Antrng  eint-s  Teils  die  untere  \'erwallur)L;'^^fhiirc)e  eridj^uhii^.  lUv  X'crsich^rimg*» 
Rnsfah  is:  iicrechti'^t,  für  ili<-  Hcr«  chriunf,'  derartiger  Beitr.i.'t  in  -rndprc  Bcstimmangen 
zu  er!a«M  n      1  >i<  s(  !beti   lu  iiurlVri  lier  •  irrirhii>ijju(ijij   des   Keu iis- \  crsicherungsanits. 

Jr  141.  I»ic  Kotriclituug  der  Ileitra^e  eHolj;i  lu  der  \Vfi>c,  dals  der  Arbeit- 
geber (j;  140  k  bei  der  Lohnzahlung  fttr  die  Dauer  der  Bcschafuyuug  Maiken  der> 
jcnigcD  Art  in  die  Quittungskarte  einklebt,  welche  für  die  Lobnklasse,  die  ftr  den 
Versicherten  in  Anwendung  kommt  (§  34).  vun  der  für  den  Bcschlftigungsort  za- 
ttändtgen  VenicheraogMinttalt  ausgegeben  iM.  Der  Arbeitgeber  hat  die  Marken  ana 
eigenen  Mitteln  sn  erwerben. 

Uif  W-rvicherungsanslalt  kanfi  !)e-.liniinen  dafs  ui^r]  inwieweit  Arbeitgeber  he- 
fu;;!  ^r]n  '•cllrr.  Hie  Mnrkin  -^u  inidereii  als  <lrn  :uis  dm  Lohiuahhingcn  «ich 
erj^eherulcn  'I'ertnijien  bei;ubrinj^en.  hi  allen  1  allen  mussrn  liie  auf  die  l)auer  des 
Arbeits-  oder  Dienslvcrhiltnisscs  eittlaileiideti  Marken  sp.Ttestrns  in  der  letzten  Woche 
det  Kalenderjahres  oder,  sofern  das  Arbeits-  oder  Dienttverhiltnis  früher  beendigt 
wird,  bei  Beendigung  desselben  eingeklebt  werden. 

Marken  für  einen  zwei  Wochen  übersteigenden  Zeitraum  nflsten  entwertet 
werden  Der  Bundesrat  bat  die  näheren  Vorschriften  tiber  die  Art  der  Entwertung 
zu  erlas»;en  und  deren  Nichtbefolpung  mit  Strafe  zu  bedrohen. 

Der  I'.uiiiicsrat  i-t  l.  fii>,M,  uHer  liie  Fn* wertimg  von  an<1erer»  Marken  Vor- 
ichrifj'-ii  /u  crlasst  i»  um;  diieri  \ii  !'tl;i  ((■l'^vmj:  niit  STal»-  i'u  iir'lr<j}ieii. 

vi  142.  1  >i«-  N'ftMi  hcrt-;ii  -Ulli  V«  rpfln  iit.  t,  b«  i  <l.  n  l.iOiiuahlungcn  die  Haltte 
der  Beiträge,  in  den  Fallen  de>  34  Ab>.  4  aber,  sotcrn  nicht  die  Verticheruiig  m 
einer  höheren  Lohnklasie  auf  einer  Vereinbarung  zwischen  dem  Arbeitgeber  und 
dem  Versichertco  berabt,  deD  auf  sie  entfallenden  höheren  Betrag  sieb  cinbebaUen 
«u  lassen.  Die  Arbeitgeber  dürfen  nur  auf  diesem  Wege  den  auf  die  Versicherten 
entfallenden  Itetrag  wieder  einziehen. 

I  »i«-  Al'/tipr  für  Beiträge  sind  auf  die  l-ohnzahlungsperinden.  auf  welche  &ie 
enttalleii,  );U  ii  }im;ifsip  zn  vcrteilru.  1  he  Teill  rträfie  diirfeii.  ohne  dat>  dadurch 
M  ehrt  »  lii-iuiij;m  der  Versicherten  herl)eigellihrt  werden,  auf  volle  zehn  Ftennig  ab- 
gerundet werden. 

Sind  Abzüge  bei  einer  Lohiuahlungsperiodc  unterblieben,  so  dürfen  sie  fttr  die 
betreffende  Lohnzahlungsperiode  nur  noch  bei  der  nichstfolgenden  Lohnzahluig 
.  nachgeholt  werden.  Diese  Bestimmung  findet  keine  AnwenduDg,  wenn  wegen  ver- 
spSteter  Feststellung  einer  bisher  streitigen  VersicherangbpfUcht  oder  aus  anderen 
Grttndrn  P-<  i trage  nachträglich  zu  verwenden  sind,  ohne  dafs  den  Arbeitgeber  hier« 
bei  ein  Wr--«  huliU  n  irifil. 

ArVititj:i  k>er  «leren  /aiiluit^'sunlhiiij:keit  mi  /  waiit;^ln-itreibunj:Nvt  rtahr.-n  lest- 
gestelU  worikn  ij.t,  dürfen,  soweit  die  !•  nlru  luun^;  der  H<  iira^..-  in  der  im  jj  141 
Abt.  1  ai))^c^ebenen  Weise  erfolgt,  Lohnabzuge  nur  tür  diciiui|i:c  Zeitdauer  machen, 
für  welche  sie  die  geschuldeten  Beiträge  nachweislich  bereits  entrichtet  haben;  so- 
weit dagegen  die  Einziehung  der  Beiträge  gemäfs  148  ff.  stattfindet,  sind  sie  ver- 
pflichtet, die  im  Abs.  i  zugelassenen  Lohnabzüge  zu  machen  und  deren  Betrag  so- 
fort, nachdem  d<  r  Ai  /14:  gemacht  ist,  an  die  i'uMLiii>M>:i  Finzugsstelle  abzuliefern. 
Eine  gegen  den  Arbeitgeber  auf  Grund  des  §  52  a  des  Krankenversicherungsgesetaet 


Invalidrnvt  rsichcrungNpesi  lz  vom  13.  Juli  1899. 


getroffen«  Anordnung  «rMredit  sich  nach  nnf  die  Ton  der  beteiligten  Kniikenknne 
cinznsiehenden  lUiträ^^f  für  dir  Invalidenversicherung. 

§  14;?.  l>i<-  l^rlicbung  der  Bcitrhj;c  für  tlicjcnigcn  Person«-!!,  auf  welche  die 
Versieh rruTif^sptlicht  nach  §  2  erstreckt  worden  ist,  wird  durch  Bcacblufs  des  Bandes» 

§  144.  jMitlichtun};  der  Beiträgt^  durch  die  Versicherten.)  Versicherungpßicbtige 
Personen  sind  befugt,  die  BcitrSgc  an  Stelle  der  Arbeitgeber  cu  entrichten. 

Dem  Versicherten,  welcher  nnf  Gnmd  dieser  Bestimmong  die  vollen  Wochen» 
britrige  entrichtet  hat,  steht  gegen  den  nach  §  140  zur  Entrichtung  der  Beitrige 

verpflichteten  Arbeitgeber  der  Ansprach  auf  [-Erstattung  der  Hälfte  des  Betrages, 
und  in  den  Fällen  des  §  34  Abs.  4,  sofern  nicht  die  Versicherung  in  einer  höheren 
I .«•hnkla'-sc  auf  einer  Vcrcitibaninp  /.wisrlven  dcni  Arbeitsgeber  un<l  dem  Versicherten 
tfrruht,  auf  Kr.-tatfunp  d«T  llälltf  df^  t  T)i;;t  n  ^.'rin<,'«  rt  11  l'.cli.it^N  /.n,  \ve!rbi  n  der 
Arbeitgeber  nach  der  tur  dcu  Versicherten  maugcbcndcu  Lohnklassc  /.a  tragen  hat. 
Der  Ansprach  besteht  jedoch  mar,  sofera  die  Marke  v<niehriftsniäi'!<ig  cuttrertet  ist 
Der  Ansprach  ist  iHr  die  betreffende  Lohnzahlnngsperiode  bei  der  Lohnnhlnng 
gellend  zu  machen.  Ist  dies  bd  einer  Lohnxahlung  unterblieben,  so  darf  der  An> 
sprach  fär  die  betreffende  Lohnzahlongsperiode  nnr  noch  bei  der  nächstfolgenden 
Lohiuahlung  erhoben  wrr<1rn,  sofern  nicht  rier  Versicherte  ohne  sein  Veischnlden 
erst  nai  htrHj:;lir!j  an  Stelle  (Ir>  Arbeit^"  li.-rs  Bcitr.ifje  verwendet  hat. 

c;  14;.  Hei  frei ',v ill i^TT  Versilberung;  j;  14'  ?ia''i''n  die  sie  ein:,'eher)deii  Her- 
*(.Tuii  .Mr.rken  derjenigen  \'ersichcruiig>aiist.ill  verwenden,  in  ilercii  Bezirke  sie 
bcfeh.^ftigt  sind  oder.  >ofcrn  eine  Bc>cliaftigung  nicht  statttindct,  sich  auflialten. 
Dabei  steht  ihnen  die  Wahl  der  Lohnk1a«se  frei.  Bcgc)>cn  sich  Versicherte  in  das 
Ausland,  so  sind  sie  berechtigt,  die  Versicherung  dort  fortzusetzen;  sie  haben  dabei 
Marken  derienigen  Versicherungsanstalt  zu  verwenden,  in  deren  Bezirke  sie  zulettt 
beschi>ftigt  waren  oder  sich  avifgehalten  haben. 

Personen,  welche  für  die  Dauer  e-irn  i  ^,'et;en  Lohn  oder  Gehalt  unternommenen 
Bevfhaf'itjun;^,  wnhreiid  d.-ren  «ic  nach  >}  3  Al»s  2.  4  Ab^  I  Jer  N'ers icherungs- 
;  H'.  hr  r  I  !n  ui<ttrl;e;:en,  l'reiwillip  siih  versiclieri»  (5;  14  .Mjs.  Ii,  steht  ;;c<^eii  den- 
|eiin;en  .\rlieit},'ebcr,  welcher,  wenn  die  V  crsicheruiigspliicht  Ite.stande.  nach  Jj  140 
tat  Entrichtung  der  Beitrüge  verpflichtet  sein  wurde,  der  Anspruch  auf  Erstattung 
der  Flälfte  der  für  die  Dauer  der  Arbeitszeit  entrichteten  Beträge  nach  Mafsgabe 
des  {$  144  Abs.  2  zu.  Die  Anrechnung  höherer  Betrüge,  als  stich  bei  Anwendung 
des  §  34  Abs.  i  bis  3  ergeben  würden,  kann  der  Arbeitgeber  ablehnen. 

^  146.  Unwirksame  Beiträge.)  I>!e  na<  btr.>gli.  he  Entrichtung  von  Britrigen 
für  eine  vrrsicheruti'.'siiflicdtii^e  Bescbnlti^unp  ist  nat  h  .\blnuf  von  zwei  Jahren,  so- 
fern aiier  ■iie  l!citra^--lei\[un^  weisen  vcrspi  teter  Kest'.tellun;;  einer  l'i'her  streitigen 
Versii  lu  ruMtjsj.tüi  h!  oder  aus  anderei)  Cirumlen  oline  VerM-hiilden  der  Beteili^^ten 
uulerbhti'cn  ist.  nach  .Ablauf  vuu  vier  Jahren  .seit  der  Faliigkcil  uiizui.i^>sig.  I  rci- 
willige  Beiträge  und  Beiträg«  einer  höheren  als  der  mnfsgebenden  Lohnklass«  34 
Abs.  4)  dttrfen  für  eine  langer  als  ein  Jahr  zurückliegende  Zeit  sowie  nach  einge* 
treteaer  Erwerbsunfähigkeit  (§§  15,  161  nachträglich  oder  für  die  fernere  Dauer  der 
Erwerbsunfähigkeit  nicht  entrichtet  werden. 


234 


§  147.   Die  in  eiaer  ordnuitgsmiftig  musgestellteii  Quittungskarte  ordnungs» 

niäfsig  verwcndet<n)  Marken  begründen  die  Vermutuiijj,  dafs  während  derjenigeo 
Zahl  von  Beitragswcn  heii.  für  welche  Marken  beipi  lirac  hl  sind,  ein  den  Vorschriften 
des  ficietres  critsi>rei  hendes  Vfrsich<Turi{^>:\ erhr-ltnis  auf  Cfnind  der  \'ersichenin{;s- 
pflicbt  oder  frciwil liger  Wr'-i'  h'Tun^  bt:>tatn!eii  li.it  r)ie«i<'  \''Tiiiutunfj  findet  ied«  .<  h 
insoweit  nicht  statt,  als  sich  crgieb!,  dafs  die  Marken  erst  nach  Ablauf  eines  Monates 
seit  der  FftUigkcit  der  Beitrage  eingekleln  oder  während  eine§  KaJeoderjahn  mehr 
Marken  beigebracht  sind,  all  in  dasselbe  Beitragswochen,  entfiülen. 

§  148.  (Einxiehung  der  Beitrige.)  Durch  die  Landes-Zentnllwhorde  oder 
mit  Genehmigung  derselben  durch  das  Statut  einer  Versicherungsanstalt  oder  mit 
Genehmigung  der  höheren  Verwallun^jsbehorde  durch  »italutarische  Bestimmung  eine* 
weiteren  KorntTiunalvcrbandes  oder  eim  r  f Gemeinde  kann,  abweichend  von  den  \'or- 
schriftcn  de-.  C;  14t  Al)s.  1,  angeordnet  werden,  dafs  die  Heitrage  für  alle  ver- 
sicherungspflichtigen Personen  oder  für  bestimmte  Klassen  derseU>en 

1.   durch   reichs-  oder  landesgesetzliche  Krankenka^en  oder  durch  Kitapp- 
schaftskassen, 

a.  durch  Gemeindebehörden  oder  andere  von  der  Laades-Zentralbehorde  be> 
zciehncte  Stellen  oder  durch  örtliche  von  der  Versicherungsanstalt  eintu- 
richtende  Hebestelten 
fär  Rechnung  der  Versicherungsanstalt  eingerogcn  werden.    Auf  demselben  Wege 
können  in  diesen  Fällen  Kestimmungen  über  die  Verpflichtnag  xnr  Anmeldung  und 
Abmeldung  der  Versicherten  getri  flen  werden. 

Sofern  hiernach  die  Kiniichung  der  Beitrage  durch  ortliche  llcltestcllcn  der 
Versicherungsanstalten  angeordnet  wird,  sind  die  letzteren  verpflichtet,  solche  Hebe* 
Stellen  auf  ihre  Kosten  an  den  von  der  höheren  Verwaltungsbehörde  bezeichneten 
Stellen  au  errichten. 

Die  Versicherungsanstalten  sind  verpflichtet,  den  mit  der  Eintiehung  der  Bei- 
trige beauftragten  Krankenkassen,  Gemeindebehörden  und  .sonstigen  von  der  Lander- 
Zentralbehörde  bezeichneten  Stellen  eine  von  der  Landes-Zentralbchorde  zu  be- 
stimmende Vergütung  ni  gcwnhren 

Den  ortlichen  liebcstellcn  der  Versicherungsanstalten  (Abs.  1  Zitier  2;  kann 
durch  Bestimmung  der  Landcs-Zcutralbehordc  oder  der  liöhcrcu  Verwaltuiigsbchorvie 
mit  Zustimmung  der  Krankenkasse  die  Einziehung  der  Kraakeikvefsidterttngsbeitrige 
übertragen  werden.  In  diesen  Füllen  sind  die  beteiligten  Kraakenkasaen  veri»flichtet, 
SU  den  Kosten  der  Hebestellen  beizutragen.  Die  nihercn  Bestimmungen  hierüber 
sind  nach  Anhörung  der  beteiligten  Versidierungsanstalten  und  Krankenkassen  voo 
der  höheren  ^'or^va!ta^lf;sbehorde  zu  treffen. 

Die  Lande,s  Zentralbehörde  kann  die  Befugnisse  regeln,  welche  der  Versiche- 
rungsanstalt ;,'egenuber  den  Eiü/ugs-slellen.  soweit  sie  nicht  v<.t!  der  \  ersichcruugs- 
anstalt  selb!<:t  eingerichtet  sind,  zur  Sicherung  einer  ordnungsmafitigen  I^rfUllung  ihrer 
Aufgabe  zustehen. 

Pur  die  freiwillige  Versicherung  (§  14)  kann  die  Einziehung  der  Beiträge  nicht 
vorgeschrieben  werden. 

§  149.   Die  Landcs-Zentralbehörden  oder  die  von  ihnen  als  zustSndig  be« 


InTaUdenTenichenmgsge»eU  voin  13.  Juli  1899. 


leicbaetea  Stelleo  können  nähere  Besdmnrangen  ftber  das  Verfahren  der  Ein«^ 
stellen      14S)  bd  Ebriehnng,  Venrendnng  and  Verrcdiniing  der  Beitrüge  erlassen. 

Soweit  diese  Bestimmnngen  nichts  Anderes  anordnen,  werden  die  Bcitii^e 
dnich  die  Einsngsstellon  zugleich  mit  den  Beitrügen  zur  Krankenversicherung  an 
deren  Fllligkeitstenninen,  bei  solchen  Versicherten  aber,  für  welche  Krankenver- 
sicherungsheitrSgc  nicht  einzuriehen  sind,  zu  den  von  der  Einzugsstelle  l)f-'imiiitrn 
Zeitpunkti-n  von  den  Arl)eitjjfhcrn  cirifjcrogpn  und  die  den  eingezn;:jet)ct)  Kctraijcii 
entsprechenden  Marken  in.  die  * Juittuogskarten  der  Vcrstchcrteu  eingeklebt.  Dabei 
findet  dit  Bestirnmug  des     131  Abs.  a  entspredionde  Anwcndaiq;. 

%  150.  Wird  die  Eiodehong  der  Beilrlge  angeordnet,  so  kann  von  der 
Landei-Zcntraibeliörde  oder  von  den»  Vorstände  der  Versicherungsanstalt  einseinen 
Arbeitgebem  gestattet  werden,  die  Beitrilge  der  von  ihnen  beschtitigten  Personen 
durch  Verwendung  von  Marlcco  nach  den  Vorschriften  der  §§  140,  141  selbst  ztt 
entrichten.    Vini  .solchen  N'erfugungen  ist  der  Ein/ug'.stclle  Kcnntni.«  ru  geben. 

Reichs-.  .Staats-  und  Kotnmunalbehorden  können  für  die  von  ihnen  It<-«chaf- 
tigtcQ  versicherungspflichtigen  l'crsonen  die  Entrichtung  der  liciträge  nach  den  Be- 
stimmungen des  §  140  übernehmen.  Sofern  dies  geschieht,  ist  der  Versicbcruugä- 
anstalt  and  der  ßnsngsstelle  Mitteilnng  zu  madien. 

§  151.  Wird  die  Einsiehong  der  Beitrige  angeordnet,  so  kann  anf  demselben 
Wege  weiter  bestimmt  werden»  dafs 

1.  die  Ausstellung  und  der  Umtausch  der  (Quittung »karten  (§§  134,  i3^>i 
durch  die  nach  §  14S  .\hs  1  mit  der  Eiosiehttng  der  Beiträge  beauf* 
tragten  Str-llen  statt/ufin<lcn  hat : 
t.  für  diejciiigi.T)  \'f rsiclu.TtiMi,  deren  Ik-SLliafti.;utij,'  «lurrh  <ii'.'  Natur  ihres 
Gcgenstaniie^  oder  im  voraus  durch  den  Arbeitsvertrag  auf  einen  Zeitraum 
von  wti.igL-[  als  einer  Woche  beschränkt  ist.  die  auf  die  Versicherten 
entfallende  Hilfte  der  Beitrige  unmittelbnr  von  den  Verskherten,  die  auf 
die  Arbeiter  entfallende  Ittlfte  aber  von  dem  weiteren  Kommanalverband 
oder  der  Gemeinde  entriclitiet  nnd  durch  sie  von  den  Arbei^ebem  wieder 
eingezogen  wird. 

Für  diese  Falle  hat  die  Versicherungsanstalt  den  mit  der  Einziehung  <Jcr  bei- 
träge  henuftraqteii  Krankenkas.sen,  Gemeindebehörden  und  sonstigen  von  der  Landes- 
Zentralbtlu^rdi-  ht/oichnetcn  Stellen  besondere  Vergütungen  zu  gewähren,  deren 
Hohe  von  der  Lande.n-Zentralbehorde  zu  bestimmen  ist. 

§  152.  Die  im  ^  148  Abs.  1,  ^  13t  Abth  I  ZUTer  i  vorgesehenen  Mafsregeln 
kAnnen  fHr  die  Mitglieder  einer  Krankenkasse  (§  166}  noch  durch  das  Kassenstatat 
nnd  Ar  diejenigen  Versiehctten,  welche  einer  flir  Reichs»  oder  Staatsbetriebe  er* 
richteten  Krankenkasse  angehören,  noch  doidi  die  den  Verwaltungen  dieser  Betriebe 
voigcsetste  Dienstbehörde  getroffen  werden. 

§  153.  Der  Versicherte  ist  l>crechtigt.  die  <^Hiittungskarte  bi  i  der  die  Heif  1  hii^c 
einziehenden  Stol!«-.  sol.uigr  er  in  dem  Bezirke  dieser  Ntelli-  vi'r-.ichert  ist.  /u  hinter- 
legen. Die  Landc^-Zcntruibchorde  kann  im  Einvernehmen  mit  der  Versicherung!»» 
aastalt  die  Verpflichtung  tur  Hinterlegung  vorschreiben.  In  diesem  Falle  findet  die 
Bestimmung  des     131  Abs.  2  Sau  a  Anwendung. 


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236 


Grsrtzf;«hun|; :  Dpiitiiches  Reich. 


|(  154.     Abrur    .üi^'J    Ergfbcn  sich  bei  den  zwischen  Arbeitfrelicrn  und  Ver- 

sirlirrtm  •-t:itf tiii<ir i,  kn  Altrechnungpn  Bruch;  frnni^e.  •<o  ist  Her  auf  <\<-n  Arheitjjebcr 
entianciK.t'ti  Feil  nach  ob'-n.  Her  auf  deo  Versicherten  eolfalleudc  Teil  a*ch  untea 
auf  volle  rfciinif;  ab/uriiii<i«Ti. 

15?.  'Mrt  itij;ki-itiMi.  I  Str«  irij^kcit»-n  /w  ischen  di-n  (.»rjijaiicn  der  Versithc- 
runysaiistalteii  eiticrseits»  und  Arbcitgeiierti  cnier  Arbeituehmeru  oder  den  im  §  14 
bezeichneten  Personen  andererseits,  oder  zwischen  Arbeitgebern  and  Arbrntoehmer» 
über  die  Frage,  ob  oder  zu  welcher  Versicherungsanttalt  oder  in  welcher  Lohn- 
klasse Beitriige  au  entrichten  sind,  werden,  sofern  sie  nicht  im  Rcntenfeststellnng»» 
▼erfahren  112  fl'.)  hervortreten,  von  der  für  den  Beschäftigungiort  ^§  65)  za* 
stnniliijt  11  uiiteren  \Vr\valtungsbch'>rdc  und  (?a,  wo  Rentenstellen  bestehen,  von  deoa 
Vm  si'.-rii  l^-ii  (i»-r>^i-lhcn  entschieden,  \'or  tU  r  ICnts«  !;t  idunj;  ist  in  der  Rei;el  der 
Wrsii  hfriiii;;<:in^i.Tl!  ( itdc^ctihfi'  /i;r  Ar,if>rrutifj  /u  jjcbi-ti.  (icj^t-n  die  Kntichrtdnnq^ 
«t<  ht  den  Bctcibgtffi  und  der  V«-Tsichcruii^;!ianstalt.  welche  sich  in  dein  \  erfahren 
geauf'^eit  hat,  innerhalb  eines  Monats  nach  der  Zustellung  die  Beschwerde  an  die 
höhere  Verwaltungsbehörde  zu,  welche  endgültig  entscheidet.  Die  zustündigen  Be> 
hnrden  <iad  bei  den  Entscheidungen  an  die  vom  Keichs^Versichemogsamt  aafge> 
stellten  GrandsSue  gebunden.  Streitigkeiten  über  Fragen  von  gmndsittlicher  Be- 
deutung sind  dem  Reichs-Versicherung»amte  zur  Entscheidung  zu  uberweisen,  wenn 
die^  iiiiirrVi:'' 'I  i!<-r  Beschwerd.-frist  vnti  der  \  <T>it iierungsati>Mlt  JH-untmfift  wird. 

!'.'--t'  lit  ^b•illnnJ^ev^•r^^  lucdeldlei^  ut'<  r  die  Kr.t!j;e ,  welche  Bell.. nie  mr  Ent- 
«1  h'-i,h;iij;  ;  i-tii;iiiijj  •-i-i.  so  wird  die  / u- tiirulij_"kcit  \'<h\  der  fi'jlieren  \'cr\va:tungs- 
l;el)')r.!c  •.ider  lier  I  audo-ZeiitraliM-horde.  S">fern  aber  mehrere  Uuiulc^staaten  in  Be- 
tracht koiuiiien  lui^  eine  Eini^'ung  ihrer  Zentralbchorden  nicht  staittiudet,  vom 
Reichskanzler  bestimmt. 

§  156.  .Streitigkeiten  zwischen  den  Organen  ver<M:liiedener  Versicherung»- 
anstalten  über  die  Frage,  zu  welcher  derselben  für  bestimmte  Personen  Beiträge  «a 
entrichten  sind,  werden  auf  Antrag  des  Vorstandes  einer  beteiligten  Versicherangs« 
anmalt  vom  Reichs-Versicheningsamt  entschieden. 

$  157.  Im  übrigen  werden  Streitigkeiten  swischen  Arbeitgebern  und  Arbeit« 
nchmern  über  die  Berechnung  und  Anrechnung  der  für  diese  zu  entrichtenden  oder 
im  Falle  des  §  140  Abs.  2  und  der  I44,  145  denselben  zu  erstattenden  Bei» 
trage  sowie  Streitigkeiten  Uber  Ersatzansprüche  in  den  1 'allen  dc>       140  Abs.  a 

v(.n  der  unteren  \'erwalt\ini;s1«ehi>rde  inul  da,  wo  Rentenstellen  bestehen,  von  dcQ 

Vorsit.'iii'irn  lii-r'-flberi  ^   le^i  eii(i^ult i^'  ciiisclueden, 

«j  i;S.  Xacti  i-ndi^ultij^'er  ICrlcdij^'unj^  dieser  .Strelu^^kfilen  hat  liie  untere  Ver- 
w.ihutj^sl  elitirde  und  da,  wn  Kenten-tellen  lie^telu  ti,  ''.er  \'<>rsiljeniie  dcrselUen  von 
Auu.swigeti  dafür  zu  sorytn,  dafs  zu  wenig  crhubene  Betrage  durch  nachträgliche 
Verwendung  von  Marken  betgebracht  werden  Zu  viel  erhobene  Beträge  sind  auf 
Antrag  von  der  Versicherungsanstalt  wieder  einzuziehen  und  nach  Vernichtung  der 
in  die  Quittungskarten  eingeklebten  betreflenden  Marken  und  Berichtigung  der  Anf* 
rechnut.L;en  an  dieieniy;en  Arbeitgeber  und  Versilberten  zurückzuzahlen.  Welche  die 
Aufwendung  für  die  ßeitragsentrichtung  gemacht  haben. 


Iavalidenversicberungägei«t2  vom  ij.  Juli  1)^99. 


Handelt  es  sich  um  die  Verweadung  von  Marken  einer  nidit  susUndigcn  Ver> 
sSehemoKMUistolt,  so  ist  nach  Vernichtung  derjenigen  Marken,  welche  irrttmlich  bei» 
gabfadkt  sind,  ein  der  Zahl  der  Beitngswochen  entsprechender  Betrag  von  Marken 

drr  zuständigen  Vcrsichcrungsaastalt  bcuubringfii.  Der  Betrag  der  verniiihtotcn 
Marken  ist  von  der  Vfrsicbcruti^^aixtalt.  wclcli»-  sie  ausgestellt  halte,  wieder  ein- 
zu/ichtM)  und  zwischen  deu  beteiligten  Arbeitgebern  und  Versicherten  entsprechend 
zu  teilen. 

An  die  Stelle  der  Vernichtung  von  Marken  kann  in  den  nach  Ansicht  der 
unteren  Verwaltungsbehörde  data  geeigneten  Fällen  die  Eiuttehung  der  Quittungs* 
Itarten  und  nach  Uebertragung  der  gültigen  Eintragungen  derselben  die  Ausstellung 
neuer  Quittangskarten  treten. 

{}  159»  Die  Kosten  des  Verfinhrens  bei  Streitigkeiten  der  in  den  §§  155 
bis  158  bexeiehneten  Art  trägt,  soweit  sie  bei  dem  Reichs  •Versicherungsamt  ent- 
stehen, das  Reich,  soweit  sie  bei  einer  Reutenstelte  entstehen,  die,  Versicherungs« 
anstalt.  im  übrigen  der  Bundesstaat. 

Die  Bestimmung  des  §  64  Abs.  5  ßndet  entsprccliende  Anwendung. 

§  160.  Auch  ohne  dafs  ein  Streitfall  gemifs  153,  156  vorau.sgrgan^eu 
ist.  sind  deti  Beteiligten  auf  ihren  .Antrag  die  entrichteten  Bt-iträge  niruckzu/uhlen, 
sofern  die  Wrsiclierungspflicht  <><ler  d:.<  Recht  lar  freiwilii^cik  X'crsichcrung  I4) 

für  dio  l>i-lrt  iti'iidci)  liritragswoclien  endgültig  vorneint  wordei,  ist. 

101.  .Konlndle.  I  Die  \  ersirlierung>aTij;Uil!'-n  >iTid  vcr]>tiichtct.  die  recht- 
zeitige und  vollständige  Kntriclitung  der  Beitr.Tgc  regeinialsig  üherwaidu-n. 

Die  Arbeitgeber  sind  vcrplliclitel,  über  die  Zahl  der  vuu  ihnen  beschafligleu 
Personen,  Uber  die  gezahlten  Löhne  und  Geh&Uer  und  dber^die  Dauer  der  Be- 
schäftigung den  Organen  der  Versicherungsanstalt  und  ihren  Beauftragten  sowie  den 
die  Kontrolle  ausflbeaden  anderen  Behörden  oder  Beamten  auf  Verlangen  Auskunft 
zu  erteilen  und  denselben  diejenigen  GeschiiftsbUcher  oder  Listen,  aus  welchen  jene 
Thatsachen  hervorgehen,  /ur  Einsicht  wShrend  der  Betriebszeit  an  ^^n  und  Stelle 
vorzulegen.  Ebenso  sind  die  Wrsii  Herten  zur  Erteilung  von  Au>kunft  Ul)er  •  >rt  und 
Dauer  ihrer  Hcsch.Htti^iinj;  %  r;t*'irluct  Arbeitgeber  und    Iii-  \'<m sicherten  Miid 

ferner  verbunden,  den  bezeichne  ten  Organen,  Behörden  und  iSi-anitcn  auf  Erfordern 
die  Quittungskarten  behufs  Ausübung  der  Kontrolle  und  Herbeiführung  der  etwa 
erforderlichen  Berichtigungen  gegen  Bescheinigung  aussuhindigen.  Sie  können  hierzu 
von  der  Ortspoliseibehörde  durch  Geldstrafen  bb  snm  Betrage  von  je  einhundert- 
undfAnfsig  Mark  angehalten  werden. 

Die  Venichenngsanstalten  sind  befugt,  mit  Genehmigung  des  Reichs -Ver- 
sicherungsamts  zum  Zwecke  der  Kontrolle  Vurschriften  zu  erlaiisen.  Das  kcicli-s- 
Versicherungsatnt  kann  den  Erlafs  solcher  Vorschriften  anordnen  und  liieselben, 
sofern  die  Anordnung  nicht  befolgt  wird,  <ielbst  erlassen.  r)er  Vorstand  der  Ver- 
bichcrungsan.stalt  oder  der  Vorsitzende  der  Renten&telle,  solern  dieser  die  Bciiragi- 
kontrolle  obliegt,  ist  befugt,  Arbeitgeber  und  Veni^rtc  aar  rechtieltigen  BrfltUnng 
dieser  Vorsdiriften  durch  Geldstrafen  bis  zum  Betrag«  von  je  einhundertandfAafsig 
Mark  ansnhaltea. 


238  Gesetzgebung:  Deutschn  Reich. 

i'>2  Die  duri  (1  i]\<-  Kontrolle  iJcn  V  ersicherungsanstalten  erwachsenden 
Ki>>-t«-ti  grhuroii  7u  :i  \'er  .v  al[i:iig*>kosien.  So-.vcit  dir5rlbcn  in  baren  Aaslagen 
li<>trhrn,  kutincn  >ic  iijrcli  den  \  (jr^futul  drr  Vrrsi<;}ifrutii;saii^talt  oder  den  Vor- 
sitzenden drr  kciitiMistt  lle,  sofern  dieser  die  ilcitragskuntruUe  obliegt,  dem  Arbeit- 
geber «ufcrl'-^t  werden,  wenn  deraelb«  dnrch  NichterfHUung  der  ihm  obliegenden 
Verpflichtungen  zu  ihrer  Aufwrendnag  Ankfs  gegeben  bat.  Gegen  die  Anferlcgiag 
der  Kosten  findet  binnen  zwei  Wochen  nach  Zustellung  des  Beschlusses  die  Be- 
schwerde an  die  höhere  Verwaltungsbehörde  statt;  diese  entscheidet  endgültig.  Die 
Ret;reil>uii^  der  auferlegten  Knuten  erfolgt  in  derselben  Weise  wie  die  der  Ge> 
roeiti'K-.i^L^.ilii-n. 

10  >.  Herirhtipunj^rn  der  Quittuii^^kartt  11  erlUl^en,  si»t'crn  die  Beteiligten 
lihr-r  dies<-r'ien  f invrr>t:\r)'len  sind,  auf  <letn  im  >;  1  atif,'<-'^.-!ifiien  Wf^e  durch  liie 
ilie  Kontrolle  ausu  JLiiden  <  )rijaue.  Behörden  oder  r.ean»t>  ti  oder  durch  die  die  Bei- 
träge einziehenden  Organe,  anderenfalls  nach  Erle  ligun^  des  Streitverfnhiens  gemäfs 
S§  155  bis  157. 

j$  164.  ^Vermögensverwaltung.)  Die  Bestände  der  Versicherungsanstalten  mässen 
in  der  durch  §§  1807.  iSoS  des  Bürgerlichen  Gesetzbuchs  bezcidmeten  Weise  an« 
gelegt  werden.    Hat  die  Versicherungsanstalt  ihren  Sitz  in  einem  Bundesstaate,  f&r 

dessen  Geliiet  Wertpa;  iere  diireli  landesge«elzliche  N  of-i  hrift  tut  Anlcfjung  von 
Mundil^'cldtTi»  far  geeiLjiiet  erkl;'r;  '■itul  Art.  212  des  Kuduhrungsjjeset/es  /.um 
Hilrj^erlicht  ti  (M  >-et(liuc!r,  >o  können  ilire  Ke^t. ndc  auch  in  \Vert}'a]>ieren  dieser  Art 
aiii^elegt  werden.  Die  Lundes-Zentralbchurdc  desjenigen  Bundesstaats,  in  dessen 
Gebiet  die  Versichentngsanstalt  ihren  Silz  hat»  kann  genehmigen,  dafs  die  Bestinde 
der  Versicherungsanstalt  auch  in  Darlehen  an  GeoMinden  und  weitere  Kommunal^ 
verbünde  angelegt  werden.  Es  kann  femer  in  gleicher  Weise  angeordnet  weiden* 
dafs  bei  der  Anlegung  des  Aastaltsvermi^ens  einzelne  nach  den  vorstehenden  Be> 
Stimmungen  ni^rlassene  Gattungen  zinstragender  Papiere  nur  bis  zu  einem  näher  zu 
hrstirnmenden  Hetrag  erworben  «•erden  dürfen  und  Hestimniunpen  ul'er  die  Auf- 
h-ivahnirig  von  W  ertpapiei  en  getrotTen  werden.  Bei  gemeinsamen  \  ersicherungs- 
anstalten   bedarf  es  hierzu  de.->  Einvensländnisses  der  lietciligten  Landesregierungen. 

In  gleicher  Weise  kann  ferner  widerruflich  gestattet  werden,  dafs  zeitweilig 
verfügbare  bare  Bestünde  anch  in  anderer  als  der  durch  §S  1807  «nd  180S  des 
Bürgerlichen  Gesetzbuchs  bezeichneten  Weise  vorObergehend  angelegt  werden. 

Die  Versicherangsanstalten  können  mit  Genehmigung  der  Anbichtsbehörde 
einen  Teil  ihres  Vermögens  in  anderer  als  der  nach  Abs.  I  zulissigen  Weise,  ins- 
b«':>ondcre  in  Grundstücken,  anlegen.  Wollen  die  Versicherungsanstalten  mehr  als 
den  vierten  lei!  ihres  Vermögens  in  dieser  Weise  anlegen,  so  bedürfen  .sie  d:uu 
aufserdcm  der  tienelunij^uiig  des  Kommunalverbiindc-  bi-,  irluiii^'s weise  der  /.etur.il- 
behörde  des  Bundei>$taats,  für  welchen  sie  errii  hiet  sind,  und  suferu  mehrere  Landes- 
Zentralbehörden  beteiligt  sind,  eine  Verständigung  unter  denselben  aber  nkht  cnielt 
wird,  der  Genehmigung  des  Bundesrats.  Eine  solche  Anlage  ist  jedodi  nur  ia 
Wertpapieren  oder  für  die  Zwecke  der  Verwaltung,  zur  Vermeidung  von  VetmAgeBS* 
Verlusten  für  die  Versicherungsanstalt  oder  fär  solche  Veransultiugen  mlimig, 
welche  ausscfaliefslich  oder  überwiegend  der  versicherungspflichtigen  Bevölkerang 


Invalidenver$icberuiigsgc!>etz  von)  13.  Juli  1899. 


239 


xugate  komneo.  Mehr  die  IfiUfte  ihres  VermögeiM  darf  jedoch  etne  Ver» 
sicheriHitmiMalt  n  der  beicidiaeteik  Weite  nicht  anlegen. 

§  165.    Die  Versicherungsanstalten  sind  verpflichtet,  dem  Reicha-Versicherongs- 

amte  nach  näherer  Anweisung  dcs?eH>cn  und  in  den  von  ihm  vorzuschreibenden 
Fristen  l  ehersichten  über  ihre  (icschäfts-  und  Kcchnungscrgcbiiisse  cin/areichen. 

Die  Art  und  Form  der  Kcchnuugslührung  bei  den  Venicberungsajistaltcn  wird 
durch  das  Reichs -Versicherungsamt  geregelt. 

Das  Rcchttungfjahr  ist  daa  Kalenderjahr. 

IV.  Schlara-,  Straf-  und  Uebergangabestimmmigen. 

§  166.  (KrankcakatscB.)  Als  KiaakenlMasen  in»  Sinne  dieses  Gesetaes  gellen 
vorbehaltlich  der  Bcstimnang  in  den  §§  ao,  62  Abs.  i,  §  Sa  Abs.  a  die  Orts*. 
Betriebs»  (Fabrik»),  Raa*  und  Innangs^Krankenkassen,  die  Knnjkpschaftskasien  sowie 

die  Gemcinde>KrankenversIcherung  and  landcsrcchtliche  Einrichtungeu  ähnlicher  Art. 

§  167.  (Besondere  Bestimmungen  für  .Seeleute.)  .Seeleute  I  Abs.  I  Ziffer  I 
des  Cle«ctzes  vom  13.  Juli  18S7,  Rrirhs-r'.r-vctzbl.  S.  320  üind  bei  derjenigen  Ver- 
sicherungsanstalt zu  versichern,  in  deren  Bezirk  sich  der  IleimatAhafen  des  Schiffes 
befindet. 

Die  fttr  Seeleute  an  enliiditenden  Beitr.igc  dArfen  nach  niherer  Bestimmung 
der  Venrichentngsanslalten  nach  dem  flUr  die  Unfttlverstchemng  der  Seeleute  ab- 
geschütsten  Bedarf  an  Besataun^mannschaften  der  einsclnen  Schiffe  von  den  Rhedem 
entrichtet  werden.  Uebcr  das  Verfidiren  bei  Entrichtung  der  Beitrige  können  durch 
den  Bnndesmt  von  den  Vorsdiriften  dieses  Gesetzes  abweicheode^Bestiamnngen  ge» 
troflen  werden. 

Für  Srcleute,  welche  sich  auiserhalb  Europas  aufhalten,  betr.ngt  die  Frist  zur 
Einlcgung  von  Rechtsmitteln  drei  Monate.  Die  Frist  kann  von  derjenigen  ISehurde 
gegen  deren  Bescheid  da.s  Rechtsmittel  stattfindet,  weiter  erstreckt  werden. 

Die  Obliegenheiten  der  unteren  VerwaltangabehArde  können ,  soweit  es  sich 
um  Seeleute  handelt,  durch  den  Bundesrat  den  SeenMaaatmtem  flbertngcB  werden. 

§  168.  (Beitreibung.)  RAckstlade  sowie  die  in  die  Kasse  der  Versicherangs« 
anstalt  flicfsenden  Strafen  werden  in  derselben  Weise  bejgetrleben  wie  Gemeinde* 
abgaben.   Rfickstlnde  haben  das  Vorsngsrecbt  des  g  61  Ziffer  t  der  Kookursordonng 

in  der  Fassung  der  Bekanntmachung  vom  20.  Mai  1898  (Reichs-Gesetsbl.  S.  369) 

und  verjähren  binnen  zwei  Jahren  nach  der  Fälligkeit. 

i{  l'>9.  (Zuständige  Landcsbehordcn.)  Die  Zentralbehörden  der  Hundcsstaaten 
bestimmen,  welche  Vcrfmnde  .1I?  weitere  Kommunalverbande  an7uscben ,  und  von 
welchen  Staats-  «nier  ( jcrneindebeliorden  beziehungsweise  Vertretungen  tlic  iu  diesem 
Gesetz  den  MaiUs-  und  üemcindeorgaueu  sowie  den  Vcrlretongen  der  w^eitercn  Kom- 
niuaalv«rb9iiidc  zugewiesenen  Verrichtungen  wahrsnnehmen  sind. 

Die  von  den  Zentfalbehörden  der  Bundesstaaten  ia  GemlUsheit  vorstehender 
Vorschrift  erlassenen  Bestimromgcn  sind  durch  den  „RetchvAnseiger"  bekannt  wa 
machen. 


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240 


Gcs^tif^cijung     L>eut»chi*3  Reich. 


^  170.   (ZiutfUmiRen.)   Zu.st<;llangen.  w«lcbe  den  l<aaf  von  Fri$ti*ti  bedingen, 

konrn'ii  liur.  Ii  di  -  r<wi  ii,it!'  l«  cingwchri'-li.  n-'n  F?ri«*t>s  rrfolg«*!!,  Po*tcinli«rfrnillg»» 
$ch<  iiu-  h  %;ruiiilfii  i)a<  Ii  Al'l.iuf  \nn  /.wei  Jalir-  n  -••it  ilir-T  Ausst<-Uunj;  die  Vrr- 
ntutiitit.;  tiir  die  in  der  ordnun(;»mälsigrn  Friät  nach  der  Linlieferung  erfolg«»  /u- 

slclluii;.; 

iVr-uneii,  wclclu-  iiu  hl  im  Inl.in<if  wohin-n.  l%>iniien  \on  d-  ii  zu>t«rIl<;nii<"U  lic- 
hdrden  aufgefordert  werden,  einen  /u>tel]unK«bev(>llin£chti^m  zu  bestellen.  Wird 
«in  solcher  innerhalb  der  gehetzten  Frist  nicht  bestellt,  so  kann  die  Zu-aellung  durch 
ölTentlichen  Aushang  während  einer  Woche  im  den  Geschäftsräumen  der  zustellenden 
Behörde  oder  der  Organe  der  Versichening»anstahen  ersetzt  werden.  Das  Gleich« 
gilt,  wenn  der  Aufenthalt  des  Empfingers  unbekannt  ist.  . 

$  171.  f Gebühren*  und  Stempelf reihrit.«  Alle  zur  Begründung  und  Abwicke- 
lung «liT  K«N  llt^\ iTli:iltni>N<^  zwischen  den  Versicliprun^saiistaltm  '■in'T-*'it-  und  den 
Arl'<"it;^<"l)t  rn  oiicr  \'iT>ii  hortfii  aiHl.-rer^>'it>  •■rtoni--rlh  lii-n  -i  hi'  'l>;:>Tirlnli.  h.-n  uiui 
aub<T;,'crichlli>-li<-i\  V.Tliau'iliitiL'cn  \Ui>\  l  rkuiiiirii  ^in<i  ^■•u-.ilit-'n-  uti'l  -t-inj><-Itr<-i. 
l)a^^.•ll)l•  ^ili  lur  ^>riv.lt^«  lu  ittlii-hr  Volhii.*«.  Iilcii  und  auitln  h»-  H<->,  h<  in;^uiii;.-ii,  wi-lclie 
mt  GruuJ  dieses  Ijcsclz.-s  zur  Legitimation  oder  zur  Fiihiung  von  Nachweisen  er- 
forderlich werden. 

§  172.  (kechtshiire. I  Die  oftViitlichcn  Behörden  sind  veq>flicht'-i .  (l<-n  im 
Vollzüge  dieses  (»esetzes  an  sie  ergehenden  Ersuchen  des  Reichs-Versichemngsamts. 
der  Landes* Versicherungsfimter,  der  Schiedsgerichte,  der  Organe  der  Venticherungs* 
anstalten  und  anderer  »tfentlicher  Behiirden  zu  entsprechen  und  den  Organen  der 

Versicherungsiinstalten  auch  unaufgefordert  alle  Mittoilun;!fn  zukommen  zu  la^Mii, 

wt-lche  für  lU-ron  C'  i  h  ift-ln-trieb  von  Wichtigkeit  «.ind.  Die  gl<  ii  Ii--  V.  rj.i'i  -htanj; 
lic;;t  »Ion  <  »r^^-iii  dt-r  \'<  rsii  h'Tiiii;:>.iii>!.ili' ti  untereinander  sowie  den  Organen  der 
Beru(>g<'nii-M-n-c!i;itt>'n  und  di-r  Krank"'nl<.i>-''n  ni' 

duri  li  dii-  Krliillunt;  di<--.'  r  N  '  rjii'ii  htun;:' li  fut^ti  ii-Midt-n  K>>>!imi  ■•ind  v.in 
den  Vcrsichrrungsanstalicn  als  oigctu  \  •■rwaltungiki)Nt'-n  insoweit  zu  erstatten,  als 
sie  in  Tag<.-goldem  und  Reisekosten  sowie  in  Gebühren  fOr  Zeugen  und  Sachver* 
ständige  oder  in  sonstigen  baren  Auslagen  bestehen. 

173.  (Besondere  Kasseneinrichtungen.  1  Die  Bestimmungen  der  ^  tS  bis 
23.  33«  47  bi«  52,  S4*  55<  99«  100  Im*  102.  113.  115  bis  119,  123  bis  127,  128 
Abs.  3,  6,  §§  156,  165  Abs.  I,  171,  172  finden  auch  auf  die  nach  8.  10.  11 
zugelassenen  Kasseneinricbtnngen  entsprechende  Anwendung. 

Die  Haftung  fllr  di>-  di  r  Ka^eneinrichtun;^  oMi-  gendcn  I,>'istun:^.-n  öS,  127) 
liegt,  s<)r<rn  di«-  K;i<sen<-inrichtung  liir  H'-trifhi-  do  K'"ich>  od-T  oini>  KontmunaJ* 
verbaudf>  frricht--t  d«-m  Rficli  od<-r  di-m  Konununalv.-rlKiii  i.   in.   ührig.ni  d'^m- 

jenigrn  Hundi  s^tuat  (>l> .  in  dem  der  lii-tri'-b .  (nr  w-drh-  n  lic  K.»!.-..'n'Mnrichtuiig 
errichtet  ist,  seinen  .NU/.  h.u.  Ist  die  Ka»seneinnchtung  tür  mehrere,  in  ver- 
schiedenen Bundesstaaten  belegene  Betriebe  errichtet,  so  haften  diese  Bundes* 
Staaten  nach  der  Zahl  der  bei  der  Kasseneinrichtung  versicherten  Personen,  welche 
in  den  beteiligten  Betrieben  am  Schlufs  des  letzten  Rechnungsjahres  beschilUgt 
waren.   Diese  Bestimmung  findet  in  den  Fällen  des  §  67  entsprechende  Anwendung. 


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biTOlidcnvcrsichcnmgsgcsctz  vom  13.  Juli  1S99. 


34t 


g  174.  Für  die  F«s(stelliiiig  der  von  den  Kasscaeinriclitaiigcn  dem  Gcndi^ 
Tcnnögen  mch  dem  biknfttretcii  des  Getötet  mfliefsrnden  Beitimgieimuhmeo  sowie 

für  die  Vt  rtoilung  der  Altersrenten  sind  die  nach  §  32  Abs.  5  zur  Erheboif 
kommenden  Beiträge  maf^gflx'nd.  Finc  Wrf'ihm;:  iIt  von  Kassencinrichtungen 
festgestellten  Renten  erfolgt  nur  dann  und  lusowint,  ein  Anspruch  aut  dieselben 
auch  nach  den  \'orschrilten  dieses  Gesetzes  bestehen  würde  und  soweit  die&elben 
das  Mals  des  rcicbsgcsctxlicben  Anspruch!»  nicht  Ubersteigen. 

Soweit  diese  Kasseneinricbtunge'n  die  von  ihnen  feitgeseMen  Renten  ohne  Ver- 
mittelong  der  Postnnstnlten  selbst  auaasahlen,  wird  ilmen  der  ReiclwmsclMiGi  «m 
Schlosse  eines  jeden  Reciumngsjalu'es  diidrt  Überwiesen. 

§  175.  (Strafbestirammgen.)  Arbeitgeber,  welche  in  die  von  ihnen  «nf  Grand 
gesetxlicher  oder  von  der  Venidiemngsanstdt  erlassener  Bestimmnig  mt&oatdlenden 
Nachweisungen  oder  Anzeigen  Eintragungen  aufnehmen,   deren  Unrichtigkeit  sie 

kannten  oder  dm  Umständen  nach  annehmen  mufston,  können  von  der  unteren  Vcr- 
waUunf^sJichorde  und  da,  wo  Rentenstell«-n  bestehen,  von  dem  Vorsitzenden  dcr- 
s.  il'i-n  mit  Geldstrafe  bis  zu  einhundertundtimzig  Mark,  von  dem  Vorstande  der  Ver- 
sicherungsanstalt mit  Geldstraff  bis  zu  fünfhundert  Mark  belegt  werden. 

§  176.  Arbeitgeber,  welche  es  unterlassen,  für  die  von  ihnen  beschäftigten, 
dem  Versichenmgszwang  unterliegenden  Permiett  Ibfken  in  mreidiender  HjShe  und 
in  voncbriftsmfifsiger  BeschalTenheit  rechtieitig  141)  zu  verwenden  oder  di« 
VersicherangsbeitfSge  rechtseitig  absofllhren  (|§  148,  149),  können  von  dem  Vor> 
Stande  der  Versicherongsanstalt  und  da,  wo  die  BcitragdcontroUe  Rentenstellen  Uber* 
tragen  ist,  von  dem  Vorsitzenden  derselben  mit  Geldstrafe  bclcj^t  werden,  und  rwar 
von  dem  Vorstaiulr  bis  zu  dreihundert  Mark,  von  dem  \  orsitzt-ndi-n  der  Renten- 
steile  bis  zu  «  inhundcrlundfünfzig  Mark.  Kinc  liestrafung  findet  nirlit  >tatt,  wenn 
die  rechtzeitige  Verwendung  der  Marken  von  einem  anderen  Arbeitgeber  txler  Be- 
triebsleiter (§  177)  oder  im  Falle  des  |;  144  von  dem  Versicherten  bewirkt  worden  ist. 

Die  vorstdienden  Bestimmungen  finden  anf  Arbeitgeber,  wekhe  die  ihnen  ge* 
mftfs  §  4  Abs.  a  obliegenden  Verpflichtungen  nicht  erf&llen,  entsprediende  An> 
wendong. 

Bestreitet  der  Arbeitgeber  seine  BeitragsptUcht,  so  ist  diese  anf  dem  im  S  155 
bcMichneten  Wege  festioatellcn. 

§  177.    Der  Arbeitgeber  ist  befugt,  die  Aufstellung  tler  nach  gesetslicher  oder 

statutarischer  Vorschrift  erforderlichen  Nacliwei^ungen  oder  Anzeigen  sowie  die  Ver» 
Wendung  von  Marken  anf  b-M'ün.iu  hf i^tr  I..  it-  r  seines  Betriebes  zu  übertragen. 

Name  und  Wohnort  %oii  -olclien  bevollmächtigten  I'.etriebsleiiern  sind  dem  Vor- 
stande der  Versicherungsanstalt  und  da,  wo  die  licitragskontroUe  Kentenstelleu  Uber- 
tragen ist,  dem  Vorsitienden  dersdben  sowie  beim  Einzngsverfahren  der  Einsngmtdle 
mitxoteilen.  Begeht  ein  derartiger  BevoUmichtigter  enie  in  den  §§  175,  176,  179 
mit  Strafe  bedrohte  Handlung,  so  finden  auf  ihn  die  dort  vorgesehenen  Strafen  An* 
Wendung. 

f  178.  Gegen  StrafTestsetiungen,  die  auf  Grund  dieses  Gesctaes  oder  der  an 
drsnen  Ausführung  ergangenen  Anordnungen  oder  anf  Grund  der  Statuten  von  den 
Archiv  für  toi.  Gc«ettgebtmf  u.  Suiivtik.  XV.  |6 


242 


Gesetigcbunj;:  Dcnlidics  Reich. 


Organen  der  VcnichcniiigBanstaltm  oder  dm  Schicdst^crichts-Vonütieiiden  gctroflea 
sind,  findet  dir  li.  -  ]iw<  rtlr  statt.  Ueber  dirselbc  enlscli<itlft,  wrnn  dir  Straff<-st- 
^etrunj;  auf  Grutul  «Ks  {}  176  <«kr  wt-nn  ••!<■  in  anderen  hallen  von  drni  VorNitzcndrn 
«Icr  kentenstelle  o*l<-r  von  dem  \'or-it/.  iHien  des  S*hi<-dsj^crichts  jjetroffen  war,  die 
liohcre  Verwaltunji-belmnie,  in  d«  i<  u  /.irk  sich  tier  Sit/,  der  \  <  rsu  herun^jsanstait, 
der  kcutcustcllc  oder  des  Schiethgerichtis  beiludet,  im  Übrigen  das  Reichs- Versiehe* 
rangsamt.  Die  Beschwerde  ist  binnen  swei  Wochen  nach  der  Zustellnng  der  Stnf« 
Verfügung  bei  der  zur  Entscheidung  tustindigen  Stelle  eianilegen;  deren  Ent- 
tcheidung  iat  endgültig. 

Die  von  den  vorbezeichneten  Stellen  sowie  too  den  Ver»'altun^sbebörden  aof 
Grund  dieses  Gesetzes  festjjcsetztcn  Strafen  lln  Ken.  «»oweit  nicht  in  diesem  Gesetz 
abweichende  Bestimmungen  (;etrotTcn  sind,  in  die  Kasse  der  Versichcningsanstalt. 

§  179.  Wer  der  ihm  nach  5;  14S  obliegenden  Verpflichtung  zur  An-  und 
Abmeldung  niclit  n.u  hkomnit ,  wird  mit  deMstr.ife  bis  /u  zwanzig  Mark  hestr;»lt. 
yiatti-  (Ii'-  Meldung  litr  eine  Kratikenkas!>e  zu  eriol^cn,  su  lUclsen  dieser  die  Geld- 
ktrak-n  zu. 

iSo.  Den  .Vrlxitgrbti n  i,:i>l  ihr<-n  .\ng'•^l<•llt■■n  i-t  utit'T-.i^-t,  «lurrh  l'eb'-r- 
cmkunft  oder  mittels  Arbeilsoninuugcn  die  Anwenduiij;  der  Besiniimungen  die»c> 
Gesettes  zum  Nachtelle  der  Versicherten  ganz  oder  teilweise  anszuschliefaes  oder 
dieselben  in  der  Uebemahme  oder  Ansäbmig  einet  in  Gemtfsbeit  dieses  Gesetzes 
ihnen  flbertragenen  Ehrenamts  zn  beschrSnkcn.  Vertngsbestimmiingcn,  welche  diesetn 
Verbote  zuwiderlaufen,  haben  keine  rechtliche  Wirkung. 

Arbeitgeber  oder  deren  An.-.-.t.  llt--  welche  gegen  die  vorstehende  Bestimmung 
verstofsen,  werd-^n,  sofern  nieht  n.iih  anileren  geKctzliehrn  Vors.hriften  eine  härtere 
btrale  eintritt,  mit  G<  Id^trate  bi»  zu  dreihundert  Mark  o<ler  mit  Matt  bestralt. 

§  181 .  Die  gleiche  Stiufc  (§  lSo\  trifft,  sofcru  nicht  nach  anderen  Gesetzen  eine 
höhere  Strate  verwirkt  ist, 

1.  Albeitgeber.  Weh  lie  lien  von  ihnen  beM  liältigteii,  dem  Versjcherungszwang 
unterliegenden  rersoiien  an  lU-itr.^gen  in  rechtswiilriger  .\bsicht  mehr 
der  Lohnzahlung  in  Anrechnung  bringen,  als  nach  §  34  Abs.  4.  ^  142 
zul&eig  ist,  oder  welche  es  unterlassen,  entgegen  der  Vorschrift  des  §  143 
Abs.  4  die  dort  gebotenen  Lohnabzüge  zu  machen,  oder  den  bei  Anwen- 
dung des  §  52  a  des  Krankenvenichcntngsgesetzes  auf  die  Beiträge  zur 
Im'alidcnversicherung  sich  ergebenden  Verpflichtungen  nachzukommen; 

2.  Angestellte,  welche  einen  solchen  gröf^ren  Abzug  in  rechtswidriger  Ab- 
sicht bevx  irkrn  ; 

3-  Versicherte,  wel<  hi-  die  Heitriige  si-U)st  eiUru  hten.  wenn  sie  dabei  von 
dem  Arbeitgeber  in  reclitswidriger  Absicht  mehr  erstattet  verlangen,  als 
nach  ^§  34  Abs.  4,  144,  145  zulässig  ist,  oder  wenn  sie  ftir  die 
gleiche  Beitragswoche  die  Erstattung  des  vollen  Beitragsanteils  Ton  mehr 
als  einem  Arbeitgeber  in  Anspruch  nehmen  oder  es  unterlassen,  den  Ton^ 
Arbeitgeber  erhobenen  Beitrsgsanteil  zur  Entrichtung  des  Beitrags  zu  ver- 
wenden; 


IiiTalidcnvcr»icberun£sgesetx  vom  IJ.  Jnli  1^99.  243 

4.  Personen,  welche  dem  BcreclitigteB  dne  Qnittuigsliarte  «Mcmdidicli  vor- 
enthalten. 

§  182.  ArbeHfeber,  welche  den  von  ihnen  bescUUUgtcn  Penoocn  anf  Gnmd 
des  ^143  LohnbebAc«  in  Abcog  bringen,  die  «beesofencn  Betfige  aber  nicht  ni 
Zwecken  der  Versichenmg  Terwenden,  weiden,  falls  nicht  nach  anderen  Gesetzen 
eine  höhere  Strafe  verwirkt  ist,  mit  Geldstrafe  ins  zu  dreihundert  Mark  oder  ndt 
Haft  bestraft. 

Wunir  die  Verwendung^  in  (Jrr  Absiclit  unterlassen,  sich  oder  einem  Dritten 
einen  rcchtswi<lrigcn  Vermugensvorteil  zu  verscliaffcn  o<ier  die  Vrrsicbemngsanstalt 
oder  die  Versicherten  zu  sdiidigen,  üo  tritt  Geiangnisstrafe  ein,  neben  welcher  aof 
Geldstrafe  b»  an  dreitausend  Mark,  sowie  anf  Verbist  der  bttiferUchen  Ebrenredite 
erkannt  werden  kann.  Sind  müdemde  Umstinde  vorhanden,  so  darf  ansseblielslich 
anf  Geldstrafe  erkannt  werden. 

§  183.  Die  Strafbestinummcen  der  §§  175,  176,  179  bis  i8a  finden  auch 

anf  die   gesetzlichen   Vertreter    handlungsunrahii^cr   Arbeitgeber,    desgleidien  auf 

die  Mitglieder  des  Vorstandes  einer  Aktiengesi  llscliaft,  Innung  oder  eingetragenen 
Genossenschaft,  sowie  auf  di<>  Liquidatoren  einer  Handelsgesellschaft,  Innung  oder 
eingetragenen  ( "I<•Tl^l■^-'•Tl•>^•!l;llt  Anwendung. 

1;  1S4.  Wer  in  i,)uittun;;skaneii  I'iiitragungen  oder  Vermerki-  m.icht,  welclie 
nach  §  139  unzulässig  sind,  odt-r  wer  in  Quittungskarten  den  Vordruck  oder  die  zur 
Ausfüllung  des  Vordrucks  eingetragenen  Worte  oder  Zahlen  verfälscht  oder  wis<>cnt- 
licb  von  einer  derart  vermischten  Karte  Gebrauch  macht,  kann  von  der  imteren 
Verwaltungsbehörde  und  da,  wo  Rentenstellen  die  Beitragskontrolle  flbert ragen  ist, 
'von  dem  Vorsitsenden  derselben  mit  Geldstrafe  bb  zu  awanzig  Mark  belegt  werden. 

Sind  die  Eintragungen,  Vermerke  oder  Veränderungen  in  der  Absicht  gemacht 
worden,  den  Inhabern  der  Quittungskarte  anderen  Arbeitergebem  gegenüber  sn  keiUl« 
zeichnen,  so  tritt  Cioldvtr.ife  bis  zu  zweitausmil  Mark  oder  (jefKii{.'iiis  bis  zu  sf-rhs 
Moii.iti  n  ein  Sind  mild<  md.-  I  mstande  vorhanden,  so  kann  statt  der  Gcfäuguis' 
strafe  aul  Halt  i  rkaiuu  werden. 

Eine  Verfolgung  wegen  Urkundcnfillschung  267,  268  des  Reidia>Strafgesctz« 
buchs)  tritt  nur  ein,  wenn  die  Fälschung  in  der  Absicht  begangen  wurde,  sich  oder 
einem  Anderen  einen  Vermi^ensvorteil  au  verschaffen  oder  einem  Anderen  Schaden 
zotttfUgen. 

§  185.  Die  Mitglieder  der  Vorstände  und  sonstiger  Organe  der  Versichemng»- 
anstalten  sowie  die  das  Auf^ji  ht>reclit  über  dieselben  ausübenden  Beamten  werden, 
wenn  sie  unbefugt  Hetri<b>geheimnisse  offenbarten,  welche  kraft  ihres  Amts  zu  ilirer 
K'-niitni-  ;,'el.mgf  sind,  mit  (ield^trafr  bis  zu  eintausendfUnfhundert  Mark  oder  mit 

Gefängnis  bis  /u  'Ir.  1  Monaten  bestraft. 

Die  Verfolgung  liitt  nui  auf  .Vmrat,'  <les  H.  triebsunternehnu  rs  ein 

160.  Die  im  §  1S5  bezeichneten  Tcrsoncn  werden  mit  G<  täDgni>,  neben 
welchem  auf  Verlust  der  bürgerliefaen  Ehrenrechte  erkannt  w^den  kann,  bestraft, 
wenn  sie  absichtlidi  zum  Nachteile  der  Betriebsuntemehmer  Betriebsgeheimnisse, 
welclie  kiaft  ihres  Amts  zu  ihrer  Kenntnis  gelangt  waren,  offenbaren,  oder  wenn  sie 

i6* 


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244 


IjescUgcbung :  L>«*utsch«-.%  Reich. 


geheim  gehaltene  Betrirbi»einrichtungen  oder  Betriebsweisen,  velche  kraft  ihres  Amts 
zu  ihrer  Kenntnis  gelangt  sind,  solange  als  diese  Betriebsgeheinmisse  sind,  nach- 
ahmen. 

Thun  >i>-  <lif>,  um  sirh  oder  einrm  Anderm  *-infn  Wrm<>);<-nsvortril  jlu  ver- 
x-hatTcn,  so  k.inn  neben  der  («cfiingnisstrafe  auf  Geldstrafe  bis  za  dreitausend  Mark 

erkannt  worden. 

§  187.  Mit  Gciaiijinis  nicht  unli-r  drei  Monaten,  neben  welchem  «tut  V'eriu»t 
der  bargerlichen  Ehrenrechte  erkannt  weiden  kann,  wird  bestraft,  wer  anccfate 
Marken  in  der  Absicht  anfertigt,  sie  als  echt  n  verwenden,  oder  echte  Marken  in 
der  Absicht  verfälscht,  sie  sn  einem  höheren  Werte  sn  verwenden,  oder  wissentUck 

von  falschen  otler  verfakchten  Marken  d-ltrauch  macht. 

r^iesflbc  Strafe  trifft  <1«  ii  .  nijjcn.  welcher  Marken  verwendet,  veräufsert  oder 
iVüliiili  oliwohl  er  weif»,  uUir  tlen  I  nistanden  nafh  anni-hmen  muU,  dafs  die  Marken 
bcn  iti  rintii.il  \ '  Tw  •  iid«-t  wor'!?«n  sind.  "^in  i  ni;Mi  rii  lr  l'ni^tiirid'-  vorhanden,  tiO 
kann  auf  (ieldstratc  bis  zu  dmiimulrrt  Mark  odor  Halt  erkannt  werden. 

Zugleich  ist  auf  Einziehung  der  Marken  zu  erkennen,  ohne  Unterschied,  ob  sie 
dem  Verurteilten  gehören  oder  nicht  Auf  diese  Einxiehang  ist  noch  dann  xn  er» 
kennen,  wenn  die  Verfoignng  oder  Verurteilung  einer  bestimmten  Person  nicht 
stattfindet. 

g  188.    Mit  Geldstr.ife         tu  einluindertundfttnfzig  Mark  ndrr  nut  Haft  wird 
bestraft,  wer  ohne  schriftlicli<  u  .Vuftr.i^  einer  N  ersicluTun^^sanstalt  inier  einer  Behörde 
i.   Steni]»el,    .Siegel,    Stich<-,    l'latteii   oder   aiid>  re   l  omien,    welche   im  .\n- 
fertiyuny  von  Marken  dienen  kennen,  anfertif;t  oder  an  einen  .\ndcren  als 
die  VcrMcherungsan^talt  beziehungsweise  die  Behörde  verabfolgt, 
a.  den  Abdruck  der  in  Zif^r  1  genannten  Stempel,  Siegel,  Stiche,  Platten 
oder  Formen  nntemimmt  oder  Abdrücke  an  einen  Andere^  als  die  Ver- 
sicherungsanstalt beziehimgsweise  die  Behörde  verabfolgt. 
Neben  der  Geldstrafe  oder  Haft  kann  avif  rinzielmn;:  der  Stempel,  Siegel, 
Stiche.  Platten  oder  I'ornien  erlumut  werden,  ohne  Unterschied,  ob  sie  dem  Verur- 
teilten ;j<  lK>ren  oder  nirht 

ij  iS").  ir«-l»M ^anji^itesiminuinf^en.  I  hf\  \'er>i.  licrlen ,  welche  innerhalb  der 
ersten  lüut  Jahre,  nachdem  die  \'crsichcrungs|>tlichl  iur  ihren  Berutszwcig  in  Kratt 
getreten  ist,  erwerbsnnShig  werden,  wird  auf  die  Wartezeit  fUr  die  Invalideiiiente 
(§  29  Abs.  1  ZiiTer  l)  die  Dauer  einer  früheren  Beschiftigung  angerechnet,  flir  welche 
die  Versicherongspllicht  bestand  oder  inzwischen  eingeführt  worden  iit 

Die  Anrechnung  erfolgt  aber  nur,  insoweit  die  frühere  Beschäftigung  In  die 
letzten  Hinf  Jahre  vor  Eintritt  d  -r  Frwerbsunfähi^keit  entfallt,  und  nur  d.mn,  wenn 
nach  drin  /rit]n:nkte,  mit  welchem  die  VersichenmL' ht  für  den  betrefTenden 
Berufszwcig  in  Kratt  getreten  i^t  .  eine  die  Versii  lirningspflicht  begründende  Be- 
schältiguiig  flir  die  Dauer  von  mindestens  vier/ip  Wochen  bestanden  hat. 

g  190.  Bei  Versicherten,  welche  zu  der  Zeit,  als  die  Versicherungsptlicbt  tiir 
ihren  Bemfsxweig  in  Kraft  trat,  das  vierzigste  Lebensjahr  vollendet  haben,  werdca 
auf  die  Wartezeit  flir  die  Altersrente  (§  29  Abs.  1  Ziffer  2)  für  jedes  volle  Jahr,  vm 
welches  ihr  Lebensalter  zu  diesem  Zeitpunkte  das  vollendete  vierzigste  Jahr  Uber- 


^  ij .  .-Lo  l  y  Google 


InvaliiicnvcrsicbcningsgescU  vom  1 3.  Juli  1899. 


itiegcn  liBt,  Tienif  Wodien  vaA  Ar  den  ilbcnchkfteiiden  Teil  ciacs  aoldica  Jahns 
die  WCitcWP  Wodacn,  jedoch  nicht  mt^hr  als  vienig,  angerechnet. 

Die  Anrechnung  crfoljjt  aber  nur  «lann,  wenn  solche  Personen  während  der 
drm  Inkrafttreten  immittclhiir  vuriiiif;c<!anf;encn  drei  Jahre  bcrulsmälsip,  wenn  auch 


nicht  ununterbrui  hi  n,  eine  Hochatliguu^  j:«  habl  haben,  für  welche  die  Wrsicherungs- 
ptlicbt  bestand  uder  inzwischen  eingeführt  wurden  ist.  Dicker  Nacliwci»  wird  er- 
Unem,  w«m  immlialb  der  ersten  fünf  Jmhre,  nadidem  die  VerMchenmgipflkht  flir 
den  betreflenden  Bentftsweig  in  Kraft  getreten  ist,  eine  die  Verncheningspflicbt  be- 
gründende Besch&ltignng  flir  die  Dauer  von  mindestens  sweihmdert  Wochen  bc> 
bestanden  bat 

I  I9i>   In  den  ROlcn  der  §§  189,  190  wird  für  die  in  Anrechnong  an 

bringende  Zeit  vor  der  Begründung  der  YrTsichr  rUlgSpflicht  eine  unter  §  30  Abt.  2 
fallende  Krankheit  oder  militärisi  he  Dionstleistung  sowie  die  /«-it  d<  s  früheren 
lUv-ugs  einer  luvalidcoreote      47  Abs.  4)  einem  Arbeits*  oder  Dieustvcrhältnisse 

gleich  geachtet. 

Dasselbe  gilt  für  den  Zeitraum  von  höchstens  vier  Monaten  während  eines 
Kalenderjahres 

1.  von  Zeiten  vorübergehender  Uoterbrechong  eines  ständigen  Arbeits-  oder 
Dienstverhältnisses  zu  einem  bestimmten  Arbeitgeber; 

a.  von  Zeiten  vorttbeigehender  Unterbrechung  einer  bcruf»niäfNi^(-n  Pcschfif» 
tigung,  soweit  es  sich  um  '-in'-  RrschäftipuiK  liandclt.  die  nach  ihrer 
Natur  alljährlich  für  einige  Zeit  voriibergcbcod  unterbrochen  zu  werden 


3.  von  ciiR-r  zu  Zwecken  des  V  erdienstes  unternommenen  Beschäftigung  mit 
Spinnen,  Stridien  oder  ähnlichen  leichten  häuslichen  Arbeiten,  wie  sie 
landesüblich  von  altcmden  oder  schwächlichen  Leuten  geleistet  zn  werden 
pflegen. 

%  192.  Sind  bei  den  auf  Grand  des  g  190  sn  gewährenden  Altersrenten  weniger 
als  vierhundert  Beitragswochen  nachgewiesen,  so  werden  fttr  die  fehlenden  Wochen 
Beiträge  derjenigen  Lohnklasse,  welche  dem  durcbscbnittlichett  Jahresarbeitcverdienst 

des  Versicherten  wahrend  der  im  190  Abs.  2  Satz.  I  b»-ieiohneten  drei  Jahre  ent- 
spricht, mindestens  aber  Beiträgr  der  ersten  I.olinkla^-'-  in  An>atz  j^ebraiht.  Sind 
mehr  als  vierhundert  r>citra)^svvo(  hon  nachgewiesen,  so  kommen  die  Bestimmungen 
des  g  37  ohne  weiteres  in  Anwentlung. 

4;  l<>3.  Ansprüche  auf  k-  nlrn  odfr  lU-ilra^'s«  r-t.munf;en ,  über  welche  zur 
/fit  des  Inkralttretens  dieses  Ge>ei/.<s  <la>  Fc-t-t<lliin;;svcrfahren  noch  schwebt, 
unterliegen  den  Bestimmungen  dir>cs  Gesetzes,  soinri  letztere»  für  die  Berechtigten 
günstiger  ist.  Die  Nichtanwendung  dieser  günstigeren  Bestimmung  bildet  einen  Re> 
sionsgrnnd  im  Sinne  des  §  116  Abs.  3. 

§  194.  f Gesetzeskraft.)  Die  vorstehenden  Bestimmungen  treten,  soweit  sie 
sich  auf  die  Herstellung  oder  Veränderung  der  zur  Dnrchfllhrung  der  Invaliden* 
Versicherung  erforderlichen  Einrichtungen  beziehen,  mit  dem  Tage  der  Verktbidnng, 
im  Übrigen  mit  dem  l.  Januar  1900  in  Kraft. 


})tl"-^t    ">ai^i  Iiiarbeit  I ; 


t 


246 


Gcsetsgebttne:  DeuUches  Reidi. 


Sofern  hi^  zu  1ptzter<''m  Zeitpunkte  die  Statnldi  einer  V'ersicherungsambilC 
odrr  «-iiirr  auf  Gnind  der  ijj;  ^,  7  drs  (ir^-rtzes  vom  22.  Juni  1SS9  zug'-las5pnen 
h''sornirr>*n  Kasscneinrirluung  dir  nach  dem  gegenwartiffn  Gr^rtr  rrfonierlK hen 
Aenderuiij;'>n  nicht  r<-cl)t?citit;  rrlahrcu  sollten,  werden  dic>,c  Abänderungen  durch 
die  AurMchl-<bchorde  mit  rechtsverbindlicher  Wirkung  von  Auf>ichUwegeo  voUxogen. 

Der  Reichskattsler  wird  emichtigt,  den  Text  des  InvBlideoverrichcraBgs- 
Gesetzes  imter  fortlaufender  Nnmmemfolge  der  I^uagraphen  durch  das  Reidis-Gcscta- 
blatt  bekannt  zu  machen.  Soweit  in  Reiehsgesetaen  oder  in  Landesgesetzen  anf  Vor- 
schrift «n  de>,  Gesetzen  vom  32.  Juni  1889  verwiesen  ist,  treten  die  entsprechcBdea 
Vorschriften  dit  sc»  Textes  an  ihre  Stelle. 

rrkundlirh  unter  unserer  Höchsteigenbändigen  Unterschrift  und  beigedrodctem 
Kiti.xerlu  hen  Iiim.  <;--1 

Gejjebcn  Mcrok  im  Gcirau^cr  Ijord  au  IJord  M.  V.  „Huhcujiollcm",  dt-n 
13.  Juli  1899. 

(L.  S.)  Wilhelm. 

Grai  von  Po»adowäky. 


^  ij  ,L.Lo  i.y  Google 


OR08SBRITAIINIBN. 


Die  LfSge  der  Ladengehilfen  in  England  und  das 
Gesetz  über  die  Beschaffung  von  Sitzgelegenheit 
für  weibliche  Ladengehilfen. 

Von 

EDUARD  BKRNSIHIN, 
in  London. 

Wenn  CS  als  unbcstrittciir  Wahrheit  ;^ilt,  dafs  die  Laf^e  der 
cnji^lischen  Iiukisti  icarl)citcr  im  Durchschnitt  besser  ist  als  die  ihrer 
festländischen  Kollegen,  so  kann  man  mit  Recht  daran  zweifeln,  ob 
von  der  Masse  der  englischen  Handlungsgehilfen  das  Gleiche  gesagt 
werden  kann.  Vielinehr  hat  sich  in  derselben  Zeitperiode,  wo  durch 
Gesetzgebung  und  Koalition  ganze  Kategorien  englischer  Industrie* 
arbeiter  wesentliche  Verbesserungen  in  ihren  Arbeitsbedingungen 
erzielten,  in  den  Verhaltnissen  der  englischen  Handlungsgehilfen, 
und  insbesondere  der  Ladenangestellten,  wenig  zum  Besseren,  manches 
aber  zum  Schlechtem  gewendet  Von  der  Mehrheit  der  englischen 
Ladengehilfen  steht  es  fest,  dafs  ihre  Möglichkeiten  in  Bezug  auf 
die  Lebenshaltung  im  wesentlichen  stationär  geblieben,  relativ  also 
zurücl^egangen  sind.  Ihre  Bezahlung  bleibt  hinter  der  von  quali- 
fizierten ("skilled")  Industriearbeitern  zurück,  ihre  Arbeitszeit  ist  eine 
längere,  ihre  Abhängigkeit  eine  gröfsere. 

Die  Ursachen  dieser  Rückständigkeit  sind  nicht  schwer  zu  er- 
mitteln. Die  Thatsache,  dafs  im  Handel  die  kleine  Unternehmung 
noch  eine  erhebliche  Rolle  spielt  und  dafs  in  gröfseren  Geschäften 
stärker  als  in  der  Industrie  ein  Aufsteigen  der  Angestellten  von  der 
untersten  Stufenleiter  zu  höheren  Stellungen  erhöht  wird,  der  starke 
Prozentsatz  weiblicher  Handlungsgehilfen,  von  denen  der  gröfste 
Teil  die  Erwerbstliätigkeit  entweder  nur  als  Durchgangsstadium  vor 


248 


(}e!t«'tzK(-'l>ung'.  GrofsbiitMinien. 


dem  Eingehen  der  Ehe  oder  behufs  Ergänzung  des  Familien- 
einkommens  betreibt  —  dies  und  die  erheblichen  Unterschiede  in 
der  Klasseii/.u^^^clKiri'^kcit,  dem  ßildung^ang  und  der  sozialen  Denk- 
weise der  kaufmännischen  Angestellten  erschweren  die  Bildung  von 

Koalitionen  dieser  zur  Verbesseninjj  ihrer  Arbeitsbedingungen  in 
solcbrni  <  irade,  dafs  es  kaum  eine  lirwerbsschicht  ;^Mebt,  die  sich 
gleicii  iiilllos  zur  Aktion  gewerkschaftlichen  Charakters  erwiesen 
hätte  wie  der  1  l.indt  I>L;rliilfen. 

In  En^lanil  suul  die  Ür^'anisationen  der  1  landlun^^j^ehilfen  so^'ar 
nocb  hinter  denen  \ cr^rhiedciier  b"esllanils>taatcn  zuriick.  Der  au<; 
einer  \'ersriinielzun;4  ri\al:>iereniler  Vereine  h(  r\or^e:'aii;^fene  ..Natio- 
nale Hund  der  X'ereiiu^ten  La< lfii;.^i  liiltt  ii  ,  Ma;;.;a/.inbeanUen  und 
Buchhalter"  /ähltc  Ende  1898  28**7  MitL^iieder,  darunter  330  weib- 
lichen ( iiM  hiechts,  und  wird  jetzt  ^e^en  3  500  Mit^dieder  haben. 
Alle  sonsti^'en  kaufniUnnischen  Vereine  Knglands  sind  blofse  HilLs- 
und  HildunL;s\ereine. 

("laiiz  kUi^lirii  ist  ilei  Stand  der  Or^Mnisation  in  der  Kiesenstadt 
London.  Trotz  eifri«;tr  .X^iitation  der  sehr  rijhri<;en  Leitung  des 
erwähnten  Bundes  zählte  derselbe  im  Juli  dieses  Jahres  in  ganz 
London,  einschliefslich  der  benachbarten  Städte  Stratford  ond  West- 
Harn,  erst  etwas  über  500  Mitglieder.  Eine  im  Frühjahr  1899  er- 
folgreich durchgeführte  Aktion  zu  Gunsten  der  Einhaltung  «,a-re<^elter 
Arbeitszeit  in  einem  gröfscren  Warenhaus  der  City  hat  der  Be- 
wegung hier  einen  gewissen  ermutigenden  Anstofs  gegeben,  aber 
an  Durchsetzung  von  wesentlichen  Erfolgen  aus  eigener  Kraft  ist 
noch  auf  lange  Zeit  nicht  zu  denken. 

So  sind  die  Augen  des  Bundes  vornehmlich  auf  die  Gesetz- 
gebung  als  Helferin  gerichtet.  Aber  auch  hier  hat  er  mit  einer 
grö(ser.en  Schwierigkeit  zu  kämpfen  wie  die  Organisationen  der  In- 
dustriearbeiter. Die  Stimme  des  Handelsangestellten  wiegt  nämlich 
bei  dem  englischen  Gesetzgd>er  \'iel  leichter  als  die  des  .Arbeiters. 
Dies  teils  wegen  des  gerin^^en  |»olitischen  .Solidaritäts^efühls  unter 
ihnen,  teils  aber  auch  weil  }.,aTade  die  Schicht  der  kaufimännischen 
Grehilfen,  die  den  Sehutz  des  Gesetzgebers  am  nötigsten  brauchte, 
die  Angestellten  der  Warenhäuser,  in  ihrer  grofsen  Mehrheit  des 
Stimmrechts  entbehrt.  In  Kn;:jland  ist  das  Stimmrecht  bekanntlich 
an  den  Besitz  einer  ei^^enen  VVohnunfj  ;.^eknüpft,  ein  ii^rofscr  Prozent- 
satz der  1  landlun^'>i4^ehilfen  aber  ist  weder  Haus-  nocli  Zimnu  rnneter, 
sondern  ist  Tcilwohner  oder  Inncnwohnt-r  itn  Geschäft  seines  Prin- 
zipals, d.  h.  hat  bei  diesem  Kost  und  Logis. 


Lduard  Uernstcin.  Die  Lage  der  Ladcngt-liilfen  in  England  etc.  249 


Dieses  Innenwohnerwesen  ("Itving  in  System"),  ein  Erbstück  aus 
der  Zeit  patriarchalischer  Zustände  im  Handel,  und  hier  und  da 
auch  heute  noch  in  diesem  Geiste  praktiziert,  hat  sich  in  der  Mehr- 
heit der  Falle  zu  einer  iirahren  Hörigkeit,  einem  last  kldsterlichen 
Internat  mit  allen  seinen  Ucbeln  entwickelt  Es  überwiegt  in  den 
grofsen  Schnittwarenhäusem  Englands.  Für  die  Besitzer  dieser  Art 
Geschäfte  ist  es  vorteilhaft  genug,  denn  es  erlaubt  ihnen,  die  An» 
gestellten  einer  Kontrolle  zu  unterwerfen,  wie  sie  sonst  unmöglich 
wäre.  Was  es  aber  (ur  die  .-Xn^estellten  selbst  heifst,  ma«,^  einer 
der  besten  Kenner  der  sozialen  Zustände  Londons,  der  Bapiisten- 
^eistliche  Dr.  John  Cliflford  bezeugen,  der  noch  das  patriarchalische 
System,  wie  es  vor  vierzig  Jahren  bestand,  aus  eigner  Anschauung 
kannte.  In  einer,  am  26,  Juni  189S  gehaltenen  Predigt  über  die 
Hedingungcn  und  Probleme  des  Lebens  in  den  Warengeschäften 
sagte  er: 

„Heute  ist  der  Angestellte  vcillig  in  der  Gewalt  des  Prin/ijials. 
Seine  Krcihcit  liegt  in  Ketten.  Kr  hat  wenig  oder  gar  nichts  d. trüber 
zu  l)cstinunen,  was  er  essen  und  trinken  und  wie  er  sich  kleiden 
soll.  Kr  ist  beständig  unter  .Sjjionage,  iiberwacht  in  stirem  dehen 
und  seinem  Kommen...  l'iid  dann  i.st  es  Jiiir  unsagHi  h  peinlich 
zu  denken,  dafs  er  kein  Privatleben  hat.  Sein  gaj)ze>  Leben  ist 
ölienllieh.  Kr  ist  kaum  jemals  allein.  Das  kostbare  Clul  ,.ein 
eigner  Raum"  fehlt  ihm,  und  in  manchen  l  allen  hat  er  nicht  einmal 
einen  eigenen  Abteil,  sondern  muls  mit  sieben  oder  siebzehn  Per- 
sonen im  gleichen  Räume  schlafen.  Er  hat  keine  Gelegenheit  zu 
emsthaftem  Nachdenken,  keine  Möglichkeit  des  Alleinseins,  dieser 
Quelle  innerer  Festigung  . . .  Au(serdem  ist  er  zum  Zölibat  ge- 
zwungen, und  was  das  bedeutet,  wage  ich  kaum  zu  denken,  ge- 
schweige denn  auszusprechen . . .  Und  dann  hat  der  Mann  keine 
bürgerlichen  Rechte.  Er  hat  kein  Stimmrecht.  Er  ist  2$  oder 
30  Jahre  alt,  aber  er  hat  keine  Gelegenheit,  sein  Recht  als  Staats- 
büi^er  auszuüben.  Er  ,4ebt  drinnen",  und  das  heiCst  für  ihn  außer- 
halb der  politischen  Welt  leben  ...  Allgemein  gesprochen,  wobei 
nicht  vergessen  werden  soll,  dals  es  bemerkenswerte  Ausnahmen 
giebt,  mufs  von  dem  System  als  solches  gesagt  werden,  dafs  es 
schädlich  ist  für  die  Gesundheit,  schädlich  für  die  geistige  und  all- 
gemeine Kultur,  schädlich  für  die  Entwicklung  der  Individualität 
und  M  liadlich  für  die  Moral." 

.\chnlich  äutserte  sich  im  Jahre  1896  ein  kaufmännischer  He- 
triebsletter  in  einem  sehr  gemäfsigt  gehaltenen  Artikel  der  in  Oxford 


L.ivjij^Lu  L.y  Google 


250 


Gesetzgebung  GrorsbritAiuiieii. 


herausgegebenen  "Economic  Review".  Vor  allem  erweist  sich  das 
System,  schrieb  er,  als  ein  grolses  Hindernis  der  Ehescbliefsung. 
„Das  Eheverbot",  heilst  es  in  einer  trofflichen  ArtikcKt  ric,  die  das 
*'Dail\-  Chronicle"  1897  unter  dem  1  itcl  "Life  in  ihe  shop"  ver- 
öffenllichte,  „ist  un[,fescliricbencs  aber  bindendes  Gesetz".  Und  in 
der  vom  Fabierverein  herausgegebenen  I'lu'^'schrift  "Sliop  Life  and 
its  Reform"  wir !  das  „Zwangszölibat"  der  I^denanpjestelltcn  auf  die 
meist  unznläir^hrhc  liezahlunf]^  und  das  System  des  "livin^  in  "  zu- 
rück*;cfülirt,  das  keine  X'orkehrun^en  für  \crheiratele  Leute  ein- 
srhlielse,  so  dals  selbst  in  .solchen  I  cllleii.  wo  eine  leidlich  kom- 
fortable I'^he  in<»L:!ich  wäre,  die  Krlaubnis  des  Chct's  nachgesucht 
werden  müsse.  Diese  werde  aber  ;^ewohnlich  tiur  dann  erteilt, 
wenn  der  .Anfragende  schon  t^iiie  hölicre  Stelle  bekleide. 

In  der  let/tgenaniiten  Scluitl,  die  in  >(  !n-  uliersii  htlirher  Weise 
die  Ikx'hwenien  aulzalilt,  unter  denen  der  moderne  Latlengehillc 
in  F.n<j;land  U  idet,  i--t  insbe>e>ndere  das  .Material  berücksichtigt,  (.las 
die  R(»nigliehe  l  ntersuehungskoinniission  von  1892  über  die  Ar- 
beiter\erhältni.sse  mit  Bezug  auf  diesen  Punkt  zui»ammengestellt  haL 
Desgleichen  das  in  dem  Standardwerk  von  Charles  Booth  Ufe  and 
Labour  of  the  People  in  London"  hierüber  niederlegte  MateriaL 
Booth  berechnet  (Bd.  VII).  dafs  mit  Einschluß  der  Wohlthaten  des 
'living  in"  (Freies  L<^is  mit  Kost  etc.)  die  Hälfte  der  männlichen 
Ladengehilfen  in  London  sich  kaum  besser  stehen  wie  ein  Arbeiter, 
der  einen  Wochenlohn  von  30  Sh.  bezieht,  während  drei  Viertel 
der  weiblichen  I^dengehilfen  sich  alles  in  allem  auf  20  Sh.  die 
Woche  stellen.  Der  Durchschnittsverdienst  des  männlichen  Laden« 
gehilfen  im  ganzen  Vereinigten  Königreich  stellt  sich  nach  den 
Tabellen  der  Royal  Conmiission  on  Labour  auf  25  Sh.  II  Penoe 
die  Woche  —  weniger  als  der  Durchschnittslohn  selbst  weniger 
qualifizierter  Arbeiter.  Dem  Schreiber  dieses  sind  denn  auch  Fälle 
bekannt,  wo  kaufmännische  Gehilfen  aus  ihrer  Stelle  heraus  sich 
als  Tagelöhner  (Bauhandlangcr,  Dockarbeiter)  verdungen  haben, 
weil  die  Arbeit  des  Tagelöhners  zwar  körperlich  schwerer,  aber 
dafür  weniger  abhetzend,  eher  besser  bezahlt,  die  Arbeitszeit  eine 
kürzere  sei  .ils  die  im  Laden. 

Die  .Arbeitszeit  der  Ladengehilfen  variirt  nach  dem  Charakter 
der  Geschäfte.  Sie  i.st  am  längsten  in  den  kleineren  Läden,  sowie 
in  den  Mittelgesehäften  der  \\)lks\  iertel,  am  kürzesten  in  den  hoch- 
eleganten Lusrhaften.  wo  die  Aristokratie  ihre  Linkäufe  macht,  und 
in  den  Arbeiterkonsumvereinen.  Diese  erreichen  den  Rekord  günstiger 


Eduard  licmbtcin,  Die  Lage  der  Ladcugchillcn  in  England  clc.  2^1 


Arbeitszeit.  Der  grofse  Arbeiterkonsumverein  von  Oldham  z.  E 
hat  folgende  Arbeitsstunden: 

Montags,  Mittwochs  und  Donnerstag  von  vormittags  und 

I — 8  nachmittags,  bezw.  abends. 

Dienstags  von  8 — 12  vormittags,  nachmittags  frei. 

Freitags  8—12  vormittags,  i — 9  nachmittags. 

Sonnabends  8 — 12  vormitts^s,  1 — 6  nachmitt^is. 

Sonntai^s  frei. 

An  den  Nachmitta^jen,  wo  gearbeitet  wird,  wird  eine  halbe 
Stunde  für  \'esprr  '"Tca  )  aus<:jcsetzt,  sodafs  die  wirkliche  Arbeits- 
zeit si'  li  luf  55'.,  Stunden  die  Woche  stellt  Eine  gleiche  Zeit- 
einteilung herrscht  in  663  Arbeiterkonsumvereinen,  die  fast  alle  mit 
("leschäften  zu  konkurrieren  haben,  in  denen  eine  80. stündige  Ar- 
beitszeit die  Regel  ist.  Die  .\rbciterkonsumvereine  verzichten  sämt- 
lich auf  das  Innenwohnen  der  .Angestilltcn  und  haben  das  in  den 
meisten  kapit.iUslisrhen  Warenhäusern  ultlu  hc  Ikifsensystem  teils 
ganz  ahgfschatU,  teils  auf  ein  Miiiiicslinals  reduziert. 

Das  System  der  Hufsabzüge  ist  ein  weiterer  Be?:rhwerdcpunkt 
der  englischen  1  .adengehilfcn.  Ks  ist  in  den  englischen  Warenhäusern 
sehr  verbreitet  und  in  manclun  (itxhäftt-n  so  kunstvoll  aufge- 
arbeitet, dafs  es  unmöglich  ist.  ihm  nicht  zum  ( '>]}{rv  /.u  fallen.  Der 
Bufsenktnle.x  des  gröfsten  der  l.ontloner  Warenhäuser  —  \\  hiteley 
in  Westbournc  Park,  West-London  —  enthält  159  Taragraphen,  wird 
aber  noch  durch  den  einer  Firma  im  gleichen  Stadtviertel  übertroffen, 
der  nicht  weniger  als  198  Paragraphen  zahlt  Hingegen  haben 
einige  andere  grofse  Warenhauser  in  London  das  Bu(sensystem 
völlig  abgeschafft,  ein  Beweis,  dals  es  auch  in  kapitalistischen  Unter- 
nehmungen ohne  Schaden  entbehrt  werden  kann.  Da(s  es  sich  aber 
so  allgemein  einbürgern  und  auswachsen  konnte,  beweist  auf  der 
andern  Seite  aufs  Anschaulichste,  wie  ungemein  abhängig  grade  die 
kau6nannischen  Angestellten  in  England  sind.  Wirkte  nicht  in  der 
Mehrheit  der  Fälle  die  allgemein  in  England  übliche  Achtung  vor 
der  Persönlichkeit  als  Korrektiv,  ^  könnte  man  von  absoluter 
Unterwerfung  dieser  Klasse  unter  die  Willkür  ihrer  kapitalistischen 
Prinzipale  sprechen. 

Von  gesetzlichem  Schutz  für  den  Handelsangestellten  war  in 
England  bisher  nicht  die  Rede,  in  bczug  auf  ihn  herrschte  vielmehr 
und  herrscht  im  wesentlichen  noch  in  ungetrübtester  Reinheit  die 
Freilirit  des  Kontraktes.  Verträge,  durch  welche  Gehilfen  sich  die 
drückendsten  V'erpflichtungen   gegenüber  ihren  Prinzipalen  auf- 


252 


( tesrt2(,'<  bung :  Grof>briUiamcn. 


erlegen,  für  sich  selbst  aber  von  allen  Bürgschaften  für  die  Siche- 
rung ihrer  Existenz,  wie  Kündi^unj^;ifrist  etc. ,  absehen ,  gehören 
durcliaus  nicht  ZU  den  SeUenlicitcn.  In  dieser  i  iinsicht  i»t  der 
I  iandlun^'NL^ohilfe  ganz  auf  die  Konjunktur  und  den  guten  Willen 
des  Prinzipals  angewiesen. 

Den  ersten  I^inL^ritT  in  den  Absoluti^nin<  dc-N  I .adeneif^cn- 
tiiincr??  niachif  das  ( i  r  s  t- 1  z  von  1 8tH6  ü  h  v  i  die  A  r  I » c  i  1  s  z  c  i  t 
in  L  a  d  c  n  ^' e  s  c  Ii  ä  f  t  c  n  ,  das  für  in  Laden  I>eMhafti;^'te  juni;e  Pcr- 
s<nien  von  unter  l8  Jahren  eine  Maxiinalai  heit-^/fil  von  74  Stundi-n 
die  \\  oche  ft  Ntselzte.  A\n  r  das  ( ioet/  l)e>tininit  keine  Strafen  fi.ir 
die  l'ebertritiin*^  seiner  XOrsclirillen  und  uberUiKt  die  Kontrolle 
ihier  I )ureiifuln nn;^  dem  '^niten  Willen  der  1  .okalbeln  »rden,  \<iii  dciu-ii 
mir  i'/.iDA  wcni'^M-  virh  dazu  verstanden  Iiabeii,  S|K'/iallH-anite  mit 
difvt  r  Koi  tmlle  /u  1  x  auUra-cii.  I'.ine  Llrc)l^^■!r  Anzaiii  hat  die 
Aulj;al)e,  iHe  1  )urii)hihruni;  der  besa;^^tei)  Ik.-Iinimuii^'  zu  über- 
wachen, an  licamte  ubertia,^en,  denen  scIidii  andere  l  elxrwacliun^s- 
aufgaben  obliegen  und  die  daher  nur  gelegentlich  sich  um  iHcsen 
Punkt  kümmern  können.  Im  Greisen  und  Gänsen  ist  das  (lesetz 
jedenfalls  ohne  Rückwirkung  auf  die  Verhältnisse  im  Kleinhandel 
geblieben. 

Das  erste  Gesetz,  das  den  vom  Staat  ernannten  Fabrikinspek> 
toren  ein  Aufsichtsrecht  über  I^dengeschafte  gewährt,  ist  das  ver- 
besserte  Truckgesetz  von  1896.  Es  bestimmt  in  seinem  ersten 
Paragraphen,  dafs  kein  Unternehmer  seinem  Angestellten  Strafen  in 
Abzug  bringen  darf,  die  nicht  im  Anstellungskontrakt  desselben  genau 
spezifiziert  sind  und  sich  auf  Handlungen  oder  l^nterlassungen  be- 
ziehen, die  den  Unternehmer  in  seinem  Eigentum  oder  Geschäfts* 
betrieb  wirklich  schädigen  oder  ihm  nach  Voraussicht  solche  Schä- 
digung verursachen  können.  Der  Kontrakt  mu(s  entweder  dem 
Angestellten  beim  Antritt  schriftlich  \or*,ek%;eii  lialien  und  von 
ihm  unterzeichnet  sein,  oder  er  mufs  im  Geschäft  als  gedruckte 
AnkündijTun^:^  dauernd  so  ausgehängt  sein,  dafs  er  von  den  An- 
«:^estellten  jederzeit  leicht  cin<^esehen  und  ko|)iert  werden  kann.  Die 
Straten  sollen  auf  alle  Umstände  des  I  "all<  -  Rncksirht  nehmen,  billig 
und  vernünitii;  sein,  und  dürfen  nicht  ohne  L.inhändi;^Hni^^  einer  «^'e- 
nauen  s  cii  r  i  f  1 1  i  c  Ii  e  n  Spezitizierung  dem  Angestellten  in  An- 
rechnung ^'ebracht  werden. 

Das  (xeset/  war,  als  die  KcL^ierunL;  es  einbrachte,  nur  tur 
Fa!)riken.  Werkstätten  etc.,  d.  h.  als  .Schutz^^esetz  für  ^fcwerbliciie 
Arbeiter  bestimmt.    Durcii  Vermittlung  der  Abgeordneten  Dilke 


Eduard  bcrnstein,  Die  Lage  der  Ladengebilfen  in  England  etc.  255 


und  Tcnnant  ijelan;^  es  jedoch  dem  Bund  der  Ladeiigoliilfoii ,  die 
Zustininuiii|^r  des  Ministers  Ridley  zu  seiner  Ausdelinuii;;  auf  die 
I^denj^ehilfen  zu  erlangen.  Der  positive  Schutz,  den  es  j^c^en  den 
Strafenunfu^  gewährt,  ist  noch  recht  mäfsig ;  immerhin  legt  es  ihm 
einen  Zügel  an,  und  indem  es  den  Laden  hierin  der  Wericstatt 
gleichsetzt,  schafft  es  ein  wichtiges  Prazedenz  für  die  weiteren,  von 
dem  Bund  der  Ladengehilfen  erstrebten  gesetzlichen  Sdiutzmafs* 
regeln. 

Diese  sind  in  einer  Gesetzvorlage  (Bill)  niedergelegt,  welche 
u.  a.  die  Unterschriften  der  Abgeordneten  Charles  Dillce,  John 
Bums,  W.  Steadmen,  H.  Tennant  tragt  und  seit  1896  von  den  Ge- 
nannten in  jeder  Parlamentssession  von  neuem  eingebracht  wird. 
Ihre  Haupt  punkte  betreffen: 

1.  Die  Regulierung  des  Ladenschlusses.  Die  Laden 
sollen  an  einem  Tag  in  der  Woche  si)ätestens  um  i  Uhr  mittags 
und  an  drei  l  agen  spätestens  um  7  Uhr  abends  geschlossen  werden 
müssen ,  an  einem  Abend  bis  9  und  an  einem  weiteren  Abend 
bis  10  l  hr  geöffnet  sein  dürfen.  Die  Festsetzung  der  Tage  sollen 
die  Lokal behördcn  bestimmen. 

2.  Sicherung  des  in  den  letzten  Jahren  an  verschiedenen  Orten 
stark  durchlöcherten  Geschäftsschlusses  am  Sonntage. 

\'on  beiden  Beschränkungen  sollen  ausgcnonimen  sein  Apo- 
theken, Fruchtläden,  Zcitungsläden  ,  Tabakläderi ,  Speisehäuser  und 
Schankstätten,  für  die  besondere  Reglements  bestehen. 

3.  Beschränkung  der  nach  La  d  c  n  sc  h  lu  fs  z  u  1  e  i  st  e  n - 
den  Arbeit.  Nach  dem  gesetzlichen  Ladcnschlufs  sollen  die  An- 
gestellten hocliNtens  noch  eine  halbe  Stuntle  beschäftigt  werden 
dürfen,  liicrvon  sollen  pro  Jahr  20,  vorher  dem  Ciewerbcinspcktor 
bekannt  zu  gcbci\dc  1  agc  ausgenommen  sein ,  während  deren 
drei  Stunden  nach  I^adenschUifs  gearbeitet  werden  darf. 

4.  Sicherung  von  Sitzgelegenheit  uud  Sitzerlaubnis 
för  weibliche  Ladengehilfen. 

5.  Sicherung  einer  wöchentlichen  Maximalarbeitszeit  von 
sechzig  Stunden  mit  Einschlufs  der  Efspausen  för  alle  Laden- 
angestellten, sowie  Fürsorge  för  genügende  Eispausen* 

6.  Verbot,  weibliche  oder  junge  Personen,  die  in  Fabriken  und 
Werkstatten  beschäftigt  werden,  nach  ihrer  dortigen.  Arbeit  noch 
in  Laden  langer  zu  beschäftigen  als  die  Differenz  zwischen  der  vom 
Gesetz  iiir  sie  vorgeschriebenen  Maximalarbettszeit  und  der  wirklich 
in  der  Fabrik  etc.  zugebrachten  Zeit  ausmacht 


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254 


Gc&cU^cbung :  GrobbritaunicD. 


7.  Fürsorge  für  ausreichende  Sanitatsvorrichtungen. 

Diesem  Gesetzentwurf!  der  bei  dem  gegenwärtigen  Geschäfts* 
verfahren  des  englischen  Parlaments  solange  keine  Aussicht  auf 
vollständige  Durchberatung  im  Haus  der  Gemeinen  hat  als  nicht 
die  Regierung  des  Tages  ihn  aufnimmt,  hat  ein  konservativer 
schottischer  Abgeordneter ,  der  Oberst  Denny,  in  abgeschwächter 
Form  den  Vorschlag  der  Vorsorge  iiir  Sitzgelegenheit  für  weibliche 
Latlenan^^cstclltc  entnommen.  Sein  entsprechender  \ntrag  ist  in 
der  ordentlichen  Parlamentssession  von  1899  zur  Verhandlung;  ge- 
kommen und  nach  einigen  Gefcihrnissen,  die  ihm  im  Haus  der 
Lords  bereitet  wurden,  denn  auch  Gesetz  g^cworden.  Im  Haus  der 
Gemeinen  fand  sich  denn  auch  niemand,  der  ihn  opponierte,  im 
I  laus  der  Lords  aber  stellte  sich  der  Premierminister  Lord  Salisbury 
an  die  Spitze  einer  Anzahl  entschiedener  (  ie»,'ncr. 

In  der  ersten  .\l)stinnnuiiL:  der  l'cers,  die  nur  der  Kinführun^ 
der  vor^cschla^fencn  Besliuiniun^^  ii  in  Schottland  ^alt ,  gelang;  es 
in  der  That  tlem  Kinflufs  des  Premiers,  von  einem  schwach  be- 
setzten Haus  eine  Ablehnung  der  Bill  zu  erzielen.  Als  aber  am 
II.  Juni  eine  neue  X'otlage  zur  X'erhandlung  stand,  welche  die 
gleichen  Hestinimungen  in  Kiigland  und  Irland  einzuführen  \'or- 
schlug,  verfehlten  selbst  die  leierltchsten  Bochwinungen  Lord  Salis- 
bur\'s  ihre  Wirkung  aul  seine  K<>lK  L;en.  Der  .Mini.ster  prophezeite 
das  gröfstc  l'nheil  für  die  Praueiiweit,  wenn  die  \'orlage  Gesetz 
wurde.  Sie  würde  der  Erweiterung  der  Berufssphären  der 
Frauen,  die  doch  so  notwendig  sei,  um  die  tiefststehenden  Frauen 
dem  Elend  zu  entreifsen,  einen  Riegel  vorschieben.  Denn  vielen 
Unternehmern  sei  die  Unterstellung  unter  die  vom  Gesetz  vor- 
geschriebene Kontrolle  so  widerwärtig,  dafs  sie  lieber  auf  die  Be- 
schäftigung  von  Frauen  ganz  verzichten  als  sich  ihr  unterwerfen 
würden.  Die  Sache  sei  der  Rede  nicht  wert,  nur  ein  paar  Philan- 
thropen begeisterten  sich  für  sie,  die  Vertreter  der  weiblichen  Laden- 
angestellten  hätten  vor  der  Königlichen  Untersuchungskommission 
die  Verkürzung  der  Arbeitszeit  als  ein  viel  dringenderes  Bedürfnis 
wie  die  Fürsorge  für  Sitzgelegenheit  hingestellt,  welche  letztere 
Sache  man  ruhig  der  Einsicht  und  dem  guten  Willen  der  Unter- 
nehmer überlassen  könne.  Im  Notfalle  wolle  er,  der  Minister,  sich 
verpflichten,  die  V^eranstaltung  einer  IJntersuchung  der  Frage  zu 
bewirken,  nur  solle  man  doch  nicht  sich  vom  guten  Herzen  zu 
einem  unüberlegten  Beschlufs  hinreifsen  lassen. 

Beschwörung  wie  Versprechen  erwiesen  sich  gleich  fruchtlos. 


^  ij .  .-Lo  Ly  Google 


Eduard  Bernätcin,  I>ie  Lage  der  Ladcngchillen  in  England  etc. 


Der  vom  Herzog  von  Westhiinster,  dem  Bischof  von  Winchester, 
Lord  Carrington  etc.  energisch  vertretene  Antrag  ward  mit  75  gegen 
28  Stimmen  angenommen.  Desgleichen  ein  Zusatzantrag,  in  dies 
neue  Gesetz  nun  auch  Schottland  hineinzunehmen. 

Am  21.  Juni  ward  dann  die  so  amendierte  Vorlage  in  dritter 
Lesunj^  vom  Haus  der  Lords  ohne  formale  Abstimmung  genehmigt. 
Der  Ba\  ar(l  des  englischen  Manchestertums ,  Lord  Wemyss,  hielt 
noch  eine  Protestrede,  verzichtete  aber  auf  eine  Abstimmung.  Lord 
Salisbiir)'  schwieg.  Wie  Schreiber  dieses  hört,  hatte  der  Minister 
in  der  Zwischenzeit  durch  seinen  Sekretär  u.  a.  die  Hilfssekretärin 
des  Bundes  der  Ladengehilfen,  Mifs  Mary  (t.  Bondfield,  darüber  be- 
fragen lassen,  was  sie  von  der  ^^nlage  halte  und  welches  nach 
ihrer  Meinun«^'  der  Wunsch  ihrer  Bcrufsj^enossinnen  sei,  und  Mifs 
Bondlieid  hat  den  Minister  nicht  in  Zui-ifrl  darüber  gelassen,  dafs 
er  es  auf  tiie  von  ihm  befürchteten  Wirkungen  des  Gesetzes  ruhig 
ankoninien  lassen  dürfe. 

Liest  man  das  <  «eset/.,  dessen  Wortlaut  wt  iter  unten  folt^t,  so 
ist  man  auf  den  ersten  Blick  versucht,  Lord  Sali'-hurv  darin  Recht 
zu  geben,  dafs  eine  solche  Kleinigkeit  wie  seine  \'orschrift  den 
Apjjarat  eines  (leset/es  nicht  wert  ist.  Sie  ist  unlogisch,  unvoll- 
ständig und  unbestinunt.  Für  ein  Spezialgesetz  enthält  sie  nicht 
einn)al,  wie  dies  die  Bill  von  Düke  untl  (leno.ssen  tliut,  Bestimmungen, 
die  den  Ladengehilfinnen  das  Recht  sichern ,  sich ,  wenn  sie  nicht 
beschäftigt  sind,  auf  die  vorhandenen  Sitze  niederzulassen,  sie  vor 
vexatorischen  Vorschriften  in  dieser  Hinsicht  schützt.  Tndes,  sie  ist 
in  ihrer  Art,  als  Vorschrift  fUr  die  Betriebseinrichtungen  in  Laden» 
geschäften,  ein  erster  Schritt,  und  da  ist  der  englische  Gesetzgeber 
stets  so  vorsichtig  wie  nur  möglich.  An  ihrer  sachlichen  Berech- 
tigung aber  kann  unter  vernünftigen  Menschen  kein  Zweifel  sein, 
die  gesundheitsschädlichen  Folgen,  welche  langandauerndes  Stehen 
der  Frauen  nach  sich  zieht,  sind  bekannt  genug.  Ebenso  aber 
auch,  dafs  viele  Ladenbesitzer  und  viele  Ladenbesucher  —  wir 
müssen  leider  sagen,  Ladenbesucherinnen  unvernünftig  genug  sind, 
von  den  Verkauferinnen  zu  verlangen,  dals  sie  in  buchstäblicher 
Weise  bestandig  zur  Bedienung  der  Kunden  auf  dem  Sprung  stehen. 

In  wie  weit  das  Gesetz  hierin  Besserung  bringen  wird,  läfst 
sich  n.itiirlich  nicht  voraussagen.  Aber  dafs  es  auch  nur  einen 
I^denbesit/.er  veranlassen  wird,  statt  weiblicher  männliche  (uliilfen 
ein/ustelkii ,  ist  ganz  und  gar  unwahrscheinlich.  Einstweilen  liat 
es  den  Erhndungf^eist  angestachelt,  Sitze  zu  ersinnen,  die  auch  in 


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2^6  GescUgcbunj; ;  (_irui>bntannicn. 

beschränkten  Lokalitäten  hinter  den  Ladentischen  angebracht  werden 
können,  ohne  den  thätigen  Verkäufern  den  zu  versperren. 

Eine  ganze  Anzahl  entsprechender  Modelle  sind  schon  patentiert 
und  ausgestellt  worden.*)  — 

Folgendes  der  W' ortlaut  des  Gesetzes; 

6a  u.  63,  Victoria,  Kap.  ai. 
OsMts  fSr  die  Beacbaflun^  von  Sltsen  fttr  den  Qebreucli  von  LadenftOfttsMUtai. 

(9.  Auguit  1899.) 

Durch  d«r  Königiii  aasgezeicbnelste  Majestät  etc.  sei  bestimmt  wie  folgt: 
I.  In  allen  Rftomen  eines  Ladens  oder  anderen  Riumlichkeitcn,  in  denen 
Guter  thataficblieh  an  das  Publikum  im  Einiclverkauf  abgesetzt  werden,  und  wo 
weibliche  AiiK>--''tflUc  für  den  Ein^clvr-rkaiif  von  (liltrrn  an  tla*;  Publikum  lifschäftigt 
werden,  soll  der  ( I.^chHltslii  rr  (ArlM-itgcbcr) ,  der  in  >olclien  Gebäuden  (^esrhäft 
treibt,  Sitze  hinter  dem  Ladentisch  odi-r  an  vmst  für  il>  t)  Zwick  pus^rndeii  Steilen 
besorgen,  und  /war  im  V»'rhältnis  \on  nicht  weniger  als  einem  Sitz  für  je  drei  in 
einem  Kaum  bcM  huUigtc  weibhche  Angestellte. 

3.  Jede  Person,  die  es  onterläfst,  den  Besttmmungen  dieses  Gesetses  nadun» 
kommen,  soU,  nach  Venuteilung  im  sammariscben  Verfahren*),  flir  einen  ersten  Vei^ 
Stöfs  zu  einer  Bnfse  von  nicht  fiber  drei  Pfund,  and  einen  xwdten  oder  folgenden 
Verstofs  su  einer  Bufse  von  nicht  weniger  ab  ein  Pfund  und  nicht  mehr  als  fttaf 
Pfund  anzuhalten  sein. 

3.  Dieses  Gesetz  soU  am  ersten  Tage  des  Januar  eintausendncunhundeit  in 
Kraft  trricn. 

4.  l>iest  s  Gesetz  soll  als  zu  den  Gesetzen  von  1892  bis  1895  über  die  Laden- 
Stunden  gehörig  verstanden  und  gedeutet  werden  und  mag  gesondert  zitiert  wenfan 
als  das  Gesetz  von  1899  Aber  die  Sitae  für  Ladenangestelltc  ("Seats  for  Shop 
assisUnts  Act,  1899**). 

*)  In  einer  vom  Verein  für  (freiwilligen)  friihcn  I .adcnschlufs  veranstalteten 
Ausstellung  -in<l  zweihundert  Modelle  von  hinii-r  1  .adfiitisrhen  anzubringenden 

Klipp!>itz<  i>  ausgosirllt,  darunter  viele  tAit  autonmischer  Vorrichtung.  Vier  solcher 
Sitze  sind  von  einem,  aus  Vertretern  von  I'riuzipalcD  und  Angestellten  gebildete 
Komite  pribniert  worden.  Die  Ausstellvng  erfreut  »ch  eines  regen  Besuchs  von 
GeschSIlsinhabem,  die  dort  Anschaffungen  machen. 

*)  Verhandlung  vor  einem  Polizei-  oder  Friedensrichter. 


MISZELLEN. 


Die  dsterreichiache  Gkwerbeinspektion  im  Jahre  1898.') 

Von 

Prof.  Dr.  hRXS  I  MlSCHLiiC 

in  Graz. 

f 

So  wie  wir  die  letztjährigc  Besprechung  des  Östeneicbischeii  Ge- 
werbeinspektoreobetichtes  mit  der  Mitteilung  von  der  Ernennung  des 
neuen  Zentralgewerbeinspektors,  des  Hofrates  und  diplomierten  Ingenieurs 
Frans  Klein,  einleiten  konnten,  sehen  wir  uns  genötigt  diesmal  neuerlich 

auf  einen  Personenwechsel  hinzuweisen.  Hofrat  Franz  Klein,  der  7wcite 
der  üsterrelchis«  heil  Zentralgewerbeinspektoren,  erlag  im  Sommer  1899 
einem  I.ungcnlcKien,  gegen  welches  der  rastlos  thätige  Mann  jahrelang 
angekämpft  hatte,  und  welches  ihn  schon  längere  Zeit  gehindert  hatte, 
seine  Kraft  voll  zu  ent&lten.  Dennoch  bedeutet  der  Tod  Kleins  einen 
bedeutenden  Verlust  fUr  die  Sache  der  österreichischen  Gewerbeinspektion. 
Er  strebte  eine  bedeutende  Vennehrung  der  Sprengel  und  selbständigen 
Inspektoren  an  nach  einer  in  die  Zukunft  hinein  entworfenen  zweckmäfsigen 
territorialen  Gliederung.  Durch  seine  bedeutende  Persönlichkeit  gab  er 
der  ganzen  Institution  gröfseren  Rückhalt  und  hob  deren  Ansehen.  Er 
versuchte  es  grofse  Knciueten  durch  Vermittclung  der  Inspektionsorgane 
im  giinzeu  Staat  durchzuführen  und  durchdrang  die  gesamte  Inspektions- 
thätigkeit  und  Berichterstattung  mit  kräftiger  Hand  und  einheitlichem 
Geiste.  Es  war  ihm  nicht  veistattet  seine  Pläne  zur  Ausführung  zu 
bringen»  wenn  wir  aber  nicht  sehr  irren,  so  werden  die  von  ihm  ge> 
gebenen  Direktiven  auch  für  die  weitere  Entwicklung  des  Institutes 
mafsgebend  sein.  Die  Leitung  der  Zcntralgewerbeinspektion  überging  an 
den  bisherigen  Clewerbeinsj)cktor  des  Niederösterrcif  hischen  Landbezirkes» 
der  seinen  Sitz  gleiclifails  in  Wien  hatte,  Regierungärat  Friedrich  Muhl  — > 

*)  Bericht  der  k.  k.  Gcwcrbeinspektofen  ttber  ihre  AmtstbSligkeit  im  Jahre  1898. 
Wien  1899.  Hof»  and  Stairtsdnidierei,  LXI  und  4S1  Seiten. 
ArchiT  für  aot.  G«icligebias  O.  SiMittik.  XV. 


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Mincllen. 


In  orpanisatnrisc  her  Hinsicht  sind  wieder  einige  Fohschritte  zu  ver- 
7cic  hnen.  Der  l'ciMinaistand  wurde  um  i  Inspektor  und  3  Assistenten  ver- 
raehrt ;  der  Titel  der  Assistenten  in  den  von  (iewerbcinspcktions-Kom- 
missären  umgewandelt,  wodurch  —  gemäfs  der  in  Oesterreich  gebräuch- 
lichea  buieaukiatischen  Sprachweise  —  deren  verhältDismäfsige  Selbständig« 
keit  mehr  zum  Ausdrudce  kommt;  der  Bericht  fttr  die  Bukowina  wurde 
von  demjenigen  für  Galizien  abgesondert  u.  a.  m. 

Die  Thätigkeit  der  Inspektoren  sowie  deren  Peraonalstand  ist  aus 
folgender  Tabelle  zu  entnehmen: 


  _    —         -  — 

1004 

I006 

1890 

■    0  A  A 

»893 

1090 

»897 

1898 

k.  xnspe jciiousciiBiigKc II« 

1 

3513 

5892 

9666 

10911 

II680 

tlOCT 

l>avon  oliit'"  N!(>h)ren  .... 

797 

1223 

2494 

3S35 

4698 

5251 

483a 

Arbeiter  iu  den  besuchten  He- 

228 

274 

343 

509 

518 

568 

Arbeiter  im  Durchschnitt  per 

89 

7» 

58 

4» 

46 

44 

Si 

II.  Sonstige  Amts- 

gescbäfte. 

Eialadong  zu  Kommisnonen 

104 

671 

2786 

10760 

10884 

10487 

12022 

Fälle  persönlicher  Anteilnahme 

104 

44» 

887 

2609 

a639 

2669 

Abpegfbene    schriftliche  Gut- 

1 100 

? 

y 

6070 

9450 

8740 

9075 

EntgcgengeDommene  Beschwer- 

den der  Arbeiter  .... 

100 

1359 

50*3 

5«»  7 

6742 

7913 

8040 

Erfolgreich  interveniert  in  "  „  . 

? 

.75 

4» 

35 

? 

f 

Fälle  der  Inatibpruchnahme  sei- 

tens der  Lutemebmer  .    .  . 

? 

400 

? 

2704 

2540 

2283 
■ 

2489 

in.  Personale. 

Vv'i  (1.  r  Zcntnde  

I 

I 

1 

2 

3 

9 

12 

16 

18 

«9 

18 

Zugeteilte  ini.pektorcQ  und  Rom- 

20    1  2^ 

ffluwre ........ 

_ 

_ 

8 

27 

3» 

zosanuncn 

10 

•3 

«5 

40 

45    •  48 

5» 

Es  waiL-  /u  wünschen,  dafs  die  schon  vom  Zeiittaiinsjicktdr  Klein 
j^eplante  \  crklcinerung  und  X  ermehrunj;  der  Sprengel  cneri;isch  erstrebt 
werde,  bis  deren  Zahl  mindestens  das  Doppelte  der  heutigen  ausmacht; 
ebenso  wäre  zu  wünschen,  dafs  die  Wiederbesetzung  des  Gewerbe- 
inspektorates  (ür  die  Biooenschifiahrt  möglichst  bald  erfolge,  als  Zeichen, 
dafs  dieser  Zweig  der  Inspektion  als  selbständiger  erhalten  bleiben  soll. 
Femer  würden  wir  wünscluM,  daf^  der  kiinftige  Zentralinspektor  die 
ziflfermäfsigen  Angaben  über  die  Erfolge  der  Interventionen  wieder  auf* 


Ernst  Mischler,  IMe  dstcrreickiiche  Gewcibdnspektioin  im  Jahre  1898. 

nehme,  denn  diese  sind  ein  zu  wertvoller  Mafsstab  zur  Beurteilung  der 
Leistungen  und  Leistungsfahij^^kcit  des  Institutes,  als  dafs  darauf  ver- 
zichtet werden  könnte.  Am  allerwenigsten  aber  sollte  auf  diese  Angaben 
verzichtet  werden,  solange  die  Ziffern  im  Sinken  begriffisn  oder  überhaupt 
niedrig  sind;  kein  Sachkundiger  kann  hieraus  aHein  einen  Schluft  auf  die 
Resultate  der  österreichischen  Gewerbeinspektion  ziehen,  wohl  aber  sollte 
hieraus  Anlafs  genommen  werden  zu  untersuchen,  warum  und  auf  welchen 
speziellen  (  iebieten  die  Interventionsfalle  zu  zwei  Drittteilen  ohne  Erfolg 
bleiben.  Andrerseits  kann  das  Wegla-ssen  der  Ziffern  über  den  Effekt 
der  Interventionen  leicht  zu  Misdeutungen  .Anlafs  geben. 

Hinsichtlich  des  trefflichen  allgemeinen  Berichtes  und  der  ein  „Amts- 
blatt darstellenden  Einleitung  vermögen  wir  nur  auf  das  bereits  in 
unserem  vorjährigen  Berichte  gesagte  hinzuweisen ;  ein  Beweis,  dals  der 
vorige  Zenttalinspektor  schon  bei  seinem  Amtsantritte  mit  vollständig  ab- 
geklärter Aufteung  über  die  Aufgaben  des  allgememen  Berichtes  und 
sein  \'erhältnis  zu  den  Einzelberichten  an  die  Redaktion  des  Jahres- 
berichtes herantrat. 

Die  Ziri'ern  des  Berichterstattungsjahres  scheinen  darauf  liin/iideuten, 
dafs  in  der  relativen  Verwendung  von  Frauen  und  namenilu  li  von  jugend- 
lichen Arbeitern  überhaupt  ein  gewisser  Niveaustand  bald  erreicht  sein 
werde. 


1884 

1893  j 

1897 

1898 

Auf  icxx>  Hillsarbeiter  der  .• 

t>esacbtea  UnteraehmuDgeD 

297 

278 

Unter  16  Jahre  alte  Arbeiter.  . 

«5 

75 

61 

60 

Dagegen  scheinen  die  Angaben  über  die  gesetzwidrige  Verwendung 
von  Kindern,  Jugendlichen  tmd  Frauen  zu  lehren,  dafs  noch  nicht  alle 
Fälle  zur  Kenntnis  der  Auftichtsorgane  gelangt  sind,  resp.  in  zunehmen- 
der  Weise  zu  deren  Kenntnis  gelangen. 

(Sir  lir  d'w  unistchende  Tabcllr.) 
Gelegentlich  der  Darstellung  dtr  Arbeitszeit  in  den  l)esu(hten 
fabriksmäfsigen  Betrieben,  wofür  ein  längerer  Zeitraum  allcrdmgs  noch 
nicht  vorliegt,  wird  auch  den  Veranlassungen  der  Herabsetzung  der  Ar- 
beitszeit Beachtung  geschenkt,  und  es  zeigt  sich  da  allerdings,  dafs  wohl 
in  grofsem  Mafse  die  ungünstige  Geschäftslage  zu  Grunde  lag  imd  nur 
weit  seltener  Bestrebungen  der  Arbeiter  oder  freie  Entschliefsungen  der 
Unternehmer.  Es  wäre  aufserordentlich  dankenswert,  wenn  die  Auf- 
aichtsorgnne  in  jedem  einzelnen  Falle  die  Ursache  der  Wikvir/ung  der 
.^rbeilsz<•it  konstatieren  und  dieselben  übersichtlich  darstellen  würden ; 
hieraus  konnte  möglicherweise  eine  ganzlich  unerwartete  Aufklärung  her- 
vorgehen. 

17» 


20p 


Mi&^cUen. 


WId«rgM6taUche  V«r- 

1896 

1897 

1898 

!•       ICnil»  DriKSmiilSlgC 

Betriebe. 

Kinder  tunter  t»  Jahren 

3 

3 

»3 

4 

27 

20 

75 

95 

Kinder  von  12-14  Jahren 

89 

4 

93 

»aS 

3 

127 

106 

13 

138 

Zur   NachUfit  verwendete 

Jugendliche  

365 



363 

166 

166 

»34 

33 

167 

zusammen 

457 

4 

461 

314 

6 

320 

260 

120 

380 

n.  Fabriksmlfsigc 

Betriebe. 

1 

junder  miter  is  juuen 

»3 

1 1 

24 

27 

63 

89 

Kinder  von  12— 14  Jahren 

78 

48 

126 

»57 

167 

324 

228 

393 

Jugendlicli'-  Hilfsar1>«'if<T 

16 

6 

22 

3 

2 

48 

19 

67 

Zur    NachUeit  verwendete 

Jugendliche  und  Fntnen . 

4 

'55 

104 

182 

286 

52 

267 

319 

/.u^.unmcn  .    .  . 

98 

205 

303 

276 

360 

636 

355 

5«3 

868 

Totale  .... 

jsss 

1  209 

1  764 

590 

366  j  956 

615 

1  633  [1348 

Effektive  Arbeitszeit  in  den  besuchten  fubrik&mäf&igen  betrieben. 


Betriebe 


Arbeits- 
zeit 
in 

Stunden 

überhaupt 

Textil- 
industrie 

Industrie  la 
Nahrung--- 
und  Ueaui'--- 
mittclu 

Inilristrir  in 

Slriiirii, 
Krdc,    1  hon, 

Glai 

Kr/Ftigung 
villi  Ma«chi- 
nen,  App:»- 
raten  und 
Transport- 
mitteln 

Metall- 
industrie 

1897I  1898 

1897 

l8qS 

1897 

1898 

1807 

1898 

1897 

1898 

1897 

1898 

2 

~  1 

2 

_ 

8 

»5 

8 

2 

1 

1 

1 

3 

1 

_ 

8«t 

6 

6 

._  1 

I 

3 

9 

1 10 

202 

8 

5 

■  1 

1 

13 

/ 

12 

4 

9 

9»/. 

125 

183 

5 

10 

5 

lö 

H 

32 

38 

43 

10 

901 

1017 

74 

109 

03 

119 

114 

216 

210 

153 

206 

10»/« 

14 

I 

1 

41  - 

10',.. 

627 

7S7 

92 

156 

471 

67 

133 

»«3 

5« 

5» 

70 

112 

48 

2  ' 

3 

16 

1 1 

2002 

1974 

804 

!f' 

231 

271 

310 

2'2'J 

93 

54 

89 

140 

1 1  \e 

432 

456 

429. 

337 

9 

2 

31 

13 

156 

90 

8 

3 

13 

25 

42 

16 

zusamm.  I4473 ')4723|  1042  1015 

778 1 

752 

öoo 

526 1  403 

i  36s 1  40» i  557 

*)  In  der  Pablikatioa  inrtOnltch  4736. 


L^iijui^c^  L,y  Google 


Ernst  Mitchler,  Die  österreichiscbe  Gewerbeimpcktion  im  Jahre  1898.  261 


Jedenfalls  ist  es  notwendig  die  rutersuehung  über  die  Arbeitszeit, 
ihren  Wechsel  und  dessen  Ursachen  iuk  Ii  Iktriebsgruppen  und  Be- 
schäftigungsarten zu  spezialisieren.  Der  vorliegende  Bericht  tbut  dies 
bereits  biosichtlidi  der  Keisdwflrtor  und  ihrer  ganz  besonders  ungfinstigen 
Verhältnisse  in  dankenswerter  Weise.  Recht  beachtenswert  ist  der  bei 
diesem  Anlasse  gemachte  Vorschlag  eines  Berichterstatters,  Ueberstunden 
nur  zu  bewilligen,  wenn  hiedurch  keine  Ubermäfsige  Belastung  der  Kessd« 
Wärter  erfolgt.  Eine  gröfsere  Praecision  möchten  wir  dagegen  immer  noch 
hinsichtlich  der  l^ebcrtretungen  der  Bcstimraunc^en  ülier  die  Arbeitszeit 
wünscheil :  es  tlurfte  auch  hier  in();:lich  sein,  nach  Gcwerljsgruppcn  und 
Ländern  die  Zahl  der  übertretenden  Betriebe  nebst  den  in  Betracht 
kommenden  widerrechtlichen  Arbeitsstunden  und  den  davon  betroffenen 
Arbeitern  ebenso  festzustellen,  wie  es  schon  jetzt  beztiglich  der  berech- 
tigten Verlängerung  des  gesetzlichen  Arbeitstages  der  Fall  ist.  Die 
Ueberstundentabelle  des  heurigen  Berichtes  ergiebt  für  1898  gegen  1897 
ein  beträchtliches  Anwachsen  der  Ziffern  ungeachtet  der  ganz  allgemeinen 
Kinnen  aller  Berichte  über  eine  Depression  der  (leschäfte.  Allerdings 
schein!  aurh  liier  das  Anwachsen  der  Ziffern  dem  bereits  erwähnten 
Unistande  zuzuschreiben  /.u  sein,  dafs  die  Inspektoren  dieser  Darstellung 
stetig  intensivere  Aufnu  1  ksainkcit  /uu  enden. 


7üh\  der  Betriebe  mil  Ucl>er- 

itmidcn. 
mie  von  Ueberstunden  gegen 

Bewilligung  

Fälle  von  Uebentanden  g«gen 

Anmeldung  

Arbdter  in  den  Betrid>en  mit 

Ueberstmideii  in  looo  .  .  . 
Zu  Urberstanden  herangesMgene 

Arbeiter  in  looo  .  .  .  . 
ZalU  der  Ueberzeit-Arbeitstnnden 

in  1000   

Uebendt  auf  (ii)Staiidciitage 

reduziert  in  iocx>  .  .  .  . 
VebfTArit  auf  Arbeiter  mit  300 

Arbeitstagen  reduziert  .    .  . 


Gesamte  Betriebe 

1S92     1894  ,  1897  1S98 


518 


I 


543 


638  I  765 


57 


I 


577 


470 

640  i  754 

169  ,  2^3 
I 

109  >  139 

34  .  44 

—  ;  i960  2O13 

—  \  178  I  258 

—  594  79» 


_,  .,  von  Ma-  „ 
T««h|.    ,^,,i„^„^  Metall. 

raten  ,  *"* 

«c. 

189$      1S98  1898 


strie 


223 

I 

a8s  I 

»15  I 

50  i 

I 

16  1 

I 

l^i  1 


I 


71  \  7« 


74 
116 


\ 

85 

14» 

I 

29  I  33 
»7  I  30 

10  I  5 

I 

776  340 


31 


237  j  235  , 


Wenngleich  behördlirbe  Ausweise  hier  vorliegen,  so  dürften  doch 
Zweifel  an  deren  Vuüständigkeit  gestattet  sein.    Allerdings  kann  auch 


uiyiii^od  by  Google 


262 


eine  gröfserc  Inanspruchnahme  der  l'eberstunden  mit  einer  ungünstigen 
Gesch&ftsUlge  verbunden  sein,  weil  in  solchen  Zeiten  die  ArbeiteD  häufig 
sprun'jweise  ausgeführt  werden  und  der  Uiitornchmer  eher  zu  einer  zeit- 
weisen Hetriebseinstellung  emcrscits  und  l'ebeistuiulen  andrerseits  greift, 
als  zu  einer  dauernden  Herai tsei/ung  der  Arheits/eit.  Leider  steht  aber 
diesem  momentan  auftretenden  Bedürfnisse  nach  Ueberstunden,  die  viel 
ZU  lange  (3  wöchentliche)  Frist  entgegen,  welche  den  Landesbehörden 
(Ür  die  Erledigung  solcher  Gesuche  eingeräumt  ist. 

Aus  den  Bemerkungen  zu  den  einzelnen  Abschnitten»  in 
welche  üblicherweise  die  Darstellung  zcrrallt,  sei  folgendes  hervorgehoben. 

Die  Beschreibung  iler  Hesi  halTenheit  und  Kii,ri<  htung  der  Wohn- 
stiilten ist  im  allgemeinen  sehr  cin<:ehend  abir  vorwiegend  vom  tech- 
nischen Standpunkte  aus  gelialten.  Bemerkenswert  und  ganz  zutreffenrl 
ist  der  Wunscii  nach  zeitlicher  Steuerfreiheit  für  neue  gute  Betnebsanlageii 
an  Stelle  schlechter  alter.  Alle  die  Bemerkungen  über  die  mangelhaften 
Wohnungszustände  in  Kleinbetrieben  scheinen  nach  der  Einführung  von 
Wohnungsinspektoren  geradezu  hinzudrängen»  denn  den  m  Böhmen  an^ 
gewendeten  und  im  Gewerbeinspektürenlx'richte  als  den  besten  gerühmten 
Weg  „die  Inspektion  der  klcingewerhlichen  Betriebe  durch  die  (Jewerbe- 
bebörde  unter  Mitwirkung  der  lUvirk^arzte  und  der  (n'wer!»einspektorate 
und  utuer  Beiziehung  von  \'ertretein  der  beteiligten  ( iemenulL  11  und  Ge- 
nossenschaften'' wird  in  seiner  Schwerfälligkeit  doch  memaud  ernst 
nehmen  wollen. 

Die  Einführung  einer  Anzcigeptlicht  bezüglich  der  Berufskrankheiten 
bezüglich  ,^llcr  solcher  Erkrankungen,  deren  Ursache  unzweifdhaft  in  der 
g^erbüchen  Thätigkeit  der  Betroffenen  zu  suchen  ist"  —  ein  Wunsch 
einzelner  Berichterstatter,  denen  sich  der  allgemeine  Bericht  anschliefst 

—  müfste  derzeit  wirkungslos  bleiben ;  ist  es  doch  noch  immer  nicht 
möglich  die  Anzcige{)tlit  ht  bei  den  wenigi-n  Krankheiten,  bei  denen  sie 
heute  schon  bi'steht ;  durchzusetzen:  wo  ilie  Orirane  zur  Ausfühnnig  fehlen 
und  die  Kontrole  nicht  hinreiciit,  mufs  der  Ktlekt  ausbleiben.  Tappen 
wir  doch  auch  hinsichtlich  der  Bewegung  der  Un&lteziffem  noch  immer 
am  dunkeln.  Der  allgemeine  Bericht  steht,  und  mit  Redit  auf  dem 
Standpunkte»  daCs  die  alljährliche  Zunahme  der  Zahl  der  UnföUe  auf  die 
bessere  Eruierung  zu  schreiben  sei,  konstatiert  übrigens»  dais  die  Steige« 
rung  nunmehi  in  ein  gleichmäfsigeres  und  langsames  Fahrwasser  geraten 
ist,  während  die  'rodesfülle  durch  Unfälle  sogar  schon  im  Rückgang  be- 
griffen sind.  Allgemcnie  l'rteile  daraus  zu  schöpfen  ist  derzeit  noch 
unmöglich.  Der  Gewerbeinspektor  ^leht  da  vor  einer  ebenso  schwierigen 
wenn  nicht  unmöglichen  Sachlage,  wie  dann,  wenn  er  Urteile  tiber  das 
Einleben,  die  Wirkungen  etc.  der  sozialen  Versicherung  abgeben  soll. 
Seine  Urteile  könnten  nur  auf  allgemeinen  Eindrücken  beruhen  und 
entbehren  einer  greifbaren,  sicheren  Unterlage :  das  .Arbeitsfeld  der  Ge> 
Werbeinspektoren  liegt  da  vielmehr  auf  dem  Gebiete  der  in  dieser  Hin« 


^  ij .  .-Lo  Ly  Google 


Ernst  Mi  sc  hier.  Die  fisterreichische  Gewerbeinqpektion  im  Jahre  1898.  265 

siclit  bekannt  werdenden,  häufig  typischen  Ein/eirälle  von  Wünschen, 
Klagen  und  Beschwerden,  die  bezüglich  der  sozialen  Versicherung  laut 
werden. 

Die  detzeitigen  gewerberechtlichen  Bestimmungeii  über  Piusen» 
Ueberstunden,  Sonntags-  nnd  £rsatzruhe  treffen  noch  nicht  das  riditige, 
wie  die  sowohl  von  Seiten  der  Arbeitnehmer  ab  auch  von  jener  der 
Arbeitgeher  ausgehenden  Klagen,  femer  der  passive  oder  offene  Wider- 
stand und  die  oft  totale  ^'crständnislosigkeit  gegenüber  so  manchen  An- 
wcndungsfällen  andeuten.  Dies  kann  nicht  Wunder  nehmen,  da  die  all- 
gemeinen Grundlagen  der  Geset^gebung  schwanken.  Die  Vorschrift 
über  die  Sonntagsruhe  bindet  nicht  nur  die  Hilfsarbeiter  sondern  auch 
den  Unternehmer;  sie  ist  ganz  vomehmtich  religiöser  Horkuoft  sowie. 
Tendenz  und  nichts  anderes,  als  die  legislatorische  Sanktionierung  des 
dritten  Gebotes  mit  dem  schon  in  diesem  enthaltenen  sozialpolitischen 
Nebeneftekte.  Der  Ersatzruhclag  dagegen  bezieht  sich  nur  auf  die 
Hilfsarbeiter  und  auf  das  so7:ial[>olitische  Moment ;  er  kann  sonach 
nur  von  der  Erwägung  ausgehi-n,  dafs  den  Arbeitenden  in  gewisser 
Wiederkehr  ein  F.rholungstag  et  Im  dcrlich  sei.  Diese  Erwägung  setzt 
aber  den  Gedanken  der  kontmuierlicneu  Arbeit  voraus  und  wird  bei  be- 
fristeter Arbeit  mit  vo^ehender  oder  nachfolgender  unfreiwilliger  oder 
freiwilliger  Mu&e  hinfällig.  Die  Sonntagsruhe  ist  in  dem  rel^itisen  Kerne, 
d.  h.  in  der  Ausdehnung  auf  die  gewerbliche  Arbeit  überhaupt»  selbst 
innerhalb  jenes  Gebietes,  welches  von  den  gesetzlich  festgelegten  Aus- 
nahmen nicht  durchbrochen  i.st,  undurchführbar;  so  arbeitet  z.  B.  (Bericht 
über  Niederösterreich)  ein  Schuster  fast  au.sschliefslich  für  Arbeiter, 
welche  ihr  Schuhwerk  über  Sonntag  reparieren  lassen  müssen,  da  sie 
nur  ein  Paar  Schuhe  besitzen  —  allerdings  direkt  gegen  das  Gesetz, 
aber  wer  vennöchtc  dasselbe  hier  auch  anzuwenden  ?  Der  Ersatzruhetag, 
der  naturgemäfs  im  Interesse  des  Arbeiters  liegt,  die  Erhaltung  seiner 
körperlichen  Rräite  gewährleistet  und  ihm  Mufse  gewähren  soll,  ohne 
den  normalen  Gang  des  Unternehmers  zu  schädigen,  darf  nicht  den 
Kffekt  haben,  dem  Arbeiter  zu  schaden,  oder  das  Gewerbe  vor  eine  un- 
mögliche Betriebsführung  zu  stellen  Beides  ist  aber  heute  häufig  der 
Fall.  Auch  die  Pausenvorschriften  I  ctlurfen  ebenso  wie  jene  bezüglich 
der  Ueberstunden  einer  Rcvisioti ;  wenn  z.  15.  wie  schon  oben  bemerkt 
wurde,  die  politische  Landesbehörde  sich  drei  Wochen  Zeit  lassen  kann 
um  ein  Uebmtundengesuch  zu  erledigen,  so  »t  damit  die  Ausotttzung 
momentaner  Konjunkturen,  die  eben  die  Grundlage  der  Ueberstunden 
bilden,  häufig  unmöglich  gemacht  Sollen  in  allen  diesen  Dingen  der 
Arbeitszeit  die  B^riffe  der  Pflicht,  moralischen  Verantwortlichkeit; 
Pflichtverletzung  und  Strafe  sich  einleben,  dann  mufs  noch  sehr  an 
diesen  Vorschriften  gefeilt  werden ,  wobei  es  allerdings  unerläfslich 
ist,  die  sozialökonomischen  und  sozialcthischen  Gründe  dieses  Spezial- 
gebietes des  Arbeiterschutzrechtes  erst  zu  legen.    Auch  scheint  die 


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264 


Miszellen. 


Formulierung  solcher  Vorschriften   ohne  eine  vorhergehende  genaue 

Enquete  kaum  möglich  zu  sein. 

Von  fjrofsein  Interesse  ist  die  FraL^c  der  Kundigungfrist.  Ich  habe 
von  Anfan«:  an  gelegentlich  dieser  Iirsjirechiingen  den  Siandj)unkl  einge- 
nommen, dals  die  küiidigungsluse  soloriige  Lüsung  des  Arbeitsverhält- 
nisses von  so  schwerwi^nden  individtial>  und  sozialwirtschafUichen 
Nachteilen  begleitet  ist,  und  dafs,  sie  gesetzlich  als  gewisse  Reget  zuzu- 
lassen, als  schwerer  Fehler  zu  bezeichnen  ist  ^in  wie  zweischneidiges 
von  momentanen  Kräfteabmessungen  a])hängiges  Kampfmittel  die  sofortige 
Lösungsmögliclikeit  darsti.  llt,  ;,'eht  daraus  hervor,  dafs  vor  Jahren  die 
Arbeiter  auf  möglichst  kurze  Kündigungsfristen  resp.  den  Wegfall  solcher 
Gewicht  legten,  während  dies  heute,  ganz  im  (legensatz  zu  deren  ge- 
änderter Ansicht,  die  Unternehiuer  thun.  Nunmehr  ist  in  dieser  Hinsic  ht 
eine  neue  Komplikation  aufgetreten,  welche  in  einen  Zwiespalt  der  \'er- 
waltimgsgerichtsbarkeit  und  der  Gerichte  resp.  der  neuen  Gewerbegerichte 
ausläuft.  Bisher  stand  die  Verwaltung  auf  dem  Standpunkte,  dafs  die 
ArbeitsOTdnung  den  Arbeitsvertrag  enthalte  und  die  stillschweigende  Ein» 
i'^i-ung  des  Arbeiters  durch  dea  Antritt  der  Arbeit  vorauswisctien  sei. 
Nun  aber  stehen  die  neu  errichteten  Gewerbegerichte,  ebenso  wie  die 
Bezirksgerichte,  auf  dem  ganz  anderen  Stand] >unkte,  dafs  die  Einwilligung 
des  Arbeiters  mir  vorliege,  wenn  sie  besonders  zum  Ausdrucke  gebracht 
wird,  dafs  dagegen  ein  stillschweigender  Konsens  nicht  anzunehmen  sei. 
Wenn  daher  —  und  dies  ist  ein  häufigerer  Streitfall  —  die  Kündigimgs- 
irist  durch  die  Arbeitsordnung  ausgeschlossen  erscheint,  so  entscheiden 
die  Adnunistrativbdiörden,  dafe  das  ArbeitsverhSitnis  beiderseits  sofort 
ohne  Kündigung  geUlst  werden  könne,  während  die  Gerichte  in  diesem 
Falle  • —  weil  die  Arbeitsordnung  ohne  spezielle  Annahme  unverbindlich 
ist  —  die  Hestimmung  der  Gewerbeordnung  betreffend  die  i4tägige 
Kündigungsfrist  als  mafsgebend  ansehen.  Bei  der  gänzlich  verfehlten  Hal- 
tung der  österreichischen  Gewerbeverwaltung  gegenüber  dieser  wiclitigen 
Frage  der  Kündigungsfrist,  auf  welche  ich  schon  in  den  früheren  Be- 
sprechungen an  diesem  Orte  nachdrücklich  hingewiesen  habe,  war  ein 
derartiger  Konflikt  «wischen  Administration  und  Judikatur  unausweichlich. 
Nun  soll  aber  jemand  im  Volke  verstehen,  dals  zwei  Staatsbehörden  auf 
Grund  desselben  Paragraphen  zu  einer  direkt  entgegengesetzten  Ansicht 
gelangen  können  1  Hier  wird  wohl  die  Administration  vor  der  Judikatur 
zurückweiciien  müssen,  so  lange  bis  die  alle  Konflikte  lösende  legislative 
Gewalt  neue  (inimllagen  schafft. 

Das  Lchrlingswesen  ist  ein  sehr  wunder  Punkt  unseres  Arl^eiter- 
schutzes,  weil  der  letztere,  bis  zur  Schaft'ung  neuer  gesetzlicher  Grund- 
lagen der  Lehrlingssüchterd  in  Fabriken  ohnmächtig  gegenüber  steht 
Für  den  Unternehmer  liegt  eine  Verminderung  der  Gefahr,  im  sozialen 
Kampfe  einer  gesdilossenen  Gehilfenorganisation  gegenüber  lu  stehen, 
darin,  Lehrlinge  in  grofser  Zahl  su  verwenden.   Wir  kennen  die  Be- 


uiyiiizeo  Dy  Google 


Lrnst  Mise  hier,  Die  csterrc-ichisthc  ücwerbcinspektion  im  Jahre  ibgS.  265 


Strebungen  nach  WiedereinfUhniog  von  Lehrlingsprüfiingen,  wie  sie  hier 
und  da  gemeldet  werden,  ebenso  wie  die  Verlegung  der  Fortbildungs- 
kurse von  den  Abendstunden  auf  Tagesstunden;  dies  ist  nicht  nur  mit 

Rücksicht  auf  die  besseren  Lchrcrfolge  im  allf^eraeinen  zu  befürworten, 
sondern  auch  doshalb,  weil  in  noanchcn  Gewerben  die  Arbeit  hauptsäch- 
lich abends  vor  sich  gehl.  — 

In  der  Reihe  der  Berichte  ersciieint  diesioal  ein  neuer,  nämlich 
jener  fUr  die  Bukowina.  Man  verstdit  die«  ich  möchte  sagen  tempera- 
mentlose und  resignierte  Haltung  des  sonst  guten  Berichtes  angesichts  des 
Umstandes»  dafs  von  einer  Einhaltung  der  Gewerbeordnung  speziell  des 
Arl)eitss<  hut/cs  in  diesem  Lande  sehr  wenig  die  Rede  ist.  Xur  scheint 
es  als  ob  der  Bericht  den  eigenartigen  konfessionellen  Verhältnissen  nicht 
Rechnung  trafen  würde.  Cicht.  wie  wir  gesagt  hril)en,  die  Sonntagsnihe- 
l)estimmung  in  erster  Linie  vom  reiifriösen  Gesichtspunkte  aus,  so  niufs 
sie  dort  wesentlich  beeinflufst  werden,  wo  nicht  der  ganz  vorwieueml 
christliche  und  speziell  katholische  Charakter  der  Bevölkerini^  zu  Tage 
tritt,  sondern  eme  in  strenges  altjttdisches  Formelwesen  eingeengte  Be- 
völkerung wohnt,  wo  die  Arbeiterschaft  sich  aus  ihr  ganz  oder  teilweise 
rekrutiert  und  sogen,  konfessionell  jüdische  Gewerbe  bestehen.  Dies 
wirkt  hier  abändernd,  wobei  zu  entscheiden  ist,  in  wieweit  auch  den 
religiösere  Anforderungen  der  christlichen  Bevölkerung  Rechnung  getragen 
werden  soll. 

Der  Bericht  des  Binnenschit^'ahrtsinspektors,  weU  iier  nur  nebenbei 
als  öpezialgewcrbeinspektor  fiir  das  Binnenschiffergewerbe  fungiert,  leidet 
selbstverständlich  durch  diese  Aemterkumulierung ,  und  es  wäre  die  Er- 
nennung eines  neuen  Gewerbeinspektors,  wie  nochmals  betont  werden 
soll,  fttr  diesen  Betriebszwdg  nunmehr  doch  schon  erforderlich. 

Der  Bericht  des  Gewerbeinspektors  für  die  öffentlichen  V'erkehrs- 
anlagen  in  Wien  birgt  wieder,  angesichts  der  Möglichkeit  einer  höchst  ein- 
gehenden In.spektionsthätigkeit  des  Interessanten  in  Hülle  und  Fülle  und  es 
sei  —  da  gegenüber  dein  zentralisierenden  Charakter,  der  seit  uenigen 
Jahren  in  dem  österreichischen  Gewerbeins|)ekt<)renl)eru  hu  /u  Tage  tritt, 
und  welcher  auch  zur  Folge  hat,  dafs  Monograpiiien  u.  dgl.  nicht  auf- 
genommen sind,  zur  Mitteilung  lokaler  Besonderheiten  kaum  ein  Anlafs 
vorliegt  ~  gestattet,  hier  mit  ein^  Statistik  der  Wohnungsverhältnisse 
der  Arbeiter  der  Wiener  Verkehrsanlagen  zu  schliefsen,  welche  sich  aus 
den  Berichten  der  letzten  fünf  Jahre  berechnen  läfst  und  die  wichtigen 
Verhältnis.se  der  Schlafleute  betrifft.  Dem  Inspektor  der  Wiener  Ver- 
kehrsanlagen geljidirt  für  seine  unausL^esetzten  Beobachtungen  in  dieser 
Hinsicht,  die  er  hottentlich  weiter  fortsetzen  wird,  der  beste  Dank. 


266 


MistelleiL 


Wohnungsverhältnisse  von  Arbeitern  bei  de n  W ieaer  Verkehrsan 

in  den  Jahren  1894 — 1898. 


Anzahl  der  Schlafleutc  in 
einem  und  demselben 

Wölitir.uiin»- 


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27.03 

13.65 

190 

59,16 

«1,83 

61 

28.16 

7,04 

5>4 

SI.84 

8,64 

85 

«0^8 

15,12 

346 

46.62 

»5.S4 

211 

70,72 

7,07 

492 

29.25 

9.75 

435 

124.02 

7.30 

712 

y 

? 

? 

? 

? 

? 

35.8 

17,90 

174 

32.2 

i".70 

387 

66,2 

6,60 

,787 

«1,3 

7,00 

!743 

42,0 

14,00 

9 

2  Maurer  

I  Handlan^r  

4  Handlanger  

1  Handlaogcr  

4  Maurer  

3  Handlanger .  •  .  .  . 
10  Frdarbeiter  

3  Maurer  

17  Maurer  ...... 

6  Maurer  

2  Vorarbeiter  

2  Erdarbeiter  

3  Hnn<Il.\nger  und  Maurer 
10  Maurer  

3  Zimmerleute  .  .  .  . 
1  Handlan]i[er .    .    .    .  . 


36  Frdarbr-it.  r  

O  Krdarbciter  

0  Erdarbeiter  .  .  ,  .  . 
5  Handlanger  

10  Maurer  

8  Maurer  und  Handlanger 
4  Maurer  

1  Handlanger  

4  Maurer  

2  Maurer  

9  Erdarbeiter  u.Handlanger 

3  Erdarbeiter  

t  Kniarbeiter  .     .    .    .  . 
12  Maurer  und  Handlanger 
2  1  landlanger  

4  Haiulhinj^er  

2  Handlanger  

2  Maarer  

2  Maurer  

1  Zimmermann    .    .    .  . 

I'  i  U  c  n  m  i  c  t  e  r. 

i  Tischler  mit  Frau  und 
I  Rind  


[  Handlanger  samt  Frau  u. 

2  Kindern  und  .  .  . 
2  Bctlgchcr  im  Ziouner  . 
t  Bettgeher  in  der  KDche 

1  Wächter  samt  Frau  und 

2  erwachsenen  Kindern 
im  Zimmer  .    .    .  . 

2  I'i  tt;.:' Iir  r  im  Kabinct  . 
2  Ikltgeher  in  der  KUcbc 


50 
70 
70 
80 
100 


Ii 

2! 
4| 

2      60 —  70 

7  I)  60—70 

j 
17 
6 
2 


1 

3 
10 

3 
I 

•"')  9' 
6, 

51 
10! 

5 1 
2 

»1 
41 


80 

100 
100 
125 

60 
80 
106 
100 
100 

40 

40 

70 

50 
70 

70 
So 

50 

100 

100 


5 
2 


70 

100  i 

I  IfXJ 

8  ')7o— 100 

75 
60 
60 
100 
100  j 
100 


I 

2 
1 

2 


52,0 

36,4 
145,6 

41,6 

208,0 

99.0 
348.0 
124.8 
884.0  (') 
362,0  (•) 
130.0 

62,4 

124,8 

520,1 

IS«.3 

52,0 

748,8 
187,2 
218,4 

130,0 
304.0 
291,2 
166,4 
26,0 
208,0 
104.0 

327,6 
156,0 

52,0 

530.4 

78.0 
124,8 

62,4 
104,0 
104.0 

5»iO 


188,1 

49.3 

26,6 

27,3 
84.2 

86,1 

31.5 
24,2 

76,4 
32,0 

75t6 
33.6 
26,9 
ti2,o 
«4*6  j 
75.6 
35.6 
86,1  [ 

33.7  . 
32.3^ 

1 


5.47 
4,43 
5.46 
8.42 

24.  19 
10.  I  1 
iO,00 


380 

821 
476 

43« 

528 
"107 
272 

3-5 


8,40  '  433 
6,72  I  464 

26, SS  '  193 

9,33 
6,16 

10,80 

17,82 

2>.53 
16,83 

32,38 


474 
316 
16^ 

»75 
120 

309 
160 


I 


")  143  j  74,4 

•)  288  1 50,0 

80  I  83,2 

80  '  41,6 


1  36.9 

1}  59^ 
'  28,8 


')4i5 

100 

75 


216.0 
104,0 
78.0 


12,32 

9.90 
28,87 

67,2  j  16,80 
22,41  11.20 
31,4 1  15,68 


201 

253 
«44 


465 
248 


')  Zur  alkini4;<ii 
Benutndig. 

^,  In  demsrl'"'- 
Wohnräume  scfaktce 
noch  andere  Persona. 

')  Je  nachdem,  l'2 

1  oder  2  Personen  i 
Bett  benUKB. 

*)   Daselbst  nodi 

2  Personen. 

^)  i>trobsäcke  uit 
dem  Fufsboden. 

*)  Finr  Strohjchat- 
tung  auf  dem  Vn* 
boden. 

')  1  Kabinet,  Mirt- 
xins  6,ao  Fl.  mowt* 
lieh. 

Mietfins  aaf  die 

Woche  berechnet. 

")  Wohnung 
stehend  aus  ZiDioee 
imd  Küche,  Monat»' 
zins  12,50  Fl. 

Wohnung  '  " 
stehend  aus  ZininK: 
Rabinet  und  iwiicbf. 
Monatssins  18  FL 


Die  Hugo  Heimann'sche  öffentliche  Bibliothek  und 

Lesehalle  in  Berlin. 

Vom 

Dr.  WILHELM  PASZKOVVSKI. 

in  Berlin. 

Während  dem  Volksschulwesen  m  Deutschland  von  Staat  und  Ge- 
meinden die  anerkennenswerteste  Fiirsorjje  zu  teil  wird,  wird  der  weiteren 
llildung  der  gröfsi  ron  Massen  des  Volkes  über  das  schulpflichtige  Alter 
hinaus  nicht  die  gleiche  Sorgfalt  /ugcwendet.  So  ist  es  denn  oft  mit 
Recht  bemerkt  worden,  dals  gerade  nach  dem  Verlassen  der  Schule  die 
durch  laDg)ährigen  Unterricht  erworbenen  Kenntnisse  rasch  verloren  gehen, 
und  dafs  das  Niveau  der  Volksbildung  den  Air  den  Jugendunterricht  auf- 
gewendeten grofsen  Mitteln  nicht  entspricht  Abgesehen  davon,  dafs  das 
Erwerbsleben  unsere  niederen  Volksschichten  völlig  in  Anspruch  nimmt 
und  ihnen  nur  verschwindend  geringe  Zeit  fiir  geistige  Erfrischung  und 
F,rho!nn[r  nbrigläfst,  fehlt  es  auch  bislani:  ;hi  den  geeigneten  Bildungs- 
stätten, Wo  jene  Erholung  ohne  grofsen  Kostenaufwand  gesucht  \\rr<len 
konnte.  Im  Auslamle  hat  man  vielfach,  in  der  richtigen  Erkenntnis 
dafs  gerade  dem  reiferen  Alter  eine  weitere  Möglichkeit  geistiger  Fort- 
bildung zu  gewähren  sei.  Bildungsstätten  roaimigfacbster  Art  errichtet, 
wo  jedermann  ohne  Kosten  und  ohne  erschwerende  Förmlichkeiten 
seinem  Bitdungsdrange  nachgehen  kann.  Es  ist  oft  darauf  hingewiesen 
worden,  wie  in  dieser  Beziehung  besonders  England  und  Amerika  in 
ganz  hervorragendem  Mafse  sich  die  Fortbildung  der  breiten  Massen 
angelegen  sein  lassen.  Die  Ausdehnung  des  Universitätsunterrichts  (Uni- 
versity-Extension),  jene  Bewegung,  die  die  Kluft  zwis(  hcn  fk-lnldeten 
und  Ungebildeten  uberbrücken  helfen  will,  ist  englischen  Ursprungs  und 
hat,  nach  Amerika  verpflanzt,  besonders  dort  die  weitgehendsten  segens- 
reichsten Folgen  für  die  Bildung  und  Gesittung  der  weitesten  Kreise  ge- 
habt, sumal  da  sie  hier  vielfach  an  die  Stelle  der  vernachlässigten 
Jugendbildung  trat   Städte  und  vor  allem  auch  begüterte  Bürger  wett- 


268 


Miszellcn. 


eifern  drüben  in  dem  Bestreben  nadi  Stiftung  von  Bildungsinstituten. 
Zu  den  vornehmsten  Bildungsstätten  für  ein  Volk  gehört  ohne  Zweiföl 
eine  wohl  eingerichtete,  gut  verwaltete,  und  in  anspreclienden  Räumen 
untergebrachte  Bibliothek.    Sie  kann  dein  nach  des  Tages  Last  und 

Mühen  Krs«  licpftcn  und  besonders  dem.  der  daheim  nicht  einmal  einen 
bescheidenen  Kaiun  sein  eigen  nennen  darf,  eine  wahre  Statte  der  Er- 
holung werden,  ihn  vor  der  Fhicht  ins  Wirtshaus  scluttzen  und  in  ihm 
das  beglückende  Gefühl  erzeugen,  auch  Teil  zu  haben  an  den  unver- 
gänglichen geistigen  Gtttem  der  Menschheit,  zu  schöpfen  aus  dem  immer 
sprudehiden  und  erfrischenden  Quell  geistigen  Lebens.  Aber  während 
in  England  und  Amerika  fast  jede  Stadt  von  Bedeutung  ihre  gröfsere 
Bibliothek  mit  Lesehalle  besitzt,  sind  bei  uns  erst  s(  huarhe  Ansätze  einer 
solchen  „BibÜotheksbewegung"  zu  merken.  Selbst  der  deutschen  Reichs* 
haiiptsta(h  fehlt  es  noch  an  einer,  dem  Bildungsliedürfnis  der  jjrofsen 
Bevölkerunt;  entspre(  hen<len  grofsen  Volksbibhoihek.  Denn  die  27  \'olks- 
bibliotheken  der  Stadl  Berhn,  denen  sich  neuerdings  wictler  eine  erfreu- 
liche Fürsorge  seitens  der  Bürgerschaft  zuwendet,  gcuu^^en,  so  segens- 
reich sie  auch  im  einzelnen  wirken,  schon  darum  nicht  dem  Bedürfnis, 
weil  ihnen  fast  allen  das  Wichtigste,  nämlich  eine  Lesehalle  fehlt, 
für  diejenigen  Benutzer  denen  vielfach  zu  Hause,  selbst  wenn  sie  Bücher 
hätten,  der  Raum  und  die  Möglichkeit  abgeht,  sie  mit  Sammlung  /u  lesen. 
Erst  in  neuester  Zeit  hat  man,  angeregt  durch  das  von  der  Deutscheu 
Gesellschafi  lur  Ethische  Kultur  gegebene  Beis|)iel,  die  die  erste  Lcse- 
lialle  in  Berlin  errichtet  hat,  zunaclist  zwei  jener  X'ulksbibliothcken  mit 
Leseräumen  verselien,  und  es  darf  von  der  Fürsorge  der  mafsgebenden 
Kreise  erwartet  werden,  dais,  nachdem  sich  «nmal  <Ue  Erkenntn»  von 
der  Notwendigkeit  der  Errichtung  ö(f<aitlicher  Lesehallen  •  tmd  Volks- 
bibliotheken, Bahn  gebrochen  hat,  ^)  auch  weitere  Mittel  zu  diesem  Zwecke 
w  erden  bereit  gestellt  werden,  und  dafs  die  Zeit  nicht  mehr  allzufem  ist, 
in  der  wir  neben  den  vortrefflichen  staatlichen  wissenschaftlichen  Biblio- 
theken in  Berlin  auch  bald  eine  Volksbibliothek  grofsen  Stils  haben 
werden. 

Um  so  erfreulicher  ist  es,  dal's  daneben  neuerdings  auch  rein  privater 
Initiative  in  Berlin  die  Errichtung  eines  solchen  segensreichen  volkstüm- 
lichen Instituts  zu  danken  ist.  Unweit  des  Zentrums  der  Stadt  hat  der  frühere 
Inhaber  der  Guttentagschen  Verlagsbuchhandlung,  Herr  Hugo  Heimann, 
aus  privaten  Mitteln  eine  in  ihren  Einrichtungen  geradezu  musterhafte 

Zur  Förderung  dieser  Erkenntnis  hat  der  durch  seine  vielseitigen  Arbeiten 
auf  (Irm  r,ebicte  der  BiMiotliekswissenscliait  rühmlichst  bekannt«-  Oberbibliothekar 
an  <1(  r  K  niiglichen  Universitätsbibliothek  ?.u  (luttingen,  I)r.  A.  (Ir仫  ].  '  ini-  ni-ue 
Zcit-schrUl  begründet,  die  unter  dem  Titel  „Bl.'itter  für  Volksbibliothrkrn  und  Lese- 
hallen** seit  dem  1.  Januar  1900  als  Beiblatt  zum  „Ccuiralblatt  für  Bibliothekswesen" 
im  Verlage  von  Otto  Harrassowitz  in  Leip/ag  erscheint. 


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W.  Passkowski,  Die  Hugo  Ueimann'sche  öfTentUche  Bibliothek  u.  Leseballe.  269 


öfl'entliclie  Bibliothek  mit  Lesehalle  errichtet,  die  zu  unentgeltlicher  Be- 
nutzung jedermann  freisteht  Der  Stifter  dieser  vornehmen  Volksbildmigs» 
statte  hat  nicht  allein  die  erheblichen  Kosten  iür  ihre  Einrichtung 
und  Unterhaltung  getragen,  sondern  er  hat  auch  selbst»  durch  jahre- 
lange Erfahrung  im  Buchwesen  bewandert  und  durch  eigene  Kennt- 
nis ausländischer  Bibliotheken  gestützt,  die  Einrichtung  der  Bibliothek 
fn's  ins  Kiiuclne  mit  licbevolU-r  Sorgfalt  und  mit  dem  weitesten  Entgegen- 
koinincii  für  die  Benutzer  durchdacht  und  getroffen.  Die  Bibliothek  ist 
in  caicm  eigens  für  den  Zweck  umgebauten  Ciartenhause  des  <3rund- 
stttdces  Alexandrinenstiasse  a6  untergebracht.  Gleich  beim  Eintreten 
ttberkomrot  den  Besucher  das  angenehme  Geföhl,  in  eine  voniehme  Stätte 
geistiger  Erholung  zu  treten.  Im  Erdgeschofs  des  anbrechenden  Häus- 
chens, das  von  einem  zur  Erfrischung  flir  die  Benutzer  im  Sommer  be> 
stimmten  Garten  umgeben  ist,  sind  aufser  der  Garderobe  fünf  wohlaus- 
gestattete, durch  Zentralheizung  gleichmäfsig  erwärmte  Räume  zu  Lese- 
und  Arbeitszimmern  eingerichtet.  150  Benutzer  finden  gleichzeitig  Ge- 
legenheit, eine  reiche  und  völlig  ohne  jede  Tarteifärbung  zusammen- 
gestellte Bibliothek  zu  benutzen.  Nicht  weniger  als  78  politische  Zeitungen 
und  365  Zeitschriften  jeder  Art  und  Richtung  liegen  aufser  einer  Reihe 
von  Nachschlagewerken,  Gesetzsammlungen,  und  encyldopädischen  Werken 
hier  aus  und  können  ohne  weitere  Förmlichkeit  von  den  Benutzem  den 
praktisch  eingerichteten  Rcpositorien  und  gediegenen  Schränken  ent- 
nommen werden.  Für  die  Nachschlagebibliothek  besteht  die  Einrichtung, 
dafs  nur  die  Xunimer  des  entnommenen  Buches,  ledi<;!i<  h  /u  statistischen 
Zwecken,  dem  aufsiehtsfuhrenden  Beamten  ange^^eben  wird.  Aufser  den 
langen  Tischen  in  der  Mitte  sind  an  den  Wänden,  um  jeden  verfügbaren 
Raum  zweckroäfsig  auszunutzen,  kleine  geschmackvolle  dreieckige,  mit  der 
Basis  der  Wand  zugekehrte  Tischchen,  eine  eigene  Erfindtmg  des  Stiften, 
aufgestellt,  an  denen  behaglich  noch  je  zwei  Benutzer  Platz  finden.  An 
diese  Räame  schliefsen  sich  zwei  mit  vortrefflicher  Wascheinrichtung  ver- 
sehene Toiletten.  Im  ersten  Stockwerk  befindet  sich  das  Büchermagazin 
und  die  .Xnsleihestelle.  Dort  waltet  eine  Dame  des  Amtes  als  Biblio- 
thekarin, und  ihr  zur  Seite  steht  ein  Beamter,  dem  besonders  das  Aus- 
leihegesciiäft  und  die  Bedienung  des  , .Indikators"  zugeteilt  ist.  Dieser 
äufserst  praktische  und  in  Deutschland  noch  wenig  bekannte  Apparat  dient 
dazu,  dem  Benutzer  sofort  anzugeben,  ob  das  gewünschte  Buch  verliehen  ist 
oder  nicht  und  überhebt  ihn  so  der  Mühe  einer  aussichtdosen  Bestellung 
und  den  Bibliothekar  des  veigeblichen  Sudiens.  Der  Indikator,  von  dem 
Engländer  Cotgreave  erfunden,  besteht  aus  einem  rahmenartigen  Repod- 
torium,  das  durch  schmale  Plättchen  in  tausende  von  Abteilungen  zer- 
Icjjt  ist.  jede  Abteihm>^  enthält  ein  schmales  Kästchen  aus  Blech,  welches 
auf  der  euieii  Seite  in  roter,  auf  der  andern  in  lilauer  Farbe  die  fort- 
laufenden Nummern  der  in  der  liiblioiiiek  voriiandenen  Werke  anzeigt. 
Wenn  das  Kästchen  dem  Beschauer  die  rote  Seite  zeigt,  so  ist  das  Buch 


270 


Missellcn. 


verliflien,  zeigt  die  lilaiie,  so  ist  es  vorhanden  mui  kann  sofort  in 
Kniptan^^  {ieniunuKü  wenlcn.  ]>er  Beamte  legt  beim  Ausleihen  «he  Tk*- 
nutzungskartc  Uc.^  Kutlcihers,  zugleich  als  (Quittung,  in  das  Kästchen  und 
dreht  es  iinif  so  dafs  die  blaue  Farbe  dem  Beschauer  sich  zuwendet 
Jedes  Kästchen  ist  mit  einer  Reihe  von  Blattern  versehen,  auf  die  der 
Beamte  den  Tag  der  Verleihung  und  die  Nummer  der  Verleibkarte  ein- 
trägt So  bietet  der  Indikator  ein  vortrefflic  hes  und  bcciuemes  Mittel 
*  zu  statistischen  Zusammenstellungen  ttber  die  Zahl  der  Benutzungen,  ihre 
zeitliche  Aufeinanderfolge,  endlich  über  die  Benutzer  selbst.  Die  Be- 
dienung des  Indikators  ist  für  einen  eingeübten  Beamten  sehr  wenig 
zeitraubend,  und  seine  Kinfnhrung  wäre  aueh  liir  grofsere  Bibliotheken 
in  Erwägung  zu  ziehen.  I  reilich  käme  man  da  nicht  mit  dem  blofsen 
Nummemsystem  aus,  sondern  müfste  auch  Unterabteilungen  der  syste- 
matischen Aufstellung  des  Bibliothek  entsprechend  einführen,  endlich 
müisten,  wenn  die  Benutzimgskarte  als  Quittung  einbehalten  wird,  jedem 
Benutzer  mehrere  Leihekarten  für  jede  Abteilung  der  Bibliothek  ausge* 
stellt  werden.  Der  Indikator  der  Heiinannsrhen  P>ii)li<nhek  ist  für  20000 
Numtnern  eingerichtet  und  hat  sich  für  den  bisherigen  Umfang  der  Be* 
nutzung  vor/uglieh  bewährt. 

Herr  Heuuann  hat  seine  öft'entliche  Bibliuihi  k,  die  Ende  Oktober 
vorigen  Jahres  eröffnet  wurde  und  an  den  Wochentagen  von  5'/,  bis  9 ' Uhr, 
an  Sonn-  und  Feiertagen  von  9 — i  Uhr  geöffnet  ist,  zunächst  erst  in  drei 
Abteilungen  reidi  ausgestattet,  nämlich  in  deutscher  Litteratur,  in  Kunst- 
geschichte und  in  Rechts-  und  Staatswissensehaften.  Schon  diese  letzte 
vorzüglich  ausgestattete  Abteilung,  die  flir  den  Rahmen  einer  Volks- 
bibliothek aiifserst  reichhaltig  ist,  läfst  erkennen,  wie  weit  Herr  Heimann 
seine  Ziele  gesteckt  hat:  niclits  von  irgend  welcher  allgcniciner  Bedeu- 
tung seiner  Sammlung  fehlen  zu  lassen.  Sobald  die  anderen  Abteilungen, 
deren  nächste  die  Naturwi.ssenschafien  umfassen  soll,  fertig  gestellt  sein 
werden,  beabsichtigt  Herr  Heimann  einen  Katalog  drucken  zu  lassen, 
aus  dem  dann  zu  ersehen  sein  wird,  dafs  lediglich  der  Wunsch,  Bildung 
zum  Allgemeingut  zu  machen,  das  hochherzige  Werk  beseelt  und  zu- 
stande gebracht  haben.  Zunächst  weist  ein  mit  der  Schreibmaschine 
hergestellter  systematischer  Katalog  die  Bestände  nach. 

Hotü  ii  wir,  dafs  diese  Bibliothek  sich  zu  einer  Stätte  edler  Volks- 
bildung weiter  entwickelt  und  aurli  durch  das  von  ihr  und  ihrem  Be- 
gründer gegebene  Beispiel  anspornend  und  fordernd  wirkt. 


.  j  _  d  by  GoogI(^ 


LITTERATUR. 


Die  Lag€  der  deutschen  Jfoharbeäer,    Ergebnis  statistischer  Er- 
•    Hebungen  für  das  Jahr  1893  veranstaltet  vom  Deutschen 
Holzarbeitcrverband.    Stuttgart,  Verlag  von  Karl  KloCs. 
X895.   44  S.  8  0. 

Die  Lage  der  deutschen  Hckarbeiter.  Nach  statistischen  Erhebungen 
fiir  das  Jahr  i^j  herausgegeben  vom  Vorstand  des  Deut- 
schen Hol2arbeiterverbandes.  Stuttgart,  Verlag  von  Th. 
Leipart  189^   56  S.  8^ 

Die  ArbeäsperhäUttisse  iu  der  Gerberei  umd  Leder/ärberei,  Dargestellt 
auf  Grund  der  statistischen  Erhebungen  des  internationalen 
Sekretariats  der  Lederarbeiter  und  auf  Grund  anderer  Ma- 
terialien. Berlin  1899.  Verlag  des  internationalen  Sekre- 
tariates der  Lederarbeiter  (G.  Kuske).    128  S.  8**. 

Nach  dem  In-i  der  Cinmdung  des  Oeutsrhon  HolzarbeiterA'crhaiides 
im  Jahre  beschlüsseiicii  Statut  sollte  der   Verbandsvorsiand  alle 

zwei  Jahre  eine  Berufsstatistik  aufnehmen  und  zwar  zum  ersten  Male 
für  das  Jahr  1893  selbst.  Das  Ergebnis  dieser  erstmaligen  Statistik  ist 
in  der  zuerst  angezeigten  Broschüre  enthalten.  Wegen  des  mit  der 
Arbeit  verbundenen  grofsen  Aufwands  an  Zeit  und  Kosten  beschlofs  der 
\  crbaniki;ij;  im  Jahre  1895,  zweijähri^je  Frist  für  die  Wiederholung 
der  Krhebungen  fallen  zu  lassen  und  dafür  die  Hestiminung  in  das  Statut 
aufzunehmen,  dafs  jeder  ordentliche  VerbaiuKtag  zu  l)esrhliersen  hat, 
wann  und  in  welcher  Weise  statist!s(  he  Krheluin<;L  n  seitens  des  N'orstandes 
zu  veranlaiiseu  suid.  Zugleich  wurde  der  \  orstand  beauftragt,  die  nächste 
Statistik  fdr  das  Jahr  1897  aufzunehmen.  Das  Ergebnis  dieser  zweiten 
Erhebung  ist  in  der  zweiten  Broschüre  niedergelegt. 

Die  Statistik  des  Deutschen  Holzarbeiter-Verbandes  verdient  nicht 
nur  zeitlich  sondern  auch  in  der  Methode  und  in  ihrem  Umfange  d[eo 
Vorzug.   Im  Jahre  1893  wurden  an  ca.  820  Orte  Ortsfragebogen,  ca. 


2jr2  Lilteratur. 

x8ooo  Werkstattfragäbogen  und  ca.  84000  Penonenftagebogen  venandt. 
Von  den  wichtigsten  den  Personenftagebogen  wurden  1893  19799  tie- 
antwortet, 1897  dagegen  die  doppelte  Anzahl:  38563.   In  den  Orts- 

fragebojTcn  wurde  bei  beiden  Krhebunpcn  (ÜX  den  betreffenden  Ort  .\u>- 
kunft  vorl\n^i  über  die  Zahl  der  Geschäfte  mit  Maschinenbetrieb,  der 
verwendeten  l'ferdekräftc ,  der  Ges(  häft«.-  ohne  Maschinenbetrieb,  der 
Arbeiter,  der  Arbeiterinnen,  der  Hilfsarbeiter,  der  jugendlichen  Arbeiter 
(1897  nach  Geschlechtern  gegliedert),  der  Lehrlinge.  Diese  Fragen 
waren  1893  für  die  Berufe  der  Bürsten-  und  Pinselmacher,  der  Drechsler 
und  verwandten  Berufe»  der  Korkschneider,  der  Stellmacher,  der  Tischler 
und  verwandten  Berufe  su  beantworten.  Neu  hinzugekommen  sind  1897 
die  Korbmacher,  weil  sie  erst  nach  den  letzten  Erhebungen  des  Jahres 
dem  Verband  beitraten,  wahrend  die  Korkschneider  in  der  neuesten 
Statistik  nicht  mehr  gefulirt  sind,  ohne  d  ifs  ein  Grund  angegeben  ist. 

Der  Werkstatlfragehogen  ist  bei  beiden  l'>liebungen  beinahe  gleicli- 
lautend  gewesen.  1893  urafafste  er  17,  1897  15  Fragen,  in  denen 
Auskunft  verlangt  wurde  über  Name  und  Wohnort  des  .Arbeitgebers ; 
die  Art  des  Betriebs  (Beruf,  ev.  Spezialität);  ob  mit  Kraftmaschinen 
gearbeitet  wird,  Art  der  Triebkraft  und  Zahl  der  Pfeidekräfte;  Zahl  der 
ledigen  und  verheirateten  Gehilfen;  Zahl  der  ledigen  und  verheirateten 
Arl)eiterinnen ;  Zahl  der  ledigen  und  verheirateten  Hilfsarbeiterinnen; 
Zahl  der  jugendlichen  Arbeiter  fnnter  16  Jahren);  Zahl  der  Lehrlinge 
und  Dauer  der  Lehrzeit;  Art  der  Kiitlolmung,  ob  Lohn,  Akkord  oder 
Halblohii ;  Dauer  der  regelmäfsigen  Arbeitszeit  ohne  Pausen;  Zahl  der 
Unfälle  a)  an  Maschinen,  bi  andere;  Zahl  der  Fälle,  in  denen  die  Arbeits- 
unfähigkeit a)  unter  4,  b;  4 — 13,  c)  über  13  Wochen  dauerte,  d)  der 
Unlatl  eben  tätlichen  Ausgang  nahm  (nur  1897  erhoben).  Weiter  wurde 
erhoben,  ob  Schutzvorrichtungen  a)  an  Maschinen,  b)  an  Transmisnonen 
getroffen  sind,  ob  Ventilationseinrichtungen  bestehen,  wie  viele  Personen 
im  Erhebungsjahr,  an  welcher  Todesursache  und  in  welchem  Alter  starben. 
Zu  diesen  Fragen  kam  im  Jahre  i8q7  die  weitere  Frage,  ob  Maschinen 
mit  Hand-  oder  Fufsbetrieb  verwendet  werden,  wahrend  folgende  zwei 
Fragen  der  1893er  F.rhebung  wegfielen:  ^^'ar  im  Jahre  1803  Arbeits- 

mangel, tür  wieviel  Mann  und  Wochen  ":  12.  War  im  Jahre  1693  Arbeiter- 
mangel,  für  wieviel  Mann  und  Wochen 

„Unsere  Fragen  bezüglich  Arbeitsmangel  und  Arbeiter- 
mangel,'' heifst  es  in  der  x893er  Erhebung,  „sind  offenbar  von  vielen 
Beantwortern  irrtümlich  aufgefafst  worden,  so  dafs  eine  Zusammenstellung 
dieser  Angaben  kein  richtiges  Bild  geben  wlirde;  wir  verzichten  daher 
hier  auf  eine  Wiedergabe  derselben  und  verweisen  in  Bezug  auf  Arbeits- 
losigkeit auf  dns  durch  persunUche  Krtiel)ungen  gewonnene  Ergcl)nis." 

Fs  sind  dies  im  ganzen  Fragebogen  die  beiden  einzigen  ungeschickt 
formulierten  Fragen.  Dafs  der  Mifserfolg  statt  zu  einer  Erläuterung  oder 
gemeinverständlicheren  Fassung  der  Fragen  zu  deren  Preisgabe  geftihrt 


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Die  Lage  der  deutschen  1  iulzarbciter. 


273 


hat;  ist.umsomehr  su  bedaoeni,  als  gerade  die  Arbeitsloseostatistik  der 
letzten  Berufs-  und  VolksdÜilung  gar  sehr  der  Ergänzung  aus  anderen 
Quellen  bedarf  und  durchaus  nicht  über  alle  Zweifel  erbaboi  ist  Bei 

der  sonst  geradezu  mustergültigen  statistischen  Aufl)ereitungdes  gewonnenen 
Rohmaterials  ist  es  sehr  zu  bedauern,  dafs  der  Bearbeiter  die  gewonnenen 
Ergebnisse  nicht  mit  denjenigen  der  letzten  Berufs-  und  Gewerbestatistik 
verglichen  hat.  Dies  nachzuholen  kaim  nicht  die  Aufgabe  unserer  kurzen 
Besfvechung  sein.  Es  mag  dies  allerdings  damit  entschuldigt  werden, 
da6  es  nicht  jedermanns  Sache  ist,  sich  durch  die  x8  Folianten  der 
Reichsstatistik,  von  denen  damals  der  die  Ergebnisse  zusammenfassende 
Band  noch  nicht  erschienen  war,  hindurchzuarbeiten.  Bei  der  groben 
Mühe,  die  der  Verfasser  auf  die  gründliche  Durcharbeitung  des  ihm  vor- 
liegenden Materials  ver>vandt  hat,  hat  es  ihn  jedenfalls  auch  an  der 
hierzu  erforderlichen  Zeit  gefehlt. 

Aber  gerade  die  Ergebnisse  der  Werkstatt fragebogen  mufsten  ganz 
besonders  zu  einem  Vergleich  mit  der  amtlichen  Gewerbestatistik  ein- 
laden. Ein  solcher  Vergleich  hStte  entweder  durch  Uebereinsthnmung 
der  Relativzahlen  die  Zuverttasifj^it  der  gewerkschaftlichen  Statistik  er- 
härten oder  es  hätten  die  Gründe  abweichender  Resultate  dargd^ 
werden  können.  Ein  solcher  Vergleich  hätte  aigleich  gezeigt,  ob  die 
Verhältnisse  der  von  der  Erhebung  erfafsten  Betriebe  als  typische  an- 
gesehen werden  können  oder  nicht.  Es  wäre  sehr  zu  wünschen,  dafs 
diese  Arlicit  von  dem  mit  st-inem  Material  durch  und  durch  vertrauten 
auch  als  Statistiker  nicht  zu  unterschätzenden  Bearbeiter  nachgeholt  würde. 

Die  Fragen  des  Personalfragebogens,  der  der  wichtigste  von 
allen  war.  lassen  wir  hier  für  1897  wdftlich  folgen: 

„i.  Welchem  Beruf  gehören  Sie  an  (Gewerbe  und  Spezialität)? 

2.  Wie  alt  sind  Sie? 

3.  Sind  Sie  verheiratet  oder  ledig? 

4.  Wieviel  Kintkr  h;il)en  Sie  a)  über  14  Jahren,  b)  unter  14  Jahren^ 

5.  Gehören  Sie  einer  Imc horganisation  an  und  welcher? 

6.  Arbeiten  Sie  auf  Lohn,  Akkord  oder  Halblohn? 

7.  Wie  hoch  ist  im  letzteren  Falle  Kost  und  Logis  beim  Meister 
pio  Woche  im  Preise  anzuschlagen? 

8.  Haben  Sie  alle  8  oder  14  Tage  Zahltag? 

9.  Müssen  Sie  Ihr  Werkzeug  ganz  oder  teilweise  selbst  stellen ;  wie 
hoch  ist  die  Ausgabe  hierfür  pro  Jahr? 

10.  Müssen  Sie  Beleuclitun^r  oder  Kleinmaterial  selbst  stellen;  wie 
hoch  ist  eventuell  die  Jahresausgabe  a)  für  Beleuchtung,  b)  für  Klein- 
material  ? 

11.  Wieviel  betrug  ihr  Wochenverdienst  in  bar  ohne  Ueberstunden 
und  ohne  Nebenverdienst? 

la.  Haben  Sie  aulser  Ihrer  Beni6arbeit  noch  Nebenenreib  und 
welchen,  wie  hoch  ist  das  Jahreseinkommen  aus  demselben? 

Ardiiv  fifar  m.  G«nt«g*ba«g  a.  SMtittlk.  XV.  l8 


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Litteratur. 


13.  Tragt  Ihre  Frau  zum  Erwerb  bei,  durch  welche  Arbeit;  wie 
hoch  ist  das  lahreseinkommen  aus  derselben? 

14.  Findet  diese  Beschäftigung  in  eigener  Wohnung  statt  oder  im 
Arbeitsraum  des  Unternehmers?  (fehh  iScj^) 

15.  Tragen  Ihre  Kinder  /um  Krwt-rh  bei  a)  über  14  Jahren,  durch 
welche  Arbeit,  Hölie  des  jahrcseiukommeus ;  b)  unter  14  Jahren,  durüi 
welche  Arbeil,  Höhe  des  jaiiresfinkommens  r 

16.  Haben  Sie  im  Jahre  1897  über  Zeit  oder  Sonntags  gearbeitet, 
wievwl  Stunden  a)  über  Zeit,  b)  Sonntags;  wie  hoch  ist  das  Jahreaein- 
Icominen  hierfUr? 

1 7.  Wurde  die  Uebeneitarbeit  besser  bezahlt  wie  solche  in  gewöhn» 
lieber  Arbeitszeit? 

18.  Wieviel  Tage  waren  Sie  im  Jahre  1897  krank  (Art  der  Krank* 
heit)  r 

19.  Wieviel  Tage  waren  Sie  im  Jahre  1897  aus  anderem  Grunde 
arbeitslos:  ^lehlt  1893) 

20.  Wieviel  Tage  waren  Sie  im  Jahre  1897  wegen  Aibdtdos^eit 
auf  Reise? 

91.  Wieviel  zahlen  Sie  Wohnungsmiete  pro  Jahr? 

22.  Befindet  sich  die  Wohnung  im  Keller,  Parterre,  Mittelstock  oder 

ist  es  Dachv^rohnung  r 

23.  Aus  wieviel  Räumen  bc>teht  die  Wohnung  (Zimmer,  Kammer, 

Küche  I  r 

24.  Haben  Sie  von  diesen  Räumen  vermietet,  welche  (Zimmer, 
Kammer,  Küche),  ^u  welchem  Mietwert? 

35.  Wieviel  Personen  benutzen  die  von  Ihnen  selbst  bewohnt<in 
Räume  zum  Wohnen,  Schlafen  etc.,  Erwachsene,  Kinder  unter  14  Jahren? 

26.  Wie  hoch  belaufen  sich  Ihre  Jahresausgaben  fiir  Nahrungsmittel? 

27.  Wie  hoch  belaufen  sich  die  Jahresausgaben  fiir  sonstige  Lebens- 
bedürfnisse, ausschliefslich  der  Nahrungsmittel  und  Wuhnungsmiete  r 

Dieser  Frage!  )<)<;en  wurde  ausgefüllt  von:  (Name,  Wohnort,  Wohnung), 
in  Arbeit  bei  (Name  des  Arbeitgebers,  W  ohnort,  W  otinunir)  " 

Wir  sind  geradezu  überrascht  von  der  Fülle  des  fur  den  Sozial - 
Politiker  wichtigen  Thatsachenmaterials,  das  hier  zum  erstenmal  von  deut> 
sehen  Gewerkschaften  erhoben  wird.  Dals  nahezu  40000  Arbeiter  diesen 
Fragebogen  brauchbar  beantworteten,  ist  ein  fOr  die  Ausarbeiter  des 
Fragebugens  wie  für  die  Intelligenz  der  deutschen  Arbeiter  gleich  ehrendes 
Zeugnis.  Unseren  amtlichen  Statistikern  empfehlen  wir  diesen  Frage- 
bogen auf  (las  Findringliehste  zum  Studiuni.  Dabei  erhebt  sieh  die 
prinziiiielle  l  r;i<,^e,  die  nielit  rnih  genug  aufgeu orten  werden  kann,  ob 
es  sich  nicht  Ihm  einer  neuen  l'.crufs/ähiung  cmi)lehicn  würde,  von  dem 
Kinhcilsfrageschema  mit  seuieni  abstrakten  unverständlichen  Biireaukraten- 
deutsch  abzuweichen  und  für  Jedes  Gewerbe  durch  eine  Kommission 
von  Sachverständigen  des  betreffenden  Gewerbes  unter  Leitung  em^ 


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Die  Lage  der  deutschen  Holzarbeiter. 


275 


Stttistiken  einen  konkreten  Fragebogen  nach  dem  Muster  des  vorliegenden 
aufxustellen.  Dafs  in  diese  •Kommissionen  auch  Arbeiter  zu  berufen 
wären,  können  wir,  obwohl  es  selbstverständlich  ist,  nicht  nnterlasseUf 

ausdrücklich  zu  betonen.  Die  Durchführbarkeit  einer,  solchen  Erhebung: 
ist  wohl  kaum  zu  iH^zwtMfeln,  da  im  vorhorcitendcn  Stadium  von  der 
utiteren  \'erwaltungsbehuide  leicht  erhoben  werden  kann,  wieviel  Formu- 
lare von  jeder  Sorte  gebraucht  werden.  Statt  eines  einzigen  Formulars 
»  riesiger  Auflage  wflide  man  eben  dann  etwa  soo  in  kleinom  Auf' 
lagen  bedürfen.  Die  Erhöhung  der  Druckkoiten  kann  gegenüber  dem 
Gewinn  an  ZuverlSssigkeit  der  Daten  nicht  in  Betracht  kommen.  Die 
Schwierigkeiten  der  Verteilung  solch  verschiedenartiger  Formulare  su 
bewältigen,  wäre  unsere  Biireaukratic  jedenfalls  im  stände,  da  es  sich 
um  rein  formelle  Dinge  handelt.  Wenn  liie  Statistik  der  Nebenberufe, 
deren  Hcdeutung  einseitif;  übertrieben  worden  zu  sein  scheint,  darunter 
leiden  sollte,  so  wiire  auch  dies  im  Vergleich  zu  dem  \  '\c\  tieferen  Ein- 
blick in  das  Volksleben,  der  auf  diesem  Wege  zu  gewinnen  wäre,  zu 
verschmerzen. 

Wur  sehen  also  diese  eingehe  Holzarbeiterstatistik,  der  gegenüber 
sich  die  Gelehrten  in  das  ehrwOrd^ie  Schweigen  des  „Graeca  non  le« 
guntor^  hüllen,  bietet  Anregung  zur  Erörterung  der  weittragendsten, 

prinzipiellen  statistischen  Probleme.  Wer  wollte  sich  darüber  wimdern ! 
Wird  doch  die  amtliche  St.Ttistik  fast  durchweg  von  dem  praktischen 
Leben  geraume  Zeit  fernstehenden  hohen  RegierungslK-araten  organisiert, 
während  diese  Statistik  aus  dem  Bedürfnisse  in  harter  Arbeit  imi  ihre 
Existenz  kämpfender  Arbeiter,  Aufschlufs  Uber  ihre  Lage  zu  erhalten, 
herausgewachsen  ist. 

Nicht  tmgerügt  können  wir  dagegen  lassen,  wenn  in  dem  zu  den 
Fragebogen  ergangenen  Begleitschreiben  von  der  „miserablen  wirtschaft- 
lichen Lage"  der  Arbeiter  gesprochen  wird.  Für  einen  weniger  urteils* 
föhigen  T  eser  leidet  dadurch  die  kurze  Aufforderung  zur  wahrheitsgetreuen 
Beantwortung  der  Fragen,  zumal  sich  das  Begleitschreiben  in  längeren 
Ausfühnmgcn  über  die  ungünstige  Lage  der  Arbeiter  ergeht.  In  dieser 
Beziehung  ist  das  Vorgehen  der  Lederarbeiter  zu  loben,  welche  in  ihrem 
Fachorgan,  der  „Lederarbeiter-Zeitung",  ausdrücklich  bekannt  gaben: 
„es  ist  nicht  notwendig  (sie!),  die  Zustände  absichtlich  im  besseren  oder 
schlechteren  Lichte  ersdieinen  xu  lassen,  es  genfigen  vielmehr  nur  die 
dnfiuhen  Thatsachen." 

Eine  zusammenfassende  Uebersicht  der  gewonnenen  Ergebnisse  zu 
geben,  müssen  wir  hier  unterlassen  und  beschränken  uns  auf  einige  An- 
gaben. 

Der  Gcsaratdurch-schnitisverdienst  pro  Woche  betrug  im  Jahre  1893 
18,69  ^*  2^"^  Verheiratete  16,69  Mk.  tuid  für  Ledige  17,20 
Mk.  Bis  zum  Jahre  1897  hatte  er  sidi  auf  19^  bezw.  ti,o8  und 
18,35  ^*  erhöht  Innerhalb  dieser  4  Jahre  ist  somit  eine  Erhöhung 

i8» 


276 


Litterator. 


des  Dttrchschnittdohnes  um  1,37  Mk.  wöchentlich  fttr  den  Einxehiea 
eingetreten. 

In  der  Tabelle,  die  wir  hier  nicht  wiedergeben  können,  sind  die 
Löhne  der  abwechselnd  auf  Lohn  und  Akkord  Arbeitenden  bei  den 
Akkordarbeiten!  mitj^crechnet.  Einige  Zahlstellen  dagegen,  welche  die 
Zusammenstellung  selber  besorgten,  haben  dieselben  teilweise  auch  den 
I^ohnarbeitera  zugezählt  Besflglich  des  Entlohnungsverhältnisses  Yoa 
Akkord-  und  Lohnarbeiter  bemerkt  unser  Berichterstatter:  „Mit  Aus- 
nahme der  Bürstenmacher  und  Hilfsarbeiter  ist  zwar  der  Wochenverdienst 
der  Akkordarbeiter  überall  höher  als  derjenige  der  Lohnarbeiter,  aber 
die  Differenz  ist  nicht  so  grofs,  als  gemeinhin  behauptet  wird,  und  der 
geringe  Mehrverdienst  entspricht  gewifs  nicht  der  gröfseren  Ausbeutung- 
der  Kürjn  rkrafte,  welche  die  Akkordarbeit  im  allgemeinen  als  Bedingung 
stellt.  Auch  geht  dem  Akkordarbeiter  ein  grofser  Teil  dieses  Mehrver- 
dienstes dadurch  wkder  verloren,  da6  er  erhehlidi  höhere  Ausgaben  für 
Werkseug  tL  s.  w.  hat  als  der  Lohnarbeiter.*^ 

Besonderen  Wert  erhält  die  Lohnstatistik  dadurch,  daft  unter  An- 
gabe der  Zahl  der  von  der  Erhebung  erfafsten  Arlx'iter  die  höchste, 
niedrigste  und  Durrhschnittsarbeitszeit  pro  Woche,  sowie  der  durchschnitt- 
liche Stundenlohn,  die  jährlichen  Ausgaben  für  Wohnung,  Nahrung  und 
Sonstiges,  und  der  Jahresverdienst  je  für  die  Verheirateten  und  Ledigen 
besonders  in  einer  Ijeinahe  erschöpfenden  AnzalU  alphabetisch  geordneter 
Städte  nachgewiesen  werden. 

Die  Wcrfmungsmieten  sind  hiernach  ntir  in  5  Stfldten  und  »rar 
gans  unerheblich  zurückgegangen,  in  allen  übr^en»  zum  Teil  recht  stark, 
gestiegen. 

Die  in  der  Tabelle  enthaltenen  Ausgaben  fur  Xahrungsmittel  und 
sonstige  LeliensbedurfDisse  sind  natürlich,  wie  der  Bericht  seilest  bemerkt, 
anfechtbar,  weil  nur  wenige  Arbeiter  über  diese  Ausgaben  regclmäfsige 
Aufzeichnungen  machen.  Die  Durchschnittszahlen  sind  also  nur  als 
Resultat  allgemeiner  Schiitzungsangaben  zu  betrachten. 

Von  geringer  Bedeutung  ist  auch  der  Jahresverdienst,  da  er  nicht 
durdi  Erhebungen,  sondern  durch  Mtdtiplikation  des  Wochenverdienstes 
mit  50  gewonnen  worden  ist 

Alle  diese  Angaben  sind  Durchschnittsangaben  für  die  Holzarbeiter 
überhaupt.  In  einer  weiteren  Tabelle  wird  nun  für  42  bedeutendere 
Städte  die  durclisc  hnittliche  Arbeitszeit  pro  Woche  und  der  durchschnitt- 
liche W  ochenverdienst  für  die  5  Berufe  getrennt  nachgewiesen.  Ks  ist 
im  Interesse  der  Brauchbarkeit  der  Arbeit  sehr  zu  bedauern,  dafs  dies 
mit  Rucksicht  auf  den  Kaum  nicht  auch  fiu"  die  grofse  Tabelle  S.  36 — 48 
geschehen  ist,  die  dann  eben  in  6  Tabellen  hätte  zerlegt  werden  müssen, 
was  allerdings  eine  Vermehrung  des  Umfangs  der  Schrift  um  60  Seiten 
zur  Folge  gehabt  hätte. 

Von  welch  verständnisvollem  Eingehen  auf  die  Verhältnisse  des 


Die  Ijigc  der  deul&chen  Holzarbeiter. 


277 


Gewerbe»  die  ganze  Eiliebung  getragen  kt,  dalttr  xengt  auch  folgende 
Stette  aus  dem  Bericht  über  die  1893er  Enquete: 

„Die  Kleinmeister  hört  man  oft  klagen,  dafs  die  Arbeiter  lU  ihrem 
Ruin  mit  bcitra^jen,  indem  sich  dieselben  den  profsen  Betriehen  zuwenden 
und  sie,  die  Kieinraeister,  mit  irerin^^ereji  und  jüngeren  Kräften  fürlieb 
nehmen  müssen,  somit  in  ihrer  Konkurrenzfähigkeit  beeinträchtigt  sind. 
Em  Vergleich  bestätigt  diese  Beliauptimg  vollständig,  demi  wälirend  auf 
die  Geschäfte  mit  Maschinenbetrieb  auf  je  zoo  gelernte  Arbeiter  45,8 
beaw*  65,2  —  76,5  —  69,4  oder  insgesamt  68,1  verheiratete  Arbeiter 
entfiülen,  sind  in  den  Gesdiäften  ohne  Maschinenbetrieb  nur  36,2  bezw. 
43,1  —  24,7  —  50,7  (Drechsler,  Stellmacher,  Tischler,  Diverse)  oder 
insgesamt  48,9  verheiratete  Arbeiter  vorhanden.  Diese  Thatsache  ist 
aber  nicht  l)öswillig  aus  Abneigung  gegen  die  Kleinmeister,  ja  man 
möchte  sagen,  nicht  einmal  willkürHch  seitens  der  Arbeiter  herbeigeführt, 
sondern  sie  ist  eine  natürliche  Folge  der  Verschiedenartigkeit  der  Arbeits- 
verhältnisse in  Grofs-  und  Kleinbetrieben.  Ein  selbst  geringer  Wechsel 
im  Geschäftsgang  verursacht  bei  dem  Kleinmeister  Störung  der  Arbeits-. 
Ordnung.  Bei  Geschäftsandrang  müssen,  soweit  die  nötigen  Arbeitsmittel 
vorhanden  sind,  Leute  eingestellt  oder  es  mufs,  wenn  die  Arbeitsmittel 
fehlen,  über  Zeit  gearbeitet  werden,  bei  Geschäftsmangel  aber  werden, 
da  dem  Meister  das  Betriebskapital  fehlt,  um  vorrätig  zu  arbeiten,  Arbeiter 
entlassen  werden  oder  die  Arbeiter  müssen  aussetzen.  Da  mm  aber 
der  geringe  Lohn  kaum  zum  Leben  von  heute  auf  morgen  ausrciclit, 
ist  der  Arbeiter  nicht  in  der  Lage,  Ers^mrnisse  zu  machen,  er  mufs  also 
ein  möglichst  stabiles  Arbeitsverhältnis  zu  erlangen  sw^n,  da  jeder 
Tag  Arbeitslosigkeit  eine  Keihe  von  Tagen  des  Mangels  für  ihn  im  Ge- 
folge hat  In  grofsen  Geschäften  ist  der  Arbeiter  dem  häufigen  Wechsel 
nicht  in  dem  Ma&e  ausgesetzt,  wie  in  kleinen,  er  iügt  sich  deshalb  zu 
Grünsten  einer  regelmäfsigen  Beschäftigung  lieber  mandi  schroffen  Be- 
stimmungen der  Fabrikordnung,  als  bei  gröfsercr  Bewegungsfreiheit  in 
kleinen  Geschäften  sich  häufig  dem  Mangel  auszusetzen."  ') 

')  Wir  können  bei  dieser  Frage  di--  Krde  des  Nürnberger  Arb<-itersekrctSl» 
Martin  Segitz  auf  der  dritten  ordfiitlii  !i'  n  (]<  in*ralversammlunp  ili-s  D.  MA'.  zu 
Hraursrhweif^,  am  21.  April  1S97,  w<-1c1k-  unter  dem  Titel  ,.r)as  Unterstützungs- 
west-n  der  ( lewerk«4chaften,  insbesondere  die  Arbeitslosen-Unterstützung  und  deren 
Einführung  im  Deutschen  Metallarbciterverband"  im  Verlag  von  J.  Scberm,  Nürnberg 
(Preis  10  Ff.)  encfaieaen  ist,  nidit  unenriliiiC  lassen.  Seglti  vertritt  hier  io  gc< 
■chickler  Weise  den  Standpunkt  jener  positiven  GewerkselMiUer,  die  ein  gvt  organi- 
siertes Unterstatsongswesen  flbr  eine  der  Lebensbedingmigen  der  Gewerkschaften 
halten  iiTi«!  einen  Hauptgrund  der  Mifserfolgc  der  deutschen  Gewerkschaften,  namenU 
lieh  im  V  ergleich  mit  den  englischen,  in  der  allzu  einseitigen  Betonung  der  politischen 
und  Kampforpanisation  erblicken.  Kri«  hliaUigc  statistische  Angaben  über  die  aus- 
ländischen Gewerkschaften  erhüben  tl'-n  Wert  dieser  zwar  kleinen,  aber  auf  ein- 
gehenden Studien  fuf&enden  Broschüre. 


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Littcratur. 


Während  die  Erhebui^  des  Deutschen  Holmfoeiter-VerbaadeSy  m- 
sofem  ihr  die  Ergebnisse  von  über  38  000  Personenfragebogen  zu  Grunde 
lagen,  den  Anspruch  einer  Statisdk  machen  kann,  handelt  es  sich  bei 
den  Gerbern  und  Ledornirhem  um  eine  durch  schriftliche  Vernehmung 
von  Vertrauensmännern  gewonnene  En(|uete.  Am  15.  März  i8()8  ver- 
öffentlichte das  internationale  Sekretariat  der  Lederarbeiter  in  Nr.  6  der 
,4-ederarbeitcr  -  Zeitung"  an  die  Lederarbeiter  aller  Lander  folgenden 
Aufruf: 

„Laut  Beschlufs  des  intematkmalea  Sekretariats  werden  die  Korre- 
sqKmdenten  aller  Länder  enudit»  Je  einen  Bericht  Uber  untenstehende 
Fhigen  einzusenden : 

1.  Arbeitszeit? 

2.  Arbeitslöhne? 

3.  Zahl  der  am  Ort  Beschäftigten  (gelernt  und  ungelernt  und  Lehr- 
linge)? 

4.  Wieviel  sind  organisiert  und  wieviel  unorganisiert? 

5.  Frauenarbeit  (Zahl  und  Besdiäftigimgsart  derselben)? 

6.  Wie  stellt  sich  die  Zahl  der  Arbeitslosen,  wann  ist  sie  am  höchsten, 
wann  am  niedrigsten? 

7.  Fabnkordnung  und  deren  Anwendung? 

8.  .\ngaben  über  sanitäre  Verhältnisse? 

Q.  Kiitstehen  den  Arbeitern  Nachteile  wegen  Zugehöriglceit  zur 

Organisation  ? 

10.  Sind  von  den  Arbeitern  gewählte  Fabrikausadlfisse  vorhanden 
und  wie  funktionieren  dieselben? 

Da  obige  to  Fragen  als  Gnmdlage  zn  einem  wiasenschafUidien 
Werke  dienen  sollen,  so  ersuchen  wir  die  Kollagen  aller  Länder,  die> 
selben  möglichst  korrekt  zu  beantworten. 

Fragebogen  werden  den  Korrespondenten  in  kttrzester  Zeit  xugesandt 
werden." 

Uehcr  die  Zuverlässigkeit  und  \'ollstandigkeit  der  Unterlagen  der 
\nrliegenden  Arbeit  giebt  das  von  Adolf  Braun  bearbeitete  Werkchen 
leider  keinerlei  genügende  Auskunft.  Wir  werden  mit  der  vagen  Be- 
merkung abgespeist :  ,  Jm  allgemdnen  waren  die  Fragebogen  mit  Socjg&lC 
und  Genauigkeit  ausgefüllt  worden."  Was  «mächst  den  auf  Deutschland 
besttglichen  Teil  der  Arbeit  —  weitaus  der  umfimgreichste  und  beste  — ~ 
anlangt,  so  ist  zwar  für  die  nach  Ländern  und  ProviittMi  (Prcufien)  tmd 
innerhalb  dieser  alphabetisch  aufgeführten  Ortschaften  angegeben,  wieviele 
Arbeiter  in  die  Untersuchung  einbezogen  worden  sind,  es  ist  aber  leider 
unterblieben,  hieraus  die  Gesamtsumme  zu  ziehen  und  sie  mit  der  von 
der  Berufszählung  nachgewiesenen  Arbeiterzahl  zu  vergleichen. 

Bei  Bearbeitung  dieses  aoigfiUtig  ausgearbeiteten  Ortsverzeichnisses 
wurde  durchweg  das  Leuchs'sche  Adreisbuch  und  in  einzelnen  FäUen 
auch  die  Adre&bücher  der  betreffenden  Städte  benutzt.   Dem  Ortsvcr- 


^  ij .  .-Lo  Ly  Google 


Die  Arbeiterverhältnisse  in  der  Gerberei  und  Lcderlarberei. 


279 


.zekfaais  ist  eine  9  Seiten  umfassende^  auf  die  Ledermdiistrie  bezüglidie 
Zasanunenstellung  der  Benifr-  und  Gewerbezählm^  vom  14.  Juni  1895 

vorausgeschickt.  Leider  unterblieb  eine  Verglcichung  der  Daten  der 
Herufszählung  für  die  einzelnen  Orte  bezw.  Verwaltungsbezirke,  mit  den 
Ergebnissen  der  Enquete.  Die  Bände  117  und  118  N.  F.  der  Statistik 
des  Deutschen  Reichs  hätten,  in  geeigneter  Weise  benutzt,  hierfür  aus- 
reichendes Material  an  die  Hand  gegeben.  Trotzdem  ist  das  Ortsver- 
seichnis  ein  willkommener  Beitrag  zu  einer  noch  zu  bearbeitenden  deut- 
schen Indttstriegeographie.  Auch  fllr  die  Erfassnng  der  Produktion  sind 
.  diese  Nachweisungen  von  «Wert  und  unsomehr  zu  begrüfsen,  ab  sich  die 
amdidie  deutsche  Produktionsstatistik  hinter  verschlosseneu  Thüren  voll- 
zieht und  auf  die  Bestrebungen  und  Verhältnisse  der  Arbeiter  keine 
Rücksicht  nimmt. 

In  dem  sich  hieran  anschliefscnden  Tabellenwerk  werden  nach 
Provinzen  (nur  für  Preufsen)  und  Staaten  und  innerlialb  dieser  alphabetisch 
geordnet  für  die  bedeutenderen  Plätze  der  Lederindustrie  nachgewiesen: 
Die  Verbreitung  der  Lederarbeiter  und  Anteil  derselben  an  der  Oigani- 
sation,  die  durchschnittlidie  regelmftftige  Arbeitsseit  in  Stunden  ohne 
Pausen  pro  Woche  und  die.  Arbeitsldhne.  In  der  ersten  dieser  Nach» 
Weisungen  wird  die  GesamtaJil  der  Arbeiter  und  diejenige  der  organi- 
sierten Arbeiter  nachgewiesen  nach  folgenden  Kategorieen  gegliedert: 
Weifsgerber,  Lohgerber,  I-ederfärber,  Hilfsarbeiter,  Arl)eiterinnen,  Lehr- 
linge, jugendliche  Arbeiter,   Summa.    Insgesamt  wurden  nacligewiesen : 


Arbeiter    davon  organiriert 

in  rreufs<m   7503  35 1 7 

„  Sarhs<m  547  224 

im  übrigen  Norddcutächland  1884  574 

in  Bayern   918  s6s 

„  Warttembcqf    .  .   .  .  itis  168 

„  Baden   374  176 

„  Hessen  1189  49 


„In  der  Wirklichkeit  sind  aber,"  bemerkt  der  Verfasser  hierzu,  „die 
Verhältniszahlen  für  unsere  Organisati<Mi>  noch  weit  ungünstiger,  denn 
während  die  Zahl  der  Organisierten  nicht  su  niedrig  ist,  ist  die  Zahl  der 
Lederarbeiter  überhaupt  viel  zvl  niedrig  hier  angenommen,  wie  ja  die 
Berufsstatistik  lehrt".  Leider  hat  der  Verfasser  auch  hier  wieder  tmter- 
lassen»  die  vergleichbaren  Zahlen  der  Berufsstatistik  anzuführen.  Es  wäre 
dies  umso  wünschenswerter  gewesen,  als  wir  dicse'boti  auch  in  der  schon 
erwähnten  /usanimenstellung  der  Ergebnisse  der  Berufsstatistik  S.  i — 9 
vcrgcl)cns  suclicn. 

Die  Nachweisung  der  Arbeitszeil  erfafst  Arbeiter,  Arbeiterinnen, 
Lehrlinge  und  jugendliche  Arbeiter  besonders. 

Die  Statistik  der  Arbeitslöhne  versiebtet  leider  durchweg  auf  die 


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28o 


Litteratur. 


Nachweisung  von  Stundenlöhnen.  Sie  weist  die  höchtten,  niedrigstea 
und  durchschnittlichen  Wochenlöhne  Air  Weilsgerber,  Lohgerber,  Leder- 
fiürber,  Hilftarbeiter,  Arbeiterinnen»  Lehrlinge  und  jugendliche  Arbeiter 
besonders  nach. 

An  diese  Dotailnachweistmpen  schliefsen  sich  zusammenfassende 
DarstelluiigL'n  an  über  „Die  1  )iirchhihiung  der  Arheitcisrlnitzhesiimmunpen 
in  den  Lederindustriecn" ;  „Allgemeines  über  Krankheits-  und  Unfall- 
gefahren  in  der  Gerberei";  „Die  UnfitUvcnndierung  in  der  deotachen 
Lederindustrie";  ,,Vorkehningen  gegen  Gesundhettsge&hren^. 

Schon  rein  Sufeerlich  steht  die  Erfaebm^  der  deutschen  Verhütnnae 
im  Vordergrund;  sie  umfafst  89  Seiten;  diejenige  über  Oesterreich  19, 
DSnemark  7,  Schweden  4,  Belgien  und  England  je  und  die  Ver- 
einigten Staaten  von  Amerika  2  Seiten.  Die  österreichisch-ungarische  Er- 
hebung bezieht  sich  auf  30,  die  dänische  auf  25  Orte  fiir  die  I-ohperberei 
und  auf  5  Orte  für  die  Weifsgerberei,  die  schwedische  auf  6,  die  bel- 
gische und  amerikanische  auf  je  i  Ort.  Von  England  wurden  überhaupt 
keine  Fragebogen  eingesandt  Das  Material  der  ausländischen  JStaaten 
ist  nach  demselben  Schema  behandelt  wie  das  deutsche. 

Die  geringe  Beteiligung  der  ausländischen  Staaten  zeigt,  da(s  der 
Boden  für  eine  internationale  Statistik  noch  nicht  reif  ist.  Ein  Teil  des 
unbefriedigemlen  Erpfebnisses  in  dieser  Rczieliung  wird  allerdings  darauf 
zurückzufühien  sein,  dafs  die  Fragebogen  nur  in  deutscher  Sprache  ge- 
druckt worden  sind. 

Für  eine  Wiederholung  derartiger  Erhebungen,  die  dringend  zu 
wünschen  ist,  dürfte  sich  eine  Bearbeitung  durch  d^  ZentralorganiaatioBeii 
der  einzelnen  Länder  empfehlen,  um  einer  KiäAezenplitteiung  vom- 
beugen. 

Was  die  thatsädilichen  Ergebnisse  der  Enquete  anlangt,  so  ver- 
weisen wir  auf  unsere  vergleichende  DarsteUong  -derselben  in  Nr.  14  der 

„Sozialen  Praxis"  (IX.  Jahrg.  4  Januar  1900  Sp.  343). 

Als  Gesainifacit  ergiebt  sich,  dafs  beide  Erhebungen  ihre  Licht- 
und  Schattenseiten  haWcn  und  dafs  bei  einer  neuen  Erhebung  ein  be- 
friedigendes Resultat  zu  erreichen  sein  wird,  wenn  gegenseitig  die  eine 
die  Voiarbeiten  der  anderen  benfitzt. 

Berlin. 

CLEMENS  HEISS. 


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Grundzüge  einer  allgemeinen  staatlichen  Arbeits- 
vermittlung für  Oesterreich. 

Von 

Prof.  Dr.  ERNST  MISCHLER, 

in  Graz. 

I.  Die  Vorgeschichte  des  Gesetzentwurfes. 

Dafs  der  Gedanke  einer  allgemeinen  öffentlichen  Arbeitsver* 
mittlung,  also  die  Aufnahme  der  Artieitsvermittlung  in  den  Auf- 
<,Mbeiikreis  der  staatlichen  Sozialpolitik  in  Oesterreich  über  die 
(irenzen  litterarischer  Diskussion  sowie  allfallige  ParteipOStulate 
hinausgewachsen  ist  und  eine  halbwc|:^s  konkrete  Gestalt  angenommen 
hat,  ist  einem  von  dem  österreichischen  Abgeordnetenhause  aus- 
gegangenen Anstofse  sowie  dem  Hinzutreten  günstiger  äufscrer 
Umstände  zu  danken.  Unter  diesen  nicht  zum  weniefstcn  der  Er- 
rirhtung  ilc^  arbeitstatistischen  Amtes  und  seines  Arbcitslxirats, 
tlcr  sieh  iti  ertrnilirher  Weise  nicht  nur  zu  einer  Arena  für  sozial- 
pölitische  Rcdcturmere,  sondern  auch  zum  Anknüpfungspunkt  inten- 
siver Arbeiten  ausgestaltet  hat. 

Im  Jahre  1895  wurde  im  nsterreichischeii  AhL^eordnetenhause 
eine  \om  Ab;^a'()r(hieten  der  I.inken,  Dr.  .Max  Menger,  ein^febrachte 
ReM^»hiii'in  angenommen,  welche  einerseits  auf  Erhebungen  über 
den  d;iniali;^fen  Stand  der  Arbcitsvermittlungs-Einrichtungen  im 
Staate-  und  andererseits  auf  die  Sciiat^utig  von  solchen  abzielte. 
Der  Wortlaut  in  der  letztgenannten  Riclitung  war: 

Die  Regierung  wird  aufgefordert,  in  Erwägung  im  ziehen,  welche  Schritte  zu 
ergreifen  sind,  anf  dafs  die  sehr  grolsen  Llldien,  wekhe  derzeit  im  Systeme  der 
Arbeitsvemtttloiig  in  Oesterreich  bestehen,  amgefllllt  werden,  wobei  ab  Ziel  die 
Herstelhing  einer  jedem  Arbeitsnchenden  offenstehenden  thndidut  kostenfreien 'Ar> 
beitsTcrmittlaiif  unter  soldien  Bfodalitäten  im  Auge  m  behalten*  wire,  dafs  dieselben 
Archiv  für  mos,  GeMtzaetnns  n.  Statistik.  XV.  19 


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282 


Ernbt  MiücLlcr, 


geeignet  erscheinen,  das  Vertrauen  sowohl  der  Arbeitgeber  ak  «och  der  Arbeit- 
nehmer  za  erhalten. 

Dem  ersten  Teile  dieser  Resolution  ist  die  Regierung  durch  die 
seitens  des  statistischen  Departements  des  österreichischen  Handels- 
ministeriums erfolgte  Veröffentlichung  des  trefllichen  Buches  „die 
Arbeitsvermittlung  in  Oesterreich"  (Wien  1898.  A.  Holder,  IV»  304  S. 
Text,  1 56  S.  Tabellen  und  50  S.  Abdruck  gesetzlicher  sowie  statutarischer 
Bestimmungen)  iur  die  Vergangenheit  in  ausreichender  Weise  bereits 
nachgekommen.  Ueberdies  wurde  auch  schon  Vorsorge  getroffen, 
um  von  nun  ab  eine  einheitliche  Statbtik  der  Arbeitsvermittlung 
sicherzustellen.  Das  arbettstatistische  Amt  nahm  diese  Aktion  unter 
Mitwirkung  des  Arbeitsbeirates  in  die  Hand;  es  wurden  auf  diese 
Weise  die  Formulare  der  statistischen  Berichterstattung  sowie  für 
die  innere  Geschafts'^'cbalirunsj;^  der  Anstalten  entworfen  und  ge- 
legentlich einer  hiezu  einberufenen  Enquete,  an  der  die  \>rtreter 
aller  Gruppen  von  Arbeitsvcnnittlunfrs-Einrichtungen  teilnahmen, 
diese  Absicht  in  eingehender  Aussprache  und  g^cnseitigcr  hörde- 
rung  um  ein  gutes  Stück  der  \''er\virklichung  näher  gebracht.  So 
stellt  zu  hofil'en,  dafs  vom  Jahre  iqoo  anj:,^efangen.  alle  wichtigeren 
Arbcits\ermittluni;s-Kinrichtun«;en  in  dci  Arbeitsamte  ge(ilanten 

Statistik  vertreten  sein  werden.  I  )er  inTicht  über  diese  am  2.  l)is 
4.  Mai  1899  in  Wien  abgehaltene  KiKjucte  wurde  in  der  4.  Sitzung 
des  Arbeitsljeirates  \oin  10.  Juli  i^yt)  ciNtattt  t  und  genehmigt. 
Die  Bedeutung  dieses  Schrittes  liegt  nicht  nur  in  der  F>Iangung 
einer  einheitlichen  Statistik  aller  bedeutenderen  Anstalti  n  ini  ganzen 
Staate,  sondern  darin,  dals  der  ( tedanke  einer  gewissen  einheitlichen 
l.citur^g  und  l')eeintlussung  des  gesamten  Arbeitsnachweises  aller 
Arten  \un  AiiNtallen  im  ganzen  Staatsgebiete  nicht  angefochten, 
vielmehr  synipathi^ch  begrülst  wurde  und  fortan  als  bewuLster  so/i.il- 
püliti^clicr  Lntwicklungslaktor  seine  treibende  Kralt  ausüben  wird. 

I  m  dem  zweiten  Teile  der  oben  citierten  Resolution  zu  ent- 
sprechen, wendete  sich  die  Regieiung  an  das  arbeitstatistische  Amt, 
welches  einen  Gesetzentwurf  „betreffend  die  Dienst-  und  Stellen- 
vermittlung" verfafste  und  dem  Arbeitsbeirate  in  dessen  2.  Sitzung 
vom  14.  November  1898  zur  Begutachtung  \orlcgte.  Der  Arbeits- 
beirat  wies  das  Studium  dieser  Angelegenheit  einem  Ausschusse  zu, 
in  welchem  —  gemäfs  der  Zusammensetzung  des  Arbeitsbeirates 
selbst  —  je  zwei  Vertreter  der  Regierung,  der  Unternehmer,  der 
Arbeiter  und  der  Fachmänner  vertreten  waren. 

Wenngleich  der  AusschuGs  diesen  vom  arbeitstatistischen  Amte 


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GmndzOge  dner  allgemeinen  staatlichen  Arbeitsvennittliing  (&r  Oesterreich.  283 


verfafsten  tntwurt  alshaUi  fallen  licfs  iitul  sich  gän/Iich  aiulcren 
Prinzipien  zuwendete,  so  sei  doch  in  kurzen  Worten  auf  dessen 
Grundzüi:je  hinL^ewiescn.  Der  Entwurf  unterschied  /w  ischen  gewcrbs- 
TTiätsiL^cn  iJiciist-  und  Stellenverniitlkingen  einerseits  und  nicht 
^ewerl)sinärsi;4en  StclIciuerinittIun;Tseinrichtun!;(en  andererseits.  Die 
ersteren,  die  1  )ienstverniitthin^'S^eschäfte,  deren  Re<^elunfj  der« 

zeit  in  Oesterreich  ebenso  wie  anderwärts  sehr  manj^clhaft  ist,  sollten 
der  Konzessionierung  und  überdies  mehreren  einschränkenden  Be- 
stimmungen sowie  einer  eingehenden  Kontrolle  unterwoffen  werden. 
Bezuglich  der  nichtgewerbsmäfsigen  Stellenvermittlung  wurden  die 
von  Vereinen , .  Genossenschaften  und  Gemeinden  errichteten  An- 
stalten  speziell  normiert.  Die  Anstalten  von  Vereinen  sollten  nach 
wie  vor  durch  deren  ebenes  Statut,  also  in  letzter  Linie  durch  das 
Vereinsgesetz  ihre  Regelung  erfahren.  Die  genossenschaftliche  Arbeits- 
vermittlung sollte  nur  bezüglich  der  Genossenschaften  mit  mindestens 
200  Gehilfen,  und  zwar  insofern  eine  Neuregelung  erfohren,  als  sie 
von  paritätisch  eingerichteten  Verwaltungsausschüssen  geleitet  und 
auf  ein  Statut  basiert  werden  sollte.  Den  Gemeinden  mit  mindestens 
30000  Einwohnern  wurde  die  Errichtung  und  Erhaltung  unentgelt- 
lich funktionierender  Arbeitsvermittlungsanstalten  zur  laicht  gemacht, 
welche  gleichfalls  von  paritätisch  zusammengesetzten  Verwaltungs- 
kommissionen hätten  f^cieitct  und  auf  ein  Statut  basiert  werden 
sollen.  Ueberdies  wurden  alle  Arten  von  Arbeitsvermittlungsan^t  ilt*  n 
einer  staatlichen  Kontrolle  und  der  Pflicht  zur  statistischen  Bericht- 
erstattung unterworfen. 

T^  'i  der  Beratung;  dieses  Gest- t/rnt Wurfes  im  Ausschüsse  des 
Arbeitsbeirates  wurde  die  Kxistenzberecliti^unfr  der  g^cwerbsmäfsigen 
Stellcnvermittlunfj  stark  anc^efnchten ,  die  Stcliunfjnahmc  zur  ver- 
einsmälsii^en  und  genossenschaftlichen  ArbeitsvcrmittlunL^f  prinzipiell 
L^uti^eheifsen,  da<^ei;en  !^ci;;en  die  Mi  >;^dichkeit  der  zwanL:>weisen  Kin- 
führung  komniunaler  Arheitsv  erniiltlun^sanr-talten  in  den  ( iemctnder. 
über  30000  kinwoluicr  ;:,n(>rse,  aus  der  Ki^enlunilirhkeit  der  (»ster- 
reicliisrhen  X'crfas^un^  hergeleitete  Bedenken  geltend  gemacht. 
\\'i<  htiv^^cr  aber  als  diese  Schwierigkeiten  war  der  Unistand,  dals 
dt  1  AusM  hul>  sich  grund.säl/.lich  hinsichtlich  der  Stellung  der  Ar- 
beitsvenuiitlunL:  im  Systeme  der  Verwaltung  mit  dem  Kntwurfe  nicht 
einverstanden  erklärte,  sondern  eine  betriedigen<le  Regelung  dieser 
Angelegenheit  nur  in  der  Schaffung  eines  allgemeinen  über  das  ganze 
Staatsgebiet  gespannten  Netzes  von  Arbeitsvcrmittlungsanstaltcn  er- 
blickte.   Damit  war  das  Schicksal  des  vom  arbeitstatistischen  Amte 

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284 


Ernst  Mischler, 


entworfenen  Gesetzentwurfes  besiegelt  und  die  Arbeit  inufste  ganz 
von  vom  wieder  begonnen  worden. 

Der  Ausschufs  wählte  mich  zum  BerichtefStatter  und  Übertrug 
mir  die  Aufgabe  einen  neuen  Entwurf  auazuarbeiten,  was  ich  kon* 
sequenterweise  übernehmen  konnte,  als  ich  schon  bei  den  Be- 
ratungen über  den  abgethanen  Gesetzesentwurf  mit  allem  Nach- 
drucke auf  jener  Seite  stand,  welche  die  Arbeitsvermittlung  als  eine 
allgemeine  X'erwaltungsau^abe  erfaiste.  Mit  dieser  Auffassung  wuchs 
aber  die  Sache  zu  einer  solchen  Grofee  und  Bedeutung  an,  dafs  es 
nicht  mehr  anging,  einen  Gesetzentwurf  fix  und  fertig  auszuarbeiten 
und  der  Regierung  zur  Vorlage  an  den  Rdchsrat  im  Wege  des 
Arbeitsbeirates  resp.  arbeitstatisttschen  Amtes  vorzulegen.  Es  wurde 
nunmehr  notwendig,  zunächst  festzustellen,  ob  die  grundsatzliche 
Auffassung  des  Ausschusses  über  die  Altgemeinheit  der  Arbeits- 
vermittlung im  Arbeitsbeirate  prin/ipicll  geteilt  werde  und  femer,  ob 
überhaupt  Aussicht  vorhanden  M-i,  dafs  die  Regierung  einem  so  ge- 
stalteten umfassenden  Werke  ihre  Zustimmung  geben  und  die  nötigen 
Kosten  zur  Bewilligung  empfehlen  wolle.  Nur  wenn  diese  Punkte  klar- 
gestellt waren,  konnte  sich  eine  einschlägige  Aktion  über  das  Niveau 
allenfalls  „schätzbaren  Materials"  oder  eines  sogenannten  „Buch- 
gesetzes", wenn  es  gestattet  ist  diesen  Ausdruck  als  Analogie  zum 
W'orte  Ruchdrama  zu  gebrauchen,  erliehon  luid  allenfalls  praktische 
Bedeutung  erlangen.  (leraile  huTuni  aber  handelt  es  sich  und  das 
jiraktisclie  Ziel  lautet:  die  Kinfu^aing  der  allgeirieinen  Arbeitsver- 
niittlun^f  in  da->  System  der  staatlichen  ^Sozialpolitik  auf  Grund  des 
zu  verfassenden  (ie>et/es. 

Der  Ausschufs  hat  ^ich  dnher  ^'eeinigt,  dein  Arheitsljcirate  einen 
Bericht  vorzulegen,  in  welcliein  das  ( leripjie  des  zu  erlassenden  Ge- 
setzes durch  .Anführung  sämtlicher  jtrinzipieller  Bestimmungen  eines 
s<'l(  hen  nel«t  den  erforderlichen  Erläuterungen  gegeben  wäre.  Der 
in  diesem  Sintie  \on  mir  verfafste  Bericht  wurde  dann  auch  vom 
Ausschüsse  durchberaten  und  angenommen,  worauf  er  in  der  fünften 
Sitzung  des  Arljcitsbeirates  vom  4.  Xovember  vorigen  Jahres  mit 
zumeist  nebensächlichen  Abänderungen,  welche  nirgends  den  Grund- 
gedanken tai^ierten,  mit  grolser  Stimmenmehrheit  zum  Beschlüsse 
erhoben  wurde.  Dieser  Beschlufs  hat  den  Sinn,  dafs  der  Arbeitsbeirat 
damit  dem  arbeitstatistischen  Amte  sein  Gutachten  über  die  Frage 
einer  allialligen  legislatorischen  Behandlung  der  Arbeitsvermittlung 
abgiebt,  über  welche  dieses  Amt  von  der  Regierung  befrs^  wurde. 
Ob  sich  das  arbeitstatistische  Amt  in  seinem  Gutachten  an  die 


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GrunUzügc  einer  allgemeinen  staatliclien  ArbeitävenpitÜuug  lür  OcMcrreicb. 


Regierung  an  diese  Beschlüsse  des  Arbeitsrates  halten  wird,  ist 
nicht  bekannt,  ebensowenig,  ob  die  Regierung  sich  auf  den  Stand- 
punkt der  Beschlüsse  des  Arbeitsbeirates  stellen,  und  überhaupt  die 
Angelegenheit  bis  zum  Stadium  eines  Regierungsentwurfes  vorwärts 
bringen  werde.  Sollte  dies  der  Fall  sein,  so  hat  der  Arbeitsbeirat 
bereits  im  Vorhinein  den  Wunsch  ausgesprochen  bei  der  eventuellen 
seinerzeitigen  Ausarbeitung  des  Päragraphendetails  neuerlich  zur 
Mitarbeit  herangezc^n  zu  werden,  und  demgemäfs  den  hierfür 
eingesetzten  Ausschuß  auch  weiterhin  als  aktiv  erklärt. 

Mnpf  nun  was  immer  in  dieser  Angel^enhcit  ^^cschehen,  die 
Thatsache  läfst  sich  nicht  mc  lir  \v(  .^It  n^^nen,  dafs  sich  etwa  40  er- 
fahrene Männer  aus  dem  Stan<lt  <\vv  Arhcitijebcr  und  Arbeitnehmer, 
Re^ieruiv^svcrtretcr  und  sozialpolitischen  Theoretiker  nach  einjährigen 
einnähenden  Verhandlungen  in  einer  wichtigen  offiziellen  Körper- 
schaft, mit  i^nm  überwiegender  Majorität  über  jene  Grundsätze  aus- 
gesprochen haben,  welche  bei  der  als  notwendig  erachteten  gesetz- 
lichen Re;^'e1un^  der  Arbeitsvermittlung  in  Oesterreich  inbetracht 
zu  kommen  haben.  — 

V\  ei',n  in  den  nachstehenden  Zeilen  der  Kürze  wcL^cn  \  on  <^iiu'm 
„Gesetzeiitwvirfe"  die  Rede  ist,  so  sind  darunter  immer  jene 
(irundziige  eines  l  ieset/.entwurfcs  zu  verstehen,  von  welchen  eben 
jetzt  gesprochen  worden  ist,  und  nicht  etwa  der  seiner  Zeit  vom 
arbeitstatistischen  Ainic  vurj^a-legte  formulierte  (icsetzentwurf,  von  * 
welchem  die  Beratung  später  Abstand  genommen  hat. 

II.  Die  Vorfrage  der  legislativen  Kompetenz.  —  Das 
lokal* kommunale  und  das  territoriale  Gestaltungs- 
moment. 

Bei  jedem  Gesetzentwurfe  ist  in  Oesterreich  darauf  Bedacht  zu 
nehmen,  ob  die  gesetzgeberische  Kompetenz  beim  Reichsrate  oder 
den  Landtagen  gelegen  ist,  und  femer  darauf,  dafs  die  Rechts- 
sphäre der  autonomen  Gewalten  im  Staate  insbesondere  der  Ge- 
meinden, nicht  verletzt  werde. 

Was  nun  zunächst  den  ersten  Punkt,  die  Kompetenz- 
abgrenzung zwischen  der  Reichs-  und  Landesgesetz- 
gebung anbelangt,  so  unterliegt  es  gar  keinem  Zweifel,  da(s  die 
gesetzliche  Regelung  der  Arbeitsvermittlung  der  ersten  zugehore, 
denn  die  Arbeitsvermittlui^  ist  eine  jener  Angel^enheiten  des  §11 
des  Staatsgrundgesetzes  über  die  Reichsvertretut^  vom  21.  De- 


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286 


Ernst  Mischler, 


zenilu-r  1807  R.li.Bl.  14I,  „welclic  sich  auf  Rechte.  Pflichten  und 
Ititore>>cii  l)C/iclien,  die  allen  im  Reichsrate  \  ertretent'ii  K' >iii;4reirlicn 
und  Ländern  '.^'eineinschafllich  sinil".  l  iitcr  den  u  dcjn>(  l!t<  ri  ("ic- 
sctze  beispielsweise  aufL^e/ähllen  einsclilä^^i^cn  <  icset/esni,it<  rien  i>t 
ilie  Arbeitsvermittlung,  ebensowenif;  wie  /.  H.  die  Arbciterunlalls- 
und  Kranken<^eset7.;4el)uni^  enthalten,  wol  /u  jener  Zeit  wohl  nie- 
mand an  eine  ül)er  den  Rahmen  der  (iewcrbeordnun^  hniaus- 
«j^ehcnde  Rei^eluni^f  der  ArbeitsvermitlluiiL:  als  eines  Insonderen 
Rechti^^ebietes  dachte.  Allerdin;^s  wäre  es  heute  lal.->ch,  ilii-  Arbeits- 
vermittlung' ausschliefslicli  au>  licin  zu  en^^en  Gesichtspunkte  des 
( lewerberechtes  zu  beurteilen,  und  etwa  dej>we|,en  de  r  Reichs 
geselz^febunL,'  zuzuweisen,  denn  hier  lä^e  nur  eine  durch  die  öster- 
reichische Le^altcrniinologie  allerdings  nahegelegte  Verwechslung 
von  „Gewerbe"  und  „Erwerb"  vor.  Nichts  destoweniger  finden  wir 
schon  in  der  alteren  österreichischen  Reichsgesetzgebung  hier  und 
da  Hinwetsu Ilgen  auf  eine  Arbeitsvermittlung,  wie  z.  B.  im  Gesetze 
über  das  Heimatsrecht  vom  3.  Dezember  1865  R.G.B1.  105,  wo  der 
§  26  besagt:  „Arbeitsfähige  Bewerber  um  Armenversorgung  sind 
zur  Leistung  geeigneter  Arbeit  nötigenfalls  zwangsweise  zu  ver- 
halten". Dabei  darf  es  nicht  beirren,  wenn  die  ältere  Geset^ebung 
Arbeitslose  mit  Arbeitsscheuen  in  eine  gar  zu  nahe  Verbindung 
bringt 

Einen  Einwand  gegen  die  Berechtig^ung  der  legislativen  Kom- 
petenz des  Reichsrates  kann  der  autonomistische  Standpunkt  nur 
insofern  scheinbar  begründen,  dals  er  behauptet,  die  Arbeitsver> 
mittlung  sei  überhaupt  kein  einheitliches  Rechtsgelxet,  sondern  sie 

sei  hinsichtlich  der  l^slativen  Kompetenz  zu  scheiden,  je  nachdem, 
welche  Be\ i>Ikerungsklassen  sie  betretTe.  L^nd  da  wird  weiter  ge- 
folgert, im  l'"alle  die  Arbeit>\  ci mittlung  landwirtschaftliche  Arbeiter 
I)etreffe,  falle  ihre  gesetzliche  Regelung  als  Gebiet  der  „Landes- 
kultur" in  die  Kompetenz  der  Landtage;  im  F  i!l  die  Arbeitsver- 
mittlung Dienstl)oten  betreffe,  so  gehöre  sie  nach  Art.  V  P.  6  der 
Reichsgemeindcordnung,  der  sich  in  den  Gemeindegesetzen  aller 
Lander  wiederholt,  in  den  selbständigen  Wirkungskreis  der  Ge- 
meinden, und  damit  —  was  jedoch  auch  nicht  zutrifft  —  in  den 
Wirkungskreis  der  I  .andesia-^etZLn^liung. 

Die  erstere  Argumcniicrun;^,  dir  Arbcitsx  crmittlung  landu  n  t- 
schaftlicher  Arbeiter  sei  eine  Angelegenheit  der  Landeskultur,  ist 
otkiisichtiich  lalsch,  denn  al>  I^andokultur  sind  inmier  nur  „Sachen", 
und  sächliche  Beziehungen  zu  verstehen,  welche  mit  der  Bebauung 


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Grundzüge  einer  allgcmciucn  staatlichen  Arbcilbvcrnuttlung  für  Ucätcrrcicli.  28/ 


von  Grund  und  Boden  im  Zusammenhange  stehen»  aber  durchaus 
nicht  die  persönlichen  Angelegenheiten  der  Landwirte,  seien  diese 
Arbeitgeber  oder  Arbeitnehmer.  Danach  kann  von  einem  aus» 
schliefsenden  Rechte  der  Landesgesetzgebung  auf  die  Arbeitsver- 
mittlung in  der  Landwirtschaft  keine  Rede  sein. 

Zu  demselben  Schlüsse  kommen  wir  hinsichtlich  der  Dienst- 
boten, welche  zum  gro(sen  Teil,  nämlich  als  landwirtschaftliche 
ohnehin  mit  der  eben  zurückgewiesenen  Argumentation  zusammen- 
treffen, im  übrigen,  namentlich  als  Hausdienstboten  über  diesen 
Rahmen  hinausreichen.  Im  Punkt  6  des  Art.  V  der  Reichs- 
gemeindeordnung und  den  entsprechenden  Paragraphen  der  Land* 
geiin  indrordnungcn  wird  nur  von  ,/ier  Gesinde*  und  Arbeiterpolizei 
und  der  Handhabung  <\cr  Dienstbotenordnung"  als  Gebiet  des  selb- 
ständigen Wirkungskreises  der  (ieineinden  gesprochen,  was  durchaus 
nicht  die  Arbeitsvermitthing  in  sich  begreift.  Ueberdics  entsteht 
die  Frage,  inwiefern  die  Erweiterung  des  selbständigen  Wirkur^s- 
kreises  der  Gemeinden  an  sich,  d.  h.  ohne  da£s  der  Kompetenz- 
abgrenzung zwischen  Reichs-  und  Landesgesetzgebung  mit  Rück- 
sicht auf  spezielle  ricbielc  vorL,rcgriftcn  werden  soll,  auch  durch 
Reichsgesetz,  nicht  nur  durch  Landesgesetz  erfolgen  kann. 

Und  damit  sind  wir  beim  zweiten  der  eingangs  dieses  Ab- 
schnittes hcr\orgehobenen  Punkte  an;4elan;4t,  nämlich  bei  der  Rück- 
sichtnahme auf  die  a  u  t  o  n  o  ni  e  n  l  i  c  w  a  1 1  e  n  i  m  Staate,  - 
inbesondere  auf  die  G  e  ni  e  i  n  d  e  n.  Dieser  Punkt  ist  von  hervor- 
ragender Bedeutung,  weil  es  \on  der  Stellungnahme  zu  demselben 
abhängt,  ob  in  Oesterreicii  das  reiciisdeutsciie  Vorbild  der  zahl- 
reichen kommunalen  ArhcUsvi  riniulungsämter,  welche  dort  aller- 
dings spontan,  zum  mindesten  ohne  direkten  staatliciien  Zwang  ent- 
standen sind,  nachgeahmt  werden  k.iiin  resp.  soll.  Und  da  stehen 
wir  in  (  )esterreich  vor  einer  bedeut.samen,  allerdings  deshalb  im 
Wesen  taktischen  Schwierigkeit,  weil  die  Rechtsgrundlagen  hier, 
wie  auf  so  manchen  Gebieten  der  österreichischen  Ver&ssung  nicht 
feststehen,  und  je  nach  dem  Vorwalten  des  zentralistischen  oder 
des  autonomistischen  Prinzips  im  Staatsleben  nach  der  einen  oder 
anderen  Seite  hin  praktisch  ausgestaltet  werden  können,  wobei 
wohl  feststehen  dürfte,  dafs  eine  gesetzgeberische  Aktton,  welche 
direkt  gegen  gewisse  Fundamentalsatze  des  autonomistischen  Prin- 
zips gerichtet  zu  sein  scheint,  wenig  Aussicht  auf  Verwirklichung 
hätte. 

Die  Gesetzgebung  über  das  Gemeindewesen  gehört  seit  der 


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Ernst  Mischler. 


Dezemberveiiassung  des  Jahres  1867  (§  12  des  StaatsgrundgeseUes 
vom  21.  Dezember  R.G.B1. 141  über  die  Reichsvertretung)  allerdings 

im  allgemeinen  den  Landt;iL^en  zu,  dennoch  stehi  die  reichsgesetz- 
liche Gewalt  in  mehrfacher  Hinsicht  im  Ii  in  Kraft.  M  So  ist  sie 
insbesondere  auch  berechtigt,  auf  den  hihalt  des  selbständiiren 
Wirkungskreises  der  Gemeinden  bezüglich  jener  Angelegenheiten 
einen  bestimmenden  Einflufs  auszuüben,  welche  dem  Gegenstände 
nach  ihrer  Kompetenz  untcrlltu^en,  wie  dies  z.  B.  be/.iii^lirh  der  Ar- 
beitsvermitthmp^  ohne  Zweifel  der  Fall  ist.  Dies  erfjicbt  sich  schon 
daraus,  dafs  die  Reichs<:jesctZ'gebun5T  bezüglich  solcher  ihrer  Befugnis 
vorbelialtener  (icgenstände  berechtigt  ist,  die  Kompetenznormen 
festzustellen,  und  sonach  bestimmte  Angelegenheiten  dem  selb- 
ständigen Wirkungskreise  zuweisen  kann.  Ks  dürfte  wolil  aiifscr 
Zweifel  stehen,  dafs  im  .Sinne  der  österreichischen  X'erfassung  eine 
sogen.  F.rweiterung  des  eigenen  Wirkungskreises  der  (lenuiiiden 
durch  Reiehsgeselz  erf(>lL;t  ii  könne  und  zwar  --rll )>t\erständlich  nicht 
nur,  wenn  den  (leTueinden  neue  Keelite.  sondern  auch  wenn  ihnen 
neue  PHielitcn,  also  Laoten  auterlegt  werden,  denn  die  \'erl.i>sung>- 
gesetzgebuiig  macht  in  dieser  Hinsicht  keinen  L^nterschied.  Aus 
dem  Geiste  der  X'iTfassuiigsgesetzgebung  heraus  könnte  also  wohl 
die  Herechtigung  der  Staatsgesetzgebung  zur  V  erpflichtung  iler  de- 
meinden  hinsichtlich  der  Errichtung  und  Erhaltung  von  Arbeits- 
verniittlungsanstalten  nicht  bestritten  werden. 

Praktisch,  vom  Standpunkte  der  zu  erstrebenden  Verwirklichung 
eines  Arbeitsvermittlungsgesetzes  liegt  aber  die  Sache  ganz  anders. 
Dals  die  jetzige  politische  Konstellation  in  Oesterreich  wenig  ge- 
neigt ist,  eine  Beeinflufeung  der  Gemeindeautonomie  durch  ein 
Staatsgesetz  herbeizuführen,  ist  bereits  früher  bemerkt  worden.  Aber 
selbst  wenn  dieses  Hindernis  nicht  bestände,  wäre  nur  soviel  ge- 
wonnen, dafs  die  Arbeitsvermittlung  den  Gemeinden  zur  Pflicht 
gemacht  werden  könnte.  Dabei  wäre  für  den  praktischen  Effekt 
jedoch  wenig  gewonnen,  weil  diese  Angelegenheit,  als  Gegenstand 
des  selbständigen  Wirkungskreises,  von  den  Gemeinden  in  freier, 
beliebiger  Weise  erfofst  und  ausgestaltet  würde.  Es  liegt  aber  gar 
kein  Anreiz  vor,  für  die  Arbeitsvermittlung  einen  Zustand  zu 
wünschen,  wie  ein  solcher  etwa  für  die  .Armenpflege,  viele  Zweige 
der  Polizei  etc.  in  der  weitaus  gritTscren  Mehrheit  der  (iemeinden 
besteht.   Dafe  damit  durchaus  nicht  die  Eignui^  und  BereitwiUig- 


*)  Oeslenr«icbes  Staat»wörterbadi,  I.  Bd.,  S.  689. 


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Grandzöge  eiacr  allgemcineii  ttaatlkhcD  Arbehsvermittlaiij;  fttr  Oesterreich.  289 

keit  vereinzelter  Gemeinden,  insbesondere  grö&erer  Städte,  gute 
Einrichtungen  für  die  Arbeitsvermittlung  zu  schaffen  in  Abrede  ge* 
stellt  werden  soll,  ist  selbstverständlich. 

Der  Effekt  einer  solchen  Einfuhrung  wäre  also  im  günstigsten 
Falle,  dafe  eine  Reihe  von  gröfseren  Städten  Arbeitsvermittlungs- 
einriclUungen  scliaffen  würde,  dafe  also  in  Oesterreich  im  Wege 
Ie<;islatürischen  Zwaiifjcs  etwa  jener  Znstand  lierbeigefuhrt  werden 
könnte,  der  derzeit  im  Deutschen  Reiche  besteht 

Diesen  Znstand  würde  ich  aber  —  so  sehr  er  als  Resultat 
spontaner  Entwicklung  bemerkenswert  und  im  allgemeinen  als  er- 
freulich zu  bezeichnen  ist  —  als  richtiges  Ziel  einer  Staatsgesetz* 
^'chunij;  auf  dem  dcbiete  der  Arbeitsvermittlung  nicht  ansehen 
können ;  dieses  Ziel  müfste  meines  Erachtens  höher     steckt  werden. 

Eine  noch  so  erfreuliclir  Kntwicklun«;  des  kommunalen  Arbeits- 
vernutthui^fswi-scns  hat  immer  den  Man^^el  der  Eiiiscitii^keit,  indem 
viele  Orte  und  ^anze  (iebiele  ohne  solche  I*liiuichtuf»gen  bleiben, 
und  ferner  den  Nachteil  der  Attraktion  von  Arbeitskräften  an  den 
Orten  jj^uten  X  ermittlun^iswcseiis  mit  j^leich/citi^er  Entblörsun<^^  der 
Orte  ohne  solche  Pümichtun^en ,  d.  h.  auf  K<<siLn  dieser  Ict/tercn : 
in  der  Re^el  sonach  die  verstärkte  Atttakitou  \oii  Arl)eitskräften 
in  den  Städten  mit  vermehrter  Eiit\ ölkerun^^  der  ländlichen  An- 
siedlun<:^en.  Die  Belriedii^'un;^^  über  eine  noch  so  tictl  liehe  rein 
kommunale  X'ermittlungsanstalt  ist  nicm.iis  eine  ungetrübte.  End- 
lich ist  mit  den  rein  kommunalen  Anstalten  der  Mangel  isolierten 
Voi^ehens  verbunden,  durch  welchen  sich  diese  des  Vorteils  der 
Ausgleichun,^  des  Arbeitsmarktes  begeben. 

Nun  liegt  aber  die  Sache  im  Deutschen  Reiche  so,  dafs  vielfach 
einerseits  die  kommunalen  Anstalten  untereinander,  sei  es  gebiets« 
weise  oder  in  ganz  freiwilliger  Ausdehnung  in  Verbindung  gebracht 
werden,  resp.  spontan  in  Verbindung  treten,  und  ferner,  dafs  die 
kommunalen  Anstalten  ihre  Aufgabe  nicht  so  sehr  mit  Hinblick 
auf  die  Stadt  erblicken,  in  der  sie  bestehen,  als  vielmehr  im  Hin- 
blicke  auf  ein  gröfseres  Gebiet,  für  welches  die  Stadt  gleichsam  einen 
Zentralpunkt  bietet  Diese  beiden  Entwicldungsmomente  sind  in 
den  kommunalen  Arbeitsvermittlungseinrichtungen  der  deutschen 
Städte  bereits  sehr  deutlich  zu  bemerken  und  es  ist  eine  durch  den 
Namen  herbeigeführte  Selbsttäuschung,  die  städtischen  Vermittlungs- 
anstalten im  Deutschen  Reiche  vom  kommunalen  Gesichtswinkel 
aus  zu  beurteilen:  der  territoriale  Gesichtspunkt  ist  über 
den  lokal-kommunalen  hinausgewachsen,   und  durch 


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290 


Ernst  M ischler. 


die  isolierten,  wenn  auch  zahlreichen  städtischen  Vermittlun{:^sanstalten 
in  den  Landern  des  Deutschen  Reiches  schimmert  der  Gedanke 
der  Aus'j^u-staltun«;  eines  territorialen  Netzes  dcutUch  hindurch,  diC 
Richtung  der  künftigen  Entwicklung  klar  anzeigend. 

Und  so  kann  ich  auch  fiir  Oesterreich  das  Ziel  einer  Gesetz- 
gebung über  Arbeitsvermittlung  nicht  in  der  Schaffung  lokaler 
kommunaler  Plinrichtungen ,  sondern  nur  in  der  Einführung  eines 
territorial  gegliederten  möglichst  lückenlos  gespannten  Netzes  von 
Arbeitsvermittlungsanstalten  erblicken. 

Daraus  ergiebt  sich,  dafs  die  in  der  österreichischen  Verfassung 
liegende  Schwierigkeit  der  Schaffung  kommunaler  Arbeitsvemiitt- 
lun^^en  im  Wege  der  StaatsL,a'sctz^ebun{j  keine  Schwierigkeit  für 
die  Lösung  dieses  sozialpolitischen  IV-  I  Irin«  <  überhaupt  bedeutet, 
weil  es  gar  nicht  zweckmäfsig  ist,  den  Weg  kommunaler  Einrich- 
tungen zu  betreten. 

ni.  Der  Gedanke  einer  a  11  ij^e meinen  staatlichen  Ar» 
beitsvermittlung  im  Systeme  der  Verwaltung. 

Die  Aufteilung  der  Forderung  nach  einer  Arbeitsvermittlung  von 
Staatsw^en  erscheint  auf  den  ersten  Anblick  als  ein  unvermittelter 
Schritt  in  der  Ausdehnung  der  sozialpolitischen  Gresetzgebung.  Es 
dürfte  gar  viele  geben,  welche  die  Motivierung  fiir  einen  solchen 
Schritt,  eben  seiner  anscheinenden  Unvermitteltheit  wegen,  nur  in 
einem  allgemeinen  gesellschaftsphilosophischen  Postulate  glauben 
finden  zu  können,  etwa  in  der  Forderung  nach  einem  „Rechte  auf 
Arbeit''  oder  einem  noch  allgemeineren  „Rechte  auf  Existenz'*. 
Ebenso  vmd  es  viele  geben,  fiär  welche  die  Forderung  nach  Staat- 
liehen  Arbeitsvermittlungsanstalten  nicht  nur  ein  Postulat  der  Sozial- 
politik sondern  Staatssozialismus,  Sozialismus  schlechthin  bedeutet. 

Und  doch,  sehen  wir  unbe&ngen  näher  zu,  ist  dieses  ganze 
aus  der  Geschichte  des  Sozialismus  hergeholte  Rüstzeug  —  über 
welches  zu  sprechen  wir  in  diesem  Rahmen  gar  keine  Veranlassung 
haben  und  welches  wir  überhaupt  nicht  nebenbei  abzuthun  unter- 
nehmen würden,  —  fiir  unser  Problem  vollständig  überflüssig.  Es 
genügt  hiefür  von  den  gegebenen  gesellschaftlichen  Grundlagen 
und  von  deren  Ausgestaltung  in  unserem  positiven  Verwaltungs- 
rechte  auszu<:fehen,  und  wir  •^fclangen  in  gänzlich  ungezwungener 
Fortentwicklung  zu  dem  Verlangen  nach  staatlichen  Einrichtungen 


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GrandzUge  einer  allgcmciucn  btaallichcn  Arbeit:» Vermittlung  iür  Oe^terreicll. 


ftir  die  Arbeitsvermittlung.  Die  folgende  Ausfuhr ung  soll  dies  er- 
weisen. 

Als  Aus<;aii^spunkt  unseres  gesellschaftlichen  ZusainiiRnhaltes 
gilt  der  Satz  von  der  Krhaltung  des  Lebens  durch  die 
Arbeit,  und  gleichzeitig  liegt  allen  Verwaltungsgebieten  die  An« 
schauung  zu  Grunde,  jedermann,  der  im  Besitze  seiner  Ki^fte 
ist,  sei  in  der  Lage  zu  arbeiten,  sonach  sein  und  der  Setnigcn 
Leben  zu  erhalten.  Dieser  Satz  tritt  als  etwas  ganz  selbstverständ- 
liches, wie  ein  Dogma  auf,  und  es  werden  schwerwi^ende  Kon- 
sequenzen hieraus  für  die  verwaltungsrechtliche  Regelung  verschie- 
dener  und  nahezu  der  wichtigsten  Gebiete  der  Verwaltung  des 
persönlichen  Lebens  gezc^en.  Ob  der  Zusammenhang  von  Lebens- 
eriialtung  und  Arbeitsm^Itchkeit  thatsächlich  als  etwas  notwendiges 
bestehe,  ob  also  die  Lebenserhaltung  wirklich  in  die  Hand  des 
einzelnen  gelegt  sei,  darüber  wird  ein  Zweifel  in  der  Auffassung 
der  einschlägigen  öffentlichen  Einrichtungen  überhaupt  nicht  auf- 
geworfen ;  hinter  das  Dogma  zu  sehen,  empfindet  unser  Verwaltungs- 
recht kein  Bedürfnis.  Die  X'crwaltung^ebicte,  welche  hier  inbe- 
tracht  kommen,  -iiul  namentlich  jene,  die  mit  Subsistcnzlosigkeit 
und  Armut,  Arbeitscheu,  Hcttel  und  Vi^abundage,  Abschiebung  und 
Zwangsarbeit  zusammenhängen,  aber  nu' h  die  <  iewerbeordnung  U. 
a.  m.  Wir  wollen  hieraus  die  Grundideen  des  Heimatsrechtes  resp. 
der  Armenversorgung,  der  Vagabundage  und  des  gewerblichen  Ar- 
beitsvertrages nach  imscrcr  Gewerbeordnung  herausgreifen. 

Das  österreichische  Heimatsrechtgesetz  von  1863  spricht  nur 
an  einer  einzigen  Stelle,  nämlich  im  §  26  von  der  Arbeitslosigkeit : 

„ArbeitsHlliige  Bewerber  um  ArmenTersorgung  sind  zur  Leistung  geeigneter 
Arbeit  nötigenfalk  swangsweise  »1  Terhalten.'* 

Hieraus  geht  klar  und  deutlich  hervor,  dafs  dem  Gesetzgeber 
der  Gedanke  einer  unfreiwilligen  Arbeitslosigkeit,  welche  der  Arbeits- 
lose gern  selbst  durch  Ergreifung  der  ihm  fehlenden  Arbeitsgelegen- 
heit beendigen  würde,  ganz  unverstandlich  blieb.  Das  Wort  „ver- 
halten" zeigt  deutlich  an,  dafs  das  Gesetz  nur  eine  gewollte  Arbeits- 
losigkeit, d.  h.  Arbeitscheu  kennt.  Im  günstigsten  Falle  könnte  man 
aus  der  Einschiebung  der  Worte  „ndtigen^ls  zwangsweise"  an- 
nehmen, dafs  der  Gesetzgeber  an  die  Möglichkeit  einer  gewissen 
Indolenz  in  der  Aufsuchung  von  Arbeitsgelegenheit  dachte,  welche 
zwar  nicht  eines  eigentlichen  Zwanges,  wohl  aber  bis  zu  einem  ge 
wissen  Mafse  eines  „Anhaltens",  einer  Nötigung,  bedürfe.  Keines- 


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292 


Ernst  Miscbler, 


falls  aber  kann  man  annehmen,  dafs  der  Gedanke  einer  unfrei- 
willigen  Arbeitslosigkeit,  die  der  Arbeitslose  spontan  und  ^crn  durch 
Arbeitsleistung^  sanieren  würde,  die.sctn  i?  26  zu  (irunde  lic^t.  Ueber- 
dies  sei  bemerkt,  dafs  vom  Standj^unkte  des  (geltenden  Heiinats- 
rechts  aus  das  rroblem  der  Arbeitslosigkeit  erst  für  den  Fall  der 
Verarmung  aktuell  wird. 

Jedenfalls  schwebt  also  diesem  (leset/e  der  (leilaiike  vor,  dafs 
jedermann  sein  und  der  Seinif^en  Leben  durch  Arbeit  zu  erhalten 
in  der  Lage  sei,  solange  er  individuell  ,,a  r b e  i  t  s f ä h  i  g"  d.  h. 
im  Besitze  der  Kralle  ist.  Das  (iesetz  lirulet  nun  für  den  Fall  der 
gewollten  Nichtausübung  der  \ orliandenen  Arbeitskraft  die  Abhilfe 
einfach  darin,  dafs  der  ( icinciiulc  das  Ri  eht  gegeben  wird.  Arlu-ii 
zwangsweise   zuzuweisen.  kann    <,inet>eils    durch  Arbeitslje- 

schaffung  durch  die  denieinde  selbst  im  Rahmen  der  Gemeinde- 
verwaltung geschehen;  dals  dies  nur  ganz  ausnalunsweise  möglich 
ist,  braucht  nicht  rrsi  weiter  betont  zu  wertlen,  alle  sog.  N()t>tan(l>- 
arbeiten ,  als  Schneescliauleln ,  Gassenkeliren  etc.  reichen  Iwitmi  ati 
(km  ivand  des  Problems  heran,  st»  \  ii  l  auch  ciavon  gesprochen  wit\l. 
Anderseils  kann  die  .•\rbeitszuwei.>ung  im  Wege  von  Linrichlungen 
(ur  Arbeitsvermilllung  erfolgen.  Damit  stehen  wir  aber  schon  vor 
der  öffentlichen  Arbeitsvermittlung.  Dafs  einer  solchen  die  (le- 
meinde  ohnmächtig  gegenüber  steht,  ist  heute  doch  ohne  weiteres 
klar  und  wird  durch  das  Vorgehen  einiger  grofserer  Städte  durch- 
aus nicht  im  allgemeinen,  mit  Rücksicht  auf  die  Gemeinde  schlecht- 
hin, widerlegt.  Dasselbe  gilt  iiir  diejenigen  Einrichtungen,  welche 
von  Seite  der  Lander  zur  Erleichterung  der  GemeindearmenpHege 
getroffen  werden,  wie  insbesondere  itir  die  Naturalverpfiegstationen, 
welche  —  bei  aller  Anerkennung  ihrer  positiven  Leistui^en  —  hin- 
sichtlich der  Arbeitsvermittlung  doch  nur  vereinzelt  d.  h.  für  ver- 
einzelte Orte,  Bevolkerungsteile,  Berufe  und  Fälle  zu  wirken  im- 
stande sind,  u  id  bei  denen  überdies  die  Vermittlung  von  Arbeit 
als  das  Sekundäre  durch  die  Anforderungen  der  Naturalverpfl^^ng 
der  Wandernden  als  das  Primäre  in  Fesseln  eingeengt  wird,  welche 
ihrer  vollen  Entfaltung  hemmend  entgegenstehen. 

Die  Folge  ist,  dafs  die  Gemeinden  die  Arbeitsbeschaffung  für 
arbeitsfähige  Arbeitslose  vorzunehmen  aufser  stände,  dafs  sie 
sonach  dieselben  als  Arme  zu  versorgen  genötigt  sind.  Die  arbeits- 
fähigen .Arbeitslosen  müssen  von  den  übrigen  Ciemeindeniitgliedern 
thatsächlich  für  die  Dauer  der  subsistenzlosen  Arbeitslosigkeit  er- 
halten werden.   Wollte  man  ironisch  sein,  könnte  man  sagen,  es 


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Grundzüge  einer  allgemeinen  staatlichen  Arbeitsvermittlung  (Ur  Oesterretdi.  293 


bestehe  sonacli  zwar  kein  Recht  auf  Arbeit,  dafür  aber  ein  in  die 
I'onn  der  Vcrpflichtiinir  der  Gemeinde  zur  Lebenserhaltung  ge- 
kleidetes Recht  auf  Existenz  auch  (tir  die  Arbeitsfähigen  in  Fällen, 
in  denen  sie  nicht  arbeiten»  weil  keine  Arbeit  fiir  sie  vorhanden  ist. 
Bei  dem  Mangel  bestehender  Arbeitsvermittlungseinrichtungen  be- 
steht eine  beträchtliche  Armenüberlast  för  die  Gemeinden,  d.  h.  die 
Steuerträger  in  denselben. 

Wir  sehen  sonach  hier  auf  dem  Gebiete  des  Heimatsrechtes, 
*  dats  das  Dc^^a  von  der  Erhaltungsmöglichkeit  des  individuell  Ar- 
beitsfähigen den  Hintergrund  der  gesetzlichen  Regelung  bildet,  dals 
—  weil  es  eben  einen  nicht  zutreffenden  Satz  enthalt  —  der  Ge- 
meinde ganz  unerfüllbare  Aufgaben  zugewiesen  wurden,  und  dals  es 
dazu  iiihrte,  eine  Hilfe  för  den  Arbeitslosen  erst  eintreten  zu  lassen,  * 
sobald  die  Verarmung  eingetreten  ist.  Hat  die  staatliche  Gesetz- 
gebung aber  dieses  Verwattungsgebiet  unter  der  Voraussetzung  des 
Bestandes  des  Dogmas  von  der  individuellen  Arbeitsmc^lichkeit  ge- 
regelt, und  stellt  sich  dieses  Dogma  als  falsch  heraus,  so  ist  sie,  um 
jene  Verwaltungsgebiete  aufrecht  zu  erhalten,  verpflichtet,  jene  Ein- 
richtungen zu  schaffen,  wcK  hc  die  itidividuelle  Arbeitsmöglichkeit 
herbeifuhren.  So  entwickelt  sich  die  Forderung  nach  staatlichem 
Einc^reifen  auf  dem  Gebiete  der  Arbeitslosigkeit  ganz  von  selbst 
und  konsequent  aus  den  derzeitigen  Rechtsgrundlagen  des  Heiroats- 
rechtes.  — 

Wenn  wir  nun  noch  andere  cinschlägi;^e  Gesetze  heranziehen, 
so  können  wir  uns  dabei  kürzer  fassen.  Im  Vagabundengesetze 
vom  24.  Mai  18Ö5  R.G.B1.       heilst  es 

1;^  3.)  ArbritsfHhi^e  Pi-rsonen,  welcho  kein  Hinkommen  ond  keinen  erlaubtOl 
Enverb  liabt-n  uml  die  Sirhcrlifit  der  Person  oder  des  Kigentums  pcfäbrden,  könneil 
von  der  Sichcrhcitsbehörde  angewiesen  werden,  innerhalb  einer  ihnen  bestimmten 
Frist  nachzuweisen,  dafs  sie  sicli  auf  erlaubte  Weise  ernähren.  Kommen  sie  diesem 
Auftrage  aus  Arbeiischcu  nicht  nach,  .so  sind  sie  mit  strengem  Arrest  von  8  Tagen 
bis  za  3  Monaten  zu  bestrafen.  . . . 

4.)  Jede  Gemeinde,  in  deren  Gebiete  eine  arbeitsfähige  Person  sich  befindet 
oder  betreten  wird,  welche  weder  die  Mittel  su  ihrem  Unterhalte  aodi  einen  er- 
laubten Erwerb  hat,  ist  berechtigt,  derselben  eine  ihren  Fähigkeiten  entsprechende 
Arbeit  gegen  Etttlohnmig  oder  Natnrakerpfl^ong  zoznweiscn.  Wenn  diese  Pcrsoin 
sich  weigert,  die  ihr  zugewiesene  Arbeit  zu  leisten,  so  ist  sie  mit  strengen  Arrest 
von  8  Tagen  bis  zu  1  Monat  xu  bestrafen. 

Wenn  der  Gesetzgeber  einen  Arbeitslosen  glaubt  nötigen  zu 
können  innerhalb  einer  Frist  nachzuweisen,  dals  er  sich  auf  erlaubte 


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294 


Ernst  Mischler, 


Weise  ernähre,  so  kann  dies  nur  auf  Grund  der  Anschauung  ge- 
schehen, dafs  es  von  dem  Betreffenden  abhänge,  Erwerb  d.  h.  Arbeit 
zu  finden.  Sonst  würde  ein  solcher  obrigkeitlicher  Befehl  grotesk  sein, 
etwa  so  als  ob  der  herbeigerufene  Arzt  den  Kranken  dadurch 
heilen  wollte,  dafs  er  ihm  aufträgt  binnen  bestimmter  Zelt  den 
Nachweis  zu  erbringen,  dafs  er  gesund  sei.  Die  Nichtbefolgung 
dieser  Aufforderung  einen  Er^^erbsnachweis  zu  erbringen,  ist  für  den 
Arbeitslosen  unter  Umständen  ein  strafgerichtliches  Delikt,  nämlich 
dann,  wenn  die  Arbeitsscheu  das  Motiv  bildet,  und  sie  kann  auch  • 
bis  zur  Anlialtunii  in  einer  Zwangsarbcitsaii^t  ili  führen.  Allerdings 
gilt  dies  nur  hinsichtlich  der  Personen,  weiche  „die  Sicherheit  der 
Person  oder  des  Eigentums  gefährden".  Aber  kann  dies  nicht  fast 
für  jeden  Arbeitslosen,  namentlich  bei  tTröfscrcn  Ansamnilungen 
solcher  behauptet,  resp.  vorgeschützt  werden?  \\\c  soll  mm  der 
Beweis  erbracht  werden,  dals  das  Hrlangen  eim"r  Arbeit  nicht  aus 
Arl)eitsscheu  stattj^'efuiulcn  hat*  Droht  da  die  ( lesetzgebung  nicht 
mit  schweren  Straten,  ohne  Kinriclitun<;en  zur  \'rrfii<^mn,;^f  zu  stellen, 
welche  der  Arbeitslose  benutzen  kann,  um  Arbeil  /u  finden,  oder 
welche  ihm  i^^cstattcn,  eitien  lej^alr  ii  Beweis  über  die  I  nmöglichkeit 
der  derzeitigen  ArbcilsaulHnduni^  zu  luhren,  der  ihn  vor  Arrest  und 
Zwani^sarbeitsanstalt  schützt?  Dic^e  draknuivchcn  Malsnahmen  des 
(Ie^etzes  i^CL^en  Arbe!tsl*)>c  koiuun  eben  nur  be<^ritTen  werden, 
wenn  man  die  Anschauung  \oraussetzt,  dafs  tlic  Erlangung  von 
Arbeil  im  Hclirljcn  jedes  einzelnen  stehe,  resp.,  dafs  nur  in  Aus- 
nahmsl.ilitii  ein  anderer  Zu>land  vorliege.  .Also  auch  hier  das 
Dogma  von  der  individuellen  Krhaltungsmöglichkcit  des  Lebens 
durch  Arbeit. 

Im  §  4  macht  dann  das  Vagabundengesetz  in  der  Behandlung 
der  Arbeitslosen  einen  weiteren  Schritt  auf  der  im  §  26  des  Hei- 
matsgesetzes bezeichneten  falschen  Ifohn.  Dort  hatte  ofTenbar  nur 
die  Heimatsgemeinde  das  Recht  der  Abeitszuweisung,  und  zwar  nur 
hinsichtlich  der  die  Armenversorgung  in  Anspruch  nehmenden  Per- 
sonen; im  §  4  dagegen  wird  jeder  Aufenthaltsgcmeinde  das  Recht 
zugesprochen,  dem  (subsistenzlosen)  Arbeitslosen  eine  entsprechende 
Arbeit  und  zwar  gegen  Geldlohn  oder  blofse  Naturalverpflegung 
unter  Arrestbedrohung  anzuweisen.  Hierin  liegt  die  Losung 
der  Arbeitslosenfrage  nach  der  derzeitigen  österrei» 
chischen  staatlichen  Gesetzgebung.  Dahin  muCste  die  Ge- 
setzgebung konsef{ucnterweise  gelangen,  damit  ist  sie  aber  auch  am 
Ende  der  Sackgasse,  in  welcher  sie  vorwärts  schreitet  und  die  ihr 


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Grundzüge  einer  allgemeinen  :»Uatliclicn  ArbcUsvcrraittluug  lür  Oesterreich. 


nur  gestattete,  einen  kleinen  Weg  zurückzulegen.  Auch  diese  Mafs« 
reget  kann  man  nur  verständlich  finden,  wenn  die  Unmöglichkeit 
der  Arbeitsauffindung  als  eine  Ausnahme  angesehen  wird,  denn 
sonst  hätte  es  doch  gar  keinen  Sinn,  einen  Zwang  zur  Annahme 
einer  Arbeit,  und  ferner  die  Möglichkeit  einer  Naturalentlohnung  zu 
statuieren.  Denn  wohlgemerkt,  dieser  §  4  spricht  vom  (subsistenz^ 
losen)  Arbeitslosen  überhaupt  und  nicht  etwa  von  Arbeitsscheuen 
oder  Landstreichern.  Der  Ausw^,  den  der  Geseta^ber  hinsichtlich 
der  Losung  der  Arbeitslosenfirage  hier  trifft,  ist  kläglich.  Er  sta- 
tuiert ein  vollständig  ungeeignetes  Organ,  die  Gemeinde,  i^iebt 
dieser  nur  ein  Recht  aber  keine  Pflicht,  sorgt  hiemit  nicht  für  den 
Arbeitslosen  sondern  für  die  übrigen  Bevölkerungsteile,  und  stellt 
jccU  n  subsistenzlosen  \vl)eit.sl()>en  vor  die  Nötigung,  eine  Arbeit  in 
der  Gemeinde  eventuell  ohne  Geldlohn  annehmen  zu  müssen,  ohne 
selbst  eine  passende  Arbeit  aufsuchen  zu  können.  Die  Fra^e  der 
Arbeitslosen  wird  nicht  durch  Einrichtunfren  zur  Erleichterung 
dos  Auffindens  von  Arbeit ,  sondern  durch  Zwanjx  zur  Annahme 
einer  ^uIcIk-u  '^a'li'>st.  durch  Statuieruncf  eines  Zwanges,  ehe  der 
Weg  der  Ileiliiltc  /v.r  Arbeitsauffinduiig  beschritten  worden  ist.  Die 
staatliche  (iesel/grl)ung  löst  die  I'rage  der  ArbcitsUisen  nicht  durch 
Einrichtungen  zur  leichteren  Arbeitsbc>ciiathiiig,  soiulern  durch  die 
Statuierung  eines  Rechtes  für  die  AufciithaitsgemeiMtlcri  zur  zwangs- 
weisen Arbeitszuweisung.  Der  Zwang  zur  Arbeitszuweisung  darf 
aber  nur  der  gewollten  Fernhaltung  von  Arbeit  entsprechen,  ilcr 
Arbeitslosigkeit  schlechthin  entspricht  dagegen  nur  die  Arbeitsver- 
mittlung. — 

Denselben  Ideengang  wie  im  MeimatsreclUs-  und  im  \'agai)unden- 
gesetze  finden  wir  auch  im  Schubgesetze  vom  27.  Juni  1871 
R.G.B1.  88. 

(§  1.)  „Die  Abiichicbung  au!>  einem  bestimmten  Orte  oder  Gebiete  mit  der 
Verweisung  in  die  Znsländigkcitsgemeiade  . . .  (darf  «ms  polizeilichen  Rücksichten 
erfolgen)  . . . 

b)  gegen  aniweia>  und  bestimmongslofie  Individuen,  welche  kein  Einkommen 
md  keinen  erlaubten  Erwerb  nachweisen  können.** 

Wenn  der  Arbeitslose  seine  Legitimationspapiere  nicht  zur 
Hand  hat,  so  kann  er  sonach  in  der  Heimatsgemeinde  abgeschoben 
werden.  Da  man  vernünftigerweise  nicht  annehmen  kann,  da(s  die 
Abschiebung,  welche  immer  eine  sehr  harte  Strafe  darstellt,  wegen 
des  Nichtbesitzes  der  Legitimationspapiere  verhangt  werde,  so 
kann  der  Grundgedanke  des  Gesetzgebers  nur  der  gewesen  sein,  die 


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2y6 


K  r  n  » t  M  i  s  c  1)  1  c  r , 


Abschiebung  wegen  des  Nichtvorhandenseins  von  Einkommen  oder 
erlaubtem  Erwerb  d.  h.  wegen  der  Arbeitslosigkeit  eintreten  zu 
lassen;  dies  aber  kann  nur  den  Gedanken  zulassen,  dafs  die  Arbeits- 
losigkeit als  etwas  verschuldetes,  d.  h.  im  Willen  gelegen  angesehen 
werde  —  sonach  auch  hier  wieder  das  Dogmz  von  der  individuellen 
Erhaltungsmöglichkeit  durch  Arbeit  und  von  der  Verwechslung  von 
Arbeitslosigkeit  als  eines  an  sich  unverschuldeten  Zustandes  mit 
Arbeitsscheu  als  einer  Schuld,  oder  wenigstens  eines  strafwürdigen 
Zustandes. 

Denselben  (icclanken^^1^fJ^  von  der  unbedinj:jten  individuellen 
Erhaltungsmo^lichkeit  durch  Arbeit  finden  wir  aber  nicht  nur  im 
Komplexe  der  PoHzcigeset/e,  wir  bcgejjncn  ihm  überhaupt  überall 
<1  >rt  wo  vom  Arbeitsverhältnis^.-  mittelbar  oder  unmittelbar  die 
Kr  ie  ist,  so  z.  B.  auch  in  der  iTCWcrbeordnuno^  des  Jahres  1859. 
In  dieser  findet  sich  die  Rcstimmun^  (i?  jj),  dafs,  im  Falle  nichts 
anderes  vereinbart  ist,  die  I4tägiijc  Kündij^ninj^sfrist  zu  «selten  hal)e ; 
daraus  srhlielst  nun  die  \'erordnunt;  des  Handelsministeriums  \oin 
1  3.  September  18S9  (Z.  30074I,  dafs  die  kuiulii^unjrsfrist  in  der  Ar- 
beitsordrnuv^  j^v'inzlirh  au■^L;e>clllosseIl  werden  könne,  ein  Rechts- 
slandjuinkt  und  eine  l'raxis,  die  Mm  den  neu  ein^efiihrten  Gewerbc- 
<::;;erichtcn  allcrdin;.^''-  cnerj^iscli  i)csli ittcii  werden.  Wenn  das  llandels- 
ministerium  zu  einer  solchen  prin/ipiellen  Hntscheidunp^,  die  iiebenl)ei 
ffcsagt  von  enormer  Tra-^weite  ist,  ^elanv;t,  so  kann  es  dies  nur  von 
der  Erwägunr;  fjeleitet  L;el!ian  haben,  dals  die  Neubegründung  eines 
Arbeitsverhältnisses  dem  Arbeiti  r  jederzeit  sofort  möglich  sei,  denn 
sonst  würde  ja  die  brutale  Zulassung  bewuisler  Aulscrexislenz- 
setzung  statuiert  werden,  welche  wir  doch  niemals  als  berechtigte 
Absicht  einer  Verwaltungsmafsnahme  ansehen  können.  Da  aber 
die  Neubegründung  von  Arbeitsverhältnissen  dem  Arbeiter  eboi 
nicht  sofort  möglich  ist,  er  sonach  durch  den  Ausschlufs  jeder 
Kündigungsfrist  vor  die  Existenzbedrohung  gesetzt  wird,  ist  die 
genannte  Entscheidung  sozialwirtschaftlich  falsch;  da  sie  überdies 
von  den  Gerichten  auch  in  ihren  rein  juristischen  Elementen  ange- 
fochten wird,  so  bleibt  von  ihr  nichts  übrig,  als  dafs  sie  einen 
weiteren  Beweis  bildet  für  das  Dogma  von  der  unbedingten  indi- 
viduellen Existenzmöglichkeit  durch  Arbeit,  als  eine  der  Grundlagen 
unserer  Verwaltung. 

Doch  nun  genug  der  Exemplifizierungen.  Wenn  sie  auch  keinen 
erschöpfenden  Beweis  erbringen  sollten,  so  dürften  sie  wohl  erläutert 
und  dem  Verstandnisse  näher  gebracht  haben,  dafs  In  der  That  in 


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ürundzügc  einer  allgemeinen  staatlicbeo  Arbeitsvcrnnlllung  lür  Ücatcrrekh.  297 

unserer  Verwaltung  die  Grundanschauun^  von  der  individuelien  un- 
bedingten Arbeitsmöglichkeit  Arbeitsfähi<;er  bestehe,  daCs  die  Ver- 
waltung deshalb  ein  Problem  der  Arbeitslosigkeit  als  Grundlage 
eines  normalen  Verwaltungsgcbietes  nicht  kennt,  dafs  für  sie  die 
Arbeitslosigkeit  vorwiegend  ein  exceptioneller  und  selbstgewollter 
Zustand  ist,  und  dals  an  die  thatsächliche  Arbeitslosigkeit  Kon- 
sequenzen schwerwiegendster  Natur  geknüpft  werden,  ohne  dals  auch 
nur  im  geringsten  die  Handhabe  zu  einer  Beseitigung  der  Arbeits- 
losigkeit auf  dem  W^e  positiv  förderlicher  Verwaltungsmalsregeln 
geboten  würde.  Wir  finden  demgemäls  weder  in  unserer  Verfassung, 
etwa  in  dem  Staatsgnindgesetze  über  die  allgemeinen  Rechte  der 
Staatsbüi^er  die  Statuierung  eines  Rechtes  auf  Arbeit,*)  noch  in 
unseren  V'crwnltungsgesetzen  die  Statuierung  einer  Verpflichtung*) 
des  Staates  oder  anderer  ötTentlichcr  Körper  zur  ArbeitsbcsrhafTung."*) 
Nun  ist  es  aber  doch  eine  notorische  Thatsachc,  dafs  die  in- 
dividuelle Arbeitsmöglichkeit  Arl)eitsfahiger  derzeit  nicht  mehr 
schlechthin  besteht,  wobei  es  ganz  offen  bleiben  soll,  ob  sie  jemals 
im  allgemeinen  bestanden  habe;  die  Arbeitsnv >L^1irhkcit  resp.  Arbeits- 
losigkeit ist  ein  soziales  Problem.  Durch  die  Mobilisierung  der 
Landarbeiter,  den  Zuzug  zu  den  Städten,  die  rechtliche  Freizügig- 

*)  Dies  war  l.  B.  in  der  franxDsischcn  Vcrfassun^j  vura  24.  Juni  1793,  aller- 
dings in  der  anklaren  Form  einer  als  „Meui>cbenrcchi"  hingestellten  Pflicht  der  Ge- 
selkcbaft  der  FalL 

*)  Dagegen  das  Prenfsiscbe  Lsndrecht  T:  II,  Tlt  19,  §  1,  a:  Dem  Staate 

kommt  es  su,  (ttr  die  Verpflegung  derjenigen  Bttrger  an  sorgen,  die  sich 

ihren  Unterhalt  nicht  selbst  verKhaflfcn  können.  —  Denjenigen,  denen  es 

nur  an  .  .  .  Gelepcnlieit,  ihren  .  .  .  L'nterhah  zu  verdienen,  mangelt,  sollen  Arbeiten, 
die  ihren  Kriilten  un>!  I*"iihif;koiten  angemessen  sind,  anp'  wi^'sen  werden.  Jedoch 
bemerkt  A.  Meng  er  I>i^  K.cbt  auf  den  vollen  Arbeitsertrag,  S.  23)  mit  Recht 
biezu,  dafs  diese  dem  Wurilautr  nach  sehr  weitgehenden  Bestmmiungen  in  Wirklich- 
keit nnr  die  Armemmterstützung  im  Auge  haben. 

*)  Ohne  Anerkennung  oder  Setzung  einer  solchen  Vcrpfltcktnng  sind  allerdings 
von  Staatswegen  anch  in  Oesterreich  sn  Zeiten  Einrichtungen  Ittr  Arbeitsbeschaffung 
vorObergebend  geschalten  worden,  jedodi  stets  im  Zusammenhange  mit  der  Armen» 
pflege  oder  Vagabundenpolizei.  So  insbesondere  die  Arbeits-  und  Werkhäuser,  welche 
sirh  bei  ihrem  «rsten  Auftreten  unter  I,>-opold  I.,  1671.  norh  '/urhtli:iuser  dar- 
str-Ucn,  jedorh  in  lUr  Form  des  unter  K;irl  VI.  im  Jahre  172*»  omllneteu  Arbeits- 
hauses entschieden  auch  die  ArboitsbcM  hutlung  be/weckcn,  wenngleich  zu  dem 
Zwecke,  um  die  bettlerpolizeilichcn  Maf^regeln  in  Anbetracht  des  Bestandes  eines 
solchen  Art>eitshanses  energischer  handhaben  «1  können  (Oesterr.  Staatswörterbnch 
n.  Bd.,  S.  1633  f.). 

Archiv  für  sei.  GcMUgeVimg  u.  SuiUtik.  XV.  20 


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29» 


Ernst  Mischlcr, 


keit  und  Wandergewohnheit  der  erstandenen  Arbeitermassen,  die 
plötzlichen  Erschütterungen  zufolge  IVoduktions-  und  Absatzkrisen, 
durch  die  Unmöglichkeit,  den  Arbeitsmarkt  zu  überblicken,  durch 
die  zunehmende  Desoi^nisation  im  Handwerke  und  die  von  An- 
beginn an  unterbliebene  Organisierung  des  Marktes  der  Hausdienst- 
boten hat  die  Arbeitslosigkeit  so  grossen  Umfang  angenommen, 
dafs  wir  von  der  unl)C(lingten  individuellen  Erhaltun^smöglichkeit 
des  Lebens  durch  Arbeil  als  rei^^elniäfsir^cm  (icsellschaftszustand  nicht 
sprechen  können.  W  enn  aber  die  staatliclie  (ieset/^ebunp;  von  dem 
Grundprinzipc  beherrscht  ist,  die  Arbeitslosigkeit  sei  ein,  vielleicht 
sogar  verschuldeter  Ausnahmezustand,  und  an  diese  schwer- 
wiegende Konsequenzen  für  Individuum  und  Gesellschaft  knüpft, 
so  entsteht  für  die  Gesetz^^obung  —  sobald  die  Unrichtigkeit  der 
durchgreifenden  Grundanschauung  erkannt  ist  —  die  Verpflichtung, 
einen  derarli;^^en  Zustand  der  \'erwaltun;.';scinrichtunc;^cn  herbeizu- 
führen, durch  wclclien  die  individuelle  liallungsmöglichkeit  des 
Lebens  iniuel>  Arbeil  insoweit  möglich  als  normaler  Zustand  herbei- 
geführt werde;  dies  kann  sie  nur  dadurch  thun,  dals  sie  den  sozialen 
Kern  in  dem  Prolileme  der  Arbeitslosigkeit  prinzipiell  anerkennt 
und  ihm  gerecht  wird. 

Diese  horderung  an  den  Staat  nach  Ilerbcilührung  der  Mög- 
lichkeit der  Arbeitsbethiitigung  kann  selbstversländlich  vernünftiger- 
weise nur  mit  Kucksicht  aut  die  gegenwärtige  gesellschaftliche  und 
staatliche  ( iesamtorganisation  erhoben   werden.    Mit  Rücksicht  auf 
die   derzeitige    ( lesellschaflsordnung ,    in    welcher    der   Indiv  idual- 
betrieb  gegenüber    den   öffentlichen  Ünternehmungen    doch  die 
ganz  allgemeine  Regel  bildet,  kann  die  Aufgabe  der  Verwaltung 
nicht  darin  gelegen  sein,  prinzipiell  Arbeitsgelegenheiten  zu  schaffen 
und  zwar  etwa  nach  Mafsgabe  der  auf  dem  Arbeitsmarkte  vor- 
handenen  Arbeitslosen.   Dies  ist  sogar  —  wenn  es  die  Verwaltung- 
da  oder  dort  dennoch  unternimmt,  wie  z.  B.  hinsichtlich  der  Arbeits- 
beschaffung durch  die  Gemeinden,  von  der  oben  die  Rede  war  — 
grundfalsch ,  weil  die  Verwaltung  ohne  Rücksicht  auf  den  Arbeits- 
markt vorgeht  und  in  das  Problem  der  Arbeitslosigkeit  durch 
Schaffung  neuer  Arbeitsgelegenheiten  eingreift,  ohne  zu  beachten, 
ob  thatsächlich  solche  über  den  Bedarf  hinausgehende  Arbeitskräfte 
vorhanden  sind,  oder  ob  diese  thatsächlich  vorhandenem,  aber  un- 
bekanntem Bedarfe  vielleicht  entzogen  werden.   Deshalb  scheint  es 
mir  wohl  unumstöislich,  dafe  mit  Rücksicht  auf  unsere  Gesellschafts- 
ordnung von  einem  wirklichen  Rechte  auf  Arbeit,  welches  unter 


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Gmndittge  einer  allgemeinen  staatlichen  Arbeitsvcnnittlong  für  Oesierreicfa.  299 


allen  Umständen»  also  eventuell  durch  Schaffunc;^  neuer  Arbeits- 
gelegenheiten realisiert  werden  sollte ,  nicht  die  Rede  sein  kann. 
Wird  in  Verfassungen  oder  Wrwaltungsgesetzen  dennocli  davon  ge- 
sprochen, so  ist  dies  nur  Phra<^c. 

Wenn  aber  der  Staat  in  un-~crer  ( iesellschaftsform  unniüj^lich 
ilie  iiulividucllc  Ariteitstahii^keit  durch  Scharfun^^  \  on  Arbeitsgelegen- 
heiten ;.;rnautieren  kann,  was  vermag  er  für  die^eiljc  zu  thun?  Fr 
kann  —  und  dies  ist  v<>ni  positiven  Boden  der  (legenwart  erreich- 
bar —  die  A  r  b  e  i  t  s  ni  ö  g  1  i  c  h  k  e  i  t  mit  Rück.siclit  auf  die 
b  e  >  t  e  h  e  n  <  \ e  n  A  r  b  e  i  t  >  e  1  c  g  e  n  h  e  i  t  e  n  g  e  w  ä  h  r  1  e  i  s  t  e  n ,  d.  h. 
dafür  V  orsorge  trefTen ,  <lal>  alle  .\a(^litra>4e  nach  Arl)eil  mit  allem 
Angebote  derselben  in  >cinem  ganzen  Machlgebielc  /n>ammentrcfife, 
so  dafs  in  diesem  Rahmen  wetler  eine  Arbeitskraft  unvcrwertet  noch 
ein  Arbeitsangebot  offen  bleibe:  dies  ist  aber  eben  das  Wesen  der 
Arbeitsvermittlung.  Thut  dies  der  Staat,  dann,  aber  auch 
nur  dann,  handelt  die  staatliche  Gesetzgebung  vom  fealpolitischen 
Standpunkte  des  Erreichbaren,  aber  auch  des  Notwendigen,  kon- 
sequent, wenn  sie  die  Arbeitsmöglichkeit  Arbeitsfähiger  als  aprio- 
ristische  Voraussetzung  der  übrigen  Verwaltungseinrichtungen  an- 
nimmt. 

Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  werden  wir  auch  mit  be- 
sonderer Rücksicht  auf  die  im  Reichsrate  und  in  den  Landtagen 
gespaltene  gesetzgebende  Gewalt  und  die  Doppelverwaltung  des 
Staates  unmittelbar  und  der  Selbstvcrwaltungskörper  es  verstehen, 
warum  es  nicht  genügen  kann,  die  Arbeitsvermittlung  den  letzteren 
zu  überlassen,  sondern  warum  sie  der  Staat  unmittelbar  in  seinen 
Verwaltungsbereich  einbeziehen  mufs.  Da  das  Dogma  von  der 
individuellen  Arbeitsflihigkeit  wichtigen  Kom|)lexcn  von  Staats- 
ge-^etzen  zu  Grunde  lieget,  so  mu(s  auch  die  Ausgestaltung  der 
Arbeitsvermittlung  unmittelbar  vom  Staate  selbst  in  die  Hand  ge- 
nommen werden,  weil  er  sonst  die  für  den  Fall  der  Arbeitslosigkeit 
entstehenden  Konsequenzen  stets  nur  mit  Rücksicht  auf  den  in 
den  einzelnen  Fändern  verschiedenen  Zustand  der  Cic>ctzgebung 
und  Selbstverwaltung  ziehen  dürfte,  wodurch  die  Fundamente  seiner 
Verwaltung  ins  Wanken  kommen  mülsten. 

Die  vorstehenden  Ausführungen  dürften  sonach  den  Beweis  er- 
bracht haben,  dafs  die  Staatsgeset/gel>ung  v  om  H<  Kien  iler  gelli  lulen 
V'erwaltnng  und  den  in  ihr  wirkenden  Ideen  seit  geraumer  Zeit  \^^r 
der  Notwendigkeil  sieht,   eine  l-.rweiterung  der  St >/.ial]  h  lüiik  durch 

Inangrifi'nahme  der  Linrichtungcn  für  die  Behebung  der  Arbcits- 

ao* 


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30O 


Ernst  Mi^cblcr, 


losii^kcit    im    Kahinrii  hc^tchcndcn  Ai bcil>L;clci;culu'iten,  also 

durch  ScliatfuML;  .-Uiallifhci  Arbcilsw-rmitlluiii^scimichtunj^^eii  xoizu- 
nchmon,  wobei  sie  niclUs  weiter  ihut  als  Malsrej^aln  nachzuholen, 
die  zur  Handhabung  bereits  längst  bestehender  \'crwalluiij4>gc>et/e 
unbedingt  erforderlich  sind.  Die  Schafiung  staatlicher  Arbeitsver- 
mittlungseinrichtungcn  ist  sonach  nicht  ein  durch  sozialistische 
Theorieen  unvermittelt  hereinfallendes  sozialpolitisches  Meteor,  sondern 
eine  durch  Fortentwicklung  der  in  unserer  Verwaltung .  grundsatzlich 
wirkenden  Ideen  erfolgende  Ausfüllung  einer  in  unserer  Gesetz- 
gebung  klaffenden  empfindlich  fühlbaren  Lücke;  sonach  wohl  die 
Einfügung  eines  neuen  Bausteines,  jedoch  an  einer  Stelle  welche 
ausgefüllt  werden  mufs,  soll  das  Gebäude  nicht  wanken. 

IV.  Die  ürundzüge  des  Gesetzentwurfes. 

I.  Die  Arbeitsvermittlung  soll  nach  dem  Grundgedanken  des 
Gesetzentwurfes  einen  Zweig  der  öffentlichen  Verwaltung 
und  zwar  der  Staatsverwaltung  bilden.  Die  staatliche  Sozial* 
politik  soll  sonach  um  ein  neues  (lebiet,  die  Arbeitsvermitt- 
lung, cnveitert  werden.  Damit  ist  im  allgemeinen  nur  gesagt, 
dafs  der  Staat  eine  positive  Thätigkeit  auf  diesem  l'clde  entfalten, 
jedoch  noch  nicht  ausgesprochen,  in  welches  Verhältnis  nunmehr 
die  niclilstaatliche  Arbeitsvermittlung  geraten  soll.  Hierüber 
gilt  der  Satz,  dass  der  Staat  die  Arbeitsvermittlung  in  erster 
Linie  zu  besorgen  habe,  und  zwar  in  dem  Sinne,  dafs  überall 
eine  s  t  a  a  1 1  i  cli  c  A  r  b  e  i  t  s  \-  e  r  m  i  1 1 1  u  n  g  \-  o  r  h  a  n  d  e  n  sei 
oder  doch  eine  s  1  c  h  e  A  r  b  c  i  t  s  \  e  r  m  i  1 1 1  ii  ii  g  ,  die  z  w  a  r 
nicht  Staatsanstalt  ist,  aber  jenen  Bedingungen  ent- 
spricht, welche  das  (lesetz  für  die  staatliche  Arbeitsvcrmitthmg 
fordert;  es  wäre  sonarh  ein  lückenloses  Netz  von  Arl)cits- 
vermittluiiL;sanstalten  zu  orgaiii>iei  en.  Die  Lückenlosigkeit  des 
Netzes  ist  eine  unabweisbare  Bedingung,  weil  es  nicht  angeht, 
Teile  des  Gcl)ictes  einfach  au^  dieser  staatlii'hen  s( )/ialp( »litischen 
Mafsregcl  auszuschlielseii,  cJic^clbi  ii  >')na<  h  in  einem  /urückgelViieiu-nen 
\erwaltungsrechtlich<'n  Zustande  zu  belassen.  Aber  selbst  wenn 
man  dies  mit  KuckNicht  auf  die  uuLrleiche  Entwicklun-j  der  ver- 
»chicdenen  Länder  resp.  Gebiete  im  Staate  rechtfertigen  könnte, 
so  ist  die  Lückenlosigkeit  des  Netzes  notwendig  als  Vorbedingung 
für  die  gegenseitige  Ausgleichung  auf  dem  Arbeitsmarkte,  welche 
nur  bei  einem  Ueberblicke  und  einer  DispositionsmÖglicbkeit  über 


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Grundzü};?  einer  allgemeinen  staatlichen  Arbeitsvermittlung  fUr  CK'stcrrcich. 


die  gesamten  Arbcitsj^^ele^^cnheiten  und  Arbeitskräfte  im  ganzen 
Wirtschaftsgebiete  möglich  ist. 

Diese  staatlichen  Anstalten  schliefsen  die  von 
anderen  öffentlichen  Verbänden  oder  aus  privater  Initiative 
gegründeten  oder  künftig  zu  errichtenden  Arbeitsvermittlungs-Ein* 
richtungen  in  keiner  Weise  aus,  dieselben  können  vielmehr 
ganz  in  derselben  freien  Weise  wie  bisher  bestehen,  wobei  nur  hin« 
sichtlich  der  gewerblichen  Genossenschaften  und  der  sog.  kon- 
zessionierten Dienstvermittlungsgeschäfte  eine  oben  bereits  ange- 
deutete und  später  genauer  mitzuteilende  Regelung  vorgenommen 
werden  soll. 

Da  die  Arbcitsvcrmlttlungsanstaltcn  als  Staatsanstalten  gedacht 

sind,  ist  es  selbslvcrständlirh,  dafs  die  Beamten  derselben,  welchen 
die  Abwicklung  der  laufenden  Gcscliäftc  oblicfjt,  Staatsbeamte 
resp.  staatliche  Funktionäre  sein  müssen.  Ob  dies  nun  wirklich 
systeraierte  Beamte  oder  kontraktlich  rcsp.  nebenamtlich  fungierende 
Personen  sein  sollen,  ist  ziemlich  iichcnsiichlich  iinrl  in  der  Haupt- 
sache von  der  zu  leistenden  Oualität  und  Quantität  der  Arbeit  ab- 
hangijjj.  Im  Falle  s\stcmicrtc  Staatsbeamte  oder  ihnen  «^leichzu- 
haltcnde  l'unktionäre  in  Betrnclit  kommen  sollen,  dürfte  j^emä.ss 
den  österreichischen  ( iehalts\ erhältnissen  eine  ReM)ldun}^  von  vuud 
20CXD  Kronen  jährlich  ins  Aui^e  zu  fassen  sein.  Diese  BeanUcn 
hätten  im  alii^'cineinen  eine  einfache  l.eistuiii^.  die  nur  persöiiHches 
(je-chick,  Sachkenntnis,  Ehrlichkeit  und  L  iiermüdlichkfit  voraussetzt, 
/u  iMÜstieren,  wobei  keine  wciterrcichcnden  Vorbedingungen  zu 
.stellen  wären. 

X'ermuliich  wird,  wie  stets,  sobald  von  irgend  einer  staatlichen 
o<ler  ötlenllichen  Tluitigkeit  die  Rede  ist,  auch  hier  sofort  die  Befürch- 
tung aus}^'esj)rochen  werden,  dafs  die>c  geplanten  Arbeitsvermiltlungs- 
anstallcn  als  Staaisansialten  in  den  Fehler  bureaukratischer  Ge- 
schäftsführung verfallen  werden.  Diese  Ciefahr  besteht  jedoch  durch- 
aus nu:ht  mit  Notwendigkeit.  Sic  besteht  für  den  Staat  nicht  mehr 
und  nicht  weniger  als  etwa  für  die  Einrichtungen  landschaftlicher 
Arbeitsvermittlung,  oder  itir  die  Vermittlungsanstalten  grofser 
Kommunen  oder  Vereine.  Die  Technik  der  öffentlichen  Arbeits* 
Vermittlung  ist  durch  das  Vorbild  der  deutschen  kommunalen  An- 
stalten so  eingehend  und  treflflich  durchgebildet  und  vorgezeichnet, 
dass  den  geplanten  österreichischen  sowie  überhaupt  allen  solchen 
Anstalten  gar  nichts  übrig  bleibt,  als  die  inneren  Einrichtungen  der 
ersteren  zu  übernehmen  und  nach  ihrem  Vorbilde  zu  arbeiten. 


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302 


Ernst  Mischler, 


2.  Die  Gemeinden  sind  verpflichtet,  bei  der  Durch* 
führiinL^  clcs  (icsctzes  mitzuwirken,  wodurch  für  sie  ein  neues 
(icbict  des  ü  b  c  rt  r  a ^ c  n  c  n  \V  i  r  k  u  n  gs k  r e  i  sc s  entsteht,  nämUch 
die  Milwirkuni;  an  der  '1  hätif^keit  der  staatHchen  Arl)cits\  ennittlun'^s- 
aiistnhen.  Die  österreiciiische  X'erfassuiig,  ^j)eziell  alle  licmeinde- 
ordiiunt^en,  sprerhen  näinHch  \oii  dein  ciL^ciicii  und  dem  iilier- 
trasj;encn  \\'irkiinL;>kreise  der  ( icnieiiiden,  welch'  letzterer  eine  Mit- 
wirkunci  der  ( iemeiiideii  an  Staats^eschäften  betrifft  und  durch  die 
besonderen  staatli<'hen  \'erwaltuii;jss7e->et/.e  normiert  wird.  W  ährend 
die  österreichische  \'erla»uiig,  wie  oben  luinerkt  wuiile.  (He  Mc>g- 
lichkeit  erschwert,  die  Rrrichtung  eigener  ArbeitsN  ennittiungs- 
austalten  in  Cieineiiulen  duich  ein  Staats-^eset/  anzuordnen,  ein  l'm- 
stand,  der  aber,  wie  gleichfalls  auseinandergesetzt  wurde,  für  den 
zu  erreichenden  Zweck  nebensächlich  ist,  bietet  sie  dagegen  durch 
die  Benutzung  des  „übertragenen  Wirkungskreises"  die  Möglich- 
keit, sich  der  Mitwirkung  der  Gemeinden  an  den  Geschäften  der 
staatlichen  Arbeitsvermittlungsanstalten  zu  versichern,  ebenso  wie 
das  z.B.  bei  der  Vornahme  der  Volkszählungen,  bei  der  Durchführung 
der  Wahlen,  bei  diversen  Militärangelegenheiten  etc.  der  Fall  ist. 

Diese  Mitwirkung  der  Gemeinden  hätte  —  al^esehen  von 
einer  Kostenbeitragspflicht,  von  welcher  im  nächsten  Punkte  ge- 
sprochen werden  soll  '—  hauptsachlich  in  einer  Mitwirkung  an 
den  Vermittlungsgeschäften  zu  bestehen:  die  Anmeldung 
offener  Stellen  und  von  Arbeitskräften  entgegenzunehmen,  der 
>  staatlichen  Vermittlungsstelle  mitzuteilen  und  umgekehrt  fiir  die  Be- 
kanntwerdung der  Nachrichten  der  staatlichen  Vermittlungsstelle  in 
der  Gemeinde  durch  Anschlag  etc.  zu  sorgen. 

Zum  W'rständnisse  dieses  Verhältnisses  mufe  vorausgeschickt 
werden,  dafs  die  staatlichen  Arbeitsvermittlungsanstalten  ihre  Thätig- 
keit  über  gröfsere  Sprengel  erstrecken  sollen,  so  da(s  sie  lokale 
Anmeldestellen  benötigen,  um  die  Thätigkeit  nicht  nur  am  Sitze  der 
Anstalt,  sondern  glcichmäfsig  im  ganzen  Sprengel  entfalten  zu  können. 
Eine  solche  Mitwirkung  der  (iemeinden  wird  daher  am  Sitze  der 
Anstalten  weit  weniger  erforderlich  sein,  als  in  den  übrigen,  nament- 
lich den  entfernter  gelegenen  Gemeinden.  Ks  kann  sonach  jeder 
Arbeitgeber  und  Arbeitnehmer  seine  Anmeldung  entweder  direkt 
bei  der  \^ermittlung<stelle  oder  bei  der  Autentlialtsgemeinde  \"or- 
nehmen;  im  let/teien  halle  üliermiltclt  das  tienjeindean>t  eventuell 
täglich  (he  Aiuiieldung  j)er  l'ost,  Telegraph  oder  leleplion  der 
Vermittlung-^stellc;  die  \'ermittlungsslclie  giebt  dagegen  den  üe- 


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GnmdjtUge  einer  allgemeinen  si.uiüichen  ArbeiuvcrmitUung  liir  Oestcrreicb.  ^03 


meindeämtern  auf  demselben  Wege  die  bei  ihm  unbesetzt  bleibenden 
Stellen  und  unverwendet  bleibenden  Kräfte  täglich  bekannt.  Eine 
Vielschreiberei  wird  dadurch  nicht  hervorgerufen  werden,  denn  in- 
soweit überhaupt  der  schriftliche  Weg  betreten  wird,  müssen 
mechanische  Vervielfältigungen  benützt  werden. 

Ob  die  Gemeinden  in  Verfolgung  dieser  Mithilfe  selbst  Arbeit 
vermitteln  werden,  ist  dann  eine  Sache  der  praktischen  Entwick- 
lung. Es  ist  sehr  leicht  möglich,  da(s  durch  das  Zusammentreffen 
von  Angebot  und  Nachfrage  bei  der  Gemeinde,  mancher  Arbeit- 
geber seinen  Arbeitnehmer  und  umgekehrt  schon  im  Orte  6nden 
kann,  ohne  dafs  che  Arbeitsvermittlungsstelle  deshalb  in  Thätigkeit 
gesetzt  werden  müfste, 

'  In  welcher  W  eise  eine  Gemeinde  sich  zur  staatHchen  Arbeits» 
vermitthmg  zu  verhalten  habe,  wenn  sie  selbst  eine  Vermittlungs- 
anstalt besitzt,  soll  später  in  einem  anderen  Zusammenhange  zur 
Sprache  kommen  fbei  Punkt  7). 

3.  Die  staatlichen  Arbeitsverniittluii^^s  Kinrichtunj^en  zerfallen  in 

0  r  a  II  c  dreierlei  Art:  Die  territorialen  A  r  b  e  i  t  s  v  c  r  - 
m  i  1 1 1  u  n  i,^sa  n  s  t  a  1 1  e  n ,  die  M  i  1 1  e  1  s  l  e  1  U- 11  und  die  Central - 
stelle.  Diese  Organe  stehen  zu  einander  hinsichtlich  de>  ei;4cnt- 
iichi-n  e  i  n  z  e  Inen  Vertnittlungs;_a-srhiit'tes  n  i  c  h  t  im  Verhält ni>sc  \  on 
Unter-  und  l  eberordnung,  es  besteht  wonach  in  tlieser  liinsirlit  kein 

1  n  s  t  a  n  z  e  n  z  u  g;  die  dreierlei  ( )rgane  haben  vielmehr  Ci  e s c  h  ä  ft  e 
verschiedener  .Art  zu  besorL^en.  Daneben  wird  allerdings  ein 
L  eber-  und  L  nterordnungsvei  halinis  in  gewissem  Siinie,  nämlich 
hinsichtlich  der  (iesamtstellung  der  Organe  nicht  bezüglich  der 
einzelnen  l  alle  des  \  ei  iniUlungsgeschäftes  —  bestehen  müssen. 

a)  Die  territorialen  staatlichen  Arbeitsvermitt- 
lung^anstalten  sind  diejenigen  Einrichtungen,  welchen  das 
eigentliche Vermittlu ngsgcschaft obliegt,  d.h. die£ntge<?en- 
nähme  der  Anmeldung  von  Arbeitsangebot  und  Arbeitsnachfrage, 
sowie  jene  Thätigkeit,  welche  darauf  abzielt,  mit  Rücksicht  auf  die 
Kenntnis  der  einzelnen  Begehren,  den  offenen  Stellen  {fassende 
Arbeiter  solange  zuzuführen,  bis  sie  besetzt  sind,  und  den  Arbeit- 
suchenden solange  offene  Stellen  nachzuweisen,  bis  sie  passende 
Arbeit  gefunden  haben.  Die  Thätigkeit  hat  bis  zum  Momente  der 
thatsächlich  durchgeführten  Vermittlung  —  falls  diese  erzielbar  ist  — 
zu  reichen  und  sich  nicht  etwa  mit  dem  sog.  Arbeitsnachweis  zu 
begnügen,  d.  h.  mit  der  blolsen  Bekanntgabe  offener  Stellen  oder 
verfügbarer  Arbeitskräfte.   Dieses  Vermittlungsgeschäft  wird 


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Ernitt  Mischler, 


vollkommen  s  c  1 1)  s  t  ä  n  d  i  g  von  tkr  territorialen  \'crm itt Inn gs- 
anstalt  durchgeführt,  nlmr  dais  hierbei  eine  IiiL^crenz  der  anderen 
Organe,  also  der  CentralstcUe  oder  Mittelstelle  bestände. 

Die  Anstalten  wären  territorial  anzuordnen.  Ueber  die 
(irofse  ihrer  Sprengel  läfst  sich  nirlit  c^ut  ein  vollständig  einfacher 
Einleilungsgrund  angeben.  Anfänglich  vertrat  ich  bei  den  Ver- 
harulhingcn  den  Standpunkt  der  tliuiilichsten  lebereinstimtnung 
mit  den  Spreni^^ln  der  Jie/.irkshaiiptrnann«"haften,  Abän'Jcrnnijen 
im  einzchien  selbst ^erstrnKllirh  vorausgesetzt;  die  Bezirkshauptmann- 
schatts>j)rengel  stellen  ininier  gewisse  natürliche  Bevölkerungs- 
zentren  dar,  in  denen  überdies  die  ( iemeinde\  i 'rsieher  öfter  zu- 
saiiuiienkonimen.  Da  342  solcher  Hc/irkc  bestehen,  würde  ein 
Si>r(  iiL:el  im  Durchschnitte  rund  qoo  km-  nnd  70000  Mens<du'n 
fassen.  ( lelegentlich  der  AusschulsverlKun llunL^cn  wurde  jedoch  be- 
tont, dafs  bei  dieser  Kinteilung  für  den  Anfang  eine  zu  grofse 
Anzahl  \  on  Sprcngeln  erforderlich  wäre,  wodurcli  tiie  Kosten  un\  er- 
hällnismälsig  hocii  anwachsen;  .iuc\]  dürfte  so  mancher  Sprengel  mit 
geringer  Intensität  des  Arbeitsmarktc.s  zu  klein  st  in;  deshall)  wurde 
vorgeschlagen,  die  Kreisgcrichtssprcngcl  zur  (Irundlage  zu  nehmen. 
Deren  giebt  es  71  und  es  würde  sonach  ein  Sprengel  durchschnitt- 
lich 4—4  \  ,  Tausend  km*  und  Million^  Einwohner  um&ssen. 
Als  dieser  Punkt  bei  der  Plenarberatung  des  Arbeitsbeirates  wir  Ver- 
handlung kam,  wurde  wieder  auf  den  von  mir  im  Ausschusse  ur- 
sprünglich vertretenen  Standpunkt  zurückgegriffen  und  auf  Antrag 
eines  Mitgliedes  aus  der  Unternehmerkurie  beschlossen,  diese  staat- 
lichen Arbeitsvermittlungsanstalten  seien  thunlichst  für  den  Um&ng 
eines  jeden  Bezirkshauptmannschaftssprengels  zu  errichten.  Dabei 
ist  angenommen,  dafs  die  Anstalt  in  der  Regel  in  dem  Hauptorte 
des  Sprengek  ihren  Sitz  habe.  Bei  einer  atlfalligen  praktischen 
Ausgestaltung  dieser  Einrichtung  dürften  also  wahrscheinlich  die 
Sprengel  der  Bezirkshauptmannschaften  im  allgemeinen  als  Unter- 
grenze angenommen  werden,  jedoch  insbesondere  im  Anfange  viel- 
fach eine  Zusammenlegung  bis  zur  Grofse  der  Kreisgerichtssprengel 
stattfinden,  wobei  überdies  nach  Bedarf  kleinere  resp,  in  Ausnahme- 
fallen auch  gröfsere  Gebiete  konstruiert  werden  konnten.  Dabei 
ist  immer  xnransgesetzt,  dafs  das  Netz  lückenlos,  sonach  kein  Teil 
des  Staati^ebietes  aus  der  Eingliederung  in  einen  Sprengel  aus- 
genommen sein  soll. 

Bei  jeder  staatlichen  Arbeitsvermittlungsanstalt  besteht  neben 
dem  eigentlichen  Vermittlungsamte  mit  staatlich  bestellten  und  be- 


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GmndAügc  ciocr  allgcnicincu  ütaailichcii  ArbciUvormiltluug  lür  Oesterreich. 


soldeten  Beamten  ein  ehrenamtlich  funktionierender  Ver- 
waltung^sausschufSi  dessen  Aufgabe  prinzipiell  darin  besteht, 
die  Interessen  der  am  Abschlüsse  des  Arbeitsverhältnisses  unmittelbar 
interessierten  Bevölkerungsklassen  im  Rahmen  der  staatlichen  Ein* 
richtung  zur  Geltung  zu  bringen.  Da  die  Einrichtung  staatlich  ist 
und  die  Kosten  vom  Staate  getragen  werden,  kann  diese  Einfluls- 
nähme  der  Verwaltungskommission  keine  schlechthin  bestimmende 
sein;  ein  etwa  aus  eigenem  Rechte  sich  auf  das  Vermittlungsamt 
beziehendes  Ueberordnungsverhältnis  ist  von  diesem  Standpunkte 
aus  uiidt-nkbar,  die  \''er\vaItun.iTsausschüsse  können  vielmehr  nur 
jenes  Mafs  von  Befugnissen  haben,  welches  ihnen  die  staatliche 
(ic-otzgebung;  mit  Rücksicht  auf  die  l)essere  Hrzielung  des  Kftektes, 
d.  h.  die  m  öglichst  vollkommene  lirfüUung  der  den  Arbeitsmarkt 
betrctienden  Anforderungen  überläist 

Die  Verwaltungsausschüssc  «vollen  nach  dem  Cirundsatze  der 
Parität  zusammengesetzt  sein,  so  dafs  Arbeitgel nr  und 
Arbeitnehmer  je  die  Hälfte  der  Mitglieder  ausmachen,  wubci  der 
\'orsitzt'nde  weder  der  einen  noch  der  anderen  Klasse  angehört 
und  von  der  Regierung  nach  Anhörung  der  Wünsche  der  Interes- 
senten ernaiuit  wird.  Die  Mitglieder  des  W-rwaltungsausschusses 
wcnh  n  gewählt,  und  zwar  jede  Paritätsgruppe  von  Angehörigen 
derselben  druppe. 

Die  Wahlordnung  in  die  Verwaltungsausschüssc  würde  zum 
Teil  im  deset/e,  zum  Teil  in  der  ( leschäftsordnung  jedes  Ver- 
waltungsausschusses normiert  werden,  und  durch  diese  letzteren  He- 
stinimungen  könnte  die  X'^ielgestaltigkeit  der  wirt>ehaftliehen  Berufs- 
zusammenset/ung  in  den  ein/einen  Sprengein  Berücksichtigung 
finden.  In  welcher  Weise  überhaupt  Arbeitgel )er  und  Arbeitnehmer 
durch  ein-  und  denselben  Wahlvorgang  in  einen  Ausschufs  entsendet 
werden  können,  zeigen  heute  bereits  die  Wahlen  in  die  Ausschüsse 
der  Bezirkskrankenkassen  nach  dem  Gesetze  vom  3a  März  1888, 
und  es  könnte  daran  gedacht  werden,  die  Krankenkasseneinrichtung 
bei  der  Vornahme  der  Wahlen  entweder  überhaupt  oder  wenigstens 
hinsichtlich  der  durch  die  Versicherung  zusammengefafsten  Bevölke- 
rungsgrui>[5e  zum  Ausgangspunkte  ZU  nehmen.  —  Jedenfalls  mü&te 
sowohl  in  der  Gruppe  der  Arbeitgeber  als  auch  der  Arbeitnehmer 
auf  die  wesentlichste  Struktur  derselben,  und  zwar  wieder  im  all- 
gemeinen als  auch  mit  Hinblick  auf  die  besonderen  Verhältnisse 
des  Sprengeis  Rücksicht  genommen  werden.  Ein  allgemeiner  Ge- 
sichtspunkt wäre  z.  B.   hinsichtlich  der  Zusammensetzung  der 


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306 


Ernst  Mischler, 


Faritätsgruppc  der  Arheit^aMier  der  I  'titerschied  von  Landwirtschaft 
und  Gewerbe,  dann  Handclsbeschältigun{T,  in  örtlicher  Hinsicht 
Bergbau  und  Hüttenwesen  etc.;  innerhalb  des  Gewerb(  s  der  l^nter- 
schied  \  o(i  <  iroKinduslrie  und  Kleinji^iwcrbe.  Hei  der  Paritäts^rii{>{)c 
der  Arf)eiliichnier  käme  je  nach  der  Sa«  hhiL^e  /.  15.  der  rnterschicl 
von  gewerblichen  Hillsarbeitern  und  I  )ieii>tl)oten ,  innerhalb  der 
erstcren  \on  i^ewerkschaftlirh,  ;^fen< 's>en^eliaitlirh  oder  sonst  orj^ani- 
siertcn  und  den  nicht  organisiert ru,  innerhalb  der  letzteren  von 
landwirtschaftlichen  und  Hausdienslljolen  etc.  in  Betracht.  Die 
\'erwnltun'^fsausschüsse  l)rauchten  nicht  i^erade  ^^roi^e  Kurperschallen 
zu  srin.  \  ielniehr  würde  es  fjenütrrn,  wenn  die  X'ertrcter  der  ver- 
schieileneii  Interessen  in  ilcn  Grui>j)cn  der  Arbeitgeber  einerseits 
un<l  Arbeitnehmer  anderseits  durch  einzelne  Personen  und  zwar 
der  Zahl  nach  so  vertreten  sind,  dals  keine  Majorisicrung  von  vorn- 
herein gegeben  ist.  Selbstverständlich  ist  es  auch  notwendig,  die 
Verwaltungsausschüsse  nach  lokalen  Bedurfnissen  mit  Rücksicht  auf 
etwa  vorhandene  -  grofee  Industrieen  etc.  zusammenzusetzen.  Zu  all' 
dem  soll  eben  das  Statut  die  Möglichkeit  bieten,  welches  auf  Grund 
der  allgemeinen  gesetzlichen  Vorschriften  für  jede  Verwaltungs- 
kommission erlassen  wird  und  auch  eine  Wahlordnung  enthält. 

Die  Aufgaben  der  Verwaltungskommission  bestehen  in  einer 
Reihe  von  Angelegenheiten»  filr  welche  die  Zustimmung  des  Staates 
allerdings  erforderlich  ist,  die  aber  deshalb  durchaus  nicht  als 
minderwichtig  angesehen  werden  dürfen.  Sie  werden  in  dem  oben 
erwähnten  Statute  (Geschäftsordnung)  zusammenzufassen  sein,  welches 
auf  Vorschlag  der  Kommission  staatlicherseits  genehmigt  wird.  Die 
Verwaltungskommission  soll  als  fachliches  Organ  die  unmittelbare 
Aulsicht  über  das  Vermittlungsamt  fuhren,  sonach  den  Geschäfts- 
gang im  allgemeinen  und  die  Thätigkeit  der  Beamten  im  besondem 
überwachen  und  mit  Rücksicht  auf  «i^enerelle  Normen  auch  leiten, 
und  zwar  im  Rahmen  jener  Machtbefuf^nisse,  welche  das  Statut 
verleiht  Das  eigentliche  einzelne  X'crmittlungsgeschäft  mufe  immer 
Domäne  des  X'eiinittiungsbeaTnten  bleiben,  wie  dies  aber  zu  er- 
folgen habe  und  wie  es  thatsächlich  erfolgt,  darüber  soll  die  Kom- 
mission einen  Kinilufs  auszuüben  und  sich  zu  vergewissern  in  der 
La^^e  sein.  Die  Kommissie»n  soll  das  Recht  haben,  den  \\oranschlag 
der  X'ermittlun^saiistah  innei  hall)  gewisser  ( nen/en  frei,  resp.  unter 
Vorbehalt  staatliclier  (.lenelnnigung  zu  entwerfen,  und  verpflichtet 
sein,  alljäiirlieh  einen  jahresberielit  \i\ivv  die  1  liäti:^dN"eit  im  abp^e- 
laufencn  Jahre  zu  erstatten,  welclier  einerseits  der  Oetientlichkeit 


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GrandzQge  einer  »Ugemeinen  staatlichen  Arbcitsvemittlong  (Ür  Oesterreich.  ^07 


gegenüber  Rechenschaft  geben  und  andererseits  der  Zentralstelle  vor« 
gelegt  werden  soll.  Desgleichen  soll  sie  berechtigt  sein,  über  alle 
Walirnelimungen  innerhalb  ihres  Wirkungskreises  der  Zentralstelle 

zu  berichten  und  Anträge  zu  stellen.  Endlich  hat  sie  ein  Ent- 
scheidungsrecht darüber,  wie  sich  das  Vermittlungsamt  in  Strike« 
fallen  zu  \'erhalten  hat,  worüber  weiter  unten  (Punkt  5)  gesprochen 

werden  soll. 

b)  Viir  das  ffesamte  staatliche  Arbeitsvermittlungwesen  fungiert 
als  Zentralstelle  das  Handelsministerium  im  Einvernehmen 
mit  den  iibrii^cn  bctcili<^tcn  Ministerien.  Diesem  obliegt  die  Er- 
richtun;^^  oberste  Leitiini;  und  l'eberwacluin,^^  der  staatlichen  Ar- 
l)eits\  eimittlunfjsanstaiteii  in  rl  es  handhalil  in  oberster  Instanz  die 
X'orschriftcn  des  zu  erlasM  iuicii  (iesei/cs.  Ks  wird  die  W-rniilthnv^^fs- 
nn>(,ilten  inspizieren  lassen  und  die  Thäti^keil  der  V^crwaltuii^s- 
ausvcliusse  durch  Erlassuni;  von  Musterstatulen  sowie  Bej^utachtun^ 
eiuLjereichter  Statuten  fördern  und  orleiclitcrn.  Aus  den  ein- 
lan;^^cndcn  Berichten  der  einzelnen  X'erniittlun^fsanstalten  und  auf 
( irund  eif^ener  W'ahrnehnvung  wird  es  Jalu  esberiehte  verfassen, 
welche  dem  RiMehsratc  vorzuloj^cn  siiul,  wie  das  heute  schon  mit 
den  Berichten  der  ( icwerbcinsjjeklorcn  der  hall  ist,  inid  für  eine  eni- 
hcitlichc  zusammenfassende  Siatisiik  der  .Arbcilsvermittlunj^  sorgen. 

Zu  allen  diesen  Geschäften  der  obersten  administrativen 
Leitung:  kommt  dann  die  Thätigkeit  auf  dem  Gebiete  der  Ver- 
mittlung' :  die  Ausgleichung  zwbchen  Arbeitsangebot  und  Nach* 
frage  auf  dem  Arbeitsmarkte  in  den  verschiedenen  Teilen  des 
Reichs,  wozu  die  Arbeitsvermittlungsstatistik  sowie  das  Verfüg ungs- 
recht  über  die  einzelnen  Anstalten  die  Möglichkeit  bieten.  Diese 
ausgleichende  Thätigkeit  hat  mit  dem  Vermittlungsetnzelgeschäfte 
gar  nichts  zu  thun,  sowie  überhaupt  der  Zentralstelle  auf  letzteres 
eine  Einflulsnahme  nicht  zustehen  soll.  Die  Ausgleichung  wird 
dadurch  erfolgen,  dals  die  Vermittlungsanstalten  mit  UeberschuCs 
an  Arbeitgebern  oder  Arbeitnehmern  in  Kenntnis  gesetzt  werden, 
bei  welchen  anderen  Anstalten  Mangel  an  solchen  besteht,  und 
dafs  jene  administrativen  Verfugungen  und  Erleichterungen  getroffen 
werden,  welche  es  ermöglichen,  auf  gröfsere  Distanzen  getrennte 
Angebote  und  Nachfragen  örtlich  zusammentreffen  zu  hissen.  Bei 
dem  Grundsatze  der  Freiheit  in  der  Benutzung  der  Anstalten  kann 
dies  allerdings  nur  durch  Mitteilung,  Kundmachungen,  Belehrung, 
Hinweise,  Organisierung  der  Arbeiterzüge  und  des  Aufcnthalts- 
weclisels  etc.  erfolgen,  was  aber  schon  einen  bedeutenden  Schritt 


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3o8 


Ernst  Mischler, 


gegenüber  dem  heutigen  vollständig  unorganisierten  Zustand  zu  be- 
deuten hätte. 

Nun  entstellt  die  Krappe,  ob  für  die  Angelegenheiten  der  Ar- 
beitsvermittlung im  Handelsministeriuni  eine  besondere  Stelle  als 
Zentralstelle  für  die  Arbeitsvermittlunijsanstniten,  etwa  nach  Analogie 
der  Zentralge werbeinspekt ton,  bestehen  solle,  und  diese  Frage  ist 
wohl  zu  bejahen.  Aufscr  den  jedenfalls  unmittelbar  beim  Ministe- 
rium zu  vtrhlcihcnden  obersten  administrativen  An^^elep^enheiten 
kommen  eben  auch  >olrhe  inbetracht,  welche  eine  Ljanz  spezielle 
{'"achbehördc  erforder-i.  iiiul  welche  eiiu  r  solclien  zu  ei;::^eiiem  K<  r}itr 
überlassen  werden  können.  Solche  An;4ele»^enheiten  waren  einer- 
seits insbesondere  die  Statistik  des  Arbeitsmarktes,  die  Begutachtung 
und  Abfassung  von  Statuten,  die  Insjicktion  der  territorialen  An- 
stalten und  andererseits  ilie  oben  «::;eschildertc  Ausgleieluuv^  auf  dem 
Arl)eilsinarkte.  Dabei  könnte  aber  \"on  dvr  Seliatfun«^  einer  neuen 
Zentral>telle  alx^esehen  und  das  a  r  b  e  i  t  s  s  t  a  t  i  s  t  i  s  c  h  e  .-\  m  t  im 
HandeNniinisterium  als  solche  benutzt  werden,  um  so  mehr,  als 
demselben  der  .-X  r  b e  i  t sb  c i  r  a  t  zur  Seite  steht,  tler  dem  arbeits- 
statistischen .Amte  einen  s  t  ä  n  d  i  c  n  A  u  s  s  c  h  u  f  s  für  die  .Ange- 
legenheiten der  Arbeitsvermittlung  zur  Seite  geben  könnte.  Dabei 
würde  das  arbeitsstatistische  Amt  allerdings  aus  seiner  durch  den 
Namen  gegebenen  engen  Splmre  heraustreten  und  einen  Schritt  nach 
einem  Arbeitsamte  zu  machen.  Eine  solche  Erweiterung  steht 
im  vollkommenen  Einklänge  mit  Wesen  und  Aufgabe  der  heutigen 
j\rbettsstatistik.  Denn,  wenn  es  auch  zutrifft,  dafe  eine  statistische 
Zentralstelle  als  reines  statistisches  Amt  fungiert,  so  wird  da- 
gegen ein  fachstatistisches  Amt  auf  Schritt  und  Tritt  zu  einer 
Verwaltungsthätigkeit  hindrängen  und  selbst  gedrangt,  und  zwar 
insbesondere  zur  Vornahme  solcher  Verwaltungsakte,  die  sich 
als  unmittelbare  Ausfuhrung  von  durch  die  Statistik  gegebenen  Auf- 
schlüssen, Anregungen  und  Forderungen  ergeben,  wie  dies  auf  unseren 
Fall  angewendet  in  hervorragendem  Falle  z.  E  hinsichtlich  der  Aus* 
gleichung  des  Arbeitsmarktes  zutrifft  Als  Zentralstelle  för  die  Ar- 
beitsvermittlung hätte  sonach  das  arbeitsstatistische  Amt  insoweit 
zu  funt^ieren,  als  die  An^relenrenheiten  nicht  naturgemäß  unmittelbar 
vom  Ministerium  selbst  zu  besorgen  sind. 

c)  Die  Mittel  st  eile  am  Sitze  der  politischen  Behörden 
zweiter  Instanz  dient  zunächst  dazu,  den  \>rkehr  der  Zentralstelle 
mit  den  territorialen  .Anstalten  sowie  den  Verkehr  der  Zentralstelle 
mit  den  Verwaltungsbehörden  im  betreffenden  Lande  zu  vermitteln ; 


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Gnmdzüge  cinvr  all^meinen  staatlicben  Arbcitsv«nnittlaqe  fltr  Oesterreich,  yjg 

ferner  soll  sie  überhaupt  'gutachtlich  ihiiti^  sein  und  insbesondere 
der  Zentralstelle  gOL,annl)ci  in  I'rn^cn  der  Orp^anisation  beratend 
zur  Seite  stehen.  Bei  der  X'ielt^'cstalti^^keit  der  wirtschaftlichen  W-r- 
hiiitnisse  in  Oesterreich  wird  die  Arbeitsx'erniittlunix  in  den  ver- 
schiedenen (iebietsteileii  uiiL,'c.ichtet  aller  Gleiclil«  »i  niiL;kcil  der  Grund- 
y.U'^c  in  der  ihatsüciilichcn  Ausi^^cstaltun^  doch  re^ionenvveise  einen 
besonderen  Charakter  traj^en,  und  für  diese  Ausj^estaltunj:^  /u  sorgen 
soll  eben  Aufgabe  der  Mittelslellc  sein.  Uebcrdies  aber  ist  es  ihre 
Aufgabe,  die  Ausgleichung  zwischen  Arbeitsangebot  und  Nachfrage 
auf  dem  Arbeitsmarkte  in  den  verschiedenen  Gebieten  dessdben 
Landes  zu  befördern  und  in  dieser  Hinsicht  die  den  ganzen  Staat 
umfassende  ausgleichende  Thätigkeit  der  Zentralstelle  zu  erleichtern. 
Eine  eigentliche  den  Einzelfall  berücksichtigende  arbeitsvermittelnde 
Thätigkeit  soll  sonach  von  der  Mittelstelle  ebensowenig  ausgeübt 
werden,  wie  von  der  Zentralstelle. 

Die  Mittelstelle  ist  jener  Teil  der  ganzen  Organisation,  der 
am  wenigsten  hervortreten  und  dessen  Thätigkeit  hinter  den 
beiden  übrigen  Stellen  entschieden  zurücktreten  wird.  Die  Zu- 
sammensetzung dieser  Stelle  wäre  ebenfalls  paritätisch  zu  denken, 
den  Vorsitz  hätte  eine  weder  dem  Arbeitgeber*  noch  dem  Arbeit- 
nehmerstande angehörige  fachkundige  Persönlichkeit  zu  führen;  die 
Beratungen  dieser  Stelle  würden  ohnhin  nur  in  gröfseren  Terminen 
stattfinden  und  fiir  die  bureaukratischcn  Geschäfte  könnte  die  Ar- 
beitsvcrmittlungsanstalt  der  jeweiligen  Landeshauptstadt  aufkommen. 

4.  Die  Grundsätze  für  die  Thätigkeit  der  ArbeilsvermittlungS- 
anstalten  sind :  Die  Allgemeinheit  der  Arbeit,  die  r c i w i  11  i g - 
kcit  der  Inanspruchnahme  und  die  Unentgeltlichkeit  der 
Leistung. 

a)  Alle  Arten  von  Diensten  und  Arbeitsleistungen  sollen  ver- 
mittelt werden,  landwirtschaftliche  Arbeiten,  gelernte  und  ungelernte 
gewerbliche  Arbeit,  Ilandlangerdienste,  Hausdienste  und  Dienste  in 
der  Art  der  freien  Henife.  Prinzipiell  soll  überhaupt  keine 
Ausnahme  gemacht  werticn,  wenngleich  thatsächlich  eine  Be- 
grenzung tler  Thätigkeit  t;cw!i"s  vorliegen  wird.  Diese  Grenze 
ergicbt  sich  insbesondere  nach  ticr  Höhe  der  Entlohnung 
einerseits  und  der  S  e  1 1  e  n  h  e  i  t  d  e  s  Vorkommens  d  e  r  D  i  e  n  s  t  e 
von  selbst,  dagegen  dürfte  in  der  Spezialisierung  der  Arbeit  eine 
Grenze  kaum  zu  erblicken  sein.  Ks  liefern  schon  die  derzeit  be- 
stehenden grofsen  öftcntlichcn  ArbcitsvcrnHUkitigen  den  Beweis,  dals 
die  spezialisierende  und  individualisierende  Thätigkeit  in  sehr  vorge- 


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310 


Ernst  Miüchlcr, 


schriltencr  \\'ci-e.  wohl  in  jt-dcin  wÜDsrhcnswt  rtcii  M.Usc  inö;4lich 
ist.  Sic  lehren  leriicr  hinsichthch  der  oberen  I ,ohnu,Tcn/.c.  dals  in 
der  Rc^cl  Arbeiten  bis  zum  Lohnsätze  von  l2oo  Kronen  vermittelt 
werden;  Stellen  resp.  Dienste  mit  höheren  Lolinslilzcn  sind  weit 
seltener  und  die  thatsächlich  vorkommende  Obergrenze  laut  heutiger 
Praxis  dürfte  etwa  bei  2000  Kronen  erreicht  sein. 

b)  Die  Inanspruchnahme  der  Anstalten  mufs  freiwillig  bleiben, 
und  darf  nie  als  erzwingbar  aufgefafst  werden.   Solange  jemand 
selbst  imstande  ist  durch  eigene  Wahl  und  Entscheidunj^^  seine 
Arbeitskraft  thatsachlich  zi)  verwerten,  mufs  es  ihm  gemäfs  den 
Grundlagen  unserer  Wirtschafts-   und  Gesellschaftsordnung  voll- 
kommen überlassen  bleiben,  dies  in  jener  Form  zu  thun,  welche 
ihm  beliebt;  de^leichen  kann  jener  Arbeitgeber,  dem  über  seine 
I^istung  die  volle  freie  Selbstbestimmung  zusteht,  darüber  voll- 
kommen frei  verltigen  können,  ob  er  offene  Arbeitsplätze  besetzen 
will.   Anders  dagegen,  wenn  sich  jemand  mit  dem  gesellschaftlichen 
Fundamentaldogma  von  der  Erhaltung  des  Lebens  durch  Arbeit 
dadurch  in  Widerspruch  stellt,  dals  er  demselben  nicht  folgen  will 
oder  kann,  beziehungsweise  wenn  ein  Arbeitgeber  dem  eine  wirt- 
schaftliche Bethäti;^^ung  unter  gewissen  Bedingungen  (z.  B.  kontinuir- 
lieber  zureichender  I^istung)  gestattet  wird,  dieser  Pflicht  z.  B.  wecken 
Arbeiterman^cl  nicht  nachkommen  zu  l  -  niu  n  erklärt   In  solchen 
Fällen  kaim  die  Inanspruchnahme  der  .Arbeitsvermittlungsanstaltcii 
etwas  obligatori  <  lies  erhalten,  d.  h.  insofern  als  Zwang  erklärt 
werden,  dafs  die  Nichtansprachnahme  von  Nachteilen  begleitet  sein 
soll,    l's  !-t   klar,  dals  bei  -rnii'^end  eitV4elel>ten  all'^emeinen  Ar- 
bcitsv'rrinittluiu;.-  instalten    durch    das  l 'nterlasscji   von  deren  Inan* 
spriichnahnie  otler  beim  Ausbleiben  cnts|>recliei der  Hctcilii^nn-^  im 
[•"alle  der  Subsistenzlosi^^keit  in  der  Rc^el  Arbi  iischeu  anj^^cnommen 
werden  dai  l,  iiii  1  die  Armenunterstiitzun^  Arbc  !tslahi<^er  ohne  weiteres 
alv^^ewiescn  werden   konnte.    Lbenso  werden  lür  den  Inhaber  eines 
an  gewisse  Pflichten  "itbutuleiien,  z.  B.  konzessionierten  (  iewerbe>, 
dessen  I'ortfiihrun^  vvcL^en  L"nentl)ehrlichkeit  der  Leistungen  unbc- 
dini^t  notvvendi'r  ist,  \a<-hteile  staUiint  werden  dürfen,   wenn  er  es 
unterlassen  hat,  zur  J  a  luu-lichuuj;  zureichetuier  .Ausübunj^  desselben 
die  allgemeinen  Arbcitsvcrmittlunt^sanstalten  in  Anspruch  zu  nehmen. 
Air  dies  bedeutet  durchaus  keine  „obligatorische  Arbeitsvermittlung", 
die  gemäfs  unserer  Gesellschaftsordnung  ein  Unding  wäre,  wohl 
aber  die  Einfügung  der  Arbeitsvermittlung  in  das  System  der  Ver- 
waltung mit  direkter  Anknüpfung  an  andere  Gebiete  derselben. 


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Grundziige  einer  allgemeinen  staatliclien  Arbeiuvemittlang  für  Oesterreich.  %{{ 


r  i  Die  Fra»:jc  drr  K  ii  t  l,' e  1 1 1  i  c  Ii  k  e  i  l  oder  l' n  c  n  t  ;:^e 1 1 1  i  c h - 
keil  der  Innn>i»rii(lniahfiu'  der  all<^emeincn  Arlieitsveiniitthin^s- 
aiistaltcn  scheint  mir  indcls  noch  niclit  voUkoinmcn  t^eklärl  zu  sein. 
Der  Arheitsbcirat  hat  sich  ohne  viel  Zweifel  sofort  auf  den  Standpunkt 
der  Uncnt|^cltlichkeit  gestellt,  der  von  seiner  Kommission  vorgeschlagen 
wurde;  ich  vertrat  in  dieser  als  Referent  allerdings  den  Standpunkt 
der  Möglichkeit  einer  Erhebung  von  Gebühren,  vermochte  jedoch  nicht 
durchzudringen.  Für  die  Unentgeltlichkeit  der  Inanspruchnahme 
spricht  gewifs  das  folgende:  viele  kleine  namentlich  kurzfristige 
Dienste  würden  durch  die  Gebühr  relativ  zu  stark  belastet;  die 
grofsen  Arbeitgeber  verfiigen  über  soviel  Nachfrage  nach  Arbeit, 
dafs  sie  dem  Standpunkte  der  Entgeltlichkeit  der  Vermittlung  ganz 
verständnislos  gegenüberstehen;  endlich  wird  die  Thätigkeit  der 
Vermittlungsanstalten  durch  das  Kassengeschäft  entschieden  kom- 
pliziert und  in  gewissem  Sinne  sogar  gefährdet,  indem  Bestechungen 
und  dgl.  erleichtert  werden.  Auch  ist  es  richtig,  dafs  die  Bezahlung 
der  Vermittlungsgebühren,  dort  wo  ste  bestehen,  heute  vorwiegend 
auf  dem  Arbeitsuchenden  als  dem  schwächern  Teile  lastet,  und 
dais  flie  gröfsten  Schwierigkeiten  bei  der  Erhebung  der  Gdiühren 
aligemeinen  Arbeitsvermtttlungsanstalten  gerade  von  fien  l  iiter- 
nehmem  gemacht  werden.  All  diese  Argumente  sind  richtig',  aber 
ihnen  stehen  andere  Erwäjrungen  gegenüber  :  Die  .\rbeit$vermittlung 
betrifft  auch  höhere  I  .ohnklassen,  wobei  die  Gebühr  nur  einen  ijanz 
verschwindentlen  P)ruchtci1  des  Lohnes  ausmacht  und  thatsächlirh 
üherliaujjt  nicht  als  Last  empfunden  wird.  Ferner  ist  die  Arbeits- 
verinittlunf^  heute  xorwietrcnd  noch  im  Stadium  der  pri\ atwirtschaft- 
liclien  h]nti,a"ltlichkeit.  Dies  >^filt  nicht  nur  lunsichtlich  der  Dicnst- 
Loicn  sondern  auch  liinsichtHch  sjit  /icllcr  iicrufsklasscn  und  \-ielfach 
nn  (icwcrbc,  wo  alicrtiinL,^s  oft  anschciiiciul  l 'netUi^cUlichkcit  vor- 
lic<3,  in  Wahrheit  aber  die  W-rmittkniLj  chnch  im  (tcwerbe  l)e- 
schäfti^i^tc  Mittelspersonen.  \\  crkführcr,  MitL,OicHlcrbeitra^e  etc.  in  ent- 
fjeltlichcr  Weise  erfolgt.  Auch  ist  die  l  nentgcltlichkeit  für  die  Ar- 
bcitj^eber  oft  nur  eine  scheinbare,  indem  das  h'.nt'^eU  in  h'orni  von 
andci >iKurii^an  Aequiv alenten  ert()l;^rt,  die  nicht  sehen  recht  hoch 
zu  stehen  ktjmmen.  Amlei  ei suts  steht  fest,  dafs  gcmäls  ubcrein- 
stinuncnden  Erfahrungen  seitens  der  Arbeitnehmer  bei  der  allge- 
meinen Arbeitsvermittlung  gegenüber  Gebühren  keine  Schwierig- 
keiten gemacht  werden.  Es  ist  im  allgemeinen  zuzugeben,  da(s 
schon  der  Schritt  von  dem  heutigen  privatwirtschaftlichen  Entgelt 
zur  niedrig  bemessenen  Gebühr  einen  bedeutenden  Fortschritt  be- 


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i:L  r  n  a  t  M  U  c  h  1  c  r , 


deuten  würde,  ohne  dafs  es  notwendig  ist,  sofort  in  die  volle  Un- 
entgeltlichkeit, also  in  das  Steuerprinzip  hinüberzusprtngen.  Bei  der 
grofscn  Inanspruchnahme  dürfte  die  Erhebung  der  im  einzelnen 
ganz  geringfügigen  Gebühren  zusammengenommen  eine  ganz  an- 
sehnliche Summe  ausmachen,  welche  die  Einfuhrung  der  Institution 
wesentlich  erleichtem  wüitle.  Ich  denke  dabei  an  die  Gebühren* 
pflicht  namentlich  bei  gewissen  Katc^orieen  von  Diensten,  die  heute 
relativ  hohen  Leistungen  an  VcrinittkinL,'s<^'cschäfte  ausgesetzt  sind, 
ferner  l)ci  höheren  Gehalt-  oder  Lohnsätzen  überhaupt,  endHch  hin- 
sichtlich der  Arbcil|;i  l)rr  in  gewissem  Umfange.  Die  Fntgelthchkeit 
für  die  Leistung  der  allgemeim  ti  Arlx  itsverniilllun^  könnte  dort,  WO 
sie  bt  steht,  im  alljijemeinen  bleiben,  müiste  aber  den  Charakter  einer 
Gl  buhr  haben  und  überdies  sehr  mäfsig  gehalten  sein;  Sätze  von 
etwa  20  Heller  für  den  Arbeitnehmer  und  40  I  Icller  für  den  Arbcit- 
<^feber  l)ei  Kinzellalkn,  oder  Jahrcspauschalien  von  2 — 3  Kronen  für 
den  Arbeit^a'bcr  bei  der  unlieschränklen  Inanspruclitiahmc  dürften 
die  ani^a-mc^s'  iie  Höhe  tlarsteiicn.  Bei  beMindcrs  hohen  Lohnsätzen 
konnten  IioIk  ic  ( li  buhrc-n  in  iordert  werden. 

V  In  i  allen  von  S  t  r  i  k  c  s  und  Auss[)errun;^en  soll  die  \'cr- 
waltuns^skoinmission  fallwci>e  darüber  l^eseliluls  fassen,  ob  die  \'er- 
nnttluii;4>thäti!7keit  für  die  beteiligten  Betriebe  oder  den  beteiligten 
ludu.stric/.weig  einL;c.stcIlt  werde  oder  nicht.  Dafs  die  Strikeklauscl 
\iel  von  der  Bedeutung  verloren  hat,  die  man  früher  glaubte  ihr 
beilegen  zu  sollen,  ist  bek.ninl.  Je  mehr  die  Slrikes  an  l'mfang 
und  einheitlicher  Organisation  zunehmen,  desto  deutlicher  stellt  es 
sich  als  unmöglich  heraus,  die  Arbeitsvermittlung  in  den  beteiligten 
Betrieben  und  Betriebszweigen  weiter  funktionieren  zu  lassen;  die 
Vermittlungsthatigkeit  müfste  in  solchen  Fällen  ein&ch  versagen  und 
könnte  überdies  Anlafs  zu  Reibungen  schärfster  Art  werden.  Anderer« 
seits  hielse  es  über  das  Ziel  schiessen,  wenn  bei  jedem  Strike  die 
Vermittlungsthätigkeit  sofort  suspendiert  werden  sollte,  insbesondere  . 
z.  B.  wegen  Strikes  in  vereinzelten  Etablissements  oder  einzelner 
Arbeitsgruppen  in  einem  Betriebe.  Es  ist  vielmehr  erforderlich,  in 
jedem  Strikefalle  resp.  bei  jeder  Aussperrung  erst  eine  genaue 
Untersuchung  anzustellen,  welcher  Art  Strike  und  Aussperrung  seien, 
um  zu  bestimmen,  wie  sich  die  Vermittlungsanstalt  dabei  verhalten 
soll.  Als  Grundsatz  ist  allerdings  festzuhalten,  dafs  eine  Parteinahme 
für  den  einen  oder  den  anderen  Streitteil,  eine  Erleichterung  oder 
Erschwerung  von  dessen  Kampfstellung  niemals  stattlinden  darf, 
vielmehr  eine  Thätigkeit  nur  insofern  vorzunehmen  ist,  als  gleich- 


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Grund^c  einer  allgemeineii  staatUdien  Arbeitsveimittlang  für  Oesterreich.    3  iß 


sam  neutrales  Gebiet  vorliegt,  d.  h.  die  Position  keines  der  Streit« 

teile  beeinflusst  wird.  All  dies  ist  nur  nach  Prüfung  jedes  Einzel- 
falls möglich  und  deshalb  soll  die  \'er\valtungslcommission ,  der 
hierdurch  eine  wichtiije  Aufgabe  positiver  Natur  erwächst,  bei  Aus- 
bruch  jedes  Strikes  und  jeder  Aussperrung  die  Entscheidung  fällen, 
in  welcher  Welse  sich  der  Vermittlungsbeamte  zu  \'cihaltcn  hat. 

Dabei  dürfte  kaum  zu  bezweifeln  sein,  dafs  die  V'crwaltungs- 
kommission  resp.  Arbeitsvermittlunj.rsanstalt  bei  den  Bemühungen 
zur  Beilegung  von  Strikes  in  die  Aktion  wird  mit  eingreifen  können, 
insbesondere  dort ,  wo  es  an  cii^encn  schiedsgerichtlichen  oder 
sonstigen  cinschläf^ii^en  I"'achoii;ancn  noch  fehlt. 

6.  Durch  die  iirojcklicrtcii  allL^cineincn  staatlichen  W  i  rnittlungs- 
anstalteii  <olloti  die  übrigen  derzeit  bestehenden  X'erniittlungs- 
einrichtiui^en  —  abgesehen  von  den  sog.  Vcrmittlun<T,sgcscluifteii  — 
nicht  als  übeitiussig  erklärt,  sondern  weiterhin  beibehalten  werden, 
und  nur  bc/üi;lic!i  der  Genossenschaften  in  einigen  Punkten  eine 
Rcglementierun;^  erfahren. 

Was  zunächst  die  als  Gewerbe  betriclx-ncn  auf  Gewinn  ge- 
richteten  sog.  Dienst-  und  S  t  e  1 1  e  n  v  e  r  ni  i  1 1 1  u  n  g  s  g  e  s  c  h  ä  f  t  e 
anlxKingt,  stellte  sich  der  Arbeitshciiai  aiil  11  Standpunkt,  dafs 
dieselben  im  I-'alle  der  P'inführung  der  staatlichen  allgemeinen  Arbeits- 
vermittlung überflüssig  seien  und  dafs  sonach  keine  neuerlichen 
Bewilligungen  für  die  B^ründung  solcher  Geschäfte  gegeben,  sie 
demgenuUs  auf  den  Aussterbeetat  gesetzt  werden  sollten.  Dies  war 
allerdings  nicht  der  Standpunkt  des  arbeitstattstischen  Amtes,  welches 
in  seinem  ersten  Entwürfe  eines  Gesetzes  nur  strenge  Kontrollmals- 
regeln  beabsichtigte.  Es  befürchtete  dabei,  dafs  im  Falle  des  all* 
mählichen  und  endlich  volligen  Verschwindens  solcher  befugten  Ge- 
schäfte, die  man  leicht  überwachen  könne,  die  Winkelvermittlung 
blühen  und  zwar  im  Verborgenen  blühen  werde.  Dabei  wurden 
die  vielfachen  Schäden  und  Nachteile  der  konzessionierten  Ver- 
mittlungsgeschäfte nicht  übersehen,  wohl  aber  eine  Beseitigung  der- 
selben durch  strengere  Ueberwachung  und  Reglementierung  erhofft. 
Ich  glaube,  dafe  für  die  konzessionierten  Vermittlungsgeschäfte  nach 
Einführung  der  staatlichen  al^emeinen  Arbeitsvermittlung  ohnehin 
die  letzte  Stunde  geschlagen  haben  dürfte  und  da&  es  im  prak- 
tischen Effekte  ziemlich  auf  dasselbe  hinausläuft,  ob  man  sich  auf 
den  Standpunkt  des  Gesetzentwurfes  des  arbeitstatistischen  Amtes 
oder  auf  jenen  des  Arbeitsbeirates  stellt.  —  Minsichtlich  der  gewerb- 
lichen Genossenschaften  enthielt  der  erste,  vom  arbeit- 

Archiv  für  m».  Gescugebaac  n.  Sutittik.  XV,  31 


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Ernst  Mischler, 

■ 

Statistischen  Amte  au^egangene  Gesetzentwurf  eine  Bestimmung, 
welche  unverändert  in  die  neuen  Grundzüge  übernommen  worden 
ist.  Danach  soll  keine  ("icnossonscliaft  gezwungen  werden,  Arbeit 
KU  vermitteln,  wenn  sie  dies  aber  tluit,  so  hat  sie  dabei  —  im 
Falle  sie  eine  gewisse  Minimalzahl  von  GehiHen  uinfasst  —  t^cwisse 
Bedingungen  zu  erlüilen.  Leber  diese  Minimalzahl  herrschte  keine 
Kinstimmi^kcit .  indem  von  seite  klcingewerblicher  Vertreter  die 
ZitTt-r  von  200  (lehilfcn  als  viel  zu  niedrii^  bezeichnet  wurde.  Ge- 
nu><(  ii-^chaften  mit  einer  unter  das  Minimum  fallentien  Gehilfenzahl 
sollen  hiiisiclillich  t!or  \on  ihnen  allentalls  vorzunehmenden  Arhcits- 
vermittlun«^f  ^an/  trei  \'>i.;ehen  können.  Der  hierher  oehörij^e 
l'arai;rai)h  aus  dem  •  ic.setzentwurfc  des  arbeitstatibtischen  Amtes 
lautet  f»  >l.;endermar>cn : 

ij  II.  ( IcnossitiM  li.itu-n,  wcIcIk-  Jtxo  (IchillVn  i,^  1ü<>.  4.  AI  «-at/.  il<  r  <  "n-werbe- 
ordnun;; '  uuii  mehr  als  An;;' luri^jr  besitzen  uud  Eiuricbtuugcn  /.ur  Vcrmitlluug  von 
ArbeiUtstelien  im  Sinne  des  ^  116  der  Gewerbeordnang  bereits  getrofien  haben  oder 
treffen  werden,  sind  ▼erpflichtet,  die  Verwaltut^  und  Beaafsichtigang  dieser  Ein- 
richtungen finem  Ausschüsse  xu  ttbcrtn^en,  welcher  aus  einer  gleichen  Anzahl  von 
Genossenschaftsmitgliedern  und  Gehilfen  zu  bestehen  hat.  Erstere  werden  von  der 
GenossenschafUTcrsammlung ,  Ittzirre  von  d«T  GchilfcnvcrMimmlung  (Hilfsarbeiter* 
Versammlung  1  fjewühU.  Der  ii-wrilij^r  Obmann  dieses  Ausschusses  und  dessen  Stell* 
Vertreter  sind  \on  den  MitfjHi  I  rn  des  Aus>irlm>>es  aus  ihrer  Mitte  m  wähh-n. 

An/.ald  d<  r  Mit^liotU  r  und  dir  nülu  ri-n  !'•<  ■.tinnnutfgt  n  über  die  Wahl  d<'r- 
sdiK  ii,  aber  die  Dauer  ihrer  i'unktiun,  über  die  Wahl  des  Obmannes  und  seines 
Stellvertreters  sowie  fther  die  Daner  der  Funktion  dieser  letzteren»  endlich  Aber  die 
Bestellung  der  die  Geschäfte  der  Arbeitsvermittlung  filhrenden  Organe  werden  durch 
ein  besonderes  Statut  geregelt,  welches  von  der  politischen  Landesbehärde  xu  ge- 
nehmigen ist. 

Dieser  Paragraph  erklärt  sonach  einerseits  einen  Verwaltungs* 
ausschufs  und  för  diesen  die  paritätische  Organisation  als  obligatorisch, 
und  verlangt  ferner  ein  Statut,  dessen  Genehmigung  der  politischen 
Landesbehörde  zusteht.  Der  Sinn  dieser  Vorschriften  geht  offenbar 
dahin,  Sorge  zu  treffen,  dafs  die  Arbeitsvermittluni;  von  t^röfsercn 
Genossenschaften  wenn  überhaupt,  so  in  zutreffender,  geeigneter 
Weise  erfolge  und  jener  im  allgemeinen  unbefriedigende  Zustand,  der 
heute  besteht,  ein  Ende  nach  dieser  oder  jener  Richtung  nehme.  — 

Die  übrigen  Formen  der  bestehenden  oder  erst  zu  gründen- 
den Arbeitsvermittlungsansialten  werden  zunächst  durch  das  ge- 
plante (leselz,  resp.  dessen  (irundzüge  über  die  allgemeine  Staat* 
liehe  .\rl)eits\erniittlung  g  <i  r  nicht  berülirt,  sie  können  ihre 
Thätigkcit  in  derselben  Weise  fortsetzen  wie  bisher,  oder  ändern 


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Grundzüge  einer  allgemeinen  staatlichen  Arbeitsvermittlung  für  Oesterreich. 

oder  <:janz  beenden,  ganz  wie  es  ihnen  beliebt.  Dies  L^ilt  sonach 
hauptsächlich  für  die  Arbeitsverniitllunj^  der  X'creine,  für  welche 
ausschliefslich  deren  Statut  und  das  X'ercinsgcsetz  mafsj^ebend  ist, 
ferner  für  die  Gemeinden,  iiir  welche  da  allein  die  Bestimmungen 
der  Gememdeordnung  malagebend  sind  und  endlich  die  Länder 
(Landschaften),  deren  Recht  auf  R^elung  und  Verwaltung  der 
von  ihnen  errichteten  Arbeitsvermittlungseinrichtungen  z.  R  in  An- 
lehnung an  die  Naturalverpflegstationen  durch  das  neue  Gesetz  gar 
nicht  berührt  werden  soll  Die  staatliche  Regelung  der  Arbeits- 
vermittlung verfolgt  eben  nur  den  Zweck,  überhaupt  und  allgemein 
die  Ausübung  der  Arbeitsmöglichkeit  im  Rahmen  der  vorhandenen 
Arbeit^elegenheiten  herbeizuführen';  dazu  ist  aber  keinesfalls  erforder- 
lich, die  bestehenden  Einrichtungen  zu  unterdrücken.  Es  erschiene 
dies  auch  gar  nicht  zweckmäfsig,  weil  der  Arbeitsmarkt  in  örtlicher 
und  beruflicher  Hinsicht  grolse  Besonderheiten  aufweist,  welchen 
eine  spezielle  Vorsorge  sehr  gute  Dienste  leisten  kann,  und  weil  es 
sehr  unklug  wäre,  vorhandenes  zu  zerstören,  ehe  man  etwas  er- 
probtes an  dessen  Stelle  setzen  kann  und  ehe  dieses  Zeit  findet, 
sich  einzuleben.  Ks  wird  sonach  vollkommen  im  Belieben  der  heute 
bestehenden  und  noch  zu  errichtenden  Anstalten  für  Arbeitsver- 
mittlung stehen,  ob  und  wie  sie  weiter  zu  fungieren  beabsichtigen. 
Das  allerdings  dürfte  wohl  klar  sein,  dals  sich  der  Boden  für  solche 
besondere  Einrichtungen  nach  Einführung  der  allgemeinen  Staat» 
liehen  Arbeitsvermittlung  gcwifs  verengern  und  vielleicht  gar  manche 
derselben  verschwinden  wird;  lebensfähige  Anstalten  werden  aber 
zweifelsohne  weiterzubestehen  in  der  Lage  sein. 

7.  Das  \'erhältnis  der  neu  zu  errichtenden  staatlichen 
Arbeits\crniittlunLi;sanstaltcn  zu  den  bestehenden  anderen  ana- 
logen Hinrichtungen  katm  ein  mehrfaches  sein.  Zunächst  ist  es 
denkbar,  dals  P)e/iehungcn  ül)erhaupt  nicht  bestehen  werden,  sondern 
die  \  Lr>cliiedenen  .Arten  isoliert  nebeneinander  funktionieren  werden, 
wie  (las  heute  die  allgemeine  Regel  bildet,  .iber  als  ein  durchaus 
unbelriecligender  Zustand  bezeichnet  werden  muls.  Dafs  dieser  nach 
etwaiger  Kinfühning  der  staatlichen  Vermittlung  nicht  weiter  be- 
stehe, dafür  sollen  eben  die  letzteren  in  ihrer  Gesamtorganisation 
sorgen  und  zwar  zunächst  im  Wege  freundlicher  Annäherung  und 
Anbahnung  gegenseitiger  freiwilliger  Beziehungen,  wie  dies  eben&lls 
heute  schon  hier  und  da  vorkommt.  Alle  Arbettsvermittlungs- 
etnrichtungen  sind  aufeinander  angewiesen  und  können  sich  gegen- 
seitig fördern;  deshalb  ist  anzunehmen,  dafs  die  neuen  territorialen 


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K  r  n  s  t  M  i  s  c  Ii  1  c  r , 


Anstalten  sofort  versuchen  werden,  in  Beziehung^  zu  allen  bestehen- 
den Vermittlungsanstalten  zu  treten,  und  die  Mittclstellen  sowie  die 
Zentralstelle  gern  bereit  sein  werden,  die  ersteren  in  ihre  Bemühungen 
auf  dem  Gebiete  der  Au^leichung  des  Arbeitsmarktes  einzubeziehen, 
ihnen  gutachtlichen  Rat  u.  dgl.  zukommen  zu  lassen  u.  dgl.  mehr. 
Dafs  dabei  gleichsam  im  Wege  gegenseitigen  Uebereinkommens  ge- 
wisse  Bedingungen  gestellt  werden  dürften,  wie  z.  R  die  Ueber- 
nahme  der  Verpflichtung  zu  gegenseitiger  Mitteilung  offener  Stellen 
und  Arbeitsgesuche  etc.  ist  selbstverständlich.  All  dies  geht  darüber 
nicht  hinaus,  was  heute  schon  vorliegt. 

Wohl  aber  beabsichtiget  der  Gesetzentwurf  eine  viel  weiter- 
gehende Art  der  Bcziehun;:^  zwischen  der  staatlichen  allgemeinen 
Arbeitsvermittlung  und  den  bestehenden  freien  V'ermittlungseinrich- 
tungen.  Wenn  territorial  veranlagte  Vermittlungseinrichtungen 
jenen  Bedingungen  entsprechen,  weiche  dasGesetz  für 
die  staatlichen  Anstalten  vorschreibt,  so  können  sie 
deren  Aufgaben  übernehtnen,  sonach  gleichsam  an  deren 
Stelle  treten,  und  sollen  dann  staatlich  erscits  entsprechend 
s  u  i )  \-  «■  n  t  i  o  n  i  c  r  t  werden.  Dies  werden  sonach  Arbeitsx  eniiittlungs- 
anstah<  II  in  erster  Linie  der  ( ieineiiuien,  allenfalls  der  Landschatten, 
und  eventuell  j^riisser  tcrritr>rial  wirkenden  gcmeinnut/i.^eii  X'ereine  sein. 
Im  Falle  dieses  W  rhältnisses  sollen  dann  fiir  diese  Sprengel  staatliche 
Anstalten  überhaupt  nicht  errichtet,  resp.  deren  Wirkun<^s^^ebiet  aus  den 
Territorien  der  staatlichen  ArbeitsvermittlunL^shc/irke  ans;^en(immen 
werden.  Wenn  also  z.  R,  eine  Stadl  eine  kommunale  \'erniittlungsanstalt 
nach  den  Anforderungen  des  Gesetzes  für  ihr  Gemeindegebiet  errichtet, 
so  fällt  dieselbe  aus  dem  Sprengel  der  staatlichen  Be/irksansialt  her- 
aus, resp,  bildet  gleichsam  einen  kleineren  gle  ichberechtigten  Ver- 
mittlungsbczirk  für  sich.  Welche  Bedingungen  vorliegen  müssen, 
damit  den  freien  Vermittlungsanstalten  territorialen  Charakters  staat- 
liche Qualität  verliehen  werde,  ergiebt  sich  aus  den  vorstehend  er- 
örterten Grundsätzen:  Errichtung  einer  Verwaltungskommission  mit 
paritätischer  Organisation,  Allgemeinheit,  Freiwilligkeit  und  Unent- 
geltlichkeit der  Leistung,  Unterordnung  und  Eingliederung  in  das  all- 
gemeine  staatliche  Netz  u.  s.  f.  Für  den  Staat  erwächst  durch  eine 
solche  Substituierung  der  Nutzen,  nicht  überall  neu  organisieren  zu 
müssen,  vorhandenes  benutzen  zu  können,  sich  mit  einer  Subvention 
abfinden  zu  können  u.  a.  m.;  fiir  die  Gemeinde  erwächst  der  Nutzen, 
zu  der  Mitwirkung  im  übertragenen  Wirkungskreise  nicht  mehr  ver- 
pflichtet zu  sein,  da  ja  keine  Staatsanstalt  besteht,  ihre  Einflulsnahme 


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Gnindxttge  einer  allgemeinen  staatlicbcn  Arbeitsvennittlnng  fUr  Oesterreidi.  31^ 


weit  mehr  waliren,  die  X'erbinduntr  mit  sunsii^'ci^  etwa  bestehenden 
Genieindcciiirit  liUini^^en  herbeiführen  zu  ktMinen  u.  dgl. 

Dabei  entsteht  die  I'^raj^c,  ob  e>  auch  mö<Thch  sein  soll,  V'er- 
eincn,  deren  Thätigkeit  nicht  teri  iturial  sondern  —  sa^^en  wir 
—  beruflich  i.st  oder  hcstimmic  Gesellschaftskreise  unifalst,  j^lcich- 
falls  die  Möj^liclikeit  zuzuerkennen,  anstelle  der  allge  meinen  staat- 
lichen Arbeitsvermittlung  zu  treten  und  staatliche  materielle  hörderung 
ZU  erfahren,  also  z,  B.  Vereinen  von  Berufsgenossen,  gewerkschaft- 
lichen Oi^anisationen  u.  dgl.,  femer  alten  sonstigen  Vermittlungs- 
etnrichtungen,  die  nicht  territorial  sondern  beruflich  wirken,  und 
welche  Bedingungen  diese  zu  diesem  Zwecke  erfüllen  mUfeten.  Von 
vornherein  ist  dieser  Gedanke  gewife  nicht  abzulehnen,  nur  mii(ste  er 
anders  ausgeführt  werden  als  bei  den  territorialen  Anstalten  der 
Gemeinden  etc.  Prinzipiell  wäre  sonach  zu  sagen,  dafs  auch  solche 
Organisationen  den  Charakter  der  staatlichen  Arbeitsvermittlui^ 
erlangen  und  staatliche  Beihilfe  erhalten  können;  allerdings  nicht  in 
dem  Sinne,  da(s  sie  hinsichtlich  der  von  ihnen  betrofTenen  Berufs* 
gruppe  die  Thätigkeit  der  staatlichen  Anstalt  ausschliefsen,  also  etwa 
an  deren  Stelle  treten :  das  wäre  mit  dem  Charakter  der  Allgemein- 
heit der  Vermittlung,  den  die  staatUche  Arbeitsvermittlung  nicht  auf- 
geben darf,  unvereinbar.  Es  würde  also  nur  ein  Nebeneinander  der 
Thätigkeit  bestehen,  wobei  allerdings  aus  praktischen  Rücksichten 
bei  gutem  Inandergreifcn,  die  staatliche  Vcrmittlungsanstalt  gewisse 
Geschäfte  der  beruflichen  übergeben,  d.  h.  sich  davon  fernhalten 
könnte,  um  eine  Doppelleistung  zu  vermeiden. 

Die  Bedingungen,  welche  diese  Art  von  Vereins-  etc.  \'er- 
mittlungsanstalten  zu  erfüllen  hätten,  um  mit  der  Uebernahme  staat- 
licher Aufgaben  und  dementsprechend  mit  Gclduntcrstützung  seitens 
des  Staates  bedacht  zu  werden,  müfsten  im  allgemeinen  dieselben 
sein,  welche  von  Gemeinden  und  territorial  wirkenden  Wreincii  im 
analogen  I-"all  zu  erfüllen  wärm:  im  besonderen  müfste  allerdings 
eine  Modifikation  zulässirr  und  möglich  sein.  So  stellt  sich  /..  R.  die 
Forderung,'  nach  einer  X'erwaltun^^skommission  und  nach  paritätischer 
( )r^^anisation  eiUweder  mit  Rücksicht  auf  die  Wreinsleituni^  al>  uber- 
tlü^^ig,  oder  bei  X'ereinen,  die  nur  aus  bestimmten  Schichten  von 
Hcrufhangehörigcn  gebildet  sind  (X'ercin  der  Hanilel.>L;ehillen  etc.  1, 
mit  Rücksicht  auf  das  totale  hehlen  der  einen  ParitätsLn"U|)j)e  als 
unmö'Tlirh  heraus.  Bei  solchen  Wreinen,  gewerkschaliliclien  i  »rgani- 
sationen  u.  (Il^I.  würden  sonach  die  sonst  der  \''erwaltun[jskomtnission 
zukommenden  Geschäfte  von  der  \  crcinsleitung  zu  besorgen  sein. 


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Erost  Miscbler, 


V.   Die  Aussichten  f  1  c  r  \'  e  r  \v  i  r  k  1  i  c  h  u  n  g  des 
G  e  s  c  l  z  c  n  t  \v  u  r  f  e 

Die  Frage,  welche  Aussichten  der  Gesetzentwurf  betrefiend  die 

EünflihrunjTj  einer  allgemeinen  staatlichen  Arbeitsvermittlung^  habe, 
verwirklicht  zu  werden,  kann  —  insoweit  eine  Erwictlerun^  hierauf 
möi^^lich  ist  —  mit  der  Präzisierung  der  Stellung  der  einzelnen 
politischen  Parteien  und  der  Interessen  der  grofeen  Berufsabteüungen 
des  X'olkes  beantwortet  werden.  Die  Debatte  im  Ausschusse  und 
im  Plenum  des  Arheitsbeirates,  sowie  zahlreiclic  Auslassungen  in  der 
Parteipresse  und  bereits  vorhandene  Vcrwaltungseinrichtungen  auf 
diesem  Gebiete  lassen  dies  uii^rlnvcr  inul  mit  ziemlicher  Sicherheit 
zu,  insoweit  die  Parteiprogramme  nicht  schon  direkt  oder  indirekt 
einen  l'inger/ciL":  i^'chen. 

Da  ist  zunaciisi  die  Stellungnahme  der  Aut  onomisten  von 
Interesse.  Nach  den  Verhandlungen  im  Plenum  des  Arbeitsbeirates 
kann  eine  prinzipielle  Gegnerschaft  der  autonomistischen  Parteien, 
aus  denen  sich  die  derzeitige  Mehrheil  des  Reichsrates  zusammen- 
setzt, niciit  angenommen  werden,  hisbesondere  kann  auch  der  \'er- 
weis  auf  das  i^ingreifen  der  Gemeinden  in  tlie  Arbeitsvermittlung, 
welcher  in  einer  Rede  als  gestaltendes  Moment  für  deren  Ausbau 
und  Fortbau  gefallen  ist,  nicht  genügen.  Die  Gemeinden  sind,  von 
einigen  Dutzend  Städten  abgesehen,  vollkommen  aufser  Stande,  auf 
diesem  Gebiete  selbständig  thätig  zu  sein,  und  werden  niemals 
hierzu  die  Eignung  besitzen;  sie  ^nd  zu  Idein,  es  fehlt  ihnen  die 
Möglichkeit  der  Fühlung  untereinander,  und  sie  entbehren  zum 
gröfsten  Teile  der  geistigen  Potenzen.  Sie  sind  —  von  den 
grofseren  Städten  abgesehen  —  in  dieser  Hinsicht  för  immer  auf 
die  Stellung  als  Hilkorgane*  insbesondere  als  Anmeldestellen  an* 
gewiesen. 

Fragen  wir  aber  nun  weiter,  was  die  autonomen  Faktoren  bisher 
auf  dem  Gebiete  der  Arbeitsvermittlung  geschaffen  haben,  so  lautet 
die  Antwort:  die  Arbeitsvermittlung  in  Anlehnung  an  die  Natural« 
Verpflegstationen  und  einzelne  kommunale  Arbeitsvermittlungs- 
anstalten. Was  zunächst  die  Naturalverpflegstationen  an- 
belangt, so  müssen  wir  die  Frage  von  einem  zweifachen  Gesichts- 
punkte  auffassen:  erstlich  die  Arbeitsvermittlung  als  Ausflufe  des 
eigentlichen  Wesens  der  Naturalverpflegstationen  und  zweitens  die 
Naturalverpflegstationen  als  äufserlich  hergeholten  territorialen  Unter* 


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GrundzUge  einer  allgemeinen  »uatlicben  Arbeitsvermittluag  für  Oesterreich. 


bau  einer  nur  durch  ihre  eigenen  Zwecke  bestimmten  Arbeitsver- 
niittlui\g.  In  der  erstgenannten  Hinsicht  liegt  der  Zusannmenhang 
zwischen  NaturatverpHegstationen  und  Arbettsvermittlung  in  der  „Ar- 
beitsbeschafiung  für  die  Frequentanten  der  NaturalverpBegstationen", 
und  von  diesem  Boden  aus  sand  die  letzteren  iiir  eine  durch- 
greifende Losung  des  Problems  der  Arbeitsvermittlung  unzureichend. 
Die  Naturalverpflegstationen  bestehen  in  Oesterreich  in  der  Haupt« 
Sache  nur  in  zwei  zusammenhangenden  Länderkomplexen,  in  der 
nordwestlichen  Landergruppe  und  in  den  Gruppen  der  Alpenländer; 
im  Osten  und  Süden  fehlen  sie  vorlaufig  und  es  ist  ganz  unbe- 
rechenbar, wann  und  ob  sie  da  überhaupt  eingeführt  werden;  über* 
dies  sind,  zumeist  aus  agrarischen  Interessen,  in  mehreren  Ländern 
grofse  Berufsgruppen  von  Arbeitsuchenden  (TaglÖhner,  Dienstboten, 
Landarbeiter)  von  der  Benützung  ausgeschlossen.  Ferner  werden 
gaxa  allgemein  sonstige  Beschränkungen  der  Benützbarkeit  vorge- 
nommen, welche  ihren  Grund  in  dem  eigenthchen  Zweck  der  Xa- 
turalverpfl^tationen  haben:  den  Wanderbettel  zu  beseitigen,  die 
Arbcitsrheu  zu  bekämpfen  und  eine  Sonderung  der  arbeitswilligen 
und  arbeitscheuen  Elemente  zu  erzielen;  aus  diesen  Gründen  wird 
vielfach  den  Ortsarmen,  den  einige  Mittel  besitzenden  und  den  über 
ein  bestimmtes  Zcitausmafs  hinaus  Arbeitslosen  die  Aufnahme  ver- 
weigert, sowie  die  Benützung  der  Stationen  nur  in  bestimmten 
Intervallen  oder  in  bestimmter  Häufigkeit  gestattet.  Endlich  aber, 
und  dies  ist  ein  sehr  l)c<Jeutsames  Moment,  dienen  die  Naturalver- 
pflegstationen  nur  den  wandernden  Arbciterelcnientcn,  welche  sich 
zum  allergrölslen  Malse  aus  den  männlichen,  den  jüngeren  und  den 
ledigen  Arbeitern  zusarniiienset/en,  wonach  nur  aus  einem  Bruchteil 
der  gesamten  arbeitsuchenden  Bevölkerung.  Für  die  grofse  Masse 
sei>hafler  Arbeiter,  namentlich  gröfserer  .Städte  und  Industriebe/irke, 
welrl\e  ilire  Arbeitsbedingungen  ohne  wesentliche  Ortsveräiiderung 
suchl,  oder  welcher  das  W'andern  eiiic  l 'imiöglichkeit  ist,  sind  die 
Xaluralverj)fleg>tationen  überhaupt  ohne  Belang.  Auch  ist  die  .Xuf- 
suchung  der  NaturaK  crptlegstalionen  von  der  Jahreszeit  und  den  VV'itte- 
rung^\erhäItnissen  abhängig,  also  Momenten,  die  auf  den  Arbeits- 
markt in  gänzlich  verschiedener  Weise  einwirken.  Endtich  ist  für 
diese  Arbeitsvermittlung  stets  nur  die  Nachfrage  der  Arbeitsuchenden 
und  zwar  allein  mafsgebend,  wobei  auf  diese  Masse  der  Arbeit- 
suchenden eine  di.sponierende  Einwirkung  überhaupt  nicht  ausgeübt 
werden  kann,  um  sie  dem  Angebot  von  Arbeitsplätzen  konform  zu 
gestalten. 


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320 


Ernst  Mischler, 


Alle  diese  in  der  I^i^cnart  der  Frec}ucntanten  der  Naturaher- 
pflegstation  liegenden  Momente  lassen  diese  Anstalten  als  ungeeignete 
Grundlagen  einer  planmafstgcn  allgeineinen  Arbeitsvermittlung  er- 
scheinen. Dabei  ist  es  beinahe  überflüssig,  überdies  noch  darauf 
hinzuweisen,  dafs  den  Organen  der  Xaturalverpflegstationen  —  so 
geeignet  diese  für  den  einfachen  Dienst  der  Beherbergung^  sein 
mögen  —  die  Eignung  zur  Vornahme  einer  organisierten  Arbeits- 
vermittlung fehlt  So  wird  die  Arbeitsvermittlung  der  Naturalver- 
pflegstationen  stets  nur  ein  beiläufiges  Anhängsel  sein  und  bleiben. 

Dem  Gesagten  widerspricht  es  nicht,  wenn  zwei  österreichische 
Länder,  Böhmen  und  Niederösterreich,  den  Versuch  machen  oder 
wenigstens  die  Idee  gefaCst  haben,  von  den  Naturalverpflegstationen 
ausgehend  zu  einer  allgemeinen  planmärsigen,  zentralisierten  Arbeits- 
vermittlung zu  gelangen.  Denn  bei  näherem  Zusehen  ergiebt  sich, 
»  dafs  hier  die  Arbeitsvermittlung  zu  einem  scll)ständigen  X^'erwal- 
tungszweig  entwickelt  werden  soll,  so  dafs  die  Naturalvcrpfleg- 
stationen  nur  noch  nebenher  inbetracln  kommen.  In  Ntederöstero 
reich  wurde  im  Jahre  1894  zwischen  Staats-  und  Landesx  erwaltung^ 
einverständlich  der  Plan  einer  ort^nnisierten,  das  ganze  Land  um- 
fassenden Arbeitsvermittlung  verabredet,  der  aber  wegen  der  in- 
folge der  Resolution  des  Abgeordnetenhauses  eingeleiteten  Aktion 
der  Regierung  vorlätifig  /Zurückgestellt  wurde.  Die  von  der  nieder- 
österreichischen  Statihaiterei  aufgestellten  Grundzüge  sind  nicht 
ganz  klar  und  lauten  etwa  foli^t  iidermarsen  : 

Natiiralvrrpfiojj^tationfn  br-.ori^rn  ulli/.ifll  dio  Arln  it'^x  ermitthintj :  in  Wi.-n 
soll  dies  durch  die  Gemeinde  geschehen.  Alle  diese  Virmiuliingsaiuur  stehen  mit 
einer  Zentrale  ia  Verbindung ;  diese  besorgt  die  Drucklegung  der  Zahl  und  Kategorie 
and  «llgemeiiie  Verbratburnng  der  Arbeitsuchenden  sowie  der  Arbeitgeber  in  Wien  und 
jeder  niedcrösterreicbischen  Gemeinde.  Dieses  Veraeichnis  encbeint  an  Form  einer 
Zeitung,  die  sich  ittr  den  Anschlag  eignet  Fftr  das  flache  Land  erfolgt  deren  Ver- 
sendung an  die  politisclK-n  (d.  i.  staatlichen)  Bczirksbehitrdcn,  welche  Wöchentlich 
die  betreffende  Verlautbarung  in  jede  Gemeinde  behufs  Atligierung  schicken.  Neue 
Kon/.osionierungen  lür  ><)gen.  Di<-n^t\ <rnntllungsgesch:ifte  sollen  in  der  Kei,r<  1  nicht 
mehr  gLgebrn  werden.  Die  Genos>»-nschaltrn  W'-rd^n  ,rur  Mitwirkung  an  tin  ser 
Organi!>ation  herange/,ogen.  Die  Oberleitung  hegt  m  den  Händen  des  Landesaus- 
schusses.  Für  die  Vermittlung  werden  sowohl  von  Arbeitgebern  als  Arbeitnehmern 
Taxen  anr  Deckung  der  Regie  eingehoben. 

Würde  eingangs  dieses  Planes  nicht  von  Naturalverpflegstationen 
gesprochen  werden,  so  würde  niemand  einen  Zusammenhang  dieser 
Organisationen  mit  denselben  annehmen  können.  In  der  That 
scheinen  die  Verpflegstationen  auf  die  Funktionen  von  Anmelde- 


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GnmdzUge  einer  aUgemeiaen  staatlichen  Arbeitsvermittlmig  Hlr  Oesterreich.    32 1 

stellen  bcschtankt  werden  zu  sollen  ,  insoloni  iiiefiir  nicht  die  Ge- 
meinden seihst  inbetracht  konuiicii .  wie  denn  ^^eraiiezu  von 
„gemeindeamtliclieii  \'erinitllun^'->luii  caiix"  }^esprocl)en  wird.  Wir 
haben  daher  ein  Netz  von  Anun  kiotellen  (Gemeinden  eventuell 
Naturalvcrpfle^stalionen)  mit  einer  Zentralstelle  und  Mittclstellen 
in  den  staatlichen  Bezirksstädten ,  das  ganze  als  Nachweisungs- 
verkehr und  nicht  als  Vermittlungsverkehr  gedacht  und  mit  sonstigen 
Vermittlungsstelten  der  Genossenschaften  etc.  in  Verbindung  gesetzt 
Wäre  je  dieser  Plan  verwirklicht  worden,  so  wurde  ach  alsbald 
herausgestellt  haben,  da(s  die  Naturalveriitlegstationen  für  denselben 
von  ganz  nebensachlichem  Belange,  aber  durchaus  nicht  der  Kem> 
punkt  desselben  seien. 

Auch  die  in  Böhmen  seit  1897  eingeführte  Organisation  ist 
nicht  klar  durchdacht,  wenngleich  sie  gegenüber  Niederösterreich 
schon  einen  Fortschritt  bedeutet;  »e  lädst  sich  etwa  in  folgender 
Weise  skizzieren: 

Die  Arbeitsvermittlmig  erfolgt  dm'di  die  NaturalverpBegstationen,  wobei  aber 
di«  Gcroeindclmter  verpflichtet  sind,  Anmeldnngvn  entgegensanehmen  mid  an  die 
nächste  Station  an  leiten.  Jo  6 — 7  Vcrpflegstationen  werden  einer  Hauptstation  zu- 
gewiesen, welcher  sir-  dir  unlx-sctzt  gebliebenen  Stellen  anzuzeigen  haben.  Für  die 
Ausgleichung  des  Arbeitsniarktcs  zwistlun  diesen  Haupt-t  itinnr-n  dient  die  beim 
L.indes.uis>ohusse  errichtete  /entralc,  welcher  die  bei  den  Huupt^i.uioin.ii  unbe^t-tzi 
bleibenden  Stellen  mitzuteilen  sind.  Die  Zentrale  vcruiieutüchl  aul  dieser  Grund- 
lage wöchentlich  einen  Amtsanteiger  mit  den  bei  den  Hanptstationen  mibesetzt 
gebliebenen  StcUcn.  Da  diese  Organisation  offenbar  nicht  gans  entsprach,  wurde 
der  Plan  gefafst,  Bczirksarbeitsvermittlmigsiroter  n  errichten,  welchen  Beiräte  von 
Fachmännern  angegliedert  werden  sollten;  diese  Einrichtung,  welche  gleichfalb  über 
die  Gemeinden  als  Anmeldestellen  verHigt.  soll  dann  in  einem  Zentnlarbeitsrermitt- 
langsamt  in  I'ri^'  .'ipfeln  Bisher  sind  aber  solche  Hezirk^amter  nur  ganz  vereinzelt 
errichtet  worden  und  zwar  fungieren  sie  fwie  z.  B.  Smichow  bei  Prag)  m'-hr  nach 
.\Tt  der  kommunalen  ArbcitsvcnnitUutig^^aniter.  welche  ja  ihre  Thätigkeit  stets  auch 
auf  ein  zugehöriges  gröfseres  Gebiet  erstrecken. 

Auch  in  die-^er  böliniischcii  Einrichtung,  welche  sieh  \m  <  icf^cn- 
satz  /II  Niederösttt reich  tranz  im  Ralimcn  der  Sell).st\cr\\ altunii  ab- 
sj)ielt  und  welche  zwischen  zwei  OrganisationsL^edanken  schwankt, 
treten  die  XaturalverpIlcL^stationen  vor  den  Gemeintlen  einerseits 
und  den  Haui)tstationcn,  d.  h.  Rezirk.sämtern,  andererseits  zurück,  und 
.sind  eigentlich  ziemlich  überflussi<j,  auf  kernen  Fall  aber  der  Kern- 
punkt  der  Organisation,  welche  vielmehr  begrifflich  (lie  Gemeinden 
(unt!  Verptlcgstationcn)  als  Anmeldestellen,  sodann  die  Nitural- 
vcrpflejj'atationcn,  llauptstationen  resp.  Bezirksvcrmitllungsanstallen 


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322 


Ernst  Miichler, 


als  die  eigentlichen  Vermittlungsämter  und  endlich  (neben  den 
Hauptstattonen,  welche  auch  als  ausgleichende  Stellen  gegenüber 
den  Stationen  dienen)  die  Zentralstelte  als  oberstes  ausgleichendes 
Organ  kennt:  es  sind  ebenso  wie  in  Niederösterreich  dieselben 
Organe,  welche  unser  luitwurf  fordert,  nämlich  die  territorialen  An> 
stalten,  die  LandessteUen  resp.  die  Zentralstelle  zur  Ausgleichung 
und  die  (Tcmeindcn  zur  Amncldun^,  nur  ist  dieser  (tedanke  wcdcr 
in  Niederösterreicli  uoch  in  Böhmen  klar  aus<;estaltct. 

Wir  sehen  also,  da(s  die  Länder,  aus^^i  hLiul  von  den  Natural« 
verpilegstationen  dort,  wo  sie  den  Ged mki  n  !er  Arbeitsvermittlung^ 
weiter  ausgesponnen  liaben,  zu  jener  Linnclitung  gelangt  sind  oder 
gelangen  müssen,  welche  wir  als  die  für  Oesterreich  zweckent- 
sprechende erkannt  haben.  Nun  ist  aber  zu  bedenken .  dafs  das 
bisher  nur  in  einem  ein/igen  Lande  (Hijhmcn)  bereits  thalsächlich 
wenit:^tens  angebahnt  ist,  während  illc  übrigen  Länder  keine  Spur 
einer  Durchtuhrung  der  planmälsigm  Arbeitsvermittlung  zeigen. 
Auch  in  Böhmen  ist  jedoch  die  thatsächliche  Ausgestaltung  von 
(Jeni  sorst  iuvebenden  Plane  sehr  weit  entfernt.  Ein  vom  .Staate 
au.sgehendcr  Zwang  auf  die  Länder  zur  allgemeincii  Ivinführuiig  einer 
solchen  oder  ähnlichen  .'\rbcitsvcrmittlung  ist  verfassung>gemärs  un- 
möglich, und  bei  der  sonst  mangelnden  eigenen  Initalive  der  Länder 
auf  diesem  debiete  ist  der  Schlufs  gerechtfertigt,  dafs  die  .\usge- 
slaltung  einer  bcfrietligenden  Arbeitsvermittlung  in  Anknüpfung  an 
die  Naturalverpllegstationen  auch  nur  in  jenen  Lämlern,  in  tleiien 
letztere  derzeit  schon  bestehen,  und  insoweit  die>  mit  Rücksicht  auf 
das  Wesen  der  Naturalvcrpflegstationen  überhaupt  möglich  erscheint, 
niemals  zu  erwarten  ist.  Da  die  Lander  ohnehin  zu  keiner  anderen 
Organisation  gelangen  können  als  zu  jener,  welche  unser  Entwurf 
andeutet,  so  ist  nicht  einzusehen,  warum  von  deren  Standpunkt  aus 
gegen  eine  allgemeine  staatliche  Arbeitsvermittlung,  welche  den 
Ländern  die  beträchtlichen  Kosten  einer  solchen  Einrichtung  er> 
spart,  eine  gegnerische  Stellung  eingehalten  werden  sollte.  Das 
Recht  der  Länder,  etwa  vorhandene  Einrichtungen  auf  diesem  Ge- 
biete beizubehalten  oder  solche  neu  zu  schaflfen,  bleibt  ja  unange- 
tastet und  es  steht  ihnen  der  Weg  oflen,  bei  Akzeptierung  der 
Grundzüge  des  Staatsgesetzes  ihre  allfallige  Einrichtung  in  den 
Rahmen  der  staatlichen  Arbeitsvermittlung  unter  Aufrechterhaltung 
ihrer  eigenen  Ingerenz  einzugliedern  und  dabei  noch  staatlicbersetts 
subventioniert  zu  werden. 

Für  die  allfallige  VerwiiMchung  eines  Staatsgesetzes  über  die 


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GruDdziigc  einer  allgemeinen  äUatiichen  Arbeitsvcrmitllung  für  Ücslerroich.  323 


Arbeitsvermittlung  ist  es  aber  ein  erfreuliches  Vorzeichen,  dafs  der 
Gedanke  der  Gemeinden  als  Anmeldestellen  und  der  Bezirke  als 
Vermittlungsstellen,  der  Beiräte,  endlich  der  Zentralstellen  mit  aus- 
gleichender  Funktion  nicht  nur  nicht  als  etwas  absolut  Neues 
hereinbricht,  sondern  sogar  schon  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
örtlich  verwirklicht  wurde  und  in  zwei  hervorragenden  Ländern  als 
richtig  und  durchführbar  erklärt  worden  ist'} 

Und  nun  gelangen  wir  dazu,  zu  präzisieren,  wie  sich  die  An* 
hängcr  k o  mm  u  naler,  d.  L  in  der  Regel  mittel-  und  grofsstädtischer 
Arbeitsvcrmittlunc;s.'m.stalten  zu  dem  l'rojekte  der  allL^^emeirien  staat- 
lichen Arbeitsvermittlung  verhalten.  Die  Debatte  im  Arbeitsbeirate 
vermag  uns  hierüber  keinen  Aufsclilufe  zu  geben,  denn  die  Be- 
sprechung dieses  Tunktcs  SjMtzte  sich  zu  einer  Polemik  zwischen  den 
parteipolitischen  (christlich-sozialen)  Freunden  der  Wiener  kommu- 
nalen Arbeitsvermittlung  und  deren  Gegnern,  den  sozialdemo- 
kratischen Arbcitcr\'crtretern  aussrhlicfslich  über  diese  Wiener  An- 
stalt zu;  sieht  man  jedoch  naher  hin,  so  kann  nicht  verborgen  bleiben 
—  wenngleich  es  unausgesprochen  blieb  — ,  dafs  sich  der  Redestreit 
um  die  prinzipielle  Frage  drehte,  ol)  kommunale  Arbeitsvermittlungs- 
anstalten ausschlielslich  durch  die  konuiiunalcn  Machtlaktoren  oder 
durch  paritätisch  /.usanmieiv^^csetzte  X'erwaltungskommissioiicn  ge- 
leitet werden  sollen.  I  I]at.->achhch  steht  die  Sache  in  Oesterreich 
so,  dafs  die  bisher  Ijestchendcii  wenigen  kommunalen  Arbeits- 
vt  i nuithingsanstaUen  in  der  1  lauptsacln  .lusschliefslich  als  Glied  der 
Cieineinde\ erwaltunfj  ohne  Da/.uiriicn  von  Liementen  der  Arbeit- 
gebcr  und  Arbeitnehmer  aufgi-falst  werden. 

Gerade  derzeit  besteht  in  Oesterreich  eine  Strömung  zur  P>- 
richtung  derartiger  kommunaler  Arbeitsvermittlungen,  die  aber  kaum 
viel  Erfolg  haben  wird.   Bisher  bestehen  solche  stadtische  Arbeits- 


*)  In  GAlizien  wurde  im  LandUge  wiederholt,  suleta  1897  die  GrOndung 
einer  Postarbeitsbörse  flür  das  Land  nadi  Lvxembnrgschen  Muster  beantragt, 
welche  nach  dem  letzten  Antrage  ans  einer  Landesarbettsbörse,  74  Bezirksarbeits* 
börsen  und  12  städtisrlicn  Arbeitsbör.scn  bestehen  sollte.  Bisher  ist  dic>es  Projekt 
aber  noch  nirlil  /,ur  Ausführung  fjelanyt.  l's  ist  leicht  zu  «-rsehen,  daf>  eine  solche 
Organisation  ohne  w«'-;.-ntlirhe  Mitwirkunp  des  Staates  unausführbar  i>t. 

In  Schlesien  ^\  iird<-  im  Jahre  iSoS  im  Landtage  im  Anschlu>,sc  an  üu-  Er- 
hebung dcü  Ilandehmiui^itcriurai)  über  die  Arbcit!>vermittlung  ein  ganz  allgemein  gc- 
halteaer  Auftrag  an  den  Landeaanssdmls  beschlossen,  dieser  solle  Vorschläge  über 
ein  das  ganze  Land  umfassendes  System  von  Arbcitsvermtttlttngselnrichtungen  in 
Vors^lag  bringen. 


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324 


Ernst  M  i  s  c  h  1  c  r , 


veitnittlungsämter  tn  Wien  und  Prag,  Smichow  bei  Pr^,  dann  in 
Reichenberg,  im  kleinen  Stadtchen  Mährisch>Trübau «  und  in  Lai- 
bach; in  Krakau  und  Triest  ist  die  Errichtung  im  Zuge.  Die 
Wiener  Arbeitsvermittlung  ist  eine  Schöpfung  der  christlich>sozialen 
Partei  und  als  Gegengewicht  gegen  die  gewerkschaftliche  Vermitt» 
lung  und  Partei  überhaupt  gedacht;  die  Anstalten  in  Prag-Smichow 
und  Trübau  entstanden  in  Anlehnung  an  die  Naturalvcrpfl^tationen, 
die  Reichenberger  Anstalt  vermutlich  aus  nationalen  Motiven,  die 
Krakauer  als  Präventiv-  und  Repres^ivinitiel  ij;cgen  den  Pauperismus. 
Jedenfalls  ist  also  von  einer  einheitlichen,  bedeutsamen  oder  mäch- 
tigen Tendenz,  welche  ein  Aufblühen  koiTimunalen  Vermittlungs- 
we'^ens  erwarten  liefse,  keine  Rede  und  die  Befürchtung  ausi^'c- 
schlössen,  es  kr>nne  etwa  in  eine  solche  Strömung  durch  das  Projekt 
einer  staatlichen  Arbeitsverniittlunfj  hemmend  eingegrifTen  werden. 
Anhän>^er  kommunalen  Arbeitsvermittlunc^.swcsens  können  den  Gesetz- 
entwurf nur  beL^rüfsen,  weil  er  allen  (iemeinden,  ohne  einen  Zwang 
auf  sie  ausziuil>cn ,  die  Möglichkeit  beläfst ,  ci<^fene  X'crmittlun^s- 
an^tnlten  wie  bisher  zu  errichten  oder  /.u  erhallen,  und  ihnen  über- 
dies noch  die  Au>sicht  croftnet .  im  balle  sie  die  drundprinzipien 
des  ( ir>etzcs  für  diese  Anstalten  akzeptieren ,  aus^iaebic^e  staatliche 
Sub\entioneii  zu  erhalten,  wahrend  sie  die  Kosten  heute  L^an/  allein 
trat^en  nüis-en.  —  Die  Lasten,  welche  einer  t renieinde  aus  dem  neuen 
(n-sctze  erwachsen  würden,  sind  verschieden,  je  nachdem  die  (ie- 
meinde  eine  den  staatlichen  Anforderungen  enlsprechendc  Atistalt 
errichtet  oder  nicht.  Im  ersteren  Falle  besitzt  sie  eine  .\nstalt,  die 
sehr  wenig  kostet  und  liurch  welche  die  (iemeiiide  von  jeder  Mit- 
wirkung an  der  lokalen  staatliclicn  Wrmitllung  befreit  wird.  Im 
letzteren  Falle  dagegen  ist  die  Gemeinde  zur  Beistellung  des  Lokales 
genötigt  und  hat  als  Anmeldestelle  zu  fungieren ;  die  Funktion  einer 
Anmeldestelle  stellt  sich  ohne  weiteres  leicht  heraus,  wenn  die  Ge- 
meinde eine  eigene  (in  diesem  Falte  den  Prinzipien  des  Gesetzes 
nicht  entsprechende)  Vermittlungsanstalt  erhalt,  weil  sie  da  nur 
die  von  ihrer  eigenen  Anstalt  nicht  erledigten  Fälle  an  die  staat- 
liche Anstalt  mitzuteilen  hat;  besitzt  die  Gemeinde  dagegen  eine 
solche  Anstalt  nicht,  dann  mufs  sie  fiir  Entgegennahme  von  Arbeits- 
stellen und  Arbeitsgesuchen  sowie  zur  Verlautbarung  solcher  und 
Mitteilung  an  die  staatliche  Stelle  Vorsorge  treffen,  und  zwar  be* 
trifft  diese  Verpflichtung  ebensogut  die  gro(sen  Städte  wie  die  kleinen 
Dorfgemeinden.  Dabei  ist  wohl  anzunehmen,  da&  in  groGseren 
Städten,  namentlich  dort,  wo  sich  die  Errichtung  von  mehreren 


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Grumlzugc  einer  allgemeinen  !>taalUclien  Arbcitsvermilllung  für  Oesterreich.  ^25 


Anmeldestellen  in  den  Stadtbezirken  nötig  macht,  die  Kosten  einer 
solchen  Mitwirkung  fühlbar  sein  werden;  da  hiedurch  eine  Ausgabe 
hervorgerufen  wird,  auf  deren  Effekt  die  Gemeinde  einen  Einflufs 
zu  nehmen  nicht  in  der  Lage  ist,  während  sie  durch  vielleicht  un> 
beträchtliche  Mehrauslagen  eine  eigene  Anstalt  erhalten  könnte, 
deren  Aufwand  bei  Akzeptierung  der  Prinzipien  des  Gesetzes  zum 
grofsen  Teil  auf  den  Staat  überwälzt  werden  kann,  erscheint  es 
för  die  Gemeinden  —  das  Zustandekommen  des  Gesetzes  voraus* 
gesetzt  —  unbedingt  vorteilhaft  zur  Errichtung  eigener,  sei  es  gänz- 
lich frei  oder  nach  den  Grundsätzen  des  Gesetzes  gebildeter  Arbeits- 
vennittlungsanstaltcn  zu  schreiten.  Das  kommunale  Arbeitsver- 
mittlungswcscn  dürfte  sonach  bei  Verwirklichung  des  Gesetzes  einen 
lebhaften  Aufschwung  nehmen  und  die  Gemeinden  hätten  überdies 
keine  L'rsache,  in  dessen  Zustandekommen  eine  Gefahr  für  ihre 
freie  Bethätigung  auf  diesem  Gebiete  oder  die  Gefahr  beträchtlicher 
unausweichlicher  Lasten  zu  erblicken.  — 

Ganz  besonders  charakteristisch  ist  die  Stellung,  welche  seitens 
der  gewerblichen  Arbeitgeber  einerseits  und  der  gewerblichen  Arbeit- 
nehmer andererseits  gegenüber  dem  Gesetzentwurfe  eingenommen 
wurde  und  welclie  folgerichtig  durch  deren  bekannte  scharf 

pointierte  Partciprograiiiinsi »unkte  diktiert  war.  Was  zunächst  die 
Unternehmer  anlielan^t,  o  nmlslin  wir  die  'gewerblichen  und  die 
landwirtschaftiiehen  und  ninerhalb  der  crsleren  die  Grofsbetriebe 
und  das  Kleingewerbe  auscinanderiialten ;  hinsichtlich  der  Arbeit- 
nehmer kommen  die  gcwerk>chaftlicli  organisierten  und  die  auf 
andere  Weise  organisierten  inbelrarht. 

Von  den  Arbeitgebern  der  gewerblichen  Grofsbetriebe 
wurde  in  der  Debatte  der  bekannte  Satz  aufgestellt:  die  Arl>ciis- 
vermittlung  sei  ausschliesslich  Sache  iler  Arbeitgeber  und  sie  sei 
bei  diesen  am  besten  aufgehoben.  Diese  scharfe  Zuspitzung  ist 
nicht  so  allgemein  bekannt,  und  auch  in  der  Partei  nicht  so  allge- 
mein anerkannt,  wie  etwa  das  —  mutatis  mutandis  —  gleichlautende 
Postulat  der  sozialistischen  Programme.  Halten  wir  Umschau,  wie 
sich  diese  Arbeitsvermittlung  der  Arbeitgeber  in  der  Fabrikaticm 
bethätigt,  so  zeigt  sich  ein  wenig  befriedigender  Zustand :  Gewerbe- 
vereine und  Handelsgremien  mit  nebenhergehender  ganz  unzuläng- 
licher Vermittlung  auf  der  einen  Seite,  Aufnahme  von  Arbeitern 
durch  Bevollmächtigte,  Werkfuhrer  etc.,  oder  Umschau,  öffentliche 
Bekanntmachung,  schriftliche  Offerte  und  dergl.  auf  der  anderen 
Seite  —  von  einer  festeren  Organisation  aber  keine  Spur.  In  der 


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326 


Ernst  M  i  m;  h  1  L-  r , 


That  besteht  zumeist,  wenigstens  in  den  wirklichen  Großbetrieben, 
keine  sog.  direkte  Beschaffung  von  Arbeitskräften  sondern  eine  ver 
hüllte  Vermittlung  durch  Zwischenpersonen,  Werkfiihrer  und  dergl. 
Allerdings  betonen  die  grofsgewerblichen  Arbei^eber,  an  einer 
Organisierung  der  Arbeitsvermittlung  kein  Interesse  zu  haben,  weil 
sie  stets  einer  überschüssigen  Masse  von  Arbeitskräften  gegenüber- 
stehen,  welche  sich  selbst  direkt  anbietet.  Hieran  können  wir  an- 
knüpfen  und  den  groC^ewerblichen  Arbeitgebern  —  deren  theo- 
retisches Postulat  nach  Alleinbereclitij^unj,^  zur  Arbeitsvermittlung 
wohl  nur  besagen  soll,  dafs  sie  bei  der  Ansttllcn  ;  von  Arbeit- 
nehmern ui'.bcdingt  frei  sein  wollen,  woran  ja  durch  die  geplante 
Orgnnisation  nichts  j^'eändcrt  wird  —  cntj^corcnlialten,  dafs,  wenn 
ihre  Behauptun;^  von  dem  übt-rschüssi^cn  Anbote  der  Arbeitsuchenden 
richtif;^  ist,  für  ihre  Betriebe  f:renau  dieselben  Zustände  auch  nach 
Einführung  der  allgemeinen  staatlichen  Arbeitsvermittlung  weiter 
bestehen  werdiMi ,  durch  welche  doch  niemand  gezwungen  wird. 
Arbeit  zu  geben  oder  zu  nehmen.  Die  überschüssigen  Arbeit- 
suchenden, welche  bei  der  Arbeitsvermittlung  vergebens  vorsj >rcchen, 
weil  diese  keine  neuen  Arbcitsgelegenluitcn  schafft,  werden  sirh, 
falls  sie  sich  in  andere  Arbeitsgelegenht  itiii  nicht  überleiten  lassen, 
in  diesem  balle  x)  wie  heute  \or  den  Fabrik.sthoren  einfinden  und 
nacli  freiem  Belieben  des  Arljeitgebers  oder  seiner  Mittelsjiersonen 
eingestellt  werden.  Aus  diesetii  ( irundc  wäre  es  konseijuent.  wenn 
die  grofsge\verl)lichen  l 'nternehmerkrclse  sich  zu  der  geplanten 
.staatlichen  Arbeils\  eniiittlung  /um  mindesten  tieutral  v  erhielten,  um 
so  mehr  als  \-on  ihnen  wedei  eine  Sachlcislung  noch  eine  Bcitragjs- 
leistung  verlangt  wird ,  und  sie  in  ihrer  Aktionsfreiheit  bezüglich 
der  Aufnahme  von  Arbeitnehmern  oder  Errichtung  von  gänzlich 
freien  Vermittlungsstellen  nicht  im  geringsten  beeinträchtigt  werden. 
Allerdings  kann  ich  mich  nicht  der  Ansicht  hinneigen,  dals  die 
gewerblichen  Grofsbetricbe  an  einer  Organisierung  des  Arbeits- 
marktes kein  Interesse  haben,  und  erachte  dies  nur  hinsichtlich  der 
unqualifizierten  oder  wenig  Schulung  voraussetzenden  Dienste  iiir 
zumeist  zutreffend. 

Dem  Postulatc  der  Fabrikvertreter,  die  Arbeitsvermittlung  sei 
allein  Sache  der  Arbeitgeber,  steht  das  Postulat  der  sozialdemo- 
kratischen Arbeitervertreter  gegenüber,  die  Arbeitsvermittlung 
gehöre  ausschliefslich  den  Arbeitnehmern  zu.  Allerdings  wurde  diese 
Forderung  gleichsam  nur  zur  Markierung  des  Standpunktes  auf- 
gestellt, worauf  die  Vertreter  der  organisierten  gewerblichen  Arbeit- 


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(JrumUüge  einer  allgemeinen  staatlichen  Arbeilsvcrniitllung  für  Oesterreich.  327 


nehmer  in  den  Verhandlungen  des  Arbeitsbeirates  erklärten,  den 
Prinzipien  des  Gesetzentwurfes  über  die  staatlichen  Arbeitsvermitt- 
lungsämter  zuzustimmen. 

Die Stelluf^nahmederkleingewerblichen  Unternehm  er 
—  und  dies  stellte  sich  auch  bei  den  Beratungen  über  den  Gesetz» 
entwurf  heraus  —  ergiebt  sich  einerseits  aus  deren  Verhalten  gegen* 
über  der  kommunalen  und  andererseits  gegenüber  der  genossenschaft- 
lichen Vermiulung,  denn  die  übrigen  Formen  klein<^ewerblicher 
Arbeitsvermittlung  (im  Anschlufs  an  Gewerbevereinc,  Handwerker- 
vereine, Handels^^remien  und  gemischte  Fachverbände  —  Umschau, 
Aufnahme  durch  Mittelspersonen  oder  Bcvollmächti«:jc,  Oftcrte, 
Inserate  etc.)  sind  eben  nur  schwache,  oft  recht  mifsliche  Auskunfts- 
mittel. Da  von  der  Arbeitsvermittlun<^  der  Städte,  in  denen  die 
Zusammensetzung^  der  Vertretung  wesentlich  von  der  gewerblichen 
Untcrnehmcrklas<c  abhän;^t.  weshalb  diese  an  allen  städtischen  liin- 
richtuni^cn  somit  auch  an  der  Arbeitsv  crmittlunL:  besonders  interessiert 
ist,  bereits  die  Rede  war,  handelt  es  sich  nur  noch  darum,  was 
seitens  der  <  i  e  n  o  s  s  e  n  sc  h  a  ft  e  n  von  dem  (Icstt/i-nt  wiirfe  zu  er- 
warten ist.  Seitens  kkinj^'ewerblicher  1 'titeriuhTucr  wird  hervor- 
ijehoben,  dals  die  riennsvrnschaften  —  deren  rn/.uläni;lichkeii  auf 
dem  Gebiete  der  Arbeitsvermittlunc^  ^nr  nicht  in  Alfrede  s:jestcllt 
wird  und  bei  den  notaiischcn  diesbe/.u^dichcn  Zuständen,  von  ver- 
einzelten Städten  und  ( ienossenschaften  abgesehen  auch  ^ar  nicht 
nc'^fiert  werden  kann  —  die  ihnen  vom  ( iesetzentwurfe  zu^euuilete 
Ürj>anis<'Uion  mit  paritätischen  Wrwaltun^skommissionen  etc.  (welche 
jedoch  nur  anzunehmen  ist,  falls  die  Genossenschaften  sich  über- 
haupt mit  Arbeitsvermittlung  befassen  wollen,  wozu  sie  durchaus 
nicht  genötigt  werden  sollen)  aUenfalls  nur  bei  einer  grösseren 
Minimalzahl  von  Gehilfen  praktizieren  könnten  als  dies  im  Entwurf 
vorgesehen  ist :  eine  Forderung,  über  welche  ein  Einvernehmen  Idcht 
zu  erzielen  wäre.  Im  übrigen  falle  es  den  Kleinmeistern,  die  ohne- 
hin mit  Schwierigkeiten  zu  kämpfen  haben,  schwer,  eine  Thätigkeit 
in  den  Genossenschaften  auszuüben.  Da  sollte  man  nun  glauben, 
dafs  die  kleingewerblichen  und  Handwerkerkretse  gern  nach  den  Be- 
helfen des  (Gesetzentwurfes  greifen  würden,  welcher  es  ihnen  ermög- 
licht, eine  Organisation  des  Arbeitsmarktes  zu  benutzen,  zu  der  sie 
gar  nichts  beizutragen  haben,  falls  sie  nicht  wollen;  sie  erfohren  ja 
nur  eine  Erleichterung  ihrer  Existenzbedingungen,  und  könnten  sich 
auf  diese  billige  Weise  leicht  von  den  derzeitigen  Mühen  und  Mängeln 
der^genossenschaiUichen  Arbeitsvermittlung  befreien.  Das  zutreffende 


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328 


Ernst  Mischler, 


Wirken  mancher  (  icnosscns(  liaftcn  hinsichtlich  der  Arbeitsvermittlung 
in  l'.hrcn,  ist  doch  zuzup-ben,  tlafs  die  Genossenschaften  vielfach  ge- 
notii,ft  sind,  die  privaten  Wrmiuhin'^rsj^eschäfte  zu  benutzen,  dafs  in 
den  Herbergen  [gewinkelt  wird,  die  Kufhäuser  groiser  Städte  oft  der 
Schauplatz  wüster  Szeticn  sind,  dals  häufi-^^  zu  Annoncen  <:jegriffen 
W  erden  nials  und  die  1  rn-i  hau  sowie  der  Znsannnenhang  der  \'er- 
mittlun<^f  mit  dem  handwerksüblichen  (lesciienke  keinen  haltbaren 
Zustand  des  X'ermtttlungswesens  darstellen.  Ich  halte  es  für  aus- 
geschlossen, dals  jriiials  noch  von  dei\  (  K  no>sen>ehaiten  im  allge- 
meinen eine  IeI)Ln>trihi;^e  Arbeitsvermittlung  /.u  erwarten  sei,  woran 
die  Wiedel l)(-  lel)ung>\ ersuche  der  genossenschaftlichen  (  >rganisation 
des  Handwerkerstandes,  wie  sie  derzeit  auch  in  (  )e>tt  rrcich  an  der 
Tagesordnung  sind,  nichts  wesentliches  aiuicrn  werden. 

Die  k  1  c  i  n  g  c  w  c  r  b  1  i  c  h  e  n  ,  nicht  gewerkschaftlich 
organisierten  Arbeiter,  zu  denen  auch  die  gesamte,  nicht 
derartig  organisierte  (.jiehillenschaft  im  llantiel  sowie  die  Privat- 
beanuen  etc.  hinsichtlich  ihrer  diesbezüglichen  Stellungnahnjc  ge- 
zählt werden  können,  legen  mit  Recht  grosses  Gewicht  auf  die 
unangetastete  Erhaltung  der  arbeitsvemuttelnden  Thätigkeit  ihrer 
Vereine,  speziell  dort,  wo  es  sich  um  besonderes  vorgebildetes 
Personal  (Buchhalter,  Kommis,  Verkaufer,  Güterbeamte  etc.)  handelt. 
In  dieser  Hinsicht  ist,  sowie  hinsichtlich  der  durch  Vereine  vor  sich 
gehenden  Arbeitsvermittlung  überhaupt  zu  bemerken,  dals  der  Gesetz- 
entwurf ausdrücklich  auf  dem  Standpunkte  steht,  den  Vereinen  ihre 
Selbständigkeit  zu  belassen  und  ihnen  eben&lls,  wenn  sie  sich  den 
Prinzipien  des  Gesetzes,  wozu  sie  aber  nicht  genötigt  werden  können, 
anpassen,  staatliche  Förderung  in  Aussicht  zu  stdlen.  Insofern 
könnten  die  Vereine  resp.  die  Vertreter  des  Prinzipes  der  möglichst 
freien  Bethätigung  auf  diesem  Gebiete  mit  dem  Entwürfe,  der  ihnen 
Schonui^  ihrer  Eigenart  und  überdies  nur  Gewinn  in  Aussicht  stellt, 
wohl  zufrieden  sein.  Allerdings  wurde  in  der  Debatte  von  den  Ver- 
tretern der  freien  Bethätigung  in  der  Vereinsbildung,  speziell  auch  von 
christlich -sozialer  Seite  die  Befürchtung  ausgesprochen,  die  Tendenzen 
nach  Entstehung  freier  Organisationen  könnten  durch  die  Schaffung 
eines  geschlossenen  Netzes  staaUicher  Arbeitsvermittlungsanstaltcn 
in  ihren  Keimen  erstickt  werden.  Eine  genauere  Aussprache,  was 
unter  diesen  freien  Gebilden  zu  verstehen  sei,  konnte  nicht  herbei- 
geführt werden  und  ich  kann  daher  nur  bemerken,  dafs  mit  der 
Organisierung  einer  zureichenden  .'\rbeitsvermittlung  unmöglich  ge- 
wartet werden  könne,  bis  die  noch  ganz  in  den  Anfangen  steckende 


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GrundzUgc  einer  allgemeinen  »täatlichen  Arbeitsvcrmiulung  Tür  Oesterreich.  ^29 


freie  Bethätigung  auf  diesem  Gebiete,  möge  sie  von  welchen  Motiven 
immer  getragen  sein,  halbwegs  geniefebare  Früchte  in  genügend 
grosser  Zahl  getragen  haben  wird.  Dies  gilt  nicht  nur  hinsichtlich 
der  Fachvereine,  sondern  auch  der  humanitären,  der  konfessionellen 
Vereinsbildung,  im  besonderen  der  katholischen  Grehilfenvereine 
u.  a.  m« 

Was  femer  die  landwirtschaftlichen  Ihteressen  anbelangt, 
so  betreten  wir  damit  ein  Gebiet,  welches  der  Arbeitsvermittlung 
am  meisten  bedarf,  und  dennoch  mit  derartigen  Einrichtui^en  so 

gut  wie  gar  nicht  \  ersehen  ist.  Die  Dienstboten-  oder  Arbeits* 
markte  gehören  der  Vergangenheit  an  und  der  Landwirt  ist  genötigt, 
entweder  den  „Zubringer"  zu  benutzen  odt  r  sich  an  ein  städtisches 
\'ermittlungsbüreau  zu  wenden,  wobei  auch  die  Dienstboten  zumeist 
in  eine  recht  miCsliche  Situation  geraten.  Dabei  mufs  der  Landwirt  vor 
jeder  guten  einseitig  städtischen  oder  industriellen  Arbeitsvermittlung 
Besorgnis  empfinden  und  das  Abströmen  der  Landarbeiter  in  er- 
höhtem Masse  befürchten,  da  die  auch  in  Oesterreich  nunmehr  auf 
freier  Basis  geplante  beriifsr^^enossenschaftiichc  Organisation'),  welche 
auch  der  Arbeitsverniittiung  dienstbar  gemacht  werden  soll,  wohl 
noch  in  weiter  Ferne  ist.  I'ür  die  agrarischen  Interessen  ist  aber 
nun  gerade  die  ge{)lante  staatliche  Arbeits\'ermittlung  mit  ihrem 
lückenlosen  Netz  territorialer  Anstalten  ein  Schutz  gegen  das  Ab- 
strömen der  Arl)eitskräfte  in  tlie  Städte,  weil  den  Dienstboten  eine 
Kenntnis  der  örtlichen  Arbeitsgelegenheiten  geboten  wird,  und  weil 
sie  von  der  allfalligen  reberfüllung  des  städtischen  Arbeitsmarktes 
Klarheil"  erlangen.  Aurli  konnte  die  geplante  Zentralisation  des 
Arbeitsniarkte^  die  McLjlicilkeit  bieten,  überschüssige  agrarische 
Arbeitskräfte  ilirem  Berufe  durch  Verwendung  in  anderen  Gegen- 
den zu  erhalten  und  die  Gefahr  planloser  Wanderungen  oder  der 
Auswanderung  zu  vermindern.  Die  Zersetzung  in  dem  Stande  der 
landwirtschaftlichen  Dienstboten,  sowie  die  Umwandlung  derselben 
in  Tagarbeiter  ist  ja  eine  bekannte  Thatsache  ebenso  wie  die  fort- 
schreitende  Desorganisation  des  landlichen  Arbdtsmaiktes,  und  wenn 
hierin  Wandel  geschaiTen  werden  soll,  so  ist  die  Schaffung  einer 
gleichmaisig  auch  die  agrarischen  Interessen  berücksichtigenden 
Arbeitsvermittlung  eine  unabweisbare  Bedingung. 

Nun  stehen  wir  in  der  Betrachtung  der  einzelnen  Beni&klassen 


*)  In  der  XVL  Session  1900  ist  neoerlicb  ein  GeseUentwnif  Aber  diese  An- 
gelegenheit dem  Reiclisrite  vorgelegt  worden. 

Archiv  tat  Ml.  Getietigcbanc  n.  Scatitdik.  XV.  3S 


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330 


Ernst  Mischlcr, 


von  Arbeitgebern  und  Arbeitnehmern  vor  dem  weiten  Gebiete  der 
ungelernten  Arbeit  sowie  der  häuslichen  Dienste,  welche 
jetzt  —  ebenso  wie  die  landwirtschaftlichen  Dienste  —  den  ge- 
werbsmäTsigen  Dieiistverrnittlungs<Tcscliäften  überlassen  sind  oder 
sogar  auch  dieser  Form  der  Arbeitsvermittlung  entbehren.  Uebcr 
die  Dienslvcrmittlungsf^escliäfte,  in  denen  zumeist  die  Hnusdienst- 
boten  „zugebracht",  die  Gehilfen  im  Gastgewerbe  sowie  Handels- 
angestellte  vermittelt,  das  Theatcrpersonal  angeworben,  Seeleute 
angeheuert,  Lehrlinge  gehandelt  und  Eisenbahnzüge  landwirtschaft- 
licher Arbeiter  arangiert  werden,  sind  die  Akten  geschlossen; 
wenngleich  es  niemandem  beikommt  über  jedes  einzelne  dieser 
Geschäfte  den  Stab  zu  brechen,  so  ist  doch  die  Anschauunc:^  'j^anz 
überwiegend,  dals  diese  Form  der  Arbeitsvermittlung  wert  sei.  zu 
verschwinden.  Dies  kann  aber  nur  geschehen,  wenn  in  anderer 
Form  für  eine  Vermitthmg  Vorsorge  getroffen  wird.  Von  diesem 
.Standjiunkte  aus  und  dieser  gilt  für  einen  bedeutenden  Bruchteil 
der  Bevölkerung,  der  ebensowohl  aus  Dienstgebern  wie  F^ienst- 
nehmern  besteht,  würde  der  Krsatz  dieser  .*^tcllengeschäfte  durch 
die  allgemeine  Arbeitsvermittlung  freudig  begrülst  werden. 

Fnil  damit  kininen  wir  uns  dem  Schlüsse  der  vorliegenden  .\us- 
führungcti  zuwenden.  Der  neuerliche  Schritt  auf  dem  Gebiete  der 
Sozialpolitik,  der  mit  einem  Gesetze  über  die  allgemeine  staatliche  Ar- 
beitsvermittlung gemacht  werden  soll,  kann  niemandem  überraschend 
kommen  und  iur  niemanden  eine  gefährliche  Fortbildung  unserer 
noch  so  jungen  Sozialpolitik,  sondern  für  jedermann  nur  einen  kon- 
sequenten  Ausbau  unserer  Verwaltung  bedeuten.  Dieser  weitere 
Schritt  beabsichtigt,  ohne  das  Bestehende  in  seiner  Existenz  zu  be- 
drohen, dessen  Schäden  und  Auswüchse  zu  beseitigen,  Lebensfähiges 
zu  erhalten  und  zu  fördern,  und  auf  dem  gesamten  Arbeitsmarkte  die 
Möglichkeit  der  Erhaltung  des  Lebens  durch  die  Arbeitsbethätigung 
im  Rahmen  der  bestehenden  Arbeitsgelegenheiten  zu  garantieren. 
Dafs  unsere  Sozialpolitik  der  Ausbildung  nach  der  Richtung  der 
territorialen  Ausgestaltung  und  der  Zentralisierung  *)  bedarf,  und  dals 
speziell  eine  durchgreifende  Oi^^anisierung  der  Arbeitsvermittlung 
notwendig  ist,  darüber  besteht  in  Oesterreich  im  grbfsen  und 
ganzen  ein  Zweifel  wohl  seit  langem  nicht  mehr  und  insbesondere 


*)  Vgl.  die  interessftute  Skizriemiig  eines  Bolchen  GesamtlMines  der  öster- 
reichischen sozialpolitischen  Organe  bei  Köglcr,  Soziale  Verwaltung  und  Arbeiter» 
Tcrncherong  in  „Soziale  Praxis",  IX.  Jahrg.  Nr.  l6. 


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Grnndzüge  einer  «Ugeroeinen  staatlichen  ArbeitsvennittlmK  Ar  Oesterrddi.  3^1 

ist  CS  der  Ciedaiike  einer  allf:reiTieinen  staatlichen  Arbeitsver- 
mittlung, der  stets  von  neuem  wiederkehrt.  •)  Die  früheren  An- 
re<:][ungen  fielen  zu  einer  Zeit,  wo  die  Bruchstücke  unserer  Sozial- 
politik, Arbeitcrscliutz  und  (icwerbeinspektion,  Arbeiter  -  Unfalls- 
und Krankem  crsirherun;_; ,  Eini'^ain^sämter  und  Gewerbe<;erichte 
noch  im  Stadium  der  Projekte  oder  eben  erst  eingeführt  waren; 
die  Hrfoli^losigkeit  der  älteren  Anregungen  zur  F.inführung  einer 
allgemeinen  Arbeitsverinittluiig  darf  daher  durchaus  nicht  als  ein 
böses  Omen  für  unseren  X'orschlag  ausgelegt  werden.  Wcmi  nicht 
alle  Anzeichen  trügen,  so  ist  gerade  jetzt,  wo  in  einer  ganzen  Reihe 
von  Landstuben,  darunter  der  gröfsten  Länder  Oesterreichs,  das  Pro- 
jekt einer  allgemeinen  Arbeitsvermittlung  in  Verhandlung  steht,  wo 
eine  wenn  auch  kleine  Reihe  von  Städten  mit  Errichtung  von 
solchen  Anstalten  vorgeht  und  die  Unhaltbarkeit  der  derzeitigen 
Zustande  durch  die  Regierung  selbst  in  erschöpfender  Weise  klar- 
gelegt ist,  der  Zeitpunkt  fiir  die  Ausgestaltung  einer  auf  dem 
territorialen  Gedanken  beruhenden  Arbeitsvermittlung  sehr  günstig. 
Dals  unser  Pariament  wenig  erfreuliche  Zustände  aufweist  und  fiir 
die  Beratung  eines  sozialpolitschen  Gesetzes  von  grolser  Tragweite 
derzeit  wenig  Disposition  zeigt,  darf  einen  Freund  des  Ausbaues 
der  staattichen  Sozialpolitik  nicht  beirren.  Die  Pause,  welche  in 
der  gesetzgeberischen  Thätigkeit  des  Reichsrates  bestand,  hatte 
iär  unsere  Angel^enheit  wen^tens  das  Gute,  dals  eine  Einigung 
über  die  Grundzii^e  einer  allgemeinen  staatlichen  Arbeitsvermittlung 
in  öffentlicher  Diskussion  herbeigeführt  werden  konnte,  und  da&  in 
weiterer  Befolgung  dieser  Anregungen  vielleicht  die  Detailausarbei- 
tung der  Paragraphen  des  Gesetzentwurfes  auf  dieser  Grundlage 
wird  herbeigeführt  werden  können,  so  dafs  der  Reichsrat  hoffent- 
lich bald  einer  Regierungsvorlage  g^enübci stehen  wird,  die  er 
zwar  ablehnen  kann,  der  er  aber  eine  ernsthafte  Behandlung  nicht 
wird  versagen  können  und,  wie  erhofft  werden  darf,  auch  nicht 
wird  versagen  wollen. 

')  Schon  im  Jahre  1S74  wurde  gelegentlich  einer  Anregung  über  die  Ein- 
fllbnmg  von  Arbciterkammera  im  österr.  Abgeordnetenbaose  an  die  Verbindung  voa 
Dicutvenmttlniigtbiireaax  mit  denselben  gedacht.  Im  Jahre  1884  ttberreichte  Dr. 
Julias  Wolf  dem  österr.  Msiiisteriam  des  Imiera  einen  VorKhhig  tar  Anvgestaltutg 
einer  allgemeinen  Arbeitavennitthmg  im  Anschlnsae  an  eine  einsaflihrende  Unfalls* 
versicherang.  Im  Jabre  1895  endlich  wurde  die  Eingangs  dieser  AusfUhmngen  mit- 
geteilte Resolution  über  die  Arbeitsvermittlang  gefofst. 

22* 


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Die  Berufs-  und  Gewerbezählung  im  Deutschen  Reich 

vom  14.  Juni  1895. 

Von 

Prof.  Dr.  H.  RAUCHBERG 

in  Prag. 

Zweiter  Teil. 
Berufsgliederung  und  soziale  Schichtung. 

•  Schluf»  des  rweitcn  Teiles,] 

Xm.  Die  Stellung  der  Frauen  im  Erwerbleben. 

In  den  \  orhcr^cliciulen  Abschnitten  hal)cn  wir  die  beriifliclie 
und  soziale  Gliederung  des  deutschen  \'ülks  kennen  gelernt.  In 
den  nachfolj^enden  Untcrsuchunc:jen  soll  sie  in  V'crbindunj^  ijebracht 
werden  mit  den  wichtigsten  dcinographisciien  Momenten :  mit  Ge- 
schlecht, Alter,  Familienstand  und  Glaubensbekenntnis  der  Bevölke- 
rung. Wir  hofTen  dadurch  Einblick  zu  erlangen  in  die  Zusammen- 
hänge zwischen  den  Grundthatsachen  des  natürlichen  und  des  wirt- 
schaftlichen Lebens  des  deutschen  Volks.  Als  erster  der  eben  an- 
gedeuteten Gesichtspunkte  ist  tn  diesem  Abschnitte  die  Gliederung 
nach  dem  Geschlecht  zu  untersuchen  und  ist  danach  die  Stellung 
der  Frauen  im  Erwerbleben  zu  erörtern. 

Am  14.  Juni  1895  sind  im  Deutschen  Reich  26361 123  Per- 
sonen weiblichen  Geschlechts  gezahlt  worden.')  Darunter  waren 
5264393  in  einem  Hauptberuf  erwerbthätig;  1 313957  waren 
Dienende  und  702 125  berufslose  Selbständige.  In  der  Kat^^orie 
der  Angehörigen  ohne  eigenen  Hauptberuf  verblieben  18667224. 
Einschliefsiich  der  Dienenden  waren  somit  6  578  350  Frauen  erweib- 

*)  Ucber  cUu  ZalilcnverliäUuü  der  beiden  Geschlechter  iu  der  Gesamtbevulke- 
nng  vgl.  den  XIV.  Bd.  dieses  Archivs  S.  265. 


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Die  Bcruis-  und  Gcwcrbetählung  im  Deutschen  Reich  vom  I4.  Juni  1S95. 

thätig.  Das  ist  rund  ein  Viertel  —  24,96  Prozent  —  der  gesamten 
weiblichen  Bevölkerung  des  Deutschen  Reichs.  Lafst  man  aber 
die  Kinder  unter  14  Jahr  aulser  Anschlag,  so  waren  von  17  935  019 
weiblichen  Personen  über  14  Jahr  6493681  oder  36,21  Prozent  Er- 
werbthätige  oder  Dienende.  Von  den  je  100  männlichen  Personen 
jener  Altersstufe  sind  es  90,7a 

Wesentlich  erweitert  erscheint  der  Umfang  der  Frauenarbeit, 
wenn  auch  der  Nebenerwerb  mit  berücksichtigt  wird.  1746326 
Nebenerwerblalle  betreffen  Frauen,  und  zwar  265  297  Erwerbthätige 
im  Hauptberuf,  72741  beruf  lose  Selbständige  und  1408288  An- 
gehörige oder  Dienende.^)  Dafs  die  Zahl  der  hieran  beteiligten 
Personen  nicht  genau  festgestellt  werden  kann,  weil  manche  Per- 
sonen mehrere  Nebenberufe  ausüben,  ist  schon  im  XII.  Abschnitte 
hervorgehoben  worden.^  Um  vieles  dürfte  jedoch  die  Zahl  der 
Personen  mit  Nebenerwerb  hinter  jener  der  Nebenerwerbfalle  nicht 
zurückbleiben.  Man  kann  also  annehmen,  dals  zu  den  6,5  Millionen 
Frauen,  die  im  Hauptberuf  erwerbthätig  sind,  erheblich  mehr  als 
eine  Million  von  Frauen  hinzukommt,  die  es  doch  in  der  Form  des 
Nebenerwerbs  sind. 

Seit  der  Berufszahlung  von  1882  hat  die  Zahl  der  erwerb* 

thätigen  Frauen  stark  zugenommen,  viel  rascher  als  jene  der  er- 
werbthätigen  Männer  und  als  die  Gesamtbevölkerung.  '£s  beträgt 
die  Zunahme  der  im  Hauptberuf^) 

erwcrbthätigcn  Frauen    1 005  290  oder  23.60  Prozent 
„         HBiiaer  a  133 577    m  »5,95 

des  Standes  von  1882.  Werden  auch  die  Dienenden  mit  in  Rech- 
nung gestellt,  so  haben  die  erwerbthätigen  Frauen  und  Mädchen  seit 
1882  um  1036833  oder  18,71  Prozent,  die  erwerbthätigen  Männer 

um  2  1 16426  oder  15,78  Prozent  zugenommen.  Daraus  er«;eben 
sich  folgende  Veränderungen  in  der  Gliederung  der  weiblichen  Be- 
völkerung unter  dem  Gesichtspunkte  des  Berufs: 


^)  Ad  dieser  letzteren  Zaiil  suid  die  Angcbörigcn  rund  mit  9  Zehnteln,  die 
Dienenden  mit  i  Zehntel  beteiligt.    Vgl.  das  Z&hlimgswerk  S.  II3. 

')  VgL  oben  S.  153  u.  158. 

*)  Im  Nebeucrwcrb  haben  die  männlichen  Fälle  um  696093  abgenommen, 
die  wdblichen  vm  511615  zugenommen.  Vgl.  darflber  die  AnsAlhrangcn  dct  XD. 
AbKlmitts,  S.  159. 


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334 


H.  Rftuchberg« 


Von  je  100  Personen  weiblichen  Geschlechts  sind 


lSq5  1S82 

Frw.rbth.Hligr  10,07  18.46 

Dicnrnde  4,99  5  ;6 

Angehörige  70,81  7-94 

Berullose  Sclbständifjf    .    .      4,23  3.04 


Der  rrozcntsatz  der  erwerbthätij^en  Frauen  erscheint  um  1.5 1 
\tTstiirkt.  Auch  bei  den  Männern  treten  ja  die  Erwerblhatigen 
nunnielir  stärker  hervor;  Iiier  macht  aber  die  Differenz  der  Prozent- 
sätze von  1895  und  1S82  nur  0,65  aus.  Die  Be\ve;^un;j;^  auf  Seite 
der  I'Vaucn  ist  also  viel  rascher.    Demzufolge  sind  weiblichen  Ge- 


schlechts 

von  je  loo  1895  1882 

ErwerUhäligen   25,35  24,16 

Dienenden   98,11  96,79 


EnrerbthSti^en  und  Dienenden  nmmroen  .    39,7$  29,23 

Der  Anteil  der  Frauen  ati  der  Hcruüsarbeit  des  Deutschen  Volks 
ist  also  in  rascher  Zunaiinie  bejijritlen. 

Ks  iieLjt  nahe,  (he  hier  vorp^eführteii  Zahlen  unter  dem  Ge- 
sichts] »unkte  der  Konkurrenz  aufzulassen.  Die  iiöhercn  Zuwachs- 
prozente  der  er\verl)th<iti^'eii  h'rauen  und  die  V'crstiirkunL^  ihres  An- 
teils an  der  Berufsarbeit  werden  häufig  dahin  i^edeutet.  dals  dadurch 
der  Wirkungskreis  der  Männer  eint^eschränkt  und  deren  wirtschaft- 
liche Lage  verschlechtert  werde.  Inwieweit  diese  .Auffassun^r  nia- 
teriell  berechtiL^t  ist,  soll  si>äter  erörtert  werden,  iiacluicni  wir  «.lie 
grundlegenden  statistischen  Thatsachen  zur  Kenntnis  genommen 
haben.  Erst  dann  werden  wir  imstande  sein,  die  Stellung  der 
Frauen  im  Erwerbleben  sicher  zu  beurteilen.  Hier  will  ich  nur  in 
formaler  Hinsicht  davor  warnen,  diesem  Urteil  —  wie  es  so  häufig 
beliebt  wird —  Zuwachsprozente  zugrund  zu  legen,  gegen  deren 
Berechnungsweise  schwere  Bedenken  obwalten.  Man  pflegt  die  Zu- 
nahme der  Frauenarbeit  häufig  durch  das  IVozentverhältnis  der 
Frauen,  die  1882  bis  1895  in  die  Erwerbthätigkeit  eingetreten  sind» 
zu  jenen  anderen  Frauen  auszudrücken,  die  schon  1882  erwerbend 
waren.   Dabei  darf  aber  nicht  übersehen  werden,  dafs  diese  Prozent» 


*)  So  s.  B.  bei  jR.  Wuttke,  Die  erwerbthätigen  Frauen  im  Deutschen  Reich. 
Dresden  1897.  Rtchtige  Auffassung  in  dem  Report  by  Miss  CoUet  on  the  Statistics 
of  F.mployment  of  women  and  girls.  Board  of  Trade,  Labonr  Department,  London 
1S95  S.  3. 


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Die  Beruf»-  und  Gewerbexiblmg  im  DeuUchen  Kctcb  vom  14.  Juni  1S95. 


ProzcDtverbältnis  di^sos  Zawachs<*s 
£U  den 


sätze  ehcnsoselir  von  der  Zalil  der  Icl/.tcrcn  wie  (Jcr  ersteren  ab- 
hän^^eii.  Da  die  Vcrglcichsbasis,  die  Zahl  der  Erwcrbthätigcii  von 
18S3,  oft  sehr  schmal  ist,  so  wird  mitunter  eine  absolut  ganz  ge- 
ringtuL;i<^e  Vermehrung  durch  überraschend  hohe  Frozentzifiern  aus- 
gedrückt, die  verwirrend  wirken.  Es  müssen  also  immer  die  abso* 
luten  Ziifem  mit  berücksichtigt  werden.  Will  man  aber  die  Fort- 
schritte  der  Frauenarbeit  an  methodologisch  richtig  berechneten 
Verhältniszahlen  messen,  so  ist  —  von  dem  Verhältnis  zur  Männer- 
arbeit  vorläufig  abgesehen  —  der  Berechnung  nicht  die  Zahl  der 
Erwerbthätigen,  sondern  der  Familienangehörigen  von  1882  zugnind 
zu  legen.  Denn  diese  bilden  die  Gesamtheit,  aus  welcher  die  Er- 
werbthätigen  hervorgehen.  Dann  gelangen  wir  zu  folgender  Auf- 
stellung: 

manulicb  weiblich 

FMmll«n«geh6ri«e  im  J«h«  1882  (   16827722 

l  rro/.ciit  der  H.  v.  »Ikcrung      3<>r49  72i94 

Zuwachs  an  Enrerbtbäligcn  und  Dienenden  wäiirend  der 

Periode  i88s— 1895  .   .  3116436  1036833 

Erwerbthidgen  von  188a  15,78  18,7t 

Familien- 
angehörigen   „   1883  26,18  6,16 

FamilieoMigdiörige  im  Jdire  1895  (   ^^5oo6.  .8667224 

l  Pro/.ent  der  Bevölkerung       34.83  70,81 

E.s  ist  allerdings  richtig :  im  V^ergleich  zu  den  Erwcrbthnti«^cn  und 
Dienenden  von  1882  sind  in  den  13  Jahren  1882 — 1895  die  Frauen 
rascher  in  den  Erwerb  eingetreten  als  die  Männer.  Aber  schon  den  ab- 
soluten Zahlen  nach  sind  mehr  als  doppelt  so  viel  Männer  neu  eingestellt 
worden  wie  hVaucii.  Und  wenn  wir  vollends,  was  das  allein  Richtige 
ist,  den  Zuwachs  in  Beziehung  setzen  zu  der  Gesamtheit,  aus  welcher 
er  hervorgeht,  also  zu  den  Familienangehörigen  von  1S82,  welche 
für  die  Berufsarbeit  verfügbar  waren  oder  doch  demnächst  in  das 
erwerbfähige  Alter  einrücken  werden,  so  sehen  wir  zunächst,  dafs 
diese  Reserxearmce  mehr  als  zweimal  so  viel  Frauen  wie  Männer 
enthält.  Es  wurden  ihr  aber  doppelt  so  viel  Männer  wie  Frauen 
entnommen.  In  Wirklichkeit  sind  also  verhältnismälsig  viermal  so 
viel  Männer  als  l-Vaiu  n  aus  dem  Reservoir  der  hamilienangehörigen 
auf  das  l  eid  der  Beruisarheii  übergetreten,  nämlich  26,18  I'rozent 
der  männlichen,  aber  nur  6,16  Prozent  der  weiblichen  l  amilien- 
angehorigen.  Dieser  Abgang  erscheint  durch  den  Geburtenübcrschufs 
und  den  Nachwuchs  reichlich  wett  gemacht,  sodafs  die  Kategorie 
der  Familienangehörigen  bei  beiden  Geschlechtem  1895  absolut  cr- 


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336 


H-  Kducliberg, 
I 


hebltch  stärker  besetzt  ist  wie  1882.  Relativ  aber  hat  sie,  wie 
schon  im  II.  Abschnitt  geze^  wurde  infolge  der  rascheren  Ver« 
mehrung  der  Erwerbthätigen  und  beruilosen  Selbständigen  bei 
beiden  Geschlechtern  abgenommen.  In  den  Altersstufen  der  Er* 
werbfahigkeit  ist  bereits  so  ziemlich  der  ganze  Vorrat  an  männ- 
lichen Familienangehörigen  aufgebraucht  und  in  die  Erwerbthatig* 
keit  bzw.  in  die  Stellung  berufsloser  Selbständiger  übergeführt 
worden.  Wie  im  nächsten  Abschnitte  noch  ausfuhrlicher  erörtert 
werden  soll,  verblieben  nämlich  in  der  Stellung  von  Familien- 
angehörigen ohne  eigenen  Hauptberuf 


von  je  100  Personen 

mSanlich 

.weiblicfa 

hl  der  Altersklasse 

1895 

1882 

«895 

1882 

unter  20  Jahr   .   .  . 

77.19 

8l»l9 

83.16 

von  20   30  Jahr  .  , 

3,37 

53.10 

o,«5 

0,62 

74.34 

76,82 

„    40—50    „       .  . 

0,68 

Oi55 

70.95 

72.85 

.,     50—60    „       .  . 

0,08 

«.4« 

63- »4 

65.28 

„  60 — 70    „      .  . 

6.83 

55.34 

60,22 

„    70  Jabr  V.  darüber 

10,58 

23^2 

46.94 

55.62 

Wir  seilen  olsn,  rlals  in  den  entscheideiuleii  Alterslvlasseii  auch 
niclil  mehr  I  Prozent  der  Miinner,  wohl  aber  bei  weitem  die 
grühere  Hälfte  der  1  r  iueii  zum  Eintritt  in  den  Erwerb  vt-rfÜL^bar 
bleibt.  Die<;es  eine  rro/erit  der  Männer  besteht  wohl  haupt^arlilich 
aus  solchen,  die  durch  j»hy>ische,  [^eistij^'e  otler  moralische  '  ie- 
brechen  von  der  Bei  utsarbeit  ausj^eschlossen  sind.  Alle  Männer, 
die  n)an  üljerhauj'i  brauchen  kann,  halben  einen  Beruf.  Die  Ar- 
beitsnachfra^c  hat  das  Anj^ebot  an  männlichen  Arbeitskräften  fast 
«rän/h'  Ii  erschöplt.  Sie  hat  ferner  die  ju^^cndliciien  Altersklassen 
stärker  heran^e/o^an :  der  Prozentsatz  der  Pamilienangehörigen  unter 
20  Jahr  ist  erheblich  zurückgegangen.  Aber  auch  das  reicht  nicht 
aus  zur  Deckung  des  vollen  Arbeitsbedarfes:  es  mulste  auf  das 
weibliche  Geschlecht  gegriffen  werden,  welches  noch  die  gr5(stea 
Reserven  an  arbeitsfähigen  und  bislang  erwerblosen  Familien- 
angehörigen enthält  Wenn  also  die  weiblichen  Erwerbthätigen 
seit  1882  um  1036833  zugenommen  haben,  so  ist  dadurch  keines- 
wegs das  männliche  Arbeitsgebiet  eingeschränkt  worden.  Nachdem 
das  gesamte  männliche  Arbeitsangebot  thatsachiich  erschöpft  war» 
ist  diese  Million  Frauen  vielmehr  notwendig  gewesen,  um  den  dem 

>)  Vgl.  den  XIV.  Bd.  dieses  Arcbivs  S.  269  f. 


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Die  Berufs«  und  Gewerbetihlang  im  Oeutscben  Reich  vom  14.  Juni  1895. 

Ljegcnwärtif^cn  Staiule  der  Terhnilc  und  Arbeitsor<:janisation  ent- 
sprechenden Arbeitsbedart  der  dcuiachen  Volkswirtschaft  zu  decken.*) 


')  Ich  nclime  also  an.  i]:ifs  der  Arbeitsbedarf  der  aufblühenden  deutsche  n 
Volkswirtsrhatt  sich  rascher  entwickelt  habe  als  der  Narhwurh«;,  und  dafs  dadurch 
die  Frauen  in  beschleunigtem  Tempo  der  F,rwcrl)thäti^k«  it  zugeliihrt  wurden.  Gegen 
diese  Auffaitsuug  kunnte  die  Thatsache  der  Arbeib>losigkeit  eingeweDdet  werden, 
deren  Umfiuig  dnrch  unsere  Erhebung  sowie  durch  die  Volksiählung  vom  a.  De« 
Mmbef  1895  fcftgestellt  worden  ist.  Ln  HinbUcke  auf  die  erschöpfende  Behandlung, 
welche  die  Arbeitaloaenfrage  in  dieser  Zeitschrift  bereits  durch  Prof.  Schanz  erfahren 
hat,  ist  es  nicht  meine  Absicht,  mich  aosführlicher  öber  die  eintchligigen  Z&hlnngs> 
eigebnissc  zu  verbreiten.  Ich  beschränke  micl)  daher  darauf  hervorzuheben,  dafs 
aus  dem  durch  diese  lu  iden  Erhebung  '»  festgestellten  Umfang  d«  r  Arbeitslosigkeit 
keineswegs  auf  eine  (Luit-rnde  Ueberfiilhiii^  riclT  auch  nur  auf  die  Siittinung  des  Ar- 
beitsmarkts geschlossen  werden  kann.  Aus  anderen  Ursachen  als  wegen  Krankheit 
waren  arbeit&loü  am  14.  Juni  1895  179004  und  am  2.  Dezember  1^95  553640  Ar^ 
bdtndimer.  Die  ersteren  machen  1,1t,  die  letzteren  3,43  Prozent  aller  Arbeitnehmer 
ans.  Zunächst  ist  zu  berOdcsichtigen,  dafs  sdion  die  absoluten  Zahlen  aus  den  im 
Zfthlnngswerke  angeflihrten  Gründen,  die  ich  fltr  vollkommen  zutreffend  halte;,  eher 
sn  hodi  als  zu  niedrig  ausgefallen  sind.  Dann  bringt  es  der  Umstand,  dafs  es  an  einer 
umlassenden  Organisation  des  Arbeitsmarktes  fehlt,  mit  sich,  dafs  immer  eine  gewisse 
Anzahl  von  Arbeitsuchenden  /.eitweilig  arb<  itslos  ist.  Mag  auch  im  grofsen  und  ganzen 
die  Nachfrage  noch  so  sehr  üV)er  das  An;;i  bMt  überwiegen,  es  giebt  (]o<  h  immer  rück- 
läufige Gegenden  und  Herufe,  in  weichen  das  Gegenteil  der  Fall  ist.  Die  Ab- 
gleicbung  durch  Wegzug  oder  durch  den  Uebergaug  zu  aufstrebenden  Berufen  kann, 
wenn  ftbcrhaopt,  dodi  nur  gana  aUmihlich  erfolgen.  Schon  deswegen  wird  immer 
ein  Teil  der  Arbdtndmcr  von  einer  Momentaufnahme  auf  der  Arbeitssuche  ent» 
dedtt  werden.  Dasu  kommt  noch  dn  Umstand,  der  bisher  noch  nicht  berflcksichtigt 
worden  ist,  dafs  n&mlich  manche,  die  sich  als  arbeitsfShig  bezeichnet  haben,  es 
sicherlich  nicht  sind.  Sie  halten  sich  zwar  dafür,  vermögen  aber  den  Anforderungen, 
nicht  7u  entsprechen,  die  an  einen  Vollarbeiter  gestellt  wenlen.  Die  .Arbeitslose» 
sind  eben  in  gewi>^eni  Sinuc  die  .\usle-,c  der  Untauglichen.  Wird  das  Alles  berück- 
sichtigt, so  wird  man  I  Prozent  Arbeitslose  »elbsi  zur  Sommerszeil  eher  als  ein  An- 
zeichen starker  denn  schwacher  Arbeitsnacbfrage  anselien.  Aber  die  Winterzäblung 
lut  3,43  Procent  Arbeitslose  e^ebenl  Und  sie  hat  die  Arbeitslosigkeit  nicht  an 
ihrem  Höhepunkt  erfafst,  der  wahrscheinlidi  in  den  Febraar  fiQUI  Dennoch  kann 
idi  darin  keinen  entscheidenden  Einwand  gegen  meine  AuHfossung  erblidcen.  Dens  ' 
Arbcitslcsigkeit  zur  toten  Zeit  ist  eben  ein  wesentliches  Merkmal  aller  Saisongewerbe. 
347  5' 7  "^OD  den  am  2.  Dezember  1895  ermittelten  5 53 640  Arbeitslosen  gehören  den 
5  Bcrufsgnjppen :  Landwirtschaft  und  Gärtnerei,  Industrie  der  Steine  und  Erden, 
Baugewerbe,  \'crkehrsgewerbe,  Beherbergung  und  L n iviirkung  an,  welche  ausge- 
sprochene Saisongewerbe  sind  und  im  Winter  ihre  n  t  Zeit  haben.  Ueber  drei 
Viertel  der  Differenz  gegenttber  der  Sommcrzäblung  cut  fallen  auf  diese  5  Berufs« 


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338 


II.  Kauchbcrg, 


Die  Erweiterung  der  Frauenarbeit  war  —  Technilc  und  Arbeüs- 
oi^ntsation  als  ^'c^cben  vorausgesetzt  —  eine  volkswirtschaftliche 
Notwendigkeit  Wie  sie  sich  im  Einzelnen  durchgesetzt  hat  und 
zu  beurteilen  ist,  soll  späterhin  auf  Grund  des  vollen  Ziffern* 
materials  dargethan  werden.  Aber  es  schien  mir  zweckmaTsig  einer 
naheliegenden  falschen  Auffassung  von  vornherein  vorzubeugen« 
Darum  habe  ich  den  methodolc^isch  allein  richtigen  (Gesichtspunkt 
für  die  Verwertung  der  Zahlungsergebnisse  schon  jetzt  aufgestellt 
Nunmehr  können  wir  in  der  Vorführung  der  Thatsachen  fortfahren. 

Berücksichtigen  wir  dabei  zunächst  nur  den  Hauptberuf,  so 
werden  Umfang  und  Zunahme  der  Frauenarbeit  sowie  ihr  Verhältnis 
zur  Männerarbeit  nach  den  grofsen  Benifsabteilungen  in  der  nach- 
stehenden Uebersicht  veranschaulicht: 


gruppen.  Dafs  die  tote  Zeit  soviele  Hinde  feiern  madit,  iit  cvdfelsohiie  da  be> 
klacenswerter  Mifsstand,  der  möglidist  sa  beheben  and  in  lindeni  ist  Aber  «nf 
eine  danernde  UeberfltUmg  des  Arbeitsnwrktcs  kum  d«mns  keineswegs  snrOdige- 

scblosscn  werden.  Vom  Standpunkte  der  Berufsstatistik  .lus  stellt  sich  die  Sadie 
vielmehr  folgfndcriii.ifsen  dar:  Jeder  Heruf  bestimmt  die  Z;ild  seiner  Angehörigen 
nach  <ieinem  H<irhstb<il:irt.  Fällt  die  Krhelumf;  in  die  tote  Zeit,  so  wird  sie  einen 
Teil  derjenigen,  <li>-  aiil^-T  Arl  eit  {^e-vtzt  wordt-n  sind,  bei  solchen  HeMriuiltigungen 
registrieren,  zu  welchen  sie  mittlerweile  übergegangen  sind,  einen  anderen  Teil  al>er, 
dem  das  nicht  geglückt,  bei  dem  betrefTenden  Saisongewerbe  als  arbeitslos.  Aber  es 
darf  dann  nicbt  ohne  weiteres  angenommen  werden,  dafs  diese  Personen  absolnt  ftbei^ 
sShIig  sind.  Sie  sind  es  eben  nnr  zur  Zeit  der  Anfnahme  gewesen,  nicht  sn  jener 
Zeit,  in  welcher  die  Arbeitsnachfrsge  entscheidend  ist  fibr  die  Bemfswahl  und  Bc- 
rufszQgehörigkeit  Wenn  in  dieser  kritischen  Zeit  das  männliche  Arbeitsangebot 
nicht  ausreicht  und  Frauenarbeit  tecliniscli  zulässig  und  verfügbar  ist,  so  werden 
eben  Frauen  eingestellt,  W(nnt,dt  irh  die  Reduktion  während  der  toten  Zeit  auch  dir 
Männer  betrifft.  Da  nun  ilii-  Zahl  der  Berufszugehörigen  von  dem  normalen  Arbeils- 
bcdarf  zur  Zeit  der  Saison  abhängt,  und  jede  Zählung,  insbesondere  aber  eine 
\Vinterzäblung,  eine  Zahl  von  Gewerben  in  ihrer  toten  Zeit  oder  doch  bei  flauem 
Geschiftsgang  antrifft,  so  dttrfen  ihre  Arbeitslosen  keineswegs  anch  ak  absolnt  über- 
sählig  angesehen  werden.  Vielleicht  sind  sie  es,  vielleicht  reichen  sie  nicht  einmal 
zur  Deckung  des  normalen  Arbeitsbedarfs  bei  vollem  Betrieb  voS.  SSeitwdlige  Ar> 
beilslosigkeit  ist  also  gans  WOhl  vereinbar  mit  einem  solchen  durchschnittlichen 
Uebergewicht  der  Arbeitsnach frage  über  das  Angebot,  dafs  zur  Deckung  des  vollen 
Bedarfs  Fr.iu<  n  in  erhöhtem  Miifse  herangezogen  werden  \'n<\  da«  i;-t  thaf^Hchlich 
der  Fall  ^'cwc-cn.  l'eber  eine  Million  neuer  Arbeitsplätze  sind  wäiirend  des  Zeit- 
raumes zwischen  beiden  Berutszählungen  von  1882  und  1895  neu  geschaffen  worden, 
fttr  welche  der  männliche  Nachwuchs  nicht  mdir  auslangte.  Diese  Plätie  sind  es, 
die  von  einer  Million  Frauen  besetst  wurden. 


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Die  Berufs-  und  Gewerbezählung  im  Deut:>cben  Reich  vom  14.  Juni  i!^5. 


Weibliche 

Zmuhme 

VonieoEnrerb> 

ErwerbthSttee 

seit  i88a 

thättgen  sind 

wcihlicli 

absolut  Prozent 

absolut 

Prozent 

1S93 

1882 

A  I  .aiul\virt>chaft    .    .  . 

2753154  41,85 

218  245 

8,61 

33.20 

30,78 

I  521  1 1  8  23,12 

394  142 

34.97 

•8.37 

17.62 

C  HflMfel  nd  Verkehr  . 

57960S  8,Sl 

381498 

94.43 

24.79 

1S.98 

D  Hinslicbe  Dienste  etc. 

»33  Ws  3,56 

50029 

i7,ai 

54.07 

46.S4 

E  Oeflentlicher  Dienst  . 

176648  2,69 

61376 

53»a4 

»3,39 

>i,l8 

G  Dienstboten*)    .    .  . 

1313957  »9,Q7 

3«  543 

2,46 

98,11 

_96.78_ 

zusammen  .  . 

6578350  100 

1036833 

i8jt 

»9.75 

29,23 

Mehr  als  2  l-ünfld  der  \veil)lirhcn  Erwerbthiiti*;cn  widmen  sich 
also  der  Lanthvirt-^eliafl,  fast  ein  X'iertel  j^jehtirt  der  Industrie  an, 
ein  Fünftel  sind  Dienstboten.-)  Fassen  wir  das  X'erhältnis  zur 
Mannerarheit  ins  Auge,  so  besteht  das  häuslirhe  Dienst|)ei>onal  fast 
ausschliebilicli  aus  Frauen  und  auch  von  den  Dienenden  und 
sonstigen  Lohnarbeitern,  tiie  nicht  im  Haushalte  des  Dienstgebers 
leben,  ist  die  cfrnfsere  Hälfte  weiblich.  Weiblich  sind  ferner  ein 
Drittel  der  l^erufsthätigen  in  der  Fandwirtschaft,  ein  X'iertel  im 
Handel  und  X'erkehr,  nahe/.u  ein  I-ünftel  in  tler  Inclustrie  und  ein 
.Achtel  im  ötientlichen  Dienst  und  den  freien  iierufen.  In  .sämt- 
lichen Herufsabteilungen  haben  die  erwerbthätigen  hiauen  raM.her 
zugenommen  als  die  Männer  j  am  raschesten  im  Handel  und  Verkehr, 
woselbst  »e  nunmehr  fest  doppelt  so  stark  auftreten  wie  1882. 
Aber  auch  im  öffentlichen  Dienst  und  freien  Beruf  betragt  ihre  Zu- 
nahme mehr  als  die  Hälfte,  in  der  Industrie  mehr  als  ein  Drittel 
des  Standes  von  1882.  In  der  Landwirtschaft  %  sowie  bei  den 
häuslichen  Dienstboten')  ist  der  Rückgan«^  an  männlichen  Ail>eits- 
kräften  au%ewogen  worden  durch  die  Einstellung  von  weiblichen. 
Demzufolge  ist  in  sämtlichen  Beru&abteilungen  der  Antheil  der 
Frauen  den  Männern  gegenüber  gesti^en.  Am  stärksten  tritt  die 
Verschiebung  in  der  Abteilung  D  häusliche  Dienste  etc.  zu  Tage; 
hier  wird  sie  jedoch  zum  Teil  durch  formale  Momente  bedingt,  in- 
dem  die  genauere  Berufsbestimmung  bei  der  Aufnahme  von  1895 
insbesondere  die  Gruppe  der  männlichen  Lohnarbeiter  gelichtet  hat. 

'1  In  (Irr  Hau>h:iUinif^  d<  s  Dienstgebers  lebend. 

^1  ücber  die  entsprechende  Gliederung  der  Gesamtbevolkerung  vgl.  den  Xl\'.  Hd. 
S.  275. 

^)  Vgl.  ebendaselbst  .S.  276. 

^)  VgL  oben  S.  134  dieses  Bandes. 


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340 


H.  Kauchberg, 


Auliserdem  ist  das  Prozentverhältnis  auffällig  zu  gunsten  des  weib* 
liehen  Geschlechts  verschoben  worden  im  Handel  und  Verkehr  so- 
wie in  der  Landwirtschaft  VerhältnismäTsig  geringfügig  ist  der 
Fortschritt  der  Frauenarbeit  gegenüber  der  Männerarbeit  in  der  In- 
dustrie, obwohl  hier  die  Frauen  um  mehr  als  ein  Drittel  des 
Standes  von  1882  zugenommen  haben.  Allein  die  männlichen  Bc- 
rufsthätigen  haben  sich  hier  fast  im  gleichen  Tempo  vermehrt,  so 
dafs '  das  Prozentverhaltnis  der  beiden  Geschlechter  nur  unwesent- 
lieh  verändert  erscheint. 

Bevor  wir  den  Anteil  der  werkthätigen  Frauen  an  den  einzelnen 
Berufi^ruppen  und  -Arten  untersuchen,  will  ich  auf  die  bedeutenden 
Unterschiede  in  ihrer  sozialen  Stell un*^'  den  Männern  gegenüber 
hinweisen.  Srhon  die  Berechnungen  auf  S.  612  des  XI\'.  Bandes 
haben  darauf  hingedeutet   Wir  fanden,  unter  je  100  berufthätigen 

Münnern  Frauen 

Selbständige  3I|34  23^2 

Angestellte  4,14  0^81 

Arbeiter  64,52  77,17 

Die  unteren  sozialen  Schichten  überwiegen  demnach  bei  den 
erwcrhlhäligen  PVauen  noch  mehr  wie  bei  den  Männern,  und  ihre 
relative  Verstärkung  den  oberen  gegenüber  Hat  seit  1882  hier  noch 
rascliere  Fortschritte  gemacht  Frauenarbeit  hat  äbcrwi^end  prole- 
tarischen Charakter. 

Die  Anal)^  der  Daten  über  die  Arbeiterinnen  läist  diesen 
Charakter  noch  deutlicher  zu  Tag  treten.  Es  wurden  nämlich  er- 
mittelt 

weibliche  ErwerbthStise    Zwatimt  seit  l88a 


absolut 

Prosent 

absolnt 

Prozent 

117«44S 

9a3«4 

8.55 

54042 

0,82 

39830 

123,20 

häusliche  1  )icii5tl>oten  .... 

1313957 

10,97 

3>543 

»,46 

iiiittlKitijic  Kaniilii  naiigchörige  . 
sonstige  Arbeiterinne»  .... 

1  158944 

2  87c)  Qb2 

17.62  \ 
43.7S  ' 

883146 

«7,99 

zuä^iiQ Ilten  . 

0575350 

100 

1  036833 

lS,7l 

Diese  Ziffern  legen  es  uns  nahe  zu  versuchen,  ob  sich  nicht 
der  Umfang  der  proletarischen  Frauenarbeit  der  büi^rlichen  gegen* 
über  exakt  al^enzen  lafst.  Rechnet  man  zu  dieser  die  Frauen,  die 
als  Selbständige  oder  Angestellte  thätig  sind,  zu  jener  der  Arbeite- 
rinnen und  häuslichen  Dienstboten,  so  gehören  1,7  Millionen  Frauen 


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Die  Berufs*  und  Gewerbezihlang  im  Deatuchen  Reich  vom  14.  Juni  189$*  341 

oder  18,0  Prozent  den  bür«j;crlichen,  4,0  Millionen  oder  8i,i  Prozent 
den  proletarischen  Kreisen  an.  Allein  eine  derartii^e  Sciieidun^  wäre 
voreilig.  Ich  habe  schon  im  \'.  Abschnitte  dar^ethan,  dafs  man  die 
statistischen  l  iUi  r>rheidiin^en  dc^  Arbritsratv^'cs  nicht  schlechthin 
den  sozialen  KatcL^oricn  «^gleichstellen  darf.  Das  ^^Wi  <^anz  insbe- 
sondere von  der  Frauenarbeit.  Unter  den  Selbständigen  befinden 
sich  hier  zahlreiche  I-Vauen  von  ausgesprochen  i>roletarischcr  Lebens- 
führung —  man  denke  nur  an  die  Lage  der  Näherinnen  — ,  und 
andcrtrscils  stehen  zahlreiche  Arbeiterinnen  aulserhalb  der  prole- 
tarischen Kreise  und  ihrer  sjtc/iti^chen  Interessenorganisation.  1,3  Mil- 
lionen häu^liche  Dienstboten  und  1,2  Millionen  mitthätiger  Familien- 
angehöriger, zusammen  2,5  Millionen  oder  37,6  Prozent  aller  crwerb- 
thätigen  Frauen  leben  und  arbeiten  im  Hause  und  im  FamUicnvcr- 
bände.  Allein  das  Haus  ist  den  Dienstboten  ein  fremdes  und  die 
Lage  der  gesamten  Familie  mag  häufig  eine  wenige  glänzende 
sein.')  So  stehen  sie  doch  wenigstens  mit  einem  Fufse  auf  prole* 
tarischem  Boden. 

Nach  Berufsabteilungen  ist  die  soziale  Stellung  der  Frauen  die 
folgende: 

Weibliche  Erwerbthitige  in 

A  Landwirt-  B  In-        C  Handel,  und     E  Ocffentl. 

Wirtschaft  dusthe  Verkehr       Dienst  u.  freier 

Beruf 

absolut    I'ro/,.*!    absolut   Proz.-)   absolut   Proz.*)  absolut  Proz.-; 
Selbstindige  .   .    34*^^99     3,27    519492    7,90   202616   3,08   102438  1,56 
Ai^iestellte    .    .      18 107     0,28       9334    0^14     Ii 987   0,18     14624  0,2a 

Mitthätige  Fsuni> 

lienangchörige  .  10J0443    15,51      43974    0,67     94527  1^44] 
Sonstige  Arbeit^.  595*6  0,91 

rinnen     .    .    .  1 367705    20.79    «»48  328   14,41    270478    4, 11  ) 

zusammen  .    .  2753154    41,85  1521  i  18   23,12    579608    8,Si     176648  2.69 

Das  Hauptgcbiet  der  weiblichen  Fainilicnarbcit  ist  die  Land- 
wirtschaft; sie  umfafst  über  eine  Million  niitthäti<,'c  weibliche  Fa* 
milienangcliörif^e.  Das  ei-^'cntliche  Objekt  der  ])rnl  et  arischen  Frauen- 
frage bilden  die  2879962  iamilienfremden  Arbeiterinnen,  von 
welchen  die  gröfsere  liiUfte  hinwiederum  als  ungelernt  gelten 
muls.    1367705  sind  landwirtschaftliche,  948328  sind  industrielle 


'j        den  LVberblick  über  die  soziale  Schichtung  der  gesamten  Bcvölkenxng 

im  XI.  Ab^^hnitt  S.  140  (T. 

^)  Frozentanteil  an  der  Summe  sämtlicher  weiblicher  Erwerbthätiger. 


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342 


U.  Rauchberg, 


Arbeiterinnen.  Mit  «Icn  mitihciiii^^^cn  I'aiiülii'nanL^chöri^'eii  erreicht 
die  Zahl  der  Arhi  itrnuiu  n  in  lU-r  Imiustrii-  iialu  /u  eine  Million; 
sie  bcträ^^t  9i")2,3oJ  und  hat  seit  1882  um  447  073  oder  82  Pro- 
zent, also  aulscrordentlich  rasch  zugenommen.  Ist  es  auch  unmög- 
lich, auf  Grund  der  vorliegenden  Materialien,  selbst  wenn  man  auf 
das  Detail  der  einzelnen  Benifsarten  ein^in^e,  die  genaue  Grenze 
zwischen  der  bürgerlichen  und  der  proletarischen  Frauenarbeit  ab* 
zustecken,  so  kann  doch  kein  Zweifel  darüber  bestehen,  da(s  das 
Gebiet  dieser  letzteren  das  ganz  unvergleichlich  grofsere  ist. 

Schon  bei  der  Analyse  der  einzelnen  sozialen  Klassen  im  VI.  Ab- 
schnitte dieser  Untersuchungen  habe  ich  darauf  aufmerksam  gemacht, 
dafs  sich  die  soziale  Stellung  der  selbständig  berufsthätigen  Frauen, 
nach  dem  Betriebsumfang  beurteilt,  wesentlich  anders  darstellt  wie 
jene  der  Männer.  Halten  wir  an  den  dort  gemachten  Unter« 
Scheidungen  der  sozialen  Klassen  der  Selbständigen  fest'),  so  and 
weiblich  von  je  100  Selbständigen 

Soziale  Klassen  nach    der  Land»      der  Industrie      der  Haus>    des  Handels  and 


dcnGröfsenkatcgorien  Wirtschaft  für  eigene  Industrie  Verkehrs 

der  Betriebe '}  An  Rechnung 

I  .^3-71  31.74  5  ».73  32.88 

n  lo.us  7,Sfs  13,73  13.7« 

ni  7,40  7,5-  if^os  7.06 

IV  6,08  5,06  12,08  5,48 

V  6,23  3,08  —  4.29 

VI  6,11  _  1,61  -  — 
zusaromen  13,44  21,70  44,58  33,81 


\'on  (.Uli  Inhabern   tlcr  Bttrichc   klciiisier  Katct^oric  ist  also 

rund  ein  Drittel,   in  der  Hau>inilu>ti ic  so^^ar  tlie  j^röfscre  Hälfte 

weiblich.  IIinjj;c<;cn   nimmt   (lic   Bctcilii^inii^  des   wcibliclien  (tc- 

schicciil.s  mit  aufsteigendem   Betriebsumfang   ab.  L'nbedeuiciide 


1)  VgL  den  XIV.  Bd.  dieses  Archivs  S.  6ao,  625  und  628. 
*)  Die  Abstafnngen  der  Gröfsenkategorien  sind  die  folgenden: 


Landwirt- 

-Iii-'  für 

Haus« 

Handel  und 

scliaft 

eigene  Ki-v  hnunj^ 

induslrir 

Verkehr 

ba 

Betriebe 

mit  I'ersoncn 

I 

unter  2 

1 

1 

t 

II 

2—  5 

a-  5 

2—  5 

2—  5 

ni 

S-  10 

6 —  10 

6—10 

6—10 

IV 

10—  50 

io—  20 

üb.T  10  . 

1 1 — 20 

V 

50 — 100 

21  —100 

über  20 

VI 

100  u.  mehr 

über  100 

uiyiiizeo  Dy  GoOg  ! 


Die  Berufs-  und  Gcwerbcülilung  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  1895.  343 


Ausnahmen  bestehen  nur  in  der  Hausindustrie  und  in  den  beiden 
obersten  Gröfsenkat^^orien  der  landwirtschaftlichen  Betriebe,  hier 
wegen  des  Einflusses  ererbten  Besitzes.  Jedenfalls  ist  das  Schwer- 
gewicht selbständiger  weiblicher  Erwerbthätigkeit  durchaus  in  den 
Betrieben  kleinsten  Um&ngs  gelegen.  Sie  umfassen  in  der  Land- 
wirtschaft 52,24,  in  der  Industrie  für  eigene  Rechnung  85,91,  in  der 
Hausindustrie  94,15  und  im  Handel  und  Verkehr  76,21  Prozent  der 
selbständig  erwerbenden  Frauen  jener  Berufe. 

Die  Ergebnisse  der  Beru£szählung  über  die  Frauenarbeit  werden 
ergänzt  durch  zwei  weitere  Quellen:  durch  die  Angaben  der  ge« 
werblichen  Betriebsaufnahme  über  die  Verwendung  von 
Frauen  und  durch  die  Mitteilungen  der  Gewerbeaufsichts- 
beamten über  die  Fabrikarbeiterinnen.  Genauer  als  die  Berufs* 
Statistik  für  sich  allein  es  vermöchte,  unterrichten  sie  uns  über  die 
Arbeitsstellung  der  Frauen. 

Von  den  einschlägigen  Ergebnissen  der  Gewerbezählung 
werden  die  wichtigsten  in  der  nachfolgenden  Uebersicht  *)  zusammen- 
gestellt. 

Von  jr    Auf  die  ncbcn- 
Stellung  Ucwerbthätigc         loo  Ge-  bezeichneten 

des  Personen  werbthK*  Stellangen cnt- 

Gewerbepersonals  tigensind  IsUenvon je  100 


mSnnlich 

weiblich 

weiUidi  Uännern 

Frauen 

Inhaber  Wn  Alleinhetrifbrn 

1  US  US 

589226 

34.4 

50.0 

84,4 

„        „    Gfhilfcnbctrifbcn  . 

I  125  528 

108942 

S.S 

50,0 

15.6 

mit  bis  zu  5  I'ersonea  . 

910  850 

96817 

9.«> 

40,5 

I3'9 

-io  „ 

156  729 

10742 

Ö.4 

6,9 

j  I  u.  niphr  „ 

57049 

'383 

2,3 

2,6 

0,2 

rntcrnrhiiit  r  üln  rhaupl  . 

2250653 

698  168 

237 

100 

100 

Vorwaltunfjsptrsonal    .    .    ,  . 

14S16 

72.9 

84,4 

Tei  I1111-.V  ii<  s  Aufsichtsprrsoiial  . 

1  I  7  Oh_^ 

2734 

2.;> 

-7,' 

15.6 

Angestellte  überhaupt  .... 

431 394 

'7550 

3.9 

IOC 

100 

Gc-hilfcn  und  Arlx  iti-r     .    .  . 

3  205  700 

I  208  967 

19,6 

99,2 

78,2 

127  798 

21,8 

8.7 

7.9 

erwaclisene  .... 

4  74(>757 

1 141  169 

»9,4 

90,5 

70.3 

Mithelfende  Familienaogehörige 

42137 

354640 

89.4 

0,8 

213 

jugendliche  .... 

S43I 

10938 

66.S 

0,1 

«»7 

erwachsene  .... 

3671«  

3437^« 

_90,3 

_    0,7  _ 

ai,i 

"5*47897 

1 623607 

«3.6 

100 

100 

.Smnne  d.  gcverbthitigen  Pen. 

7929944 

»3393*5 

23,8 

')  Vgl.  Statistik  des  Deutschen  Reichs.   Nene  Folge,  Bd.  tt9  S.  80. 


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344 


H.  Kauchberg, 


In  den  Betrieben,  auf  welche  die  Gewerbezahlung  sich  er- 
streckte waren  demnach  2339325  Frauen  gewerbthättg ;  sie 
machen  23,8  Prozent  des  gesamten  gewerblichen  Betriebspeisonals 
aus.  1882  waren  davon  nur  erst  I  509 167  oder  20,6  Prozent  weib- 
lich; die  Zunahme  beträgt  daher  830158  oder  55,0  Prozent  Sie  ist 
relativ  rascher  erfolgt  als  jene  der  Männer,  bleibt  aber,  absolut  ge> 
nonimen,  erheblich  dagegen  zurück,  indem  das  männliche  Betriebs- 
personal um  2098322  oder  36,0  Prozent  sich  vermehrt  hat.  Die 
Arbeitsstellung  des  weiblichen  Betriebspersonals  war  die  folgende: 

gewerbtUU^t«  Fmnen  in  Prawntco 


1895 

188a 

t89S 

1883 

Unteinehmeiiiuien 

698x6s 

71 1856 

29,8 

47.2 

Angestellte     .    ,  . 

17550 

4948 

0,8 

ArbeUerianen  .   .  . 

.    1 623  607 

792363 

69,4 

5a,5 

Es  haben  demnach  die  Unternehmerinnen  um  13688  oder 
1,9  Prozent  abgenommen,  hingegen  die  Angestellten  um  12602 
oder  254,7  Prozent  und  die  Arbeiterinnen  um  831 244  oder  104,9 
Prozent  zugenommen.  Die  Verschlechterung  in  der  Arbeitsstellung 
der  weiblichen  Gewerbthätigen  ist  in  Wirklichkeit  nicht  so  arg,  als 
nach  diesen  Zahlen  angenommen  werden  müGste,  indem  nur  die 
Inhaberinnen  von  —  überwiegend  proletarischen  —  Alleinbetrieben 
al^enommen,  die  Inhaberinnen  von  Gehilfenbetrieben  aber  zuge- 
nommen haben;  relativ  sogar  sehr  erheblich.  Es  wurden  nämlidi 
gezählt 

Inhaberinnen  1895  1882    Zo-  bzw.  Abnahme 

von  AlU-inbetrii  bon .    ,    ,    589226  634 194  —    7,1  Prosent 

von  Gebilfenbctrieben  .   .    108942  77662         -\-  40,3  „ 

Trotzde.m  steht,  wie  die  Tabelle  auf  S.  343  erkennen  läfst, 
kaum  ein  Sechstel  aller  weiblichen  Unternehmer  Gehilfenbetrieben 
vor;  844  Prozent  derseben  sind  Inhaberinnen  von  Alleinbetrieben, 
und  ihnen  gehört  mehr  als  der  dritte  Teil  aller  Alleinbetriebe, 
21 223,  mehr  als  ein  Fünftel  aller  Inhaberinnen  von  Alleinbetrieben, 
gehören  übrigens  der  Hausindustrie  an.  Mit  wachsendem  Betriebs* 
um&nge  nimmt  sodann  der  Anteil  der  Frauen  an  der  Unternehmer- 
Stellung  rasch  ab. 

Bevor  ich  die  Gliederung  des  weiblichen  Hilispersonals  be- 

*)  Vgl.  hinsichtlich  der  Art  imd  Weise  der  Erhebung  den  erütcu  Hauptteil 
dieser  UntersnchoDgen  im  XIV.  Bande  des  Archivs  für  sociale  Gesetzgebung  und 
Statistik  S.  250  ir.,  hinsicbtlich  der  materiellen  Ei^ebnisse  aber  den  vierten  Hanptteil. 


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Die  Berufs-  und  Gcwerbc^ählung  im  DculMrJu-n  Reich  vom  14.  Juni  1895. 


Spreche,  sind  noch  die  absdiuten  Zahlen  Über  die  Besetzung  der 
einzelnen  Gewerbeabteilungen  mit  weiblichen  Grewerbthätigen  nach- 
zutragen. Es  wurden  deren  ermittelt 

in  den  Unter* 

Gewerbeabteiinngen  nehmerinnen 
A  Gärtnerei,  Tierzucht,  Fischerei    ...  1571 

B  Industrie  einschl.  Bergbau  u.  Baugewerbe  503875 
C  Handel  and  Verkehr  einachL  Gut*  und 

Schankwirt&cbaft   193723 


Ange* 
stellte 
18 
9  SM 


Arbeite- 
rinnen 

17117 
1044963 


8030 


561 528 


Während  die  Betriebsinhaberinnen  abgenommen  haben,  und  die 
Mitwirkung  der  Frauen  als  Angestellte  sich  noch  immer  in  sehr  engen 
Grenzen  hält,  sind  als  Arbeiterinnen  in  den  von  der  Gewerbe- 
zählung erfafsten  Betrieben  1623607  Frauen  —  23,6  Prozent  des 
gesamten  Arbeitspersonak  —  thätig.  Ihre  berufliche  Qualifikation 
weicht  von  jener  der  Arbeiter  insofern  ab,  als  die  mithelfenden 
Familienangehörigen  bei  den  Arbeitern  auch  nicht  I  Prozent,  bei 
den  Arbeiterinnen  aber  mehr  als  den  fünften  Teil  ausmachen. 
Immerhin  ist  aber  auch  von  dem  berufemälsig  ausgebildeten  Ar» 
beitspersonal  nahezu  ein  Fünftel  weiblichen  Geschlechts. 

Für  den  Anteil  der  Frauen  an  dem  Arbeitspeisonal  ist  auch 
die  Grofee  der  Betriebe  von  Belang.  Es  sind  nämlich  weiblichen 
Geschlechts 


• 

in  Betrieben  mit 

in  Jen 

bis  5 

6—20 

über  20 

Gewerbeabteiiungen 

P  e  r  s  11  II  n 

von  je 

100  bcrut.-.niaisigen  Arbeitern 

14*3 

25,6 

29.9 

«,9 

19.9 

C  Handel  und  Verkelir .   .  . 

44,0 

34/> 

no,» 

im  ganzen  .... 

18,9 

19,5 

ao,o 

von  je  100  mitarbeitenden  FamilienangebÖiij 

76,5 

85,6 

«5,7 

H  Industrie  

84,4 

77.9 

44,a 

C  Handel  und  Verkehr  .    .  . 

92,9 

85.0 

79,7 

im  ganzen  .... 

90,3 

82,0 

56,0 

In  der  Industrie  nimmt  bei  steigendem  Betriebsumfimge  der 
Prozentanteil  der  Frauen  an  dem  beruismäfsigen  Arbeitspersonal  zu, 
an  den  mitarbeitenden  Familienangehörigen  ab.  Im  Handel  und  Ver- 
kehr fallt  die  Quote  der  Frauen  durchaus  bei  steigendem  Betriebs* 
umfang.  Die  eigentliche  Stätte  der  weiblichen  Familienarbeit  ist 

ArcMv  für  sei.  GeMUcebunc  n.  Sutistik.  XV.  33 


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346 


H.  Rauchberi;, 


der  Kleiiihciricb,  wo^^cL^en  die  berufsmässigen  Arbeiterinnen  in  den 
industriellen  Groisbetrieben  relativ  am  stärksten  hervortreten.  Im 
ganzen  entfallen  von  den  beruDsmälsigen  Arbeiterinnen 

auf  Betriebe  absolut  auf  je  loo  Minaer 

mit  weniger  als  6  Personen  ....  306956  23,35 

„   6—21  „      ....  3S2588  20,41 

„    21  und  mehr        „      ....  729433  31|I7 

Die  grö(sere  Hälfte  der  berufsmafsigen  gewerblichen  Arbeite- 
rinnen steht  demnach  in  der  eigentlichen  Fabrikindustrie.  Nach 
den  Mitteilungen  der  Gewerbeaufsichtsbeamten  zählte 
man  1892  649668  Fabrikarbeiterinnen,  1895  aber  deren  739/55 
und  1897  bereits  822462.  Die  AiiL^aben  der  Gewerbezählung  und 
der  Gewcrl^eaufsichtsbeamtdn  über  den  Umfang  der  Frauenarbeit 
in  Fabriken  stimmen  im  grofsen  und  ganzen  überein.  Dn-  i-i  -ehr 
wertvoll;  wir  wissen  nunmehr,  dafs  wir  durch  die  jährhchen  Be- 
richte der  Gewerbeaufsichtsbeamten  wirklich  in  zutreftender  Weise 
unterrichtet  werden  über  die  Zahl  und  Zunahme  der  Fabrikarbeite- 
rinnen, über  ihre  Verbrcitunjf  nach  Gewerbegruppen  und  ihre 
Gliederunj^  in  Jugendliche  und  hrwachsene.  '  I 

Kehren  wir  nach  dieser  kleinen  Ahsrhwcifung  wieder  zur  He- 
ruf'-slatistik  zurück,  so  wird  ein  genauerer  Hinblick  in  die  l  a  werb- 
verhältnisse  der  l'r.iueri  tlureh  die  l  nler>uchung  nach  Berufsgru] ipeii 
und  Berufsarten  eröffnet.  Nach*Heruf>  g  r  u  |  >  ]  >  e  n  erteilt  zunächst  die 
folgende  rcher-icht  Auskunft  über  die  Gliederung  und  Bewegung 
der  Frauenarbeit : 

Siehe  die  LVbersicht  auf  S.  347, 
Sowohl  hinsichtlich  der  absnhiU'ii  Zahl  der  weiliHelien  Erwerb- 
thäti'jen  auch  hinsiclulicii  iiires  X'erhältnisscs  /vi  den  Männern 
ragen  am  meisten  herxor  die  Beruf>gruj)j)en :  Landwirtschaft,  Be- 
kleidung und  Reinigung,  Textilindustrie,  Handelsgewerbe,  Gast-  und 
Schankwirtschaft,  Nahrungs-  und  Genufsmittel.  Jede  dieser  Gruppen 
umfafst  mehr  als  lOOCXX)  Frauen  mit  ihrem  Hauptberuf.  Zusammen 
beschäftigen  sie  94,53  Prozent  aller  in  den  Beru&abteilungen  A — C 
hauptberuflich  erwerbthätigen  Frauen.  Im  Gast*  und  Schanl^ewerbe 
ist  die  gröisere  Hälfte  der  Erwerbthätigen  weiblichen  Geschlechts, 
nahezu  die  Hälfte  ist  es  in  der  Industrie  der  Nahrungs-  und  Genufs- 
mittel sowie  in  der  Textilindustrie,  in  der  Landwirtschaft  Jedoch  ein 

>l  Vl;1.  die  alljiihrlichen  Uebersichten  im  Statut.  Jahrbuch  fttr  das  Deutsch« 
Reich.    ZuleUt  ao.  Jahrg.  1899  ^-  4>« 


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Die  Berufs-  und  GewerbciShlung  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  1895.  y^j 


Zahl  der 

Za>, 

oder 

Von  je  100  Er- 

weiblichen 

Abnahme  ( — ) 

werbthStigcii 

Berufsgrnppen 

Erwerb» 

seh 

1882 

sind  weiblich 

thätigen 

absolut 

Prozent 

1895 

1882 

I.  Landwirt  vcliaft  ctc  

2  745  840 

214214 

8,46 

33.67 

31.18 

II.  Forstwirt siluilt  iincl  i'isdiorei  . 

7314 

403« 

'22. 78 

5.35 

2.S3 

III   tttTgbau  und  HuUcnwoscn  . 

15577 

710 

4,78 

2,74 

3.37 

39555 

18697 

89,64 

7,S9 

6,29 

V.  Metallverarbeitttiig    .  .  .  . 

36210 

1695a 

88,03 

4.«> 

3.64 

»«5>3 

739» 

3,35 

1,80 

VII.  Chemische  Industrie  .   .   .  . 

14731 

8313 

»«9,73 

«4,30 

11,14 

4388 

1691 

65,»! 

9,97 

8,41 

427961 

104  iSi 

32,18 

45,28 

38.05 

X.  Papierindustrie  

39  222 

1 3  2C.4 

50,75 

28,87 

28,65 

XI.  Lederindustrie  

10023 

3S22 

61,64 

4.80 

XII.  Hol/-  und  SchnitzstoH'e  .    .  . 

30346 

4  3<>7 

16,81 

4,09 

4,9s 

XIU.  Nabrungs-  and  Genufsmittd  . 

«40333 

74951 

114,64 

15,98 

9,86 

XIV.  Bekleidung  und  Reinigung 

136504 

23,68 

47,  la 

13873 

7618 

121,81 

1,03 

0^66 

XVI.  Polygraphische  Gewerbe    .  . 

14958 

8153 

119.78 

>a,54 

9,77 

XVn.  Künstlerische  Gewerbe  .    .  . 

1  9S2 

986 

99,00 

6,99 

4,»7 

XVni.  (Jcwerbl.  Pers.  ohne  nähere  Bes. 

'» 536 

"I3397 

—67,21 

21,82 

21.85 

XIX.  Hnndels<:«nverhe  

29')  S29 

1  2,\  !  t>S 

70.69 

24.  S8 

2o,S6 

XX.  \  ersirht  run;,'si^<  wrbc 

4S9 

61 1,25 

2,24 

0,69 

17700 

3591 

2,89 

3,24 

XXII.  Beherbergung  und  Erquickung 

261  450 

153250 

141. (.4 

53,07 

38.72 

zusammen 

4853880 

893885 

22.57 

25,f'7 

24,44 

Drittel.  Von  den  Bcrufr^i^ruppcn :  Gewerbe  ohne  nähere  Bezeich- 
nun'^^  Rerf^bau  und  I  lüttenwe.scn,  1  lolz-  und  Schnit/stofic  und  \'cr- 
kclirsL^cwerbe  abgesehen,  haben  die  Frauen  in  sämtliclien  Bcruf.<- 
^'riipjH'n  ra.scher  /.uj^enoiiinicn  als  die  Männer  und  erscheinen  daher 
nunmehr  mit  höheren  Prozentsätzen  \  errreten.  .\bsolut  abgenommen 
haben  sie  nur  in  der  ersterwähnten  (  iru|)pe,  wegen  der  genaueren 
Berut>anj^abe  bei  der  Zälilun»^  von  1895. 

l'ntersuchen  wir  die  Bethätit^ainfr  flcr  Frauen  nach  einzelnen 
Berufsarten,  so  ist  zunächst  die  Frage  zu  beantworten,  in  welchen 
Berufen  tlie  bVauen  hauptbächlich  beschäftigt  sind.  Sie  konzen- 
trieren sich  der  absoluten  Zahl  nach  auf  \  ei  hahiu.>inar>ig  wenige 
Berufe.  Unter  den  207  Berufsarten,  welche  die  Berufsstatistik  unter- 
scheidet, giebt  es  nur  32,  worin  mehr  als  10000  Frauen  ihren 
Haupterwerb  finden.  Diese  umfassen  zusammen  4956821  weibliche 
Erwerbthätige  oder  94,16  Prozent,  so  dafs  auf  die  übrigen  175  Ikrufe 

33* 


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34» 


H.  Kauchberg, 


nur  307  572  oder  5,84  Prozent  ent&Uen.  Die  Benifsarten  mit  mehr 
als  25000  weiblichen  Erwerbthat^en  sind: 


Weibliche 

Erwerbtbätige 

Berttfsarten 

unter  100  Erwerb* 

absolut 

33»93 

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2  /  0    1 4 

C    22  Hcht'rberjjuDj^  und  Enjuickung  . 

261 4^o 

53.07 

,         1 82  7^9 

7Ö-9J 

177434 

4OJ5 

119515 

Äff   1  4 

95»  »3 

100055 

58.36 

F.      5  Gciundlicikptlege  

75327 

61.67 

E     4  I.rziohung  und  Unterricht    .  . 

73207 

3  «.47 

60  4S5 

47.36 

D     2  Lohnarbeit  wechselnder  Art 

51 096 

25.43 

B    74  Strickerei  und  Wirk««  ... 

42461 

S3,2a 

B  lai  Kleider-  und  WSscbdconfektton 

•41361 

74.07 

32931 

95.84 

»7586 

74,75 

Das  sind  also  die  1  laupt^fcbiete  der  I'VaLRiiarlKMt.  Anders  ist 
die  Reihenfolge  der  Benifsarten,  wenn  man  sie  nach  dem  Verliältnis 
der  darin  erwerbthätigen  Frauen  zu  den  Männern  grupijicrt.  Da- 
durch gelangt  man  zu  einer  Uebersidit  über  die  spezifischen  Frauen- 
berufe. In  der  nachstehenden  Uebersicht  sind  jene  2i  Beru&arten 
angeführt,  in  welchen  die  Frauen  über  die  Männer  überwi^;en. 
Die  einzelnen  Berufsarten  sind  geordnet  nach  den  Verhältniszahlen, 
welche  die  Vertretung  der  Frauen  in  jedem  einzelnen  Beruf  aus- 
drücken. Um  auch  einige  Anhaltspunkte  für  die  Beurteilung  der 
Berufsstellung  zu  bieten,  fuge  ich  die  Verhaltniszahlen  (Ur  die  in 
selbständiger  Stellung  erwerbthätigen  Frauen  hinzu.  Die  vierte 
Spalte  enthalt  die  Verhältniszahlen  über  den  Anteil  der  Frauen  an 
den  entsprechenden  Zweigen  des  Nebenerwerbs.  Und  um  auch  die 
Tragweite  der  Verhältniszahlen  richtig  beurteilen  zu  können,  werden 
in  den  letzten  beiden  Spalten  unserer  Uebersicht  die  absoluten 
Zahlen  mitgeteilt,  die  den  Berechnungen  zugrund  liegen. 

'1  Aufwartefrauen,  nicht  im  Hauähaltc  dos  iJicnstgcber»  lebfiul.  iJie  Zahl  der 
bei  der  Hcrrscluifl  lebenden  wcibUchen  Uicnstboten  beträgt  1313957;  sie  machen 
98,11  Proaent  «11er  häuslichen  Dienstboten  aus. 


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Die  Beruls-  onU  Gcwcrbezählung  im  Deuuchcn  Reich  vom  14.  Juni  1895. 


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H.  K  a  u  c  b  b  c  r  g , 


In  diesen  21  Berufsaiten  überwiegen  also  die  Frauen  über  die 
Männer.  In  33  weiteren  Berufen  machen  sie  zwar  nicht  die  Hälfte, 
aber  doch  mehr  als  ein  Viertel  der  Erwerbthätigen  aus;  in  37 
Berufen  bewegen  sich  die  Verhältniszahlen  zwischen  10  und  25  Prozent, 
in  30  Berufen  zwischen  $  und  10  IVozent,  während  ihre  Beteiligung 
bei  86  Berufen  5  Prozent  der  Erwerbthät^en  nicht  erreicht.  Diese 
letzteren  sind  also  die  spezifisch  männliclieii  Berufe.  Teils  sind  es 
solche,  welche  eine  höhere  kcnpcrliche  Leistungsfähigkeit  voraus- 
setzen, teils  ist  durch  die  öffentliche  Ordnunfr  den  Frauen  (Irr 
Zugang  dazu  verwehrt  oder  erschwert,  teils  hält  endlich  die  hand» 
werksmärsi<:^e  Or>^anisation  die  Frauen  fem.  Es  fallt  auf,  dals  gerade 
in  diesen  Berufen  die  —  an  sich  wenio^  zahlreichen  —  Frauen  in 
besserer  sc^zialer  Stellung  sich  befinden  als  in  solchen,  in  welchen 
sie  absolut  und  den  Männern  crcfrenüber  zahlreicher  vertreten  sind. 
Die  P-rklärung  ücgt  darin,  dals  die  handwerksmälsige  Organisation 
der  Frau  in  der  Regel  keinen  anderen  Platz  einräumt,  wie  den  als 
Meisterin,  der  nicht  so  sehr  auf  dem  Arbeitsrani^e  als  auf  dem  Be- 
sitz beruht.  Damit  stimmt  auch  iiberein,  dals  hier  der  Anteil  der 
F'rauen  am  Nebenerwerb  jenen  am  Hauptberuf  in  der  Regel  ganz 
erheblich  überragt. 

Was  die  Veränderungen  in  der  Beteiligung  der  Frauen  an  den 
i  iii/(.liK-n  Hcrufsarlcn  seit  1882  anl)clangt,  so  sehen  wir  die  Fraueti 
aut  (kr  t  an/.en  Linie  in  entbciiiedenem  Vorrucken  begriti'en.  Die 
EntwickkuiL:  der  deutschen  X^olkswirtschaft  hat  die  Arbeitscreletren- 
heiten  rasch  vernuhrt,  in  tlen  männiicluii  Ixrutcn  sowohl  wie  in 
den  wcibliciien.  Mit  der  gesteigerten  Arbeilsnachfrage  hat  alier  das 
Arbeitsangebot  nicht  bei  beiden  Geschlechtern  gleichen  Schritt  ge- 
halten. Das  männliche  Arbeitsangebot  ist,  soweit  es  die  unvoll- 
kommene Organisation  des  Afbeitsmarkt^  gestattet,  vollkommen 
aufgebraucht  worden.  Der  Nächwuchs  männlicher  Arbeitskräfte 
bleibt  hinter  dem  Bedarf  der  Volkswirtschaft  eher  zurück.  Hin- 
gegen begegnet  er  noch  immer  einem  überreichlichen  Angebot 
seitens  der  weiblichen  Arbeitskräfte;  aus  welchen  Ursachen,  wollen 
wir  später  untersuchen.  Die  Frauen  drängen  also  nach  Erwerb. 
Hinter  der  Million,  die  während  der  letzten  Zählungsperiode  in 
die  Berufearbeit  eingestellt  worden  ist,  stehen  neue  Millionen 
Frauen,  die  den  Zugang  dazu  noch  suchen.   Zunächst  wenden  ^e 

Ohne  Militärdienst  mid  die  Untencheidaiig«ii  der  AbteQimg  F,  in  welcher 
wir  es  ja  nicht  mit  eigentlicher  BernfsbethlUgung  sn  thnn  haben. 


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Die  Beruf«-  und  GewerbMihlang  im  DeuUchen  Keicb  vom  14.  Juni  1895. 

sich  dcnjoiiiL^cMi  l<L-rufcii  zu,  welche  von  altcrshcr  das  Gebirl  der 
Frauenarbeit  l)ildeii,  und  schon  friiher  .ibsoUit  oder  doch  verhälliiis- 
nuifsi;^  viel  Frauen  beschäftigten.  So  haben  die  hYaucn  zuj^enoniint-n 
in  lier  Laiidwirlschaft  um  203  583  oder  S,o6  Prozent,  im  Gast-  und 
Schankgcwcrbc  um  153250  oiler  141,64  Prozent,  im  Waren-  und 
Produktenhandel  um  122862  oder  83,32  Prozent,  in  der  Konfektion  ') 
um  86397  ^^^^^  20,86  Prozent,  in  häuslicher  Dienstleistung  um 
66295  oder  56,93  Prozent,  in  der  Weberei  um  61  750  oder  45,00  Pro- 
zent. Das  Reservoir  dieser  renommierten  Frauenberufe  ist  —  die 
Landwirtschaft  etwa  ausgenommen  —  durch  ein  überaus  williges 
Angebot  bis  zum  äulsersten  Rand  angefüllt.  Aber  ae  können  nicht 
alle  Arbeitswilligen  und  Erwerbbedürftigen  aufnehmen:  zahlreiche 
Frauen  wenden  sich  soldien  Berufen  zu,  welche  bisher  hauptsachlich 
von  Männern  besetzt  waren.  Da  sie  hier  nur  wenige  weibliche  Er< 
werbthätige  vorfanden,  so  erscheinen  die  Zuwachsprozente  auflallend 
hoch.  Gegen  die  Ueberzahl  der  Männer  hat  das  jedoch  nicht  viel 
zu  bedeuten.  Der  Anteil  der  Frauen  an  dem  betreffenden  Beruf 
gegenüber  den  Männern  erscheint  dadurch  nur  unmerklich  ver* 
schoben.  So  haben  z.  B.  die  Frauen  in  der  Klempnerei  und  Blech- 
wareniabrikation  um  3764  oder  234,66  Prozent  zugenommen.  Aber 
auch  die  Männer  sind  in  dieses  rasch  aufblühende  Gewerbe  zahl* 
reich  eingetreten.  £ls  hat  im  ganzen  um  82,19  Prozent  zugenommen 
und  der  Prozentanteil  der  Frauen  erscheint  den  Männern  gegenüber 
nur  unwesentlich,  um  3,30,  verschoben.  Oder  nehmen  wir  die 
Ziegelei  und  Thonröhrenfabrikation:  6477  Frauen  wurden  neu  ein- 
gestellt, ihre  Zunahme  beträgt  93,25  Prozent;  aber  ihr  Prozcntanteü 
den  Männern  gegenüber  ist  nur  um  1.66  gewachsen.  Und  so  vor« 
hält  Cif*  sich  in  den  meisten  anderen  Berufen,  wclclie  durch  rasche 
absolute  oder  relative  Zunahme  der  erwerbthätigen  Frauen  auf» 
fallen.  Selbst  in  den  6  friiher  erwähnten  Berufsarten,  von  denen 
jede  seit  1882  mehr  als  50000  Frauen  neu  cinL^^estellt  hat,  bleibt 
die  prozentuale  Verschiebung  zu  Gunsten  der  Frauen  in  ziemlich 
en-cn  drenzen.  Die  Prozent>ät/e  \nn  1895  übertreflen  jene  von 
1882  bei  der  Landwirtschaft  um  2,6o,  \u\  ( last-  und  Schankgewerbe  um 
14,35,  ''1^  W'arcü-  und  Produktenhandel  um  5,26,  in  der  Konfektion  um 
0.53.  in  häuslicher  Dienstleistung  um  7,07  und  in  der  Weberei 
um  10,95. 

Die  Veränderungen  der  Frauen-  und  der  Männerarbeit  in  den 

')  Einscbliclslich  Niihcrci  und  Schneiderei. 


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352 


II.  Kauchberg, 


einzelnen  Berufen  bewegen  sich  demnach  in  der  Regel  in  der 
gleichen  Richtung.  Die  Berufe,  in  denen  die  Frauen  am  meisten 
zunehmen,  haben  auch  ihre  männlichen  Erwerbthatigen  rasch  und 
den  absoluten  Zahlen  nach  sogar  in  weit  grölserem  Um&nge  ver> 
mehrt  Nur  zur  Ergänzung,  zur  Ausfüllung  der  Lücken  sind  Frauea 
herangezogen  worden.  Auch  bei  den  rückläufigen  Berufen  erstreckt 
sich  die  Bewegung  in  der  Rcj^^cl  auf  beide  Geschlechter,  Die 
gleichen  rrsachen,  welche  die  Zahl  der  Männer  einschränken,  setzen 
hier  auch  Frauen  aufscr  Arljcit.  Allerdings  sind  die  Frauen  die 
zäheren.  Sie  halten  die  Positionen  fest,  welche  die  Männer  räumen 
oder  rücken  sogar  an  deren  Stelle  nach.  Seit  1882  haben  die  £r- 
\verbthäti;>:^'en  im  ganzen  in  185  Berufen  zugenommen  und  in  22 
Berufen  .il)<^enommen. Die  erwerbthätigen  Frauen  sind  aber  nur 
in  14  Berufen  zurückj^cgangcn,  zumeist  in  solchen,  die  überhaupt 
rückläufig  sind.  Zunahme  der  Frauen  verlnindon  mit  Abnahme 
der  Männer,  also  eine  Gcgcnbewcgung  Ijoidcr  1  icschlechter,  tritt  in 
der  Regel  in  solchen  Berufen  ein,  deren  allgeiiKMue  T.niye  oder 
deren  Arbeitsbedingungen  sich  verschlechtert  haben.  Die  Stellungen, 
welche  von  den  Männern  verschmäht  und  verlassen  werden,  weil 
ihnen  anderwärts  lolincmiere  Beschäftigung  winkt,  erscheinen  den 
'  Frauen  noch  immer  begehrenswert.  Der  nau|)tfall  ist  schon  früher 
erörtert  worden:  es  ist  dies  die  l.andwirt.schaft,  welche  222  108 
männliche  Erwerbthätigc  an  andere  Berufe  abgegeben  und  dafür 
203583  weibliche  Arbeitskräfte  neu  eingestellt  hat,  die  au>  (ier 
Kategorie  der  I"ainilienangeh<)rigen  entnommen  worden  sind.  Ein 
andere>  Beispiel  von  (legenbewegung  bietet  das  —  im  g.iu/cn  1  uck- 
läufigc  —  Schuhmachergewerbe.  Hier  wurden  im  Hauptberuf  gezählt 

Erwerbthälige  1895  gegen  ^ 
1895             tSSa  1882 

nfinnlich  .   .      336977         43oSoa  —  33825 

weiblicb  .   .        15909  8590  4>  6689 

Wenn  hier  die  männliche  .-Xrbeit  abnininit  und  zum  Teil  wenigstens 
durch  weibliche  Arbeit  ersetzt  wird,  so  ist  dies  eine  Begleit- 
erscheinung der  Umbildung  des  Handwerks  zu  fal)rikniärsigen  Grofs- 
betrieben  eine  rseits  und  zu  verlegter  Heimarbeit  andererseits.  Diese 
( legenbewegung  ist  hoeh'-t  iHzeichnend  für  das  Wrhältnis  \-on 
Männer-   und  Frauenarbeit  überhaupt:  Wofern  die  Frauen  nicht 

*)  Die  Berafsxugeliörigeii,  einschliefsltcb  der  FuniUenaiigelidrigen  tmd  DienendaD 
haben  is  35  Bcrafsarten  dbcenommeii.  Vgl.  S.  391  des  XIV.  Bandes. 


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Die  Berufs-  und  Gewerbczählung  im  Dcutüchen  Reich  vom  14.  Juni  1895. 


zum  Ersatz  herangezogen  werden,  um  jene  Lücken  auszufüllen,  die 
das  männliche  Arbeitsangebot  offen  gelassen  hat,  rücken  sie  in 
solche  Berufe  und  Berufsstellungen  ein,  von  welchen  die  Männer 
sich  zurückzuziehen  im  Begriffe  stehen,  weil  sie  anderwärts 
lohnendere  Beschäftigung  finden. 

Aber  noch  eine  andere  Gegenbewegung  ist  nachweisbar.  Ebenso 
wie  die  Frauen  in  männliche  Berufe,  dringen  auch  die  Männer  in 
solche  Berufezweige  ein,  die  bisher  ausschliefslich  oder  doch  über- 
wiegend den  Frauen  überlassen  waren.  So  haben  in  der  eigent- 
lichen Kleider-  und  Wäschekonfektion  *)  die  Männer  um  98  Prozent, 
die  Frauen  aber  nur  um  49  Prozent  zugenommen,  in  der  Putz* 
macherei  etc.  die  Männer  um  50,  die  Frauen  nur  um  28  Prozent 
Und  zwar  tritt  die  raschere  Zunahme  der  Männer  gerade  in  den 
höheren  Berufsstellungen,  bei  den  Selbständigen  und  Angestellten 
am  auffälligsten  zu  Tage.  Das  ist  leicht  zu  erklären:  die  Um^ 
bildung  dieser  und  ähnlicher  Gewerbe  zu  kaufmännisch  organisierten 
und  betriebenen  Geschäften  b^t  eine  ganze  Reihe  von  Stellen  für 
die  kaufmännische  Leitung  und  den  Vertrieb  eröffnet,  welche  zum 
grofsen  Teil  den  Männern  zufallen,  während  die  eigentliche  Her- 
Stellung  der  Waren  nach  wie  vor  Sache  der  Frauen  bleibt. 

Männliche  Berufe  werden  also  immer  mehr  mit  Frauen  durch- 
setzt, manche  weibliche  immer  ni«-lti  mit  Männern.  Diese  (iegen- 
bcweiruii''  scheint  auf  den  ersten  Blick  der  ( h  uiultendcnz  unserer 
gesellschaftlichen  P'ntwicklung  zu  widersprechen,  welche  auf  immer 
gror>ere  Funktioiisdill'erenzierung  gerichtet  ist.  Sollte  die  Ausbildung 
der  volkswirtschaftlichen  Arbeitsteilung,  wie  sie  sich  in  der  Berufs- 
gliederung spiegelt,  ni(Mit  eine  immer  strengere  Scheidung  zwischen 
den  wirtschaftlichen  bunktionen  der  beiden  Geschlechter  mit  sich 
bringen?  Und  dürfen  wir  denn  nicht  erw.irten,  die  männlichen 
Berufe  immer  ausschliefslicher  mit  Männern,  die  weiblichen  Berufe 
immer  ausschliefslicher  mit  I  r.iuen  besetzt  zu  finden?  Und  nun  cr- 
giebt  die  Berufsstatistik  das  Gegenteil! 

Jene  Erwartung  müfste  sich  erfüllen,  wenn  die  Grenzlinien  der 
einzelnen  Berufsarten  im  Sinne  der  Berufsstatistik  in  der  That 
gleichartige  technische  und  soziale  Funktionen  zusammenfafsten  und 
ungleichartige  trennten,  und  zwar  vorzugsweise  jene,  worauf  die 
Scheidung  zwischen  Männer-  und  Frauenarbeit  beruht  Diese  Vor- 
aussetzung trifft  aber  keineswegs  zu.    Wie  schon  früher  hervor- 


1)  Olme  Nihttinacn  vmi  SdimiclercL 


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354 


H.  Rauchberg, 


f^'cliobcn  wurde,  umfafst  jede  einzelne  Position  dt-r  Bcrufssiatistik 
eine  ganze  Reihe  von  Berufsbenennungen  der  Zählpapiere. ')  10397 
thatsächlkrh  eingetragene  BeruCsbenennungen  sind  auf  207  „Beru& 
arten"  reduziert  worden,  welche  die  letzten  Einheiten  unserer  Be- 
rufsklassifikation bilden.  Die  feinere  Verzweigung  der  volkswirtschaft- 
lichen Arbeitsteilung  ist  gleichsam  nur  noch  in  ihren  Hauptästen 
erkennbar.  Aber  auch  die  Derufsbenennungen  spi^eln  sie  nicht 
getreulich  wieder,  denn  selbst  der  Sprachgebrauch  ^^rmag  den 
Fortschritten  der  Arbeitsteilung  und  FunktionsdifTerenzierung  nicht 
zu  folgen.  Gleichnamige  Beschäftigungen  sind  in  Wirklichkeit  noch 
lange  nicht  gleichartige.  Der  technische  Fortschritt,  das  Eindringen 
der  Maschine  in  bisher  handwerksmafsig  betriebene  Produktions- 
zweige,  die  Umbildung  der  Betriebsoi^nisationen,  das  alles  hat 
eine  so  weitgehende  Arbeitszerlegung  innerhalb  der  alten  Be- 
rufe mit  sich  gebracht,  tlafs  keiner  derselben  mehr  ein  einheitliches 
Arbeitsgebiet  darstellt.  Hinter  dem  einheitlichen  Namen  verbirgt 
sich  \ielnu  hr  eine  g.iti/c  Reihe  von  mannigfach  abgestuften,  inein- 
ander planvoll  eingreifender  Beschäftigungen,  welche  die  verschieden- 
artigsten Anforderungen  an  die  phvsi«  he  und  geistige  Kraft,  an 
die  technische  und  kaufmännische  Ausl)ildung  der  Berufsangehörigen 
stellen.  Zugleich  mit  der  Erweiteniiig  ihres  Umfangs  ist  da^^  innere 
Ciefüge  <ier  einzelnen  Berufe  unendlich  verfeinert  worden.  In  bisher 
überwiegend  männliclicn  Berufen  sind  Arbeitsgelegenheiten  für 
Frauet).  in  überwiegend  weibliclrcn  leitende  Stellen  ge^rhatten 
Wftrdcn,  welche  sich  die  Miinner  kraft  ihrer  allgemeinen  \'()rliand- 
stcltung  aneignen.  Die  .\rbrit>lrilung  /wischen  den  beidcis  lie- 
sclilcchicrn  zerbricht  den  Raliinen  der  allen  Berufsorganisation.  Die 
lieruf^benennungen.  die  diese  letztere  geprägt  hat,  scheiden  nicht  mehr 
wie  früher  Manneiwerk  von  hrauenwerk.  Jene  (iegenbewegung 
zwischen  niärnilicher  und  weiblicher  Berufsarbeit  steht  al>-o  nur 
scheinbar  in  \\'iders})ru<'h  zu  der  forl^clireileniien  gesellschaltlifhen 
Arbeitsteilung.  Die  (irenzen  zwisclien  niännliclier  und  weiblicher 
Berufsarbeit  sind  nicht  verwischt,  woiil  aber  .^iiul  sie  k» »iiipli/icMcr 
und  beweglicher  gewortlen.  Sie  decken  sich  nicht  mehr  mit  den 
Grenzlinien  der  einzelnen  herkömmlich  benannten  Berufe,  sondern 
laufen  mitten  durch  diese  hindurch,  schwankend  je  nach  dem  durch 
Technik  und  Betriebsorganisation  bedingten  Grade  der  Arbeitszer* 
legung  und  je  nach  der  Wechselbeziehung  zwischen  dem  männlichen 


>)  Vgl.  den  XIV.  Bd.  dieses  Archivs  S.  274. 


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Die  Berufs-  und  Gewerbeziihlung  na  Dcutscbeu  Reich  vom  14.  Juui  1S95. 


und  dem  weiblichen  Arbeitsangebot  In  Wirklichkeit  ist  aber  die 
Funktionsdiiferenzierung  zwischen  den  beiden  Geschlechtern  feiner» 
die  gesellschaftliche  Arbeitsteilung  vollkommener  geworden:  ohne 
Rücksicht  auf  die  hergebrachten  Scheidelinien  der  Berufe  sind  den 
einzelnen  Arbeitskräften  sowohl  des  männlichen  als  auch  des  weilv 
liehen  Geschlechts  in  höherem  MaCse  als  bisher  diejenigen  Leistungen 
zugewiesen  worden,  wozu  sie  nach  dem  jeweiligen  Stande  der 
Technik  und  der  Lage  des  Arbeitsmarktes  am  besten  geeignet  sind. 
Eine  neue  Aufteilung  der  gesellschaftlichen  Funktionen  zwischen 
den  beiden  Geschlechtem  ist  im  Zuge,  welche  als  eine  Verbesserung 
der  technischen  Organisation  mit  dazu  beiträgt,  die  Produktivität 
der  gesamten  gesellschaftlichen  Arbeit  zu  erhöhen. 

Offenbar  wird  man  der  Bedeutung  dieser  gewaltigen  und  tief- 
greifenden Bewegung  nicht  j^erecht,  wenn  man  sie  lediglich  unter 
dem  Gesichtspunkte  der  Konkurrenz  zwischen  den  beiden  Ge- 
schlechtern auffafst,  und  aus  der  erweiterten  Thätis^keit  der  Frauen 
folgert,  dafs  das  Arbeitsgebiet  der  Männer  eingeschränkt  und  da& 
Männerarbeit  durcii  hVauenarbeit  verdrängt  werde.  Die  Sachlage 
ist  vielmehr  die:  3  13*^ ^67  neue  Arbeitsgelegenheiten  sind  in  der 
deutschen  Volkswirtschaft  während  iler  13  Jahre  zwischen  den 
beiden  Berufszählungen  vom  l8<S2  und  1895  geschaffen  worden.*) 
Nur  2133577  männliche  Arbeitskräfte  standen  hierfür  zur  Ver- 
fügung, I  005  200  StclI'^Mi  mufsten  also  mit  hVaiien  besetzt  werden. 
Die  Kinstclluiig  \<»n  cuier  weiteren  Million  weibliciier  Arbeitskräfte 
war  also  notwentlig,  um  den  durch  die  gegenwärtige  ( )rganisation 
und  Technik  bedingten  Arbeitsbedarf  der  \'olkswirtschaft  zu  decken,-') 
Nehmen  wir  die  deutsche  Volkswirtschaft  als  einheithches  Ganzes, 
so  kann  überhaupt  nicht  von  Konkurrenz  die  Rede  sein,  sondern 
nur  von  der  Ergänzung  de>  Arbeitsangebots  bis  zur  vollen  Deckung 
des  Bedarfes.  Anders  freilicii,  wetui  es  sich  um  die  Besetzung  der 
ein/eliK-n  .Stellen  handelt.  Welche  Stellen  den  Männern  unil  welche 
den  Frauen  zufallen  sollen,  ist  zum  Teil  allerdings  schon  durch 
Tradition  und  Technik,  sowie  durch  die  besondere  Qualifikation 
entschieden,  die  sie  erheischen.  Bei  einem  anderen  Teil  ist  diese  Ent- 
scheidung nicht  von  vorneherein  gegeben.  Denn  die  Tradition  reicht 
nicht  in  allen  Fällen  aus  und  die  Umbildung  der  Technik  und  der 
Betriebsorganisation  haben  sie  erschüttert.  Die  Aufteilung  dieser 


')  Von  den  bSmlichcn  Dienstboten  abgesehen. 
VgL  Anm.  S.  337  f* 


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356 


H.  Rmttchbcrg, 


zweifelhaften  Stellen  erfolgt  daher  durch  Selektion.  Und  wie  jede 
gesellschaftliche  Selektion  wird  auch  diese  von  den  Beteiligten  als 
Konkurrenz  empfunden  und  beklagt.  Es  scheint,  als  ob  die  Frauen 
die  Männer  unterböten  und  verdrängten.  Zahlreiche  Umstände 
nötigen  sie,  sich  mit  einem  gcrinpjcrcn  \^crilienst  oder  Lohn  zu  be- 
gnügen: körperlich  schwäclicr,  fachlich  mindef  vorgebildet  ,  \  on 
Natur  aus  zaghafter,  wissen  sie  ihre  Ansprüche  noch  nicht  durch 
Organisation  zu  unterstützen.  Ihr  bisheriger  Wirkungskreis  war  eng 
und  jede  Erweiterung  desselben  müssen  sie,  um  das  Trägheits- 
moment zu  überwinden,  durch  besondere  Vorteile  erringren,  die  sie 
den  l^nternehmem  einräumen.')  Durch  das  enge  Thor,  das  zum 
P'rwerb  führt,  drängen  sich  aber  nicht  rauscnde  sondern  Millionen 
Frauen,  die  sich  gegenseitig  unterbieten,  und  auch  ilas  l-.xistei^z- 
miniinuni  bildet  nicht  die  l'ntergrenze  des  Lohnes,  wo  die  Kxistenz 
nicht  ausschliefslich  auf  ihm  beruht.  Su  fallen  denn  in  tler  Tliat 
auf  der  ganzen  Linie  die  mindot  einträglichen  Stellen  den  I-rauen 
zu.  Die  Zunahme  männli(  her  Arbeit  wird  aber  dadurch,  wie  wir 
gesehen  haben,  in  den  aufblühenden  Ikrufen  —  und  diese  bilden  ja 
die  ganz  überwiegende  Mehrzahl  —  nicht  beeinträchtigt.  Denn  die 
MiuHier  sind  nun  einmal  im  Resit/^tande  und  geniefsen  auch  smist 
in  jeder  Hinsicht  eine  Art  \"i handstellung ,  die  schon  in  den 
physiologischen  Unterschieden  zwischen  den  beiden  deschlcchtern 
bcgrünik  l  ist  uiul  in  dem  ludieren  ge>cll>cli.ilüichen  \\  eil  der  männ- 
lichen Arbeitsleistung  ihren  Ausdruck  findet. '*)  In  den  stagnierenden 
und  rückläufigen  Berufen  freilich  wird  Männerarbeit  durch  I'rauen- 
arbeit  ersetzt,  nicht  so  sehr  durch  eigentliche  Verdrängung,  sondern 
indem  die  Männer  freiwillig  die  Position  räumen  und  der  mann* 
liehen  Nachwuchs  sich  von  jenen  Berufen  abwendet  und  aufblühende 
Arbeitsgebiete  aufsucht,  wohin  ihm  die  Frauen  zunächst  noch  nicht 
zu  folgen  vermögen.  Denn  der  technische  Fortschritt  hat,  gleich- 
sam als  Ersatz  dafür,  dafs  er  in  eine  ganze  Reihe  von  Berufen  die 
Frauen  eingeführt  hat,  neue  weite  und  lohnende  Arbeitsgebiete  er- 
schlossen, die  Knh,  Ausdauer,  technische  Ausbildung,  Fachwissen, 
mit  einem  Worte:  Männerwerk  bedingen.')   Sind  auch  die  Frauen 


*)  Vgt  Rithe  Dnncker,  Ldpsig.  Ueber  die  Beteüigang  des  wciUkliai 
Geschlechts  «a  der  Cnrerbthitigkeit   Hamburg  1899. 

*)  Vgl.  den  Artikel  „FraueoM-beit  und  Fnuenfnge"  von  Pierstor  ff  im  Hand- 
wörtcrbttdi  der  Staatswissenschaftcn.   2.  Aufl.  UL  Bd.,  i&sbes.  5.  1198  f.  n.  1213. 

*)  So  enthält  z.  B.  die  Bemfsstatistik  von  1895  eine  nene  Position,  Elektro- 


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Die  Berufs-  und  Gewerbezäblung  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  1S95. 


auf  der  einen  Seile  in  die  Deprcssionsgcbiele  des  männlirlicn  Ar- 
beitsfelds eingedrungen,  so  ist  es  nunmehr  nach  der  anderen  Seite 
hin  ganz  unvergleichlich  erweitert,  und  zwar  gerade  nach  jener 
Richtung  hin,  welche  die  lohnendste  Beschäftigung  bietet  und  den 
Frauen  am  fernsten  liegt  Die  Konkurrenz  der  Frauen  auf  der 
einen  Seite  ist  fiir  die  Männer  nur  ein  wirksamer  Ansporn,  das 
Trägheitsmoment  zu  überwinden,  die  Berufe  zu  verlassen,  wo  nichts 
mehr  zu  holen  ist,  und  jene  andere  Richtung  zu  verfolgen,  wo 
ihnen  die  Zukunft  gehört') 

Zwei  wichtige  Etappen  auf  dem  Vormarsche  der  Frauen  in 
das  Gebiet  des  Hauptberufs  bildet  der  Nebenerwerb  und  die 
Heimarbeit  Beide  leiten,  häufig  miteinander  kombiniert,  die 
Frauen  aus  der  hauswirtschafUichen  Bethättgung  über  ziu*  Teilnahme 
an  der  volkswirtschafUichen  Produktton,  die  allein  für  die  Berufe* 
Statistik  in  Betracht  kommen  kann.  Beide  ermöglichen  es  der 
Frau,  sich  wenigstens  bis  zu  einem  gewissen  Grade  ihren  Hauswirt» 
schaftlichen  Obliefjenheiten  und  gleichzoitis:^  auch  dem  Erwerb  zu 
widmen:  der  Nebenberuf,  indem  er  nicht  die  volle  Arbeitskraft  in 
Anspruch  nimmt,  die  Heimarbeit,  indem  sie  die  Frau  doch  an  der 
Stätte  ihrer  hauswirtschaftlichen  Thätigkeit  beläfst 

Dafs  die  Anzahl  der  Frauen  mit  Nebenerwerb  —  im  Gegen- 
satz zur  Rückbildung  des  Nebenerwerbs  bei  den  Männern  —  rasch 
zunimmt,  wurde  bereits  im  XI.  Abschnitte  festgestellt.-)  1746326 
Nebenberufe,  3 5. 28  Prozent  aller  Fälle,  treffen  auf  das  w'eibliche 
Geschlecht.  Die  ganz  überwiegende  Mehrzahl  davon,  i  408  288  oder 
80,64  Prozent ,  sind  Ani^elun  i^a-  ohne  eigenen  Hauptberuf  oder 
Dienende,  265  297  haben  zugleich  einen  Hauptberuf  und  7274I  Fälle 
betreffen  bcruf^losc  Selbständige. 

Nur  srlieinbar  steht  im  (iegensatz  zur  Zunahme  der  weil)!ich^ 
Nebenerwerbfalle  eine  erhebliche  Abnahme  der  hauptberuflich  er- 
werbthätigen  l-raueu,  die  zugleich  einen  Nebenerwerb  haben.  Es 
wurden  deren  ermittelt 

tochnik,  die  1882  noch  nicht  vorkam,  mit  14,053  Enrerbthfitigcn,  darunter  mir 

S  Prozent  Frauen. 

'1  Sidin  y  Webb,  The  alleged  ditVircncics  in  the  wagcs  paid  to  men  and 
women  für  similar  work.    Economic  Journal  »•dilcd  by  Edgcworth.  I.  Bd.  S.  ^»35  ff. 

*)  Vgl.  oben  S.  1590".,  woselbst  aucli  tili-  Rolle  des  weiblichen  OcMhlcchts  bei 
der  Gestaltung  der  Ncboiitrwcrbsverhältnissc  erörtert  wird.  Hier  bandelt  es  sich 
nunmehr  tun  die  Bedeutung  dieser  letzteren  Hir  den  Frauenberuf. 


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358 


H.  Rauchberg, 


1S95  18S3 

in  i!'-r  H'-nifsabteilung  absolut  l'rozeat  absohtt  Pmccnt 

A  Laiiiiwirtschaft   1 08 472  3. 04  \-j^f>i^(t  7.0; 

B  Inilu-tri.-   670(17  4,47  77490  6.8S 

C  Hamti-l  uikI  \irktlir     ....  OU054  10.56  43797  14. 6i) 

D  Häusliche  Dienste,  Taglohn  .    .  10  242  4,ji>  17049  <J,f>o 

E  Oeflentlicher  IMcnst   8691  4,92  10755        9  33 

im  ganzen   .  255456  4.85  328327  7,71 

Diese  Krscheinung  erklärt  sich  daraus,  dafs  die  Frauen  mit 
Hauptberuf  immer  strenger  und  ausschliefslicher  von  demselben  in 
Anspruch  genommen  wcrclcn  und  daher  immer  weniger  Zeit  er- 

ühri|::;en  zu  nebensächlicher  Betliäti<:]:un<^.  Wir  stehen  hier  vor  einer 

ReflexwirkuiMj:  «nserrr  fortschreitf  lulen  Arbeitsoi^nisation.  .Aber 
als  überreicliliclier  Kr.sal/  für  die  laufende  von  erwerbtbätigen 
Frauen,  die  durch  den  Hauptberuf  dem  Nebenerwerb  eiitzoL^^en 
worden  .'^incl,  treten  Hunderttausende  aus  der  Re>er\ckatei^orie  der 
nicht  Krwerbenden  durch  das  Thor  des  Nel)ene:  werbs  in  (las  Be- 
rufsleben ein.  Betrui»  docli  die  Zaiil  der  weil>Iicluii  .Xu' a'h(")ri  'en 
und  |)ieiu  nden  mit  Nebenerwerb  18S2  erst  S10020,  lN')5  bereits 
140S2SS,  ilu-  Prn/entanteil  ist  von  92,70  auf  96,00  ^estie'^en.  ."^o 
ktJinmt  es,  dals  <hi'  l  alle  weiblichen  Nebenberufs  in  der  Mehrzahl 
aller  Pusiiiunen  r.i>ch  zunimmt.  Nach  Bcrufsablciiungen  war  die 
Gestaltung  seit  1882  die  folgende: 

Zu-,  bzw.  Abnahme   — ) 
Zahl  der  weib*  der  weiblichen    des  Anteils  der 

liehen  Neben»  Kebenbemfe     weibl.  an  allen 

berufe  absolut     Prozent  Nebenberufen 

\  LniuUvirtschaft  .    .   .    I35>570      37,05       428308       46.39  8.11 

^  ln(hi>trif   «53055  24.7'  6271H  69,43  7  "4 

('  Ilaruhl  und  \'.rk<  lir  .  221  0S4  3S.S0  141072  I7".3i  20, iS 

1)  HüusIuIr-  I»i»!i-t.-  etc.  9329  5f  "3  -39  -2.63  2,47 

E  OcfTcnllichor  l»i<nst     .  1 1  28S  n,S3  —  I  0S7  -  8,78  —  I.30 

im  ganicn  1746326  35,28  631250  56,61  9,09 

Auf  die  Verhältnisse  nach  den  einzelnen  Gruppen  des  Neben- 
erwerbs einzugchen,  würde  zu  weit  (iUhren.  lieber  den  nebenberuf- 
lichen Anteil  der  Frauen  an  jenen  Erwerbsarten,  in  denen  die 
Frauen  dem  Hauptberuf  nach  überwiegen,  hat  schon  die  4.  Spalte 
der  Ucbersicht  auf  S.  349  Auskunft  erteilt.  Wir  entnehmen  daraus, 
dafs  an  der  Mehrzahl  der  angeführten  Berufsarten  die  Frauen 
nebenberuflich  noch  erheblich  starker  beteiligt  sind  wie  hauptberuf- 


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Die  Berafr»  und  Gewerbcrittiliiiig  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  1S95. 


lieh,  wogegen  in  einer  Minderzahl  von  Berufearten  ihre  Beteiligung 
am  Nebenerwerb  hinter  jener  am  Hauptberuf  verhältnismafeig  zu- 
rückbleibt. 

Ebenso  wie  an  dem  Nebenerwerb  sind  die  Frauen  auch  an 
der  Hausindustrie  vcrhältnismäfsig  stark  beteiligt.*).  154604 
Frauen,  45,14  Prozent  aller  [  lausindustriellen,  gehören  ihr  an,  wäh- 
rcnd  der  Pro/.entanteil  der  Frauen  an  der  gesamten  Industrie  nur 
18.37  beträgt.  Dazu  kommen  noch  38912  Fälle  von  hausindu- 
striellcr  Frauenarbeit  im  Nebenberuf.  Das  Schwei^wicht  liegt,  wie 
bei  der  Heimarbeit  überhaupt,  in  den  Gruppen  der  Textil-,  Be- 
kleidungs-  und  Reinigungsindustrie.  120  230  Frauen,  92,5  Prozent 
aller  Heimarbeiterinnen  im  I Iau|)tberuf,  entfallen  auf  diese  beiden 
Gruppen.  Der  sozialen  Stellung  nach  sind  die  Frauen  in  der  Haus- 
industrie unter  den  Selbständigen  nahe/.u  ebenso  stark  vertreten,  wie 
unter  tlen  Abhängigen;  es  waren  nämlich  weiblichen  Geschlechts 
von  je  100  .Selbständigen  45,37,  \<)ii  i<'  HX)  Gehilfen  43,94  Pro/.cnt 
und  /.w.ir  speziell  unter  den  mitthätigen  Ivmiilienangehörigen  87.06, 
unter  den  sonstigen  Gehillen  32,47  Prozente.  Allerdings  arbeiten 
jene  weiblichen  selbständigen  Hausindustriellen  in  der  Regel  allein, 
gehören  also  tler  untersten  sozialen  .Schichte  der  Sell)ständigcn  an. 

Der  Vergleich  mit  den  F>gebnissen  des  Jahres  1S82  ist  nur 
hinsichtlich  der  selbständigen  Heimarbeiterinnen  möglich.")  F^r  lehrt, 
dafs  die  Frauen  an  dem  schon  früher  erörterten  Rückgang  der 
Hausindustrie  stärker  beteiligt  sind  wie  das  männliche  Geschlecht. 
Sehr  begreiflich,  denn  er  betrifft  zumeist  jene  der  Textil-  und  der 
Bekleidungsindustrie  angehörigen  Berufszweige,  welche  zur  eigent- 
liehen  Domäne  der  Frauenarbeit  gehören.  Indessen  bleibt  der 
Rückgang  beschrankt  auf  die  hauptberuflich  ausgeübte  hausindu- 
strielle  Frauenarbeit  Im  Nebenerwerb  hat  «ie,  hauptsächlich  infolge 
des  Eintritts  von  früher  familienangehörigen  Frauen,  nicht  unerheb- 
lich zugenommen. 

Von  besonderem  Interesse  ist  die  geographische  Ver- 
breitung der  Frauenarbeit.  Der  Anteil  der  Frauen  an  der 
gesamten  Erwerbthätigkeit  schwankt  zwischen  22,17  Prozent  (in 
Westfalen)  und  37,32  Prozent  (in  HohenzoUern).  Maisgebend  für 
die  Beteiligung  der  Frauen  am  Erwerb  ist  in  erster  Linie  die  be- 
sondere Gestaltung  der  Berufsgliederung,  je  nachdem  nämlich 


*)  V£l.  darilber  den  VIII.  Abschn.  Bd.  XIV  dieses  Archivs  S.  647  ff. 

*)  Waram,  ist  schon  aaf  S.  653  f.  des  XIV.  Bandes  auseinander  geseUt  worden. 


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36o 


H.  Raucbberg, 


solche  Berufe  und  Betriebsformen  hierin  vorwiegen,  die  viel  oder 
wenig  Frauenarbeit  verwenden.  Insbesondere  auf  die  Vertretung 
der  I^ndwirtschaft  und  auf  ihre  Organisation  in  Kleinbetrieben 
kommt  es  dabei  an,  welche  ja  den  breitesten  Raum  bietet  zur  Be- 
thätigung  familienangehöriger  Frauen.  So  steht  z.  B.  in  Württemberg 
und  Baden  der  Frozentanteil  der  Frauen  mit  32,91  und  35,08  Prozent 
erheblich  über  dem  Reichsdurchschnitt,  hauptsachlich  wegen  der 
Bethätigung  familienangehöriger  Frauen  in  den  landwirtschaftlichen 
Kleinbetrieben,  dann  aber  auch  wegen  der  fortschreitenden  Ein* 
Stellung  weiblicher  Arbeitskräfte  in  der  rasch  aufblühenden  Industrie. 
Alle  die  mannigfachen  Momente,  welche  die  geographische  Gestal- 
tung der  Bcrufsj^liederung  überhaupt  Ix  ciiinu^^en ,  sind  demnach 
auch  von  Belang  für  die  örtliche  X'erbrcitung  der  Frauenarbeit 
Niehl  überall  hat  die  T utwirklnnLX  jener  Momente  zu  einer  Ver- 
stärkung geilen  über  der  Männerarbeit  gefuhrt  Zwar  haben  die 
weiblichen  Erwcil-thätigen  -  mit  '^'eringfiigii^^en  Ausnahmen  — 
in  samtlichen  Staaten  und  Lnndesieilen  absolut  zugenommen; 
aber  das  männliche  Geschlecht  ist  hinter  der  Zunahme  des 
weiblichen  in  einer  Anzahl  von  Gcbietsabschnittcn  kaum  zurück- 
geblicbeti ;  in  anderen  ist  es  v  erhältnismäfsiL,'  noch  zahlreicher  in 
den  Erwerb  eingetreten,  so  dals  der  Anteil  der  Frauen  —  trotz 
der  absoluten  Zunahme  —  1895  soj^ar  i^^eringcr  bleibt  wie  1882. 
So  habeti  z.  B.  in  Berlin  die  erwerbthätigen  Frauen  um  75  034  oder 
44,72  Prozent,  in  Hamburg  um  25  794  oder  44,46  Prozent  zuge- 
nommen; aber  ihr  Anteil  an  der  (lesamtzahl  der  Erwerbthätigen 
ist  in  Berlin  von  31,48  nur  aui  31,90  Prozent  gestiegen,  in  Haml>urg 
ist  er  von  29,35  auf  29,08  zurückgegangen.  Es  ist  ferner  der  An- 
teil der  I' rauenarbeit,  um  nur  einige  der  wichtigsten  Gebiete  mit 
Tallender  Tendenz  her\orzuheben,  zurückgegangen  in  Schleswig- 
IIoLiein  von  25,30  auf  24,91  Prozent,  in  Westfalen  von  22,85  aul 
22,17  Prozent,  in  Bayern  von  37,55  auf  34,65  Prozent,  in  El.sals- 
Lothringcn  von  31,25  auf  30,51  Prozent  Insbesondere  verstärken 
die  Fortschritte  der  Industrie,  wie  das  Beispiel  Westfalens  zeigt, 
nicht  ohne  weiteres  die  Frauenarbeit  Von  dem  Charakter  der 
betreffenden  Industrien  abgesehen,  kommt  es  dabei  auch  darauf  an, 
ob  der  männliche  Arbeitsbedarf  der  Industrie  durch  die  Rekrutierung 
landwirtschaftlicher  Arbeitskräfte  gedeckt  und  die  dadurch  ent* 
stehende  Lücke  durch  die  Einstellung  von  weiblichen  Arbeitskräften 
in  der  Landwirtschaft  ausgefüllt  wird.  So  treten  insbesondere  in 
Sachsen,  Anhalt  und  Lippe  die  Frauen  nunmehr  in  der  Landwirt- 


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Die  Bcraffr  md  Gewerbezahlimg  im  DeuUdheii  Reidi  vom  14.  Juni  1895.  ß(3i 


Schaft  viel  starker  hervor,  während  ihr  Anteil  Im  ganzen  nur  un- 
wesentlich erhöht  erscheint') 

Es  ist  also  nicht  richtig,  dals  die  moderne  Wirtschaftsentialtung 
notwendigerweise  den  Anteil  der  Frauenarbeit  an  der  Gesamtsumme 
gesellschaftlicher  Arbeit  erhöhe.  Diese  weit  verbreitete  Annahme 
wird  auch  widerlegt  durch  die  Untersuchung  nach  Gröfsenklassen 
der  Wohnplätze,  wobei  ja  ar^nommen  werden  kann,  da£s  den 
höheren  Grölsenstufen  zugleich  höhere  Stufen  der  wirtschaftlichen 
Entwicklung  entsprechen: 

Es  sind  nämlich 

von  je  100  Flaues  von  je  100  ErwerbthBtigen 


Ortsgrörsenklasacn 

erwerbthitig 

weiblich 

1895 

1882 

1895 

1883 

in  der  Grof&städten  .... 

18.93 

»7,65 

«3.56 

33«73 

„   „    Mittflstädten  .... 

15.73 

14.64 

'9.S5 

10.2'S 

,1  „    KlfinstäiUcn  .... 

«5.33 

14,16 

19.94 

18.89 

„    „    Landstädten  .... 

17,59 

15-85 

23.23 

21,70 

auf  dem  flachen  Lande   .    .  . 

22.91 

20,02 

28.80 

26.66 

Oberhaupt . 

19,97 

18,46 

25.35 

24,16 

In  der  vorstehenden  Uebersicht  zeigen  die  ersten  beiden  Ziftem* 
reihen,  wie  häujig  die  Erwerbthätigen  —  mit  Ausschlufs  der 
Dienenden  ^  —  unter  den  Frauen  sind.  Die  letzten  beiden  Ziffern- 
reihen  geben  an,  welchen  Anteil  die  Frauen  an  der  Gesamtzahl  der 
Erwerbthätigen  haben*  Verhältnismafsig  am  wenigsten  Erwerbthätige 
finden  sich  unter  den  Frauen  der  Kleinstädte.  Sowohl  mit  steigender 
als  auch  mit  fallender  Einwohnerzahl  nitnnit  der  Prozentsatz  der  er- 
werbthätigen Frauen  zu.  Er  steht  am  flachen  Lande  am  höchsten, 
hier  wegen  des  Ueberf^ewichts  der  I^ndwirtsrhaft  als  des  gröfsten 
Frauengewerbes,  dann  aber  in  den  (irofsstädten,  hier  in  erster  Linie 
wegen  der  stärkeren  Vertretung  der  Herufsabteilung  D  häusHche 
Dienste  und  Lohnarbeit  wechselnder  Art  ( Bedienerinnen  etc.),  auch 
wegen  der  intensiveren  industriellen  ßcthätigung  und  des  stärken 
Hervortretens  von  1  landel  und  X'cikehr. 

Innerhalb  der  ein/einen  Berufsabteilungen  waren  die  X'erhält- 
nisse  die  folgenden:  £s  sind  weiblich  von  je  100  Erwerbthätigen 


*)  Aebnliche  Bewegung  in  Oesterretdi.   Vgl.  darüber  Rancbberg,  Die  Be- 
völkerung Oesterreichs  etc.   Wien  1895  S.  402  f. 

*)  lieber  die  Dienenden  vgl.  S.  139. 
Archiv  für  tm.  GeseUf  ebung  u.  Stetiitik.  XV.  34 


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302 


H.  Rauchberg, 


Landwirt»                           Handel  und  Iläusl.  Dienste.  Öffentl.  Dienst 

in  den             schart  Industrie          Verkehr  Lohnarbeit  u.  freier  Beruf 

1895     1S82  1805     1S82    1895     1882  1895    18S2  1895  iS82 

GroCsstSdten   21,11   19,54  23,04  25,33  21,64   16,64  56,5'   48,79  14.24  i2,43 

MittdsttdtcD  36,16  S4,oa  19^  «0,43  as,86  17,93  5i|06  43i4i  8,62  8,19 

Kleinstädten  29,58  a6,63  17,71  18,14  24,33  I7i90  5i|iS  44,08  9,21  7,60 

Landstädten  31,69  39,81  ijfio  16,72  26,67  19.67  54«^  46,63  15,03  13,9$ 
auf d. flachen 

Lande.    .  33,63  31,08  15,34  14,46  30,63  22,05  56,29  49,H  17,53  »6,78 

Diese  Zahlenreihen  verlaufen  in  geradezu  überraschend  regel- 
mäfsiger  Weise.  Je  volkreicher  die  Wohnplätze,  desto  grofeer  ist 
der  Anteil  der  Frauen  an  der  Industrie  und  desto  geringer  wird 
ihr  Anteil  sowohl  an  der  Landwirtschaft  als  auch  am  Handel  und 
Verkehr.  Auch  in  den  Beruisabteilungen  D  häusliche  I^enste  und 
Lohnarbeit  sowie  E  öffentlicher  Dienst  etc.  steht  die  Beteiligung 
der  Frauen  im  allgemeinen  im  umgekehrten  Verhaltnisse  zu  den 
Ortsgröfsenklassen,  nur  da(s  die  Grofsstädte  hier  eine  Sonderstellung 
einnehmen.  Man  kann  also  gewifs  nicht  sagen,  da&  die  intensivere 
Wirtschaftsentfaltung  der  gröfseren  Wohnplätze  Hand  in  Hand  gehe 
mit  stärkerer  Beteiligung  der  IVaiicn  am  Erwerbleben.  Das  trifft 
nur  zu  hinsichtlich  der  Industrie;  in  den  anderen  Berufeabteilungen 
ist  der  Verlauf  der  Zahlenreihen  eher  der  entgegengesetzte. 

Aber  auch  auf  dem  Gebiete  der  Industrie  hat  die  Entwicklung 
während  der  13  Jahre  zwischen  den  beiden  Berufszählungen  von  1883 
und  1895  die  Unterschiede  zwischen  den  einzelnen  Ort^ölsenklassen 
hinsichtlich  der  Bctcihgung  der  Frauen  nicht  verschärft,  sondern 
eher  ausgeglichen.  Ihr  Prozentanteil  an  der  Summe  der  Bcrufs- 
thätigen  in  der  Industrie  hat  seit  1882  auf  dem  flachen  Ijinde  und 
in  den  Landstädten  zugenommen,  in  den  gröfseren  Städten  aber 
abgenommen,  am  meisten  in  den  Grofsstädten.  Dürfen  wir  die 
höhere  Einwohnerzahl  der  Ortsklassen  wirklich  als  Symptom  höherer 
Wirtschaftsentfaltung  gelten  las<cti,  so  können  wir  aus  jener  Gegen- 
bewegung den  Satz  ableiten  ,  dafs  zwar  auf  den  unteren  Entwick- 
lungsstufen Frauen  in  höherem  Mafsc  neben  den  Männern  in  die 
industrielle  Arbeit  eingestellt  werden,  (lals  aber  auf  den  höheren 
Entwicklungsstufen  eine  Art  Rückbildung  stattfindet,  indem  der 
Anteil  der  hVaucn  den  Männern  gegenüber  zu  sinken  beginnt,  wenn- 
gleich die  Zahl  der  in  tler  Industrie  ei  werbthätigcn  brauen  in  jeder 
Ürtsgrölsenkl.is.c  absolut  noch  im  Anwachsen  l>egriffen  ist. 

Wollen  wir  zum  Schlufs  noch  die  Entwicklungstendenzen 


uiyiiizeo  Dy  GoOgl] 


Die  Berufs*  und  Gewerbezählung  im  Deutschen  Reich  vom  I4.  Juni  1895. 

im  Frauciurut  rl)  zu  deuten  versuchen,  >o  Ii.iben  wir  vorerst  zu  unter- 
suchen, welche  Anlialtspunkte  sich  hierfür  den  Er^^ebnissen  der  aus- 
1  ci  n  d  i  s  c  h  e  n  Herufszählun^en  abgewinnen  lassen.  Was  zunächst  die 
Häufigkeit  des  Fraucnerwcrbs  im  X'er^dcich  zum  Männcrerwerb  in 
den  Staaten  anbelangt,  welche  in  erster  Linie  zum  Vergleich  heran- 
ztnsiehefi  sind,')  so  waren  erwerbthätig *}  von  je  loo 

Krauen  Männern 


im  Deutschen  Reich.   25,0  61,1 

in  Oestermdi   47,3  63,3 

in  Ungarn   34,9  63,S 

in  Frankreich   ijfi  58,8 

in  England  und  Wales   a6,8  634 

in  den  Vereinigten  Staaten  von  Amerfla  I2,S  58,7 


Wir  ersehen  aus  dieseti  Zitt'ernreihcn  zunäch>t,  dals  die  Prozent- 
sätze der  erwerbthätigen  Frauen  viel  starker  schwanken  als  wie 
dies  bei  den  Männern  der  Fall  ist  Diese  Schwankungen  sind  in 
erster  Linie  aus  den  formalen  und  methodischen  Verschiedenheiten 
der  Berufserhebung  zu  erklären.  Ein  guter  Teil  aller  Frauenarbeit 
bewegt  sich  auf  dem  Grenzgebiete  zwischen  volkswirtschaftlichem 
Beruf  und  hauswirtschaftlicher  ThätigkeiL  Von  der  Art  und  Weise, 
wie  die  Grenzlinie  bei  der  Berufserhebung  gezogen  wird,  hängt 
daher  auch  das  statistische  Mafs  des  Frauenerwerbs  ab.  So  scheint 
er  z.  R  in  Oesterreich  am  häufigsten  zu  sein,  weil  hier  alle  zweifei« 
haften  Fälle  zu  Gunsten  der  volkswirtschaftlichen  Beruisthatigkeit 
entschieden  worden  sind  Hingegen  bleiben  die  Prozentsatze  för 
England  hinter  der  Wirklichkeit  zurück,  weil  der  englische  Census  — 
offenbar  sehr  mit  Unrecht  —  die  mithelfenden  Familienangehörigen 
grundsätzlich  nicht  als  erwerbthatig  gelten  läfet. 

Dann  ist  auch  die  Beru&gliederung  selbst,  wie  wir  bereits 
w'issen,  von  gröfstem  Einflüsse  auf  die  weiblichen  Erwerbsgelegen- 
heiten. Denn  die  einzelnen  Berufe  können  schon  nach  ihren  tech- 
nischen  Voraussetzungen  Frauen  nur  in  sehr  verschiedenem  Mafse 
verwenden.  Wir  müssen  daher,  um  utis  auch  nur  halbwegs  zu 
unterrichten,  zumindest  die  einzelnen  Berufsabteilungen  ins  Auge 
fassen.  Eine  verläfsliche  Untersuchung  müfete  freilich  an  die  einzelnen 


'»  Vfjl.  Zählunp!>wcrk  S.  27S  l)ie  Daten  der  liotrcfTcndcn  Zählungen  sind: 
für  <  »estcrrrii  h-Uni^'am  31.  I)i:/.i  rnlM  r  1S90,  für  I'r.inkrcii  Ii  12  April  1S9I,  für 
England  u.  Wales  5.  Apnl  1Ü91,  lur  liie  \  cremiytcn  Sliialen  1.  juni  iSyo. 

*}  Einachliefslich  der  DiensCboten. 


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364 


H.  Raucbbcrg, 


Iicrufs/,\vciL,fc  anknüpfen.  Das  würde  aber  an  dieser  Stelle  zu  weit 
führen,  l^.ui/  d.i\uH  .ibj^LMjiK  n.  dafs  dem  iti  der  verschiedenen  Jierufs- 
klassifik.iti- 'II  der  einzchien  Länder  fast  unüberwindliche  Sciiwierier- 
keitcn  cnt^ej^'enstehen.  Nach  einzelnen  Berufsabteilungen  aber  ent- 
fallen Frauen  auf  je  lOO  erwerbthätige  Männer 


im 

in  i£ng« 

ind<rn\"orciu. 

Dnit  sehen 

in  Oester- 

inUn. 

inFrank* 

Und  n. 

Staaten  von 

Reich 

reich 

g«m 

reich 

Wales 

Amerika 

Lamdwiitscluft  .  . 

47.7 

39,7 

39,a 

4.5 

M 

Industrie  .... 

22,5 

45.7 

33.5 

35.3 

Handel  und  Verkehr 

32,9 

4».7 

»9,S 

3S.4 

7.4 

OctT<  ntl.  Dienst  und 

Irric  l'.cru!"e 

14,1 

»4.1 

9,7 

1S.7 

54.0 

40.3 

l'ersunlidii-  I)i<  nste  . 

691,0 

«330.S 

"4V7.3 

1^3,7 

1240.9 

im  ganzen  . 

4M 

78,0 

40,3 

46,3 

45.2 

20,{!> 

Auch  hier  sind  die  auffalligsten  Verschiedenheiten  in  erster 
Linie  auf  formale  Momente  zurückzuführen.  Insbesondere  erscheint 
in  England  und  in  den  Vereinigten  Staaten  von  Amerika  die  Frauen- 
arbeit in  der  Landwirtschaft  und  im  Handel  und  Verkehr  haupt- 
sächlich deswegen  so  aufserordentlich  schwach  vertreten ,  weil  — 
wie  bereits  erwähnt  —  die  mitthätigen  Familienangehörigen  nicht 
berücksichtii^t  sind.  In  den  gleichen  lindern  kommt  der  Prozent- 
satz (K  r  Frauen  in  der  Berufsabteilung  ölfenilicher  Dienst  und  freier 
Beruf  zu  hoch  heraus,  weil  hierher  die  „professional  class"  gerechnet 
werden  mufstc,  die  zum  guten  Teil  auf  andere  Berufsabteilungen 
übergreift.  Fndlich  ül)er\vioi;en  in  Amerika  in  der  Berufsabteiiung 
„persönliche  Dienste"  die  Männer  nur  deswegen  über  die  Frauen, 
weil  hie;1i<  r  nicht  nur  Beherbergung  und  Erquickung,  sondern  auch 
alle  Arbeiter  ohne  nähere  Bezeichnung  des  Beru&vreigs  gerechnet 
worden  sind.  ') 

.Schon  die  Untersuchung,^  nach  BcrufsahteilunL^en  zeigt  also,  dafs 
man  die  Schhifszilü  i  n  für  thc  cinzchu  ti  Lätidcr  nur  mit  der  äufsersten 
X'orsicht  auluLluncii  d.ui.  I  )as  gleiche  gilt  aber  auch  von  den 
Zahlen  für  lede  BcruUabtcilung.  hislxsondere  in  der  Landwirtschaft 
sind  liie  l)ereits  erwähnten  formalen  Momente  v(>n  grölstem  Eiii- 
Huls  auf  das  (ieschlechtsverhältnis.  Gleichwohl  wird  es  durch  die 
vorstehende  Uebcrsicht  wcnig.stens  in  seinen  Grundzugen  richtig  gc- 

'i  11«''  Annu.il  Ri-juirt  ol  thr  (  , »mmissioncr  ol  Labor,  1S95/96.  Work  anU 
Wages  ot  nan,  woincn  and  childrcn.    Washington  lSy7,  S.  21  f. 


Die  Berufs-  und  Gewerbezäblung  im  Deubchco  Reich  vom  14.  Juni  1895. 


kennzeichnet  Angenommen,  da(s  der  Ausfall  an  mitthatigen  Fa- 
milienangehörigen das  weibliche  Arbeitspersonal  der  Landwirtschaft 
Englands  und  Amerikas  um  die  Hälfte  herabgedrückt  habe, ')  so 
würde  sich,  wenn  wir  die  entsprechenden  Korrekturen  danach  vor-  - 
nehmen,  die  Prozentsatze  der  landwirtschaftlichen  Frauenarbeit  in 
England  nur  bis  6/>7,  in  Amerika  bis  12,23  erhöhen,  also  im  Ver- 
gleich zu  den  kontinentalen  europäischen  Verhältnissen  noch  immer 
aufscrordentlich  niedrig  bleiben.  Ks  kann  demnach  kein  Zweifel 
darüber  bestehen,  dafs  die  Landwirtschaft  in  England  und  in  den 
X'erein igten  Staaten  von  Amerika  hauptsächlich  Männerwerk  ist. 
Der  Anteil  der  Frauen  den  Männern  gegenüber  nimmt  in  England 
ab;  in  Amerika  wächst  er  zwar,  aber  nur  ganz  allmählich,  so  dafs 
jene  Grundlhatsarhe  unverändert  bleibt  Hingegen  ist  die  Land- 
wirtschaft schon  dem  Hauptberuf  nach  im  Deutschen  Reich  zu 
mehr  als  einem  Drittel  in  Oesterreich  /u  mehr  als  der  Hälfte 
l'Vauenwcrk.  Wird  der  Nebenerwerb  mit  berücksirlitigt,  so  erhöht 
sich  der  Anteil  der  Frauen  an  der  laiulwirtscliatlHchcn  Berufsarbeit 
ganz  aufscrordentlich.  ■-)  Im  Hauptberuf  wie  im  Nebenerwerb  hat 
er  während  der  letzten  Zählungsperiode  absolut  sowie  antcilsweise 
rasch  zugenommen,  indem  der  Ersatz  für  die  zu  lohnenderen  Be- 
rufen übergclicnden  Männer  durch  die  l'Vauen  gestellt  wird.  Das 
ist  eine  der  wichtigsten  Thatsachen.  welche  die  Stellung  der  Frauen- 
arbeit im  deutschen  Wirtschaft>lcl)en  kennzeichnen. 

Hinsichtlich  des  Anteils  der  Eraucn  an  dem  Erwerb  in  den 
anderen  Berufs.ibteilungen  scheint  das  Deutsche  Reich  eine  Mittel- 
stellung unter  den  hier  verglichenen  Landein  euizunehmen.  Aller- 
dings ist  die  V'ergleichung  in  den  Abteilungen  LIandel  und  X'erkehr, 
sowie  öffentlicher  Dien.st  und  freier  Beruf  durch  die  verschieden- 
artige Behandlung  der  mitthatigen  Familienangehörigen,  sowie  durch 
die  unldare  Abgrenzung  der  „professional  dass"  sehr  beeinträditigt; 
in  der  Industrie  ist  sie  aber  im  grolsen  und  ganzen  durchfuhrbar. 
Hier  liegt  auch  schon  den  absoluten  Zahlen  nach  das  Schwergewicht 
der  Frauenarbeit,  soweit  sie  nicht  landwirtschaftlich  ist  Handelt 
es  sich  doch  —  immer  vom  Nebenerwerb  abgesehen  —  im  Deutschen 
Reich  um  1 521 118,  in  Oesterreich  um  725037,  in  Ungarn  um 


0  Im  Deutschen  Reich  iii«chen  die  weibUdwn  mitthltigen  Familienuigehörigen 
37,3  Praseat  der  Fnuien  mit  Hauptberuf  in  der  Landwirtschaft  aus.  Ein  Zuschlag 
von  50  Prozent  macht  dcmnadi  den  oben  erjSrtcrten  Ausfall  jedenfall*  reidilich  wett. 

*)  Vgl.  oben  S.  160. 


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366 


H.  Raacbbcrgt 


135763,  in  Frankreich  um  1 427  322,  in  England  und  Wales  um 

1840898  luul  in  den  X'ereiiii^tcn  Staaten  von  Amerika  um  l  027  242 
industriell  beschäftigte  I-rauen.  Wie  in  der  Industrie  überhaupt, 
wird  auch  hinsichtlich  der  industriellen  Frauenarbeit  das  Deutsche 
Reich  absolut  nur  von  England  iibertroft'cn,  hin^c;:^cn  beschäfii^;,'!  es 
in  seiner  Industrie  mehr  Frauen  als  Frankreich  und  vollends  als 
Amerika.  Da  nun  —  wie  wir  gesehen  haben  —  die  überwiegende 
Mehr/.ahl  tler  in  der  Industrie  erwcrbthäti^en  Frauen  den  unteren 
sozialen  Schichten  aii}:^'ehört ,  so  ist  das  Deutsche  Reich  eines  der- 
jeni^'cn  Läti<Icr,  in  welchen  die  proletarische  Frauenfrage  am  dring* 
lichsten  aullritt. 

Su  ^ewn^t  und  undankbar  es  auch  ist,  sich  in  Prr)]>he/eiui!;:^cn 
zu  er^^^chen ,  kann  ich  doch  tler  \'er;>uehunL,'  nicht  widerstehen, 
die  in  diesem  .Kb^chnitte  vorf^cfiihrten  Materialien  zum  Schlüsse 
noch  zu  einem  Ausblicke  auf  die  mutmafsliche  kunftij^e  Kntwicklung 
zu  verwetten  oder  doch  wenigstens  zu  einem  Ueberblicke  über  die 
Icndenzen,  von  ilcnen  sie  beherrscht  wird. 

.Als  voreilig  habe  ich  schon  früher  die  weit  verbreitete  An' 
nähme  bezeichnet,  als  mülste  die  moderne  Entwicklung  notwcndi;4er- 
weisf  iiljcrall  und  in  allen  Berufen  den  .-Anteil  der  Frauen  an  der 
J-.rwerbarbcit  erhöhen. Auch  habe  ich  schon  eingangs  diocs 
Abschnitts  dargethan,  wie  die  bisher  übliche  Berechnung  der  Zu- 
wachsprozente dazu  fuhrt,  die  thatsächlichen  Fortschritte  der  Frauen» 
arbeit  zu  übersdiätzen.  Nur  im  Zusammenhange  mit  den  Nach- 
wuchsverhältnissen der  beiden  Geschlechter  und  unter  Berück- 
sichtigung des  Verhältnisses  dieses  Nachwuchses  zu  den  Anforderungeo 
der  rasch  wachsenden  Volkswirtschaft  und  des  erweiterten  Arbeits* 
marktes  können  sie  richtig  beurteilt  werden.^)  Wir  müssen  daher 
trachten,  hieriiir  einen  höheren  und  freieren  Standpunkt  zu  gewinnen. 

Wie  schon  die  vergleichenden  Uebersichten  auf  S.  363  und  364 
erkennen  lassen,  ist  das  Ausmafs  der  Frauenarbeit  in  den  einzelnen 
Ländern  sowohl  absolut  als  auch  im  Verhältnisse  zur  Männcrarbeit  sehr 
verschieden.  Die  Untersuchung  nach  kleineren  Gebietsabschnitten 
lehrt  femer,  dafe  jene  Verschiedenheiten  auch  innerhalb  der  ein* 
zelnen  Länder  sich  fortsetzen.  Wie  weit  sie  im  Deutschen  Reiche 
bestehen,  und  welchen  Einfluis  insbesondere  die  OrtsgröCsenklasseo 
darauf  haben,  findet  sich  auf  S.  361  f.  angedeutet  Jedes  Land,  jedes 

')  Siehe  oben  S.  361  f. 

*)  Vgl.  die  AttfsteUang  auf  S.  335. 


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Die  Berufs-  und  Gcwerbezählong  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  1895.  ^i^j 


Gebiet,  jeilc  Kategorie  von  Wohnplätzen  hat  somit  eine  ci^aiic, 
spezifische  Kapazität  für  Frauenarbeit:  ihr  Ausniafs  ist  bedingt 
durch  die  Stufe  der  volkswirtschaftlichen  und  gesellschaftlichen  Ent- 
wicklung. Zweierlei  Einflüsse  machen  sich  dabei,  oh  in  entgegen- 
gesetster  Richtung,  geltend:  wtrtschaftlicfa-techniche  und  soziale. 
In  ersterer  Hingeht  kommen  alle  diejenigen  Momente  in  Betracht, 
welche  die  Umbildui^  einer  Summe  von  früher  —  wenigstens  der 
Hauptsache  nach  —  isolierten  Hauswirtschaften  zur  einheitlichen, 
arbeitsteiligen  Volkswirtschaft  bewirken.  Ein  Produktionsakt  nach 
dem  andern,  der  früher  die  Frau  im  Hause  beschäftigte,  wird  nun- 
mehr aus  der  geschlossenen  Hauswirtschaft  ausgelöst  und  auf  die 
volkswirtschaftliche  Produktion  übernommen,  aus  welcher  nunmehr 
die  Gegenstände  des  häuslichen  Berufs  angekauft  werden.  Die 
Thätigkeit  der  Frau  beschrankt  sich  immer  mehr  auf  die  Ordnung 
der  Konsumtion.  I^e  Frau  selbst  ist  frei  geworden  für  die  Zwecke 
der  gesellschaftlichen  Produktion. 

Hin  grofser  Teil  der  erwcrbthätigen  Frauen  wird  also  in  den 
gesellschaftlichen  Produktionsprozefs  einbezogen  und  demnach  auch 
crwcrbthätig  im  Sinne  der  Reruüsstatistik  ohne  wesentliche  Acnderung 
in  der  Technik  oder  dem  Gegenstande  ihrer  bisherigen  Bethätigung 
lediglich  durch  die  Angliederung  ihres  bisherigen  VVirtschaftskreises 
an  das  grofse  Ganze  der  \''olks\virtschaft.  So  im  weitesten  Um- 
fange auf  dem  Gebiete  der  Landwirtschaft,  so  durch  die  Umwand- 
lung des  Mausfleifses  in  Hausindustrie  oder  auch  sonst  durch  die 
Verwertung  häuslicher  Fertigkeiten  zum  Gelderwerb.  Nicht  die 
Art,  sondern  die  Intensität  und  die  soziale  Bctlcutung  ihrer  Arbeit 
ist  eine  andere  geworden.  X'ollzieht  sich  der  Uebergang  zur  P"r- 
werbthätigkeit  auf  diese  Weise  halb  unbemerkt,  wenn  nicht  un- 
bewulst,  so  sind  desto  augenfälliger  jene  anderen  P^älle  weibliciier 
Erwerbthätigkeit ,  die  erst  durch  die  ftu  tsciircitende  technische  Ar- 
beitsteilung —  Arbeits/.erlegung  im  Sinne  H  ü  c  h  e  r  s  ■ —  insbesondere 
in  Verbindung  mit  den  I'ortschritten  der  Maschinentechnik  ermög- 
licht und  hervorgerufen  worden  sind.  Denn  dadurch  werden  die 
Frauen  mit  einem  Schlage  iiircm  bisherigen  häuslichen  Wirkungs- 
kreise entführt  und  in  den  starten  Mechanismus  der  volkswirt- 
schaftlichen Produktion  eingegliedert. 

Verengerung  des  häuslichen  W^irkungskreises  und  (ielegenheit 
zu  gesellschaftlicher  Erwerbthätigkeit  sind  also  die  beiden  Voraus* 


Entftehimg  der  VolknriitM^aft,  a.  AiA  S.  182. 


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368 


H.  Kauchberg, 


Setzungen  für  die  Berufsarbeit  der  Frauen,  Voraussetzungen,  die 
durch  jeden  Fortschritt  in  der  Ausbildung  der  Volkswirtschaft  in 
immer  höherem  Mafse  erstellt  werden.  Aber  es  sind  doch  zunadist 
nur  Möglichkeiten,  die  sich  da  erschliefsen.  Ob  diese  Möglichkeiten 
sich  verwirklichen,  ob  sie  thatsachlich  zu  Frauenerwerb  ausgenutzt 
werden,  hängt  sowohl  von  der  Lage  des  Arbeitsmarktes  als  andi 
von  allen  jenen  sozialen  Faktoren  ab,  welche  die  SteUung  der  Frauen 
im  Hause  bestimmen.  Zwei  Gewalten  ringen  gleichsam  um  den 
Besitz  der  Frau:  Neigung  und  Sitte,  die  Pflichten  als  Gattin  und 
Mutter  fesseln  sie  ans  Haus,  wollen  sie  auf  privatwirtschaftliche 
Thälii:,'keit  beschränken  und  des  eii^enen  Erwerbs  entheben. 
Andererseits  aber  (iraii;j^en  dahin  die  ünzuläng^lichkcit  des  Familicn- 
einkommcns,  der  erhöhte  Bedarf  an  arbeitsteilig  her^^cst eilten  und 
geldwirtschaftlich  7.u  beschaflfenden  Gütern,  die  Unmöglichkeit,  die 
weibliche  Arbeitskraft  im  verengerten  Hause  voll  zu  verwerten. 
Welche  \oii  diesen  beiden  Gewalten  wird  sieben'  Werden  die 
l)rurk\  erhältnisse,  welche  die  Frau  ins  Hrwerbleben  hinausdrän<;t'ii. 
sich  stiirker  erweisen  oder  die  konservativen  Gegentendenzen  des 
Hauses  ? 

Die  Beantwortung  dieser  bVage  hängt  von  der  Gestaltung  der 

sozialen  V^erhältnissc  ab.  Zufolge  der  fortschreitenden  Ausbildung 
der  Arbeitsteilung  und  der  Technik  nimmt  die  Kapazität  der 
modernen  Volkswirtschaft  für  I'Vauenarbeit  zu.  Ks  besteht  dem- 
nach zweifelsohne  die  Tendenz  zur  \*»M"niehrung  derselben  selbst 
ohne  Veränderung  in  den  so/.ialen  X'erhaltnissen.  In  der  That 
hat  sie  in  fast  allen  Staaten  in  der  Zwischenzeit  zwisciien  den 
beiden  letzten  Berufszäldunü'en  i^ewisse  Fortschritte  '.ainaciu. 
Cileichwohl  ist  für  Kngland  .die  liochst  wichtige  Thatsaciie  zu  ver- 
zeichnen, dals  die  industrielle  Frauenarbeit  i88l  — 1891  wenigstens 
anteilsweise  keine  weiteren  Fortschritte  gemacht  hat,  sondern  dafs 
vielmehr  gerade  in  einer  Reihe  der  wichtigsten  Berufs/weige  An- 
sätze zur  Rückbildung  sich  zeigen.  In  den  Berufen,  in  denen  die 
Frauen  mit  wenigstens  1  Pro/ent  veriictiii  sind,  haben  von  je 
IOC»  Frauen  im  Alter  von  über  10  Jahren  1881  noch  28,11,  1H9I 
nur  mehr  27,75  gccirbeitet. ')  Es  entfallen  in  England  und  Wales 
erwerbthätige  Frauen  auf  je  100  Männer:') 


*)  Report  by  Miss  G>llet  a.  a.  O.  S.  lo. 

*)  Census  of  England  and  Wales.  Vol.  IV.  General  Report  London  1893.  S.  $9' 


uiyiiizeo  Dy  G( 


iSoi 

1871 

t88l 

1891 

60 

79 

102 

100 

161 

178 

180 

172 

180 

208 

224 

201 

«3« 

149 

163 

156 

50S 

476 

289 

167 

636 

745 

586 

334 

7* 

65 

80 

67 

Die  Berufs-  und  GcwcrUctählung  im  I Jcutsclieii  Reich  vom  14.  Juni  1895.  ^(j^ 

in  den  folgenden 
Berafssweigen 

Tuchindustrie  .... 
Kammgamindttstrie    .  . 

Scifieninfiiisfrie  .... 
Baumwiillmdu-trir  . 
Spitzetitabrikation  . 
Handschubmacher .    .  . 
Papierindustie  .... 

In  einer  Reihe  von  \viclitij.^en  Iiuliistrien.  die  früher  Frauen  in  rasch 
steigender  Progression  eingestellt  halten,  ist  also,  wie  die  eben  an- 
geführten Heispiele  erkennen  lassen,  naeh  den  Ergebnissen  des 
letzten  ( iiglischen  Census  ein  Stillstand  oder  entschiedener  Rück- 
gang eirigetreten. 

Fortschreitende  Frauenarbeit  ist  also  kcines\ve«js  eine  uincr- 
nieidliche  Begleiterscheinung  der  wirtschaftlichen  und  gcsellschaft- 
liciien  Fnlwicklung.  Vielmehr  ist  ein  Punkt  erreichbar,  übt  r  welchen 
hinaus  der  Frauenerwerl)  nicht  zunimmt,  sondern  stationär  bleibt 
oder  wenigstens  im  X'erhäUnissc  zur  Männerarbeit  —  abninmit. 
Auf  dem  ( icbiete  der  Landwirtschalt  i>t  diese  Rückbildung  in  Kng- 
land  und  Amerika  bereits  in  vollem  (jange. ')  S<  •  erklärt  es  sich, 
dafs  der  Prozentsatz  der  PVaueiiarbeit  in  den  Vereinigten  Staaten 
erheblich  niedriger  steht,  wie  im  Deutschen  Reich.  Und  doch  ist 
man  gewöhnt,  Amerika  als  das  klassische  Land  des  Frauenerwerbs 
anzusehen  1  Und  auf  dem  Gebiete  der  Industrie  scheint  dieser 
Wendepunkt  nunmehr  in  der  hochentwidcelten  Volkswirtschaft  Eng- 
lands  eingetreten  zu  sein. 

Durch  technische  und  soziale  Voraussetzungen  ist  die  Ent- 
stehung und  Ausbreitung  der  Frauenarbeit  bedingt.  Und  durch  die 
weiteren  Fortschritte  der  technischen  und  sozialen  Entwicklung  wird 
auch  jene  Wendung  herbeigeführt  In  technischer  Hinsicht  insofern» 
als  es  gerade  den  höchsten  Stadien  der  Maschinentechnik  eigen  ist, 


>)  b  Englnnd  ist  die  Zahl  der  Landarbeiterinnen  1881— 189I  too  40346  auf 
84150  zarQckgegangen,  in  den  Vereinigten  Staaten  1880 — 1S90  von  534900  auf 
447104.  Hierselbst  stollten  «iie  Frauen  iSSo  noch  16,09  Prozent,  1S90  nur  mehr 
I4.S8  Prozent  der  Landarbeiter.  Wonn  gleichwohl  die  Gesamtzahl  der  in  d<'r  Lanrl- 
wirtschaft  der  Vereinigten  .Staaten  beschäftigten  Frauen  gegen  löäo  weder  absolut 
noch  anteilsweise  xurttckgcgangcn  i:it,  so  erklirt  sidi  dies  nus  der  nadien  Ver* 
mchnug  der  Gmndbesitferinnen.  Hierfür  sind  aber  die  BesittverhSltnisse,  nicht  die 
Arbeitsverhültnisse  mafsgebend. 


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370 


II.  Rauch  bcrg, 


Frauenarbeit  auszuschalten  und  dafiir  höher  qualifiziertes  Männer* 
werk  in  Anspruch  zu  nehmen,  ^)  teils  direkt,  zur  Ueberwachung  der 
Maschinen,  teils  indirekt  in  der  Form  einer  Arbeitsverschiebung, 
indem  Frauenarbeit  in  den  letzten  Ptoduktionsstadien  der  betreflenden 
Güter  erspart,  aber  neue  Männerarbeit  auf  die  Herstellung  jener 
Maschinen  verwendet,  also  in  ein  früheres  Stadium  des  gesamten 
Produktionsprozesses  eingeschaltet  wird.  Auf  solche  Weise  wird 
also  die  spezifische  Kapazität  der  Volkswirtschaft  fiir  Frauenarbeit 
herabgemindert. 

Xoch  gröfscr  ist  in  der  glcicbcfi  Richtung  die  Wirkung  des 
sozialen  Fortschritts,  welcher  in  der  Erhöhung  und  Stabilistenii^ 

der  Löhne  und  damit  auch  der  jj^csamtcn  Lebenshaltung  besteht. 
Dann  läist  der  Druck  nach,  welcher  die  Frau  zu  ei^'encm  Erwerb 
nötigt,  und  jener  Komptex  von  Motiven,  welche  ich  früher  als  die 
konservativen  Gc^cntendenzen  des  Hauses  gekennzeichnet  habe,  ge- 
winnt an  Kinflufs.  Denn  die  Frauenarbeit  hängt  enge  mit  der  Höhe 
der  männlichen  .Arbeitslöhne  zusammen.  FLinerseits  besteht  zwar 
die  Icnden/.  dort  hVauen  einzustellen,  wo  die  männlichen  .Arbeits- 
löhne vom  l "nttriiehmer  als  hoch  em{>fin\den  werden,  andererseits 
wird  aber  «las  \ii)citsangebot  der  braucii  diirrh  jede  Steigcrunj:;  in 
dem  F.inkomnicn  ihrer  Männer  oder  \'äter  lieral);^cmindert.- 1  l'nd 
bei  einer  durchgreifenden,  nicht  auf  cin/elnr  Rraiichen  beschränkten 
Hebung  des  allgemeinen  Lohnniveaus  ist  üjcsc  letztere  Tendenz  die 
durchschlagende.'^) 

.^o  gelange  ich  denn  zu  dem  Schlüsse,  dafs  die  rasche  Zunalunc 
der  I-raiu  narbeit,  haupt>ärliiirli  in  tler  hidustrie,  nur  ins«  »lange  eine 
HegleilersclicimniL;  <lcr  \t •Ikswirlschaftlichcn  Entwicklung  ist,  als  der 
soziale  Fortschritt  hinter  dem  technischen  zurückbleibt,  dafs  aber, 
sobald  der  .Abstand  zwischen  dem  sozialem  und  dem  technischem 
Niveau  sich  vermindert,  Gegentendenzen  lebendig  werden,  welche  die 
Frauen  zunächst  von  jenen  Arbeitszweigen  oder  Arbeitsbedingungen 

*)  Beispirlsweise  erinnere  ich  an  den  Uebergang  TOtt  der  Flachprease  tnr  Ro- 

t.niiün>prcs-ii'  im  ^ucl»^ruckc^^:<•^verbc ,  oder  an  die  Einführung  von  Maschinen  in 
einzelnen  Zwei^^cn  der  Beklciduni^sindustrie,  wodurch  die  Zahl  der  darin  bewhiftigtcn 
Frauen  vemiindrrt,  jene  der  Männer  vergrofsert  worden  ist. 

'•')  Vgl.  kud.  Martin,  Die  Ausscbliei'üUDg  der  verheirateten  Frauen  aus  der 
Fabrik.     l  ubingen  1897,      45  ff. 

Der  Einflnfs  der  FamiUenstaikbverbilUiiaie  in  der  darin  eingetretenen  Vet^ 
schiebnngen  auf  die  Erwerbtbätigkeit  der  Frauen  soll  im  nichsten  Absdbaitte  er* 
örtert  werden. 


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Die  Berufs-  und  üewerbczahluiig  im  Deutschen  Kcicli  vom  14.  Juni  1895. 

befreien,  in  welchen  der  Widerspruch  mit  den  natürlichen  und  ethischen 
Aufgaben  der  Frauen  am  lebhaftesten  empfunden  wird  und  die 
Schäden  der  Frauenarbeit  iiir  unser  gesamtes  Volksleben  am  ge- 
fährlichsten sind.  Noch  ist  das  Deutsche  Reich  nicht  in  dieses  Ent* 
wicldungsstadium  eingetreten.  Wir  sehen  vielmehr  die  Frauenarbeit 
auf  der  ganzen  Linie  im  Vorrücken  begriffen;  nur  ausnahmsweise, 
sumeist  in  rückläufigen  Berufen  nimmt  sie  ab,  und  wo  dies  der 
Männerarbeit  gegenüber  der  FaU  is^  haben  wir  die  Ursache  mehr 
in  ganz  speziellen,  in  den  betreffenden  Berufen  ^^elegenen  Veran- 
lassungen wie  in  der  Hebung  der  gesamten  sozialen  Lage  zu  suchen. 
Noch  nimmt  die  spezifische  Kapazität  dt  r  Volkswirtschaft  für  Frauen- 
arbeit rasch  zu.  Noch  hat  sie  kein  wirksames  Gegengewicht  ge- 
futulen  in  den  Bedürfnissen  des  Hauses  und  der  Familie,  welche 
die  Frau  im  Namen  der  künftii^cn  Generationen  für  sich  in  An- 
spruch nehmen.  Noch  schöpft  die  rasch  gesteigerte  Arbeitsnach- 
frage, welche  der  männliche  Nachwuchs  nicht  befriedigen  konnte, 
aus  dem  weiten  Reservoir  der  Frauenkraft,  die  bisher  der  Familie 
angehören  durfte,  anstatt  dals  die  fehlenden  Arbeitskräfte  durch 
technische  Fortschritte  ersetzt  würden,  welclie  die  Produkte  itat  der 
verfügbaren  Hände  erliölien.  ^)  Allein,  wenn  ich  die  Krgebnissc  der 
Berufsstatistik  jener  Staaten  richtig  gedeutet  habe,  deren  technische 
und  soziale  Kntwicklung  der  unseren  in  manchen  Stücken  voraus- 
geeilt ist,  so  wird  jene  grofse  Bewegung,  welche  die  I'Vau  aus  der 
geschlossenen  Hauswirtschaft  in  die  volkswirtschaftliche  Produktion 
uberführt,  auch  im  Deutschen  Reirlie  langsamer  werden,  später  stille 
stehen  und  endlich  \icikicht  teilweise  durch  Rückbildungen  unter- 
brochen w  erden.  Und  Ansätze  in  dieser  Richtung  hat  auch  sclion  die 
deutsche  Beruiszählung  von  1895  in  der  geographischen  (iestaltung  der 
Frauenarbeit  zu  Tage  gefördert.  Ich  erinnere  nur  an  ihre  relative 
Abnahme  gegenüber  der  Männerarbeit  in  ausgedehnten  Gebieten  und, 
an  die  besondere  Gestaltung  nach  Ortsgröfsenklasscn,  welche  gerade 
iiir  die  höheren  Wutschaftsstufen  der  gröfseren  Wohnplätze  die 

<)  SelbstverstSndlicb  ist  «neb  im  Deutschen  Reiche  die  Produktivit.ät  de  r  Arbeit 
durch  den  technischen  Fortschritt  ungemein  gesteigert  word<"n.  Allein  ich  meine, 
man  hat  ihn  nicht  in  solchem  Mafse  ausgenützt,  um  die  Einstellung  von  neuen 
weiblichen  Arbeitskräften  über  das  männliche  Arbeit!»angebot  hinaus  entbehrlich  zu 
machen.  Noch  stehen  die  weiblichen  Arbeitsluhne  m>  niedrig,  dafb  die  Einstellung 
Ton  mdir  Frauen,  also  die  Mtansire  Ausnutzung  weiblicher  Arbeiuiträfte  profitabler 
cisdbeint  th  höhere  KApitalsinvestitioiicn  und  die  iatensivere  Aonlltcang  der 
Mlaneilcnft 


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3^2  H.  R»iichb«rg, 

niedrigeren  Prozentsatze  der  Frauenarbeit  überhaupt  und  die  ge- 
ringeren Zuwachsprozente  der  industriellen  Frauenarbeit  ergeben  hat*) 

Ich  hrauclic  nicht  erst  besonders  hervorzuheben,  daß  diese 
Pro<;iv)se  IjIoI's  für  die  Hauptgebiete  der  proletarischen  Frauenarbeit 
L^ilt,  in  welcher  das  Hauptgewicht  der  Frauenarbeit  überhaupt  lieg:t 
Im  uhriq^en  mufs  die  gesamte  P-ntwicklun«:^  /II  weiteren  Fortschritten 
des  Frauenerwerbs  führen.  Habe  ich  doc  h  schon  firuher  ^^czeigt, 
wie  die  Arbeits/erle^nin^  in  fast  allen  Berufen,  auch  in  solchen,  die 
bisher  als  ausschUelslich  oder  [^anz  übcrwie^^end  männlich  galten, 
fort  und  fort  neue  Arbeitsorelej^enheiten  für  Frauen  schafft.  Der 
Druck  der  X'crhältnisse  hat  die  Frauen  thatsächlich  in  jene  Berufe 
cinL,a'fuhrt  und  das  wird  in  Zukunft  zweifelsohne  in  noch  höherem 
Malsc  d(T  Fall  sein.  Alx  r  liir  die  Fraj^e  der  I'Vauenarbeit  über- 
hau|)t,  für  ihre  licdeutun^  für  unser  «ganzes  Volksleben  ist  das  nicht 
entsch(Mdend.  L^enn  dicsr'  FiitsciieidunL;  licj.,^t  auf  dem  Hoden  jener 
verhiiUiii^inälsi«^  wcni.;  /alilreiidien  lUruic.  welche  die  uberwiegende 
Mehrzahl  aller  erwerblhäti^uii  I  rauen  in  sich  vereinen.-)  Von  noch 
<^erini^erem  Belang  sind  in  dicker  Richtung  diejenigen  Berufe,  auf 
welche  die  Bestrebum^en  der  burt;crliclien  Fraucnlxwegung  gerichtet 
sind.  (iL  wils  u  erden  auch  hier  manche  hindernde  Schranken  lallciu 
Allein  so  wichtig  das  aucii  in  |)rin/.ij)icller  Minsicht  sein  mag,  vom 
Standj>uiiktc  der  gesellschaftlichen  h.ntwicklung  ist  der  Umfang 
jener  viel  umworbenen  Berufe  \iel  zu  gering,  als  dafs  sie  für  die 
Zukunft  der  Nation  von  erheblicher  Bedeutung  werden  könnten. 
Dazu  kommt  noch  ein  Anderes:  Während  die  proletarische  Frauen« 
frage  gerade  bei  den  Verheirateten  am  brennendsten  ist,  bleibt  die 
bürgerliche  Frauenfrage,  soweit  sie  den  Erwerb  betrifft,  hauptsäch- 
lich auf  die  Unverehelichten  beschränkt  Sie  ist  gcwissemuiseD 
die  Umkehrung  der  Heiratsfrage.  Das  macht  sie  zwar  doppelt 
i>rennend  für  die  hiervon  Betroffenen,  drückt  aber  ihre  Bedeutung 
für  die  gesamte  gesellschaftliche  Entwicklung  herab.  Denn  fitr 
diese  stehen  die  Interessen  der  kommenden  Generation  in  erster 
Linie.  Was  daran  keinen  Anteil  haben  wird,  bleibt  gleichsam  eine 
quantit^  negligeable.  Und  so  sehen  wir  uns  denn  zum  Schlüsse 
hingewiesen  auf  den  nächsten  Abschnitt,  welcher  die  Atters-  und 
Familienstandsverhältnisse  behandelt  und  den  vorliegenden  Abschnitt 
durch  die  Erörterung  der  eheweiblichen  Arbeit  ergänzen  soll 

')  Vgl.  die  Ausfllbrang«!!  auf  .S.  362. 

')  6  Berufsgruppen  nmfaMen  rasamineii  94,53  Prozent,  33  Berafsacten  94,16  Pro* 
zeBt  aller  Frauen  mit  Hauptberuf.   Vgl.  oben  S.  346  f. 


uiyiiizeo  Dy  Google 


Die  Berufs«  und  GewerbcMhlung  im  Deutschen  Reich  vum  14.  Juni  1893. 


XIV.  Alter  und  Familienstand  der  Erwerbthätigen. 

1.  Die  Altersgliedervng. 

Die  Gnindzügc  der  Altersgliederung  des  deutschen  Volkes 
habe  ich  bereits  im  I.  Abschnitt  dieses  Hauptteils  angedeutet ')  In 
welchem  Zusammenhang  sie  mit  den  Berufe-  und  Erwerbverhält- 
nissen steht,  haben  wir  nunmehr  zu  untersuchen.  Die  Bearbeitung 
der  einschlägigen  Materialien  weist  1S95  insofern  einen  erheblichen 
Fortschritt  gegenüber  der  Berufsstatistik  von  1882  auf,  als  die 
jugendlichen  Altersklassen  von  12 — 20  Jahr  nunmehr  von  je  2  zu 
2  Jahren  abgestuft  sind.  Gewerberechtlichen  und  sozialpolitischen 
Gesichtspunkten  wird  dadurch  in  angemessener  Weise  Rechnung 
getragen.  Auch  sind  wir  so  in  die  Lage  versetzt,  den  allmählichen 
Uebertritt  aus  der  Kat^orie  der  Familienangehörigen  in  jene  der 
Erwerbthätigen  genauer  zu  verfolgen.*) 

Zunächst  haben  wir  den  Elnflufs  des  Alters  auf  die  Stellung 
zum  Berufe  oder  auf  die  Kategorien  der  Berufszugeliör ig- 
keit  zu  untersuchen.  Die  Unterlagen  hierzu  sind  in  den  beiden 
nach  stehenden  l'cbcrsichten  enthalten,  von  denen  die  eine  die  ab- 
soluten, die  andere  die  Verhältniszahlen  bringt. 


Erwerb»  B^-ruflosp 

Altersklassen  thülifjf  Dienende  Angehörige  Selbständige 

unter  12  Jahr     ....         32^'^;  7812  144M9141  194316 

12  bis   14    „                            148700  25689  1880  118  ^SA^*^ 

U  ..  16  „   1131723  153288  7732S3  5552» 

16  „  18  „   1397 161  199916  458286  49295 

I*       ao    145»  206746  383673  4»  644 

«ater  14  Jahr     ....       181453  335°!  1^379-59  -2507'^ 

14  bis  20   3980147  5599$°  1 615242  146461 

unter  20  Jahr      ....  4101600  593451  17994  501  400179 

20  bis  30    ,,   5513 '21  519427  23^7454  113747 

30    „    40   3^3^.^^.>  105197  ^504822  106S33 

40        50    30S9009  51554  1947^*63  173  »5» 

SO  „  60  „   ^37(428  38077  1385465  303988 

60  „   70  „   1263414  «»795  801032  475028 

70  Jahr  und  d«rttb«r  .   .   .       n  <      >  8815  43<>U8  563881 


Summe  .   .   .   20770875      13393(6      27517285  2142808 

'1  Archiv  lür  soziale  GesetzRebunu  und  Stati-^tik  XIV.  Bd.  S.  265  f. 
-I  AUcrdiniijM  wure  es  huclist  «  rwiiiiM  lit,  allen  derartigen  Lnlersuchungeu  den 
Altersaufbau  nach  einzelnen  Altcr^juhreu  zu  Grund  legen  zu  können.  Jeden&Us 


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374 


H.  Rauch berg, 


Von  je  100  Personen  jeder  Altersklasse  ^nd  daher 


Erwerb- 

bcmfloie 

Alters  Klassen 

UlaDge 

SCUnVUMIIge 

o/>5 

98^41 

1,21 

88,68 

3«09 

7.25 

36,58 

2,63 

9.50 

21,78 

2,54 

18,42 

2, 00 

,      1  />s 

0,20 



97. >8 

i»S4 

8,89 

2,3a 

77.71 

1,76 

6,09 

27.98 

t.33 

38,10 

»59 

0,98 

37,02 

3,29 

0,93 

33,i» 

7,42 

•     49.3 1 

0,89 

3  ».26 

18,54 

«9.24 

0,62 

30,59 

39.55 

im  ganzen  .  . 

.  4o.ta 

a.59 

53,  »5 

4.U 

Mit  zunehmendein  Alter  wechselt  auch  die  Zu^oh  n  i^^keit  zu  den 
hier  unterschiedenen  vier  Bc\  ölkenin-^so^ruppcn.  Auf  der  untersten 
Alterstufe  gehören  so  ziemlich  Alle  der  Gruppe  der  Familienange- 
hörigen an.  Nur  jene  Kinder,  die  in  fremde  Obhut  ausgcthnn  sind, 
werden  aus  zählun^^stechnischcii  ririindcn  den  beruf  losen  Selbslän- 
<H;^en  zugezählt.  Schulbesuch,  Iü■zieluulL,^  Bcnifsvorl)ereitung  u.dgl. 
l  rs.ichen  sind  es  zumeist,  welche  die  Kinder  aus  dem  I\licrnhaus 
führen;  am  häufigsten  ist  dies  auf  der  Stufe  von  12 — 14  j:ihr  der 
Fall.  Fortab  nimmt  die  Kategorie  tlcr  h'amilienangehürigcn  relativ 
ab,  um  auf  der  Alteistufc  von  20  —  30  Jahr  ihren  Tiefstand  zu  er- 
reichen. Vom  14.  Jahr  ab  wird  sie  durch  den  Uebertritt  in  die 
Kategorien  der  Erwerbthätigen  und  der  Dienenden  rasch  gelichtet; 

kann  die  vom  ZiUnngswerk  verbeifsene  solide  Basis  fhr  die  Versichcnuigsstatislik 
auf  andere  Weise  nicht  gelegt  werden,  kh  verkenne  jedoch  nicht,  wddier  Arbeits* 
aufwand  —  insbesondere  ohne  die  Anwendung  von  eldtrisdien  SQUdnuuefajnen  — 
damit  verbanden  w&re;  anch  ist  ziimgcbrn,  dafs  die  VeröffentUchung  der  so  ge- 

wonnenen,  ilberau';  umfangreichen  Tabfllt-n  kaum  noch  anginge.  Tnimerhin  mochte 
CS  sicli  für  die  Zukunft  i  ni|,fi-liU-n,  die  Aher><itufe  von  12  bis  20  lahr  in  die  ein- 
zehun  Ahersjahre  auf^ul<>>cn,  und  darüber  liinaus  anstatt  der  lo j.'iltrißen  ^  iährige 
Altersstufen  zu  bilden.  Aus  welchen  Ursachen  der  Altersaufbau  nicht  nur  für  die 
Benifsthätigen ,  sondern  fUr  alle  Kategorien  der  Bemfszugchörigkcit  ausgewiesen 
werden  sollte,  werde  ich  später  zeigen. 


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Die  Berufs-  und  Gewerbczahlung  im  Dcuuchcn  Reich  vom  14.  Juni  1S95. 


ihr  Tiefstand  fallt  in  die  Stufe  von  i8  bis  20  Jahr  mit  18,42  Pro- 
zent Auf  der  gleichen  Stufe  sind  die  Kategorien  der  Erwerb- 
thätigen  und  Dienenden  anteilsweise  mit  69^66  und  9,92  Prozent 
am  stärksten  besetzt.  Fortab  macht  sich  beim  weiblichen  Ge- 
schlecht der  Einflufs  der  XTerehelichung  dahin  geltend,  dafe  er  zahl- 
reiche früher  erwerbthattge  oder  dienende  Personen  in  die  Kate- 
gorie  der  Angehörigen  zurückversetzt.  Sie  erreicht  daher  in  der 
Klasse  von  30-40  Jahren  neuerdings  einen  Hochstand,  um  fortab 
allmählich  aber  ununterbrochen  abzunehmen,  hauptsächlich  infolge 
der  X'crwitwung.  Denn  dadurch  wird  die  Mehrzahl  der  früher  als 
Angehörige  gezählten  filicfraucn  entweder  zu  eigenem  Erwerb 
nötigt,  oder  doch  in  die  Gruppe  der  beruflosen  Selbständigen 
über<:^cführt.  Die  Kategorie  der  Erwerbthätigen  aber  wird  vom 
30.  Lebensjahr  ab  fortwälircnd  <j;«  li("]itct ;  zunächst,  wie  bereits  er- 
wähnt, infoli;e  des  I-mtlusses  der  Eheschlicfsunc^en  auf  den  Frauen- 
er\\'crb,  dann  durch  den  Uebertritt  von  Invaliden  oder  sonstigen 
Personen,  die  sich  von  ihrem  Beruf  zurückziehen,  in  die  Katc-^orie 
der  beruflosen  Selbständigen.  Bis  zur  Grenze  von  60  Jahren  macht 
das  noch  nicht  viel  aus  uiul  wird  zum  Teil  auch  aufL^cwo-^fcn  durch 
die  neuerliche  RcteiliL,nni^  der  Witwen  am  Erwerb;  im  Alter  von 
60 — 70  Jahren  ist  aber  nur  noch  die  kleinere  Hälfte  erwerbthätig. 
Die  Mehrzahl  der  Greise  über  70  Jahr  sind  beruflose  Scli)ständigc. 

Allerdings  sind  die  Zahlen  über  die  Kinder-  und  die  Greisen- 
arbeit nur  mit  gröfster  Vorsicht  aufzunehnu  n.  Denn  der  Eintritt 
in  die  Erwerbsthätii;keit,  sowie  der  Austritt  aus  tiorselben  vollziehen 
sich  häufig  nur  ganz  allmählich,  in  unmerklichen  l  cbergängen.  Eine 
scharfe  Grenze  kann  dabei  nicht  gezogen  werden.  Immer  bleibt 
dem  subjektiven  Ermessen  ein  gewisser  Spielraum  eingeräumt.  Es 
ist  psychologisch  leicht  zu  erklären,  dafs  Beginn  und  Ende  der  Be- 
rufethätigkeit  den  Beteiligten  häufig  erst  bewufst  werden,  nach- 
dem die  von  der  Erhebung  gewünschte  Grenze  schon  längst 
überschritten  ist.  Die  Angaben  über  die  Kinderarbeit  werden 
daher  zu  nieder,  die  Angaben  über  die  Greisenarbeit  zu  hoch  aus- 
fallen. Bei  der  Kinderarbeit  kommt  noch  dazu,  da&  sie  oft  nicht 
den  arbeitenden  Kindern,  sondern  den  Eltern  oder  anderen  Personen 
zu  statten  kommt,  die  es  nicht  Wort  haben  und  die  Kinder  nicht 
als  Subjekte  eigenen  Erwerbs  anerkennen  wollen.  Absichtlich  oder 
doch  fahrlassigerweise  wird  für  solche  Kinder  die  Berufeangabe 
unterlassen,  ja  selbst  die  Bezeichnung  ihrer  Thätigkeit  als  Neben- 
erwerbb    Das  ist  psychologisch  so  tief  begründet,  dafs  man  von 


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376 


H.  Rftttcbberg, 


den  Eltern  oder  sonstigen  Machtbabem  niemals  Verlälsliches  fiber 
den  Kindererwerb  wird  erfahren  können.  Die  Erwartung,  dafe 
eine  SpezialStatistik  der  Kinderarbeit  gleichsam  als  Nebenfrucht  der 
allgemeinen  Berufsstatistik  wärde  geerntet  werden  können,  ist  eine 
trügerische.  Die  Fragen  müssen  vielmehr  an  solche  mit  der  Sacb> 
läge  genüf^cnd  vertraute  Personen  L^orichtet  werden,  die  nicht  an 
der  VcrschIeicrun«T,  sondern  an  dt  r  Klarlegung  der  thatsächlichcn 
VcihälliiivM-  ein  Interesse  haben,  also  in  erster  Linie  an  die  Lehrer 
oder  Kinderschutzvereine  und  durch  deren  V^crmittlung  an  die  Kinder 
selbst.  Auch  wäre  eine  viel  cincjehendere  Fragestellun<^  erforder- 
lich, womit  man  die  allgemeine  Bcrufszählunj^  nicht  belasten  kann. 
Mit  einem  Worte:  die  Kinderarbeit  ist  nur  durch  Spczialenqueten  zu 
erfassen.  Dann  kommt  man  /u  pjanz  anderen  I' r^clinissen.' 's  Da  wir 
es  hier  mit  einer  Frai:je  zu  ihun  haben,  in  welcher  die  Bcrufszählung 
versat;t,  <;etlenke  ich  darauf  nicht  mehr  (U  ^  Näheren  zurückzukommen. 

Was  aber  die  ( ireisenarbeit  anbt  !ani;t,  so  ist  es  wiederum 
j!sychol()»(isch  leicht  beirrciflirh.  wenn  sich  dreise,  obwohl  sie  that- 
'-ächlich  nicht  mehr  eru  erb  t  iiä  t  i  g  sind,  mit  ihrem  VDrmall^en 
]k"ruf  be/eii  linen,  insl)cs< fiidere  wenn  flie  früheren  Be^i^/^■e^llahnisse 
noch  fortl)e.>lehen.  I  haisachlich  haben  wir  es  hier  aber  eben  mit 
solchen  zu  thun  und  nicht  mit  lk-rufs\  oi  hältnissen  im  Sinne  der 
Statistik,  Damit  stimmt  übcrciu,  duis  die  ganz  überwiegende  Mciir- 
zahl  der  als  erwerbend  angegebenen  (ireise  der  Berufsstellung  nach 
Selb>täiidige  sind.  Sicherlich  haben  es  die  höheren  sozialen  Schichten 
nicht  so  notwendig,  wie  die  unteren,  die  Erwerbthütigkeit  bis  in  das 
Gretsenalter  zu  erstrecken.  Aber  während  bei  diesen  das  harte 
Urteil  des  Arbeitgebers  über  die  Erwerbsfahigkeit  entscheidet, 
urteilt  der  Selbständige  in  eigener  Sache,  und  er  will  sich  lieber 
nach  seinem  vormaligen  Berufe  bezeichnen  denn  als  Rentner  oder 
vollends  als  Familienangehöriger.  1,5*^/,,  erwerbthätige  Kinder  unter 
14  Jahr  sind  also  offenbar  viel  zu  wenig,  nahezu  30'Vo  erwerbthätige 
Greise  über  70  Jahr  viel  zu  viel. 

Wie  wir  eben  gehört  haben,  übt  das  Alter  beim  weiblichen 
Geschlechte  einen  anderen,  viel  wechselvolleren  Einflufs  auf  die 
Stellung  zum  Berufe  aus,  wie  beim  männlichen.  Denn  vom  Alter 
hängt  hinwiederum  der  Familienstand  ab,  und  dieser  ist  bei  den 
Frauen  von  noch  einschneidenderer  Bedeutung  (ur  die  Beteiligung  am 

1}  Vgl.  Conrad  Agahd.  Die  Erwerbthätigkeit  scbulpflklitiger  Kinder  tm 
Deutschen  Reich.   .Vcbiv  fttr  soziale  Sutistik  tmd  Verwaltung  XII.  Bd.  S.  373  £ 


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Die  Bcruü-  und  ücwerbczählung  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  1S95. 


Erwerb  wie  beim  männlichen  Geschlecht  Wie  weit  dieser  £influfe 
reicht,  wird  vollends  klar,  wenn  wir  die  einzelnen  Altersstufen  nach 
den  Kat^orien  der  Berufezuhihrigkeit  für  jedes  Geschlecht  abge« 
sondert  gliedern.  Dazu  ist  die  folgende  Au&tellung  bestimmt: 

Von  je  100  Personen  jedes  Geschlechts  und  jeder  Alters- 
klasse sind 


Erwerb- 

berafloBe 

Alteriklaisen 

Ihätige 

Dienende 

urigr 

Selbständige 

WA  n  W\  VI  1 

niänui. 

wcibl. 

niünni. 

Wcibl. 

männl. 

wcibl. 

männl. 

Wcibl. 

unter  1 2  Jahr    .  . 

0,34 

0,CX7 

0,10 

98,32 

'■34 

1.30 

12  bis  14    „      .  . 

9,83 

4,21 

0,07 

2.35 

.S(i.4l 

90,96 

3.69 

2,4s 

14    "    16    „      .  . 

72,11 

34,95 

0,20 

«4,31 

24,55 

48.63 

3,H 

2,11 

16    „    18    „     .  . 

86,96 

46,08 

0,23 

18,65 

9,8» 

33.57 

2,99 

1,70 

18  „  ao  „    .  . 

91.36 

48,44 

0,25 

•9,39 

30.9a 

»,77 

i.»5 

unter  14  Jahr  .  . 

>.54 

0,61 

0,01 

0,39 

96,82 

97,55 

»,45 

14  bis  20    „      .  . 

83.40 

43.  »5 

0,22 

17,45 

»3.41 

37,71 

2,97 

1,69 

unter  20  Jahr    .  . 

23.72 

12,25 

0,07 

5,05 

74.22 

81,19 

1.99 

».51 

20  bis  30  „ 

95,67 

34.13 

0,26 

11,80 

2.37 

53,10 

1,70 

0,97 

30    n  40 

97,62 

20,94 

0,10 

2,98 

0,85 

74,34 

».43 

1,74 

40    „    50    „     .  , 

9646 

«3.46 

0^ 

1,84 

0.68 

70.95 

2,80 

3,75 

50    it    ^    »»     .  • 

92,5» 

»6,76 

0,0$ 

1.7a 

0,98 

63.24 

6,45 

8.28 

60    „    70  II 

7«.93 

»3^94 

0,05 

1,61 

3.15 

55.34 

«7,87 

19,11 

70  Jahr  und  <  ir 

4  7vU 

14.4''' 

0,04 

1 ,09 

iu,5S 

-1-  M 

im  gnuen .  . 

61^3 

I9»97 

0,10 

4.99 

34.83 

7031 

4,04 

4.a3 

Beim  männlichen  Geschlecht  dauert  also  der  Ueberganj^  zur  Krvverb- 
ihätii^keit  bis  zum  40.  Jalire  an.  Darüber  hinaus  nimmt  der  Prozentsatz 
der  l.rwcibthätigen  ab,  wenn  aucii  nur  ganz  allmählich.  Die  Kate- 
gorie der  Angehörigen  erreicht  auf  der  Stufe  von  40 — 50  Jahren, 
jene  der  beruflosen  Selbständig^en  auf  der  Stufe  von  30 — 40  Jahren 
ihren  Tiefstand.  Gans  anders  bd  den  Frauen.  Das  Maximum  der 
Erwerbthätigen  und  Dienenden  und  das  Minimum  der  Angehörigen 
wird  hier  schon  auf  der  Stufe  von  18 — 20  Jahren  erreicht  Schon 
auf  der  Stufe  von  20 — 30  Jahren  beginnt  der  Einflufe  der  Verehe- 
lichung sich  geltend  zu  machen  und  auf  der  Stufe  von  30 — 40  Jahren 
hat  er  die  Vertretung  der  Erwerbthätigen  und  Dienenden  erheblich 
herabgedrückt,  jene  der  Angehörigen  entsprechend  emporgeschnellt 
Fortab  zeigen  sich  aber  die  Folgen  des  durchschnittlichen 
höheren  Heiratsalters  und  der  gröfeercn  Sterblichkeit  der  Männer. 
Immer  mehr  Frauen  werden  Witwen  und  ein  erheblicher  Teil  der- 
selben wird  dadurch  zu  eigenem  Erwerb  genötigt  Daher  eine  un« 

Archhr  für  tot.  G«MUCtbuaff  «.  Sutiatik.   XV.  3$ 


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^^g  H,  Rancbberg, 

unterbrochene  Steigerung  in  der  Gruppe  der  beruflosen  aber  selbst- 
Standigen  Frauen  und  eine  neuerliche  —  wenn  aucli  nicht  absolute 
so  doch  vcrhähnismäfsige  —  Zunahme  der  erwerbthatigen  Frauen» 
welche  erst  hei  der  Grenze  von  60  Jahren  abnimmt  ZU  Gunsten  der 
scIbständiL:!  ti  Fierufsloscn.  Kurz,  für  die  Männer  entscheidet  das 
Alter,  für  die  I  raucn  aber  in  erster  Linie  der  Familienstand  über 
die  Stcllun<T  zum  Beruf. 

Im  Vergleich  zu  den  einschlägigen  Ergebnissen  der  Berufs- 
zählung von  1S82  hat  die. Vertretung  der  Erwerbthatigen  fast  auf 
allen  .Mtcrsstufen  zugenommen,  am  meisten  aber  auf  den  jugend- 
liclicn.  Sehen  wir  genauer  zu,  so  werden  wir  gewahr,  dals  die 
Steigerung  der  Erwerbsintensität  auf  der  untersten  .Mtersstufe  — 
unter  20  Jahren  —  hauptsächlicii  beim  männlichen  (leschlechi  ein- 
getreten i>t,  auf  allen  anderen  aber  fast  ausschlielslich  beim  weib- 
lichen: ja  es  ist  auf  ein/.clnen  Stufen  der  Prozentsatz  der  erwerb- 
thatigen Männer  sogar  um  ein  Geringes  zurückgegangen,  haupt- 
säclilich  zu  gunstcn  der  beruflosen  Selbständigen.  Es  waren  näm- 
lich erwerbthätig  von  je  loo  Personen 


1S95 

188a 

Altersklassen 

mlnnl. 

weibl. 

Eusanunen 

weibl. 

unter  90  Jahr  . 

ia.>5 

»7,97 

«»,77 

II,3t 

16^6 

ao  bis  50  „ 

95.67 

34,13 

64,60 

96,34 

31,9« 

63,5« 

30  ».  40  II     •  • 

97,6a 

».94 

58.75 

97,61 

18,50 

57.09 

4©   »    50   ♦»     •  • 

96^6 

23.46 

58,71 

97»04 

21.98 

58,60 

50    „    60   „     .  . 

02. 52 

■57.85 

93-68 

25.SI 

5S.13 

60    .,    70    .,     .  . 

49.3» 

79.80 

22,71 

49  56 

70  J.itir  und  mohr 

47. .'4 

U.46 

2Q.24 

4f'.48 

13.26 

2S.5;2 

im  ganzen  .  . 

61,03 

»9.97 

40,  i  2 

00,37 

18,46 

38.98 

Demzufolge  haben  ^ch  die  nachstehend  ersichtlich  gemachten 
Veränderungen  in  der  Altersgliederung  der  Erwerbthatigen  ergeben: 
\^on  je  100  Erwerbthatigen  entfallen  auf  die  nebenbezeichneten 
Altersklassen 


1S95 

18S2 

A  1 1  c  r  s  k  1  ;v  >  s  c  n 

nianiil. 

\Vftl)l. 

zusammen 

mannl. 

weibl. 

zusanmirn 

unter  20  Jalir  . 

i-,oS 

26,07 

20,04 

16.40 

26,79 

lS,9i 

20  bis  30    „      .  . 

26.07 

27,93 

26,54 

25-35 

27,49 

25,SÖ 

30    „    40    „      .  . 

30,90 

13,58 

19,04 

30,90 

13,06 

19,01 

40    ,1    50           •  • 

15,81 

12,13 

14,87 

16,88 

I3,6o 

»5,85 

50    „    60  „ 

11,56 

10,98 

»M« 

11,70 

11,14 

11,56 

60    „    70           .  . 

6,03 

6.38 

6,08 

6,88 

6,9« 

6,89 

70  Jabr  und  darüber 

1,96 

«,«5 

3,01 

1,89 

* 

3,00 

1,9« 

Digitizea  by  LiOU^^I^ 


Die  BcruJs-  und  Gewcrbczählung  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  1S95. 


Wir  sehen  also:  die  unteren  Altersstufen  sind  1895  vei^gleichs- 
weise  starker,  die  höheren  —  mit  Ausnahme  des  Ghreisenalters  — 
schwacher  mit  Erwerbthätigen  besetzt  wie  1882.  Bemerkenswert 
ist  dabei,  dafs  die  Quote  der  Erwerbthätigen  unter  20  Jahren  1895 
gegenüber  1882  beim  männlichen  Geschlecht  um  1,28,  beim  weib- 
lichen aber  nur  um  0^18  verstärkt  erscheint  Der  männliche  Nach- 
wuchs  ist  somit  stärker  in  Anspruch  genommen  worden  wie  der 
weibliche.  Ich  erblicke  darin  einen  neuen  Beleg  (Ur  die  im  vorigen 
Abschnitte  vertretene  Ansicht,  dafs  die  gesteigerte  Einstellung  von 
weiblichen  Erwerbthätigen  zur  Deckung  des  vollen  Arbeitsbedarfes 
erforderlich  gewesen  ist,  nachdem  der  männliche  Nachwuchs  so  gut 
wie  aufgebraucht  war.*) 

Die  Erwerbsarbeit  des  deutschen  Volks  ist  also  intensiver  ge- 
worden. In  zweifacher  Richtung:  zunächst  nehmen  auf  jeder  einzelnen 
Altersstufe  nicht  nur  absolut,  sondern  auch  im  Verhältnis  zur  Gcsamt- 
bevölkcrung  mehr  Personen  teil  am  Erwerb  wie  früher.  Dann  aber 
ist  die  Intensität  der  Bcrufsthätigkeit  auch  dadurch  ^M  stcigcrt  worden, 
dals  CS  insbesondere  der  Nachwuchs  und  die  jün^^ffreii  Altersklassen 
sind,  aus  welchen  das  Plus  an  Erwerbthätigen  hervorgeht.  Nicht  nur 
vergrölsert  sondern  auch  verjünLaTt  ist  die  ( iesamtmassc  der  Heruf- 
thätigen.  Mit  grölserer  FCncrgie  kann  sie  daher  ihre  Zielr  \d  folgen, 
und  sie  hat  Aussicht  ihre  Thätigkcit  länger  zu  ci^trct  krn  wie  die 
abtretende  (ieneration.  Wir  dürften  diese  Kräftigung  unserer  Volks- 
wirtschaft mit  (  leiiugthuung  begrüfscn,  wenn  wir  nicht  die  Zunahme 
der  Kuuici  -  und  Frauenarbeit  als  unerfreiiliclie  Begleiterscheinungen 
mit  in  den  Kauf  nelimen  mülsten.  Jedenfalls  aber  sind  es  Symi)tome 
des  hochgespannten  Menschenbedarfs  der  deutschet)  Volkswirtschaft.-) 

Indem  ich  nunmehr  daran  gehe,  die  Altersgliederung  in  den 
einzelnen  Berufen,  und  zwar  zunächst  nach  den  grofsen  Berufs- 
abteilungen zu  besprechen,  mufs  ich  bemerken,  dafs  die  Alters- 
gliederung —  und  ebenso  auch  die  Gliederung  nach  dem  Familien- 
stände —  nur  fiir  die  Berufthätigen,  nicht  aber  auch  fiir  die 
anderen  Kategorien  der  Berufezugehörigkeit  ausgewiesen  wird.  Wenn 
ich  es  auch  vollkommen  begreife,  ödSs  die  Kombinationen  nicht  bis 
ins  Uferlose  ausgedehnt  werden  konnten,  so  bleibt  es  doch  zu  be- 

»)  Vgl.  üben  S.  336. 

Die  Zunahme  der  Greisenarbeit  erwähne  ich  nicht  unter  diesem  Gesichts- 
punkte, weil  mir  die  Ergebmsie  aus  den  auf  S.  376  geltend  gemachten  Gründen 
nicht  verUlftlich  genug  scheinen,  und  die  Venchiebongen  flbrigens  nnr  ganz  gering* 
nigig  sind. 

»5* 


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380 


H.  Kauchberg, 


dauern,  dafs  jene  Einschränkung  es  unmöglich  macht,  einen  wich- 
tigen und  interessanten  Gesichtspunkt  aufzustellen  und  zu  verfolgen: 
nämlich  die  Erwerbthatigen  in  jedem  Beruf  zu  ihrem  Nachwuchs 
in  Beaehung  zu  setzen  und  zu  untersuchen,  inwiefern  der  Nach' 
wuchs  den  voraussichtlichen  Bedarf  deckt,  die  Menschenbilanz  der 
einzelnen  Berufe  also  aktiv  oder  passiv  abschlie&t  Einblick  wäre 
auf  solche  Weise  zu  erlangen  gewesen  in  die  Frage  der  erblichen 
Beru&folge  und  des  Menschenaustauschs  der  einzelnen  Berufe,  bt 
das  nun  auch  ausgeschlossen,  so  bietet  doch  die  Untersuchung  des 
Alters  der  Erwerbthatigen  nacli  einzelnen  Berufen,  sowie  der  hierin 
eingetretenen  Aenderungen  seit  1882  genug  des  Interessanten.  Die 
ziffernmälsigen  Unterlagen  hierfür  sind  in  der  nachstehenden  Ueber* 
sieht  enthalten: 

Im  nebenhezeichneten  Alter  stehen  von  je  ICD  Erwerbthatigen 
der  Berufisabteilung 


Land« 

Lohn- 

Sonstiger öflfüllt* 

und 

In- 

Handel 

arbeit 

Armee 

lieber  Dienst 

4  •  A  %  %F  «    V  ■%  *  V*  4#  V  ^ 

Forst* 

dustrie 

und  Wechselntier 

und 

und  freie 

wirlüchaft 

Verkehr 

Art  etc. 

Mariue 

Beruf&artcD 

im 

Jahre  1895 

unter  12  Jahr 

0,37 

0.02 

O.Ol 

0,05 

0,0t 

12  bis  14  „ 

1,36 

0,44 

0,22 

0,37 

0,11 

«4  »   i6  „ 

6.66 

SM 

3,3« 

4,62 

0,04 

1.78 

16   „  tS 

7.16 

7,66 

5,3» 

4,93 

0,33 

3,67 

»«  »  »  „ 

6.84 

8,08 

6,0s 

SM 

3,39 

3.76 

onter  14  Jahr 

I163 

0,46 

0,23 

043 

0,13 

14  bis  ao  „ 

20,66 

ai,3» 

«4,73 

14,69 

3.76 

8,21 

unter  aoJ«hr 

33,39 

21,84 

14.96 

15.11 

3.76 

8,33 

so  »t  30  »♦ 

21,24 

28,03 

25,03 

30,92 

89,09 

24.30 

30       M       40  II 

16,24 

21,14 

22.76 

18.79 

5,09 

26,63 

40       „       50  n 

14,87 

14.57 

17-S7 

17,64 

1,33 

18.40 

50       II       60  „ 

13,86 

9,17 

»2,35 

15.38 

0.59 

13,03 

60       „       70  „ 

M7 

4,06 

5.48 

9.19 

OtI3 

7,06 

70  Jabr  «.  darüber 

3^3 

1.19 

1.56 

a,97 

0,02 

»,«9 

im  Jahre  1882 

unter  20  Jahr 

21,84 

19,66 

11,66 

9,01 

3,58 

7,36 

20  bis  30  n 

22,25 

«7.57 

22,69 

«7,9« 

89,43 

33,99 

30   „   40  „ 

16,18 

21.74 

24,22 

21,93 

4.73 

24,06 

40      n      50  " 

15.75 

15.34 

20.00 

20,64 

1,49 

10.26 

50      „      60  „ 

9.41 

12,8S 

16,96 

0,57 

14,02 

60      „      70  „ 

8i45 

4.99 

6,68 

10,73 

0,16 

8,86 

70  Jahr  u.  darüber 

3,42 

1,29 

1,81 

2,81 

0,04 

3i95 

uiyiiizeo  Dy  Google 


Die  Bc-rufä-  und  Gewcrbezäblung  im  Deutschen  Reich  vod)  .4.  juiu  1^95. 


Die  Landwirtschaft  wird  charakterisiert  durch  die  höchsten 
Quoten  der  Kinderarbeit  sowohl  wie  auch  der  höheren  Altersstufen. 
Die  Klassen  des  kräftigsten  Alters  hat  sie  zum  Teil  an  die  anderen 
Berufsabteilungen  abgegeben,  vorzüglich  an  die  Industrie,  woselbst 
insbesondere  die  Alterstufe  von  20-^30  Jahr  durch  ihre  übernor- 
male  Besetzung  —  2SjO$  Prozent  —  fiervorragt  Erheblich  schwächer 
wie  in  den  anderen  Berufsabteilungen  sind  hier  die  Altersklassen 
über  das  40.  Jahr  hinaus  besetzt,  nicht  etwa  wegen  des  gröfseren 
Menschenverbrauchs  der  Industrie  —  nach  dieser  Richtung  gestatten 
die  vorliegenden  Ziffern  keinen  Schlufs  —  sondern  weil  die  rasche 
Entfaltung  der  Industrie  auf  den  Nachwuchs  angewiesen  ist,  nicht 
nur  auf  ihren  eigenen,  sondern  auch  auf  jenen  der  Landwirtschaft, 
und  weil  diese  Bewegung  noch  zu  kurze  Zeit  währt,  als  dafs  sie  sich 
durch  alle  Altersklassen  hindurch  hätte  fortpflanzen  können.  Handel 
und  \>rkehr,  insbesondere  aber  der  öffentliche  Dienst  und  die  freien 
Berufsarten  zeichnen  sich  durch  eine  relativ  stärkere  Resctziinrr  (]cr 
höheren  Altcrsiuten  aus,  und  geradezu  charakteristisch  ist  sie  tur  die 
Abteilung  Lohnarlioit  wechselnder  Art  als  der  Zuflucht  zahlreicher 
gescheiterter  Existenzen.  Dals  sich  der  aktive  Kriegsdienst  haupt- 
säclilich  auf  das  Alter  von  20 — 30  Jahren  zusammendrängt,  ist  von 
vornherein  nicht  anders  zu  erwarten. 

Im  Vergleich  zu  den  ei»tsprcciienden  Zahlen  für  18H2  erscheint 
die  Altersstufe  bis  zu  20  Jahren  nunmehr  in  sämtlichen  Hcruls- 
abteilungen  stärker  besetzt:  sie  alle  haben  sich  rascher  durch  Re- 
krutierung erweitert,  als  dies  den  physischen  Nachwuchsveriiält- 
nissen  eigentlich  entspricht.  Insbesondere  da.s  Menschenmatcrial  der 
rascii  aufstreijenden  Berufsabteilungen  Industrie,  Handel  und  Verkehr 
ist  erheblich  junger  geworden.  Denn  so  häufig  der  Uebertritt  von 
Erwerbthätigen  aus  anderen  Benifen  auch  ist,  in  erster  Linie  beruht 
die  Erweiterung  der  Erwerbarbeit  doch  auf  der  Au^ugung  des  eigenen 
Nachwuchses.  Im  übrigen  erscheinen  die  oben  hervorgehobenen  typi- 
schen Abweichui^en  im  Altersaufbau  der  einzelnen  Beruiigabteilungen 
1895  noch  schärfer  ausgeprägt  wie  1882:  die  Uebersetzung  der  kraftig- 
sten Altersstufen  in  den  aufetrebenden  Berufsabtheilungen,  die  ent- 
sprechende Depression  bei  der  Landwirtschaft,  der  Bodensatz  alter 
Leute  bei  der  Lohnart)eit  wechselnder  Art.  Die  Altersgliederung 
jeder  einzelnen  Berufsabteilung  entfernt  sich  immer  weiter  von  dem 
Typus,  welcher  der  Gesamtbevölkerung  und  dem  Generationen- 
wechsel entspricht  und  wird  immer  mehr  beherrscht  durch  die  Ent- 
wicklungstendenzen und  die  Aufnahmefähigkeit  der  einzelnen  Berufe. 


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382 


H.  Kauchbcrg, 


Ein  enger  Zusammenhang  besteht  zwischen  dem  Alter  und 
der  sozialen  Stellung.  Unter  je  loo  Erwerbthätigen  jeder 
Altersklasse  sind 


1895 

i88a 

'  Altersklassen 

Selb- 

An- 

Arbeiter 

Selb. 

An* 

Arbeiter 

aUmdige  gestellt^ 

stiiidige 

gestellte 

unter  20  Jthr  . 

1,76 

1.9» 

96,33 

0,65 

96,49 

ao  bis  3p  ,« 

.  I3'3 

4.14 

82.73 

•5.70 

81.58 

30        40  „ 

.  36,34 

4.50 

59.»  6 

41,00 

2,66 

56,34 

40        5"  '» 

.  47,8S 

3.65 

2,05 

47.59 

50    „    60  „ 

•  54,38 

2,68 

42,94 

55,83 

1,50 

42.67 

60   „    70    „  . 

.  57,58 

40.5» 

58,39 

1,11 

40,50 

70  JtAr  wad  mehr 

.  61,04 

1,10 

37,86 

6s.  13 

0,78 

37^ 

im  ganzen 

3,»9 

67,77 

3«,o3. 

1,90 

66,07 

Von  Altersstufe  zu  Altersstufe  sind  demnach  die  Selbständigen 
stärker,  die  Arbeiter  schwächer  vertreten.  Die  Quote  der  Ange- 
stellten erreicht  auf  der  Stufe  von  30 — 40  Jahr  ihren  Höhepunkt, 
um  sndann  wieder  allinähhch  abzunehmen.  Diese  (icstaltung^  der 
Reihen  wird  in  erster  Linie  durch  den  Uebertritt  von  einer  sozialen 
Klasse  zur  anderen  herbeigeführt,  welchen  die  Jahre  für  Viele  mit 
sich  bringen.  Und  /.war  findet  die  überwiegende  Bewegung  in  der 
Richtung  nach  der  höheren  sozialen  Klasse  statt.  12  Prozent  der 
Unternehmer,  aber  60  Prcizent  der  Arbeiter  sind  unter  30  Jahr  alt; 
38  Prozent  der  l  fiternchmer  und  nur  12  Prozent  der  Arbeiter  sind 
über  50  Jahr  alt.  Inwieweit  die  Sterl)lichkeitsverhähnisse  dabei 
mitspielen,  lässt  sich  nach  den  zitl'ermässigen  l  ntc:i.iL;cn  nicht  be- 
urteilen. Jedenfalls  aber  geht  die  aufsteigende  Klassenbewegung 
parallel  mit  dem  Alter. 

Im  Vergleich  zu  1882  sind  sämtliche  Altersstufen  der  Unter- 
nehmer nunmehr  schwächer,  sämtliche  Altersstufen  der  Angestellten 
sowie  der  Arbeiter  —  hier  mit  Ausnahme  der  jüngsten  —  nun- 
mehr stärker  besetzt.  Die  Verschiebung  -der  sozialen  Schichtung 
in  der  Richtung  der  Arbeiterklasse  erstreckt  sich  auf  alle  Alters- 
stufen und  kann  demnach  keinesw^  mit  der  Erweiterung  der 
Volkswirtschaft  durch  die  zahlreichere  Einstellung  jüngerer  Kräfte 
erklärt  werden.  Wir  haben  es  vielmehr,  wie  ich  schon  früher  fest- 
gestellt  habe,  mit  einer  durchgreifenden  Veränderung  der  sozialen 
Struktur  zu  thun. 

Diese  Veränderung  hat  sich  aber,  wie  überhaupt,  so  auch  im 
Hinblicke  auf  die  Altersgliederung  in  den  einzelnen  Berufs* 


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Die  Berufs-  und  Gcwerbcühluog  im  Deutschen  Reich  vom  I4.  Juni  1S95. 

abtheitungen  nicht  in  der  gleichen  Weise  durchgesetzt.  Nach 
Berufsabteilungen  ist  1H95  der  Zusammenhang  zwischen  Alters- 
gliederung und  sozialer  Schichtung  der  folgende: 

Von  je  icx>  Erwcrbthätigen  jeder  Altersklasse  sind 

in  der  in  der  im  liandel 

Landwirtschaft         Industrie  nnd  Verkelir 

Altersklassen  Selb-  Ange-    Ar»     Selb*  Ange-   Ar«     Selb»    Ange»  Ar- 
stSndige  stellte  beiter  stUndige  stellte  heiter  stindige  stellte  heiter 
unter  ao  Jabr    0,14    0,5s   99,3«      S  S^    i.59   94.S3      0.94    10,76  88,30 
20  bis  30    „        9.19      l..^7    89.44      15,81    3,35    80,84      U<4>     «5.6i  C.q,98 

30     „     40     ,.        41,11        1,69     57.20       31,26     4,17     64,57       .XO.nq     12, (K)  4(1,32 

40    M    50    ..      53.36      1,41  45.23  39,74  3.96  50.30  55.21  3>.42 

50    „    60    „      57,26      1,15  41,59  46.59  3.42  49,99  63.42  6,78  2y,8o 

60   „    70   M      56.«»     0,98  43,00  54,90  2,61  42,49  73,15  4,49  22,36 

70  Jabr  n.  niehr_56,03  0.67  43.30  65,93  1.68  32.39  82^36  2,51  15,13 

im  ganzen     30,98     i,t6  67,86  24,90  3.18  71,92  36,07  11,20  52,73 

Am   spätesten    führt    die   Landwirtschaft ,    am    ehesten  die 

Industrie  zur  Selbständigkeit.    Denn  in  der  Landwirtschaft  ist  sie 

zumeist  i;ekniij>ft  an  den  Resitzwirhsrl  iitnl  dieser  hinwiederum  an 

den  Geticrationcinvechsel ;  in  der  Iiuhistrie.  ^owie  im  I  landcl  und  \'er- 

kehr  bieten  doch  noch  immer  zalilreiche  Berufe  und  Betriehsformen 

dem  energisch  Aufstrebendon  riclc^^^enhcit,  die  Scll)stän*l!'.,'krit  zu  er- 

rini^en.  wobei  die  Beschaftuni;  des  erforderhchen  Kapit.il^  1111  1  icuidel 

um.!  Wikchr  stärker  retardierend  wirkt  wie  in  der  Industrie.  Dalier 

stehen  von  je  lOO  Selbständigen 

der  Landwirt*  der  des  Handels  und 

in  Alter  schalt  fndtistrie  Verkehrs 

▼on  anter  30  Jahren  6,70  20,95  lo^^ 

n     II    40  »7.96  47.49  36,a4 

II     SO    I.  53.57  70,75  63,60 

Umgekehrt  verläuft  die  Alterskurve  bei  den  Arbeitern.  Die 
Landwirtschaft  weist  die  höchste,  die  Industrie  die  geringste  Quote 
bejahrter  Arbeiter  aus.  Was  endlich  die  Angestellten  anbelangt,  so 
steht  ihre  Quote  im  Handel  und  Verkehr  mit  20—30  Jahr,  in  der 
Industrie  mit  30 — 40  Jahr  am  höchsten;  im  Handel  früher,  weil  hier 
schon  der  Eintritt  in  den  Beruf  häufiger  in  jener  Stellung  erfolgt, 
während  sie  in  der  Industrie  oft  erst  durch  Aufisteigen  aus  der 
Klasse  der  Arbeiter  erworben  wird. 

Gegenüber  dem  Jahre  1882  sind,  sowie  im  ganzen  auch  hin- 
sichtlich der  Altersgliederung  der  einzelnen  Beni&abteUungen  und 


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384 


H.  Ranehberg, 


sozialen  Schichten  keine  wesentlichen  Aendcrungen  einj^cttvi  -i. 
Bemerkenswert  ist  nur,  dass  unter  den  Selbständigen  der  Industrie 
die  höheren  Altersstufen  nunmehr  etwas  stärker,  die  Jüngeren 
schwächer  vertreten  sind.  Nur  die  Greise  über  70  Jahr  haben  hier 
zugenommen,  alle  anderen  Altersklassen  ai)er  abgenommen:  die 
Selbständigkeit  aus  früherer  Zeit  wird  bewalirt,  sie  neu  zu  erriiv^iTi 
fällt  immer  schwerer.  ¥üv  die  Landwirtschaft  ist  die  verglcicli^- 
weise  stärkere  Vertrctutig  des  jugendlichen  Alters  und  der  Ausfall 
in  den  mittleren  Altersklassen  charakteristisch.  Was  von  diesen  an 
die  anderen  lierufe  abgegeben  wurde,  ist  wenigstens  teilweise  thir'"!i 
die  friiiiere  Kinstellung  des  Nachwuchses  ersetzt  worden.  Ilin>iclil- 
lich  der  Wischiebungeii  in  den  Alter-^\ et  hältnissen  der  industriellen 
Arbeiter  verweise  ich  auf  meine  Ausfuhrungen  im  X'.  Abschnitt.  ^) 

Um  endlich  aucli  einigen  Hinblick  in  die  .'\ltcrsverhältnisse  der 
einzelnen  Bc  r  u  1  sg r  u  p  p  e  n  zu  ermöglichen  —  aui  die  Berufs- 
arten einzugehen  verbietet  die  Rücksicht  auf  den  verfügbaren  Raum  •) 
—  so  schalte  ich  die  nachstehende  Tabelle  ein,  welche  den  Alters- 
autbau  der  Erwerbthätigen  jeder  Berufsgruppe  in  den  Jahren  1895 
und  1882  in  Gliederungszahlen  darstellt 

Siehe  die  Uebenicht  auf  S.  385. 
Zwei  Momente  sind  es  hauptsachlich,  von  welchen  die  Alters- 
gliederung innerhalb  der  einzelnen  ßeruCsgruppen  abhängt:  ihre  be- 
sonderen Ansprüche  an  die  körperliche  Leistungsfähigkeit,  die  ja 
durch  das  Alter  in  hohem  Masse  bedingt  ist,  und  dann  die  auf- 
steigende oder  sinkende  Bewegungstendenz.  Berufe,  die  besondere 
Rüstigkeit  erheischen,  wie  Bergbau  und  Hüttenwesen,  Industrie  der 
Steine  und  Erden,  Baugewerbe  werden  durch  die  l'ebersetzung  der 
mittleren  Altersstufen  gekennzeichnet,  Berufe,  wo  die  körperliche 
Leistungsfähigkeit  nicht  in  gleicher  VW  ise  von  Belang  ist,  durch  die 
Uebersetzung  der  jugendlichen  und  höheren  Altersstufen.  In  der 
gleichen  Richtung  aufsert  sich  auch  der  Einflufs  der  Entwicklungs- 
tendenzen. Aufstrebende  Berufe  ziehen  den  Nachwuchs  an  sich  und 
locken  auch  sonst  die  leistungsfähigsten  und  kräftigsten  Pllemente 
an:  sie  zeichnen  sich  daher  durch  eine  höhere  Vertretung  der  jüngeren 
Altersstufen  aus,  währetul  die  rückläufigen  oder  stagnierenden  Be- 
rufe auf  die  minder  leistungstahige  Arbeit  einerseits  des  jugendlichen 

>)  Vgl.  den  XIV.  Bd.  dieses  ArcliiTS  S.  614. 

*)  AnifUhrlichere  DarsteUpttg,  insbesondere  auch  anter  B«rü^nchti£ttii£  der 
örtlichen  Verschiedenheiten  bei  P.  KoIlaMnn  im  Jahrb.  f.  Geset^eb.  elc.  Jahrg.  1900 
S.  163  ff. 


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Die  Heruts-  und  ticwcrbezählung  im  Dculscben  Reich  vom  14.  Juni  1895. 

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386 


Ii.  Rauchberg, 


Alters  unter  20  Jahren  und  andererseits  der  höheren  Altersstufen 
aufgewiesen  bleiben.  Die  Landwirtschaft  und  die  Textilindustrie  ent- 
halten hierfür  Belege.  Auf  die  gleiche  Weise  sind  auch  die  Ver- 
schiebungen gegenüber  den  Ergebnissen  von  1882  zu  erklären.  In 
den  aufstrebenden  Berufen  wächst  die  Uebersetzung  der  mittleren 
Altersklassen,  in  den  stationären  die  Uebersetzung  der  noch  nicht 
und  der  nicht  mehr  voll  leistungsfähigen  Altersstufen.  Die  Unter- 
schiede in  der  Altersgliederung  vei^roisem  sich  in  dem  Malse,  ab 
die  erbliche  Berufsfolge  an  Boden  verliert,  und  der  Nachwuchs  von 
seinem  Milieu  sich  emanzipiert,  um  jenen  Berufen  sich  zuzuwenden, 
welche  die  besseren  Aussichten  bieten.  Bessere  Aussichten  sind  aber 
in  erster  Linie  bedingt  durch  gesteigerte  Produktivität  der  menschlichen 
Arbeit.  Alle  Berufe  stehen  unter  einander  in  einem  labilen  Gleich* 
gewicht,  das  dem  Gleichgewichtszustand  zwischen  den  einzelnen 
Zweigen  der  Produktion  und  Konsumtion  entspricht.  Die  entschei- 
denden Aendcrungcn  hierin  gehen  von  der  Seite  der  Produktion  aus: 
der  technische  Fortschritt  ist  es,  welcher  ihr  die  Wege  weist.  Infolge 
der  Vcrbilli^aipi^'  der  Waren  pafst  sich  ihr  die  Konsumtion  dann  an,*) 
Gröfsere  Produktivität  ermöglicht  aber  bessere  Bedingungen  für  Kapital 
und  Arbeit.  Technisch  erweitert  sie  die  Produktion,  gesellschaftlich  zieht 
sie  Kapital  und  Menschen  an  sich.  Jene  stete  Umbildung  der  Berufs- 
gliederung und  sozialen  Schichtung,  in  welche  die  Benifvzählung  hin- 
ein leuchtet,  wird  also  hauptsachlich  bewirkt  durch  die  Acnderungen 
in  der  Technik  und  Organisation  des  gesellschaftlichen  Produktions- 
prozesses. Damit  steht  die  erbliche  Berufsfolgc  in  Widerspruch. 
Denn  jede  Stufe  jener  grolscii  Fntwicklung  bedingt,  wenigstens  bis 
zu  einem  gewissen  Grade,  eine  neue  Auslese  der  in  der  Produktion 

*)  Selbotrerstiadlich  werden  die  Erfinder  oder  OrgnnfaHlomi  geleitet  von  der 
Rücksicht  auf  die  gesellsduitlidicn  Bedttrfiiisse,  die  KofiramtioD,  den  Tonnasicbt- 
lidien  Absatz  und  den  Gewinn,  welcher  von  der  Minderong  der  Frodnktionskosteii 

und  iliT  F.rwcitoruuR  des  Absal/.cs  /.u  prwart«'n  steht.  Die  Kenntnis  gesellschaftlicher 
B«"lürfni»L-  ist  also  einer  ii«'r  wichtij^sten  Motive  für  den  Erfinder  oder  Organi>ator. 
A!>'  r  ihre  \Virksaink>  it  iiulWrt  -irli  «  Ix-n  zunSrhst  in  Acnderungen  des  Produktions- 
jtro/."  ^.-m  s  und  erst  der  Preis  ixier  die  Bis<  hatienhfit  der  gebotenen  Waren  oder 
Lcihtuugcu  rufen  die  vorausgcseUte  Nachfrage  seitens  der  Konsumenten  wach.  Oft 
war  sie  latent,  oft  folgen  aber  die  Konstuntionssitten  nnr  lögenid  und  widerwillig  den 
Fortschritten  der  Produktion.  Also  nochmals:  menschliche  Bedürlinsse,  die  Rddc« 
sieht  auf  deren  bessere  Befriedigung  und  den  dadurch  an  erzielenden  Gewinn  sind 
die  psychologischen  Motive,  die  Acnderungen  in  der  Technik  und  Oiigaiitsation  aber 
die  thatsächlich  treibenden  Kräfte  bei  der  Umwandlung  des  Produktionsproxesses  und 
der  Ulm  entsprechenden  Bcrulsgliederung. 


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Die  Berufä-  uad  Gewerb«uhliiiig  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  1S95. 


thätigcii  Arbeitskräfte.  Dieser  Auslese  ist  zunäclist  der  Nachwuchs 
unterworfen,  weil  hier  die  konservativen,  retardierenden  Klcmcnte 
relativ  am  schwächsten  sind.  Aber  auch  solche  Personen,  die  be- 
reits ihren  Platz  im  Erwerbleben  gefunden  haben,  wissen  sich  häufig 
dem  Eififlufs  jener  Elemente  zu  entziehen  und  durch  den  Wechsel 
des  Berufe  oder  Produktionszwe^es  an  der  aufsteigenden  Konjunktur 
teilzunehmen.  Natürlicherweise  sind  es  hauptsachlich  die  Jüngeren, 
die  zu  solchem  Berufswechsel  entschlossen  und  befähigt  sind.  Die 
Umbildung  der  Berufsgliederung  geht  also  in  der  Form  des  Berufe- 
wechsels  vor  sich,  in  der  Regel  in  gleichem  Schritt  mit  dem  Genera- 
tionswechsel,  zum  Teil  aber  auch  demselben  vorauseilend.  Die 
Spuren  dieser  Bewegung  haben  wir  in  der  Altersgliederung  der 
Erwerbthätigen  erkannt. 

2.  Der  I-'amilicnstand. 

Bevor  wir  in  die  Erörterung  der  Familienstandsverhältnisse 
innerhalb  der  eitizelnen  Berufszweige  eingehen,  empfiehlt  ts  sich, 
einen  Blick  auf  die  Familictistandsgliederung  in  den  verschiedenen 
Kategorien  d  e  r  B  e  r  u  fs  z  u  g  e  h  i>  r  i  k  c  i  t  zu  werfen.  Das  wird 
durch  die  nnclKtchcnde  l'ebersicht  rrniot^liciit.  Bei  der  Berechnung 
der  GlircieriK.L^zahlcii  sind  die  Kiiuicr  unter  16  Jahren  als  noch 
nicht  ehemundig  aulscr  Anschlag  gebhebcn.  Die  Geschiedenen 
wurden  wegen  ihrer  geringen  Zahl  nicht  gesondert  ausgewiesen, 
sondern  zu  den  X'erwitweten  geschlagen. 

Von  je  100  nebenbezeichneten  Personen  sind  demnach 

Stellung  zum  ledig                  verheiratet  verwitwet 

Beruf:  mänai.  weibl.  zus.  männl.  weibl.  zus.  männl.  weibl.  zus. 

F.rwprbthätigc  .  39.23  59.08  44.17  57.31  21.60  48,42  3.46    19,32  7,41 

Dienende  .    .  .  87,72  95,52  O5.37  lO.IO  l.oo  I.18  2, 18      3.48  3,45 

Angehörige  .  .  71,43  17,03  19,29  13,76  77,lS  74,54  14,81  5,79  6,17 
beruf lose  Selb« 

'  stladige    .  .  27.9t  »6,05  26,92  48.05  6,18  25,80  24,04   67,77  AIJ^ 

im  gansen  .  39,56  34»87  37, ^4  55.57  53.76  4,87    13,08  9,10 

Wenige  Worte  genügen  zur  Erklärung.  Durchaus  sind  die 
beiden  Geschlechter  «/ctrennt  zu  untersuchen.  Verheiratet  sind 
unter  den  erwerbthätigen  Männern  mehr  als  die  Hälfte,  von  den 
erwerblhäti'jfcn  Frauen  etwas  mehr  als  der  fünfte  Teil.  \'on  den 
familienangchorigen  Frauen   sind   es  d.igegen  nahezu  vier  1-ünfiel. 

Für  den  l''r.iucnerwerh  sind  also  die  l-\amilienstandsverhällnisse 
von  geradezu  entscheidender  Bedeutung.    Wie  wir  im  vorigen  Ab« 


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388 


Ii.  Kauchberg, 


schnitte  gehört  haben,  beträgt  die  Zahl  der  hauptsächlich  erwcrb- 
thätigen  Frauen  im  Deutschen  Reich  5264393.  Die  häuslichen 
Dienstboten  können  bei  der  nachfolgenden  Erörterung  als  ganz 
überwiegend  ledig  —  nur  3  Prozent  derselben  sind  verheiratet  oder 
verwitwet  —  aufser  Anschlag  bleiben.  AuGserdem  kommen  noch 
421  241  weibliche  Erwerbthätige  im  Alter  von  unter  16  Jahr  in  Ab* 
zug,  so  dafs  4843152  erwerbthätige  Frauen  erübrigen,  die  im  Alter 
der  Ehemündigkeit  stehen.  Von  diesen  sind  2  861 148  oder  59^08 
Prozent  ledig,  x  046381  oder  2i,6i  Prozent  verheiratet  und  935623 
oder  19,31  Prozent  verwitwet  oder  geschieden.  Hing^^n  sind  im 
ganzen  von  je  100  Frauen,  die  im  Alter  von  16  Jahr  und  darüber 
stehen,  34,87  Prozent  ledig,  52,05  Prozent  verheiratet  und  13/28  Pro- 
zent verwitwet.  Die  Quote  der  Verheirateten  steht  also  bei  den 
erwcrbthätigen  Frauen  kaum  halb  so  hoch,  wie  unter  der  Gesamt- 
zahl der  <  In  Müindigen  Frauen.  l''mg;ckehrt  verhält  es  sich  mit  den 
Quoten  der  Lechzen  und  der  Witwen;  chese  erheben  sich  bei  don 
erwcrbthätigen  Frauen  beträchtlich  über  den  Durchschnitt.  Die 
ganz  üb»  !  i '  ^^ende  Mehrzahl  derselben  sind  eben  Mädchen,  welche 
dem  schulptlichtifj^cn  Alter  entwachsen,  bis  zur  Zeit  der  Verehe- 
lichung gänzlich  oder  doch  der  Hauptsache  nach  auf  ciji^enen  Er- 
werb angewiesen  sind.  Die  Mehrzahl  derselben  tritt  sodann  infolge 
der  Eheschlielsunj^  dauernd  oder  doch  zeitweilifj  aus  der  volkswirt- 
schaftlichen Erwerbarbeil  in  die  Kategorie  der  Familienangehöri<^cn 
zurück.  L  ud  davon  bleibt  hinwicdcruni  ein  erheblicher  Teil  nach 
lOde  des  Mannes  iin\f  r<t)rgt  zurück  und  sieht  sich  neuerdings  zu 
dein  eigenem  h.rwerli  .;c:i( tti;.^t.  So  kommt  es,  dafs  —  wie  aus  der 
obigi-n  l  Ll)ersichl  zu  entnehmen  —  die  X'erwitweteii  unter  tlen 
erwerbenden  i'Vauen  naiiezu  6 mal  so  stark  vertreten  sind,  wie 
unter  den  erwerbthätigen  Männern. 

Ist  al>o  auch  die  bei  weitem  gröl'sere  I  lälfte  aller  erwerb 
ihätigen  brauen  ledig,  so  erül)rigen  doch  rund  2  Millionen  erwerb- 
thätigcr  hVauen,  die  entweder  verheiratet  sind  oder  es  doch  waren, 
2  Millionen  deutsciie  brauen,  welche  zu  den  Pflichten  der  Painiiie 
und  der  Häuslichkeit  auch  noch  die  schwere  Last  des  Hauptberufs 
auf  sich  nehmen  mulsten  !  Hierin,  in  der  ehewciblichen  Krwerbthätig- 
keit  erblicke  ich  den  Mittelpunkt  der  Frage  der  b  rauenarbeit  überhaupt. 
Denn  alle  l'ebelstände  der  Frauenarbeit  und  insbesondere  die  damit 
verbundenen  Gefahren  fiir  das  physische  und  geistige  Wohl  tier 
kommenden  Generation  treten  am  schärfsten  hervor  bei  den  b  lauen, 
welche  Mütter  geworden  sind>  Freilich  sind  es  nicht  alle  Ehefrauen 


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Die  Herufä-  und  Gcwerbczähluii^  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  1S95.  389 

oder  Witwen,  aber  doch  die  ganz  überwiegende  Mehrzahl  Dar- 
über werden  wir  durch  die  Berufsstatistik  jedoch  nicht  des  Näheren 
unterrichtet  Ich  möchte  anregen,  daCs  bei  der  nächsten  Wieder- 
holung  der  Beru&zählung  die  Daten  über  die  Kinder  der  erwerb- 
thätigen  Frauen  ausgebeutet  werden.*)  Soweit  die  Kinder  unter  der 
Obhut  der  Mutter  stehen,  und  das  ist  ja  bei  der  ganz  überwiegenden 
Mehrzahl  der  Fall,  finden  sie  sich  in  der  gleichen  Haushattungsliste 
verzeichnet;  einer  besonderen  Erhebung  bedarf  es  also  nicht  Der 
Wichtigkeit  der  hier  im  Spiele  stehenden  Interessen  wäre  es  ange- 
messen, die  verfögbaren  Eintragungen  nach  dieser  Richtung  hin  mit 
besonderer  Sorgfalt  auszubeuten. 

Seit  1882  hat  die  eheweibliche  Arbeit  erhebliche  Fortschritte 
gemacht  Da  damals  die  Geschiedenen,  welche  1895  zu  den  Ver- 
witweten geschlagen  werden,  mit  den  Ledigen  zusammen  ausge- 
wiesen wurden,  ist  die  Vergleichung  nur  hinsichtlich  der  beiden 
grolsen  Gruppen:  Verheiratete  und  Unverheiratete  möglich.  1882 
waren  697639  Verheiratete  und  3561464  nicht  verheiratete  Frauen 
erwerbthätig,  1895  sind  es  1 046  381  verheiratete  und  4  2 18  Ol  2  nicht 
verheiratete  Frauen;  die  verheirateten  Frauen  haben  also  um  49^8 
Prozent,  die  nicht  verheirateten  nur  um  18,5  Prozent  zugenommen. 
Im  ganzen  ergeben  sich  iiir  die  4  Kationen  der  Berufszugehörig- 
keit folgende  Verschiebungen  in  der  Familienstandsgliederung: 

Es  sind 

1895  1S82 

nicht  nicht 

von  je  100           verheiratet       verheiratet  verheiratet  verheiratet 

mMiml.  weibl.  mlnnl.  weibl.  mimi].  weibl.  mlmiL  weiU. 

ErwerbthStigeii  .   .   .   54,02   19,88  45,98   9o,t2  55,18    16,38  44,8a  83.6a 

Dienenden    ....     8,92    0,86  91,08  99,14  9,83     1,28  90^17  98,7^ 

Angehörigen.   .  .   .    0,67  41,07  99»33   58f93  4M*  98»8o  58,54 

bernfU».  Selbtttadigen  40^05     5,38  59.95  94,62  42,61     3,93  57,39  96,07 

Die  Khcstandszitlcr  des  männliclien  (ieschlechts  hat  also  durchaus, 
jene  des  weiblichen  (icschlechts  aber  nur  bei  den  Dienenden  und 
Aii^feh(')rij:^cn  abgenommen,  bei  den  Li  \vt  rlithäti^en  und  l)eruflosen 
Selbständigen  hingegen  zugenommen;  waren  16,4  von  je  lOO 

erwerbthätigcn  Frauen  verheiratet,  1895  sind  es  bereits  19,9. 


')  AnsHtz«'  zu  *"iner  Familienstatistik  unter  bi  sondrr«T  Iierücksiriiti;,nin>^  der 
Kinder/;«!)!  !)<  i  der  fraii/o'-iM  hen  Volk^zühlunp.  Auf  die  Kombination  mit  den  Ge- 
sichtspunkten des  ErM'erbä  war  sie  jedoch  nicht  bedacht. 


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390 


H.  Raucbbcrg, 


Bevor  ich  die  Fatnilienstandsgliederung  nach  den  einzebeo 
Berufs abteilungen  vorführe,  schalte  ich  hinsichtlich  der  weib- 
lichen Erwefbthätigen  die  einschlägigen  absoluten  Zahlen  ein,  deren 
Kenntnis  (lir  die  Beurteilung  der  Frauenarbeit  von  besonderer  Wich* 
tigkeit  ist.  ' 

Unter  den  berufthätigen  Frauen  sind 


in  d<-r  Hcrufsableilung 

vcrhi  iraiol 

vcrwilwft 

l  051  524 

615  301 

4.S0  3^9 

1048818 

250666 

221  034 

323966 

129176 

136466 

123266 

2859s 

83004 

E  3—8.  Oefftmü.  Dienst  u.  freie  Berafsarten 

135  81 5 

22643 

18  190 

Im  ganten  .  . 

3382389 

1046^1 

9356*3 

Für  die  Gesamtheit  der  Beruft  hat 

\\^cn  aber 

wir{l  die 

Familien- 

»(Hederim;^'  diircli  die  foli^cnden  Verhältnisberechnungen  dargestellt: 
Es  sind  in  jeder  Berufsabteilung 


im  Jahre  i  So;  1882 
l<.-ili^;      vt-rhrir  it' t    v.  rwitwrt  verheiratet 

von  ie  100  niännlichcu  lirAvcrbtbäligcn 


A  Landwirihciiiill  

"4 

?5-59 

4,47 

55,8^ 

54.35 

2,61 

55.39 

35.98 

61,18 

2.84 

63,31 

D  Lohnarbeit  wechselnder  Art   .   .  . 

«9.35 

66.35 

4»30 

73.47 

93.43 

7,45 

0,13 

6.85 

E  2--S.  Sonst.  öfTentl.  Dienst  n.  freie 

36,92 

59,53 

.v^5 

61,24 

von  je  l<xi  wcibbcbon  Frwcrbtliätigcn 


22,35 

1 7. «16 

17,45 

16,4s 

14.57 

13.2« 

22,29 

21,04 

D  Lohnarbeit  wechselnder  Art   .    .  . 

52,28 

12,23 

35.49 

13.70 

E  2—8.  Sonst,  öllcntl.  Dienst  n.  freie 

76.88 

13,82 

10,3p 

16,13 

von  je 

100  Erwerbth&tigen  tlberhnnpt 

46,60 

44.55 

8.8s 

44,01 

47.80 

47.39 

4.81 

47,96 

r  Handel  

40,92 

51,54 

7.54 

55. «9 

I)  l,ohnarl>'  it  wi-cIiv-  IikIit  Art    .    .  . 

41.75 

37.08 

2i,J7 

45.83 

92.43 

7.45 

0,12 

6.«5 

t  2 — S,   Sonst,  oftcntl.  l)i<nsl  u.  Ircic 

45.80 

49.15 

5.05 

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Die  Berufs-  und  Gcwcrbc^ibluug  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  1S95.    2g i 


Im  allgemeinen  steht  die  Ehestandsziflfer  am  höchsten  im 
Handel  und  Verkehr {  es  folgen  sodann  der  Reihe  nach:  öffentlicher 
Dienst,  Industrie  und  Landwirtschaft  Gegen  1882  sind  die  Ver- 
Schiebungen  im  ganzen  nicht  sehr  erheblich,  hauptsächlich  deshalb, 
weil  bei  den  beiden  Geschlechtern  Gegenbewegungen  bestehen,  die 
einander  bis  zu  einem  gewissen  Grad  aufheben.  Bei  den  Mannern 
ist  nämlich  die  Quote  der  Verheirateten  in  allen  Berufsabteilungen 
mit  Ausnahme  des  Kriegsdienstes  zurückgegangen,  bei  den  Frauen 
in  den  entscheidenden  Berufsabteilungen  Landwirtschaft,  Industrie, 
Handel  und  Verkehr  gestiegen.  Die  eheweibliche  Arbeit  ist  also 
auf  den  Haup^ebieten  ihrer  Anwendung  in  Zunahme,  und  zwar  in 
ziemlich  rascher  Zunahme  begriffen. 

Diese  Wahrnehmung  wird  auch  durch  die  Untersuchung  nach 
der  sozialen  Stellung  bestät^.   Ks  sind  nämlich  verheiratet 


von  je  100  inSnnliclien 


BerafBabtciluneen 

SclbstKndigen 

Angestellten 

Arbeitern 

1895 

1882 

1895 

1882 

1895 

1882 

88,75 

89,27 

58,20 

62,03 

32,78 

37,19 

IrnhT^tric  

83,39 

83,46 

58,25 

52,32 

45,12 

42,65 

Ilaudcl  und  Verkehr    ,    .  . 

83.89 

^-1.34 

40,32 

45,04 

48,60 

47.78 

zusammen   .  . 

86,17 

80,37 

53. '2 

41,05 

40,48 

von  j  f   1 00 

w  e  i  b  1  i 

c  Ii  e  n 

Selbständigen 

Angostolhcn 

Arbeitern 

« 

»895 

1882 

1S95 

1882 

1895 

1SS2 

13,47 

9,96 

5.74 

7,28 

23.76 

18.39 

»3.67 

8»3o 

16,76 

13,69 

Handel  and  Verkehr  .   .  . 

27,26 

25.13 

5.34 

•5.56 

30,08 

16,89 

CQmninen 

»7.35 

14^6 

6,33 

13,36 

17,36 

Dafs  die  liohcren 

sozialen 

Schiclitcn  auch  die 

hülieren 

"  Ehe 

stands/.ififcrn  haben  wün 

Icn,  war 

von  ' 

i'ornhcrein  nicht 

anders 

zu  er 

warten.    Am  t^rölston  sind  die 

\'crsc 

hicdeiihoiten  zw 

isciicn  den  so 

zialcn  Schichten  hinsicl 

litlich  der  Stel 

lun^f  der 

Witwen.    Unter  dci 

selbständigen  erwcrbthätigcn  I^Vaucn  sind  48,74  Prozent  verwitwet, 
und  zwar  in  der  Landwirtschaft  77,13,  in  der  Industrie  27,05,  im 
Handel  und  Verkehr  55,76  Prozent;  unter  den  Arbeiterinnen  sind 
es  nur  8,30  Prozent,  und  zwar  in  der  Landwirtschaft  9,09,  in  der 
Industrie  8,14,  im  Handel  und  Verkehr  3,57  Prozent  Der  Unter* 
schied  ist  sehr  begreiflich,  denn  die  selbständigen  Witwen  wurden 
zumeist  erst  durch  den  vom  Mann  ererbten  Besitz  zur  Erwerb» 
thätigkeit  veranla(st,  während  die  verwitweten  Arbeiterinnen  ihre 


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392 


Ii.  Kauchberg, 


Erwerbthätigkeit  in  der  Regel  schon  im  ledigen  Stande  b^onnen 
haben  und  daher  von  den  ledigen  und  verheirateten  Arbeiterinnen, 
aus  welchen  sie  hervorgehen,  an  Zahl  erheblich  ubertrofien  werden. 
Der  Vergleich  mit  den  Ziffern  fiir  1882  fährt  zu  mancherlei  inter- 
essanten Wahrnehmungen.  Ich  hebe  hier  nur  hervor,  dals  die  Ehe* 
Standsziffer  der  landwirtschaftlichen  Arbeiter  fallt,  jene  der  indu- 
striellen Arbeiter  steigt.  Die  Ehestandsziffer  der  Arbeiterinnen  er- 
scheint durchaus  erhöht  Insbesondere  ist  die  Zahl  der  verheirateten 
Industriearbeiterinnen  von  69215  im  Jahre  1882  auf  166558  im 
Jahre  1895  gestiegen.  Früher  waren  12,69  Prozent  der  industriellen 
Arbeiterinnen  Ehefrauen,  jetzt  und  es  bereits  16,76  Fk-ozent. 

Die  Verwendung  von  verheirateten  Arbeiterinnen  ist  auch  bei  der 
mit  der  Berufezählung  verbundenen  gewerblichen  ßetriebsauf- 
nahme  besonders  erfraj:ft  worden.  Unter  den  eif^entlichen  gewerb- 
lichen Gehilfen  und  Arbeitern,  also  von  den  mithelfenden  Familien- 
angehörigen abgesehen,  sind  im  ganzen  1268967  oder  19,6  Prozent 
Frauen  ermittelt  worden.  Scheidet  man  die  jugendlichen  Arbeite- 
rinnen unter  16  jalir  aus,  so  erübrigen  1 141 169  oder  17,6  Prozent 
erwachsene  Arbeiterinnen.  Von  diesen  waren  160498  oder  14,1 
Prozent  verheiratet,  von  je  loo  Arbeiterinnen  überhaupt  also  12,6 
Prozent.  Bei  weitem  die  Mehrzahl  davon,  1 40  804  oder  87,7  Prozent 
der  verheirateten  Arbeiterinnen  gehören  der  eigentlichen  Industrie  iB) 
an,  2740  oder  1,7  Pro/.cnt  der  (lewerbeabteilung  (A)  Uärtnerei, 
Fischerei  etc.,  16954  oder  10,6  Prozent  dem  Handel  und  Verkehr  iC). 
Nach  Gl orscnkatcgorien  der  Betriebe  war  die  Verbreitung  der  ehe- 
Weiblirlu'ii  Arl)cit  die  folgende: 

\*on  je  100  erwachsenen  Arbeiterinnen  sind  verheiratet  in  der 
Gcwcrbeabteiluntr 


Gröfsenk lasse              Gärtnerei,  Handel  und 

Fischerei  etc.  Industrie  Verkehr 

18,1  6,1  «,3 

37.0  I9t9  8,6 


Betriebe  mit  1 — 5  Personen. 

I»      »»  6 — *o    »  • 
H       n  Über  20  „ 

im  guizen 

h„s  zeigt  sich  also,  dafs  c 


a6,a  16,8  5,S 

lie  Verwendung  eiieweibhcher  Arbeit 
mit  dem  Umfang  der  Betriebe  in  der  Regel  zunimmt;  am  auf- 
falligsten in  der  eigentlichen  Industrie,  woselbst  der  Prozentsatz  der 
verheiraten  Frauen  in  den  Fabrikbetrieben  mehr  als  3  mal  so  hoch 
steht  wie  in  den  Kleinbetrieben  und  mehr  als  doppelt  so  hoch  wie 
in  den  Betrieben  mittleren  Umiangs.    Im  Handel  und  Verkehr 


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Die  Beraft«  und  Gcwerbciihlung  im  Dcntsdien  Reich  vom  14.  Juni  1895. 

weisen  diese  letzteren  der  geringsten  Prozentsatz  eheweiblicher 
Arbeit  aus;  er  steht  daselbst  am  höchsten  in  den  Grofsbetrieben, 
während  die  Kleinbetriebe  eine  Mittelstellung  einnehmen.  Eheweib- 
liche abhängige  Arbeit  ist  also  ganz  übcrwicp^eiKl  Fabrikarbeit. ') 

Kehren  wir  nunmehr  wieder  zu  den  Ergebnissen  der  Beruis- 
zählunrj  zurück,  so  hätte  eine  eindringendere  Untersuchung  über 
die  Wechselbeziehungen  zwi.schen  Familienstand  und  Beruf,  ebenso 
wie  dies  hinsichtlich  der  Alters  Verhältnisse  an  das  Detail  der  ein- 
zelnen Berufs  arten  anzuknüpfen  und  dabei  auch  die  Unter- 
schiede der  Berufsstellung  mit  zu  berücksichtigen.  Da  dies  der  engere 
Rahmen  der  vorliegenden  Untersuchungen  nicht  gestattet,  teile  ich 
in  der  nachstehenden  Ucbcrsicht  wenigstens  die  Quoten  der  Ver- 
heirateten unter  den  Erwerbthätigen  der  einzelnen  Berufs gruppen 
unter  Trennung  der  beiden  ( ^schlechter  mit  und  füge  die  ent- 
sprechenden Daten  für  1882  zur  X'crgleichung  hinzu: 

Sirln-  tlii-  l'cbcr>it  ht  uuf  S.  394. 

Beide  (icschlechter  zusaminengenommen,  hat  sich  die  Ehe- 
standsziffer in  der  Summe  der  hier  vorgeführten  Herufsgrup{)en 
nicht  geändert.  Wohl  aber  sind  X'erschiebungen  bei  jedem  der 
beiden  Geschlechter  eingetreten  und  zwar  in  der  Regel  in  ent- 
gegengesetzter Richtung:  bei  den  Männern  ist  die  Quote  der  \'er- 
hcirateten  gesunken,  bei  den  hVauen  ist  sie  gestiegen.  Die  Unter- 
.schiede  zwischen  den  einzelnen  Rcrufsgruppcn  und  ebenso  die  \^er- 
äiidcruiigen  gegenüber  1882  sind  in  erster  Linie  bedingt  durch  die 
soziale  Schichtung;  denn  die  Selbständigen  haben  —  wie  ich  be- 
reits gezeigt  habe  —  eine  viel  höhere  Ehest. iudszitfer  wie  die  Ab- 
hängigen. Da,  wie  wir  aus  dem  V.  .^.bschnitt  wissen  -),  die  Ab- 
hängigen nunmehr  fast  in  allen  Berufsgruppen  den  Selbständigen 

*)  Die  Gewerbesfiblnng  von  1895  ist  die  erste  im  OenUchen  Reicii,  beiwelcber 
die  Verwendung  von  verlieiimtetcn  Fnoen  erfragt  wvrde.  Es  ist  also  der  Vergleich 
mit  frlllieren  Gewerbesfthlnngen  nicht  dnrcfafllhrbar.  Wohl  aber  versacht  das  SSh- 
longswerk  die  Spesialenqntten  von  1875  mid  1890  Ober  die  Bescttäftigaog  verhei- 
rateter Frauen  in  Fabriken  zum  Vergleich  heranzuziehen.  Damach  sollen  die  verheirateten 
Influstriearbeiterinnen  absolut  zwar  nicht  unerheblicli  zugenommen  habi-n ,  anteils- 
wi  isf  uht-r,  c1.  i.  im  Vrrhiiltnisse  zur  (>esamtz;vhl  der  Industriearbeiterinnen,  wären  sie 
etwas  zurückgeblieben.  l).is  steht  in  so  auttälligem  Widerspruch  zu  den  auf  S.  390 
und  j9i  mitgeteilten  tlrgebaissen  der  Berufsstatiütik,  wonach  die  Vertretung  der  Ver« 
heirateten  gerade  nnter  den  Indnstricarbeiterinnen  rasch  soninunti  dafs  ich  die  Gmiid- 
lagen  jener  Berechmnigen  fttr  gaat  tumllngUch  halten  mnls. 

>)  Vgl,  Archiv  »r  sociale  Gesetegebong  und  Statistik,  XIV.  Bd.  a  618. 
Ardür  lür  m.  GeMUgebttag  n.  Sutittik.  XV.  36 


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H.  Raachberg, 


Es  sind  verheiratet  unter  jp  loo  Emerbtli&tigea  der  nebenbeaeichaeteB 

Berafsgruppcn 


I  ^  ^  2 

Dcrui  Struppen 

Wfibl. 

/.US. 

Wcibl. 

55»23 

22,34 

44,16 

55.52 

•7,44 

43.65 

II«  vorMwifTscoaic  niMi  fiscnerei 

70^5© 

26,25 

70,01 

ai,93 

69,43 

liL  vergMu,  ntiueDwesen  etc. 

t  *  9A 
1 1|00 

61,79 

01,01 

10,98 

59,5* 

iv«  jnausine  acr  aieuie  n.  uucn 

55»*9 

ai,94 

5*,56 

56,45 

'•,37 

54,05 

V .  iviciAiivcrarDciiiuig    •    •    •  • 

'7,33 

45,90 

.A«*  VfB 

47,57 

>5,7'» 

40,4' 

\  1.  .iiasciuii<  Ii,  \ V  t nczeiiKV  evc*  • 

55f5w 

»S»'7 

54,25 

57,30 

ao,79 

50,05 

\  II.  C  hämische  ln(!ii>tri'*  .... 

02,00 

'7.3° 

55-02 

I  0, 1  2 

r  f  AA 

55,"0 

VIII.  F<>rstwirtv<'h    Nr't>cnprcHluktc  . 

»305 

^5.47 

<>y,75 

1  2.40 

64.93 

IX.  rcxtiliiuiu>tri(*  

5  ''55 

20.7 1 

4't97 

59.4  • 

'  .>.47 

42,69 

53.40 

«4,42 

42. '5 

50.04 

12.38 

39,25 

51,1a 

«5,3a 

4^^,99 

50,06 

»4,37 

48,35 

Xn.  Holi^  u.  ScbnitxstofTe  .   .  . 

35,8« 

»1,70 

5a.37 

54,»7 

15,76 

5a,a5 

XnL  Nahnmgi»  und  Gennfsmittel  . 

«7,  «7 

43,59 

47,39 

ao,30 

44,7a 

XIV.  BddeiditnK  und  Renugung  . 

5».97 

11,38 

33,37 

53.7» 

10,35 

34,37 

5«,40 

31,16 

58,13 

^  _  _ 

63,41 

38,46 

63,»4 

X\ I.  rolyjrraphischi-  (icwcrl»»' 

4  J  .00 

1 1.?7 

37.36 

38,32 

9,84 

XVII.  Künstl.-r  u.  künstl.  H.tii.b.'  . 

40,04 

9,59 

37,91 

39,43 

11,04 

3M5 

XVllI.  Gewerbliche   Personen  ohne 

nihere  Bcaeicbniuig  .... 

58,56 

12,2s 

48,45 

58,63 

»5,77 

49,26 

54,67 

»7,74 

47,97 

56,18 

H,85 

49^65 

XX.  Versicfacntngsgcwerbe   .   .  . 

56,59 

12,48 

55,60 

5^26 

35,<» 

56^11 

7»,»6 

36,42 

70^84 

73,45 

36t3f 

7«,9l 

XXIL  Bdierbeigung  und  Erqnickung 

58,78 

15,77 

35,96 

66,5a 

U,i6^ 

46,25 

55,69 

20,50 

46.66 

56,4« 

16.5» 

46.66 

gegenüber  erheblich  stärker  hervortreten,  so  haben  die  verminderten 
Ehestandsziffern  der  Männer  nichts  aufiallendes  an  ach.  Sie  sind 
einiach  eine  Reflexwirkung  der  geänderten  sozialen  Schichtung.  In 
der  That  sdimndet  diese  Reflexwirkung  sofort,  wenn  man  die  ein- 
zelnen sozialen  Schichten  iiir  sich  untersucht  Nach  den  groGsen 
Berufsabteilungen  ist  dies  auf  S.  391  geschehen,  und  wir  haben  ge- 
sehen, dafs  die  Quoten  der  verheirateten  Angestellten  und  Arbeiter 
in  den  Abteilungen  Indtistrie  sowie  Handel  und  Gewerbe  entschieden 
zunehmen.  Das  wird  durch  die  besondere  Gestaltung  nach  einzel- 
nen Berufsgruppen  und  -Arten  bestätigt,  wofür  die  zifiermäfsigen 
Unterlagen  hier  jedoch  nicht  mitgeteilt  werden  können. 

Die  gesteigerte  Ehestandszifier  der  Arbeiter  ist  zweifelsohne 
ein  erfreuliches  Symptom.  Sie  deutet  an.  dals  ihre  wirtschaftliche 
Lage  jetzt  in  weiterem  Um^ge  als  früher  die  Gründung  einer 


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Die  Berufs-  und  Gewcrbezählung  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  1895. 

eigenen  Familie  gestattet,  und  dafs  die  Arbeiterklasse  auch  an  der 
physischen  Erneuerung  des  V^olks  immer  breiter  und  kräftiger  be- 
teiligt ist.  In  diesem  Zusammenhange  erscheint  es  nunmehr  doppelt 
bedeutsam,  wenn  die  Ehestandszififer  der  Arbeiter  in  den  meisten 
industriellen  und  kommersiellen  Berufen  steigt»  in  der  Landwirt- 
schaft dagegen  fällt  Nicht  nur  das  wirtschaftliche,  sondern,  was 
noch  wichtiger  ist,  auch  das  physische  Leben  des  deutschen 
Volks  stützt  sich  immer  mehr  auf  die  Industrie  und  ihre  Arbeiter- 
schaft.^) Galt  im  alten  Agrarstaate  der  Bauernstand  als  die  uner* 
schöpf  liehe  Quelle  der  Volkskraft,  so  wird  gereifte  Einsicht  sie  im 
modernen  Industriestaat  immer  mehr  in  der  Arbeiterklasse,  voraus 
in  jener  der  Industrie,  erblicken.  Nur  dafs  diese  Quelle  nicht  uner- 
schöpfich  ist  Der  stets  neu  belebenden  Berührung  mit  der  Natur 
entrückt,  ganz  und  gar  auf  die  Bedii^ngen  der  Kultur  gestellt, 
mufs  die  Arbeiterfamilie  der  Ge&hr  der  Degeneration  immer  von 
neuem  entrissen  werden.  So  ist  positive  Sozialpolitik  zugleich 
Volksh)^iene.  Soziale  und  nationale  Politik  stehen,  richtig  ver- 
standen,  nicht  etwa  im  Gegensatz  zueinander,  sondern  ne  haben 
die  gleichen  Interessen  und  erheben  die  gleichen  Forderungen. 

Diesen  Interessen  scheint  aber  die  gesteigerte  Ehestandsziffer 
der  weiblichen  Erwerbthäligen  zu  widerstreiten,  die  in  der  über- 
wiegenden Mehrzahl  der  Bcrufs^ruppen  und  -Arten  wiederkehrt. 
Die  besondere  Gestaltung  der  sozialen  Schichtung  bei  den  weib- 
lichen Krwerbthätigen  läfst  eher  eine  relative  Abnahme  der  Ver- 
heirateten erwarten.  Denn  noch  rascher  als  wie  l)eini  männlichen 
Geschlecht  hat  sich  hier  das  Uebergewicht  der  Abhängigen,  insbe- 
sondere der  Arbeiterinnen  g^enüber  den  Selbständigen  verschärft. 
Und  gewils  ist  die  abhängige  Erwerbsarbeit  noch  weniger  mit  den 
häuslichen  und  Familienpflichten  der  Frauen  vereinbar  als  die  selb- 
ständige Erwerbthätigkeit,  welche  in  zahlreichen  Fallen  nur  als  der 
berulsstatistischc  Niederschlag  ererbter  Bcsitzverhältiiisse  aufzufassen 
i'^t.  Trotzdem  liat  die  ehcweibliciie  Arbeit  niciit  nur  nicht  ah'.i^e- 
noinmen,  sondern  auf  rlcr  ganzen  L.inie  rasche  I''ortscln  ittc  ^^cniacht, 
noch  raschere  als  die  i-rauennrbeit  überhaupt.  Die  AusbiKlung  der 
!•  abrikindustrie,  die  Notwendigkeit,  den  Ausfall  an  mäiuilicheii  Ar- 
beitskräften zu  ersetzen,  die  von  der  Landwirtschaft  und  anderen 
minder  lohnenden  Beschäftigungen  lohnenderen  Berufen  si»  h  zuge- 


')  Vgl.  dazu  die  AusflÜmuigen  Uber  die  FamilienentfaltuDg  im  X.  Abschnitt 
S.  134  ff.  tlicäcs  bandes. 

■6» 


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^1-  Kauchbcrg, 

wendet  haben,  und  alle  anderen  Momente,  wodurch  die  spezifische 
Kapazität  der  deutschen  Volkswirtschaft  für  Frauenarbeit  erhöht 
worden  ist  *),  haben  insbesondere  auch  die  Arbeitsgelegenheiten  für 
eheweibliche  Arbeit  vervielfältigt  und  erweitert  Und  die  Unzulang- 
lichkeit  des  männlichen  Arbeitsverdienstes  veranlaist  inuner  mehr 
Frauen,  von  jenen  Gelegenheiten  thatsächlich  Gebrauch  zu  machen. 
Ja  es  liegt  sogar  die  Vermutung  nahe,  dals  die  früher  festgestellte 
Erhöhung  der  EhestandszifTer  der  männlichen  Arbeiter  mit  der  Zu- 
nahme der  eheweiblichen  Arbeit  in  Zusammenhalt  stehe.  Kann 
doch  desto  eher  zur  Ehe  ^ijc.sch ritten  werden,  wenn  auch  die  Frau 
am  Enverb  teilnimmt  und  zu  den  Kosten  dos  Haushalts  heiträ^^. 

Die  Zunahme  der  cheweiblichen  Arbeit  wird  je  nach  dem  Stand- 
punkte der  verschietlenen  dabei  betcili<^ten  Interessen  verschieden  be- 
urteilt werden.  Wer  wie  ich  lediglich  das  Interesse  der  N'^olkskraft 
und  V'olkskultur  vor  Augen  hat,  wird  sie  als  höchst  be<k  nklich  be- 
klagen. Die  —  ohnedies  naheliegenden  —  Gründe  brauche  ich  an 
dieser  Stelle  nicht  auszuführen.  Hier  kann  es  sich  nur  darum  handeln, 
in  luichterner  (Objektivität  das  Mafs  und  die  Entwicklungstendenzen 
lestzustellen.  Soweit  die  Unterlagen  internationale  Verglcichungen 
ermöglichen ,  scheint  im  Deutschen  Reich  die  industrielle  und 
kommerzielle  .Arbeit  verheirateter  Frauen  im  Vergleich  zu  anderen 
europäischen  Imlustriestaatcn  noch  nicht  sehr  \erbreitet  zu  sein. 
Nicht  so  sehr  ihre  .Ausdehnung,  als  wie  vielmehr  ihre  rasclic  Zu- 
nahme ist  beunruhigend.  Mit  ilen  amerikanischen  X'erhähnissen  \er- 
glichen,  crx'heinl  sie  allerdingN  l>ereit>  weit  vorgeschritten.  Ich  stelle 
die  Daten  iür  Deutschland,  ( )(sterreich  und  Amerika  nebeneinander: 

Von  je  lOO  crwerbthätigen  i^rauen  sind 

in  der  Industrie  im  Handel  n.  Verkehr 


ver- 

v«'r- 

ver- 

ver- 

ledig 

heiratet 

witwet 

ledig 

heiratet 

witwet 

im  Dfutichon  Reich    .  . 

68.9 

14.6 

55.9 

22.3 

21.8 

in  '>*"st<rrciolr- 1  .... 

63,7 

12,7 

44,4 

25.5 

30.» 

in  den  Vereinigten  Staaten 

von  Amerika')   .   .  . 

79.0 

10,7 

9,3 

82,a 

7,4 

104 

Die  Oudic  der  crwerbthätigen  \erheirateten  Frauen  steht  also 
in  Oesterreich  hoher,  in  Amerika  viel  niedriger  wie  im  Deutschen 


'j  oben  (l<n  XIII.  .\l)schni(t  S.  367  ff.  • 

')  Zahlung  vom  31.  Dezember  1890. 
^  ZSbInng  vom  i.  Juni  1890. 

i 
i 


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Die  Berufs*  und  Gewerbesäbhmg  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  1S95.  jpj 

Reich.  Insbesondere  in  jenen  Industricz\vcif]^en,  in  wclciien  dcrlirols- 
bcirieb  vorherrscht,  sind  in  Amerika  verheiratete  Frauen  auffallend 
selten.')  Eine  Spezialuntersuchung  des  l^nionsarbeitsamts  liber  die 
Laj^e  der  Arbeiterinnen  in  den  amerikanischen  Grolsstädtcn-j  hat  er- 
geben, dafs  von  den  1 7  427  Arbeiterinnen,  auf  welche  die  Erhebung 
sich  erstreckte,  15  3S7  ledig,  1030  Witwen  und  nur  745  veriietfatet 
gewesen  sind  Fabrikarbdt  von  verheirateten  Frauen  scheint  also 
daselbst  eine  seltene  Ausnahme  zu  sein.  Das  deutet  auch  schon 
die  Bezeichnung  von  Fabrikarbeiterin:  fektory  oder  working  girl  an. 
Das  männliche  Arbeitseinkommen  genügt,  um  die  Frauen  von  der 
Erwerbarbeit,  zumindest  von  solcher,  die  nicht  von  der  Hauswirt- 
Schaft  aus  geschehen  kann,  zu  befreien. 

Welche  allgemeine  Erkenntnis  lälst  sich  aus  unserer  kleinen  inter* 
nationalen  Zusammenstellung  ableiten?  Ich  glaube,  keine  andere  als 
die,  dafs  die  Quote  verheirateter  Arbeiterinnen  ein  Anzeichen  iiir 
den  proletarischen  Charakter  der  Frauenarbeit  überhaupt  ist.  Denn 
sie  steht  im  umgekehrten  Verhaltnisse  zur  Auskommlichkeit  des 
männlichen  Arbeitsverdienstes  und  zur  Kraft  der  konservativen  Tra- 
ditionen, welche  die  Frau  ausschlielslich  för  jene  grolsen  Aufgaben 
in  Anspruch  nehmen  wollen,  von  deren  Erftülung  das  Wohl  und 
Wehe  der  kommenden  Generation  und  damit  auch  die  Zukunft  der 
Nationen  abhängt^)   Gilt  dies  Iiir  die  internationale  Vergleichung, 

')  Vgl.  drn  auf  S.  364  citit-ricu  Bt-richt  des  amrrikaniMrhen  .\rl)<-it>amts  und 
meine  Besprechung  bierUbcr  im  XII.  Band  dcä  Archivs  für  soziale  GcbcUgcbung  und 

Statistik  s.  135  ir. 

*)  4d>  Anmuil  Rqxnt  of  the  Commisrioner  of  Labor,  Working  Womcn  in  Larfe 
atics.  Washington  1889,  S.  304  ff' 

>)  Damit  ist  auch  das  Urteil  ansgcspiodicn  Uber  die  Beitrebangen,  die  Eli«- 
francn  gesetzlich  aus  drr  Fabrik  auszuschlicfsen.   So  w&nschenswert  das  Ziel  auch 

wäre,  so  wenig  ist  es  durch  gesetzliche  Mafsngfln  zu  errciclien,  so  lange  nicht  die 
wirtschaftliclien  und  sozialen  Voraussit/.ungen  hierfür  geschartVn  sind  durch  liic 
Hebung  der  männlichen  Lohnniveaus  und  der  allgemeinen  Lebenshaltung.  In  der  gani 
überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle  bedeutet  ja  eheweiblicbe  Arbeit  nichts  anderes, 
als  dafs  das  Einkommen  des  Mannes  den  Bedarf  der  Familie  nicht  deckt»  nad  dnfs 
die  erfofderlidie  ErgSnzoog  auf  andere  Weise  als  dwck  die  Fabrikarbeit  der  Fmn 
sich  nicht  beschaffen  Ulk.  Was  xenniSchte  ein  gcsetdiches  Verbot  an  dieser  Sachlage  m 
▼erbcasemf  Es  würde  nur  ^ne  Frimie  anf  das  Konkubinat  setien,  oder  die  Fhm  anf 
noch  mindere  Arbeitsgelegenheiten  abdringen,  hauptsächlich  in  der  Richtung  haus- 
industriellen Erwerbs.  Äimit  kämen  wir  vom  Regen  in  die  Traufe.  Nein,  wie  die 
Krauenfrage  überhaupt,  ist  auch  dieses  T<*ilproblem  derselben  nicht  einseitig  von  der 
Fraaenseite,  sondern  nur  von  der  Männerscite  aus  zulosen;  durch  die  Steigeruiig  des 


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398 


H.  Rauchberg, 


SO  möchte  ich  doch  speziell  för  das  Deutsche  Reich  die  oben  kon- 
statierte  Zunahme  der  eheweiblichen  Arbeit  nicht  ohne  weiteres  als 
ein  Merkmal  fortschreitender  Proletarisierung  überhaupt  gelten  lassen. 
Mehrfache  Umstände  lassen  jene  Zunahme  trotz  der  unleugbaren 
Hebung  des  Lohnniveaus  und  der  Lebenshaltung  erklärlich  scheinen. 
Zunächst  ist  mit  der  fortschreitenden  Ausbildung  der  arbettsthät^o 
Volkswirtschaft  der  Geldbedarf  des  Arbeiterhaushalts  überhaupt  ge- 
wachsen. Gleichzeitig  ist  sein  Kulturbedarf  erweitert,  und  die  Kosten 
des  Unterhalts  sind  vergKifsort.  Ist  auch  die  dringendste  Notdurft 
gestillt,  so  will  man  die  Lebenshaltung  doch  über  das  bisherige, 
durch  den  Erwerb  des  Mannes  gegebene  Niveau  hinausheben.  Hier 
mufs  nun  die  Hrwerbsarbeit  der  I'Vau  aushelfen.  Ihre  Vorteile  sind 
greilbar,  sie  drücken  sich  in  Mark  und  Pfennig  aus;  ihre  schwer- 
wiegenden Nachteile  und  Gefahren  entgehen  oft  dem  befangenen 
Blick  der  Nächstbeteiligten,  l^nd  so  nimmt  denn  die  Frau  die  Last 
des  Erwerbs  auf  sich,  oder  verharrt  darin  länger  als  wie  dies  sonst 
der  Fall  gewesen  wäre. 

Vielleicht  noch  wichtiger  für  die  Gestaltung  der  Ziffern  ist  ein 
anderer  Umstand:  Die  Frauen,  die  in  einem  bestimmten  Beruf  als 
erwerbthätig  ausgewiesen  werden,  sind  keineswegs  immer  mit 
Männern  des  t^leiclieii  Beriif'<  verheiratet.  Zum  Teil  sind  <ic  von 
anderen,  sclilt  c  hter  gelohnten  IJerufen  aus  zu  jenem  Beruf  über- 
gcii^angcn  und  gehören  eigentlich  einer  tieferen  sozialen  Schicht  an. 
Gestatten  es  die  Löhne  eines  günstig  siliiiei  ten  Gewcrbe7.vveiges  den 
Arbeitern,  ihre  Frauen  zu  Hause  zu  belassen,  so  bewerben  sich  doch 
Prauen,  deren  Männer  anderen,  ininder  entlohnten  Berufen  angehören, 
um  jene  weiblichen  Arbeitsstellen.  Die  Zahl  der  in  einem  bestimmten 
Berufe  be.sciiäft igten  Ehefrauen  hängt  also  nicht  blofs  von  den  .Arbeits- 
löhnen dieses  Berufs,  sondern  auch  von  ihrem  \'erhältnis.se  /u  dem 
sonstigen  Lohnniveau  der  (iei;etui  ab.')  Insbesondere  tracluen  die 
Frauen  schlecht  gelohnter  landwirtschaftlicher  Arbeiter  oder  kleiner 
( irundliesitzer  auf  solche  Weise  von  dem  höheren  Lohnniveau  der 
Intlu^tnc  zu  prolitiercn.    Sie  las.sen  also  die  Quote  der  eheweiblichen 

ii»milich<;n  lünkomincas  bis  rar  Höhe  des  vollen  Funilienbedarfs.  Dann  bött  die 
Arbeit  der  Ebefnuien  von  selbst  auf.  Sind  erst  diese  Voraussctzunpcn  gegeben,  dann 
woll.n  wir  iin«  dir  "eselzliche  Sanktion  ihrer  Rückwirkunj;  auf  die  ebeweibliche 
Arbeit  j^tTtK-  f,'rt;illt:ii  l.issi'n.    .\lier  bis  dahin  i^t  der  Wrg  noch  weit. 

'i  Vgl.  die  inltTt  »s.ini«-u  l.rht  buiitjcn  von  M  .i  r  t  i  n  ^>er  den  Herut"  der  Ehe- 
männer der  in  der  KrimmiU>cbauer  Strcicbgamindustrie  arbeitenden  1-  rauen,  a.  0. 
S.  45  ff. 


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Die  Berufs«  und  GewerbexSUdiiiig  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  1895.  399 


Arbeit  in  der  Industrie  höher,  in  der  Landwirtschaft  nietlri^cr  er- 
scheinen, als  dies  dem  Berufe  der  l)CtreH'eiidcii  l'!hcniiinner  nach  der 
I'.iU  sein  niuisle.  In  dem  Mafse  als  sich  das  Lohimi\eau  eines  Be- 
rufs hebt,  werden  zwar  die  bVauen  der  darin  beschäftigten  Arbeiter 
von  der  Erwerbarbeit  entlastet,  aber  Frauen  aus  minderen  Berufen 
strömen  dafür,  vielleicht  sogar  noch  zahlreicher  ein.  Der  Umstand, 
<]a(s  Mann  und  Frau  in  zahlreichen  Fällen  verschiedenen  Berufen 
angehört,  verhindert  es  also,  aus  der  Quote  der  eheweiblicben  Arbeit 
und  ihren  Veränderungen  auf  das  soziale  Niveau  und  die  Lebens- 
haltung in  diesem  Beruf  zunickzuschliefsen.  Die  Quote  der  Frauen- 
arbeit  und  speziell  der  ehewetblichen  Arbeit  ist  zwar  höchst  charak- 
teristisch iär  die  gesamte  Volkswirtschaft  im  Vergleich  zum  Ausland, 
nicht  aber  fiir  die  Lage  der  einzelnen  Berufe  und  für  die  Beurteilui^ 
ihrer  Entwicklungstendenzen. 

3.  Der  Familienstand  in  Verbindung  mit  der  Altersgliederung. 

Der  Familienstand  ist  in  hohem  Mafse  durch  das  Alter  bedingt 
Die  besonderen  Familienstandsverhaltnisse  der  einzelnen  Berufe  oder 
Beruistellungen  treten  erst  dann  rein  zu  Tage,  wenn  man  sie  för  die 
einzelnen  charakteristischen  Altersgruppen  gesondert  untersucht 
Hinsichtlich  der  vier  Hauptkategorien  der  Berufszuhdrig- 
kett  geschieht  dies  in  der  nachstehenden  Uebersicht,  welche  gleich- 
sam als  die  Fortsetzung  der  Uebersicht  auf  S.  387  anzusehen  ist 

Von  je  100  nebenbezeichneten  Personen  sind 

Kategorien 

der  Berufs-  ledig  verheiratet  verwitwet 

mgehörigkeit     mimiL  wcibl.  ins.    mlnnl.  wdbl.  ms.    minnl.  welbL  sas. 

im  Alter  von  16—30  Jahren 

Erw.Tbthätige     .  80,37  90,12  83,25  19,45  9,02  ^f>A7  o,iS  0.86  0.38 

Ditinnd.^   .    .    .  97,49  99,50  00,47  2,38  0.34  0.37  0.13  0,16  0,16 

Angehörige         .  97,97  44,30  48,63  1,96  55,47  51,15  0,07  0,23  0,22 
Beruf  lose  Selb- 

slindige    .   .  95,44  86,75  9»,34  4,i8  6,41  4.9»  0,38  «.^ 

in  ganzen  .  81,46  70,2a  75,79  18,37  a9,H  »iM  o,»7  <^S4  0,3,6 

in  Alter  von  30—50  Jahren 

ErwerbtbStige    .   13^3  33,80   17,67   84,17  42,4a  76,15  2,00.33,78  6,18* 

Dienende  .  .  .  70,15  88,31   87,75  a7»<9    3.55    4i30  «i»*    8,14  7.95 

Angehörige   .  .  64,69^5.68     6,27  33,07  93,13  92,53  2.34     t,l9  !,«> 
Krniflose    Selb-  ^ 

ständij,'c     .    .    39,24    36.15    37,46    55,31     12,59    30,70  5,45    51,26  31,84 

im  ganien  .    14,79    »4.73    »4.76   83,14    77,61    80,31     2,07     7,66  4,9s 


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I 


^Oü  H.  Kauebberg, 

Kategorien  Von  je  loo  nebenbeteidmetc»  Penoncn  dnd 

der  Hcnils-  l<'dig  verheiratet  verwitwet 

siigehörigkeit     m&nnl.  weibL    ms.    nXmiL  weibl.    xus.  miiuiL  weibL  as. 

im  Alter  von  50  und  nebr  Jahren 

ErwerbthStige  6,89  17,56    9,58  80,51  HM  ^37  «t6o  58^  M/>$ 

Dienende  .   .   .  49,17  58,34  58,11  30,34  4,14  4,80  »,39  37,5a  37« 

Atgebörige   .   .  18,30  4,94     5,57  3<«44  74.44  7»A0  5*>*3ß  *ofi2  »»,03 

Bemflose  Selb* 

stindige    .   .  11,00  17,84  14,75  5^,17  4,75  »7,95  3».83  77»4i  57.30 

im  ganicn  .  7,95  10,96  9,56  74,94  49,64  6i,4«  17,»«  39,40  5W»3 

Indem  ich  in  allen  anderen  Punkten  auf  die  vorstehende  L'eber- 
sicht  selbst  verweise,  will  ich  nur  auf  den  aufserordentlichen  Einflufs 
aufmerksam  machen,  den  der  Tod  des  Ehemannes  auf  die  Erwerfo- 
thätigkcit  der  Frauen  insbesondere  in  den  liöheren  Altersstufen  aus- 
übt. Während  \'on  den  männlichen  Erwerbthätijrcn  im  Alter  von 
50  Jahren  und  darüber  80,5  Prozent  verheiratet  und  nur  12,6  Prozent 
verwitwet  sind,  sind  unter  den  erwerbthätigen  Frauen  jenes  Alters 
58,0  Prozent  verwitwet  und  nur  24,4  Prozent  verheiratet.  Die  rasche 
Minderung,'  in  der  Htiote  der  eheweiblichen  Arbeit  mit  zunehmen- 
dem Alter  ist  also  nicht  so  sehr  auf  den  Austritt  jener  Frauen  aus 
der  Erwerbthätii^keit  als  wie  vielmehr  auf  ihren  Ucbertritt  in  die 
Gruppe  der  Witwen  zurückzuführen.  Das  wird  bei  der  Beurteilung 
der  nachstehenden  X'erhältniszahlrn  zu  berücksichtigen  sein,  welche 
lediglich  die  (Juote  der  Verehelichten  unter  den  Erwerbthätigen 
jeder  .Altersstufe  zunächst  nach  Berufsabteilungen  und  dann 
nach  sozialen  Schichten  dai  stellen. 

Ks  sind  verheiratet  von  je  lOO  im  nebenbezeichneten  Alter 
Stehenden  Erwerbthätigen  der  Berufsabteilung 


Landwirt- 

In. 

Handel  n. 

Lohn- 

OcffcntL 

im  Alter 

Schaft 

duttnc 

Verkehr 

arbeit  etc. 

Dienst 

a)  mEnnlichet  Geaehlecht 

Ol 

16— ao  Jahren 

o.a7 

o,a7 

0,33 

1,13 

0,88 

,» 

ao— 30  „ 

*7,S0 

35,4s 

31,99 

46,a4 

6,95 

a8,S3 

•« 

30—40  „ 

7«i73 

«3.93 

«1,34 

«3i99 

71,94 

81,08 

tl 

40—50  „ 

«7,3« 

89,09 

«9,53 

86,69 

«4,«9 

88.36 

II 

5o<-6o  „ 

84,79 

86.64 

88,17 

84,# 

«a.99 

85,76 

>• 

60—70  „ 

75.92 

7S,o3 

So.  7  3 

7<>.7S 

74.«  I 

76,92 

,1 

70  u.  darüber 

59,98 

61,32 

65,24 

60,67 

50,30 

60,53 

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Die  ütvaii-  und  Geverbez&hlung  im  UeuUclien  Reich  vom  14.  Juni  189$. 


Laudwirt- 

In- 

Handel u. 

Lohn- 

Oeffenll. 

zu- 

im  Alter 

•cfaaft 

dustrie 

Verkehr 

arbeit  etc. 

Dienst 

b) 

weibliches  Geschlecht 

ran 

i  16—20  Jahren  0.67 

0,69 

0,47 

0,48 

0,47 

0,65 

II 

»—30  « 

I4i68 

ia,07 

8,67 

5.65 

«4,7» 

tt 

30-^ 

53,6a 

37,01 

46,84 

25.37 

16,45 

43,65 

»♦ 

40—50  „ 

4«,36 

3a,89 

45.05 

31.33 

3a,09 

41,04 

1» 

50—60  „ 

34,78 

«3,34 

3»,98 

14,34 

19,69 

30,11 

1» 

60 — 70 

22.73 

14,09 

18.02 

8.43 

15.66 

I9r4l 

«• 

70  u.  darüber 

ia,o9 

7,»4 

8.9* 

4.S8 

8,82 

10,20 

Aus  den  Ergebnissen  dieser  Tabelle  will  ich  nur  hervorheben, 
dafs  der  Verlauf  der  Ehestandssdfier  in  der  Landwirtschaft  bei  den 
beiden  Geschlechtem  der  entg^engesetzte  ist.  Beim  männlichen 
Geschlechte  bleibt  die  Ehestandszifier,  insbesondere  auf  den  unteren 
Altersstufen,  hinter  jener  der  Industrie  und  des  Handels  erheblich 
zurück,  beim  weiblichen  überragt  sie  dieselbe  durchaus,  am  meisten 
auf  den  mittleren  Altersstufen. 

Was  endlich  den  Familienstand  in  Verbindung  mit  dem  Alter 
in  den  einzelnen  sozialen  Schichten  betrifft,  so  hebe  ich  aus 
der  Fülle  des  Materials  nur  die  nachstehenden  Ziffemreihen  heraus: 

Es  sind,  die  Beru&abtetlungen  Landwirtschaft  Industrie,  Handel 
und  Verkehr  zusammengenommen,  verheiratet  von  je  100  im 
nebenbezeichneten  Alter  stehenden 


Sdb- 

Ar. 

Selb. 

Ange- 

Ar- 

im Alter 

stindigen  stellten 

beitem 

stindigen 

stellten 

beiten 

männlich 

weiblich 

von  16 — 20  Jahren 

8,10 

0.35 

0.22 

1.05 

0,19 

0.63 

»  20—30  „ 

68,16 

21.75 

27.32 

«7.78 

3.22 

15.1 1 

„  30-  40 

90,20 

73.63 

76.54 

33,09 

12,21 

51,81 

„  40—50  „ 

92,69 

86,91 

83,96 

23,08 

15,61 

56,5» 

„  50-60  „ 

'89,26 

87,0a 

81,09 

13,79 

«5,90 

47,66 

»  60-70  „ 

8i,as 

80,05 

70,35 

7,«9 

13,41 

33.47 

„  70  mid  darflber 

66,05 

63,96 

51.35 

4,38 

4,8» 

iSt95 

Auch  hier  ist  die  in  mancher  Hinsicht  gegensätzliche  Gestaltung 
der  V^crhältniszahlcn  bei  den  beiden  Geschlechtern  bemerkenswert. 
Während  die  Ehestands/.ifler  der  männlichen  Selbständigen  durchaus 
und  am  meisten  in  den  jüngeren  Altersklassen  über  jene  der  antlercn 
sozialen  Schichten  sich  erhebt,  ist  dies  beim  weiblichen  (ieschlecht 
blofs  auf  den  untersten  beiden  Altersstufen  der  Fall.  Darüber 
hinaus  sind  es  die  Arbeiterinnen,  die  bis  ins  Greisenaiter  hinein 


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402 


H.  Kauchberg, 


durchaus  höhere  Ehestandszahlen  ausweisen,  wie  die  selbständigen 
oder  die  angestellten  Frauen,  ein  neuer  Beleg  fUr  den  überwiegend 
proletarischen  Charakter  der  eheweiblichen  Arbeit. 

XV.   Das  Glaubensbekenntnis  der  Erwerbthätigen. 

Das  ( ikuibensbekenntnis  ist  sowolil  bei  der  Berufszahlung  von 
i8q5  als  auch  bei  jener  von  18S2  für  alle  individuell  f^czählten 
rcr.soneri  ermittelt  weiden.  Aber  nur  die  Daten  für  1895  Miid  für 
tlas  ^anzr  Reich  bearbeitet  worden.  1 882  ist  von  der  Reirhsstatistilc 
auf  die  IVarbeitunj^  der  t  insc  lilä'Mj^en  l'!rL;ebni>se  verzichtet  worden. 
Riols  für  einzelne  Bundesstaaten  liei^t  sie  vor.  Die  X'er^deiehung 
der  Ergebnisse  beider  Bcrufszälilungen  für  den  Umfang  des  ganzen 
Reichs  ist  also  in  diesem  Tunkte  unmöglich.  Aber  auch  1895  er- 
streckte sich  die  Bearbeitung  nicht  auf  die  gesamte  Bevölkerung, 
sondern  nur  auf  die  Erwerbthätigen.  Die  Materialien  gestatten  daher 
nicht  die  Beantwortung  der  interessanten  Frage,  im  welchen  Ver- 
hältnisse Erwerbthätige  und  Familienmitglieder  unter  den  An* 
gehörigen  verschiedener  Glaubensbekenntnisse  zueinander  stehen. 
Doch  ergeben  «ch  hierfiir  gewisse  Anhaltspunkte  durch  den  Ver- 
gleich mit  der  Gliederung  der  Gesamtbevölkerung  nach  dem 
Glaubensbekenntnisse,  wie  sie  durch  die  Volkszählung  vom  I.  De- 
zember 1890  festgestellt  worden  ist   Es  wurden  ermittelt 


1895 

1890 

Erwerbtbitige*)  und 

oitsanveiende 

Dienend« 

Personen 

absolut 

Prooent 

Prawnt 

cvaagduche  Christen  .... 

'5078555 

62,17 

62,77 

katholische        „  .... 

8S62072 

35.76 

anfl.T»'  .... 

6244S 

0,26 

0,20 

I^r.ii  lit'.-n  

244  5H6 

1,01 

b»5 

Hekcnucr  anderer  Kcli<:ioii(  ii  . 

5  338 

0.02 

0,03 

zusammen  . 

24252999 

ioo,cx> 

100,00 

Unter  der  Voraussetzung,  da&  sich  nicht  etwa  die  konfessionelle 
Zusammensetzung  der  gesamten  Bevölkerung  seit  i8go  in  der 

gleichen  Richtung  geändert  habe,  kann  aus  dem  Umstände,  dafs  die 
Quote  der  Erwerbthätigen  bei  den  Katholiken  höher  steht  als  unter 
der  Gesamtbevölkerung,  bei  allen  anderen  Konfessionen  aber 

Eiiiscblicfslich  der  bcruflosen  Selbständigen. 


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Die  Herut's-  und  Gewerbczählung  im  Dcut^hen  Reich  vom  14.  Juni  1895. 


niedriger,  geschlossen  werden,  da(s  bei  den  Katholiken  verhältnis- 
nnäTsig  weniger,  bei  allen  anderen  Konfessionen,  insbesondere  bei 
den  Evangelischen  und  den  Israeliten  verhältnismäßig  mehr  Personen 
in  der  Stellung  der  Familienangehörigen  verbleiben.  Das  wird  in 
erster  Unie  verursacht  durch  das  Verhältnis  zwischen  Erwerbenden 
und  nicht  Erwerbenden  in  den  Berufen,  denen  die  Angehörigen  der 
verschiedenen  Bekenntnis^  sich  hauptsachlich  widmen,  und  dann  durch 
die  besondere  Berufsgliederung  der  Gebiete,  woselbst  sie  ansässig  sind. 

Ueber  die  konfessionelle  Zusammensetzung  der  einzelnen  Be- 
rufsabtetlungen,  sowie  über  die  Berufsgliederung  der  hier 
unterschiedenen  Konfessionen  unterrichten  uns  die  nachstehenden 
beiden  Uebersichten : 


Von  100  Erwerbthätigen  jeder  Berufsabteilung  sind 


C  h  r  i  s  t  0  n 

Isra- 

Bekenner 

Berufsabt  eilangen 

cvaagel. 

kathol. 

andere 

eliten 

aiK  lerer 

Religionen 

43.01 

o,aa 

0,04 

0,01 

•  H54 

34,57 

0,3t 

o,5S 

0,03 

.  «5,7« 

38,21 

0,26 

5,71 

Lohnarbeit  wechselnder  Art  . 

.  68,75 

30,84 

0,19 

0,21 

0,01 

Oeffcntl.  Dienst,  freie  BerttfauteB  66,54 

32,'8 

0,32 

1,03 

0,03 

Sflbständigr  ohne  Beruf 

•      «  « 

.  63,93 

33  9« 

0,27 

1,86 

0.03 

H&usUche  Dienstboten 

6?,  30 

33.93 

0,20 

0,47 

0,01 

im  ganzen 

36,54 

0.26 

l,OI 

0.02 

Auf  die  einzelnen  Berufsabteilungen  entfallen  von  loo  Erwerb- 

thätigen  jeder  Konfession 

über- 

r )i  r  i  s  t  0  n 

Isra- 

Bekenner 

Berufs- 

haupt 

evangcl. 

kathol. 

andere 

eliten 

anderer 

abteilangen 

Religionen 

Laaclwiftichafl  .  .  .  . 

34,19 

31,10 

40,14 

«9,55 

t.3« 

9,8s 

34,t$ 

3Si44 

3a,3«> 

4i,S4 

18,80 

4Ä,57 

9.64 

io,ao 

7.44 

9,57 

54,56 

18,8t 

Lohnarbeit  Wechsel.  Art 

1,78 

»,97 

i,5» 

1,34 

0,36 

Oeffenllichcr  Dienst,  freie 

Bcrulsartcn  .... 

5.88 

6,29 

5,«8 

5,03 

5.99 

7.02 

Selbständige  ohne  Beruf 

8,84 

9,09 

8,20 

9,07 

16,30 

13,00 

HIniliclie  Dienstboten  . 

5.52 

5.13 

4,at 

s,6i 

3.l6 

Für  die  Berufs^^ 

licderu 

ng  der  F.v 

angelischen  und 

der  Katholiken 

ist  char.'iktcristisch, 

dals  diese  einen 

gröl.scren,  jene 

einen 

kleineren 

Teil  zu  (irr  laiulwii  tschaftlichen  Herufsbcvölkcrunf,'  stellen  als  ihrem 
sonstij^en  Zahlenv  eriiäUnis  cntsj)richt.  Uiiiy;ekehrt  ist  demzufolge 
das  Verhältnis  ihrer  Anteile  an  den  anderen  Berufsabteilungen. 


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404 


H.  Kauebberg, 


Insbesondere  erscheint  der  Anteil  der  Evangelischen  an  der  Lohn* 
arbeit  wechselnder  Art  und  am  öfTentlichen  Dienst  besonders 
hoch,  der  Anteil  der  Katholiken  am  Handel  und  an  der  Lx>hnarbeit 
wechselnder  Art  besonders  gering.  Die  Israeliten  gehören  zur 
gröfseren  Hälfte  dem  I-Iandel  an  und  sind  daran  mehr  als  fiinlinal 
so  stark  beteiligt  wie  ihrem  sonstigen  Zahlenverhältnis  zur  Be* 
völkerung  entspricht;  auch  ihr  Anteil  an  der  Abteilung  der  beruf- 
losen  Selbständigen  und  am  öffentlichen  Dienst  und  freien  Beruf 
geht  um  ein  geringes  darüber  hinaus. 

Untersuchen  wir  das  konfessionelle  Gefiige  der  einselnen  Be- 
rufsgruppen, so  fallen  durch  Prozentsatze,  welche  den  durch- 
schnittlichen Anteil  erheblich  überragen,  auf:  die  Evangelischen  im 
Versicherungsgewerbe  (77,67  Prozent),  polygraphischen  Gewerbe 
(74,51  Prozent),  in  der  Maschinen-  und  Papierindustrie  (71,79  uod 
70,14  Prozent)  und  im  Verkehrsgewerbe  (69^15  Prozent);  die  Katho- 
liken, von  der  Landwirtschaft  (43»  17  Prozent)  abgesehen,  im  Berg- 
bau und  Hüttenwesen  mit  55,05  und  in  der  Gruppe  der  gewerb- 
lichen Personen  ohne  nähere  Bezeichnung  mit  42,05  Prozent;  die 
Israeliten  neben  dem  Handelsgewerbc,  wozu  sie  10,55  Plrozent  der 
Erwerbthätigcn  stellen,  auch  noch  im  Versicherungsgewerbe  (3,14 
Prozent),  in  der  Infiu-irie  der  Nahrungs-  und  Genufsmittel,  sowie 
der  Bekleidung  und  Reinigung  (1,48  und  1,19  Prozent);  die  „sonstigen 
Christen"  und  die  Bekenner  anderer  Religionen  sind  bezeichnender 
Weise  in  den  künstlerischen  Betrieben  mit  0,65  und  0,13  Prozent 
verhältnismäfsig  am  stärksten  vertreten. 

Die  Unterschiede  in  der  sozialen  Stellung  der  Ervverb- 
thätigen  verschiedener  Konfession  werden  in  der  nachstehenden 
Uebcrsirht  dargestellt : 

Ks  sind  von  je  100  dem  ncbenbezeichneteii  Glaubensbekenntnis 
an;^ahöi  i^ari  Krwerbthäti^nMi  der  3  Beruüsabteüungen  Landwirtschaft, 
Industrie,  Handel  und  \' erkehr 


in  der 

Landwirtschaft 

in  der  Industrie 

Glaubensbekenntnis 

Selb- 

Au- 

Ar- 

Selb- 

Ar- 

stSndige  gestdlte 

itfndigc 

gestdltie 

bester 

evuigeliiche  Guristen.   .  . 

««.37 

0,64 

«7,5« 

11.73 

1,6s 

3».7« 

katbolisclie       „     .  .  , 

15,87 

0,3t 

34.t3 

0,98 

«9.94 

andere            „  ... 

0,39 

aobso 

a.31 

33.90 

Christen  überliaiipt    .    .  . 

I3J» 

30,04 

10,88 

1,3« 

3if7i 

0,88 

0,04 

0,92 

ia,9i 

3.05 

9.20 

Bekenner  anderer  Kt  lipionen 

6,05 

0.47 

6,58 

17.13 

4.«  1 

40,66 

im  ganzen  . 

0,51 

29,76 

10,90 

1.39 

3  «.♦9 

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Die  Berufs-  und  Gcwcrbezählung  im  Deutschen  Reich  vom  14.  Juni  1895.  ^05 


im 

in  Landwirtschaft,  Industrie 

Handel  nnd  Verkehr 

nnd  Handel  «uammen 

Glaubensbekenntnis 

Selb- 

An- 

Ar- 

Selb- 

An- 

Ar- ■ 

st.Hn(ii<:r 

{gestellte 

beiter 

ständige 

gebt  rlltc 

heiter 

cvaiigcliscbe  Christen .  . 

•  4,t« 

7.05 

28,70 

67.41 

katholisehe       „      .  . 

*  3f»i 

0^80 

28,54 

2.09 

andere            „     .  . 

i>93 

4,30 

36,67 

4,63 

58,70 

Christen  flberlmapt    .  . 

•  4.07 

6,38 

a8,66 

3,ai 

68,13 

.  43.«a 

8,ao 

20,98 

S7.6I 

11,29 

3«.io 

Bekenner  anderer  Rdigionei 

B  10,Sl 

10,48 

33.99 

8,39 

57.7« 

im  ganxen 

.  4,4Ä 

a«.94 

3i29 

67.77 

W'ir  entnehmen 

daraus, 

dafs  unter  den 

Kaliiol 

ikcti  die 

Selb- 

ständigen   und  Ango 

LcUton.  I 

i.inicnlli» 

:h  in  der  Industrie  sowie  im 

Handel  und  X'crkehr, 

minder 

häufig  vertreten 

sind, 

wie  unter  den 

Evangelischen  und  vollends  unter  den  „anderen  Christen".  Hingegen 
steht  der  Prozentsatz  der  selbständigen  Landwirte  bei  den  Katho- 
liken etwas  hdher  als  bei  den  Evangelischen,  was  sich  daraus  er* 
klärt,  dafs  im  protestantischen  Norden  und  Osten  des  Deutschen 
Reichs  der  landwirtschaftliche  Grofsbetrieb  viel  mehr  verbreitet  ist, 
wie  im  vorl  iegend  katholischen  Süden  und  Westen.  Damit  stimmt 
auch  die  gröfsere  Anzahl  der  evangelischen  Angestellten  in  der 
Landwirtschaft  überein. 

Viel  grölsere  Unterschiede  als  zwischen  Evangelischen  und 
Katholischen  bestehen  hinsichtlich  der  sozialen  Gliederung  zwischen 
den  Christen  überhaupt  und  den  Israeliten,  indem  unter  diesen 
durchweg,  am  aufialligsten  aber  im  Handel  und  Verkehr,  die  Selb- 
ständigen  und  Angestellten  den  Arbeitern  gegenüber  in  den  Vorder- 
grund  treten.  Während  bei  allen  anderen  Konfessionen  die  Ab- 
hängigen überwiegen,  ist  die  Mehrzahl  der  Israeliten  in  selbständiger 
Stellung  erwerbthätig.  In  der  Industrie  halten  sie  die  Schicht  der 
Selbständigen  beiläufig  ebenso  stark  besetzt  wie  jene  der  Ab- 
hangigen, im  Handel  und  Verkehr  sind  ihrer  rund  zwei  Dritte 
selbständig  und  nur  ein  Drittel  ist  abhängig. 

Schlafs  des  «weiten  Teiles. 


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Landwirtschaftliche  Manufaktur  und  elektrische 

Lrandwirtschaft 

Von 

Dr.  OTTO  PRINGSHEIM, 

in  Breslau. 

Die  fast  endlosen  Debatten  über  die  Ag^rarfrage  haben  noch 
immer  nicht  die  erwünschte  Klärung  L;el)racht.  \'iellcicht  lic^^'t 
der  eirund  hierfür  in  dem  Umstand,  dafs  bei  Behandlung  der  Agrar- 
frau^e  mit  althert^cbrachten  Scliablonenbcfjriflen ,  wie  Grofsbetrieb 
untl  Kleinbetrieb,  ()|»eriert  wird.  Allein,  wie  erst  die  feineren  morpho- 
lü^^ischen  Untersucliun^aii  der  letzten  Jahre  c^rolsere  Klarheit  üi)cr 
die  Hnt wickluni^stendenzen  der  Industrie  gebracht  haben,  so  bedarf 
es  wahrscheinlich  eines  tieferen  P-indringens ,  um  auch  auf  agra- 
rischem Gebiet  zu  bcfriedii^enden  Resultaten  zu  i^felan^^cfi. 

l  iiserc  Auff,fal)e  kann  es  nicht  sein,  den  «^'anzen  ^^)rnlenreichtu^1 
der  landwirtschaftlichen  Iintwicklunfj  zu  verfolgen.  Ks  soll  nur 
eine  (  liaraktcrisierung  der  Formen  versucht  werden,  die  der  Land- 
wirtschaftsbetrieb während  der  kapitalistischen  Ki'oclic  annimmt,  und 
besonders  bestimmt  werden,  welche  Kntwicklun^sstufe  die  heutige 
deutsche  Landwirtschaft  erreicht  hat.  Die  vorkapitalistischen  l  orraeo 
des  Ackerbaus  bleiben  daher  unberücksichtigt. 

Die  Landwirtschaftslehre  hat  sich  mit  den  Fragen  der  agra- 
rischen Morphologie  so  gut  wie  gar  nicht  befeist  Sie  untersdiddet 
allerdings  verschiedene  Systeme  des  Feldbaus  und  der  Viehhaltung. 
Allein  sie  charakterisiert  dieselben  in  rein  technischer  Weise  als 
Dreifelderwirtschaft,  Koppelwirtsdiaft,  Fruchtwechselwirtscbaft,  lafet 
das  ökonomische  Moment  unbeachtet  oder  verwendet  es  in  ver- 
wirrender Weise.  *) 

*j  VgL  hierzu  den  Arukcl  „Ackcrbau:>yälcmc"  von  von  der  Goltz  un  Hand- 


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Landwirtschaftliche  Mauufaktur  und  elektrische  Landwirtschaft. 


Auch  die  Nationafökonomen  haben  die  hier  angedeutete  Lücke 
nicht  ausgefüllt^)  Gewohnlich  begnügten  sie  sich  mit  dem  Hin- 
weis, da&  Grolsgrundbesitz  und  Groisbetrieb  nicht  zusammenzufallen 
brauchen  und  unterschieden  Grofsbetrieb  und  Kleinbetrieb  in  ganz 
äufserlicher  und  unzureichender  Weise  nach  der  Anbaufläche.^ 

Die  Industrie  hat  bestimmte  Betriebsformen,  die  eine  fort- 
laufende Entwicklungsreihe  darstellen.  Für  jeden  Geschichtsabschnitt 
ist  eine  dieser  Formen  charakteristisch,  wenn  auch  aus  der  voran- 
g<^angenen  Epoche  zahlreiche  Reste  fortleben.  Bei  Kennzeichnung 
der  verschiedenen  Formen  wurde  oft  der  Fehler  gemacht,  sie  nach 
einem  einzelnen  Moment,  wie  dem  Absatz,  der  Arbeitsteilung  etc. 
zu  bestimmen.  Man  muls  vielmehr  jede  Betriebsform  sowohl  nach 
der  quantitativen,  wie  nach  der  qualitativen  Seite  betrachten,  ihre 
Eigentümlichkeiten  in  der  Technik,  Arbeitsverfassung  und  Ver- 
waltung erfassen. 

Knapi)s  Behauptung,  dafs  die  kapitalistische  Entwickluf^  früher 
in  der  Landwirtschaft  als  in  der  Industrie  auftrete,  dürfte  nur  cum 
j^rano  salis  zu  verstehet)  sein.  Vor  der  Ablösung  der  gutsherriich- 
bäuerlichen  \'crhältnissc  i<onnte  von  einer  wirklich  kapitalistischen 
Wirtschaftsverfassung  keine  Rede  sein.  Aber  auch  nach  der  ßauem- 
befreiung  hielt  nicht  überall  ein  kapitalistischer  Grofsbetrieb  seinen 
Einzug  in  die  Landwirtschaft.  In  zurückgebliebenen  Ländern  ,  wie 
in  Rumänien,  lebten  die  eben  abgelösten  Hand-  und  Spanndienste 
in  anderer  Form  wieder  auf.  Anderwärts,  wie  in  Böhmen,  war  die 
nächste  Folge  nicht  der  Grofsbetrieb,  sondern,  da  den  Besitzern 
Geld  und  Inventar  fehlte,  eine  Zunahme  kleiner  Pachtungen,  'i 

Man  könnte  die  I'rage  aufwerfen,  ob  nicht  ähnlich  wie  das  Ver- 
lagssystem ein  Mittelglied  zwischen  Handwerk  und  Gro(sindustrie 


Worterbuch  cit-r  St  W.  2.  Aufl.,  der  die-  herrschende  liikhirhiit  ilhi>tri<  ri.  Stit-da 
(Art.  „Fabrik"  im  Handwörterbuch;  bemerkt,  das  Ackcrbausystfm  st-i  wesentlich 
tecfaniscber  Natur  und  könne  mit  mehr  oder  weniger  Aufwand  an  Kapital  und  Ar« 
beit  beuieben  werden.  Trotidcm  nacht  er  keinen  Venucb  einer  anderen  Klassi- 
fikation der  «grariscben  Entwicklung. 

')  Richard  Jones  (Essay  on  the  distribntion  of  wealth  and  the  sonrces  of 
taxation)  bat  schon  1S31  die  Terschiedenen  Formen  der  prundrente  unterschieden 
Er  kennt  serf  rents,  melayer  rcnts,  ryot  rents,  peasanl  rents,  cottier  rents  und  iarme 
rento. 

*)  Vgl.  Conrad,  ,,I'..iucrngut  und  Bauernstand"  im  Handwörterbuch  II,  S.  43S 
•)  Guido  Kratlt,  Hin  GroUgrundbe-itz  der  Gegenwart.    Wien  1872  J>.  1  fl 
Vgl.  auch  Griinberg  in  Scbmollcri>  Jahrbuch  21,  S.  135  fT. 


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4o8 


Otto  Pringsheim, 


bildet,  eine  analoge  Krsrheinung  sich  auf  dem  Wc^^'c  von  der  Baucrn- 
wiitscliaft  zum  laiuhvirtschaftlichen  Grolsbetricb  findet. ')  In  der 
That  fehlen  Verlagsverhähni'^sc  in  der  Landwirtschaft  flieht  g^anz. 
üa  jedoch  che  Hauptprodukte  der  bäuerhchen  Wirtschaft,  Getreide 
und  Vieh,  teils  von  den  Produzenten  selbst  konsumiert,  teils  auf 
Lokahnärktcn  abgesetzt  wurden,  mulste  das  \'erhältnis  des  Händlers 
zum  IVofiuzenten  ein  andere^  werden ,  als  in  der  hidustrie.  Wo 
Handelsprtan/.en  gebaut  werden,  tiiiden  wir  jedoch  nierkwürdii^e 
Analogieen  zu  den  X'erlagsverluiltnissen  der  Hausindustrie.  \  om 
holländischen  Tabakbau  wird  berichtet:  „Der  Tabak  wird  von  den 
Pflanzern  nicht  direkt  an  Konsumenten  oder  Grofshändler  verkauft, 
der  Wrkauf  findet  durch  X'erniittlung  von  l-"aktoren  statt  .  d.  h. 
von  Per>onen ,  die  in  den  Bezirken  des  l  abakioaus  wc^hnhaft.  im 
Sonmier  den  Tabak  auf  dem  Felde  besichtigen,  den  eingeernteten 
Tabak  während  des  Trocknens  beobachten,  und  endlich,  wenn  der 
1  abak  zus.nnmeiiL;ebunden  ist,  ihn  kaufen  und  in  Empfang  neinnen. 
Dann  lassen  sie  den  Tabak  in  ihren  eigenen  Lagerhäusern  die 
Gährung  durchm.ti  iu  n .  um  ihn  schlielslich  an  tlie  eigentlichen 
Käufer,  Cirofshändler  und  I'abrikanten,  als  deren  Makler  sie  fungieren, 
gegen  Berechnung  von  Pro\  ision ,  Miete  etc.  abzuliefern.  In  ein- 
zelnen Fällen  kaufen  die  Faktoren  jedoch  für  eigene  Rechnung. 
Ein  anderer  Fall,  der  hierher  gehört,  ist  das  Verhältnis  des.  Rüben- 
bauers zur  Zuckerfabrik.  Gerade,  wie  der  hauandustrietle  Weber 
sein  Garn  vom  F  hrikanten,  erhält  der  Rübenbauer  den  Samen  von 
der  Zuckerfabrik.  Die  Rübenverträge  enthalten  auch  scharf  formu« 
lierte  Bestimmungen  äber  den  Bau  und  die  Ablieferung  der  Rüben, 
die* häufig  vexatorischer  Natur  sind.')  Man  mufs  jedoch  eine  zu 
formalistische  Betrachtung  des  hier  gekennzeichneten  Abhängigkeits- 
verhältnisses vermeiden.  Dieses  braucht  für  den  Grofi^rundbesttzer 
nicht  drückend  zu  sein  und  verschwindet  gänzlich,  wenn  die  Rüben- 
bauer Aktionäre  der  Zuckeriabrik  sind. 


')  licjit  mir  fern,  hier  auf  die  vou  K.  Liefmann  jüngst  angeregte  Kontro- 
verse aber  das  Wesen  des  Verlags  einxiigehen.  Jedcnfiüs  wird  die  Betrachtung  der 
bisher  unbeachteten  landwirtschaftlichen  VerlagsverhBltnisee  für  die  Eatscheidong  der 
Streitfrage  von  Wichtigkeit  sein. 

')  Citkomsten  van  het  onderzock  naar  den  toestand  van  den  laodbovw  in 
Nederland.   Haag  1890.   III,  96.  S.  4. 

*)  Noch  schärfere  Bestimmnngcn  sind  in  den  Vertrigen  fitr  den  Anban  von 
Samcnraben  vorgesehen. 


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Landwiitscbaftliche  Manufaktur  und  elektrische  Landwirtschaft. 


409 


Die  angefiibrten  Beispiele  von  VeHagsverhältnissen  lassen  sich 
noch  vermehren,  sicher  ist  jedoch,  dals  sie  nicht  den  breiten  Raum 
einnehmen,  ^e  in  der  Industrie.  — 

Betrachten  wir  nun  den  typischen  Fall  des  heutigen  landwirt- 
schaftlichen Grrolsbetriebs,  die  Wirtschaft  des  ostelbischen  Ritterguts 
von  2cx>— 400  Hektar. 

Noch  immer  überwiegt  in  dieser  Wirtschaft  die  Handarbeit,  und 
der  Arfoeitsprozefs  wird  teils  durch  individuelle  Arbeitsakte,  teils 
durch  einfache  Kooperation  charakterisiert^)  Wenn  Arbeitsteilung 
stattfindet,  wie  bei  der  Ernte  zwischen  Schnittern  und  Bindern,  so 
schafft  diese  doch  nie  spezialbierte  Teilarbeiter,  da  dieselben 
Leute  später  zu  anderen  Funktionen  verwandt  werden.^  Solche 
Spezialarbeiter  finden  sich  jedoch  bei  der  Viehzucht  (Schafer,  Schweizer 
im  Kuhstall). 

Bei  oberflächlicher  Beurteilung  könnte  die  Anwendung  der 

zahlreichen  landwirtschaftlichen  Maschinen  zu  der  Annahme  verleiten, 
als  habe  die  I .and Wirtschaft  bereits  eine  Entwicklungsstufe  erreicht, 
die  der  maschinellen  Grofsindustrie  entspricht.  Allein  so  grofs  die 
Fortschritte  des  landwirtschaftlichen  Maschinenwesens  auch  sind, 
•dasselbe  hat  bei  weitem  noch  nicht  alle  landwirtschaftlichen  Arbeiten 
crfafst.  *)  Brauchbare  Rübenheber  und  Kartoftclcrntemaschincn  sind 
noch  immer  ein  frommer  Wunsch,  Auch  haben  die  Landwirte 
lange,  bevor  die  grofsc  P^ntdcckung  gemacht  wurde,  dafs  die 
Maschine  keinen  Mist  ^'iebt,  die  Sdiranken,  die  dem  Maschinen- 
betrieb gesetzt  sind,  erkannt 

*)  Beispiele  der  einfachen  Koopemtion  tnud  d«s  Attf  laden  von  Heu,  MSben  uaw. 
Individnelle  Arbeitsakte  finden  statt,  wenn  ciik  Aibdter  walil,  ChUisalpeter  ttreat  11.S.W. 

•)  In  Pommern  wird  sogar  der  Stellmacher  dos  Guts  zu  Erntearbeiten  bena- 
^'rzn»«n.  Ii.  Wittenberg,  Die  Lage  der  ländlichen  Arbeiter  in  Neuvorpoaimcm 
und  aul  Kü^tn.    1SQ3  S.  10. 

'1  l-'s  wird  rr<-w.)hnlitli  übfrsilu-n,  wie  jimg  die  Anw>iidung  l.indwirtM-luilllicher 
Mahchinou  in  i  )cut.schland  ist.  In  Scblaasiedl  wurden  1S55  die  ersten  iJrilima&chinen 
eingeflibrt,  1851  die  erste  Drescbmascbine,  dancboi  aber  der  Huiddmacfa  nodi  lange 
belbebalten.  Ein  Dampfpfli^  wwde  erst  1873  aogesdwft.  Vf.  Rimpau,  Die  Be- 
wtitschafiang  einer  preufsiscben  Doinine  im  19.  Jabrbuidtft.  Menael>Lengerke,  land- 
wirtscbaftlicber  Kalender  für  1900  5.  81  n.  90.  Anfimgs  der  teer  Jahre  sollen 
Drillmasclnnen  in  Wcstpreufsen  nur  <^:in/.  vereinzelt  existiert  haben.  Backhaos, 
Agrarstatisti-»che  Untersuchungen  über  den  preufsiscben  (3sten  im  Vergleich  zum 
\Ve>ten  iSqSi  S.  1 2o.  In  Oldenburg  kommen  1  >ampfdreschmaschinen  seil  1S80, 
selb^(bindendc  Mähmascliincn  seit  iSqi  vnr.  F.  Heusinj^,  Der  Einflul's  der  land- 
wirtschaftlichen Maschinen  auf  Volks-  und  Privatwirtschaft  ^,iS9S)  S.  20. 
ArekhP  für  lo«.  Ccwugebung  u.  Statiidk.  XV.  37 


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4io 


Otto  rringsheim, 


Sie  wu(sten,  da(s  die  Maschine  bei  der  vorwiegenden  Anwen» 
dung  von  Gespannen,  bei  dem  Mangel  an  kräftigen  und  intel%entai 
Arbeitern  und  bei  ihrer  kurzen  Benutzungszeit  nicht  den  hohen 
Wirkungsgrad  besitzen  konnte,  der  die  in  der  Industrie  verwandten 
Maschinen  auszeichnet.*) 

Endlich  kann  sich,  da  die  meisten  landwirtschaftlichen  Afbetten 
successive  und  nicht  simultan  erfolgen,  kdn  Maschinensystem  aus- 
bilden. Eine  Ausnahme  ist  es,  wenn  eine  Dreschmaschine  mit 
einer  Strohpresse  oder  Haferquetschc  kombiniert  wird. 

Aus  diesen  Thalsachen  ersieht  sich,  dals  der  Arix  itsprozefe 
des  landwirtschaftlichen  Grofebetriebs  weder  automatisch ,  noch 
kontinuierhch  ist;  das  Rittergut  ist  also  nicht  das  Ebenbild  der 
modernen  Fabrik.  Will  man  es  mit  einem  industriellen  Gebilde 
vergleichen,  so  bietet  nur  die  Manufaktur  (im  Sinne  von  Marx) 
eine  Parallele.  -) 

Die  sporadische  Anwendung^  von  Masrliinen  hebt  den  Charakter 
der  Arbeitsverfassung  des  heutigen  landwirtschaftlichen  Grolisbetriebs 
nicht  auf,  derselbe  ist  manufakturmäfsig.  ^) 

Zu  demselben  Resultat  gelangen  wir  auch,  wenn  wir  neben 
der  Arbeitsverfassung  einige  andere  ökonomische  Momente  heran- 
ziehen. 

Wenn  es  zum  W  esen  der  modernen  Industrie  gehört,  alle  öko- 
nomischen Kategorieen  scharf  herxortretcn  zu  lassen  und  <lurch  ge- 
naue Buchhaltung  Produktionskosten,  Gewinn  etc.  sicher  festzu- 

Viele  Lrandwifte  siiid  aosgesprodicn  nuchinenfeiadlieh.  So  M.  G.  Nord- 
mann,  Agimrier  helft  Eodi  selbst.    Die  Gestaltung  des  UndwtrtsdiaßlidieB  Be- 

trirbes  mit  Rücksicht  auf  den  herrschenden  Arbeitennangel.  Berlin  1899.  Der 
hochkonscn-ativc  Verfasser  bestreitet  die  Nützlichkeit  des  Maschinenbetriebes  und 
empfiehlt  beschränktere  Anwendung  von  Drcsr linr.iM-hin.n.  Auch  von  der  Goltz 
hSit  die  ausjjcdehntc  Vt-rw-  ndtnit,«  der  I  )rcNchina  >  hiiu  11  ti;r  vorkehrt.  Kinc  noch 
weitere  Au&dehnung  konnte-  die  lan<lwirlschattlich<.n  .\rbeiter\erhäknissc  in  nicht  gut 
SU  madienider  Weise  zerrütten.  Vorlesungen  über  Agrarwesen  und  Agrsrpolilft 
(1899)  S.  39.  Audi  da  Zentnunsorgan,  die  Schlesische  VolktMitnng  vom  11.  Fe- 
bruar 1900  veitritt  Sluilidie  Anscbaunngea. 

*)  Marx  selbst  spricht  „von  jener  Art  grofsen  Agrikidtttr,  weiche  der  Ifsau- 
fkktorpcriode  entspricht  und  sich  wesentlich  nur  durch  die  Mas.se  der  gleichMltig 
aTi;''  \\  nndten  Arbeiter  und  den  Umfang  der  konzentrierten  Pro<luktionsmittel  TOB 
der  l'..iuernwirt.s(li;iit  unterscheidet".  Kapital,  3.  Aufl.  1,  S.  335.  Vfjl.  audi  SoBJ* 
barts  Definition  der  Manufaktur  in  dies.ni  Archiv  Pd.  XIV  S.  353. 

^)  Sporadische  Verwendunj;  von  Maschinen  widerspricht  nicht  dem  Wesen  der 
Maanraktur.   Marx,  Kapital,  I,  S.  349. 


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Laudwirucbafilicbe  Manufaktur  und  elektrische  Landwirtschaft. 


Stellen,  so  bleibt  die  Landwirtschaft  weit  hinter  diesem  Ideal  zurück. 
Backhaus  befragte  loo  Güter  über  ihre  Buchhaltung  und  es  ergab 
sich  das  erstaunliche  Resultat,  da(s  nur  3  Wirtschaften  doppelte 
Buchführung  hatten,  während  eine  grofse  Anzahl  Landwirte  gestand, 
da&  bei  ihnen  noch  keine  Buchführung  vorhanden  sd.') 

Es  giebt  noch  andere  Umstände,  die  bewirken,  dafs  die.wirt' 
schaftlichen  Verhaltnisse  auf  dem  Lande  nicht  so  durch^htig  sind, 
wie  in  der  Industrie.  Wie  oft  kommt  es  vor,  dafs  ein  Arbeiter 
seinen  Dienst  verläfst  und  seine  Lage  zu  verbessern  glaubt,  während 
das  Gegenteil  eintritt,  da  er  den  Wert  der  Deputate  nicht  richtig 
zu  schätzen  versteht. 

Dafs  die  Landwirtschaft  mit  anderen  Absatzbedingungen  zu 
rechnen  hat,  als  die  Industrie,  braucht  nur  angedeutet  zu  werden. 
Während  die  meisten  Industrieartikel  für  den  Weltmarkt  bcstinunt 
sind,  hat  die  Landwirtschaft  neben  dem  weltmarktfähigen  Getreide 
Produkte,  wie  Milch,  die  nur  auf  Lokalmärkten  absetzbar  sind  und 
andere  Erzeugnisse,  wie  Futterpflanzen  und  zuweilen  Stroh,  die 
überhaupt  nicht  verkauflich  sind.  Ebenso  bemerkenswert  ist  die 
geringe  Bedeutung  von  Kartellen  für  die  Landwirtschaft.  Das 
rheinische  Rübenbauerkartell  ist  vereinzelt  geblieben  und  der  Erfolg 
der  TU  ucrdinri^s  eingeleiteten  Bestrebungen  zur  Hebung  der  Milch- 
preise bleibt  abzuwarten.  Wenn  so  landwirtschaftlicher  und  industri- 
eller Grofsbetrieb  qualitativ  verschieden  sItkI,  so  sind  ihre  quanti- 
tativen  Differenzen  nicht  minder  hervorstechend.  Einen  Jahresumsatz 
von  100 000  Mk.  werden  viele  Rittergüter  nicht  erreichen,  die 
meisten  Fabrikbetriebe  aber  weit  überschreiten.  Freilich  hat  in 
einigen  Ausnahmefallen,  besonders"  wo  technische  Nebengewerbe 
eine  grofse  Rolle  spielen,  auch  der  landwirtschaftliche  Großbetrieb 
eine  Ausdehnung  gewonnen,  die  an  die  Riesenbetriebe  der  Inchi'^tric 
erinnert.  Fs  ist  wenig  bekannt,  dafs  es  auch  in  Deutschland  wahre 
„Honaiizafarmen"  giebt.  Die  Herrschaft  Benkendorf  (Provinz  Sachsen) 
hat  eine  .Anbaufläche  von  2626  ha  und  bildet  einen  Musterbetrieb 
intensiver  Wirtschaft.  375  ha  werden  mit  dein  Dampfpflug  ge- 
ackert. Der  V^ichstand  umfafst  123  Arbeitspferde,  70  Paar  Ochsen, 
300  Milclikühe,  100  Mastochscn,  3600  Mastlämmer.  Zum  (iut  ge- 
hört eine  eigene  Zuckerfabrik  und  eine  Brennerei  mit  300000  Liter 
Spiritusherstcliung«   Die  Aufsicht  führten  13  Beamte,  14  Hofmeister. 

'j  Backtiaus  a.  a.  ().  S.  264.    Conrad  meint,  dafs  viele  Landwirte  selbst  am 
Schlufs  des  Erntejahrcs  nicht  genau  den  Erdrusch  kennen. 

«7* 


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412 


Olio  Pringsbcim, 


Femer  waren  angestellt  i  Fabrikdireictor,  I  Fabrikverwalter,  t  Brenn* 
meister,  Maschinenmeister,  Kassierer,  Buchhalter  und  ein  eigener 
Tierarzt.  Die  Jahresausgaben  betrugen  bereits  1887  1,5 --a  Milli* 
onen  Mk.  —  Noch  bedeutender  ist  die  Wirtschaft  des  Oekonomierat 
Böckelmann  in  Atzendorf  mit  3  320  ha,  die  alle  unter  dem  Pfluge 
sind  Ein  eigener  Dampfpflug,  99  Pferde  und  610  Ochsen  bcsoiigefl 
die  Beackerung.  Eine  eigene  Zuckerfabrik,  Cichoriendarre  und 
Brennerei  sind  vorhanden.^) 

Die  angeführten  Ausnahmen  bestätigen  aber  die  Regel.  Im 
allgemeinen  ist  der  Charakter  des  landwirtschaftlichen  Grofsbetriebs 
ein  anderer,  als  der  des  industriellen,  und  es  war  nicht  schwer 
nachzuweisen,  dafs  dieser  Grolsbctricli  dem  Mittelbauern  nicht  über- 
legen sei.  Der  häufig  vorkommende  Absentismus  der  Besitzer,  die 
ebenso  häufi^a^n  Unterschlagunj:^en  der  Beamten,  die  Dielistiilile  der 
Arbeiter,  die  X'crstöfse  gegen  die  ersten  Re-^eln  der  Aj^rikulturchemie. 
die  Wirtschaft  auf  ausgeraubtem,  verquecktem  Boden,  das  alles  ist 
nicht  die  Signatur  des  ( rrofsbetriebs,  sondern  besonderer  X'crhält- 
nisse,  unter  denen  ein  Teil  der  deutschen  Landwirtschaft  zu  leiden  hat. 

Während  aber  die  David  und  Hcrt/.,  die  Oppcnheinier  und 
Weise ni,'riin  von  dem  nahenden  Knde  des  landwirtscliaft liehen  (iro(>- 
betricbs  weissaL;^ten.  l)e;^^ann  eine  technische  I'mwälzun«^  einzutreten, 
die  allem  Aii>clieine  nach  berufen  ist,  die  StelluriLy  des  landwirt- 
schaltlicheii  ( irolsbcti  ielis  /u  befestigen  luid  seine  Entwickluni^ 
auf  eine  höhere  Stufe  /u  führen.  Dank  dem  teils  in  Anj^riff  i^e- 
nonnnenen ,  teils  «geplanten  Bau  \  on  elektrischen  rcberland- 
zentralcn  hält  die  Klektrolechnik  ihren  Kinzuj:;;  in  die  Landwirt- 
schaft.-'» Die  uni\er>elle  X^erwendbarkcit  der  elektrischen  Energie 
und  der  Z\vani,%  che  IJektri/.ität  möglichst  alUeitii;  zu  verwerten, 
fiihrt  dazu,  alle  landwirtschaftlichen  Maschinen  elektrisch  zu  be- 

'  t)i<-  Bcsclireibuiifi  tli«--.cr  und  einiger  Shnlidicr  Wirt-clian.'n  der  Provini 
S.iclisi-n  timlrt  m.in  in  den  Mitteilnn^'PTi  der  dciitv.  hcn  Lantlwirtschaftsj^es^'llschaft 
iSou  <ti)rk  17.  \''^]  auch  Kurt  Kiimker,  l5cnkendorf  und  seine  Ncbcn^-  trr 
'l  liiel  s  l.;uul\viit-t  liattlii lir  J.ilu lau  hör.  l6.  l.-ilirg.  18S7,  .S.  qSl  ff.  Kin»-n  nurk- 
würdigen  Irrtum  b-yeht  Kaulsky  (.Vgrarlragc),  wenn  er  behauptet,  in  Eugland 
,  »cien  looo  ba  das  Maximum  der  Betriebsgröfse.  Es  gicbt  in  England  Betriebe  bb 
XU  14000  acres.   Vgl.  F.  Tb«  König,  Die  Lage  der' engl.  LandwirUcbalt  S.  9o. 

*)  Solche  Zentralen  sind  teils  gebaut,  teils  projektiert  filr  die  Kreise  Soest, 
Samter,  Lirgnitz,  Ne*ibaldens1«ben,  Kolberg,  Greifenbe^,  in  Unterfranken,  auf  der 
Insel  Rügen,  in  Aüialirnlx  r^  (( )>tpr.-ur»pn)  u.  s.  w.  Vgl.  über  die  Verwendung  von 
l lektri/ttät  in  der  Laiidwirtschafl  den  Vortrag  des  Ingenieur  Sinell.  Jahrb.  der 
D.  L.  G.  Bd.  14. 


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LADidwirtschaftliche  Manufaktur  und  elektrische  LandwirtscbaA. 


ireiben.  Viele  Uebelstände,  die  bisher  dem  Lokomobilbetrieb  und 
Göpelbetrieb  anhafteten,  verschwinden,  wenn  der  Klcktroinolor  ihre 
Stelle  einnimmt.  Die  Melkmaschine  z.  B.  wird,  elektrisch  betrieben, 
ungleich  häufiger  angewandt  werden,  als  dies  bei  Lokomobiibctrieb 
möglich  ist ')  Elektrische  Feldbahnen  haben  unleugbare  Vorzüge 
vor  den  mit  Dampf-  oder  Petroleummotor  ausgestatteten  Anlagen.^ 
Die  Dresdimascliine  mit  dt^;ebautem  Elektromotor  ist  ein 
grofser  Fortschritt,  sie  ist  sofort  betriebsföhig,  das  lastige  Fahren 
von  Kohlen  und  Wasser  fiUlt  fort  und  Störungen  durch  Platzen  des 
Riemens  werden  vermieden.^  —  Der  elektrische  Pflug  wird  un- 
gleich  gröfsere  Flächen  durchfurchen,  als  es  je  der  Dampfpflug  ge- 
than  hat  Elektrische  Dreschmaschinen,  Schrotmühlen,  Häcksel- 
schneider, Molkereimaschinen,  SchaSscheeren,  Pumpen,  sogar  elek- 
trische Futterdampfer  und  Brutapparate  sind  bereits  im  Betriebe 
und  wenn  bei  anderen  Maschinen  die  Anwehdung  der  Elektrizität 
noch  auf  Schwierigkeiten  stolst,  so  ist  alle  Aussicht,  dieselben  zu 
überwinden.  —  Das  bedeutet  die  Ersetzung  der  meisten  Gespanne 
durch  Elektromotoren:^)  Das  bedeutet  weiter  die  Möglichkeit  eines 


'1  Vgl.  Prüfung  der  „Tbistle*** Melkmaschine,  «af  Veimnlassong  der  deutschen 
Landwirtschaftgesellschaft  ausgeführt.  Hrrirhtct  von  Bt'nno  Marttoy,  (Arbeiten 
der  deutschon  I,andwirtschaftsgrsollM;liaft  Heft  37).    S.  54  u.  55. 

■)  Vgl.  hierüber  Technische  Rundschau  1899  Nr.  43.  Georg  Frost,  Eick- 
thächc  Feld»  und  Waldbahnen. 

*)  Adolf  Settfferhcld,  Die  Anvcndiuig  der  Elektrizität  im  laadwirteduiil/» 
Ucben  Betriebe,  ans  «gener  Erfahning  mitieteilt.   Stottgart  1899;  S.  19. 

*)  Daalc  der  UeberlMtong  und  den  Profitintereisen  der  elektrischen  Gesell» 
Schäften  wird  „die  TÖlUge  Verdringmig  des  Pferds  ans  dem  wirtachaftUchen  Leben*' 
noch  nioht  so  bald  erfolgen.  Kttr  eine  ntclit  nUsttfeme  Zukunft  aber  wird  sich 
Heines  Prophezeiung  bewahrheiten: 

,, Bedroht  ist  das  i^an,'f  Pt''Tdepi>rlilecht 

Von  ichrccklit  lu  n  SchicksaLsschliigcH. 

Obgleich  ein  Schimmel,  schau  ich  doch 

Einer  schwarzen  Zukunft  entgegen. 

Uns  Pfeid«  tötet  die  Kookurrens 

Von  diesen  Dampfmaschinen, 

Zum  Reiten,  sum  Fahren  wird  sich  der  Mensch 

De&  eisernea  Viehes  bedienen. 

Wir  können  nicht  borgen  oid  stehlen  nicht 

Wie  jene  Nlcnschcnkinder, 

Auch  >chmci<  lirln  nirht,  wi.-  d.T  Men:>ch  und  der  üund, 
Wir  »ind  verlalleu  dem  bchinder." 


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414 


Otto  Pring&heim, 


Maschinensystems  in  der  I^dwirtsdnlt^)  So  wird  die  Elektrizität 
erst  dem  maschinellen  Betrieb  2um  Siege  verhelfen.  Was  die 
Dampfkraft  nicht  vermochte,  das  wird  die  Anwendung  der  Dreh* 
Stromtechnik  sicher  bewirken,  die  Verwandlung  der  Landwirtschaft 
aus  einer  alten  Manu&ktur  in  einen  modernen  Großbetrieb.*) 

Sobald  diese  technische  Umwandlung  eintritt,  ist  es  auf  dem 
Ijmde  aus  mit  der  „vjäkovaja  tichina"  (dem  jahrhundertalten 
Schweigen),  von  dem  der  russisdie  Dichter  spricht 

Die  wirtschaftlichen  und  sozialen  Folgen  der  durch  die  Elek-< 
trizität  bewirkten  Umgestaltung  der  landwirtschaftlichen  Verhaltnisse 
lassen  sich  vorläufig  nur  andeuten,^  nicht  sicher  feststellen. 

Fragen  wir  zunächst,  wie  weit  das  Konkurrenzverhältnis  zwt* 
sehen  Großbetrieb  und  Kleinbetrieb  alteriert  werden  wird.  Es  ist 
klar,  dafs  diejenigen  Güter,  die  eigene  elektrische  Anlagen  haben, 
geringere  Produktionskosten  haben  werden,  als  die  mit  Gespannen 
in  alter  Weise  fortarbeitenden  Wirtschaften.  Freilich  können  sich 
auch  die  kleineren  Wirtschaften  an  eine  Zentrale  anschlicfsen  lassen 
ofler  eine  Genossenschaft  behufe  Erriclitiing  eines  Elektrizitätswerks 
bilden.  Jedenfalls  aber  werden  die  Zentralen  den  gröfseren  Ab> 
nehmern  höhere  Rabatte  gewähren  und  sie  in  koulanterer  Weise 
behandeln.^)  Die  Elektromotorcti  müssen  gekauft  oder  gemietet 
werden,  da  ein  loo  pferdiger  Klektromotor  nicht  zehnmal  so  viel 
kostet,  wie  eine  lOpfcriligc  Maschine,  so  ist  auch  hier  der  grölsere 
Betrieb  im  Vorteil.  —  Der  Vorschlag,  der  jüngst  eine  landwirt* 


In  der  Landwirtschaft  sind  von  den  über  4  Jahr--  aU'Mi  Pf.-rrl<  ii  a  ^S^cxx»  Ik- 
scViaftigt.  P.  Mack  -  Althol  Ragnit,  Der  Aulschwung  uii^m  -,  I  .andwirlM  lialt>l>':tri<  l"  s 
durch  VctbiUiguog  der  Produktiooskostcn.  Eine  Unlcrbuchung  über  den  I)i<'n>t,  dr-n 
Maschinentechnik  und  Elektrizität  der  Landwirtschaft  bieten.  König!»bcrg  1900, 
S.  52  aimmt  an,  dafs  swci  Drittel  der  bidierigen  Arbdtadere  dnxdi  Elektionotordi 
ersetzt  werden  können. 

')  „Man  kann,  wenn  mehrere  ElektromotoNn  Toihandcii  stiid,  an  einer  Stelle 
Fntter  schneiden,  Wasser  pumpen  oder  aeliroteii,  an  der  anderen  die  Dreschmaschine, 
StrtkhfMresse  oder  sonst  derglddiai  Maschinen  m  gleicher  Zeit  in  Betrieb  setiea. 
Seufferlield,  a.a.O.  S.  39. 

^  „Les  nsines  centrales  seront  poor  Tagriculture  non  seolement  an  foctevr  t«ch* 
niqne,  mais  od  clomcnt  economiquc  et  social  de  la  pltts  grsnde  impoitance  poor 
l'avenir  du  pays."    1-a  pelitc  R^publitiuc.    »8.  November  1899. 

')  Mehrcrc  Elektrizitätswerke  berechnen  gröfseren  Abnehmern  eine  Fau^chal- 
summe,  während  der  Verbrauch  der  kleineren  Konsumenten  durch  den  Zähler  be- 
stimmt wird. 


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LandwirtschaAliche  Manufalrtar  and  clcktriKhe  Landwirtadiaft. 


scliaflliche  VersAmmlun^  in  Lic^nitz  beschäfli^^te,  dals  die  Kreise 
die  Elektti7.itäts\vcri<e  bauen  sollten,  hat  wohl  wenig  Aussicht  auf 
allgemeine  Annahme.  Allein  auch  in  diesem  Falle  ist  es  fraglich, 
ob  der  kleinere  Besitzer  hiertiurch  begünstigt  werde  wurde.  —  Kurz, 
CS  scheint,  als  ob  die  Klektrizität  eine  Verschärfung  des  Konkurrenz- 
verhältnisses zwischen  Grofs-  und  Kleinbetrieb  in  der  I^andwirtschaft 
herbeiführen  sollte.  Jedenfalls  sollten  die  Schriftsteller,  die,  wie 
F.  O.  Hertz  über  dieses  Thema  gehandelt  und  den  Einflufs  der 
Elektrotechnik  ignoriert  haben,  ihre  Untersuchung  von  neuem  an> 
fangen. 

Eine  weitere  Folge  des  elektrischen  Betriebes  mufs  die  wachsende 
Industrialisierung  des  platten  Landes  sein.  Da  an  ca.  l6o  Tagen 
des  Jahres  die  Feldarbeit  ruht,  so  wird  die  Rentabilität  der  elek- 
trischen Zentralen  dort  am  höchsten  sein,  wo  industrielle  Anlagen 
mit  elektrischem  Betrieb  zur  Ei^anzung  errichtet  werden.  Man 
schlagt  besonders  den  Bau  von  elektrochemischen  und  elektro- 
l3^tischen  Werken  auf  dem  Lande  vor,  da  diese  einen  variabeln 
Kraftverbrauch  haben  und  unbeschadet  der  Rentabilität  zeitweise 
den  Betrieb  einstellen  können.*)  Wenn  schon  jetzt  Landarbeiter 
während  des  Winters  in  Ziegdeien  und  ZuckeHab'iken  Beschäftigung 
suchen,  so  werden  sie  auch  von  der  Arbeitsgelegenheit  in  diesen 
neuen  Anisen  Gebrauch  machen.  So  würde  das  alte  Uebel  der 
Landwirtschaft,  Mangel  an  Arbeitskiäften  im  Sommer,  Ueberflufe 
an  Arbeitskräften  im  Winter,  etwas  gemildert  wetden. 

Der  wachsende  Maschinenbetrieb,  die  zunehmende  Industriali* 
sierui^  des  platten  Landes,  schlieislich  die  Vermehrung  und  Ver- 
besserung der  Verkehrsmittel  müssen  auch  die  althergebrachten  und 
nach  Ansicht  vieler  Landwirte  bereits  unerträglichen  Arbeiter- 
verluUtnisse -)  des  Landes  umwälzen,  müssen  Stadt  und  Land  nach 
dieser  Richtung  hin  nivellieren.') 

')  I'.  Mack  a.  a.  n.  S.  50.  Auch  d^-k  tri  sehe  Verhüttung  von  J\isti)frzen.  elek- 
trische ""Schleppschiffahrt,  ferner  Tlewinnung  von  Alumiiiium  in  tbonrcichcn  Gegenden 
kann  als  Aushilfsmittel  in  Fra^'c  kommen. 

*)  „Die  Landwirte  sagen,  es  seien  trotz  aUer  BemObungen  Knechte  und  MIgde 
bald  ttkhl  mehr  ni  haben,  das  wenige  Gesinde  sei  niditsnntzig,  angexogen,  der 
schlesische  Lofangirtner  sei  atugestorben,  das  bstoannverhiltids  in  Ostprenfscn  nihc 
auf  thänemen  Ffifscn,  das  bstitat  des  Scfaarwerkers  oder  Hofglagen  lasse  sich  nicht 
mdir  aufrecht  erhaltte  ...  die  ArbciterhSnser  ständen  teUs  leer,  teils  seien  sie  von 
Witwen  «nd  RentenempfSngem,  Gelegenheitsarbeitern,  Trunkenbolden  und  Idioten 
bewohnt  . . .  selbst  Scholkioder  fingen  zu  ttriken  an  . . Arthar  Brase,  Der 


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Otto  Pringshetm, 

I 

iJic  ( icsj>antiarbcit  erforderte  Arbeiter,  tlie  von  Jugend  an  mit 
dem  \'ieh  umzustellen  verstanden.  Die  Hinführun}^  des  elektrischen 
Betriebes  beseitigt  diese  Notwendigkeit  und  gestattet  im  Notfall  die 
X'erweiulung  sogar  von  städtischen  Arixitern. 

Die  verhällnismälsig  einfache,  aber  nicht  LT'  fahrlose  Hedienung 
der  elektrischen  Maschinen  erfordert  eine  gewisse  Intelligenz  und 
schlielst  so  rotii  und  nachlässige  Arl)eitskräfte,  wie  sie  vielfach  unter 
den  heutigen  Knei  Ilten  vorkoninien,  aus.'  i 

Der  durch  die  wachsende  IndustriaUsierung  des  Kindes  und 
verbesserte  X'erkehrsmittel  gesteigerte  Kontakt  von  Industriearbeitern 
und  I^ndarbeitern  muls  1  ebensansprüche  und  Lohnforderungen  der 
letzteren  notwendigerweise  steigern.*) 

Dieser  Tendenz  zur  Hebung  der  ländlichen  .A.rbeiterverhältnisse 
werden  freiUch  scharfe  ( legenströmungen  begegnen. 

Der  Rat,  durch  stärkere  Ausnutzung  der  Arbeitskräfte  die 
Produktionskosten  zu  verbilligen,  ist  den  Landwirten  oft  gegeben 
worden.  Aber  erst  jetzt  scheint  die  technische  Möglichkeit  einer 
Verlängerung  des  Arbeitstages  gegeben  zu  sein.  Die  mit  Ausnahme 
von  Stallwachen  der  Landwirtschaft  bisher  unbekannte  Nachtarbeit 
wird  dank  den  Fortschritten  der  Beleuchtungstechnik  sich  immer 
mehr  verbreiten.  Schon  jetzt  kontien  wir  hierfür  einige  Beispiele 
anführen.  Auf  dem  (iut  der  Herrn  Hujatti,  dem  bei  Münchengrätz 
(B<»hincn)  gelegenen  Joliannahof,  wurde  eine  elektrische  Dresch- 
maschine und  Bogcnlicht  installiert  und  infolge  hiervon  2^,  Stunden 


Arbeitermangd  in  der  dcutschco  Landwirtschaft,  seine  Unachcn  und  die  Mittel  sar 
Ablulfe.  (1900)  S.  3. 

*)  Audi  H.  Lttx  erwartet  die  Aufhebung  oder  Milderung  de«  Gegensattes  nm 
Stadt  und  Land  von  der  ElektrisitiU.  (Das  Zeitalter  der  Technik.  Neue  dentsdie 
Rundschau  1899,  S.  131 1.) 

>)  Vgl  Seufferhelld  a.  ai  O.  S.  32. 

*)  Viele  Landwirte  flrdOen  die  Folgen  der  Induatrialtticnnig  dea  platten 
Landes  . . .  Man  venpriclit  sich  Vorteile  (Verhehnerleiehterung,  erweitefte  Absats« 
gebiete),  fOrchtet  aber  und  mit  Recht,  dafs  die  mit  einer  Verpflansnng  der  Industrie 
sweifellos  verknüpften  Nachteile  Überwiegen  werden.  Was  nQtsen  z.  B.  die  hödisten 
Milchpreise,  wenn  sirb  niemand  zum  Fttttem  und  Melken  bereit  erklärt,  wsts  helfen 
uns  20 — 30  rfcnnigc  höhere  Kartoflrelprfi-.e,  wenn  wegen  I.cutcniangels  nicht  tief 
gr-pf1U(^'t.  ri-rht/.eitig  ^t-dün^t,  und  <las  ICartuflclfcld  nicht  von  L'okraat  reingehalteo 
werden  kann ;    H  r  a  s  e  a.  a.  O.  S.  90. 


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Landwirtschaftliche  Manufaktur  und  elektrische  Landwirtächait. 


länger  gedroschen  ,,als  ^^fcwöhnlich".')  —  Noch  interessanter  ist 
folgender  l  all  \on  Nachtarbeit,  der  das  Rittergut  Kürbitz  (K«niig- 
reich  Sachsen)  betrifft.  Es  berichtet  Seufterheld  hierüber:  „Iis  war 
bekanntlich  der  Sommer  1897  mit  viel  Regenwetter  gesegnet,  wa^ 
für  die  Getreide-  und  Dürrfutterernte  schon  sehr  unangenehm  ist, 
noch  mehr  aber  für  den  Raps.  Dieser  ist  gegen  extreme  Witterung 
am  empfindlichsten.  Man  hat  nun  an  einem  schonen  1  agc  den 
Raps  mit  samtlichen  verfiigbaren  Personen  abgehauen  und  aufgestellt. 
Da  er  ziemlich  reif  war  und  das  Barometer  nichts  gutes  inbezug 
auf  die  zu  erwartende  Witterung  ahnen  Uefs,  entschlofe  ich  mich 
ungesäumt  mit  dem  Einfahren  des  Rapses  zu  beginnen  und  liefe  es 
Nachts  bei  elektrischer  Beleuchtung  fortsetzen,  sodals  morgens  um 
6  Uhr  die  letzte  Fuhre  in  den  Hof  wankte.  Um  7  Uhr,  also  nach 
einer- Stunde  hatte  sich  schon  ein  Regen  eingestellt,  der  mehrere 
Tage  anhielt"*) 

Ebenso  wahrscheinlich,  wie  eine  Ausdehnung  der  Nachtarbeit, 
ist  vermehrte  Einstellung  von  Frauen  und  Kindern.  Wenn  Bensing^ 
Recht  hat,  dals  die  landwirtschaftlichen  Maschinen,  weil  von  Ge- 
spannen bewegt,  Frauenarbeit  und  Kinderarbeit  wenig  zulassen,  so 
ändert  sich  dieser  Umstand  mit  der  Einführung  von  Elektromotoren. 

Ob  eine  Freisetzung  von  Arbeitern  infolge  vermehrten  Maschinen* 
betriebs  erfolgen  oder  ob  der  heutige  Arbeitermangel  fortdauern  wird, 
läfet  sich  noch  nicht  übersehen.  Sicher  ist  nur,  dals  Veränderungen 
in  der  Nachfrage  nach  Arbeit  erfolgen  werden,  wenn  der  elektrische 
Betrieb  überall  zur  Anwendung  arbeitssparender  Maschinen  ver- 
anlafst.  Diese  geminderte  Nachfrage  kann  aber  durch  erhöhten  Be- 
darf infolge  intensiverer  Kultur  ausgeglichen  werden. 

Aus  alle  dem  ergiebt  sich,  dafs  die  Elektrizität  die  ländlichen 
Arbeiterverhältnisse  vollständig  umwälzen  wird. 

Die  Aussichten  für  die  Landwirtschaft  im  20.  Jahrhundert  sind 
wahrhaft  glänzende.  ,4ch  wage  es  auszusprechen,  dals  für  die  Körner- 

Wiener  landwirtscliaftliche  Zeitung  lü.  Dciember  1899.  Selbst  in  KufsLand 
ist  die  NMhtwrbcit  wShrend  der  letxtcn  Zeit  in  die  Laadwirtidwft  eincedmageii. 
,Jn  frachtbArai  Jatiren  delmcn  sich  die  Arbeiten  in  einigen  WirtscIiaAen  bis  in  die 
Nacht  ans  bei  kOnstlidier  Beleuehtong  dnidi  Fackehi."  Wladimir  Jljin,  Die 
Entwickinns  des  Kapitalismos  in  Rnfsland.  St.  Petersbvig  Z899,  &  t66.  —  In  der 
technischen  Rundschau  1S99  Nr.  43  verhmgt  ein  Ljudwiit  Nachweis  eines  Sdidn* 
Werfers  filr  Acetylcnheleuchtunjj, 

'1  Seufferheld  a.a.O.  S.  25. 

^)  Bensing  a.  a.  O.  74. 


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4i8 


Otto  Pringihcim. 


fruchte  im  DurclT-chnitt  eine  X'erdoppluncj  der  Erträge  in  Aus.sichL 
fjeslcllt  werden  k  um  und  inuis,  und  dals  eine  V^erdi citachunij  der 
Kartüffelerträ^c  kciofswci^s  aulscr  dem  Hereich  der  Möglichkeit  lie^t." 
Diese  Worte  von  Max  Delbrück  beweisen,  zu  welchen  Hoft'nungen 
wir  berechtig  sind.  Seitdem  durch  die  Untersuchunj^en  von  Iaiii- 
slröm  der  Einflufs  der  Elektrizität  auf  das  Pflanzenwachstum  sicher 
nachgewiesen  worden  ist,  eröffnen  sich  auch  nach  dieser  Richtung 
hin  ungeahnte  Perspektiven.  Die  Stdgening  der  Prcxluktivität  wird 
aber  nur  erfolgen,  wenn  die  Landwirte  es  verstehen,  einigermafsen 
moderne  Arbeiterverhältnisse  zu  schaffen^  wozu  jetzt  zum  erstenmal 
in  der  Geschichte  sich  die  Gelegenheit  bietet  Wenn  sie  es  vor- 
ziehen, Beschränkung  der  Freizügigkeit,  Bestrafung  des  Kontrakt- 
bruches und  ähnliche  Maisregeln  ihren  Arbeitern  zu  bieten,  stehen 
desto  härtere  Kämpfe  bevor  und  desto  gröfseren  Schaden  wird  die 
I^andwirtschaft  erleiden. 


*)  Max  DelbrUck,  Die  dentscbe  Lindwirt>ichart  an  der  JabrbundcrtswcQd«. 

Prrufsi^.che  Jahrbücher,  Februar  I90O  S.  203.  Delbrück  sagt  eine  Verachtfachung 
der  Produktion  (üt  das  Ende  des  ao.  Jahrhondeits,  vergUchen  mit  dem  Anfang  des 
19.  voraus. 


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Das  Gnmdeigeiitum  in  Belgien  in  dem  Zeiträume 

von  1834  bis  1899. 

Von 

Prof.  Dr.  EMtt-  VANDERVELDE, 

Mitglied  der  Depaticrtenkuniner  in  BrOssd. 

Die  Verteilung  des  Grund  und  Bodens  zeigte  in  den  Nieder« 
landen  im  18.  Jahrhundert  ungefähr  dasselbe  Bild»  wie  im  übrigen 
Westeuropa.  Wie  dort,  befand  sich  auch  hier  der  grolste  Teil  des 
Grundbesitzes  in  den  Händen  des  r^ierenden  Fürsten,  der  Geist- 
lichlccit  und  unzähliger  Gutsiierren. 

Die  Bauern  waren  persönlich  frei;  sie  hatten  im  allgemeinen 
dn  erbliches  Recht  auf  ihren  Grundbesitz,  waren  jedoch  hinsichtlich 
desselben,  oder  sogar  für  ihre  Person,  Frondiensten  unterworfen, 
mit  Geld-  oder  Naturalleistungen  belastet.  Andererseits  genossen 
die  Bauern  häufig  daneben  mancherlei  Nebenberechtigui^pen,  so  ge- 
wisse Nutzungen  in  Wald  und  Heide  des  Grundherrn,  namentlich 
die  Befugnis,  sich  dort  Brennholz,  Bauholz,  F.ichcln  und  Gras,  Streu, 
Torf  etc.  zu  holen.  Diese  Bercrbtii^ninL^cn  und  Verpflichtungen  trugen 
dazu  bei,  zwischen  dem  herrschaftlichen  und  dem  bäuerlichen  Grund- 
besitz eine  gegenseitige  Abhängigkeit  herzustellen,  die  zumeist  noch 
durch  gemeinsame  Koppel-  und  Wechselwirtschaft  gefestigt  wurde. 
Hie  und  da  lebten  im  Gemeinbesitz,  dessen  Genufs  die  Grundherren 
mit  den  Landbewohnern  teilten ,  gewisse  mittelalterliche  Formen 
des  Grundeigentums  fort,  wovon  sich  noch  häufig  Spuren  in  unserem 
Jahrhundert  finden. 

Dieser  Stand  der  Dinge  nun  hat  seit  der  französischen  Revo- 
lution ganz  erhebliche,  tiefgehende  Umgestaltiyigen  erfahren. 

Die  feudalen  Besitzungen  sind  mit  wenig  Ausnahmen  in  den 


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420 


Emil  Vandervelde, 


Händen  adeliger  Familien  gebliehen,  oder  wurden  ihnen  unter  dem 
Kaiserreich  7.urückgegeben ,  entblöCst  jedoch  selbstverstäodUch  von 
ihren  grundherrlichen  Rechten. 

Die  geistlichen  Güter  mit  ihren  unzähligen  Piachthofen  dagegen 
sind  in  Privatbesitz  übergegangen.  Unter  der  hollancUschen  Re- 
gierung und  namentlich  kurz  nach  der  Revolution  von  1830  ge- 
langten die  schönsten  Domänenwaldungen  in  die  Hände  der  kapita* 
listtschen  hohen  Bourgeoisie. 

Die  Grundlagen  der  bauerlichen  Verhältnisse  endlich  werden 
durch  die  Zwangsenteignung  der  Gemeindeländereien,  die  Umwand' 
lung  der  Koppelwirtschaft,  die  Beseitigung  der  Nutzungen,  der 
Weiderechte,  der  Triftrechte  wesentlich  beeinträchtigt  Eine  weiteie 

Erschütterung  erfahren  sie  hierauf  durch  den  Rückgang  der  länd- 
lichen Hausindustrieen ,  den  zunehmenden  fiskalischen  Landtausch, 
die  landwirtschaftliche  Krisis  und  vornehmlich  durch  die  £ib- 
teilungen. 

Es  wird  nun  demgegenüber  behauptet,  seit  der  Fertigstellung 
des  Katasters  habe  der  ländliche  Kleinbesitz  an  Umfang  gewonnen, 
und  man  beruft  sich  hierbei  auf  die  Zunahme  in  der  Anzahl  der 
Grundsteuereinschätzungen.  In  der  That  ist  diese  Zahl  in  der  Zeit 
von  1834  bis  1897  von  945659  auf  1 193087  gestiegen.  Man  folgert 
ganz  allgemein  hieraus,  dafs  die  Zahl  der  Grundeigentümer  zunimmt, 
dafs  sich  der  Grund  und  Boden  zerstückelt,  dafs  in  einer  mehr  oder 
minder  nahen  Zukunft  die  grolsen  Domänen  bescheidenen  Fetzen 
selbständigen  Besitzes  Platz  machen  werden,  und  dafs  somit  die 
sozialistischen  Sätze  von  der  zunehmenden  Konzentration  des  Grund- 
eigentums offenkundig  widerlegt  seien. 

Diese  Federungen  ruhen  lediglich  auf  Scheingründen,  wie  wir 
im  nachstehenden  beweisen  werden. 

Ganz  abgesehen  von  der  h3^thekarischen  Belastung,  über  deren 
Umfang  wir  mangels  neuerer  Statistiken  unzulänglich  unter- 
richtet sind,  besteht  kein  Zweifel,  dafs  die.  Anzahl  der  Grundbesitzer 
mehr  und  mehr  stark  hinter  der  Anzahl  der  Einschätzungen  zurück« 
bleibt 

Sodann  ergiebt  die  Vergleichung  der  landwirtschaftlichen 
Statistiken,  dafs  das  von  den  Beintzern  selbst  bewirtschaftete  bauer- 
liche Grundeigentum  vor  dem  pachtweise  bewirtschafteten  kapitali- 
stischen Grundbesitz  zurückweicht. 

Endlich  ist  als  besonders  kennzeichnend  die  Thatsache,  em 


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Das  Grandeigentum  in  Belgien  in  dem  Zeiträume  von  18J4— 1899. 


Resultat  der  von  uns  angestellten  Untersuchungen,  ')  hervorzuheben, 
dats,  der  landläufigen  Ansicht  entgegen  und  trotz  des  Anwachsens 
der  Bevölkerung,  der  Steigung  des  Bodenwertes  —  bis  zur  land- 
wirtschaftlichen Krisis  — ,  der  Zerstückelung  der  Anbauflachen,  der 
Wirkung  der  Erbfolgegesetze,  der  Zunahme  in  der  Gresamtzahl  der 
Grundquoten»  —  daTs  trotz  alledem  die  Quoten  von  hundert  Hek* 
taren  und  darüber,  welche  Privaten  gehören,  einen  noch 
grofseren  Umfitng  haben,  als  zur  Zeit  der  Fertigstellung  des  Katasters. 

Gehen  wir  nunmehr  auf  vorstehend  angeführte  drei  Punkte 
näher  ein,  und  &ssen  wir  zunächst  den  ersten,  die  Vereinigung 
mehrerer  Grundquoten  durch  einen  Besitzer,  ins  Auge. 

Bekanntlich  treflen  auf  einen  Besitzer  soviel  Quoten  zusammen, 
als  er  Grundeigentum  in  verschiedenen  Gemeinden  besitzt  So 
sind  beispielsweise  einige  unserer  Wohlthätigkeitsanstalten ,  welche 
aus  früherer  Zeit  sich  grofsen  Grundbesitz  erhalten  haben,  im 
Kataster  mit  einer  grofsen  Anzahl  von  Quoten  vertreten.  So:*) 

Getamtflicfacii»  Quoten- 
inhalt  anzabl 
Hektar 


in  Diest  die  Annenanstalt  (borran  de  bienfatSMioe)  .  498  26 

„     n         Spitäler  (bospices)   691  30 

„   Nivelles    Spitiilf-r   II45  39 

„  Tournay  die  Armcuaii'^ialt   I414  7^ 

,,                     Spitäler   1822  79 

„  i  iu^^e  die  Armenanstalt   302  52 

„          SphSler   3625  76 

„  Brüssel          ,   2304  129 

M  Gent             „    3893  »»9 


Wir  wollen  übrigens  der  Zahl  und  der  Bedeutung  derarli;^a*r 
Grundeigentümer  in  Iklj^icu  nicht  zu  viel  Gewicht  beimessen. 
Nach  ihrer  letzten  offiziellen  Zusammenstcllunf^,  welche  vom  3  1 .  De- 
zember 1864  dauert,  umfaßten  die  Besitzungen  der  Armcn- 
anstalten  nur  1,36,  jene  der  Spitäler  1,25  Prozent  der  (iesamt- 
fläche  Belgiens,  gegenüber  82,16  Prozent  der  Privatbesitztümer  und 

')  Unter  dem  eifrigen  Beistande  verschiedener  Freunde  waren  wir  in  der  Lage, 
wihrend  der  Jahre  1898  und  1899  die  Grundkataster  der  2609  Gemeinden  des 
Landes  durchzuarbeiten  and  ihnen  die  wichtigsten  Feststcllun{;<>n  zu  entnehmen. 
Diese  rntcrsucluin^^cti  siud  es,  welche  der  gegenwärtigen  Abhandlung  in  der  Haupt- 
Sache  als  Unterlage  dienen. 

^)  Nach  Mitteilungen  der  Herren  Sekretäre  dieser  Institute. 


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422 


Emil  Vandervelde, 


der  Differenz,  welche  dem  Staate  und  anderen  öfiRmtficheo  Korpo- 
rationen gehört. 

Es  giebt  jedoch  noch  viele  andere  Grundbesitzer,  namentlich 
in  den  Gegenden,  wo  der  Kleinbetrieb  vorherrscht,  welche  g^eicber* 
weise  eine  beträchtliche  Anzahl  von  Grundquoten  in  einer  Person 
vereinigen.  In  der  Provinz  Brabant  allein  haben  wir  gefunden,  dals 
die  Familie  von  Arenberg  über  6000  Hektar  mit  31  Quoten  besint 
In  Flamland  ist  es  nicht  selten,  dafs  ein  einziger  Eigentümer  im 
Kataster  mit  30,  40,  ja  sogar  50  Gruodquoten  vertreten  ist.  \^or 
der  Vcrfisßsunpjsrcvision  des  Jahres  1894  enthielt  die  Liste  der  in 
den  Senat  Walilbaren  in  einigen  Provinzen  die  Angabe  sämtlicher 
Quoten,  deren  Ertrag  für  jeden  Wählbaren  zur  Feststellung  des  für 
einen  Senator  erforderlichen  tinkommens  diente.  Nach  der  Liste  von 
1893  vereinigten  die  112  Wälilbaren  VVestflanderns  1730  Quoten, 
was  einen  Durchschnitt  von  14  Qur>ten  nuf  jeden  Wählbaren  be- 
deutet. Viele  von  ihnen  halten  drundbesitz  in  mehr  als  20  Ge- 
meinden, und  die  Xummern  i,  27,  38,  48  und  49  der  Liste  waren 
mit  je  44,  43,  47,  58  und  41  Quoten  vertreten. 

Im  Jahre   1807   veröffentlichte   der  „Landbouwer",   eine  land- 
wirtschaftliche Zeitung  der  Genter  Sozialisten,  verschiedene  Namen 
\  on  ( irundbesitzcrn  in  (  icnt  nelist  Angabe  der  Grunde  juotcn,  welche 
ilinen  in  den  verscliiedencn  Gemeinden  des  Landes  gehörten, 
hiels  da : 

„Herr  von  P  .  .  .  l)esit/t  in  44  belgischen  (ienieifuien  und  in 
Holland  T 195  11.  Ö7  A.  Von  diesen  44  Grunti( juoten  enthalten 
zwanzig  auch  Parzellen  unter  5  Hektaren,  fünf  nur  haben  über  50 
Hektar. 

Herr  von  G.  vereinigt  in  sich  58  Grundquoten,  welche  in^* 
samt  II 30  H.  99  A.  umfassen." 

Kurzum,  es  liesteht  kein  Zweifel,  dafs  infolge  der  Vereinigung,' 
mehrerer  Grundquoten  in  einer  Person  die  Zahl  der  Grundeigentümer 
beträchtlich  hinter  jener  der  Quoten  zurückbleibt.  Im  Jahre  1848 
verhielt  sich  nach  der  einzigen  Zusammenstellung ,  die  je  gemacht 
wurde,  die  Zahl  der  Grundbesitzer  zur  Ouoten/.itTcr  wie  7  zu  9» 
seit  dieser  Zeit  indessen  kommt  es  infolge  der  Zerstückelung  der 
Felder,  der  zunehmenden  Leichtigkeit  des  Verkehrs,  des  immer 
gröfseren  Umiangs  der  geschäftlichen  Beziehungen  immer  haui^ 
vor,  dafs  man  in  allen  Gegenden  des  Landes  Grundstücke  zusammeo- 
kauft,  woraus  sich  crgicbt,  dafs  jenes  Verhältnis  jetzt  ein  anderes 
sein  mufs,  als  vor  liinfzig  Jahren. 


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Du  Cnmcldgeatain  in  Belgien  in  d«m  Zdtniiune  von  1834 — 1899. 


In  der  Umgegend  von  gro&en  Städten,  wo  die  Entwickelung 
der  Verkehrsmittel,  der  Eisenbahnen  namentlich,  allem  Anscheine 
nach  früher  oder  spater  die  ländlichen  Besitzungen  in  Bauflächen 
verwandeln  mufs,  kaufen  gewisse  Familien  samtliche  Grundstücke, 
deren  sie  habhaft  werden  können,  zu  Zwecken  der  Spekulation  oder 
der  Kapitalsanlage  auf.  Diese  Landankäufe  haben  besonders  seit  der 
Konversion  oder  vielmehr  seit  den  aufeinanderfolgenden  Konversionen 
der  staatlichen  oder  städtischen  Anleihen  der  letzten  Jahre  zuge- 
nommen. Angesichts  des  gegenwärtigen  Zinsfufscs  der  öffentlichen 
Fonds  ziehen  es  viele  Leute,  welche  diese  früher  kauften,  vor, 
Grundstücke  zu  erwerben,  namentlich  dort,  wo  sie  in  der  Zukunft 
eine  Wertssteigerung  erzielen  können.  Nun  wird  aber  hierdurch 
notwendig  in  den  Bezirken,  wo  die  grofsen  Domänen  selten  sind, 
wo  die  Spekulanten  in  zahlrciclien  Gemeinden  zerstreute  Grund- 
stücke kaufen  müssen,  der  Abstand  zwischen  der  Anzahl  der  Grund- 
quoten und  jener  der  Grundbesitzer  ein  immer  ^röfserer  werden. 

Aus  diesen  Thatsachcn  läfst  sich  schliclscn,  dafs  die,  übrigens 
zweifelhafte  Zunahme  in  der  Anzahl  der  ( irundbcsitzcr  nicht  so 
stark  ist,  als  jene  der  Grundquoten  vermuten  liefse.  Andererseits 
wird  diese  letztere  Zunahme  seit  ungefähr  zwanzij^^  Jahren  eine 
immer  langsamere.  Während  der  i^anzen  Dauer  der  landwirtschaft- 
lichen Krisis  hat  ^o^:\r  die  absolute  Zahl  der  Quoten  in  Limburg, 
Luxemburg  und  (  )siflandern  abt^enommen.  Anderwärts  hat  sie  weit 
weniger  rasch  /.ugenommen,  und  nimmt  sie  noch  ebenso  zu,  als  die 
Bevölkerungsziffer.  Während  im  Jahre  1834  auf  hundert  Einwohner 
23  Quoten  kamen,  kommen  auf  die  gleiqjjie  Anzahl  Linwohner  im 
Jahre  1897  nur  noch  18. 

Hieraus  erhellt,  dafs  die  Anzahl  derer,  die  keinerlei 
Anteil  an  der  Ergiebigkeit  des  Bodens  haben,  denen 
nicht  einmal  die  Stelle  zu  eigen  ist,  auf  welcher  das  von  ihnen  be- 
wohnte Haus  steht,  in  der  zweiten  Hälfte  dieses  Jahr- 
hunderts bedeutend  angewachsen  ist. 

Wenden  wir  uns  nunmehr  zum  zweiten  der  von  uns  oben  auf- 
gestellten Sätze,  zu  jenem  vom  stetigen  Anwachsen  des  kapita- 
listischen Grundeigentums,  so  müssen  wir  zunächst  Einiges 
über  den  BegrifT  der  kapitalistischen  Betriebsweise  in  der 
Landwirtschaft  vorausschicken.  Der  engere  Sinn  dieses  Begriffes 
setzt  das  Bestehen  dreier,  genau  voneinander  unterschiedener 
Klassen  voraus:  den  Lohnaibdter,  den  eigentlichen  Bebauer  des 
Bodens,  den  Pachter,  welcher  den  Betrieb  leitet  und  den  Unter* 


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424 


Emil  Vandervelde, 


nehmergewinn  daraus  zieht,  und  den  Grundeigentümer,  der  den 
Pächter  gegen  einen  vertragsmäfsig  festgesetzten  periodischen  Grund- 
zins ermächtigt ,  sein  Kapital  im  Grund  und  Boden  zu  nutzen. 
Dieser  Stand  der  Din^^c  nun  findet  sich  allenfalls  im  gro(sen  oder 
mittleren  L.andwirtschaftsbetricb  verwirklicht. 

Fal'st  man  jedoch  die  Bedeutung  des  Wortes  weiter,  so  werden 
wir  kapitalistisch  —  gej:^cnüber  dem  bäuerlichen  —  nennen 
alles  Grundcit];entum,  das  nicht  denen  ^ahört.  welche  es  bebauen. 

Aus  dem  Gesichtspunkte  der  sozialen  Wirkungen  ist  das  \'or- 
herrschen  der  pachtweisen  Be Wirtschaft un;:;;  gegenüber  der  Selbst- 
bewirtschnftung  nun  eine  weit  gewichtigere  Thatsache,  als  das  Vor- 
herrschen des  grolsen  gegenüber  dem  kleinen  ( iruiuliiesitz.  Sobald 
der  Hebauer  des  Bodens  Rente  zahlen  mufs,  ist  e-.  ihm  ziemlich 
gleichgültig,  ob  das  pachtweise  bewirtschaftete  hcUl  seines  Dorfes 
einem  oder  mehreren  F^igentümern  gehört.  Das  Beispiel  Siziliens, 
Irlands,  Flanderns  zeigt  .sogar,  dals  letzterenfalls  die  Bewirtschaftung 
durch  Pächter  luirtere  Wirkungen  haben,  dafs  unter  ihr  die  .Ab- 
hängigkeit der  ländliciicn  Bevölkerung  unerträglicher  sein  kann, 
l'ebrigens  darf  man  behaupten,  dals  die  Parzellenpächter  in  Flam- 
land, welche  ebensowenig  Kapitalisten  sind,  als  die  dem  Sweating- 
System  au^elieferten  Heimarbeiter,  stärker  ausgebeutet  werden,  als 
viele  Landarbeiter  im  Condroz  und  anderwärts. 

Mit  der  Behauptung,  dafs  skh  das  Grundeigentum  zeistüdcde, 
wäre  also  keinesfalls  gesagt,  da(s  es  sich  demokratisiere;  es  würde 
sogar  das  Gegenteil  zutreffen,  wenn  der  mittelbare  Betrieb  gleich- 
zeitig  der  Selbstbewirt%:haftung  gegenüber  an  Terrain  gewänoe. 
Diese  letztere  Erscheinung  aber  ist  unstreitig  überall  wahrzunehmen, 
wo  die  Entwicklung  des  intensiven  Betriebs  beträchtlichere  Kapitalien 
erheischt  und  die  Existenzbedingungen  des  bauerlichen  Grundbe^tzes 
vernichtet.') 

Allerdings  umfafst  in  Belgien  die  Selbstbewirtscbaftung  noch 
einen  ansehnlichen  Bruchteil,  ungefähr  die  Hälfte  des  landwirtschaft- 
lich bebauten  Bodens  —  53  Prozent  im  Jahre  1880,  4p  Ptozent  im 
Jahre  iBgs.*)   Es  ist  hierbei  aber  nicht  zu  übersehen,  dals  die  ofifi- 

'1  iilx  r  diesen  Punkt  unx  ron  H<  rieht  an  don  Landwirt^cliaftskongrefs  in 

Wurcnmit  am  31.  Dc/.cmbcr  l&y>~,  al>(4cdruckl  in  „iJoslree  und  Vandt-nrlde,  le  So- 
ctalisine  en  DLlj;ii|ue  •,  Paris  189S,  hex  Giard  et  Bricrc;  —  ferner  „De  la,  V»ll«e 
Poussin,  la  propri^^  paysaime  cn  Belgii|ue"  in  d«r  „Revue  sociale  eatholique"  vom 
I.  Februar  1898. 

')  Nach  den  landwirtscbaftlicfaen  ZKhlougen  von  1880  und  1895. 


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Da»  GrundcigcDtum  ia  Belgien  in  dem  Zeiträume  von  1S34—  1899. 


zidle  Statistik  unter  diese  Kategorie  auch  Holzungen,  Heideflächen, 
Oedland,  Weideland,  periodisch  gerodete  oder  abgesengte,  aber  niqht 
regelmäisig  angebaute  Flächen  rangiert,  ohne  Unterschied,  ob  sie 
Privaten,  dem  Staate,  Gemeinden  oder  öffentlichen  Instituten  ge- 
hören. Zieht  man  lediglich  die  regelmäisig  bebauten  Flachen  des 
Agrikukurterrains  im  eigentlichen  Sinne  in  Betracht,  die  Brachfelder 
eingeschlossen,  so  erhalten  wir  ganz  andere  Ziffern. 

Umfang  und  Verteilung  der  angebauten  Flächen. 


In  Pacht 

selbst  bewirt- 

In  l'acbt 

selbst  bewirt- 

ichaftet 

schaAet 

Hektar 

Pros. 

Pro«. 

Hektar 

Pros. 

Hektar 

Pros 

Laxemlmrg  .  . 

61 33S 

34,4 

116934 

65,6 

63170 

3ai> 

130763 

67,9 

Liroburs .   .  . 

56043 

41.8 

78 109 

58,2 

78795 

59.« 

5443B 

40,8 

Xamiir    .    .  , 

139459 

61,2 

88543 

38.8 

139605 

63.7 

79707 

36,3 

Lüttich   .    .  . 

II  3  296 

60,1 

75376 

39.9 

128780 

68,8 

57  934 

31,2 

Hcnrn-pau  . 

190867 

65.9 

«02374 

34,9 

195479 

69,1 

87664 

30.0 

Hrabant  . 

1 92  9 1 2 

71.1 

78336 

28,9 

187377 

72,1 

72697 

27,0 

Antwerpen  .  . 

93  »07 

59.5 

63  408 

40.5 

107  207 

73,0 

39736 

27,0 

Ostflandem .  . 

186333 

74,0 

65646 

36,0 

180614 

77,8 

51630 

33,3 

Westfl«ndeni  . 

337398 

«5.3 

44343 

«4,7 

340338 

88^ 

317*3 

11,6 

KdnigT'  Belgien 

1 370513 

65,1 

713059 

35.9 

1 3^0358 

68,9 

596331 

31,1 

Ks  kommen  somit  im  ijanzen  Köni^^rcich  auf  hundert  Hektare 
rei^elmälsig  angebauter  Machen  uiii^'cfähr  neunundsechzig,  von  denen 
der  Kapitalistenzehent  enlrichtct  wird.  Der  liigenbetrieb  übcrvviejTt 
gc^en  den  pacht\vci>t  n  nur  in  den  Ardcnncn,  den  Heideflächen  tler 
('amj>inc  oder  Waldgegenden  von  Entre  Sambre  et  Meuse.  In  den 
Ebenen  VV'estflanderns  dagegen  wurden  im  Jahre  1895  von  liundert 
bebauten  Hektaren  nur  elf  von  ihren  Eigentümern  bewirtschatlct. 
Im  Bezirk  Ostende  ist  die  Selbstbewirtschaftung  —  sieht  man  von 
den  unbebauten  Flächen,  den  Stranddünen,  ab  —  vollständig  ver- 
schwunden. Kurzum,  je  weiter  man  von  den  höheren  Landstrichen 
in  die  dcgenden  der  intensiven  Bodenwirtschaft  gelangt,  desto  be- 
trächtlicher wird  der  Bruchteil  des  kapitalistischen  ( irundcii^entums, 
im  weiten  Sinne  des  Wortes,  an  der  bebauten  Fläche,  l  ni  einen 
allgemeinen  Au>druck  zu  gebrauchen,  kann  man  sagen,  dals  die 
Entwicklung  dieser  Betriebsweise  in  geradem  Ver- 
hältnis steht  zum  V^erkaufs  werte  desGrund  und  Bodens. 

Demgegenüber  erscheint  es  als  offenbarer  Widerspruch,  dafs 
gerade  in  Zeiten  der  Krisis^  der  Entwertung  von  Grund  und  Boden, 

Archhr  fiir  lot.  G«scttc«baBg  u.  Stalittik.  XV.  38 


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426 


Emil  \' ander  Velde, 


das  kapitalistische  Eigentum  an  Umfang  gewinnt.  Die  Erklärung 
hierfür  ist  darin  zu  suchen,  dafs  in  derartigen  Krisen  die  Bauern 
nicht  imstande  sind,  den  allzu  schweren  Verbindlichkeiten  nach* 
zukommen,  welche  sie  in  Ihrer  Sucht  nach  Landerwerb  in  guten 
Jahren  auf  sich  nahmen:  die  Einkünfte  werden  geringer,  die  Sdiulden 
gröfser,  die  Hypothekenlasten  drückender,  es  mehren  sich  die  Zwangs- 
verkäufe von  Grundstücken.  „Auf  Anordnung  des  Justizministers  ist 
eine  vergleichende  Statistik  der  Anzahl  derartiger  Verkäufe  auf- 
gestellt worden  für  zwei  Perioden  von  je  drei  Jahren,  zwischen  denen 
ein  Zeitraum  von  zwanzig  Jahren  liegt,  (Ur  die  Jahre  1871 — 73  einer- 
seits  und  189t — 93  andererseits.  Es  ergiebt  sich  aus  der  Ueber* 
sieht,  welche  auf  Angaben  aus  allen  Landesteilen  fufst,  dafe  mit  Aus- 
nahme der  Ardennen  diese  Zwangsenteignungen  in  der  zweiten  drei- 
jährigen Periode  weit  zahlreicher  waren  als  in  der  ersten.  Fast  aller- 
wärts  hat  sich  die  Zahl  derartiger  Versteigerungen  mindestens  ver- 
doppelt; in  Limburg  ist  sie  auf  das  Dreifache,  in  den  Arrondiss^ 
ments  Mechcln  und  Löwen  auf  das  Vierfache,  in  jenem  von  Toumay 
auf  das  Sechsfache  gestiegen." 

Selbstverstrin<llicli  repräsentieren  diese  Zwangsverkaufe  nur  einen 
sehr  geringen  Teil  der  X'crruifscrunL^'-cn  de^  hiiuerliclien  Grundbesitzes 
überhaupt,  welche  durch  die  landwirtschaftliche  Krisis  veranlafst 
wurden.  Von  36  Prozent  Hektar  der  rcgelmäfsig  bebauten  Fläche 
im  Jaliic  iSRo  ist  die  Eigenbewirtschaftung  auf  31  Prozent  im 
Jahre  1895  gesunken.  Al^esehen  von  Luxemburg,  wo  die  regel- 
mäfsi^  l  )e})autefi  Flächen,  sowohl  pachtweise  als  selbst  bewirtschaftete, 
auf  Kosten  des  unbebauten  (  tebiets  an  Ausdehnung  gewonnen  haben, 
wiril  der  Grund  und  Roden  mehr  und  mehr  den  Händen  derer  ent- 
rissen, die  ihn  bebauen.  Die  Anzahl  der  ( rrundbesitzer,  welclie  ihren 
eigenen  Boden  L^anz  oder  mehr  als  zur  Hälfte  bewirtschafteten.  !)e- 
trug  im  Jahre  1895  231  319  —  was  seit  18S0  eine  Abnahme  \<'*n 
62205  oder  \on  21  Prozent  bedeutet.  Die  Anzahl  derjeniL^'cn.  die 
im  Jahre  I«*^95  die  <4es.inile  oder  iil)cr  diclKUfte  der  von  ihnen  be- 
bauten h'läche  j<achtweise  bewirtschafteten,  betrug  508  306  was 
eine  Verrini^erun^  >eil  1880  von  18566,  oder  3  Prozent  bedeutet. 
Man  berechnete  im  Jahre  1880  auf  die  gesamten  Landwirtschafts- 
betriebe ü8  Prozent  Pächter  und  32  Prozent  Figentiimer ;  1893  be- 
trug tier  IVozcntsaiz  der  Pächter  72,  der  Figentümer  dagegen  28. 

';  Ih-  la  \  ;tlli  .-  I'ou?.sin  in  der  Revue  sociale  catholique  vom  l.  April  1894,. 
S,  i()S.    BiuxfUfs  iS'ji>. 


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Das  Gnindeigcntaiii  in  Belgien  in  dem  Zeitnmme  von  1S34— 1899. 


Zur  i^fcliörii^eii  Würdii^'^iini,'  <\cv  Trai^^wcitc  ilicscr  Abnahnir  des 
KiL;enbctricbcs  ist  indessen  eine  besondere  L'ntersuclumi^  der  nutne- 
rischen  Kntwicklunt:  der  verschiedenen  landwirtschaftlichin  Ik'triebs- 
katej^uriecn,  vom  Parzellen-  bis  zum  i  irol^L;rundl)esitz,  erforderlich.  Zu 
diesem  Beluife  nehineii  wir  die  allLjemcin,  in  Deutschland  wenigstens, 
adoptierte  Klassifikation  zur  (irundlage.    Wollen  wir  die  Bedeutung 
eines  I,aiuhvirt.schaftsbetriebes  l)csiinimen,  so  dürfen  wir,  um  einen 
Ausdruck  des  Herrn  von  Philippov  ich  zu  gebrauchen,'  )  ihn  nicht  vom 
geometrischen,  sondern  nur  \  oin  ökonomischen  Standj)unktc  aus  be- 
trachten.   „Nennen  wir,"  sa;_;i  W.  Roscher,")  „grofs  ein  solches 
l^ndgut,  das  einen  Wirt  tler  <,^ebildeten,  höheren  Klasse  schon  mit 
der  blofsen  Direktion    des  Betriebes    voll    beschäftigt  ....  Ein 
mittleres  Gut  beschäftigt  seinen  Wirt  mit  der  blolscn  Direktion 
nicht  vollständig;  derselbe  hat  vielmehr  Zeit  übrig,  um  auch  an 
den  gröberen  ausfuhrenden  Arbeiten  teilzunehmen,  und  gehört  einer 
Standes«  und  Bildungsstufe  an,  welche  dies  keineswegs  verschmäht. 
Aber  die  Mehrzahl  der  ausfilhrenden  Geschäfte  werden  durch  Lohn* 
arbeiter  verrichtet  In  dieser  Klasse  stehen  die  meisten  gröfseren 
Bauerngüter.   Kleine  Güter  sind  solche,  die  in  der  Regel  nur  von 
dem  Wirte  selbst  und  dessen  Familie  bestellt  werden,  aber  deren 
Arbeitskraft  auch  vollständig  in  Anspruch  nehmen.   Wo  die  Land* 
Wirtschaft  zu  gering  ist,  um  auch  nur  eine  Familie  ganz  zu  be- 
schäftigen, da  sollte  man  gar  nicht  mehr  von  Landgütern,  sondern 
blofe  von  Parzellen  reden/'   Man  kann  also  im  grolsen  Ganzen  als 
Grofsbetriebe  solche  bezeichnen,  die  so  au^edehnt  sind,  dals  der 
Unternehmer  nicht  an  der  landwirtschaftlichen  Arbeit  im  eigentlichen 
Sinne  teilnimmt  und  sich  auf  die  Leitung  des  Unternehmens  be* 
schränkt.   In  den  mittleren  Betrieben  dagegen  leitet  er  das  Unter- 
nehmen gleichfalls,  arbeitet  aber  ebenso  wie  die  darin  thätigen  Ar- 
beiter.  Zu  den  Kleinbetrieben  rechnet  man  jene,  in  denen  der 
Ackerbauer  mit  den  Mitgliedern  seiner  Familie  thätig  ist,  ohne 
dauernd  Hilfsarbeiter  darin  zu  beschäftigen.   Unter  Par/ellenbetrieben 
endlich  sind  solche  zu  verstehen,  deren  Umfang  nicht  hinreicht,  um 
den  Bebauer  und  seine  Familie  ausschlicfslich  zu  beschäftigen.  Es 
braucht  wohl  kaum  erwähnt  zu  werden,  dafs  der  Umfang  dieser  ver- 
schiedenen Klassen  in  verschiedenen  Gegenden  je  nach  der  Beschaften- 
heit  der  Bodenfläche,  des  Klimas,  der  Art  der  Bewirtschaftung  und 


*)  Gnmdrifo  der  politisclun  (Vkonomie  I.   Fr<-iburg  iSoo,  S.  33. 
')  Xationalökonomic  des  Ackerbaues.    13.  Aufl.,  188S,  §  47. 

2$* 


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428 


Emil  Vandcrvclde, 


der  ganzen  Reihe  von  Faktoren,  welche  die  Ergiebigkeit  des  Bodens 
beeinflussen,  erhebliche  Abweichungen  aufweist.  Im  kleinen  Brabant 
z.  K,  wo  industrielle  und  Gemüsekulturen  vorherrschen,  unterscheiden 
die  staatlichen  Agi  onomen  folgende  Klassen  von  Betrieben : 

Grofsc  Betriebe  mit  .    .    ,    .    I5 — 35  HektarcD 

Mittlen-  I'.i  triebc  mit  ...  5 — 14  ^ 
Klciobclriebe  mit     ....      I —  5  „ 

„Von  bc>uiuicicii  I  nisländcn  ahgcsolieii,"  sagt  die  ,, Monographie 
über,  die  Campine",')  „wird  eine  normale  Familie,  bestehend  aus 
Vater,  Mutter,  einem  erwachsenen  Sohne  und  einer  erwachsenen 
Tochter  und  zwei  oder  drei  Kindern  minderen  Alters  auf  einem 
Gehöft  mit  3  bis  4  Hektaren  das  ganze  Jahr  über  Beschäftigung 
finden.  Bei  der  Bewirtschaftung  eines  derartigen  Besitztums  wird 
die  Familie  ihren  Unterhalt  finden,  aber  kaum  vorwärts  kommen. 
Mit  Hilfe  von  zwei  oder  drei  anderen  Arbeitern  in  der  Erntezeit 
würde  sie  6  bis  8  Hektare  bewirtschaften  können.'' 

Auf  den  Mochebenen  der  Ardennen  dagegen,  wo  die  Bebauung 
noch  eine  sehr  extensive  ist,  unterscheiden  die  Agronomen  je  nach 
dem  Umfange; 

Kleine  Betriebe  (petite  cnltare)  von  .  .  3 — 30  HciktaKII 
Mittlere  Betriebe  (moycnnc  culture)  von  30  -60  Hektaren 
Greise  Betriebe  (gramde  culture)  von   .  60  Hektaren  und  duttber. 

„Soll  eine  nurniale  Bauernfamilie,  bestehend  aus  Vater,  Mutter, 
drei  oder  vier  Kindern  im  arbeitsfähigen  Alter,  und  einem  Kinde 
unter  12  Jaliren  ohne  fremde  Arbeitskräfte  Beschäftigung  und  Tntcr- 
halt  fin<k  n,  so  ist  mindestens  ein  Iksiutum  von  ungefähr  20  Hektaren 
erforderlicli.  Mit  zwei  oder  drei  fremden  Arbeitskräften  zur  Ernte- 
zeit, d.  h.  zur  Zeit  der  Heu-,  Roggen-,  Hafer-  und  Kartotlelernlc, 
könnte  eine  solche  Familie  40  bis  50  Hektar  bebauen."  -) 

Unter  Berücksichtigung  dieser  Abweichungen  nach  unten  und 
oben  können  all;4enieinc,  auf  das  ganze  Land  anwendbare  Durch- 
schnitte sell)st\ erständUch  nur  sehr  relativen  Wert  haben.  Ks  ee- 
schiebt  daher  nur  unter  ausdrücklichem  X'orbchalt,  wenn  wir  für  ganz 
Belgien  folgende  Klassifikation  vorschlagen; 

')  Monographie  agricole  de  la  regton  de  la  Campine.  Broxelles  1S99.  44. 
«)  A.  a.  ü. 


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Das  Gnmdeigentttm  in  Belgien  in  dem  Zeiträume  von  1834 — 1S99.  4^9 

Hektare 

GroAbctriebe  50  and  darüber 

Mitdere  Betriebe  10—50 

Kldnbetriebe  a— 10 

PoneUcDbctricbe  0—2 


Seit  der  ersten  landwirtschaftlichen  Zähluiij^'  hat  die  Anzahl  der 
selbstbewirtschafteten  Betriebe  in  diesen  verschiedenen  Kategorieen 
folgende  Schwankungen  erfahren.    Es  gab  solche  Betriebe  im 


1S46 

i8<6 

1880 

189s 

Parsellciibesits    .  . 

1*7  IIa 

aa99i9 

ai8i44 

164867 

Kleinbesitz  .   .   .  . 

57169 

68598 

60598 

5«  «98 

Mittleren  Beats  .  . 

16587 

«93*9 

«3757 

14*37 

Grofsbesits.   .   .  . 

■  359 

a8a3 

1015 

917 

aoiaaö 

iao97i 

3935*4 

»31319 

In  sämtlichen  Kategorieen  ist  also  seit  1S66  ein  Rückgang  der 
selbstbewirlschafteten  Betriebe  zu  verzeichnen,  abgeselien  von  einer 
geringen  Zunahme  (-|-  470)  in  der  Anzahl  der  mittleren  I^etricbc  in 
den  Jahren  von  1880-  -1895.  Die  angegebenen  Ziffern  erhallen  in- 
flessen  ihre  volle  Bedeutung  erst,  wenn  man  sie  den  ents{>rechen(ien 
Kategorieen  der  pachtweisen  Bewirtschaftung  gegenüberstellt,  was 
nachstellend  in  eingehender  Weise  geschehen  soll. 

Die  aufserordentlich  grofse  Anzahl  von  Parzellenwirt- 
schaften ist  eine  wesentliche  P^igentiimlichkeit  der  belgischen 
Agrikultur.  Nach  der  Zählung  des  Jahres  1895  befinden  sich  unter 
einer  (iesamtheit  von  829625  Betrieben  634353.  deren  Umfang 
2  Hektar  nicht  erreicht,  und  zwar  werden  hiervon  selbstbewirtschatlet 
164867,  pachtweise  469486.  Abgesehen  von  einigen  Landstrichen 
mit  Gemüsckulturen  liefert  die  grofse  Mehrzahl  dieser  Betriebe  ihren 
Bewirtschaftern  nur  nebensächliclicn  Unterhalt.  Die  einen  gehören 
eigentümlich  oder  pachtweise  Dorfhandwerkern,  Kleinkaufleutcn  — 
Schankwirten,  Viehhändlern,  (iefliit^i  Izüchtern  u.  s.  w.  — ,  Bürgern, 
die  über  andere  Einkünfte  verfugen  (aus  beweglichem  Kapital, 
Pensioticn,  Nebengewerben,  aus  anderen  (Juellen  als  aus  industrieller 
oder  landwirtschaftlicher  Lohnarbeit).  Andere,  und  dies  sind  die 
weitaus  zahlreichsten,  werden  eigen  oder  |>achtweise  von  verschie- 
denen Arbeiterkategorieen  bewirtschaftet,  die  auf  dem  Lande  wohnen. 
Ks  sind  dies: 

I.  Die  I Handarbeiter  (Dienstboten  und  ständige  lagelöhner),  in 


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430 


Emil  Vaadervelde, 


einer  Anzahl  von  128277  (Männern)  nach  der  letzten  Zahlung 
von  1895. 

2.  Die  umherziehenden  Arbeiter  (Schnitter,  Rübenarbeiter  etc), 
besonders  /ahlreich  im  Süden  der  Provinz  Antwerpen  und  im  Hage* 

land  (Hrabant),  ebenso  in  den  Teilen  Flanderns,  wo  früher  die 
Leinenheimindustrie  herrschte.  Ihre  Anzahl  ist  auf  45  bis  50000 
zu  schätzen.  In  der  Hälfte  des  Jahres  abwesend ,  ijberlasscn  sie 
ihrer  Frau  und  anderen  Gliedern  ihrer  Familie  die  meisten  Ai1)eitcn 
«•  '  ihrer  kleinen  Wirtschaft. 

3.  Die  halb  ländlichen,  halb  industriellen  Arbeiter,  wie  sie 
z.  B.  in  Zuckerfabriken  oder  in  den  Bergwerken  während  des  Winters, 
und  auf  den  Feldern  zur  Zeit  der  Ernte,  wenn  die  Arbeitemach* 
frage  zeitweilig  steiojt,  thätig  sind. 

4.  Die  Arbeiter  der  ländlichen  Ilausindustrieen :  Strohhutmacher 
im  Grcrthale,  Watlenschmiede  in  der  Lütticher  Gegend,  Ilolzschuh- 
niachcr  aus  der  Gegend  von  Waas  oder  von  Fntre  Sambre  cl  Meuse, 
Messerschmiede  aus  der  Gegend  um  Gembloux,  Weber  aus  der 
Gegend  von  Renaix  oder  Braine  l'Alleud  etc. 

5.  Endlich  die  Arbeiter,  welche  alltäglich,  oder  für  die  y;anze 
Woche  oder  für  eine  nocli  längere  Zeit  in  die  Städte  oder  Industrie- 
plätze zur  Arbeit  gehen.  Solche  Arbeiter  sind  I)eispie1swei>c  die 
Fisenbahnarbeiter,  die  Strafsenpflasterer,  Maurer  und  Stuckarbeiter 
des  wallonischen  Brabant,  die  Steinbrucharbeiter  des  Condroz,  die 
Schieferbrucharbeiter  von  Semoy's,  die  Hochofenarbeiter  in  Luxem- 
burg, die  Weber  aus  den  Nachbargegenden  von  Roubaix  und 
Tourcoing,  die  Erdarbeiter  aus  der  Gegend  von  Bolders  und  im 
ganzen  mittleren  Belgien,  die  Hüttenarbeiter,  die  Kohlcnarbeiter,  die 
Strecker  in  Walzwerken  uiul  andere  in  den  Becken  von  Lüttich, 
Möns  und  Chailcroy  beschäftigten  Fabrikarbeiter. 

Zweifellos  hat  die  Barzellenwirt-schaft  für  diese  verschiedenen 
Arbeiterkategorieen  dadurch,  dafs  sie  ihnen  fast  sämtliche  von  ihneif 
konsumierten  Gebrauchswerte  liefert,  unbestreitbare  Vorzüge.  Vom 
agrikulturwissenschaftlichen  Standpunkte  aus  jedoch  ist  sie  durch* 
aus  2u  verwerfen.  Gleich  verdammenswert  ist  sie  unter  dem  Ge- 
sichtspunkt der  sozialen  Stellung  der  Frau,  welche  hierdurch  nur 
zu  oft  zum  Arbeitstier  erniedrigt  wird;  ebenso  leidet  darunter  die 
Erziehung  der  Kinder,  die  hierdurch  am  Schulbesuch  gehindert 
werden.  Wir  sind  daher  der  Ansicht,  dafs  diese  Wirtschaftsweise 
mit  dem  Fortschreiten  der  Industrie,  dem  grosseren  Umftmge  der 
Parzellen  aUmählich  verschwinden  wird,  und  zwar  in  der  Weise, 


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Da:»  Grundeigentum  in  Belgien  in  dem  Zeiträume  von  1834 — 1899. 

<]a(s  sich  diese  winzigen  Betriebe  in  gewöhnliche  Gärten  ver- 
wandeln. 

Was  ihre  Anzahl  anbelangt,  so  entspricht  sie  naturgemäfs  dem 
Bestände  der  verschiedenen  Kat^;orieen  der  Personen,  welche  «e 
bewirtschaften.  Da  sich  dieser  Bestand  in  samtlichen  Arbeiter- 
kategorieen  —  mit  alleiniger  Ausnahme  jener  der  ländlichen  Heim« 
arbeiter  —  während  der  Periode  industrieller  und  landwirtschaft- 
licher Ausdehnung,  welche  sich  bis  in  das  Jahr  1S74  hinein  erstreckt, 
beträchtlich  vermehrt  hat,  so  sind  auch  die  Zahlen  der  Parzellen- 
wirtschaften gestiegen,  wie  uns  die  landwirtschaftlichen  Zählungen 
von  1846,  1S66  und  1880  zeigen.  Es  beliefen  sich  die  Betriebe  im 
Umfange  von  weniger  als  zwei  Hektaren  auf 

«dbtt  paetoreise  uu- 

bewiitacbaftde  bewirtschaftete  gesamt 

1846  .  .  .    taytia  273403  409514 

1866  .  .  .    339929  397986  527915 

1880  .  .  .    318144  499419  710563 

Die  Anzahl  der  selbst  bewirtschafteten  Parzellen  hat  sich  also  ver- 
ringert, nachdem  sie  in  der  Zeit  von  1846 — 1866  fest  auf  das 
Doppelte  angewachsen  war.  Die  Anzahl  der  gepachteten  Parzellen 
dagegen  steigt  bis  1866  nur  sehr  wen^,  um  in  den  darauflblgenden 
fun&ehn  Jahren  unter  dem  Einflüsse  des  kapitalistischen  R^me 
sich  um  zwethunderttausend  Arbeiterparzellen  zu  vermehren. 

Von  gaiizcn  910396  Betrieben  überhaupt  erreichen  710563 
noch  nicht  die  Gröfse  von  2  Hektaren.  Ikl^ion  wird  zum  klassischen 
Beispiel  der  bis  aufs  äufserste  «getriebenen  Bodenzersplitterung. 

Von  1880  an  scheint  jedoch  eine  Be\ve<jun£^  in  umgekehrter 
RichtuncT  einzusetzen.  Nach  der  Zählun^^  dos  Jahres  1895  ist  die 
Anzalil  der  Parzellenlictriebe  auf  634353  gesunken,  was  eine  Ab- 
nahme von  76210  Bt  Illeben  bedeutet. 

Bei  der  Beurteilung  dieser  Abnahme  ist  nicht  zu  vergessen,  dafs 
nach  der  Erklärung  des  Kandwirlschaftsministers  „die  Anzahl  der 
1880  aufgenommenen  Landwirtschaftsbetriebe  dadurch  sehr  über- 
trieben wurde,  dal^  man  damals  die  in  den  Ergänzungshsten  ver- 
zeichneten Flächen  als  besondere  Betriebe  betrachtete".  Aber  auch 
angesichts  dieser  Erklärung,  welche  übrigens  lu-  lit  geeignet  ist,  die 
Glaubwürdigkeit  der  iJalen  tler  l88oer  Zählung  aulser  allen  Zweifel 
zu  setzen,  ist  es  immerhin  müi^lich,  dafs  die  Anzahl  der  Parzellen- 
wirtschaften in  manchen  Gegenden  thatsächlich  abgenommen  hat. 


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432 


Emil  Vaadervelde, 


Während  die  Zählung  eine  Zunahme  in  den  Industrieprovinzen 
Lüttich  und  Hcnncj:^nii.  und  ebenso  in  der  Provinz  Antwerpen  kon- 
statiert, wo  die  Industrie  rasch  fortschreitet,  verzeichnet  sie  eine 
Abnahme  in  den  landwirtschaftlichen  oder  gemischten  Provinzen. 
Diese  Verminderung  würde  zusammenhangen  einerseits  mit  dem 
Zug  vom  Lande  in  den  Teilen  des  l  atules.  wo  die  schwache  Eni- 
Wicklung  der  Verkehrsmittel  die  Arbeit«  i  hindert,  mit  ihrer  Be- 
schäftigung in  der  Stadt  das  Wohnen  auf  dem  Lande  zu  verbinden, 
und  andererseits  mit  der  geringeren  Nachfrage  nach  Handarbeit  seit 
der  landwirtschaftlichen  Krisis,  mit  der  Aufforstung  und  Verwande- 
lung  in  VV^eideland  einer  [^rofsen  Menge  pflügbaren  Landes  nach 
en;^^lisclicm  Muster.  Daher  die  erhebliche  V^erringerung  der  Anzahl 
ständiger  i^ndarlicitcr,  welche  die  letzte  Zählung  in  folgenden  Zittern 
feststellt   Iis  gab  ländliche  Arbeiter 

Minner  Fruen  in^gefamt 

1880  .  .  .      14176»  75  433  a»7>9S 

1895  .  .  .      138277  58829  187106 

Die  Behauptung  einer  gewissen  Abnahme  in  der  Zahl  der  Arbcitcr- 
parzellen  seit  der  Landwirtschaftskrisis  dürfte  vielleicht  darin  eine 
Bestätigung  finden,  dafs  sich  die  gleiche  Erscheinung  in  Frankreich 
zcii^t:  während  es  dort  im  Jahre  1882  137464O  Parzellenbesitzcr 
gab,  welche  genötigt  waren,  ihren  Unterhalt  durch  Lohnarbeit  oder 
durch  Fachten  von  Grrundstücken  zu  vervollständigen ,  zeigte  diese 
Kategorie  1892  einen  Bestand  von  nur  1 18802$.  In  Deutschland 
dagegen  ist  die  Anzahl  der  Parzellen  unter  i  Hektar  ~  zweifellos 
infolge  der  kolossalen  industriellen  Entwicklung  —  von  2323316 
im  Jahre  1882  auf  2529132  im  Jahre  1895  gestiegen,  was  eine 
Zunahme  von  8,8  Prozent  bedeutet  Es  läfst  sich  nicht  verkennen, 
—  trotz  des  scheinbaren  oder  wirklichen  Rückganges,  welcher 
während  der  Landwirtschaftskrisis  eintrat  — ,  dafs  allgemein  die  Aus^ 
dehnung  des  kapitalistischen  Systems  in  Industrie  und  Landwirt* 
Schaft  eine  Vermehrung  in  der  Anzahl  der  Pärzellenbctriebe  auf 
Kosten  einer  oder  verschiedener  anderer  Betriebskategorieen  mit 
sich  bringt  Andererseits  ist  zweifellos,  in  Belgien  besonders,  dais 
die  selbstbewirtschafteten  Parzellen  im  Verhältnis  zu  den  pachtweise 
bewirtschafteten  abnehmen.*)  Dies  erklärt  sich  wahrscheinlich 
daraus,  dals  die  ganz  kleinen  Grundbesitzer  gerade  durch  die  Städte 


■)  Vgl.  Sonchon,  k  propri^£  paysanne,  Plirts,  1899,  S.  $8. 


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Da»  Grundeigentum  in  lielgien  in  dem  Zeiträume  vun  1834 — 1899. 


angezo<;en  werden:  sie  tiaben  die  Hofifnung,  mit  dem  dürftigen 
Kapital,  welches  sie  aus  dem  Verkaufe  ihrer  Grundstücke  lösen 
können,  dort  besser  fort  zu  kommen.  — 

Wcnilcn  wir  uns  jeizt  zu  den  kleinen  Betrieben,  so  Hnden 
wir  die  Wirtschaften  im  Umfange  von  2 — lo  Hektaren,  deren 
grölster  Teil  vom  Bauer  selbst  mit  seiner  Familie  ohne  dauernden 
Beistand  von  Lohnarbeitern  bestellt  wird,  in  der  Zeit  von  1846  bis 
1895  in  folgender  Bewegung: 


Selbst 

In 

Ins- 

bewirt«;chaftct 

Pacht 

gesamt 

1846  .  . 

•    .  57i*J9 

69  961 

126  120 

1866  .  . 

.    .  68598 

94713 

«63503 

1880  .  . 

.    .  60598 

97663 

158261 

1895  .  . 

.    .     51 S98 

99  aS« 

150586 

Es  hat  also  die  Anzahl  der  kleinen  Pachtbetriebe,  die  besonders 
4n  Flandern  an fscr ordentlich  zahlreich  sind,  ununterbrochen  zuge- 
nommen. Der  kleine  bäuerliche  Grundbesitz  dagegen  ist  seit  der 
Zählung  des  Jahres  1866  in  merklicher  Abnahme  begriffet.  Uebrigens 
ist  hier  zu  bemerken,  dafs  selbst  diejenigen,'  welche  der  Meinung 
sind,  der  mittlere  häuerliche  Grundbesitz  sei  imstande,  sich  dem 
kapitalistischen  Betriebe  gegenüber  zu  halten ,  ja  sich  sogar  auf 
dessen  Kosten  zu  entwickeln,  die  durchschnittliche  UnzAilängüchkeit 
der  sclbstbewirtschaftctcn  kleinen  Betriebe  anerkennen,  welche,  ob- 
wohl keine  Arbeiterparzellen,  zu  wenig  umfangreich  sind,  um  den 
l'nterhalt  einer  Familie  in  geliürigem  Mafse  zu  beschatifen.  So 
schildert  beispielsweise  Smiciion  in  seiner  unlängst  erschienenen 
Untersuchung  über  das  bäuerliche  Grundeigentum  die  Milsstände 
des  zu  kleinen  Besitzes  folgendcrmalsen : 

„Es  ist  selir  selten ,  dafs  der  Ackerbauer  ,  der  als  ganzes  Ver- 
möijen  eine  I  Kitte  und  Feld  besitzt,  das  für  seinen  Unterhalt  zu 
klein  ist,  gleichzeitig  etwas  Kapital  in  Händen  hat.  Besälse  er  es, 
so  würde  er  es  zweifellos  sofort  zur  Vcrgröfserung  seines  Feldes 
verwenden.  Aus  diesem  Grunde  wird  der  Satz,  den  man  als  Haupt- 
regel für  die  Verteilung  des  Bodens  aufgestellt  hat,  das  Erfordernis 
nämlich  eines  gewissen  \'erhältnisses  zwischen  dem  beweglichen 
und  unbeweglichen  Verni(">gen  der  Grundbesitzer,  stets  seine  Geltung 
gegenüber  dem  l'.u /( llenhesilz  verlieren  (d.  h,  jedem  Grundbesitz 
gegenüber  unter  3  }  lektaren,  da  Souchon  den  Umfang  dieser  Kate- 
gorie anders  bemilst,  als  wir;,  und  die  hierdurch  geschaffene  Lage 


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434 


Emil  Vandcrvelde, 


zeitigt  infol^a^dcssen  schwere  Uebelstände.  Sic  natnentUch  veran- 
lafsl,  d.ils  derartige  Besitzer  unausweichlich  dem  Wucherer  verfallen. 
Sodann  kann  sie  infoI<;e  di  s  Mangels  an  genügenden  Betriebsmitteln 
(Geräten  (xler  Vieh)  die  Besitzer  zu  einer  Lebenshaltung  herab- 
drücken, die  weit  härter  als  jene  der  blolsen  Tagelöhner,  und  sie 
zu  ohntnächtigen  Sklaven  des  Bodens  machen,  den  sie  sich  zu  be* 
herrschen  schmeicheln. "  ' ) 

Die-c  Bemerkungen  haben  zwar  nur  die  Betrielie  unter  5  Hek- 
taren im  Au^a',  dürften  aber  wohl  ohne  Zweifel  auch  auf  den 
bäuerlichen  Belitz  von  bedeuteiulerem  Flächenumfang,  aber  von 
schwacher  Produktivität  zutreffen,  wie  man  sie  in  den  armen 
Gegenden  des  Condroz  und  den  Ardennen  findet.  — 

Währen«!  nach  nbiL^^-j,^  kleinen  Betriebe  und  tlie  Parzellen- 
wirtschaften >eit  1 88o  an  Umfang  verloren  haben,  ist  andererseits 
ein  beträchtliche  Zunahme  der  mittleren  Betriebe  seit  diesem 
Jahre  zu  verzeichnen.    Es  gab  solclie  Betriebe: 


Selbst 

In 

Iiis> 

bewirtschaftet 

Paclit 

gesamt 

1846  . 

.    .  16587 

24997 

41683 

1866  .  . 

.   .  »9J29 

«7  733 

4706a 

1880  . 

•   .  13767 

14402 

38169 

1895  .  . 

.   .     »4  «37 

2686$ 

41  IO8 

Die  gleiche  Lracheinung  zeigt  sich  vibrigens  auch  in  Deutsehland, 
wo  in  der  Zeit  von  1882—  1805  die  l^rt riebe  von  5 — 20  Hektaren 
die  stärkste  numeri.sche  Zunahme  aufweisen.  '*) 

Nichtsclestoweniger  wäre  es  irrig,  hieraus  zu  folgern,  dafs  der 
mittlere  bäuerliche  Grundbesitz ,  oder  der  mittlere  Betrieb  in  allen 
(iegenden  im  Anwachsen  begriffen  sei.  Im  (iegenteil  scheint  er 
eher  überall,  wo  die  Indu.sttic  sich  entwickelt,  abzunehmen,  und 
zwar  infolge  der  hierdurch  verursachten  X'erteuerung  der  Handarbeit. 
So  schreibt  ljeis|iielsweise  der  „Ingenieur  agricole  de  Gembloux"  *) 
in  einem  berichte  über  eine  Studu  ureise  in  Pas-de-Calais : 

„Der  hohe  Preis  der  Handarbeit  steigert  die  Betriebskosten  der- 
mafsen,  dals  viele  Felder  brach  liegen,  und  es  giebt  Grundstücke, 
die  vor  wenig  Jahren  noch  zu  vierzig  Fmncs  verpachtet  wurden  und 
jetzt  nicht  einmal  einen  Abnehmer  für  fönfundbEwanzig  finden.  In* 


Sottchon,  la  propricte  paysanne,  P»ria  1899,  S.  56. 
*)  Karl  Kautsky,  Die  Agrarfrage.  Stvt^ait  1899.   S.  132. 
')  L'Ingtoieur  agricole  de  Gcmbloox  vom  l.  Jannar  1899,  S.  339. 


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Uds  Grundfigciiluin  in  Belgien  in  dem  Zeiträume  von  1834 — 1S99. 

folge  dieser  Verhaltnisse  verschwindet  der  mittlere  Betrieb,  denn 
er  gerade  ist  am  meisten  von  der  Handarbeit  abhängig,  da  sein 
Kapital  und  der  geringe  Umfang  seiner  Unternehmung  ihm  nicht 
gestatten,  sich  Maschinen  anzuschaffen,  und  doch  kann  er  nicht 
ohne  fremde  Hilfe  fertig  werden."  Ebenso  ist  die  zunehmende 
Schwierigkeit,  Landarbeiter  zu  bekommen,  eine  Ursache  mit  des 
sehr  augenfälligen  Rückgangs  der  Selbstwirtschafl  in  den  Provinzen 
Antwerpen  und  Limbufg.  Schon  im  Jahre  1878  wies  Rolin- 
Jacquemyns  in  einer  Abhandlung  über  den  Kanton  Hoc^straeten 
(Antwerpener  Campinc)  hin  auf  den  Einflufs  der  Preissteigerung 
der  Handarbeit  infolge  der  Anziehungskraft  des  Antwcrpener  I  fafens. 
,.Einc  Erschci Illing*',  sagte  er,  „die  mit  der  Zeit  gute  Wirkungen 
zeitigen  niufs,  die  aber  über  kurz  oder  lang  den  Hofgutbesitzer 
nötigen  wird,  sich  nach  Hüfismitteln  umzusehen,  die  ihm  gestatten, 
seine  Wirtschaft  mit  einem  grofseren  Kapital  zu  betreiben.  Im  all- 
gemeinen hilft  er  sich,  wenn  er  verschuldet  ist  (was  selten  vor- 
kommt), damit,  dafs  er  seinen  Hof  verkauft  und  dann  als  Pächter 
darauf  bleibt.  So  kommt  es,  dafs  der  ehedem  sehr  zahlreiche 
Stamm  der  selbstbewirt.schaftenden  Grundbesitzer  sich  immer  mehr 
verringert."  '1.  Dieser  Stand  der  Dinge  hat  sich  in  den  folgenden 
Jahren  Icdiglicli  verschlimmert,  und  wenn  seit  einiger  Zeit  die  Lage 
der  kleinen  .Ackerhauer  bis  auf  weiteres  prekär  geworden,  begünstigt 
andererseits  der  Abfluls  der  Arbeiter  naeh  Antwerpen,  und  die  Auf- 
saugung der  intelligenleslen ,  fleifsigsten  und  kräftigsten  Arbeiter 
durch  die  Industrie  fortgesetzt  die  Zerstückelung  der  groüen  \ind 
mittleren  Betriebe.  ,.Da  sich  die  Industriebetriebe,  und  namentli<'h 
die  Ziegeleien",  s«  hneb  im  Jahre  1899  de  Beukelaer.  „in  der  (  am- 
pine  \on  Jahr  zu  Jahr  xerniehien,  so  wird  es  auch  \on  Jahr  zu 
Jahr  schwieriger,  Feldarbcitci  zu  bekommen.  Der  Landwirt  sieht 
sich  genötigt,  fast  seine  ganze  Arbeit  mit  seinen  Söhnen  und  Töchtern 
zu  verrichten,  und  wer  dies  nut  seiner  Familie  nicht  fertig  bringt, 
ist  schlielslich  gezwungen,  sich  nach  irgend  einem  kleinen  Pacht- 
gut umzusehen,  wo  er  sein  Leben  ohne  viel  Sorge  fristen  kann."  '*) 
Wie  man  sieht,  bringt  der  b'ortschritt  des  Kapitalismus  nicht 
notwendig  die  Konzentration  des  Betriebes  mit  sich;  es  kommt  im 
Gegenteil  ziemlich  häufig  vor,  dafs  dieselben  Ursachen,  welche  die 

'1  Do  Lavelryc.  l  agriculturc  bclgc,    Anvcrs,  S.  172. 

l'rojct  d  in^titulion  d  une  ccole  professionelle  d'agriculture  et  d'horticoUure, 
Anver»  1899,  S.  13. 


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436 


Emil  Vandcrvelde, 


Abnahme  des  Eigenbetriebes  veranlassen,  gleichzeitig;  die  Zerteilun^ 
der  grofsen  Domänen,  die  Entwickelung  der  Gemüse-  und  industrie* 
eilen  Kulturen,  die  Vermehrung  der  Arbeiterparzellen  herbeifiihren, 
welche  ein  höheres  Pachtgeld  erzielen,  ab  die  grofsen  Gehöfte. 
Ein  anderes  Resultat  konnte  nur  eintreten,  wenn  der  intensiv'e  Grofs* 
betrieb  ein  entscheidendes  Uebergewicht  über  die  Parzellenwirtsdiaft 
gewänne,  —  eine  Entwickelung,  wie  sie  sich  übrigens  in  einem 
beträchtlichen  Theile  Belgiens  seit  ungefähr  zwanzig  Jahren  an* 
bahnt  — 

Was  nun  die  grofsen  Betriebe  (50  H.  und  darüber)  an* 
langt,  so  sind  sie  seit  dem  Jahre  1880,  nachdem  sie  bis  zur  land- 
wirtschaftlichen Krists  an  Zahl  abgenommen,  wieder  ai^^ewachsen. 
wie  folgende  Uebersicht  zeigt. 


Sdbst 

In 

Ina- 

bewirtschaftet 

Pacht 

•       .  »359 

S874 

4333 

1866  . 

.  .   .  2833 

2705 

5827 

1880  . 

.  .   .  1015 

23H8 

3403 

1S95  . 

.   .   .  917 

2667 

3584 

Die  Eigenbetriebe  nehmen  also  fortgesetzt  ab,  aber  der  kapitalistische 
Grofsbetrieb  entwickelt  sich  auf  Kosten  der  kleinen  Betriebe.  Diese 
Wandlung  kommentiert  das  „Annuaire  statistique",  veröfTendicht 
vom  Minister  des  Innern,  mit  folgenden  Worten: 

„Es  sind  ausschliefslich  die  Wirtschaften  unter  5  Hektaren,  und 
namentlkh  jene  unter  2  Hektaren,  deren  Zahl  abgenommen  hat 
Die  Wirtschaften  im  Umfange  von  über  10  Hektaren  dagegen  sind 
auf  5789  angewachsen.  Die  Konzentration  des  Grund« 
besitzes,  welche  dem  Fortschritt  des  Grofsbetriebes 
und  der  rationellen  Viehzucht  entspricht,  tritt  uns 
hier  in  sehr  deutlicher  Weise  entgegen.  Es  ist  seit  1880 
eine  Bewegung  entstanden,  die  gerade  umgekehrt  verläuft,  wie  jene 
von  1866  bis  18S0.  Während  diiiials  die  Zahl  der  kleinen  Wirt- 
schaften beträchtlich  zunahm,  ist  jene  der  grofsen  Betriebe  stark 
gesunken.  Gegenwärtig  ist  es  der  kleine  ländliche 
Grundbesitz,  welcher  vor  der  Grofs Wirtschaft  zurück- 
tritt." ') 

Dies  Fortschreiten  des  Grofsbetriebes  würde  weit  beträchtlicher 
crsclieinen,  wenn  es  nicht  teilweise  durch  entgegengesetzte  ik- 

'j  Annuaire  pour  189S,  Bruxrllcs  1899,  S.  XUV. 


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Das  Grundeigentum  in  Belgien  in  dem  Zeiträume  von  1834 — 1^99. 


we^'ungen  maskiert  würde,  wie  sie  in  manchen  Gegenden  noch  an- 
dauern. 

So  ist,  wie  wir  sahen,  in  der  Campine  die  Phase  der  Zer> 
Stückelung  nicht  abgeschlossen.  Desgleichen  ist  in  Luxemburg  eine 
Verringerung  in  der  Zahl  der  Betriebe  über  50  und  unter  3  Hektaren 
eingetreten;  wogegen  die  Betriebe  von  3 — 10  und  10 — 5.0  Hektaren 
zugenommen  haben,  was  somit  ein  Zurückweichen  der  gro(sen  und 
der  Parzellen*  Wirtschaften  zu  gunsten  der  Zwischenkategorie  bedeutet. 
Die  Erklärung  fiir  diese  Thatsache  ist  gröfstenteils  in  der  Abnahme 
der  Landarbeiter  zu  suchen,  welche  mit  dem  Intensiverwerden  des 
Betriebes  zusammenfallt. 

„Die  Anzahl  der  Tagelöhner  wird  von  Jahr  zu  Jahr  geringer, 
während  jene  der  eigentlichen  Dienstboten  kaum  schwankt."  ^) 

Diese  Verringerung  hat  die  Abnahme  der  Arbeiterparzellen  zur 
Folge.  Andererseits  werden  die  grofsen  Wirtschaften  mai^ls 
Kapitalien  und  Arbeitskräften  zerstückelt  und  weichen  Aufforstungen, 
\\V  ideländereien  oder  Betrieben  geringeren  l 'riifanges,  welche  die 
I-amilienglieder  bewirtschaften,  die  bezahlter  Hilfe  fast  völlig  ent* 
behren  können. 

Blicken  wir  aber  auf  die  andere  Seite  der  Maas,  auf  die  frucht- 
baren iiochebenen  des  mittleren  Belgiens,  so  zeigt  sieb  uns  ein 
anderes  Bild:  einerseits  eine  Verniehrung  in  der  Anzahl  der  Parzellen- 
wirtschaften, weil  die  Leichtigkeit  des  X'crkehrs  den  in  der  Stadt 
beschäftigten  Arbeitern  gestattet,  allabendlich  nach  Hause  zurück- 
zukehren und  andererseits  eine  -Zunahme  der  Betriebe  von  über 
50  Hektar,  weil  die  Grolswirtschaft,  welcher  au-,rcirhendes  Kapital 
zur  \'crfüj:^un<:;  steht,  ihre  technische  1  eberlegenheit  gegenüber  der 
kleinen  und  mittleren  Wirtschaft  otVenhart. 

Kurzum,  der  kaj)ilalislische  Grolsbetrieb  entwickelt  sich  auf 
dem  (letreidebodcn  der  lehmigen  l^ndstriche.  Die  Zerstückelung 
greift  in  den  Ardennen  immermehr  um  sich.  Der  Kleinbetrieb, 
die  industrielle  oder  <  fcmüsc Wirtschaft  bleibt  in  Flandern  und  in 
der  ("ampine  vorherrschend.  .Aber  das  eine  steht  fest,  dafs  in  der 
weit  überwiegenden  Mehrheit  der  Ackerbaudislriktc,  —  ob  sich  nun 
die  Betriebe  konzentrieren  oder  zerteilen,  ob  sie  sich  erweitern  oder 
zerstückeln  — ,  die  Eigenwirtschaft,  der  Selbstbctrieb,  im  Rückgang 
begritVen  ist.  „Eine  notwendige  Folge  des  Privateigentums  am 
Grund    und  Boden   unter   dem    kapitalistischen  System  ist  die 

•)  Monographn-  agncolc  de  la  rcgion  de  l  Aidcnnc,  S.  36. 


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438 


Emil  Vandervelde, 


Scheidung  des  ackerbautreibenden  Besitzers  in  zwei  Personen:  den 
Besitzer  und  den  Unternehmer"  (Marx).  Was  diese  Sonderung  ver- 
anlafst,  das  bäuerliche  Grundeigentum  vernichtet,  das  ist  weit 
weniger  diese  oder  jene  spezielle  Ursache  —  wie  Erbfolgegesetze, 
technische  Rückständigkeit,  mangelhaftes  Betriebsmaterial  — ,  als 
die  gesamte  Entwicklung  der  bürgerlichen  GeseUschaft,  der  kapitalis- 
tischen Produktionsweise. 

Gleiche  und  Zwangsteilung,  immer  drückendere  staatliche  und 
militärische  I.^en,  Vernichtung  der  landwirtschaftlichen  Neben- 
gewerbe,  Verkauf  der  Gemeindeländereien  und  der  Domänenforsten, 
Beseitigung  der  Nutzungsrechte,  Intensiverwerden  der  Betriebsweise^ 
wie  CS  durch  die  Bedürfnisse  einer  industriellen  oder  richtiger, 
nicht  landwirtscli.iftlichcn,  immermehr  anwachsenden  Bevölkening 
notwendig  wird,  I)clokali>ali()n  der  Märkte,  Ueberschwemmunj,^  mit 
überseeischem  (iclrcide  und  anderen  Produkten,  veranlalst  durch  die 
gleichen  Bedürfnisse  und  ermöglicht  durch  die  Ausdehnung  der 
Transportindustrie,  Steij^en  des  Bodenwertes,  in  der  nächsten  Im« 
t]^ebung  städtischer  Bevölkerungshäufungen  namentlich,  —  alle  diese 
Krschcinungcn  sind  ebensosehr  die  ]''olgen  der  sozialen  l  ierr>chalt 
der  Bourgeoisie,  als  Faktoren  der  Zersetzung  der  alten  Formen  des 
ländlichen  Grundbesitzes.  Verstümmelt  durch  das  X'ersclnvinden 
der  Gemeindeländcreicn.  <ler  kleinen  Industrieen  beraubt,  welche 
einen  Nebenerwerb  für  die  Bedürfnisse  des  I  I.iushaltes  boten,  aus- 
schlielslich  auf  ticn  Charakter  einer  reinen  Landwirtschaft  beschränkt, 
die  gröfstcnteils  nur  Tauschwerte"  produziert,  besitzt  das  bäuerlicliL' 
GrutuU  i'u  iitiun  den  e<  bedrohenden,  es  zersetzentlcn  l'rsachen 
gegenultcr  nur  noch  geringe  Widerstandskraft.  l'nd  was  die 
wirt.schaflliclie  Fntwicklung  anbalint,  wird  erleichtert  durch  ^ic- 
setze  und  ( lewohiiheiten  h^isichllich  der  Frljfolgc.  Diesen  Unisiaikl 
kennzeichnete  Schaetzen,  der  konservative  Abgeordnete  von  Tongern, 
am  5.  Juli  1S85  mit  folgenden  Worten: 

,,T)ie  tongesetzte  Teilung  des  ( irundbe-^it/cs  hat  infolge  der 
erbrcciitliclieti  Bestimmungen,  lier  durch  tlie  Lr)sung  der  <  icmcm- 
schaften  erforderte!!  .Auszahlungen  und  Kaulsteiiiju  l  Nciilielslich  dazu 
geluhrt,  auf  jenen  ungeheuere  Lasten  zu  hiuiten.  Die  K.ipitalicn 
wurden  hierdurch  notwendig  angegrifien,  die  hvpothekari.sche  Be- 
lastung nahm  oft  in  erschreckender  Weise  zu,  und  /war  unter  SO 
drückenden  Ik-dingungen,  dafs  sie  jeden  Forlschritt  hinderte.  Durch 
die  Zertrümmerung  des  Bodens  wurden  Verbesserungen  unmöglich, 
für  die  allerdings  nur  zu  häutig  die  Mittel  der  Besitzer  nicht  aus* 


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Das  GruQdeigeDtum  in  Belgien  in  dem  Zeitnuime  von  1834 — 1899. 


gereicht  haben  würden,  und  man  mufstc  dem  Staate  j^^cbcn,  was 
fruchtbringende  Wandlungen  hätte  hervorrufen  können."  ') 

Man  ist  freilich  bemüht,  diese  Verhältnisse  zu  bessern;  man 
ändert  die  Erfol^cgesetze,  sucht  die  staatlichen  Lasten  zu  erleichtern, 
organisiert  den  ländlichen  Kredit  Man  wendet  femer  gegen  jene 
ein,  die  den  mehr  oder  minder  nahen  VeHall  des  bäuerlichen 
Grundbesitzes  vorhersagen,  dals  der  Kapitalismus'  die  Wunden  heilt, 
die  er  schlagt,  inclem  er  die  ländlichen  Hausindustrieen  durch 
lebenskräftigere  Betriebe  ersetzt,  so  durch  die  Zuckerfabrikation, 
die  Branntweinbrennerei,  Molkerei,  Fabriken  aller  Art,  wie  sich  auf 
dem  Lande  mehren.  Man  weist  endlich  hin  auf  das  üppige  Ge- 
deihen der  ländlichen  Genossenschaften  und  Vereine,  welche  den 
Bauern  Saatkorn,  Dungmittel,  landwirtschaftliche  Maschinen,  kurzum 
alle  Hil&mittel  liefern,  die  ihnen  den  Kampf  gegen  die  kapitalistische 
Wirtschaft  ermöglichen. 

Wir  wollen  durchaus  nicht  verkennen,  dafs  der  Einfluß  dieser 
verschiedenen  Faktoren  die  r^essive  Entwicklung  des  bäuerlichen 
Grundbesitzes  verzögern,  ja  hie  und  da  sogar  hemmen  kann.  Nur 
darf  man  nicht  vergessen,  dals  jeder  Versuch  einer  Umgestaltut^ 
der  Erbfolgcgesttzc  an  dem  Glcichheitssinnc  unseres  Volkes  scheitern 
würde,  dafs  die  Erleichterung  der  öffentlichen  Lasten,  soll  sie  nicht 
ein  schwer  zu  rechtfertigendes  Privileg  werden,  sich  auf  alle  I.and- 
wirte  erstrecken  müfste,  dafs  eine  Ljründlichc  Organisation  des  länd- 
lichen Kredits  nicht  nur  den  Ackerbautreibenden  zu  Gute  käme. 
Ist  andererseits  richtig,  dafs  die  Grofsindustrie  auf  dem  Lande  um 
sich  greift,  oder  wohl  in  den  Städten  eine  wachsende  Anzahl  länd- 
licher Arbeiter  beschäftigt,  so  wirkt  dieser  neue  Stand  der  Dinge 
durchaus  nicht  auf  die  Kräftigung  des  bäuerlicficn  Grundl)csitzcs 
hin,  sondern  führt  vielmehr  seine  Zersetzung  heri)ei,  intieni  er  ihn 
zertrünuncrt :  der  Bauer,  der  ein  ländliches  Nebengewerbe  betreibt, 
wird  durch  den  Industriearbeiter  ersetzt,  welcher  in  seiner  freien 
Zeit  eine  Bodenparzelle  bebaut,  die  er  inaiiehmal  al.s  Kit^entünier, 
zumeist  aber  als  Pächter  besitzt.  So  lesen  wir  zum  Beispiel  in  einer 
Abhandlung  \()ti  \an  Neuis  über  [  imburg: 

,,Der  Kleinbauer,  welcher  in  minder  günstig  gelegenen  Gegenden 
sein  Auskommen  ruulet,  vermag  hier  ( in  der  l 'mgegcnd  von  St.  Ircjrul) 
keinen  Widerstand  zu  leisten;  infolge  der  ül)ermäl>ig  hohen  Pacht- 
gelder kann  er  keinen  guten  Boden  bekommen :  er  verkauft  seinen 


'i  Ctunibro  des  Repre:>cfitaiiLi  1884,83.    Doc.  no.  164,  S.  63. 


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440 


Emil  Vandervelde, 


Pflug  und  wird  Tagelöhner  oder  Arbeiter  in  der  nächsten  Fa> 
brik."  *) 

Aber  mufs  denn  wirklich  überall,  wo  sich  die  Industrie  entfaltet, 
die  Entwicklung  diescUic  sein  ?  Ist  die  erlösende  Genossenschaft 
nicht  im  stände,  das  Schicksal  des  bäuerlichen  Grundbesitzes  zu 
wenden  ? 

Wir  haben  uns  bort  it>^  anderwärts  über  die  Aussichten  und 
den  wahrscheinlichen  Erlul^^  einer  kooperativen  Gestaltung  des 
kleinen  ländlichen  Grundeigentums  ausgesprochen,  ■  l  utul  wollen 
deshalb  hierauf  nicht  weiter  eingehen.  Man  kann  mit  Kautsky 
sich  mit  der  Trage  beschäftigen,  ob  die  ländliche  Genossenschaft 
einen  l'ebcrL^ang  zum  Sozialismus  bedeutet,  oder  —  wie  so  viele 
andere  Produktiv  genos>enschaften  —  zum  Kapitalismus ,  ■*]  und, 
nebenbei  gcsat^t,  man  wird  gut  thun,  sieh  in  dieser  Sache  \  or  allzu 
absoluten  Aufteilungen  und  vorschnellen  Verallgemeinci  ungen  zu 
hüten.  Jedcntalls  aber  steht  fest,  dals  seit  der  industriellen 
Umwälzung  d  i  e  S  c  h  e  i  d  u  n  g  zwischen  Grundbesitz  und 
landwirtschaftlicher  Arbeit  immer  schärfer  zum  Aus- 
druck gelangt  ist. 

W  ir  kommen  nunmehr  zum  dritten  Punkte  unserer  Ausführungen, 
zur  Konzentration  der  G  r  u  n  d  q  u  o  t  e  n. 

Die  in  das  Kataster  aufgenommene  Fläche  Belgiens  belauf 
sich  auf  2945557  Hektar.  Sieht  man  vom  Hennegau  \l'J2\(>'j 
Hektar)  ab,  über  welches  unsere  Ermittelungen  nicht  vollständig 
sind,  so  bleiben  för  die  übrigen  acht  Provinzen  2  573  390  Hektar. 
In  der  Zeit  von  1834—1845  gab  es  in  diesen  Provinzen  2288  Quoten 
von  100  Hektaren  und  darüber,  welche  eine  Gesamtfläche  v<m 
659448  Hektar,  25,6  Prozent  der  Katasterfläche  umfafsten.  1898 
bis  1S99  betragen  sie  nur  nodi  214s  mit  einem  Umfange  von 
579888  Hektaren,  22,5  Prozent  der  Katasterfläcbe. 

In  der  nachstehenden  Uebersicht  haben  wir  für  samtliche  Pro 
vinzen,  Hennegau  ausgenommen,  die  Ziflern  der  Bodenverhältnisse 
iur  die  Zeit  von  1834 — 1845  und  von  1898 — 1899  zusanunengestellt 
und  diesen  gegenüber  jene  der  Bevölkerung  pro  Quadratkilometer, 
den  Durchschnittswert  des  pflügbaren  Bodens  und  das  Verhältnis 


')  Nafselt,  St.  Trond,  Tonpjcs.    Bclgiqae  illustre-  II,  XX1\  .  b.  445. 
*)  Le  Sodalisme  en  Bdgique.  —  Rapport  m  Omgris  de  Waremme  »ui  U 
petite  propri«t«  nmle,  Paris  (Giard  et  Bri^)  1898.  S.  359  ff. 
*)  Kautsky,  IMe  Agcarfrage,  S.  116  ff. 


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Das  Grundciyciiium  m  Belgien  iu  dem  Zeiträume  von  1834 — 1899. 


der  selbstbewirtscbafteten  Betriebe,  unter  Einschlufs  der 
Waldungen  und  unbebauten  Ländereien. 


Provinsen 

olkerung  pro 

c  £ 

!j    "  1« 

«■Sc 

von  100  Hektar 
und  darüber 

GeaMuntnmfang  *ler  (Quoten 
ton  KXi  llrktar  luid 

darüber 

1834—1845       1S98  -  JS99 

r.    >  'x 
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*£  -3  fö 

*--      1  w 

C    1,  U 
J)  ^ 

V  —  • 

Frcs. 

'^34— 45  »898— 99 

Hektar  |  % 

Hektar 

io 

V     >->  IZ 

Namur. 

95 

1973 

631    '  501 

154301  42.1 

140  768 

38,5 

58.6 

Luxemburg  . 

49 

1074 

541  557 

178  526  40,4 

u>8  244 

38," 

84,5 

Ltttdeh    .  . 

386 

3075 

309  311 

88356  30,5 

74  192 

25.6 

50.1 

Limburg  .  . 

98 

2080 

•54  »07 

78  537  32,6 

49485 

20,7 

63,3 

Antwerpen  . 

281 

2413 

192  184 

67  634  ,23,9 
46485  (14,3! 

52677 

18,6 

54,5 

Brabant   .  . 

378 

343» 

331    i  216 

45499 

«3.9 

35.S 

WiestflMuicm 

245 

3447 

136    ■  156 

26  639 !  8,2 

37768 

8,6 

17,2 

Ostflandem  . 

338 

3839 

104   1  113 

1S970'  6,3' 

91  355 

7,. 

»7.5 

Insgesamt . 

224 

2838 

2288   j  2145 

1  659  448  (25,6 

579888  22,5 

50,6 

Man  wird  bemerken,  dafs  —  mit  der  offenbaren  Ausnahme  der 
Provinz  Lüttich,  wo  die  meisten  gröfseren  Besitzuiii^cn  sich  auf  den 
I  lochebenen  des  Condroz  oder  in  den  hochgelegenen  Sumpfgegenden 
befinden  —  die  grofsen  Grundquoten  i^fcradc  in  den  Provinzen  be- 
sonders zalilrcich  sind,  wo  die  Bevölkcr  uiiv^;  ciiu-  dünne,  der  Ver- 
kaufswert des  Hodens  niedrig,  die  Selbstbcwirtschaftung  ausgedehnt 
ist.  Die  höchsten  Ziffern  ciillallLii  auf  die  Provinzen  Nanun  und 
LuNcinhurg,  welche  sowohl  die  nurulcstbevölkerten  sind,  und  wo  der 
Hüden\ erkaufswert  am  uiethigslen  ist.  Die  niedrigsten  Ziffern  da- 
gegen linden  wir  in  tlen  beiden  Flandern,  welche  inbe/.ug  auf  den 
\'erkaufswert  pflügl)aren  Bodens  obenanstehen,  und  welche  wohl 
sicher  die  dichteste  ländliche  Bevölkerung  haben,  hii  Einklang  mit 
der  herrschenden  Ansicht  bekunden  Anzahl  und  L'mfang  der  grofsen 
Grundc]uoten  die  Tendenz,  im  geraden  X'erhältnis  zur  f^ntwicklung 
der  Be\ (")lkerung  und  des  Bodenweites  abzunehmen.  Iis  ist  daher 
in  der  Zeit  von  1834  1845  —  1898  99  die  Gesamtfläche  der  Quoten 
über  100  Hektar  von  659,448  Hektar  (25,6  Prozent  der  Kataster« 
fläche)  auf  579888  Hektar  (22,5  Prozent  der  Katasterflächc)  gesunken. 
Diese  Alm^me  indessen  rührt  ausschliefstich  —  und  gerade  dies 
ist  zu  betonen  —  aus  der  Veräuiserung  oder  Teilung  einer  groisen 
Anzahl  öflentUchec  Lindereien  her.  Zieht  man  lediglich  das  Privat- 

Archiv  für  loi.  Geictivebnif  o.  SutiMik.  XV.  29 


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Emil  VmderT«lde, 

gnindcigentum»  die  Privaten  gehörigen  Grundquoten  in  Betracht, 
und  sieht  man  ab  von  den  Domänen  und  Gemeindelandereien,  so 
haben  die  Grundquoten  von  loo  Hektaren  und  mehr  einen  beträcht- 
Höheren  Umfang  als  vordem. 

In  den  Jahren  1834 — 1845  gab  es  in  Belsen  —  abgesehen  vom 
öfTentlichen  Grrundeigentum  —  1787  Grundquoten  von  lOO  Hek- 
taren und  darüber,  mit  einem  Umfang  von  592353  Hektaren,  gleich 
13,3  Prozent  der  Katasterfläche,  und  zwar 

17  Qttoteit  von  ttber  looo  MekUren   34 Iii  Hektar 

85  M  »*       500—1000  „  52820  „ 

4S0     „      „  aoo—  500      „       144686  „ 

ii<i6       ,,        ,,     100—  200  i6<>7;/> 

17S7  (^)iiotcn  von  über    loo  HektarcQ  392 353  Hektar. 

1898 — 1899  finden  wir  nur  noch  1749  Quoten,  deren  Umfang 
indessen  397 1 30  Hektar,  13,5  Prozent  der  Katasterfläche  betragt, 
und  zwar 

17  Quoten  von  ubi-r  Kjoo  Hektaren     23  S50  Hektar 
89  „    500-1000       „  5^342  „ 

540      „       „    2üO—  500       „         110S9J  „ 

H03      „   „■  ioo-~  aoo      „        154039  n   

1749  Quoten  von  über    100  Hektaren  3^7  1 30  Hektar. 

Ks  /oii^'t  sioh  somit  im  ganzen  l  ande  und  uii;^cachtet  aller 
Faktoren,  die  auf  Zerstückelung;  hinarbeiten,  da!-,  der  private  Grols- 
l^frundhesilz  eher  zu-  als  ahninimt.  Man  wird  nun  saL^en,  dafs  diese 
Zunahme  —  kaum  5000  Hektar  unbedeutend  >ei ;  de)ch  darf  in. ui 
nicht  xer^essen,  dafs  der  Hodenwert  zut^eiunninen  und  die  übri^'C 
Mäche  sich  mehr  und  ni<-!n-  zersplittert  hat.  und  drifs  daher  die 
relative  Bedeutung  des  ( irolsj;rundeit;entuni>  seit  der  Fertigstellung 
des  Katasters  unstreitig  gestiegen  ist.    l'ebrigens  ist  dies  Steigen 

nicht  überall  zu  verzeichnen,  was  aus  folgender  Uebersicht  erhellt. 

(Siehe  die  miMtehende  Tabelle.) 
In  drei  Provinzen  —  Namur,  Hennegau,  Limburg  —  und  in 
mehreren  Distrikten  der  anderen  Provinzen  macht  sich  somit  eine 
erhebliche  Abnahme  der  großen  Grundquoten  bemerkbar.  Man 
kann  allgemein  behaupten,  dafs  sich  diese  £rscheinung  geltend 
macht  in  der  unmittelbaren  Umgegend  der  industriellen  und 
stadtischen  Bevölkerungsanhäufungen,  in  den  G^enden,  wo  die 
Zerstücklung  der  Anbauflächen  die  Zerstücklung  der  Besitzui^n 
hervorgerufen,  und  dort,  wo  man  alte  herrschaftliche  Forsten  abge- 
holzt, urbar  gemacht,  der  Holzaxt  überliefert  hat. 


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Das  Gnmdcigentam  in  Belgien  in  dem  Zeiträume  von  1834—1899. 


Grundquoten  von  100  Hektaren  und  darüber. 


1834-1845 

1898— 1899 

Anzahl 

Um- 

Prozentsatz 

Anzahl 

Um- 

Prosentsats 

der 

fang 

d.  Kataster- 

der 

fang 

d.  Kataster^ 

Quoten 

Hektar 

flache 

Quoten 

Ilcktur 

fläche 

Naniur         .  , 

473 

106672 

29,1 

405 

100  276 

27-4 

Lüttich    .    .  . 

251 

48660 

16.7 

»74 

55  75» 

19,2 

Luxemburg  .  . 

220 

559>l 

«2,7 

369 

66313 

>5,o 

Antwerpen  .  . 

141 

34184 

ia,7 

15» 

39485 

«4,7 

Brabant  .   .  . 

212 

38963 

11^ 

197 

41545 

12,6 

Hcnnegan   .  . 

204 

55*5* 

14,8 

166 

39186 

10,5 

WestJIandem  . 

"5 

«574 

6,9 

13a 

33288 

7,a 

Ostflandem  .  . 

86 

14039 

4.9 

98 

18757 

6.3 

Limburg  .    .  . 

85 

15298 

6.3 

56 

12  522 

5.» 

Könifrr.  Belgien 

1787 

39*353 

13.3 

»749 

397 130 

i3t5 

Seit  der  Fertigstellung  des  Katasters  sind  die  Städte  und 
Industriezentren  enorm  angewachsen,  während  andererseits  der  länd- 
liche Grundbesitz  infolgedessen  notwendig  abgenommen  hat:  iiir  die 
Zeit  von  1880  bis  1895  stellt  man  eine  Verringerung  der  landwirt- 
schaftlichen Flache  von  97443  Hektar,  gleich  3  Prozent,  fest,  was 
eine  durchschnittliche  Jahresabnahme  von  6946  Hektar  ergiebt  Die 
nicht  landwirtschaftlich  benutzte  Bodenflache  belief  sich  1880  auf 
270758  Hektar,  gleich  8,17  Prozent,  1895  auf  338075  Hektar,  gleich 
11,47  Prozent  des  gesamten  Flächeninhaltes  des  Landes.  Selbst- 
verständlich hat  die  Erweiterung  dieser  grofsenteils  mit  Häusern  und 
Industrieanlagen  besetzten  Zone  das  Verschwinden  der  meisten 
'^rofscn  Quoten  in  der  Bannmeile  der  grolsen  Städte  und  in  den 
Industriebezirken  der  Provinzen  Hennci^.iu  und  Lütticli  (Möns,  Cliar- 
leroy,  Muy,  Seraii^^  u.  s«  w.)  mit  sich  gebracht.  Aber  es  wäre 
uffenbar  einr  c^rnsse  Ungereimtheit,  wollte  man  diese  I'lächen- 
abnahme  als  das  Anzeichen  einer  gleichmäüsigeren  Verteilung  auf- 
fassen. Der  ümfaii.:  der  grofeen  Quoten  verringert  sich  mit  dem 
Anwachsen  der  Bevölkerung,  gleichzeitig  aber  auch  mit  der  Ver- 
mehrung ihres  Katasterertrages.  In  dieser  Hinsicht  charakteristisch 
ist  das  Beispiel  der  gröfsten  Vorstadt  Brüssels,  Schaerbeek,  welche 
1834  nur  ein  Dorf  war,  und  heute  die  fiinftgröfste  Cremcindc  des 
Landes  ist:  die  Quotenan/ali!  hat  sich  hier  seit  der  F*"crtigste1hui<^^ 
des  Katasters  nahezu  verzchnlacht  von  568  auf  52(73  ;  der  (icsaiiU- 
umf;ing  der  zwan/ii;  LTÖlstcn  ( irutulquoteii,  welcher  sich  1834  auf 
258  Hektar  mit  einem  Ertrag  von  24873  Fr.  (von  nicht  mit  Ge- 

39* 


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444 


Emil  VAndervelde, 


bäudc  bc.NcUtcin  Botlcn)  belicf,  i>t  auf  2o()  Hektar  im  Jahre  1898 
gesunken,  aber  mit  einem  Krlra^e  von  400J4  I'r.  (von  nicht  mit 
Gebäude  besetztem  Boden).  Es  braucht  hier  nicht  besonders  betont 
zu  werden,  dal's  eine  Gegenüberstellung  der  Erträge  aus  dem  mit 
Gebäuden  besetztem  Grundbesitz  einen  noch  grösseren  Unterschied 
ergiebt.  Der  Einflufs  der  Städte  auf  ihre  unmittelbare  Nachbarschaft 
verringert  somit  den  Umiang  der  grofsen  Besitzungen,  erhöht  aber 
ihren  Wert 

Was  nun  die  Einwirkung  der  Zerstücklung  der  Anbauflächen 
anlangt,  so  ist  zunächst  ziemlich  selten,  dafs  in  den  Gegenden,  wo 
der  kleine  Betrieb  vorherrscht  und  wo  infolgedessen  keinerlei  tech- 
nisches Hindernis  för  die  Zerstücklung  der  Erbschaften  obwaltet, 
der  grofse  Grundbesitz  —  unter  der  Herrschaft  des  Code  Napoleon 
—  sich  halten  kann.  Nichts  ist  leichter,  als  die  Erbteilung  eines 
Besitztums,  wenn  es  bereits  in  mehrere  Wirtschaften  zerl^  ist. 
Dagegen  wäre  es  in  Gegenden,  wo  Waldungen  und  unbebaute  Flachen 
fehlen,  wo  die  Anbaufläche  sich  mehr  und  mehr  zerstückelt  —  bb 
in  die  letzten  Jahre  hinein  wenigstens  —  aufserordentlich  schwierig 
und  glddizeitig  durchaus  nutzlos,  einen  Groisgrundbesitz  zu  schafien 
oder  wieder  herzustellen.  Daher  sehen  wir  die  Grundquoten  von 
über  100  Hektaren  in  den  fruchtbaren  Teilen  des  unteren  Luxem- 
burg, in  vielen  Distrikten  der  Lehmbodengegend  und  in  sämtliclien 
Bezirken  des  „Polder"-Baues,  au^nommen  in  jenen,  wo  dem  Meere 
neue  „Polder"  abgerungen  wurden,  im  Abnehmen  begriffen. 

Hin  weiterer  Faktor  in  dieser  Verringerung  der  grofsen  Quoten 
ist,  wie  erwähnt,  die  Urbarmachunff  der  Waldungen.  In  den  Ar- 
dennen,  dem  Condroz  oder  im  Entre  Sambre  et  Meuse  findet  man 
noch  jetzt  weite  bewaldete  oder  unbebaute  Flächen,  welche  den 
gröfstcn  Teil  der  grofsen  Domänen  dieser  l^indstrichc  bilden. 
Seit  der  Zeit  der  I'^crligstcllung  des  Katasters  jedoch  und  nament- 
lich seit  der  bis  ztiin  Acufscrstcn  getriebenen  Abholzimo  der  fünf- 
ziger und  sechziger  Jahre  hat  die  Zahl  dieser  Domänen  merklich  ab- 
genommen. Der  Rückgang  clor  grofsen  ( Trund(]iii>lcn,  besonders  in 
der  Gegend  \'on  Piiilippex  ille  und  dem  früheren  l"  urstentum  (,  himay, 
entspricht  somit  der  Plünderung  der  alten  feudalen  Besitzungen 
durch  gierige  Spekulanten.  Uebcr  diesen  Punkt  wird  in)  ..Bulletin 
de  la  Societe  centrale  forestiere"  (Juli  1896)  folgendes  geschrieben: 
„Die  Veräulserungen  und  Verwüstungen  der  Privatwaldungen 
nehmen  langsam,  aber  sicher  ihren  P'ortgang.  Wir  haben  geschL-n, 
wie  nach  dem  W  aide  von  Rance  (über  looo  Hektar)  die  Herrschaft 


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Das  Grundeigentum  in  Belgien  in  dem  Zeiträume  von  1834 — 1S99. 


Beauraing,  die  Forsten  von  Gerenne  und  noch  andere  zum  Verkaufe 
gesteUt  wurden,  wie  sie  bald  darauf  parzelliert,  ausgebeutet  und  zu 
Wäldern  ohne  Baume  oder  zu  wertlosem  Lande  wurden.  Eine  der 
grofsen  Besitzungen  nach  der  anderen  in  den  Händen  PHvater  ver* 
schwindet  infolge  Eibteilung,  Aussterben  von  Familien,  Greldver- 
lusten  u.  s.  w.  Bei  den  Privatforsten  kann  es  nicht  anders  sein. 
Früher  oder  später  laufen  sie  Gefahr,  vernichtet  zu  weiden,  oder 
nicht  mehr  die  Rolle  zu  spielen,  die  ihnen  vom  Standpunkte  des 
öffentlichen  Wohls  aus  zukommt" 

Kurzum,  die  Entfaltung  der  kapitalistischen  Produktion  wirkt 
mit  den  verschiedensten  Faktoren  zersetzend  auf  den  Grrolsgntnd' 
besitz.  Sie  vergreift  sich  nicht  allein  am  bäuerlichen  Eigentum,  um 
es  zu  unterjochen,  sondern  auch  am  feudalen  Besitz,  um  ihn  zu  zer- 
setzen. Und  je  mehr  die  intensive  Kultur  fortschreitet,  der  städtische 
Grrundbesitz,  die  unersättliche  Ausbeutun^^  der  grofsen  Waldungen 
um  sich  j^reifen,  je  mehr  der  Wert  des  Grund  und  Bodens  weniger 
von  der  Gestaltung  seiner  Oberfläche  abhängt,  als  von  seiner  Lage, 
so  dafs  ein  einziger  bebauter  Hektar  in  volkreichen  Gegenden  an 
Wert  hunderte  von  Hektaren  Heide-  oder  Moorland  aufwiet^t,  desto 
unvermeidlicher  wird  sich  im  Grolsgrundbesitze  eine  rückgängige 
Bewegung  /eigen. 

Wenn  er  trotz  alledem  widerstehen,  ja  seit  tirci  V'ierteljahrhuncieiten 
an  Umfang  gewinnen  konnte,  wenn  die  Konzentration  dc^  '  ti  und  und 
Hodens  schliefslich  der  Zerstücklung  gegenüber  die  (.  )l)eriiand  gewinnt, 
so  geschieht  dies  hauptsächlich  auf  Kosten  des  öffentlichen  Grund- 
eigentums. Die  Polderkonzessionen,  die  freiwillige  oder  zwangsweise 
Veräufserung  der  Gemeindeländereien,  der  Verkauf  der  herrschaft- 
lichen I-'orsten,  der  dem  Staate  oder  bäuerlichen  Getneinden  ge- 
hörigen unbebauten  l'lächen  waren  die  wesentlichsten  Faktoren  der 
Konzentration  des  ( n  undbesitzes  in  den  1  landen  Privater.  Die 
hieraus  neuerdings  entstandenen  (  xrundbesitzungen ,  /.umeist  zu 
billigem  Preise  erworben,  sind  es,  welche  die  in  anderen  Gegenden 
eingetretenen  Rückgänge  wettmachen.  In  dem  Mafse,  in  welchem 
sich  die  industriellen  oder  städtischen  Zentren  entwickeln,  verändern 
die  groiaea  (^"^^cn  ihre  Lage,  je  mehr  sich  die  Transportmittel  ver- 
vollkommnen, nehmen  jene  in  den  Gegenden  zu,  wo  noch  viel  un- 
bebautes Land  existiert.  Es  ist  also  hier  bezüglich  der  Gegenden, 
wo  die  Privaten  gehörigen  Quoten  von  100  Hektar  und  darüber 
wenig  zahlreich  sind,  ein  wichtiger  Unterachied  zu  machen:  in 
einigen  Gegenden  giebt  es  keinen  Grofsgrundbesitz  mehr,  in 


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446 


Emil  Vanderv«14e, 


anderen  giebt  es  ihn  noch  nicht  Die  ersteren  liegen  den  fie« 
Völkerungszentren  zu  nahe,  als  da(s  sich  der  Grofsgrundbesitz  u 
ihnen  halten  könnte,  die  anderen  zu  weit  ab,  als  da(s  es  der  Mähe 
wert  wäre,  ihn  einzurichten.  In  der  nächsten  Umgebung  der  Städte 
trifft  man  keine  grofsen  Quoten,  weil  der  anbaufähige  Boden  zu 
teuer  ist;  sie  finden  sich  andererseits  kaum,  und  die  Gemeinscbafts* 
formen  des  Grundeigentums  erhalten  sich,  in  den  wüsten  Heiden 
der  Ltmbuiger  Campine,  weil  der  pilügbare  Boden  nicht  wertvoll 
genug  ist,  un<I  andererseits  die  I^ndbewohner  an  ihren  Nutzungs- 
rechten an  den  (icmeindeländereien  festhalten.  Die  Zwischenzone 
ist  CS  —  der  Condroz,  die  Antwerpener  Campine  ~  wo  die  Pri* 
vaten  gehörigen  Quoten  von  loo  Hektaren  und  darüber  am  zahl- 
reichsten sind;  in  dem  Sandboden  des  Meetzesiand,  in  der  Umge<::end 
von  Gent,  im  Buscampveld,  in  der  Gegend  von  Brügge,  in  den  Mcide- 
flächen  von  Brecht  und  Santhovcn,  in  der  Antwerpener  Gegend,  in 
den  Rodländercicfi  des  wallonischen  Rrabant  in  der  Umgegend  von 
Brüssel,  in  dem  hochgeloL^enen  Schlaniinbodcn  der  Ardcnncn,  in  der 
Lüttirhcr  Gegeiul  liat  seit  fiinfzi;^'  oder  sechsig  Jahren  —  und  fast 
stets  auf  Kosten  der  ( ieineindeländereien  oder  der  Domänenforsten 
—  der  Grolsgrundhesitz  Fortschritte  gemacht. 

Seit  der  landwirtschaftlichen  Krisis  sind  indessen  zu  diesen 
Faktoren  noch  andere  getreten.  „In  den  letzteren  Jahren",  schrieb 
uns  1898  B  .  .  .  Notar  in  Wavre,  „hat  der  Grolsgrundbesitz  in  der 
Gegend  von  Nivellcs  zugenommen,  weil  die  Bauern  nicht  nichr  kaulen, 
da  e.s  ihnen  an  Mitteln  fehlt." 

Wie  wir  andererseits  sahen,  hängt  die  Anzahl  der  greisen  Quoten 
in  hohem  Mafse  mit  dem  Umfange  der  Weide-  und  Waldflächen 
zusammen.  Während  der  Abholzungsperiotle  war  die  Zerstückluni; 
des  Grofsgi  undhesitzes  im  (  langc;  gegenwärtig,  wo  man  wieder  auf- 
forstet, wo  man  tausende  von  Hektaren  pflügbaren  Larides  in  Weiden 
verwandelt,  zeigt  sich  die  entgegengesetzte  Tendenz. 

Dagegen  scheint  die  Aera  der  Veräufserungen  des  öffentlichen 
Grundeigentums,  welche  so  sehr  zur  Bildung  von  privaten  Grofe- 
grundbesitz  beigetragen  haben,  endgültig  abgesdilossen  zu  sdn. 
Es  wäre  zwar  sicher  dem  allgemeinen  Interesse  entgegen,  wollte 
man  die  Urformen  des  Gemeineigentums  weiter  bewahren,  aber 
man  beginnt,  wie  wir  im  folgenden  sehen  werden,  allerwärts  die 
Notwendigkeit  seiner  Erhaitu ng  alsPatrimonialeigentum  des 
Staates  und  der  Gemeinden  anzuerkennen,  das  zum  Besten  aller, 


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Das  Gnindeigeutam  in  Belgien  in  dem  Zeiträume  von  1834 — 1S99. 


und  nicht  als  Pr  i  v a  t  c  i  j^^  c  n  t  u  m ,  das  im  Interesse  einzelner  zu 
bewirtschaften  ist. 

In  unseren  Monographien  über  einzehic  Landstriche ')  haben 
wir  gezeigt,  wie  tausend«  von  Hektaren  seit  Ende  des  achtzehnten 
Jahrhunderts  aus  dem  Besits  des  Staates,  der  Kirche  und  der  Ge- 
meinden in  das  Eigentum  Privater  übergingen. 

Die  Gesetze  vom  15.  Fructidor  des  Jahres  IV  und  vom 
5.  Frimaire  des  Jahres  VI  haben  ihnen  die  Güter  der  Geisdichkeit 
ausgeantwortet,  die  holländische  Regierung  durch  das  Mittel  der 
Soci^t^  generale  die  schönsten  Staatswaldungen,  das  Gesetz  vom 
25.  März  1847  einen  grofsen  Teil  der  Gemeindeländereien,  zu  ge- 
schweigen  von  den  Gerichtsentscheidungen,  welche  das  privatrecht- 
liche Eigentum  mit  dem  Lehneigentum  verwechselten,  wie  in  der 
Sache  der  Forsten  von  Chimay.  Kurzum  es  gilt  nicht  nur  fiir  Eng- 
land, sondern  auch  lur  Belgien  und  andere  Länder,  wenn  Marx  an 
einer  bekannten  Stelle  sagt: 

„Der  Raub  der  Kirchengüter,  die  fraudulente  Veräufserung  der 
Staatsdomänen,  der  Diebstahl  des  Gemeindeeigentunis,  die  ursurpa- 
torische  und  mit  rücksichtslosem  Terrorismus  vollzogene  Verwand- 
lung von  feudalem  und  Claneigentum  in  modernes  Privateigen- 
tuiTi ,  es  waren  ebensoviel  idyllische  Metluxien  der  ursprüng- 
lichen .\kkumulation.  Sie  eroberten  das  Feld  für  die  kapitalistische 
Agrikultur,  einverleibten  den  Grund  und  Boden  dem  Kapital, 
schufen  der  städtischen  Industrie  die  nötige  Zufuhr  von  vogelfreiem 
Proletariat."  -) 

Heute  indessen,  wo  man  sich  beklagt,  nicht  über  Arbeiter- 
mangel in  den  Städten,  sondern  über  die  unzulänglichen  Arbeits- 
kräfte auf  dem  Lande,  zeitj^t  sich  eine  entgegengesetzte  Strömung: 
man  bringt  \on  verschiedenen  Seiten  (lie  W'iederherstellung  der 
(lemeindeläruiercicn  in  \'orsch!apf.  hin  jüngst  erlassenes  Gesetz 
befreit  die  Ankäufe  von  Ländereien  seitens  öffentlicher  Beliörden 
zum  Zwecke  der  Rcforstung  von  der  EnregistrementsL,el)ühr.  Die 
Regierung  selbst  regte  unter  Aufgabe  des  früher  in  ihr  herrschenden 
bürgerlichen ,  individualistischen  Stand[)unktes  die  Notwendigkeit 
der  Erhaltung  und  Erweiterung  des  Staats-  und  Gemeindebesitzes  an. 


'1  AnnaUb  de  l'Institut  des  sciences  sociales.   Bruxelles  1899,  im  Lokale  des 

Instituts,  1 1  rutf  Ravenstein. 

^  Das  Kapital.   Bd.  I,  Kap.  24  :  Die  Expropriation  des  en^li&chea  Landvolks 
von  Grund  und  Boden.    4.  Aufl.  1890,  S.  699. 


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448 


Emil  Vandervelde, 


Im  Jahre  1895  bemafs  sich  der  Uixifong  des  bewaldeten  Grund- 
besitzes in  Belgien  auf  521  494  Hektar,  welche  folgendermalaen  ver- 
teilt waren: 

Staat  25260  Hektar 

Gemeinden  >  5^  1 57  n 

Oeffcntliche  Zitate   saij  „ 

Private   .   33t  864  „ 

5*1 494  Hekter. 

Die  Privaten  L;i'Iiöri^'en  W'aUluiii^cii  inarhtcii  also  iinf^efähr  zwei 
Drittel  (63,8  rro/.ciU)  des  (ian/.cii  aus;  sie  besitzen  die  Mehrzalil 
der  Grundquoleii  von  über  hundert  Hektaren.  Was  die  Staats- 
forsleii  betrifft,  so  wird  ihr  Unilmi^,  der  schon  so  beschränkt  ist 
(4,5  Pro/eilt  ,  demnächst  um  un^alaiir  den  sechsten  Teil  verringert 
werden,  infol^^e  des  Kantonncments  V)  der  Xut/un^srechie  ver- 
schiedener Gemeinden;  im  Jahre  1814  betrug  ihr  Flächeninhalt  über 
53000  Hektar.  Der  Bericht  des  Obersten  Rates  der  Forsten  über 
die  Erhaltung  und  Vergrölserung  der  Staatsdomänen  (18 14)  liefert 
uns  die  Einzelheiten  über  die  aufeinanderfolgenden  Veraufserungen» 
welche  von  1814  bis  1830,  und  besonders  1830  stattfanden. 

„\\  ährend  der  ersten  Periode  erstreckten  sich  die  X'eräufserungen 
auf  37756  11.  45  A.  31  C,  welche  für  28061617  Fr.  75  c.  verkauft 
wurden,  also  der  Hektar  Grund  und  Boden  mit  Bestand  durch- 
schnittlich mit  743  Fr.  In  der  zweiten  Periode  ergab  der  Verkauf 
von  15488  H.  72  A.  68  C  die  Summe  von  25  118  340  Fr.  7  c.  oder 
1 621  Fr.  pro  Hektar.  Die  gesamten  Veräufserungeti  von  Domänen- 
forsten  in  beiden  Perioden  umfalsten  53245  11.  17  A.  89  C,  und 
hiervon  wurden  «0205  H.  23  A.  26  C.  abgeforstet.** 

Der  Ueberrest  von  33039  H.  94  A.  63  C.  umfalst  noch  schönen 
Hochwald,  der  aber  leider  nur  verhältnismälsig  klein  ist.  Da  die 
meisten  Käufer  gierige  Spekulanten  waren,  nur  darauf  bedacht,  die 
nutzbaren  Produkte  sofort  zu  verwerten,  so  sind  sie  mit  den 
Waldungen  ohne  jede  Schonung  ver&hren,  und  heute  sind  viele  von 
diesen  mittelmälsiger,  stark  gelichteter  Schlagwald,  wo  es  sozusagen 
sogar  am  Dienstholz  fehlt  Was  die  20205  urbar  gemachten  Hek- 
tare anlangt,  so  gaben  sie,  von  einzelnen  Ausnahmen  in  den  Pro- 
vinzen Brabant,  Hennegau,  Limburg,  Lüttich  und  Namur  abgesehen, 


'j  Reger lung  der  Waldiervitatea  durch  Abu-etung  eiaes  Teils  des  dienenden 
Waldes  an  die  Servitatberechtigteii  sn  Eigentum. 


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Das  Gnindtfigentnm  in  Belgieii  in  dem  Zeitimum«  von  1834 — 1S99. 


sehr  schk  rhtes  Ackerland ,  von  welchem  jetzt  viel  brach  liej^t. 
„Diese  l^uuicicien,  reich  an  Hunuis,  welchen  der  Wald  im  Krdreich 
an^esaninielt  hatte,  brachten  einij^e  aufeinanderfolgende  gute  i.riiten; 
bald  aber  hierdurch  auf  ihren  ursprünglichen  Zustand  zurückge- 
bracht, versagten  sie  im  Ertrage,  wenn  nicht  durch  starke  Düngungen 
nachgeholfen  wurde,  die  den  Betrieb  zu  kostspielig  machen.  Es 
giebt  in  Belgien  sehr  viele  Grundbesitzer,  die  durch  solche  traurigen 
Erfehrungen  bitter  enttäuscht  sind,  und  die  wissen,  was  die  AfneIio> 
ration  unergiebigen  Bodens  kostet" 

Im  gro(sen  Ganzen  haben  also  die  Veräurserungen  von  Domänen- 
forsten des  Staates  zumeist  verderbliche  Folgen  gehabt.  Die  abge- 
holzten Flächen  ergeben  im  allgemeinen  nur  kärglichen  Ertrag; 
viele  bleiben  unbebaut,  andere  werden  jetzt  wieder  aufgeforstet. 
Dies  ist  beispielsweise  der  Fall  in  der  Nachbarschaft  des  Waldes 
von  Soignes  und  in  vielen  Gegenden  der  Ardennen.  Inbetreflf  der 
nicht  abgeholzten  Forsten  ist  man  fast  überall  einig  darüber,  dals 
das  Eigentum  Privater  an  Waldungen  die  schwersten  Milsstande 
zettigt.  Ueber  diesen  Funkt  äufsert  der  Rat  der  Forsten  genau 
dieselbe  Ansacht,  wie  die  Sozialisten  Marx*)  und  Karl  Kautsky.*) 
Im  „Bulletin  de  la  Soci^  centrale  forest!^"  vom  Juli  1886  lesen 
wir:*)  ,iDer  Privateigentümer  kümmert  sich  in  keiner  Weise  um 
die  I'olgen,  welche  die  Nutzung  seines  Waldes  för  das  Klima,  die 
Wasserverhältnisse  oder  die  Industrie  der  Umgegend  haben  kann. 
Er  hat  nur  seinen  eigenen  Vorteil  im  Auge.  Der  Staat  allein  hat 
die  Aufgabe,  über  Dinge  zu  wachen,  welche  seine  Bürger  allgemein 
angehen;  er  hat  an  Stelle  des  einzelnen  zu  treten,  wenn  dieser 
ohnmächtig  ist,  hierin  ist  sein  Eingreifen  in  der  Sache  der  Privat- 
waldungen begründet." 

Der  gleichen  Meinung  ist  auch  der  Minister  oder  vielmehr  das 
Ministerium  der  I^nd Wirtschaft.  In  seinem  Rundschreiben  vom 
12.  Juli  1897  sagt  der  damalige  Landwirtschaftsminister  Leon 
de  Bniyn,  nachdem  er  die  q;erin[:^e  Bedeutung  der  Staatsforsten  be- 
tont hat:  ,,Fs  '^'csrliieht  in  berechtigter  Besorgnis,  wenn  wir  im 
Hinblick  auf  tlic  Zukunft  angesichts  des  gegenwärtigen  Konsums 
und  der  sich  hieraus  er:nl)(nden  Mifswirtschaft  erklären,  dafs  die 
Beforstung  der  Hoclicbenen  und  Heideländereien  von  allgemeiner 


'1  Marx.  Kapital.    Bd.  II.  2.  .Vufl     Ilamburp  1893,  S.  215. 

'1  Knutsky,  Die  Agrarfrage.    Stuttgart  1899,  S,  329. 

^-  507. 


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450 


Emil  Vanderv«lde, 


Wichtigkeit  ist,  welche  gebieterisch  das  Eingreifen  der  öfTentlicben 
Gewalten  erheischt.  Das  Heideland  bewalden,  wo  es  auch  sei, 
heifst  einen  neuen  Nationalreichtum  schaffen,  heilst  die  Arbeitskräfte 
der  betreffenden  Gegenden  und  die  Industrie  des  Landes  fördern 
und  regeln.  Die  Hochebenen  beforsten,  heilst  zudem  eine  frucht- 
bringende Anlage  machen,  es  bedeutet  die  Beseitigung  der  Wild- 
bäche, Verhütung  ihrer  Zerstörungen,  Ersparnis  der  ui^;eheuren 
Ausgaben  för  Verbauungsanlagen ,  die  an  sich  unproduktiv  und 
Iiäuri<:,r  unzulänglich  sind.  Einer  solclien  Au^be  aber  kann  allein 
der  Staat  gehörifj  entsprechen;  er  allein  vermag  namentlich  das 
Erreichte  dauernd  /u  sichern,  was  beim  Privateigentum  nur  zu  oft 
versäumt  wird."  Infolge  dieses  Rundschreibens  verlangt  die  Re- 
gierung alljährlich  unter  den  aufserordcutlichcn  Ausgaben  einen  Be* 
trag  von  300000  Fr.  zur  Erweiterung  der  Staatsforsten.  Ein  weiterer 
Betrag  von  100000  Fr.  wird  beansprucht  für  die  Bcforstung  von 
Oedland  im  Domanialbesitz.  Es  ist  hiermit  ja  unstreitig  etwas  ge* 
schehen,  aber,  wie  man  nicht  umhin  kann,  zu  bemerken,  sehr  wenig. 
Verfährt  man  in  dieser  Weise,  so  braucht  man  über  hundert  Jahre, 
bis  die  Staatsforsten  den  Umfang  wieder  crlanL^en ,  den  sie  1814 
hatten!  Wenn  der  Bourgeois-Staat  in  der  Neuschaffung  der  Waldungen 
in  gewissem  Sinne  halb  und  halb  Kollektivismus  treibt,  so  ist  dies, 
wie  man  jedenfalls  zugeben  wird,  homöopathischer  Kollektivismus, 
l  eber  63  Prozent  des  bewaldeten  ( rrundbcsit/c-^  })kMl)eii  in  den 
Händen  Pri\atcr,  sind  der  Willkür  derer  überlassen,  die  sie  bewirt- 
schahcn.  Die  der  Forstverwaltung  unterstehenden  Waldunijen, 
iiänilich  jene  des  Staates,  der  (lemeinden  und  der  öffentlichen  In- 
stitute, re|)räscntieren  nur  188630  Hektar.  .'Xufserdem  sind  die 
meisten  (ii  niLiiulewaldungen ,  trotz  aller  Bemühungen  der  l  or^t- 
beamten.  verwüstenden  Eingriffen  ausgesetzt,  welche  die  Interessen 
der  kommenden  ( lenerationen  schwer  beeinträchtigen.  Es  ist  daher 
erforderlich,  dafs  an  .Stelle  des  gegenwärtigen  Temporisierens,  der 
.  iiäfliehen  .Milsgritfe  der  Vergangenheit  eine  energische  Forstpolitik 
tritt.  Selbst  dem  Bourgeoisie-Regiment  erscheint  der  kollektive 
Besitz  dort  notwendig,  wo  man  allgemein  anerkennt,  dalSs  der  kapi- 
talistische Besitz  Bankerott  gemacht  hat. 

Was  nun  die  Gemeindeländereten  anlangt,  so  finden  wir,  dafs 
sie  1846  noch  162896  Hektar,  wovon  80055  auf  die  Campine, 
80864  auf  die  Ardennen  kamen,  nm&tsten,  wovon  heute  nicht  mehr 
hunderttausend  existieren.   In  der  Zeit  von  1847  bis  1866  wurden 
'   über  33  000  Hektar  veräulsert,  teils  in  grofsen  Flachen  von  mehreren 


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Das  Grundeigentum  in  Belgien  in  dem  Zeiträume  von  1834 — tS99.      45 1 


hundert  Hektaren,  teils  in  kleinen  Partellen,  die  an  die  Landbe- 
wohner verkauft  oder  unter  sie  verteilt  wurden.  In  den  meisten 
Fällen  hatten  diese  Veräufserungen  solche  Folgen,  dals  die  Re- 
gierung,  trotz  der  Vorliebe,  die  sie  bei  jeder  Gelegenheit  fiir  das 
Privateigentum  an  den  Tag  legte,  schließlich  es  nicht  mehr  mit  an- 
sehen konnte*  Im  Jahre  1898  unterbreitete  De  Bruyn,  damals 
Landwirtschaftsminister,  dem  Obersten  Rat  der  Forsten  die  Frage 
der  Veräufserlichkeit  der  Gemeindeländereien  in  folgenden  Worten: 
,4n  verschiedenen  Landesteilen  ist  das  der  Forstverwaltung  nicht 
unterstellte  Gemeindeland  häufig  Gegenstand  der  Verteilung  unter 
die  Gemeindeangehörigen  oder  des  Verkaufes  in  kleinen  Parzellen. 
Aus  diesem  Grunde  ist  der  Gemeindebesitz  in  vielen  Ortschaften 
ganz  verschwunden  oder  nahe  daran,  zu  verschwinden.  Viele  Grunde 
stücke,  die  zum  landwirtschaftlichen  Anbau  wenig  geeignet  sind 
und  sich  im  Besitze  mittelloser  Gemeindeangehöriger  befinden, 
bleiben  unbebaut  oder  werden  zu  niedrigen  Preisen  von  den  grölseren 
Grundeigentümern  erworben.  Wäre  es  nicht  thunlich,  der 
Versilberung  des  unbeweglichen  Kapitals  der  Ge- 
meinden und  der  oben  erwähnten  Verteilun«;  oder 
Vei  äufserung  von  Parzellen  entge<,'cnzutreten?  Müfste 
nicht  hier  die  Verpachtung  und  Beforstung  als  nahe- 
zu allgemein  gültige  Regel  aufgestellt  werden?" 

In  Beantwortung  dieser  Fragen  erstatteten  zwei  Mitglieder  des 
Obersten  Rates  der  I"'orsten,  Fraters  und  De  Carital-Peruzzi,  dieser 
Körperschaft  zwei  Berichte,  einen  über  die  Ardennen,  den  anderen 
über  die  Campme;  beide  liefen  in  ihrem  Resultat  auf  die  Un- 
veräulserlichkeit  (ics  Gemeindc!aii<ic-;  hinaus.') 

„In  den  I'iov  inzcn  Namur,  I  .uUich.  und  Luxemburg",  heilst  es  in 
Kraters'  Bericht  ,,ist  man  haulig  zu  aufcm.uu!erf'>I'^enden  Teilungen 
(ler  ( icmeindciändcreicn  oder  zum  Verkaute  .in  liie  Genieinde- 
bewohner von  in  kleine  Parzellen  ein^^eteüteii  Mächen  geschritten, 
so  (lals  es  in  iliesen  I*rovinzen  zaiilieiche  dcnicuulen  giebt,  welche 
fast  kein  Gemeindeland  mehr  besitzen  und  dal)ei  doch  nichts  er- 
übrigt haben.  In  den  meisten  Fällen  haben  diese  Arten  der  Ab- 
tretung des  Gemeindelands  der  (ic>.imtheil  der  Be\vohner>el»aft 
keinen  Nutzen  gel)racht  und  sehr  wenig  zur  Instandsetzung  der  un- 
bebauten Flächen  beigetragen.    Die  durchgängig  übertriebene  Zcr- 


')  Bulletin  de  la  Socicte  centrale  foresticre  de  Bclgiquc,  Februar  1898.  S.  120. 
'j  Ebdas.,  S.  120 — 127. 


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452 


Emil  V  a  II  d  e  r  V  e  1  d  c , 


stücklung  —  die  Parzellen  hatten  oft  nur  einen  Umfang  von  lO 
bis  1 5  Ar»  selten  von  einem  halben  Hektar  ^  liefe  ihre  Verwertung, 
sei  es  durch  Urbarmachen,  sei  es  durch  Beforsten,  wen^  vorteilhaft 
erscheinen;  zudem  besafeen  manche  neuen  Besitzer,  wdche  ihre  ver- 
fügbaren Mittel  zur  Berichtigung  der  Kaufpreise  und  der  Kosten 
hatten  aufwenden  müssen,  nicht  mehr  das  zur  Ausnutzung  ihrer 
Parzellen  notwendige  Geld,  so  da(s  nach  kaum  einigen  Jahren  diese 
als  blofse  Weideplätze  dalagen;  auch  wurden  verschiedentlich  Par- 
zellen von  dem  einen  oder  anderen  wohlhabenden  Grundbesitzer 
(meistens  zu  niedrigen  Preisen)  erworben,  der,  nachdem  er  eine 
gewisse  Anzahl  Grundstücke  vereinigt  hatte,  in  der  Lage  war,  sie 
urbar  zu  machen  oder  zu  beforsten.  Ks  läfst  sich  daher  behaupten, 
dafs  zumeist  diese  letzteren  die  einzigen  waren,  welche  von  der 
Verteilung  oder  V'eräufserung  der  Gemeindeländereien  an  die  Ge- 
meindebewohner Nutzen  zogen. 

Daher  hat  Ihre  Kommission  einstimmig  den  Wunsch  aus« 
gesprochen,  es  möge  den  Gemeinden  nicht  mehr  gestattet  werden, 
die  Gemeindeländerden,  welche  als  anbaufähig  bezeichnet  werden 
würden,  an  die  Gemeindebewohner  in  kleinen  Parzellen  zu  verteilen 
oder  zu  verkaufen.  Dagegen  ist  sie  einig  in  dem  Verlangen.  da> 
die  \''erpachtung  dieser  Ländereien  nn<  h  Möglichkeit  zu  fordern  sei 
und  für  sie  zu  fast  all*^^cniciner  Regel  werde.*' 

Diese  Beschlüsse  fanden  im  Rate  der  l^^rsti  n,  wo  neben  Staats- 
l)eamteii  die  gröfsten  W'akleigentuim  i  und  die  gröfstrn  Käufer  von 
(icmcindcforsten,  die  es  in  Hel-j^icn  gioht.  sitzen,  keine  rückhalLslose 
Zustimmung.  Baron  (  inftinet  und  ( traf  Merode  namentlich  erklärten, 
dals  es  ihres  Krachtens  nicht  angehe,  den  Gemeinden  das  Recht 
des  Verkaufs  oder  der  Verwertung  gewisser  Teile  ihrer  Besitzungen 
zu  nehn>cn. 

„Wäre  es   nicht   angebracht",   sagte  (traf  Merode,  „die 
meindrn  zu  ermächtigen,   einen  bestimmten  Teil  ihrer  unbcbautci 
Flächen  unter  der  Bedingung  zu  veräulsern,  den  anderen  leil  m 
zuljaucn  ?  .  .  .  ¥Äne  (icmeintle  w  ill  /.  H.  eine  Schule,  ein  Ciemcinde- 
haus,  eine  Stralsc  bauen;  hierzu  i)iauciit  sie  (leld.    Dies  hat  sie 
nicht,  dafür  aber  Geiueuideland.    Wäre  es  da  nicht  für  sie  vorteil- 
haft, hierv  on  einen  Teil  zu  opfern  ?** 

„Durchaus  nicht";  entgegnete  mit  vollstem  Rechte  Schmitz, 
der  Präsident  der  Luxemburger  Landwirtschaftsgesellschaft,  „die 
Reichen  in  der  Gemeinde  werden  hierbei  profitieren,  nicht  aber  die 
Armen.   Unter  der  von  Ihnen  empfohlenen  Regelung  bezahlt  der 


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Das  Gnmdetgeatum  in  Belgien  in  dem  Zeiträume  von  1834—1899. 


Aermste  in  der  Gemeinde  zur  Durchführung  dieser  Leistungen 
ebensoviel  wie  der  Reichste,  und  dies  wäre  die  denkbar  grö&te 
Ungerechtigkeit.  Herr  Baron  GofHnet  ist  Grolsgrundbesitzer:  wollte 
man  in  seiner  Gemeinde  eine  Kirche  bauen  und  ihre  Kosten  in 
dieser  Weise  aufbringen,  so  wurde  der  letzte  seiner  Gutsknechte 
ebensoviel  als  er  bezahlen,  und  das  ist  nicht  gerecht." 

Der  Rat  der  Forsten  erklärte  schlielslich  auf  Antrag  Visarts» 
seines  Präsidenten,  da(s  er  für  die  Frage  der  Erhaltung  des  Ge- 
meindebesitzes nicht  zuständig  sei,  da&  diese  ihn  höchstens  soweit 
angehe,  als  es  sich  um  die  Erhaltung  der  den  Gemeinden  gehörigen 
Waldungen  und  Forsten  handle.  Und  unter  diesem  Vorbehalt  ge- 
langten folgende  Beschlüsse  zur  Annahme: 

[.  „Es  ist  als  allgemeine  Regel  nicht  zulassig,  die  Veräußerung 
von  Gemeindeländereien  zu  gestatten. 

2.  Es  empfiehlt  sich,  die  Verpachtung  auf  lange  Zeiten  nach 
Möglichkeit  dort  zu  fördern,  wo  dieser  Modus  bereits  besteht,  soweit 
es  sich  um  Landereien  handelt,  welche  nicht  sofort  beforstungs- 
oder  anbaufähig  sind;  es  ist  hierbei  den  Pächtern  die  Verpflichtung 
auficuerlcgen,  den  Boden  innerhalb  einer  bestimmten  Frist  vollständig 
zu  kultivieren  und  in  Stand  zu  setzen.'*  — 

Es  sind  also  die  öfTentlichen  Gewalten,  nachdem  sie  lange 
Zeit  die  Urheber  oder  Mitschuldigen  der  Verschleuderung  der  Ge- 
meindeländereien und  der  Staatsforsten  gewesen,  jetzt  bemüht,  den 
öffentlichen  Gnrundbesitz  zu  erhalten  und  sogar  auf  seinen  früheren 
Stand  zu  bringen.  Gleicloeitig  aber,  denn  von  einer  wirklichen 
Rückkehr  zur  Vergangenheit  kann  keine  Rede  sein,  verschwinden 
mehr  und  mehr  die  altertümlichen  Formen  der  Bewirtschaftung 
dieses  Besitzes.  Man  „kantonniert"  die  Nutzungsrechte,  welche  die 
Gemeinden  der  I^dbewohner  an  den  Staatsforsten  besitzen. 
Ebenso  regelt  man  die  Art  des  Genusses  der  Gemeindeländereien 
anderweitig. 

Der  Privatbesitz  der  Gemeinden  uinfafst  bekanntlich  zwei  Arten 
von  Grundeigentum,  welche  die  Theorie  zum  Unterschiede  als 


,,Die  Nutzungsrechte  an  den  Waldungen  und  Forsten  sind  ftlr  deren  Besitxer 
«ine  sehr  lästige  Servitut  und  eine  ewige  Ursache  von  Strcitigkeitf-n  und  Prozcssen. 

l'm  sie  Ins  711  werden,  gicbt  das  rj.-sct/  'l'-ni  P.-sit/..  r  l.i^  Rt-rlit  d<  s  „Kantonne- 
mf^nt?.",  w  elches  ihnen  gestatt«'t,  das  Nut/unj[;>r(*cht  .lut  <-iin  iri  hc  .timmtrti  'l'eilc  des 
<li  r  Nutzung  unterworfenen  Grund  uud  Hodens  in  Eigeutuni^rcchi  zu  verwandeln.'*  — 
Laurent,  droit  civil,  vol.  7,  2.  ed.,  S.  121. 


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454 


Emil  V  a  II  d  e  r  V  c  I  d  e , 


Patrimontalgut  und  als  Gemeindegut  bezeichnet  Das 
Gemeindegut,  oder  die  „communaux",  ist  dasjenige,  an  welchem 
die  Gemeindeglieder  ein  individuelles  Genufsrecht  be»tzeo:  die 
Holzgerechtigkeit,  die  Nutzung  der  Oedflächen,  des  Heidelandes, 
das  Weiderecht  u.  s.  w.  Trotz  des  zuweilen  hartnäckigen  Wider* 
Standes  der  Ortsangesessenen  änd  die  „conrnnunaux**,  deren  Bestehen 
unverträglich  ist  mit  einer  intensiven  I^dwirtschaft,  zweifellos  vct' 
urteilt,  wenn  nicht  zu  verschwinden,  so  doch  eine  gründliche 
Wandlung  zu  erfahren.  Anstatt  aber  wie  früher  zu  gewaltsamen 
Expropriationen  zu  schreiten,  oder  zu  nicht  minder  verderblichen 
Teilungen,  steht  prinzipiell  nichts  ents^ej^en,  dals  die  Staatsgewalt 
seihst  die  Aufgabe  übernimmt,  diese  Ländereien  zu  kultivieren  und 
sie  iti  1' a  t rimo  n  i  a  1  g  u  t  zu  verwandeln,  dessen  Erlrag  die  üe- 
meintle,  ebenso  wie  ein  Privatmann,  bezieht:  hierher  gehören  z.B. 
die  Gemeindewaldungcn  <Mier  die  von  der  Gemeindebehörde  ver« 
pachteten  anbaufähigen  Ländereien. 

Gründlich  täuschen  würde  man  sich  aber,  wollte  man  hierbei 
besonders  auf  die  ländlichen  Gemeinden  rechnen,  und  von  ihrer 
Engherzigkeit  und  ihrem  Schlendrian  erwarten,  dafs  sie  ihren  Land- 
V)e<it/   in  Stand  sct/en  und  \or   allem    durch  (irundstücksnnkauf 
von  ]*ri\aten  erweilern  oder  neuschatVen.    Linter  dem  jetzigen  Stand 
der  Dinge  konnte   man  höchstens  \nn  ihnen  \erlangen  oder  ihnen 
auferleL^en,  was  sie  noch  haben,  fiichl  zu  \eräursern,  Aufforsuiiv^en 
unter  der  Leitung  und  mit  der  l  nterslützung  seitens  des  Staate^ 
durchzuführen,  ihr  anbaufähiges  Land  unter  günstigeren  Lkn lin.;unt;cn, 
als  sie  bei  den  Cirundbesit/ern  tler  Gegend  liblirh   sind,   zu  \er- 
pacliten,  statt  es  dauernd  auf  die  Haushalts\ erstände  zu  vorteilen. 
Einschneidendere  Lmgestaltungen  der  Boden  Verfassung  im  kulleklivis- 
tischen  Sinne  sind  in  erster  Reihe  \cjn  der  Initiative  der  Zentral- 
gewalt  und  grofser  Stadtgemeinden  /u  furtlern,  welch  letztere  sich, 
wie  z.  B.  Antwerjien  es  gethan,  einen  landwirt<rhaftli(  hen  Grund- 
besitz zu  schatten  hätten.    Wir  sind  zwar  nut  Kautsky  \  öllig  darüber 
einig,  dafs   in  den  bureaukr.uischcn  und  militärischen  Monarchieen 
„die  Sozialdemokratie   keinen  Grund  hat,  die  Zahl  der  kapitalis- 
tischen Slaatspächter  zu  vermehren  und  die  Regierung  unabhängiger 
von  den  Geldbewilligungen  der  Volksvertreter  zu  machen."') 

Allein  in  mehr  oder  minder  demokratischen  Ländern,  wie  im 
unserigen,  gewinnt  die  Frage  ein  ganz  anderes  Ansehen,  und  selbst 


')  Die  Agrarfrage,  S.  329. 


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Das  Grundeigcntutn  in  Belgien  in  dem  Zeiträume  von  1834 — 1899. 


unter  dem  kapitaJistischen  Regime  begegnet  die  fortschreitende 
Sozialisiening  des  Bodens  nicht  überall  den  gleichen  Einwänden. 
Auch  ist  zweifellos,  dafe  sich  die  Erweiterung  des  kollektiven  Be- 
sitzes, wie  sie  in  der  allernächsten  Zukunft  zu  verwirklichen  ist,  nicht 
auf  das  Gebaudeeigentum  und  die  Industrie  im  engeren  Sinne  be- 
schränken wird.  Der  mittelbare  oder  unmittelbare  sozialisierende 
Einflufs  der  Städte  wird  machtig  auf  das  Land  einwirken»  wird 
Genossenschaften  hervorrufen,  ihre  Ziele  erweitern,  höhere  Formen 
der  Produktion  und  Aneignung  schaffen.  Es  waren  jederzeit  die 
Städte  das  treibende  Element  der  Wandlungen  des  Eigentums  und 
der  Kultur.  Das  Land  lebte  noch  in  den  alten  Verhältnissen,  hätte 
die  städtische  Boui^eoisie  nicht  die  Güter  der  toten  Hand  an- 
gegriffen, die  Grundherren  verdrängt,  die  Bauern  von  den  feudalen 
Lasten  befreit,  und  —  nicht  nur  befreiend,  sondern  auch  bedrückend 
—  die  Genieindeländereien  veräufsert,  die  Wälder  verstümmelt,  und 
durch  die  Konkurrenz  der  Maschinenarbeit  eine  Menge  Hausindustrieen 
vernichtet,  die  friihcr  auf  dem  platten  I^ande  blüiiten.  Wenn  45,000 
Arbeiter  aus  dem  Hennegau  un  l  (!en  Mandern  nicht  mehr  in  der 
Heimat  wurzeln  und  während  sechs  Monaten  des  Jahres  nach  dem 
Norden  I  Vankreichs  und  dem  Groisherzogtum  Luxemburg  wandern, 
so  iiat  dies  darin  seinen  Grund,  weil  die  Fabriken  die  alte  Leinen- 
industrie tot  gemacht  haben.  Wenn  die  Pächter  in  Beanre  und 
Brie  so  laut  nach  flämischen  Arbeitern  rufen,  so  rührt  dies  daher,  ' 
dafs  die  Anziehungskraft  der  Städte  die  ländlichen  Gegenden  brank- 
reichs  entvölkert  oder  doch  die  meisten  Landarbeiter  in  Industrie- 
arbeiter \cr\vandclt  hat.  Je  mehr  die  industriellen  und  städtischen 
Zentren,  Föchtcr  des  Kapitalismus,  anwarhscn,  dcstoiiichr  \erliercn 
die  ländlichen  Klassen  verhältnisniälsi^'  an  HedcutunL^;  die  Anbau- 
fläche wird  kleiner,  die  zunehmende  trleichteruriL;  des  Wrkelirs 
bringt  das  kleinste  Dorf  mit  dem  W'eltmarkte  in  Verbindung  und 
unterwirft  es  den  (iesetzen  der  allgemeinen  Konkurrenz. 

Von  der  Stadt  aus  gehen  die  dem  bäuerlichen  Grundbesitz  töt- 
liclien  Krisen;  in  der  Stadt  regieren  jene,  die  dem  Lande  das  drei- 
fache Joch  der  Steuern,  (les  Pachtzinses  und  der  Kaserne  auteriegen ; 
in  die  Stadt  hinein  strömen  von  allen  Luden  der  Welt  ihre  Pro- 
dukte. L'nd  jetzt,  wo  die  städtische  Bevölkerung  ihr  Getreide  aus 
den  neuen  Krdteilcn  erhält,  ist  es  wiederum  ihr  Einflufs,  ihre 
steigende  Nachfrage  nach  Butter,  Fleisch,  Zucker,  Früchten,  Gemüse, 
und,  leider,  Alkohol,  welcher  den  Landwirtschaftsbetrieb  umgestaltet, 
ihm  andere  Gerätschaften  giebt  und  das  platte  I^d  mit  Dampf- 


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456 


Emil  Vandcrvelde, 


molkereien»  Zikorienfabriken,  Branntweinbrennereien,  Zudccrsiedereien 
bedeckt  —  alles  fast  kapitalistische  Unternehmungen,  deren  abhängige 
und  unterwürfige  Lieferanten  die  Bauern  der  Umgegend  sind.  In 
diesen  ProduktkMiszweigen,  die  mit  dem  Landbau  so  eng  verknüpft 
sind,  ist  die  industrielle  Konzentration  sehr  weit  vorgeschritten:  die 
grofsen  Zuckerfabriken  sind  völlig  gewappnet  aus  dem  Scholse  der 
kapitalistischen  Welt  hervorgegangen;  die  Ricscnbrennereien  sind 
trotz  der  den  kleinen  Destillateuren  ^^^^währtcn  Steuerprivüegien  eben 
dabei,  diese  ein  fvir  alle  Mal  zu  erdrücken;  nur  die  genosscnschaft* 
lieh  orj^anisierten  Milch  Produzenten  kämpfen  aussichtsvoll  gegen  die 
kapitalistischen  Molkereien,  allein,  es  steht  zu  befürchten,  daSs,  wie 
so  \  i(  lc  atulere  Produktivgenossenschaften,  auch  sie  zumeist,  gerade 
durch  ihren  Erfolg,  sich  in  kapitalistische  Betriebe  verwandeln 
werden.  Es  wird  daher  voraussichtlich  die  kollektivistische  Er- 
oberung des  Landes  beginnen  mit  der  Expropriation  dieser  Indu- 
strien, der  Sozialisierung  der  Wälder,  der  Arbeit  der  inneren  Koloni- 
sation, welche  die  Süniple  zu  bewältiifcn,  die  Ileideflächen  urbai  /.u 
machen,  die  unbebauten  Ländereien  in  truchttragende  zu  verwandeln 
hat.  Was  der  Kapitalismus  im  Interesx  einzelner  angefangen,  wird 
der  Sozialismus  zum  Wohle  aller  vollenden.  „Die  Rationaiisicnin,:!; 
der  Agrikultur"  sagt  Karl  Marx  M  einerseits,  die  diese  erst  betähigt 
gesellschafllicii  betrieben  zu  werden,  die  Rückluhiuiig  des  Grund- 
eigentums ad  absutduni  anileroi .>c)ls,  dies  sind  die  grol'sen  Ver- 
dienste der  kapitalistischen  Produktionsweise."  Wie  alle  übrigen 
historischen  Fortschritte,  hat  sie  auch  diese  durcli  die  Verarmung 
der  direkten  Produzenten  bezahlen  lassen.  Jetzt,  wo  der  bäuerliche 
(irundbesitz  in  einem  Industrielaiule,  wie  es  das  unserige  ist.  nur 
einen  geringfügigen  Teil  der  bebauten  Fläche  repräsentiert,  wäliremi 
zwei  Drittel  des  Bodens  ilenen,  die  ihn  bebauen,  nielu  zu  eigen  i^'e- 
hört,  tritt  die  Parasitenrolle  der  Besitzerrenle  allen  klar  \or  .\ugcn. 
l'nd  je  mehr  der  Kapitalismus  die  Landwirtschaft  erobert  und  den 
alten  Schlendrian  durch  die  wissenschaftlichen  Malsnahmen  der 
Agronomie  ersetzt,  desto  mehr  werden  wir  uns  der  Möglichkeit  und 
den  Vorzügen  der  kollektivistischen  Aneignung  und  Bewirtschaftung 
des  Bodens  nähern.  Wir  verkennen  übrigens  keineswegs  die  Schwierig- 
keiten, den  Widerstand,  die  Hindernisse  aller  Art,  welche  sich  einer 
derartigen  Umgestaltung  entgegenstellen  und  noch  lange  entgegen- 
stellen werden.   Wir  sind  überzeugt,  dals  sie  nicht  völlig  durch- 


*)  Vgl.  Das  Kapital,  Bd.  Ol,  2,  $.  157.   Hamborg  l894> 


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Das  Gnindeigentnin  in  Belgien  in  dem  Zeitiaume  von  1S34— >i899. 

geführt  werden  kann,  solange  der  Sozialismus  sich  nicht  der  indu- 
striellen Produktion  bcmächti|:ft  hat.  Aber  wir  möchten  doch  denen 

tutber,  welche  etwa  die  Möghchkcit  sogar  einer  so  tieffjehenden 
Wandlung  bezweifeln,  auf  die  mindestens  ebenso  einschneidende  Um- 
wälzung hinweisen,  welche  den  Sturz  des  h'eudalsystems  kennzeichnet. 
Es  dürfte  nicht  viel  mehr  als  ein  Jahrhundert  dauern,  bis  die  sieg- 
reiche Bourgeoisie,  in  ihrer  Profitgier  liarthcrzigcr  mitunter  als  die 
vordem  herrschenden  Klassen,  aber  thatkräftiger,  unternehmender, 
reicher  an  Hilfsmitteln,  das  Land  den  Gesetzen  der  kapitalistischen 
Produktion  unterworfen  hat.  Noch  viel  weniger  Zeit  wird  es  ange- 
sichts der  wachsenden  Schnelligkeit  der  sozialen  Wandlungen  be- 
dürfen, bis  die  städtischen  Arbeiter,  vom  Kapitalismus  befreit,  ihre 
Errungenschaften  der  Landbevölkerung  teilhaftig  werden  lassen  und 
sie  von  ilen  Jiedrückungcn  erlösen,  welchen  sie  ihre  aufeinander- 
folgenden Gebieter  unterworfen  haben. 


Archiv  für  Mt.  Gwttigebuf  n.  StatiiUK.  XV, 


30 


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I 


GESETZGEBUiNG. 

PRBU88BN. 

Die  Erweiterung  der  Zwangserziehung. 

Von 

Prof.  Dr.  FERDINAND  TÖNNIES.  >) 

In  langwierigen  Kämpfen  wehren  sich  die  ursprünglichen,  im 
unmittelbaren  Wollen  und  Glauben  beruhenden  Verbände  und 
Gemeinschaften  der  Menschen  gefjen  die  zersetzende,  vereinzelnde, 
sie  zu  Mitteln  für  ihre  Zweck-  herabsetzende  Vernunft  der  Indivi- 
duen auf  der  einen,  gegen  die  ebenso  individualistisch  wirkende 
S  t  a  a  t  s  r  a  i  s  o  n  auf  der  anderen  Seite :  in  diesen  Kämpfen  vollzieht 
und  verzehrt  sich  die  gesamte  neuere  Fintwicklung  de^  sozialen 
l.cbens.  Jeder  so  geartete  Kampf  i>t  ein  Todeskampf,  sie  erfüllen 
df-ri  I'rozcis  des  Unterganges  jener  durch  Wesen  und  l'eberlielerun^ 
gehcdigtcn  X'crbände.  Der  letzte,  einfachste,  aber  zähestc,  weil 
innerlichste  von  allen  ist  die  Familie.  Dals  ihre  hergebrachte  de- 
stalt  durch  die  moderne  ökonomische  Kntwicklung  aufgelöst  wird, 
ist  beinahe  ein  Gemeinplatz  geworden.  Die  Staatsgewalt  wird  an- 
gerufen, sie  zu  retten.  Schutz  iler  Frauen  und  Kinder  \or  der  — 
formell  durch  ihren  eigenen  oder  durcli  den  Willen  des  h'aiuiiien- 
vatcrs,  materiell  durch  das  Intere^>e  des  Kapitalisten  bewirkten  — 
Individualisierung,  die  sie  dei\  Männern  gleich  zu  Verkäulern 
ihre !  Arbeitskraft  niarht.  bildet  den  Kern  der  ganzen  bcwufsten  Reak- 
tion der  Gesellschalt  gegen  ihre  gegebenen  Kntwicklungstcndenzen,  die 
in  der  Fabrikgesetzgebung  enthalten  ist;  und  der  Fortschritt 

')  Wo  ich  bei  Citatcn  Worte  durch  Sperrdruck  hervorhebe,  die  es  im  Origiulc 
nicht  sind,  setze  ich  die  gesperrten  Worte  twischen  Asterisken  *j 


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Ferdinand  Tön  nies,  Die  Erweiterung  der  Zmngserziehttng. 


wird  iinnicr  lehliafter  geforckrl  werden,  wie  er  immer  drinji^ender 
notwendig  und  unaiitlialtbar  wird,  der  sie  zu  einer  Hausindust  rie- 
(iesetzgebung^  erweitert.  Das  Problem  wird  aber  auch  immer 
mächtiger  sich  erheben,  ob  und  wieweit  der  gegebene  Staat,  der 
Arm  der  Gesellschaft,  diese  Aufgaben,  die  ihm  die  Gesellschaft  zu 
überweisen  gezwungen  ist,  zu  tragen  und  zu  erfüllen  fähig 
sein  werde,  ohne  seinci^cils  eine  tiefe,  innere  Umbildung  zu  erfahren 
und  sich  gefallen  zu  lassen. 

Eine  besondere,  an  sich  verhältnismäfsig  geringfügige,  in  ihren 
Konsequenzen  sehr  bedeutende  Seite  dieses  Problems  ist  es,  die  in 
der  Erweiterung  der  Zwangserziehung  verborgen  ist 

Im  heutigen  Privatrecht,  wie  es  in  unserem  Bürgerlichen  Gesetz- 
buche sich  ausprägt,  ist  die  Familie  eine  Anomalie.  Sein  gesamter 
Inhalt  bezieht  sich  auf  die  Regelung  des  Austausches  von  Ver- 
mögenswerten zwischen  einzelnen  Personen,  natürlichen  oder  juristi* 
sehen  Personen  (die  Familie  ist  weder  das  eine  noch  das  andere). 
Grundbegriffe  sind:  die  Fähigkeit,  Rechte  zu  haben  —  allgemeines 
Merkmal  der  Person;  und  die  Fähigkeit,  Rechte  auszuüben  —  be- 
sonderes Merkmal  der  mündigen  Person*^)  Die  unmündige  Per- 
son mufs  durch  eine  münd^e  Person,  den  Vormund,  im  Rechte 
(d.  h.  vor  Gericht)  vertreten  werden.  Die  Staatsgewalt  erzwingt,  nach 
Feststellung  der  Rechtsthatsachen  durch  Richterspruch,  die  Rechte 
jeder  Person  gegen  alle  anderen.  Der  Mündel  hat  auch  Rechte 
gegen  den  Vormund;  sie  können  durch  einen  Gegenvormund  ver- 
treten werden  im  gewöhnlichen  Rechtsw^e,  sie  können  aber  auch 
direkt  durch  die  Staatsgewalt  vertreten  werden,  im  Wege  der  Poli- 
zei, sei  es  durch  ein  besonderes  Amt,  oder  durch  freiwillige" 
Gerichtsbarkeit,  d.  h.  eine  Gerichtsbarkeit,  die  funktioniert,  ohne 
durch  Klage  dazu  veranlafst  zu  werden.  Dies  ist  das  System  der 
preufsischen  Vormundschaftsordnung  gewesen ,  ist  dem  Prinzipe 
nach  auch  das  des  Bürgerlichen  Gesetzbuchs.  Kernpunkt  ist  die 
ständige  Aufsicht  über  alle  geführten  Vormundschaften.  Nun 
ist,  der  begrifflichen  Konsequenz  nach,  jede  Vertretung  der  Rechte 
von  Kindern  durch  Vater  und  Mutter  nichts  als  ein  besonderer 
Fall  der  Vormundschaft;  sie  müfste  mithin  einer  ganz  gleich- 
artigen  Aufsicht  unterliegen. 

Diese  Aufsicht  ist  ihrem  Wesen  nach,  wie  die  ganze  freiwülige 


Das  B.G.B,  scbtebt  djuwiscben  noch  den  „beschränkt  gcschäftsfahiKcn** 
Minderjährigen. 

30» 


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460 


GesetxigebiiBe:  PrenfiMO. 


( Tcriclitsbarkeit,  eine  ütfcnllich-rechlliche  I'uiiktion.  Dals  sie  in  das 
Pn\'atrccht  aufi^enomrnen  wird,  hat  seinen  (irund  darin,  dafN  sie 
materiell  ihre  weit  überwiegende  Bcdeutunp^  im  Vcrm<)'^eii>- 
recht,  dalier  für  \  e  r  m  <  i;^  e  n  s  1  o  s  e  Voniumi  !>cli,itit.-n  jirakli^'h 
fast  keine  Iktleiitim^;  hat.  Wenn  nun  im  P  r  i  \  a  t  r  c  c  Ii  t  der  ( deich- 
Stellung'  von  Kindern  unter  elterlicher  Gewalt  mit  bevormundeten 
Kindern  die  l'radition  starke  Hemnuin;_;en  ent^cfTcn>telIt,  be- 
stehen hiiiL;ej4cn  für  das  öffentliche  Recht  solche  liemmunj^en  nicht. 
Die  polizeiliche  Sorge  für  das  Wohl  von  Kindern  und  die  polizei- 
liche Befugnis  zu  Mafsregeln  gegen  Kinder  leiten  sich  direkt  aus 
der  allgemeinen  Macht  der  Polizei,  nach  Malsgabe  von  Gesetzen 
öffentlichen  Gefahren  vorzubeugen,  ab.  Mit  ihr  konkurriert  nur 
die  strafrechtlich  e  Behandlung  solchSr  Kinder,  die  för  strafbare 
Handlungen  verantwortlich  gemacht  werden.  Insoweit  als  diese 
einfach  verurteilt  und  die  Urteile  vollstreckt  werden,  liegen  sie 
außerhalb  jener  Sorge.  Wenn  aber  die  Absicht,  solche  Kinder 
zu  erziehen  und  zu  bessern,  mit  der  Strafvollstreckung  verbunden 
wird,  oder  sich  daran  anschliefst,  oder  sie  ersetzen  will,  so 
ist  die  strafbare  Handlung  nur  ein  möglicher 'Erkenntnisgrund,  aus 
dem  auf  das  Bedürfnis  jener  Absicht,  d.  h.  auf  den  verwahrlosten 
Zustand  des  Kindes  geschlossen  wird. 

Und  wenn  der  allgemeine  Satz  zum  Rechtssatz  wird:  „ver* 
wahrloste  Kinder  fallen  der  Sorge  des  Staates  anheim",  und  wenn 
^ogar  dieser  Satz  von  Kindern  auf  alle  Minderjährige  ausgeddint 
wird  —  so  ist  dies  von  unermelslicher  Tragweite.  So  eng  auch 
der  Begriff  der  Verwahrlosung  umschrieben  werden  in^;e,  prinzipiell 
ist  damit  das  Recht  des  Staates  gesetzt,  das  Erziehungsrecht  der 
Eltern  nach  seinem  Ermessen  aufzuheben,  den  Vater  oder  die 
Mutter,  ganz  wie  einen  Vormund,  ihres  Amtes  zu  entsetzen.')  So- 
weit CS  dabei  um  festgestellte  Schuld  an  der  Verwahrlosung  sich 
handelt,  ist  der  Grundsatz  länc^st  in  theoretischer  Geltung  (die  Fälle 
des  §  1666  H.G.}^.  1 ;  praktisch  aber  fast  nur  nach  MaG^abe  neuerer 
Zwanc^serziehungs-Gesetzc  ZUr  Anwendung  gelangt.  Dagegen  ist 
auch  theoretisch  kontrovers  die  Unabhängici^keit  des  Ein- 
schreitens von  schuldhaftem  Verhalten;  im  Reichsrechte  nicht  zu- 
gelassen, ist  sie,  wie  wir  sehen  werden,  den  Landesgesetzgebungen 


Ganz  abzusehen  von  dem  Rechte,  solche  Minderjährige,  die  der  häuslichen 
Erziehung  entwachsen  sind,  durch  eine  Art  von  administrativer  Jastiz  der 
„Zwangserziehung"  zu  unterwerfen. 


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Ferdinand  Tonnies,  Die  Elrweiterung  der  Zwangstcrziehuug. 


freigegeben  worden.  Der  Gebrauch,  den  die  Gesetzgebung  des 
gröfsten  Staates  im  Reiche  von  dieser  Befiignis  macht,  wird  daher 
von  einschneidender  Bedeutung  sein.  Wenn  ein  radikaler  Ge- 
brauch davon  gemacht  wird,  so  wird  um  so  scharfer  die  Frage 
geltend  gemacht  werden  müssen:  ob  der  Staat  entschlossen  und 
vorbereitet  sei,  eine  gerechte  Anwendung  durchzuführen,  ob  er 
der  grolsen  moralischen  Aufgabe,  die  er  damit  übernimmt,  auch 
moralisch  gewachsen  sei;  welche  Fragen  jedoch  nicht  minder 
liir  die  Sache  überhaupt,  also  auch  wenn  Schuld  der  Eltern  oder 
des  Vormundes  behauptet  wird,  gelten.  Wir  wollen  unter  diesen  Ge* 
Sichtspunkten  die  ftir  Preufsen  beantragte  Erweiterung  der  Zwangs- 
erziehung prüfen. 

Der  „Entwurf  eines  Gresetzes  über  die  Zwangserziehung  Minder- 
jähriger" der  am  8.  Januar  d.  J.  dem  preufsischen  Herrenhause 
unterbreitet  wurde,  enthält  gcf^enüber  dem  geltenden  Gesetze  vom 
13.  März  1878  drei  sehr  bedeutende  Neuerungen,  die  sich  als  prin- 
/i]nelle  Erweiterungen  der  mit  dem  Namen  „Zwangserziehung"  be- 
hafteten Institution  darstellen:  I.  Während  bisher  nur  Kinder 
zwischen  6  und  12  lalircn  (denn  die  Fälle  nach  §  56  des  Str.CTi.B. 
lagen  aulserhalb  des  iiesetzes)  so  können  ihr,  nach  dem  Entwürfe, 
alle  Minderjährigen ,  von  der  Geburt  an  bis  zum  vollendeten 
18.  Lebensjahre  unterstellt  werden.  2.  Während  bisher  die  Mal's- 
rcr^el  auf  richterliche  Feststellung  einer  von  dem  Kinde  be- 
gangenen, sonst  strafbaren  Handlung  gebunden  ist,  so  wird  sie  nach 
dem  Entwürfe  da\-on  gelöst;  sie  wird  a  u  c  Ii  möglich,  wenn  dieser 
Thatbcstand  nicht  gegeben  ist,  aber  eine  von  zwei  anderen  X'oraus- 
hct/.ungen  vorliegt;  Aj  ein  scluildhaftes  X'erhalten  des  Vaters  oder, 
wenn  ihr  die  elterliche  Gewalt  zusteht,  der  Mutter  des  Kindes,  wo- 
durch das  geistige  oder  leibliche  Wohl  des  Kindes  gefährdet  wird 
(hierauf  geht  §  2,  I  des  Entwurfes! ;  IVi  ,,wenn  die  Zwangserziehung 
aufser  diesen  Fällen  wegen  l'nzulänglichkeit  der  erziehlichen  Ein- 
wirkung der  Eltern  oder  sonstigen  Erzieher,  oder  der  Schule,  zur 
Verhütung  des  völligen  sittlichen  Verderbens  notwendig  ist".  (Ent- 
wurf    2,  3.) 

Die  vorgeschlagenen  NeueiunL;cn  fies  preulsiscluii  I^ndes- 
gesetzes  beruhen  teils  in  Bestinnnungcn  des  B.G.B,  teils  in  solchen 
des  Einführungsgesetzes  dazu. 

Im  B.G.B,  regelt  §  1666  die  Befugnis  des  Vormundschafts- 
gerichtes, inbezug  auf  Kinder,  die  unter  elterlicher  Gewalt  stehen, 
§  1838  inbezug  auf  bevormundete  Kinder,  erzieherische  Anord- 


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462 


GcMtzgebong:  Preo&en. 


nungen  zu  trctl'on.  Xacli  §  1838  ist  diese  Befugnis  unbeschränkt, 
sofern  nicht  dem  N'ater  oder  der  Mutter  die  Sorge  für  die  Person 
des  Mündels  zusteht.  Wenn  dies  der  Fall  ist,  so  wird,  ebenso  wie 
im  §  1666  inbezug  auf  nicht  bevormundete  Kinder,  die  Befugnis 
an  die  Konstatierun^  einer  Gefahr  für  das  Kind  gebunden  und  zu- 
gleich zu  einer  Pflicht  erhoben.  Wenn  nämlich  „das  geistige  oder 
leibliche  Wohl  des  Kindes  dadurch  gefährdet  wird,  dafs  der  Vater 
das  Recht  der  Sorge  für  die  Person  des  Kindes  milsbraucht,  das 
Kind  vernachlässiL^t  *oder  sich  eines  ehrlosen  oder  unsitt- 
lichen Verhaltens  schuldig  macht*,  hat  das  \'ormund- 
schaftsgericht  die  zur  Abweiulung  der  Gefahr  erlorderlichen  MaU- 
n\L;tln  zu  treffen.  Das  \'ormuiu]>chaftsgericht  kann  insbesondere 
anordnen ,  dals  da<;  Kind  zum  Zwecke  der  Erziehung  in  einer  ge- 
eigneten Pamilie  oder  in  einer  Erziciiungsanstalt  oder  in  einer 
Besserungsanstalt  untergei)racht  wird."  Dieselbe  Befugnis  inbezu<j 
aui  Mündel  tritt  in  i:  i!^3S  als  besondere  Anwendung  der  allgemeinen 
Pflicht  des  Vorinuiidstdiaftsgerichtes  zur  „Fürsorge  und  Aufsicht" 
über  geführte  Vornuuidschaften  auf. 

Das  Wort  Zwangserziehung"  konmU  im  B.G.B,  selber  nicht 
vor.  (In  der  That  fehlt  dem  Vormundschaftsrichter,  wie  ein  Er- 
kenntnis des  Reichsgerichts  festgestellt  hat.  die  unmiliclbare  Zwangs- 
gewalt.) Dagegen  bestimmt  das  K  i  n  f  u  Ii  i  u  n  g  s  g  e  s e tz  zum 
B.G.B,  in  seinem  Art.  1 3  5 :  „U  n  berührt  bleiben  die  landes- 
gesetzlichen X'orschriften  über  die  Zwangserziehung  Minderjähriger. 
Die  Zwangserziehung  ist  jedoch,  unbeschadet  der  Vorschriften  der 
^§  55'  56  des  Stra%esetzbuchs  nur  zulässig,  wenn  sie  von  dem 
Vormundschaftsgericht angeordnet  wird.  Die  Anordnung  kann, 
aufs  er  den  Fällen  der  §§  1666,  1S38  des  B.G.B.  nur  erfolgen, 
wenn  die  Zwangserziehung  zur  Verhütung  des  völligen  sittlichen 
Verderbens  notwendig  ist" 

Der  hier  gezogenen  Richtlinie  will  nun  der  preufeiscbe  Gesetz* 
entwurf  folgen.  Auch  früher,  ja  früher  —  nämlich  ehe  es  ein 
Reichs-Privatrecht,  einschlielsend  Vormundschaftsrecht,  gab  —  auf 
minderbedingte  Weise,  stand  den  Lande^esetzgebungen  zu,  diese 
Materie  zu  ordnen,  und  sie  haben  es  nach  verschiedenen  Prinzipien 

'  I  Ks  gehört  zu  ilcn  technist  hen  Schönlieitci»  <les  B  f  r.H.,  <lit*  selbst  den  g^"- 
schulten  Juriistenkopf  zu  cnnüdcn  jjocigm-t  sind,  duls  hier  ülu  rall  wo  etwas  aus- 
scliliefslich  dem  Vortnundschaiisgcricht  zugewiesen  wird,  dies  doch  dahin  ventiodeil 
werden  mufs,  dafs  die  Landesfresette  eine  besondere  Verwaltungsbchtitde  an 
dessen  Stelle  setzen  können  (Einflfhrungsgesetx  Art.  147V 


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Fcrdinanü  Tunnics,  Die  Erweiterung  der  Zwangserziehung. 


gethan,  nämlich  teils,  wie  die  preußische')  in  der  eingeschränkten 
Weise,  dafs  die  R^elung  nur  als  Ausführung  von  §  55  des  Str.G.B. 
sich  darstellt,  also  an  die  sonst  strafbare  Handlung  des  Kindes  ge- 
knüpft bleibt;  teils  in  der  ausgedehnten  Weise,  wie  es  nunmehr  durch 
das  Eiafuhningsgesetz  ausdrücklich,  wenn  auch  mit  Limitierung, 
freigegeben  wird.  Der  vorliegende  Entwurf  will  nun  fiir  Preu(sen 
einmal  (l)  |,die  Durchführung  der  vormundschaftlichen 
Zwangserziehung  in  allen  Fällen,  wo  sie  sonst  aus  Mangel  an  mate« 
riellen  Mitteln  unterbleiben  mufste,  sicherstellen";^  er  will  aber 
zugleich,  indem  er  Zwangserziehung  überhaupt  aus  „die  Erziehung  . . . 
Minderjähriger  unter  öffentlicher  Aufisicht  und  auf  öffentliche  Kosten" 
definiert  (§  l)  diese  Art  (die  vormundschaftliche)  an  die  „materielle 
Bedingung"  knüpfen,  dais  sie  „als  erforderlich"  befunden  werde  „um 
die  sittliche  Verwahrlosung  des  Minderjährigen  zu  \  erliüten"  (§  2,  I 
S.  Begr.  S.  13).  Er  will  sodann  (2)  die  geltenden  Bestimmungen 
über  Zwangserziehung  strafunmündiger  Delinquenten  in  sich  auf- 
nehmen „mit  Beseitigung  der  unteren  Altersgrenze";  hier  heilst  es 
wiederum,  wie  in  dem  bestehenden  Gesetze  ,wenn  die  Zwangs- 
erziehung mit  Rücksicht  auf  die  Beschaffenheit  der  Handlung,  die 
Persönliciikeit  der  Eltern  oder  sonstigen  firzieher  und  die  übrigen 
Lebensverhältnisse  zur  Verhütung  weiterer  sittlicher  V^erwahrlosung 
des  Minderjährigen  erforderlich  ist."  Kr  will  endlich,  (3)  von  der. 
Anweisung  des  1  lafülirungsgesctzes  (lebrauch  machend,  die  Mafs- 
regel  auch  dann  zur  Cieltung  bringen,  wenn  aufs  er  den  Fällen 
ad  1  und  2  die  Zwangserziehung  „wegen  rnzulänglichkcit  der 
erziehlichen  Einwirkung  der  Ellern  oder  sonstigen  Erzieher  oder 
der  Schule  zur  Verhütung  des  völligen  sitlliclica  Verderbens  not- 
wendig ist". 

In  allen  3  Fällen  oder  Gruppen  \on  Italien  handelt  es  sich 
also  um  Verhütung:  es  ist  aus  keinem  der  Ge>etzc  oder  ihren 
Begrüiuhnigen  irgendwie  ersichtlich,  welchen  Unterschied  ihre  Ur- 
heber zwischen  „sittlicher  Verwahrlosung",  „weiterer  sitUicher  \'er- 

^)  Soweit  ab  d»  AUgemeine  Landrecht  galt,  hatte  fieilieh  aufserdem  das  vor' 
mundschafUiche  Gericht  ganz  aUgemfin  die  Oblicgenheiti  sidi  T«rw:ihr1(^st>  r  Kinder 
„von  Amtswcßt-n'"  un/unchmcn,  wenn  dir  Eltern  sie  grausam  mifshandeln,  oder  zum 
Bosen  \<  rl'iu-n,  »di  r  ihnen  d>m  nnt<lnrtti^'<n  l  iitcrhult  versn*;cn*'  'A.L.R.  II,  2  J;  90) 
und  war  bcrochtigt  solchen  Eltern  uie  lir-iehung  /.u  nehmen,  treilirh  nur  .,auf  deren 
Koiklen"  sie  in  andere  Hände  zu  geben ;  ähnliche!»  galt  in  anderen  (JesetzbUchem. 

^)  .So  drückt  sich  die  Begründung  aus  b.  13.  Ich  halte  zwar  diese  Au-sdrücke 
filr  jorutisdi  iingcnaii,  lasse  sie  aber  auf  sidi  beruhen. 


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464 


Gesetzgebung;  PreofMn. 


walirltjsiiUj^"  iiihl  „vulH^Liu  sittlichem  X'cnii  i bcn"  inarlien  ,  wenn 
aber  bei  dieser  Manni<:,'fachlicit  der  Ausdrücke  ire^end  etwas  fjed.icht 
wortkii  ist,  so  inufs  es  darin  um  das  Schlimme,  das  Schlimmere 
und  das  Schlimmste  sich  handeln,  so  dafs,  wenn  die  Gefahr  ersten 
Grades  besteht,  erst  bei  schuldhaftem  Verhalten  der  Erzieher  (kraft 
re>,'ulärer  Obervormundschaft);  wenn  aber  die  Gefahr  dritten 
Grades  vorliegt,  schon  bei  ungünstigen  Verhältnbsen  diese  „cin- 
schneidendste  Mafsrcgcl"  (Begr.  S.  13)  verhängt  werden  darf  resp. 
soll.  Der  Fall  eines  die  Verwahrlostheit  zur  Erscheinung  bringenden 
Delikts  würde  dann  die  mittlere  (refahr  "bezeichnen. 

Für  alle  Falle  ist  mithin  die  Aufgabe  gestellt,  die  Ge&hr  zu 
erkennen  und  Vorkehrungen  gegen  sie  zu  treffen.  Eine  höchst  be- 
deutende Aufgabe!  Und  eine  höchst  bedeutende  Machtbefugnis  — 
die  wer  damit  empfangt?  Der  königlich  preulsische  Amtsrichter. 
Und  wer  hilft  ihm  zu  jener  wichtigen  und  folgenschweren  Erkennt- 
nis? »Das  Vormundschaftsgericht  beschliefst  von  Amtswegen  oder 
auf  Antrag.  Zur  Stellung  des  Antrages  ist  der  Landrat,  in  Stadt* 
kreisen  der  Magistrat  und  der  Vorstand  der  Königlichen  Polizei- 
Verwaltung  berechtigt  und  verpflichtet.  Vor  der  Beschlufs£i8sung  soll 
das  Vormundschaftsgericht,  soweit  dies  ohne  erhebliche  Schwierig- 
keit geschehen  kann,  die  Eltern,  den  gesetzlichen  Vertreter  des 
'  Minderjährigen,  und  in  allen  Fällen  den  Gemeindevorstand,  den  zu- 
standigen Geistlichen  und  den  Leiter  oder  Lehrer  der  Schule,  welche 
der  Minderjäh ritje  besucht  oder  zuletzt  besucht  hat,  hören.  Auch 
hat,  wenn  die  ßcschlufsfassung  nicht  auf  Antrag  erfolgt,  das  Vor- 
mundschaftsgericht zuvor  dem  L^ndrate  etc.  unter  Mitteilung  der 
Akten  Gele;^'cnlicit  zu  einer  Aeufscrung  zu  geben.  .  .  .  Gegen  den 
Beschlufs  findet  die  sofortige  Beschwerde  statt.  Die  Beschwerde 
hat  aufscliicbcnde  Wirkung":  §  4  des  Entwurfes.  Nach  geltendem 
Rechte  (in  Preufsen)  bestehen  ähnliche  Kautelen;  aber  als  zur 
Stellung  des  Antrages  berechtigt  ist  keine  besondere  Kategorie  von 
Personen  ausgezeichnet;  die  Staatsanwaltschaft  aber  ist  ver- 
pflichtet, von  den  „strafbaren  I  landiunt^n  ti"  6  -12 jähriger  Kinder, 
die  zu  ihrer  Kenntnis  gekommen  sind,  Mitteilung  an  das  Vormund- 
schaftsgericiit  zu  maclien. 

Ks  flarf  nun  vielleiclit  mit  Grund  erwartet  werden,  dafs  — 
weniL,slcns  einstweilen  -—  in  I'reulsen,  wie  in  anderen  Bundesstaaten, 
wo  schon  ähnliches  Recht  besteht,  Polizei  und  Gericht  von  diesen 
sehr  weitgchcnflcn  Befugnis-^en,  die  so  tief  in  die  elementaren  Ikstand- 
teile  des  Privatrechts  hineingreifen,  einen  diskreten,  gewissenhaften 


• 

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Ferdinand  Tönnics,  Die  Erweiterung  der  Zwangsertiehung. 


und  vorsichtigen  (icbrauch  machen  werden.  Diese  Krwartuntj  kann 
aber  nicht  davon  abhalten,  mit  aller  Schärfe  darauf  hinzuweisen, 
welche  neue  Gefahren  des  Mi fs braue hs  der  Amtsgewalt  hier 
vor  unseren  Augen  emporwachsen. 

Gegen  den  Grandgedanken  des  Gesetzentwurfs ,  dafs  man 
Kinder»  die  in  einer  offenbar  demoralisierenden  Umgebung  leben, 
von  Staatsw^^n  und  eventuell  auf  Staatskosten  in  eine  bessere  Um- 
gebung bringen  solle,  wird  nicht  leicht  ein  bedeutender  Einwand 
sich  geltend  machen;  auch  darüber,  dals  zwar  die  Begehung  mancher 
strafbarer  Handlungen,  ünd  die  Art  solcher  Tbaten,  einen  guten 
Erkenntnisgrund  för  das  Vorhandensein  solcher  Gefahr,  aber  keines- 
wegs den  einzigen  möglichen  Erkenntnisgrund  dafür  al^be,  dürfte 
ziemlich  allgemeines  Einverständnis  herrschen. 

Was  aber  starken  und  entschiedenen  Einspruch  herausfordert, 
ist  die  leichte,  oberflächliche,  äufserliche  Art,  in  der  sowohl  im 
RG.B.,  wie  in  diesem  Gesetzentwurfe,  ein  so  schwerwiegendes 
sozaalethisches  Firoblem  behandelt  und  —  keineswegs  gelöst  wird. 
„Das  EG.B.  hat  den  Vormundschaftsrichter  mit  weitgehenden  Be- 
fugnissen ausgestattet;  es  hat  ihn  zum  gesetzlichen  Fürsorger  und 
Beschützer  der  ^finderjährigen  gemacht  und  ihn  zu  dem  tie&ten 
Eingreifen  in  die  elterliche  und  vormundschaftiirhe  Gewalt  zum 
Schutze  des  Minderjährigen  berechtigt  und  verpflichtet"  so  hei(st 
es  in  der  Begründung  dieses  Entwurfes  S.  13.  Ist  denn  aber  auch 
der  durchschnittliche  Vormundschaftsrichter  zur  Ausübung  so  tief* 
gehender  Befugnisse  innerlich  berufen,  kann  er  den  Befähigungs- 
nachweis dafür  bringen?  macht  ihn  seine  normale  Thatigkeitr 
die  Entscheidung  von  Bagatellprozessen,  macht  ihn  auch  nur  seine 
aufserordentliche  Thätigkcit,  die  Ueberwachung  von  vormundschaft- 
lichen \' e  r  m  öge  11  s  V  e  r  w a  1 1  u  n  ge  n ,  sonderlich  ^^a^cignct  und  ge- 
schickt, jene  seelsorgcrische  Thätigkeit  mit  der  hohen  Ein- 
sicht in  die  Thatsachen  und  Bedürfnisse  des  V^olkslebens,  in  die 
Psychologie  des  Kindes,  auszuüben,  die  dafür  erforderlich  ist? 
Ist  das,  was  wir  über  das  Vorleben  des  jungen  Juriston  erfahren,  ist 
die  ganze  Art  seiner  Vorbildung,  seil )St  wenn  er  a  u  s  n  a  h  m  s  w  eise 
mit  erheblichem  Eifer  und  Fleifs  ihr  obliegen  sollte,  danach  an- 
getan, ein  solches  V^ertrauen  in  uns  zu  erwecken?  Diese  hragcn 
situl  von  tlen  Verfassern  des  H.Ci.B.  ohne  Zweifel  nicht  aufgeworfen 
worden;  sie  waren  ja  selber  Juristen,  die  es  verfafsten,  und  durch 
den  Reichstag  ist  aus  unruiinilich  bekannten  Gründen  der  Ent- 
wurf des  B.G.B.  nur  hindurchgejagt  worden.    Wer  aber  des 


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466 


Geset^boag:  pKnfsen. 


Volkswohles  sich  annehmen  will,  darf  an  diesen  Fragen  nicht  vor- 

beij^elicn,  wie  unliebsam,  wie  unbequem  sie  auch  erscheinen  motten. 
Ich  habe  persönlich,  obgleich  ich  alle  jene  Fragen  mehr  oder  minder 
scharf  verneinen  mufs,  gleichwohl  von  einem  recht  grofsen  Teile 
des  deutschen  Kiciiterstandes  eine  hohe  Meinung;  ich  h^e  auch  zu 
diesem  Teile  das  volle  Vertrauen,  dafs  sie  der  moralisch eo 
O  b  e  r  V  o  r  tn  u  n  d  s  c  h  a  f  t  in  allen  Stücken  gewachsen  sind  ;  allerdings 
behaupte  ich ,  dals  d a m  i t  ihre  Kigcnschaft  als  Richter  sehr 
wenig  zu  thun  hat,  dals  diese  befriedigende  Thatsache  vielmehr 
allgemeiii-nicnschlichcn  Qualitäten  verdankt  wird,  die  sie  durch 
Herkunft,  Lrzieiiung,  I.cbcnsrdlcr  und  durch  die  geachtete  Lebens- 
stellung des  höheren  Beamten  besitzen.  Ich  leugne  aber  ganz  und 
gar,  dafs  für  den  D  u  r  c  h  s  c  h  n  i  1 1  der  oft  sehr  jugeiidliciicn  Kin/.cl- 
richter  und  sie  vertretenden  Assessoren  irgendwelche  Garantien 
moralisciur  Art  gegeben  sind,  die  für  den  unzweifclhafien  Mangel 
einer  psychologischen,  .s( )/,ial\vissenschaftlichen,  piiilosopliisclien  \'or- 
bildung  und  ZurUstung  entschädigen  könnten,  welcher  Mangel  ^c- 
rade/u  aU  für  den  jungen  Juristen  charakteristisch  bezeichnet  werden 
darf.  Ich  sehe  dabei  ganz  ab  von  der  nicht  unerhebliciien  Menge 
solcher  Herren,  die  ihrer  ganzen  rersönlichkeit  und  Qualifikation 
n.icli  unter  diesem  Durchschnitte  stehen,  die  durch  moralische 
NiaisLrie,  wo  nicht  gar  durch  hrivolil-U  und  Liederlichkeit  sich  in 
auft'allender  Weise  bemerklich  machen.  ,,Ks  giebt  räudi'je  .Schafe 
in  jedem  Stalle".  Gewils;  aber  man  darf  getrost  sagen,  dals  in  einer 
SO  aristokratischen,  hochbegünstigten  Berufsgruppe,  w  ie  die  Juristen 
darstellen,  die  sogenannten  aristokratischen  Laster  und  die  ebenso 
pseudo-aristokratische  Blasiertheit,  zum  mindesten  aber  der  ethische 
Indififerentismus  und  Stumpfsinn  naturgemäß  viel  stärker  vertreten 
sind,  als  etwa  in  der  an  wissenschaftlicher  Bildung  zumeist  über- 
legenen, aber  weit  minder  begünstigten  Berufsgruppe  der  höheren 
Lehrer  oder  gar  in  dem  immer  noch  volkstümlichsten  gelehrten 
Stande,  dem  der  Geistlichen. 

Von  den  intellektuellen  Vorzügen  oder  Mängeln  der  Richter 
haben  wir  damit  noch  garnicht  einmal  reden  wollen.  „Es  ist  hier 
nicht  der  Ort  zu  untersuchen,  ob  das  Ansehen  der  Rechtspflege  und 
die  Autorität  der  Gerichte  in  der  letzten  Zeit  die  vielfach  behaup- 
tete Verminderung  in  der  That  erfahren  haben;  zweifellos  aber  sind 
manche  der  dahin  gehenden  Behauptungen  gerade  durch  einzelne 
unberechtigter  Weise  verallgemeinerte  Fälle  hervorgerufen,  in  denen 
Ungeschicktheit,  Taktlosigkeit  und  mangelnde  Reife  der  Erfabning 


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Fcrüiuand  TuDuics,  Die  Erweiterung  der  Zwangserzicbuog. 


bei  Richtern  zu  Entscheidungen,  welche  dem  öffentlichen  Rechts* 
geiiihl  nicht  entsprachen  oder  zu  ungerechtfertigter  Belästigung  der 
Rechtsuchenden  gefiihrt  haben."  So  heiist  es  in  einem  ofiizieHen 
Aktenstücke  des  preulsischen  Justizministeriums  aus  dem  Jahre  1S96.') 
Und  in  der  Rede,  womit  der  Justizminister  den  Gesetzentwurf  ein* 
führte,  den  diese  Worte  mitbegründen  sollten,  bekl^  er  die  un- 
günstige  Lage,  in  der  sich  die  Justizverwaltung  dadurch  befinde,  - 
„dafs  das  beste  Material  (aus  dem  Vorbereitungsdienst)  zu  einem  er- 
heblichen Teile  zu  anderen  Verwaltungen,  zu  anderen  Verwendungen 
über<^'cht,  während  das  weniger  hervorragende  Material  der  Justiz 
verbleibt"  ')  L'nd  in  der  Beratiini;  nannte  der  konservative  Ab- 
geordnete Schettler  die  Justiz  „die  Ablagerungsstelle  aller  der- 
jenigen Elemente,  die  in  anderen  V^erwaltungsstellen  nicht  unter- 
kommen können"  und  wollte  „eines  festhalten,  dais  wir  den  Richter- 
stand etwas  purifizieren  müssen  von  den  Elementen,  die  heute  schon 
hineingekommen  sind  und  —  ich  spreche  es  als  Richter  ruhig  offen 
aus  —  überhaupt  nicht  hineingehören."  Und  derselbe  Redner  liefs 
sich  des  weiteren  aus  über  die  Ursachen  des  Umstandcs,  dafs  die 
Kritik  sich  immer  rückhaltloser  an  die  richterlichen  Erkenntnisse 
heranmache  und  des  anderen  Umstandcs,  dafs  die  Furcht,  von  dem 
kleinen  Manne  bis  zum  I  löchst^^cstellten,  so  weit  verbreitet  sei,  aufs 
Cicricht  zu  ^ahcn  . . .  er  fand  <!ic  Ursachen  dieser  Erscheinungen 
in  den  Oualitäton  und  in  der  Art  des  Auftretens  der  Richter.  Der 
ParaL,'raph,  tür  den  dieser  Abgeordnete  mit  dem  Justizminister  ein- 
trat, ist  nicht  Gesetz  geworden,  die  Puritizierung  des  Richterstandes 
hat  nicht  stattgefunden.-  Und  nun  vergleiche  man  einmal  die  hier 
teils  implicierte,  teils  offen  ausge>[.>rochene  Charakteristik  eines  Teils 
des  Richterstandes  mit  denitieiste  des  vorliegenden  ( iesetzentwurfs, 
liei  nit  ht  nur,  wie  schon  das  B.li.H.,  den  .XmtMichter  zumSitten- 
riciiter  macht  (er  hat  über  ehrloses  oder  inisiulh  lu  >  Verhalten 
v*  <\\  X'ati  rii  und  .MüUt  iii  zu  befinden),  sondern  ihm  dir  Macht  giebt 
zu  bewirken,  dals  selbst  das  —  vielleicht  nuilwillig-zu^cllose,  oder 
aber  schwachsinnige  —  Kind  „guter  Leute",  d.  h.  solcher,  an  denen 
der  Sittenrichter  keinen  Makel  finden  kann,  gegen  deren 
Wunsch  und  Willen,  in  die  Gesellschaft  von  Kindern,  die  sich 
schwerer  Verbrechen  schuldig  gemacht  haben,  einer  sogenannten 


')  Anlagen  zu  den  Sicno^^r.iph.  Herichtcn  über  die  Verhandlungen  des  llau:>es 
der  Abgeordneten  1896.    Nr.  9b  (III  S.  1695). 

'}  VerhMidluDg  des  Hawei  der  Abgeordneten  1896  (II  S.  1482). 


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468 


Gesetzgebung :  I'reufscn. 


Besserungsanstalt  überliefert  wird;  mit  anderen  Worten  ein  solches 
Kind  zur  Zwangserziehung  zu  verurteilen,  wie  die  landläufige 
Rede  lautet,  wodurch  diese  bestehende  Zwangserziehung  ihrem  Nameo 
gemäls  bezeichnet  wird  als  das,  was  sie  zum  Teile  auch  ihrem 
Wesen  nach  ist:  eine  Art  des  Strafvollzuges,  ein  Kinder-Zucht- 
haus.') 

Bei  dieser  Kritik  haben  wir  von  den  erweiterten  Beü^nntssea, 
die  der  Polizei  verliehen  werden  sollen,  noch  völlig  abgesehen, 
auch  ist  es  niclit  nötv^,  darauf  einzugehen;  denn  das  liegt  allzusehr 
auf  der  Hand,  dafs  die  königlichen  Landräte  und  die  köni^lichea 
Polizeipräsidenten  bei  ihren  Anträgen  sich  nicht  ausschliefslich  voo 
staatspädagogischen  Gesichtspunkten  werden  leiten  lassen; 
vielmehr  liegen  di«  sc  fast  gänzlich  aufserhalb  ihrer  Sphäre.  Viel 
eher  würde  ich  solche  Gesichtspunkte  und  eine  in  dieser  Beziehung 
strengsachliche  Denkungsart  etwa  von  den  Kreisphysicis  oder 
anderen  Aerzten  erwarten,  die  zumeist  eine  persönliche  An- 
schauung und  Kenntnis,  sehr  oft  ein  lebendiges  Verständnis  der 
sittlichen  und  sozialen  Zustände  besitzen  und  nicht  wie  jene  hohen 
V^erwaltungsbeamten ,  auf  die  nicht  selten  in  charakleristisoher 
Pseudngraphic  gesclirichciicii  l^crichtc  der  Herren  ( Jftizianten  und 
Gensdarnie  aiiL^^ewiescn  sintl,  und  sich  daran  >^fenügen  lassen. 

Aber  die  i^anzc  Wucht  des  Unwillens  uiul  der  Kritik  muls  sich 
nicht  ^v^cn  die  etwanige  Beschaffenheit  der  Hehördcii  richten,  Herrn 
M.iclitbcfugnis  hier  erweitert  werden  soll,  sondern  jgegen  die  Sache 
selbst,  gegen  den  Begriff  der  Z  wa  ngserzi  e  h  vi  n  g.  Den  Be- 
griff, nicht  blofs  den  Xamen,  der  allerdings  für  diesen  Be;::riff  be- 
zeichnend ist,  wenn  auch  sein  eigentlicher  Sinn  ein  anderer  sein 
soll.  Der  Begriff  der  Zwangserziehung,  der  tliatsächlich  iin  Volks- 
bcwulstscin  lebendig  ist,  und  der  auch  durch  den  l  instand,  dals 
nur  noch  der  V'orniundschaftürichter  soll  auf  Zwangserziehung  er* 

')  „Denn  das  versteht  sieb  gux von selbstt  dafs  dieBengcIsin den ZwsBp- 
en^bungsanstalten  die  so  beilsam  wiikenden  Prflgd  bekommen" :  Freth«r  t.  IbotealTd 
bei  Beratung  dieses  Gesetsentwnrfs,  am  ii.  Jannar  1900,  im  prealsiKlieD 
Herrenhause.  Im  stenogr.  Berichte  folgt  dannf«  scbr  charakteristischer  Weise:  (..Sehr 

richtig!  Heiterkeit.")'  —  Die  hcitt-rcn  Herren  hatten  schon  vergessen,  dsf* 
(l.  rsrlben  Sitzung  der  Minister  des  Innern  Kindern  ihres  .Stand'"'*.  '^'^^ 
\'\]':^tTn  nobelster  russionen,  die  Zwangserziehung,  als  Heilmittel  gegen  <5ie-''' 
l'as<iionen,  in  Aussicht  gestellt  hatte.  Dieselben  Herren  haben,  in  der  2.  Lesung 
(38.  März  1900)  den  aller  .^cheu  spottenden  Beschlul«  gefafsl,  solche  Rinder  UM 
Vagabunden  nnd  Prostituierten  in  —  Korrigendenanstalten  Atsamnen  sn  sperren. 


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Ferdinand  Töniiies,  Die  Erweitening  der  Zwangserziehung. 


kennen  köiirtcn ,  in  seinem  Wesen  nicht  verändert  wird,  ist  eben 
der  einer  Strafe:  und  zwar  einer  Botralun^  nicht  des  etwanigen 
ehrlosen  oder  unsittlichen  Erziehers,  sondern  des  verwahrlosten 
oder  der  (lefahr  ausgesetzten  Kindes  selber. 

In  der  Begründung  des  vorlaufigen  Entwurfes  wird  zugestanden : 
dafs  die  im  bestdienden  Gesetze  vorgesehene  Zwangserziehung 
„mehr  unter  dem  Gesichtspunkte  einer  strafrechtlichen  als  einer 
erziehlichen  Malsregel  aufgefalst  wurde"  (§  14);  darin,  und  weil 
nach  gemeinem  Recht  der  infans  nicht  als  strafbar  galt,  habe  es 
gelegen,  dafs  bisher  mit  dem  6.  Lebensjahre  eine  untere  Alters- 
grenze  gezogen  war.  Diese  wird  nunmehr  in  dem  Absätze 
des  Entwurfes,  der  dem  geltenden  Gesetze  entspricht,  beseitigt; 
nicht  beseitigt  wird  darin,  dals  die  Begehung  einer  strafbaren 
Handlung  eine  der  Veranlassungen  zur  Zwangserziehung  geben 
soll.  Es  wird  also  in  dem  Entwürfe  unterstellt,  dafs  auch  infantes 
dafs  selbst  Säuglinge  strafbare  Handlungen  begehen  können:  gewils- 
lich  eine  Errungenschaft  modernster  Gesetzgebungskunst  l  —  Dafs 
„die  Verwahrlosung  eines  Kindes  sehr  häufig  schon  vor  dem 
6.  Jahre  beginnt,  zuerst  die  leibliche  und  geistige,  aus  der  dann  die 
sittliche  erwächst"  (Begr.  S.  14)  wird  kein  Kundiger  leugnen;  für  die 
Erkenntnis  dieser  leiblichen  und  geistigen  Verwahrlosung  wird  aber 
die  Thatsache,  dafs  ein  4 — 5  jähriges  Kind  etwas  thut,  was  sonst 
eine  strafbare  Handlung  heifst,  ziemlich  gleichgültig  sein;  wenn 
z.  B.  ein  derber  Junge  mit  einem  Altersgenossen  sich  prügelt  und 
dem  einige  Kratzwunden  beibringt;  oder  wenn  ein  solches  Kind 
als  Zeitungsträger  „erwerbsthätig"  ist  und  bei  der  Gelegenheit  eine 
Schrippe  aus  dem  Brotbeutel  „stiehlt".  Aus  der  Erwerbsthätigkeit, 
aber  nicht  aus  der  Entwendung,  wird  man  auf  Verwahrlosung 
schliefsen  dürfen;  vielleicht  auch  auf  Verwahrlosung  der  Poli/ei,  die 
diese  Erwerbsthätigkeit  duldet,  die  so  manches  Unschuldige  nicht 
duldet.  Wenn  aber  in  der  Begründung  (a.  a.  O.)  hinzugesetzt  wirtl 
(als  „richtiger  Gedanke";,  ».dafs  dieser  V'erwahrlosung  nur  dann 
erfolgreich  entgegengetreten  werden  kann ,  wenn  das  Kind  recht- 
zeitig in  Zwangserziehung  '^^cnnmmen  wird",  so  fliegt  tlamit  ein 
Postulat  wie  aus  der  Pistole ,  dem  wir  mit  aller  Schärfe  wider- 
sprechen müssen.  Einmal  sind  die  , .Erfolge"  der  Zwangserziehung, 
zumal  der  in  Anstallen  vollzogenen,  oft  sehr  zweifelhafter  Natur; 
manche  dieser  Anstalten  sind  Schulen  spezilisclier  kindlicher  leisten 
Und  sicherlich  wird  ein  strenges  und  durchgeführtes  Verbot  aller 
Kinderarbeit  i>ehr  viel  nützlicher  sein  und  nicht  blols  dem  zufalliger- 


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470 


GesetzgeboDg:  Preo(sea. 


weise  in  lMM"hciniin'^  getretenen  ein/eliicn  l  alle,  >ondcrn  der  Kinder« 
Verwüstung'  j:,'cncrcll  entgegenwirken,   die  so  wesentlich  auf  das 
Conto  des  heutigen  gewerblichen  Lebens  fallt.    In  Charlottenburij 
hatten  •)  von  1026  Kindern  10  im  Alter  von  4  und  5  Jahren  ihre 
lirwerbsthätigkeit  begonnen;  wenn  man  sie  in  Zwangserziehung 
genommen  hätte,  so  wären  vermutlich  10  andere  an  ihre  Stelle  ge- 
treten 1  —  Es  ist  aber  ferner  wie  durch  ein  Vergrofserungsglas  sicht> 
bar,  dafs  jede  Erhöhung  der  Ix>hnsatze,  und  ganz  besonders  die 
Erhöhung  jeder  Art  von  Frauenlöhnen  und  die  Verkürzungen  der 
Arbeitstage  in  unvergleichlich  viel  intensiverer  Weise  sur  Verhütung 
„leiblicher  und  geistiger  Verwahrlosung"  armer  Kinder  wirken  mu(s, 
als  alle  hochnotpeinlichen  Aktionen  der  Herren  Amtsrichter  gegen 
ein  armes  Kind,  das  der  Herr  Landrat  oder  der  Herr  Polizeiinspektor 
wegen  einer  „strafbaren  Handlung"  angezeigt  hat   Wenn  also  der 
preufsischen  Regierung  es  so  bitterlich  ernst  darum  ist,  der  Ver* 
wahrlosung  von  Kindern  entgegenzuarbeiten  ~  wohlan !  fordere  sie 
mit  allen  Mitteln,  neinl  entferne  sie  nur  alle  Hemmnisse  einer 
erfolgreichen  Selbstorganisation  der  Arbeit,  insonders  der  weiblicheD 
Arbeit!  Die  Regierungen  wissen,  daCs  Erziehung  Geld  kostet: 
aus  zahlreichen  offiziellen  Schriftstücken  wird  man  ihnen  nachweisen 
können,  dafs  sie  es  wissen  —  oder  gilt  ihnen  der  Satz  etwa  nur 
für  Beamte  und  Bedienstete ^  während  in  der  Arbeiterklasse  Kr- 
Ziehung  oder  V^erwahrlosung  eine   „rein  sittliche  Frage"  wäre.'I 
Aber  ausdrücklich  wird  in  der  vorliegenden  „Begründung"  anerkannt, 
dafs  aus  der  leiblichen  und  geistigen  Verwahrlosung  „dann  die  sittliche 
erwächst".    Für  wissenschaftlich  denkende  Menschen  folgt  daraus^ 
dafs  man  ,  um  der  sittlichen  X'erwahrlosung  erfolgreich  entg^n- 
zutreten,  den  Ursachen  der  leiblichen  und  geistigen  Verwahr- 
losung nachforschen  und  an  diesen  die  Kur  beginnen  mufs.  Jeder 
praktische  Arzt  weils,  dafs  bei  verwahrlosten  Kindern  sehr  oft  in 
chronisch  leeren  Mägen  oder  in  überreiztem  Nerven-  und  Muskel 
gcwcbe  dci  Sitz  des  Uebcls  steckt.    Soweit  aber  als  Schuld  der 
Kit  er n   vorhanden   ist,    wollen   wir   auch   den    ungemein  hohen 
Wert  nicht  verkennen,   den  eine  rem  moralische  Bcwegun^^,  wie 
die  des  Ck >nd  rem})lar-Ordens,  fin-  das  häusliche  Leben,  und  also 
für  Erziehung  der  Kinder,  gewinnen  kann. 

'1  Niii  h  einer  trlit  bunfj  .-Xjjahd^,  siehr*  dessen  veriüenstv  1!  ■  Arbeit  ,.üu-  Er- 
werbsth.Hti^keit  sdiulpiliohtincr  Kinder  im  Deutschen  Reich*',  Archiv  fiir  sox.  Gesf»- 
gebuQg  etc.  Ud.  Xli  S.  401. 


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Ferdinand  Tönnies,  Die  Erweitcning  der  Zwangseniehmig. 


In  der  That  wird  sicli  Iciclit  der  Beweis  fuhren  lassen,  dafs  die 
guten  Erfolge  sogenannter  Zwangserziehung  in  a  m  i  1  i  e  n  ,  /umal 
auf  dein  Lande,  /um  guten  Teile  an  normal-  oder  sogar  gut-gearteten 
Kindern,  von  denen  ein  kleinerer  Teil  auch  normal-  oder  sogar  gut- 
geartete Eltern  hat  oder  hatte,  erzielt  werden.  Wenn  diese  Er* 
Ziehung  durch  lebende  und  im  geeigneten  Alter  stehende  Pflege- 
eltern Ktndem  zu  TeO  wird,  die  sonst  ganz-  oder  halbverwaist  waren, 
oder  als  uneheliche  von  der  Mutter  allein  oder  von  hätschelnden 
Grofseltem  erzogen  wurden,  so  lafet  sich  immer  präsumieren,  da& 
diese  Art  der  Waisen  pflege  —  denn  um  nichts  anderes  handelt 
es  sich  da  —  wohlthätigc  Folgen  haben  wird;  um  so  mehr,  wenn 
solche  Kinder  aus  der  GroGsstadt  in  den  Dorffrieden  versetzt  werden» 
Nicht  selten  werden  sich  auch  lasterhafte  Neigungen  so  im  Keime 
ersticken  lassen,  wenn  auch  dies  gerade  bei  solchen  Ne^ngen,  die 
spater  zu  Verbrechen  föhren,  ganz  besonderen  Schwierigkeiten 
immer  begegnen  wird.  Hingegen  wirken  grofsstadtische  Um- 
gebungen und  Defektheit  der  Familie  als  ungünstige  Faktoren  zu- 
sanmien,  ganz  abgesehen  von  der  Beschaffenheit'der  Erzieher, 
abgesehen  auch  von  der  materiellen  Not,  die  alle  übrigen  Wir- 
kungen verschlimmert;  abgesehen  endlich  von  individuellen  Anlagen 
des  Kindes,  die  fiir  dessen  Entwicklung,  gerade  in  sittlicher  Hin- 
sicht, doch  zuletzt  eine  entscheidende  Bedeutui^r  haben.  Wenn  man 
also,  in  einem  gegebenen  Falle,  diese  3  inneren  Faktoren  —  dazu 
gehört  auch  die  Xot  als  Element  des  Familienlebens  —  sämtlich 
oder  doch  ihre  Kombination,  als  pemiciös  erkennt,  dann  wird  man 
unter  allen  Umständen  jene  äufseren  Faktoren  dissociieren 
müssen;  und  dies  kann  dadurch  geschehen,  dafs  man  die  ganze 
Familie  oder  dafs  man  das  Kind  allein  in  eine  günstigere  Um- 
gebung bringt ;  jenes  wird  angezeigter  sein,  wenn  die  Anlagen  des 
Kindes  schlecht,  die  Beschaffenheit  des  oder  der  P"rziehcr  relativ 
gut,  dieses  angezeigter,  wenn  d^Ls  entgegengesetzte  X'erhältnis  an- 
getroffen wird.  Ist  endlich  die  materielle  Not  allein  oder  doch 
wesentlich  die  matfnn  pii-mm,  so  wird  im  einzelnen  Palle  eine 
richtig  differenzierende  Armcnptlege  den  Zustand  verbessern  können; 
hingegen  wird  gerade  dann  —  und  der  i  'rill  wird  besonders  oft  vor- 
liegen, wo  „strafbare  Handlungen  ',  nämlich  Bettelei  oder  einfacher 
Dieb.stahl  die  W^ranlassung  zum  Einschreiten  geben  —  die  gewalt- 
same und  auf  Jahre  hinaus  verhängte  l.osreiLsung  des  Kindes  aus 
seiner  Familie  als  eine  unangemessen  schwere,  mithin  ungerechte 
Bestrafung  des  Kindes  empfunden  werden,  unter  der  die  Eltern 


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472 


G«!setigebiiiig:  Frenfsea. 


moralisch  mitleiden,  selbst  wenn  sie  materiell  —  wcnin^stcns  für  den 
Augejiblick  —  entlastet  werden.    Die  ökonomischen  Zustände  der 
Arbeiterfamilie,  zinnal  in  der  breiten  und  tiefen  Schicht  der  Un- 
gelernten, sind  rasciicn  X'erändcrungen  unterworfen;  teils  durch  in- 
divichialc  teils  durch  soziale  Ursachen,  und  durch  die  Komplikationen 
beider,  heben  iiii  l  renken  sie  sich,  mit  ihnen  rej^jelmäfsig  die  Wohl-^ 
fahrt  der  in  ihr  aufwachseiulen  Kinder.    Daher  können  Z.  B.  die 
schlecht  versorgten  Kinder  des  Witwers,  wenn  der  Mann   in  der 
Lage  ist,  eine  r)euc  Khe  einzugchen,  mit  einem  Schlage  sich  der 
besten  Pflege  erfieuen;  denn  es  i^nebt  auch  liebevolle  und  pflicht- 
^etrene  Stiefmütter,    Ks  kann  eine  entsetzliche  1  lärte  darin  liegen, 
wenn  ein  Kind,  das  die  Haushälterin,  weil  der  Mann  nichts  \er- 
diente,   vernachlässigt  und  etwa  zum  Betteln  auso;e.schickt  hat,  als 
verwahrlost  /.ur  Zwangserziehung  verurieilt  wird,  obgleich  der  X'ater 
wciLs,  dais  er  binnen   kurzem  alle  Lebensbedingun.'en  des  Kindes 
hätte  reformieren  können.    Der  Kntwurf  hat  allerdings  solche  Fälle 
vorgesehen,  wenn  er  bestimmt  (i?  lO  Abs.  2):  „In  Ausführung  einer 
eingeleiteten  Zwangserziehung  kann  die  Erziehung  in  der  eigenen 
Familie  des  Zöglings  ...  widerruflich  atigeordnct  werden."  Aber 
mit  keinem  Worte  i.->t  es  l)egründet,  warum  nicht  unter  l'mständen 
von  Anfang  an  eine  befristete  Aufsicht  über  die  häusliche  Er- 
ziehung  genügen   soll.     In   der  Theorie   uL)l  das  X'ornuuidschafts- 
gericht  nach  dem  B.G.B,  eine  solche  Aufsicht  fortwährend;  es  ist 
sogar  verpflichtet,  die  „zur  Abwendung  der  Gefahr"  für  das  geistige 
oder  leibliche  Wohl  des  Kindes  „erforderlichen  Malsregeln  zu  treticn  . 
Was  die  Praxis  daraus  gestaltet,  mrd  die  Er&hrung  lehren.  Die 
ausgesprochene  Tendenz  des  vorliegenden  Entwurfes  ist  es,  die 
Zwangserziehung  nidit  mehr  unter  dem  Gesichtspunkt  einer  straf- 
rechtlichen sondern  einer  erziehlichen  Malsregel  aufzufassen.  Die 
Ma(sregel  wird  als  Ausführung  des  Vormundsctiafbrechts  im  B.G3. 
in  rein  sittlicher  Absicht  gedacht:  es  soU  die  sittliche  Verwahrlosung, 
die  weitere  sittliche  Verwahrlosung,  das  völlige  sittliche  Verderben 
verhütet  werden.  Die  Meinung  ist:  wo  die  Gefahr  am  gröisten,  da 
soll  der  energische  Eingriff  erfolgen,  auf  extreme  Fälle  soll  die 
harte  Mafsregel  beschränkt  bleiben.  Die  Au%abe  ist  damit  gegeben : 
solche  Fälle  richtig  herauszufinden,  und  d.  b.,  da  die  Verwahrlosung 
.  und  sittliches  Verderben  immer  in  Beziehung  zum  Verbrechertum 
gesetzt  werden,  die  Brutstatten  des  Verbrechertums  herauszufinden. 
Die  sichtbaren  Brutstatten  des  Verbrechertums  sind  teils  durch 
Vererbung  von  Eigenschaften,  teils  durch  direkte  und  indirekte 


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Ferdinand  Tönnies,  Die  Erweiterung  der  Zwangserziehung. 


Finfliissc,  die  I'amilieii  und  Wohnstatten  von  V'erbrechcrn,  von 
liederlichen  Weibern,  Zuhältern  u.  dgl.  Es  liefee  sich  der  gene- 
relle Satz  aufstellen,  dafs  solche  Familien  zur  Aufzucht  von 
Kindern  schlechterdings  untauglich  sollen  gehalten,  dals  ihre 
Kinder  vom  6.  Lebensjahre  ab  Staats-  oder  Kommunalkinder  sein 
und  heilsen  sollen.  Der  B^riff  der  Zwangserziehung  als  einer 
gegen  delinquirende  oder  lasterhafte  Kinder  gerichteten  Malsregel 
würde  völlig  verschwinden;  es  würde  sich  um  eine  grundsatzliche 
öflfentliche  Pflegerztehung  fiir  eine  bestimmte  Kategorie  von 
Menschen  handeln.  Das  Recht  der  Erziehung  müfete  der  Straf- 
richter unter  genau  zu  bestimmenden  Voraussetzungen  als  ein 
„menschliches  Ehrenrecht"  aberkennen  können.  Auf  der  anderen 
Seite  wäre  auch  der  undurchführbare  Gesichtspunkt  einer  allen 
unter  ungünstigen  Verhältnissen  lebenden  Kindern  zu  erweisenden 
Wohlthat  nicht  der  leitende  Gesichtspunkt.  Vielmehr  würde  die 
reine  Zweckbestimmung  der  Kriminal'Politik  auf  ihren  eigenen 
Fülsen  stehen,  darauf  ausgehend,  die  Gesellschaft  vor  der  Aus- 
bildung von  Verbrechern,  soweit  sie  nachweislich  die  bezeichnete 
Ursache  hat,  zu  beschützen.  Was  soll  aber  dann,  wenn  die  Gesell- 
schaftsordnung bleibt,  und  nach  wie  vor  Massenarmut  hervorbringt, 
aus  den  anderen  Kindern  werden,  denen  wir  die  Wohlthat  der 
Zwangserziehung  erweisen  wollen?  —  Ich  sage:  die  Sorge  fiir  sie, 
soweit  ihnen  überhaupt  geholfen  werden  soll  und  kann,  gehört 
teils  der  Armen-  teils  der  Waisenpflege  an;  mit  beiden  in  organischer 
Verbindung  müfste  aber  —  wenigstens  in  gröfseren  Städten  — 
eine  besondere  Erziehungsbehörde')  wirken  und  eine  päda- 
gogische Autorität  in  jeder  Familie  geltend  machen  können;  diese 
würde  unter  der  Vormundschaftsbehördc,  also  wo  und  solange  als 
diese  gerichtlich  ist,  unter  dem  Vorniundschaflsrichtcr  stehen,  aber 
so  sehr  als  möglich  selbständig  sich  zu  entwickeln  berufen  sein; 
sie  würde  Zuchtstrafen  zu  verhäiicfon  bcfus^t  sein  und  damit  oft 
die  häusliche  l^rziehung  unterstützen  (xhr  moderieren  können;  sie 
würde  auch  den  Antrag  auf  Entmündigung  der  Eltern,  wenn  sie 

*)  Den  Keim  einer  solchen  bat  das  B.G.B.  von  der  prenfsiscben  Vonmndscbafts* 
Ordnung  als  die  InstiUition  des  „Waiscnrats**  ttbemomincn.  Wenn  dieser  Kdm  ent- 
wickelt werden  soll^  so  verstcbt  sich,  dafs  ans  dem  kommunalen  Ehrenamt  ein  be- 
soldetes und  fachmifsig  zu  besetzendes  Staatsamt  oder  doch  ein  den  ßröfscrcn  Sclbst- 
v»*rwaltun{;-~knrp<*rn  zu  unterstellendes  Amt  gemacht  werden  müisfe.  Ks  ist  bezeichnend 
ftir  diesen  ( leset/eiitwurf.  da  Ts  er  die  im  bestehenden  Gesetze  cntbaltcnen  Befugnisse 
des  Waisenrais  einfach  gestrichen  hat. 

Archiv  für  lof.  Getcugebung  u.  StutistiK.  XV«  3' 


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474 


Gesetzgetnmg:  Preofsen. 


diese  zu  genügender  Erziehung  unfähig  hält,  stellen  dürfen,  und  die 
Entmündigung,  (ur  die,  ebensowohl  wie  itir  Sachen,  bei  denen  es 
sich  um  gröfseren  Geldwert  handelt,  nur  Landgerichte  zustan* 
dig  sein  sollten,  wäre  die  notwendige  priwitrechtliche  X'oraiissctzung 
jeder  zwangsweisen  Trennunj^  der  Kinder  von  den  Eltern ;  diese 
aber  dürfte,  von  der  Erziehungsbehörde  aus,  niemals  anders  als 
in  Form  der  V  ersetzung  in  eine  andere  Familie  ^^eschehen;  während 
die  zwangsweise  \'crset/uni;  in    lu/ielum^'s-  oder  Besserunp^s- )  A  n- 
Stalten  nur  stralrechtlich,  auf  drund  bestimmter  Delikte,  daher 
auf  Grund  ausdrücklicher  strafgesetzlicher  Androhung,  ausfchliefs- 
lieli    ^PL:en   strafmündige   Minderjährige   —   nach  gcltentlem 
Rechte  also  über  zvvölfjährijije,  wenn  dieses  verbessert  sein  wird, 
hoffentlich   nur    j^fep^en  schulentlassene  —    ausj^esprochen  werden 
sollte.    Will  man  diese  Strafe  „Zwani;serziehun<i"  nennen,   sei  es; 
es  wirtl  sicii  auch  nichts  da^'e<^en  einwenden  lassen,  dafs  bestininitc 
Para«;raphen  des  Strafgesetzbuches  aussprechen  :  wer  als  Minderjähriger 
solches  und  solches  X'erbrcchen  begeht,  wirtl  mit  Zwan^^>>er/iehl^v.^ 
bestraft;  eine  Strafe  wäre  die  FreiheitsberaubuiVc:;  für  Knaben  wie 
für  erwaclisi'iio  MtiKchen  immer,   und  dafs  sie  mit  dem  Zwecke 
der  Krziehung  oiler  bes.serui^^  unmittelbar  verbunden  wird,  würde 
sie  j^rinzipiell  nicht  einmal  von  anderen  hreiheitsstrafen,  nach   (K  r 
Auffassung,  die  die^en  thatsächlich  —  wenigstens  theoretisch  — 
witlmet  wird,  unterscheiden;  dieser  Zweck  wvirde  aber  hier,  in  der 
Anwendung   auf  iut^u'ndlirlie  Personen,   weil    mehr  in  den  X'ordei- 
grund  treten,  er  würde  den  Stralvollzu|^^  beherrschen.    Je  mehr 
aber   ilie-^  der  lall    w*ne.   desto  eher   liefsc   >\ch  eine  län<;ere 
Freiheit-„Strafe"  rechllertigen ;  hat  tloch  schon  vor  etwa  lO  Jahren  ein 
Reskript  des  i>reursischen  Justizministers  die  (iericlite  dazu  ange- 
halten, gegen  Jugendliche  Personen,  um  den  Zweck  der  Besserung 
eher  zu  erreichen,  längere  Gefängnis-Strafen  auszusprechen, 
als  sonst  der  Fall  erheischen  würde:  ein  Etngrifif  der  Verwaltung 
in  die  Justiz,  der  um  so  weniger  erspriefslich  war,  da  er  an  der 
Beschaffenheit  der  Gefängnisse,  die  sie  von  Erziehungsanstalten  zu 
ihrem  Nachteil  unterscheidet,  nicht  das  Mindeste  zu  ändern  unter» 
nahm.   Was  wir  also  in  dieser  Hinsicht  fordern,  ist  die  Errichtung 
von  besonderen  Anstalten  zum  pädagogisch  geregelten  Vollzug  von 
Freiheitstrafen  an  jugendlichen  Personen');  dieser  bleibt  aber,  was 


>)  Wie  oft,  wie  lange,  wie  dringend  —  und  wie  vergeblich  ist  dies«  Forvierung 
erhoben  worden! 


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Ferdinand  Tönnies,  Die  Erwcitening  der  Zwangseraebndg. 


er  der  Xatur  der  Sache  nach  ist,  eine  An-^^^elcgcnheit  der  Straf- 
Justiz;  HcLTt  also  aufscrhalb  dieses  C Tcsctzentwurfs.  dessen  „Be- 
gründuiit;"  wir  noch  einer  besonderen  l'rüfuii^  unterwerfen  müssen. 

Die  Begründung  sagt  (S.  8j  das  desetz  vom    13.  März  1878 
habe  sich  nicht  als  ausreichend  erwiesen,  um  der  stetig  wachsenden 
Kriminalität,  Verwahrlosung  und  Verrohung  unter  den  Jugendlichen ') 
zu  wehren.  Mithin  ist  die  Meinung,  ein  neues  Gesetz  herzu- 
stellen, das  diese  Aufgrabe  erfüllen  werde.  Dafs  ein  Gesetz  von 
dieser  Art  solche  Wirkui^en  haben  könne,  wird  also  vorausge- 
setzt. Man  müfste  nun  erwarten :  wenn  eine  ausgedehnte Zwa  1 1  gs 
erziehung  grofse  Wirkungen  in  dieser  Richtung  haben  soll,  so 
müfste   eine   eingeschränkte  Zwangserziehung  entsprechend 
kleinere  Wirkungen  doch  auch  haben,  also  gehabt  haben.  Es 
scheint  aber  die  Meinung,  der  bestehenden  eingeschränkten  Zwangs- 
.  erziehung,  der  vom  i.  Oktober  1878  bis  Ende  März  1899  dreifsig- 
tausendachthundertliinfundachtzig  Kinder   in   Preulsen  unterstellt 
wurden  —  samtlich  in  dem  frühen  Alter  von  weniger  als  12  Jahren 
—  dieser  gar  keine  Wirkungen  zuzuschreiben;  oder  sogar  ihr  un- 
günstige Wirkungen  nachzusagen.  Das  letzte  würde  nun  freilich 
den  Sinn  des  ganzen  Entwurfes  aufheben;  die  üblen  Thatsachen 
werden  daher  insgesamt  auf  die  ungenügende  Ausdehnung  der 
Zwangserziehung  geschoben :  „indem  man,  so  (ahrt  die  Begründung 
fort,  die  verwahrlosten  nicht  verbrecherischen  Jugendlichen  unter 
12  Jahren  und  die  Verwahrlosten  über  12  Jahren  sich  selbst  über- 
liefs  und  gegen  dir  Irt/tenn  nur  strafrechtlich  einschritt,  wenn  sie 
eine  strafbare  Handlung  begangen  hatten  (ofifenbar  ein  g^nz  ver- 
alteter Grundsatz :  nuUa  pofna  sine  le^ie),  *  i  s  t  d  i  e  "  K  r  i  m  in  a  1  i tä t 
der  Jugendl  ichen  in  einer  die  Gesellschaftsordnung 
ernstlich    bedrohenden  Weise  g  e  s  t  i  0    <^  n        Dies  zu  er- 
härten dient  dann  eine  s  t  a  t  i  s  t  i  >  c  h  c  Ausführung. 

,.Nnch  der  Reichskriniinalstatistik  für  i8(>6  (Stat.  DR.  N.  P\  Bd. 
95  I  S.  2S  ff.  sind  Verurteilungen  Jugentllicher  wegen  Verbrechen 
und  Vergehen  gegen  Reiclisgesetze  ergangen 

iSS2  .  .  .  30697 
1896     .     .     .  43962 

*)  In  einer  Staatsschrift  sollte  nicht  ein  Jargon  angewandt  werden:  „die  Jagend- 
lichen** schlechthin  ist  kein  Deutsch;  es  müfste  mindesten!»  heifscn:       .  Verrohung 

jugendlicher  (otl<«r  unmUndifier)  Personen.  Man  kann  jenen  abgckiir/t.  n  Aus.lrurk  an- 
wcmlrn,  im  Vorlauti-  cinor  F.rorterung,  nachdem  durch  den  Zusammenhang  der  Sinn 
jeuskcits  alles  Zweifels  gestellt  worden. 

3»* 


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476 


Gesetzgebung :  l'reuiüen. 


das  bedeutet  eine  Steigerung  um  43,2  Prozent;  im  Jahre  1897  betrug 
die  Zahl  45  327,  die  Steigerung  gegen  1882  47,3  Prozent.  Eine  vor- 
läufige Ermittelung  weist  för  das  Jahr  1898  eine  weitere  Steigerung 
auC')  Aber  nicht  nur  absolut  ist  die  Steigerung,  sondern  auch 
relativ  im  Verhältnis  zur  Bevölkerung.  Auf  lOOooo  Jugendliche 
im  Alter  von  12  bis  18  Jahren  entfielen  im  Jahre  1882  568  Ver- 
urteilungen, 1896  697,  Steigerung  22  Prozent  Diese  Thatsache  ist  um 
so  bedenklicher,  als  das  Anwachsen  der  Kriminalität  bei  den  Er- 
wachsenen in  demselben  Zeitraum  absolut  nur  34,  relativ  nur  16 
Prozent  betrug. 

Die  Kriminalität  also  —  das  ist  der  Sinn  dieser  Ausführung  — 
in  der  Bcf^renzun}:,^,  die  ihr  die  Kriminalstatistik  des  Deutschen 
Reiches  triebt,  ist  ein  unniittclljarrr  Ausdruck  der  sittlichen  Zustände, 
in  dem  \'erstande,  dafs  jede  Vermehrung  jener  „KriminaUtät"  eine 
\'crschlechlcrun<^  der  sittlichen  Zustände  bedeutet.  Diese  Meinung 
ist  durchaus  falsch  und  vöW'ii^  unhaltbar. 

Zunächst  sind  alle  ,Uebertretungen'  des  Reichs-Straf^esetzbuches 
aufser  acht  gelassen ;  innerhalb  dieser  manifestiert  sich  aber  die 
gerade  in  moralstatistischcr  Hinsicht  aufserordentlich  wichtige  Vaga- 
bondage,  an  der  auch  Personen  unter  iH  Jahren  erheblichen  An- 
teil haben.  Es  fehlen  ferner  alle  Vcrt^ohen  i^ef;cn  Landesgesetze: 
dazu  gehören  lihcr  die  für  die  s<>/ialcn  Zustäiide  auf  dem  Lande, 
zumal  in  Gutsbezirken,  überaus  charakteristisciien  heid-  und  Forst- 
dicbstiihle;  el)cnso  wie  diese,  sind  aber  viele  andere  Diebstähle 
moralisch  \t)ii  >ehr  wenig  gravierender  Bedeutung,  im  Vergleiche 
mit  unzähligen  unbestraft  bleibenden  Handlungen.  Dagegen  ist  die 
Kriminahtät  der  Reichsslatistik  bedingt  dureh  die  R  c  i  c  hsg e s e  t  z - 
gebung,  die  immer  neue  Handlungen  unter  Strafe  stellt;  von 
den  1896  verurteilten  Personen  wurden  9024  wegen  X'ergehen  gegen 
Gesetze  verurteilt,  die  1S82  noch  nicht  in  Geltung  waren.'-)  Für 
die  Steigerung  überhaupt  fallen  diese  freilich  wenig  ins  (lewicht,  und 
für  die  jugendlichen  hat  die  Differenz  nocli  weniger  zu  bedeuten ; 
gleich. \  Iii  darf  sie  nicht  ohne  Erwähnung  l)leiben:  exakte  \'cr- 
gleichuiig  kann  nur  nach  .Abzug  dieser  \'ergehen  geschehen.  \"on 
den  übrigen  X'erurtcilungen  haben  die  Bearbeiter  der  iclisstatistik 
von  je  diejenigen  wegen  Verletzung  der  Wehrpflicht  aus- 


Die  Zahl  i>i  47  975  nach  Vicrtcljahrsh.  zur  Statistik  des  Deutschen  Reich» 
1899  IV.  76. 

*)  Stat  des  D«utBchen  Reichs,  Neue  Folge,  Bd.  95  n  8. 


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Ferdinand  Tönnies,  Die  Erweitening  der  Zwangsersiehnng. 


L,'enoinnicn ,  wenn  sie  die  Kiitwicklung  der  Kriminalität  heleiicliten 
wollten ,  neuerdings  nimmt  die  im  Reichsjiistizamt  ausgearbeitete 
i'-riäuterung  auch  die  Vergehen  gegen  die  (Tcwerhconlnimg  hcrnus 
(a.  O.  I  27),  tiimmt  dagegen  auf  den  olu-n  bezeichneten  lüiitluls  lu-ucr 
Gesetze  keine  Rücksicht.  Die  so  gewonnenen  Ziticrn  hat  imscre 
Hcgrüntlung  sich  angeeignet.  In  Wahrheit  sagen  sie  in  ihrer  lie- 
samtheit  für  die  Kntwicklung  wirkHch  verbrecherischer  Ten- 
denzen nichts,  denn  die  darin  enthaltenen  X'erurteilungen  sind 
^  so  aufserordfiitlich  verschiedener  Bedeutung,  dals  sclion  wenn 

Ulf  /uiiahnie  etwa  ganz  auf  die  eine  (die  leichtere  1  Seite  fiele,  bei 
gleichzeitiger  Abnahme  oder  doch  Beharrung  auf  der  anderen  (der 
schwereren)  Seite,  die  Gesamtzunahme  keineswegs  eine  ungünstige, 
sondern  durciiaus  eine  günstige  Entwicklung  bezeichnen  würde;  so- 
weit sie  für  eine  solche  Tendenz  der  Entwicklung  überhaupt 
beweiskräftig  wäre.  Dafs  die  ZitlVm  so  nebeneinander  gestellt, 
nichts  bewei.sen,  hat  der  \'erfas>(,  r  der  Begründung  nicht  erk.iunt; 
dafs  sie  für  sich  allein  nicht  genügen,  hat  er  wenigstens  empfunden. 
Daher  fährt  er  fort:  „Auch  die  Art  der  strafbaren  Handlungen,  an 
denen  die  Jugendlichen  beteiligt  sind,  giebt  zu  den  schwersten  Be- 
denken Antefs.  Während  die  Zahl  der  Verurteilungen  wegen  IMeb- 
stahls  relativ  in  dtesem  Zeiträume  annähernd  gldchgeblieben  ist  — 
auf  100000  Jugendliche  entfielen  344  im  Jahre  1882,  340  im  Jahre 
1896,  ^Abnahme  i  Prozent*^  —  ist  die  Verhältniszahl  der  Ver- 
urteilungen wegen  gefährlicher  Körperverletzung  von  48  auf  t02 — 
Zunahme  von  112,5  Prozent  —  gestiegen;  die  Verurteilungen  wegen 
Sachbeschädigung  haben  sich  um  48  Prozent  vermehrt,  die  Verur- 
teilungen wegen  Nötigung  und  Bedrohung  verdreifacht." 

Diese  Angaben  sollen  erhärten»  dafe  das  preufsische 
Zwangserziehungsgesetz  vom  13.  März  1878  „sich  nicht  als 
ausreichend  erwiesen  hat,  um  der  stetig  wachsenden  Kriminalität, 
Verwahrlosung  und  Verrohung  unter  den  Jugendlichen  zu  wehren". 
Worauf  beziehen  sich  aber  die  Angaben?  auf  das  gesamte 
DeutscheReich!  Eine  seltsame  Methode,  in  der  That  Sie  würde 
allein  genügen,  um  den  Wert  der  ganzen  Begründung  als  zweifelhaft 
erscheinen  zu  lassen,  weil  es  aber  um  ein  amtliches  Schriftstück,  das 
den  gesetzgebenden  Körperscfaafiten  vorgelegt  wird,  sich  handelt, 
widmen  wir  ihm  noch  weitere  kritische  Achtung.  Man  bemerke! 
Der  Gesetzentwurf  ist  dazu  bestimmt,  der  Zwangserziehung  in 
Preufsen  dieselbe  Ausdehnung  zu  geben,  die  sie  in  anderen  Bundes- 
staaten schon  hat.  Dies  wird  ausdrücklich  hervorgehoben  S.  16, 


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^jrS  G«s«tsgebiing :  Preufsen. 

wo  die  Fr.v^'c   erörtert  wird,   wie  .^rofs  in  Zukunft  die  Zahl  der 

prcuisischen  Zwani^s/o^linj^e  sein  werde  einen   Anhalt  dafür 

bieten  die  in  Raden,  Klsafs  Lothrin^jen  und  Hessen  ;^emnrhtcn  Er- 
fahruni^en,  *  t!  e  r  e  ii  seit  et  w  a   I  o  J  a  h  r  e  n  i  n  Wirk  >  a  ni  k  e  i  t 
s  t  e  h  e  n  fl  e    (ic  setze    der    Zwangserziehung  ungefähr 
dieselbe   Ausdehnung   gcj^eben    haben,   wie    im  Ent- 
würfe beabsichtigt  wir  d".  •    Von  der  ausgedehnten  Zwangs 
erziehung  werden  Wirkungen  erwartet .  welche  die  eingeschränkte 
nicht  gehaln    iiabc.    Die   Wukuii;^eii   werden  an  der  Kriminalität 
iugendliclier  l'ersoncn  gemessen.    Nun  fordert  die  Methcide  der  In 
«.lukliun,  d.ils  die  Wirkungen   der  eingeschränkten  niii  ilenen  der 
ausgedehnten   Zwangserziehung  verglichen   werden.     Die  VMr« 
kungen  des  j)reuisischen  (iesetzes  miissen  in  erster  Linie  i  n  Preufsen 
beobachtet  werden,  und  auch  Länder  wie  Baden  und  Hessen  äni 
grok  genug,  um  in  dieser  Beziehung  für  sich  betrachtet  zu  werden, 
zumal  wenn  sie  als  NachbaHänder,  die  in  lebhaftem  Bei'Ölkerungs 
austauscK  stehen ,  zusammengefafst  werden.  Die  in  der  Be- 
gründung vorgeführten  Ziffern  für  das  ganze  Reich  können  uns 
jedenfalls  gar  nichts  helfen.  Nun  hat  freilich  die  Messung  der  jugend- 
lichen Kriminalität  in  den  einzelnen  Bundesstaaten  und  Landestetlen 
ihre  besonderen  Schwierigkeiten.  Die  Entwicklung  der  entsprechen- 
den Altersklassen  in  der  Bevölkerung  kann  nur  von  einer  Volkszählung 
zur  anderen  verfolgt  werden.   „Nach  den  bei  der  1890  er  und  1895  er 
Volkszählung  gemachten  Erfahrungen  stellen  sich  gerade  bezi^idi 
des  Anteiles  der  12  ~i  8  jährigen  an  der  Zusammensetzung  der  Be- 
völkerung zeitweise   ganz  besonders  erhebliche  Verschiebungen 
heraus,  deren  Wirkungen  weder  im  voraus  berücksichtigt,  noch  auch 
nachträglich,  selbst  wenn  wieder  die  Ergebnisse  einer  neuen  Volks- 
zählung vorliegen,  in  entsprechender  Weise  auf  die  einzelnen  Be- 
zirke verteilt  werden  können".')   Das  Statistische  Amt  will  daher 
fortan  nicht  nur  von  jeder  Zerlegung  nach  Staaten  etc.  absehen, 
sondern  auch  vor  allen  Dingen  auf  jede  Vorausberechnung  überhaupt 
verzichten ,  wie  solche  bisher  geschehen  sind.    Es  will  also  die 
früher  berechneten  Relativ-ZifTem  nicht  mehr  vertreten.   Ich  glaube 
nun  freili'  h.  wenn  man  den  sogenannten  Ergebnissen  der  Kriminal 
Statistik  überhaupt  mit  der  gehörigen  Menge  \  on  Skepsis  hegtet 
und  sie  nur  als  Beiträge  zur  Erkenntnis  der  Wirklichkeit  auffafst. 
so  sind  selbst  jene  ungenau  berechneten  Relativ-Ziffern  nicht  ganz 

')  Sut.  de«  Deutschen  Reichs.  Neue  Folge.  Bd.  95  11  6. 


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Ferdinand  Tdnnies,  Die  Erweitemog  der  ZwangsernelMUiK.  ^-j^ 

ohne  Wert.  Die  hier  uns  interessierende  Vergleichung  zwischen 
verschiedenen  Biuidosstaaten  können  wir  wenigstens  auf  folgende 
\\  <  ist-  riTistellen.  Wir  nehmen  je  2  Jahre,  die  sich  um  je  eine 
Volkszählung (1885,  1890.  1895)  <:iruppiercn;  wir  beziehen  den  Durch* 
schnitt  der  wegen  bestimmter  V'erbrcchcn  verurteilten  jugendlichen 
Personen  auf  die  entsprechenden  Altersklassen  dieser  Zählungen.  Dabei 
werden  Baden  und  Hessen  zusammengenommen  (von  Elsass- Lothringen 
sehen  wir  wegen  des  licvölkerungsaustausrhes  mit  Frankreich  ab). 
Ich  sage:  wenn  die  Wirkungen  der  ausgedehnten  Zwangserziehung 
in  der  jugendlichen  Kriminalität  sich  zeigen  sollen ,  so  mufs  die 
Fntwicklung  dieser  in  Baden  und  Hessen  wesentlich  günstiger,  als 
in  IVcurscn  sich  darstellen.  Ks  cr^'chen  sich  aber  folgende  2Lahlen 
für  die  in  der  Begründung  angeführten  Delikte: 

in  Prenfsen  in  Baden  nnd 

Verurt«Mltt*  12—18  Jahre  alt: 

Mittel  der  Jahre  1885  86     .   .  . 

r<-l;Uiv  nr  gleichalterigen  Zivilbe- 
völkerung vom  I.  Dez.  1885 
(auf  Zehntausend) 

Mittel  der  Jabre  1890/91     .    .  . 

relativ  zur  gleichaltrrigen  Zivilbe- 
völkerung vom  I    r)fv.-  1890 
(auf  ZehntauM-ud) 

Mittel  der  Jahre  1S9596.     .     .  . 

relativ  zur  fjleiohalterigcn  Zivilbe- 
völkerung vom  2.  IV-z.  1895  , 
(auf  Zchotauseiiü) 

Man  sieht  (aus  den  Relativ-Ziffem):  sowohl  in  Preulsen  als  in  Baden 
und  Hessen  hat  zwischen  1885/86  und  l89a^t  eine  erhebliche 
Steigerung  stattgefunden,  die  freUich  in  Preufsen  stärker  ist  (34  Pro- 
zent gegen  18  Prozent)  und  sich  hier,  wenn  auch  nur  in  geringem 
Mafse,  bis  95'96  fortgesetzt  hat»  während  in  Baden  und  Hessen  eine 
Abnahme  sich  bemerklich  macht:  dort  eine  Zunahme  um  3,6,  hier 
eine  Abnahme  um  7  Prozent  der  jedesmal  vorausgehenden  Relativ- 
Ziffer. 

(Siehe  die  omstebende  Tabelle.) 

Man  gewahrt,  dafs  in  diesen  3  Delikten  die  Entwicklung  in 
Baden  und  Hessen,  den  Ländern  der  seit  t886  resp.  887  erweiterten 
Zwangserziehung,  weit  ungünstiger  ist,  als  in  Preufsen.  Die 


I.  ni.h-itahl 
(--  cinfaclur  Dich- 
ätahl,  auch  im  wieder- 
holten Rückfalle ;  tmd 
schwerer  Diebstahl, 
auch  im  wiederholten 
Rückfalle). 


Hessen 

93«i5 

«»4,5 

• 

•4*9 

1172 

33.4 

30,« 

13037 

983.5 

34.6 

aS,3 

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GescU^cbimg :  i'rcuf^cn. 


in  Prenfsen 

in  Baden  n.  Hessen 

A 

B 

C 

A 

B 

C 

N'cnirtciltP  12  tns 

LS  Julir  .     .  . 

*oi6,5 

974.5 

S5f5 

ai2 

05.5 

»i»5 

■i9 

tt  — 
0»7 

9»7 

Verurt«-iUc  12  bis 

i8  Jahr  .   .  . 

2681 

1389 

H5.5 

364 

163 

«7.5 

Mittel  i89o;9i 

(auf  Zehntausend) 

r.o 

0,3 

«0.4 

4.0 

0,5 

Vemrteilte  labis 

iS  Jahr  .  .  . 

3489.5 

195.5 

455 

«64.5 

30,5 

Mittel  189596 

(auf  Zehntansend) 

9*0 

4.3 

O.S 

13*1 

4*7 

0^ 

II.  Getiihrliclio 

Korper- 
verletsung  (A). 

Sachbeschädi- 
gnng  (B). 

Nötigung  nnd 
Bedrohung  (Q. 


Steigung  von  1885  86  Iiis  189091  in  A  (gefährlicher  Kor{)crvcr- 
Ictzung,  dem  numerisch  bc<lculcndston  dieser  Delikte i  dort  55, 
hier  18  Prozent,  von  189001  bis  189596  dort  26,  hier  28;  die 
mittlere  Steigung  also  dort  40,5,  hier  23  Prozent.  P^benso  die 
mittlere  Steigung  ni  H  dort  36,  hier  21,5;  in  C  dort  63,  hier  5S 
Prozent. 

Ich  lege  indessen  wenig  oder  gar  kein  Gewicht  auf  diese  Ver- 
mehrung der  Bagatellkriminalität.  Dafs  es  um  diese  insbesondere 
bei  den  angeführten  Vergehen  gegen  die  Person  sich  handelt,  lehrt 
deutlidi  genug,  die  Betrachtung  der  Entwiddtingr  die  in  den  Straf* 
erkenntnissen  stattgehabt  hat  Wegen  „gefahrlicher  Körperverletzung^ 
wurden  von  je  looo  verurteilten  Jugendlichen  zu  Gefängnisstrafen 
verurteilt:  im  Jahre  1889:  705;  dieser  Anteil  hat  sich  fortwährend 
vermindert  bis  auf  536  im  Jahre  1896,  insbesondere  haben  ebenso  die 
Verurteilungen  zu  Gefängnisstrafen  von  3  Monaten  und  darüber  sich 
stetig  vermindert  von  121  auf  109;  dagegen  hat  in  der  gleichen  Zeit 
der  Anteil  der  Geldstrafen  von  247  auf  379,  der  des  »»Verweises" 
von  48  auf  85  zugenommen.  Auf  „Verweis"  darf,  nach  Vorschrift 
des  Strafgesetzbuches,  nur  in  „besonders  leichten  Fällen"  er- 
kannt werden.  Diese  Entwicklung  (sie  ist  ähnlich  beim  einfachen 
Diebstahl,  bei  Unterschlagung,  und  bei  Beleidigung,  wahrscheinlich 
auch  bei  „Nötigung  und  Bedrohung"  der  Jugendlichen),  ^)  zusammen- 


'  I  I'.s  hatulolt  sich  hier  um  Bedrohung,  also  am  blofsc  Schimpfwort«,  in  cn.  85 
Prozent  der  Fälle  bei  Ju^jendliehfn  > ;  mit  Gefängnis  bestraft  wurden  von  1000  im 
J.ihrc  1896  wejjen  beider  Delikte  VcrurteiiteD  nur  559.  Stat.  des  Deutschen  Reichs« 
.Neue  Folge,  Bd.  95,  I.  53. 


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Ferdinand  Tönnies,  Die  Erwciterang  der  Zwangserziebang.  481 


;^a'stellt  mit  der  ;^'kichmär^i}4  wachsende!!  Zahl  <lcr  zur  Abur- 
teilung gclangciKlcn  i'älle,  läfst  keinen  antle!en  Schlufs  zu,  als 
clals  fürt  während  die  Zahl  der  leichtesten  I'^ällc  sich  ver- 
mehrt und  zwar  xerniutlicli  nicht  ihrer  Uet;ehuni^,  sondern  der 
Wriolgung.  Freilich  kann  die  Polizei  —  ii.sonderheit  die 
unserer  (Tiolsstädle  —  bei  wirklichen  Verbrechen,  und  gerade 
bei  schweren  \  irbrcchen ,  ebenso  glänzentler  Mrfolgc  sich  nicht 
rühmen ;  und  dies  zu  erwarten ,  wäre  unbillig.  W  as  aber  die  ge- 
lährliche  Kurperxerlctzung  bctritift,  so  hat  schon  eine  L  iitersuchun'^ 
des  Jahres  1886  festgestellt,  dals  von  den  X'erurteilungen,  die  duich 
preulsische  <  lerichte  ausgesprochen  waren,  nur  li,t  Prozent  wegen 
einer  Sirafthat,  die  mit  einem  Messer  oder  einer  anderen  eigentlichen 
Waffe  verübt  wai',  erfolgten;  dagegen  in  35,0  Prozent  der  Pälle  war 
die  gemeinsame  Ausübung  das  Merkmal  der  ( iefährlichkcit,  die 
Verletzung  selber  also  auch  im  Sinne  des  Gesetzes  eine  leichte. 

Ferner  bt  es  völlig  unrichtig,  diese  Rohetts-Delikte  (um  sie  so 
zu  nennen)  als  charakteristich  (lir  eine  verwahrloste  d.  h.  der 
normalen  Erziehung  entbehrende  Jugend  aufzu&ssen.  Nur  zu  einem 
geringen  Teile,  und  am  ehesten  noch  bei  der  Sachbeschädigung, 
wird  das  zutreffen.  Im  allgemeinen  aber  gilt  der  Satz:  die  ver> 
wahrloste  Jugend  ist  schlecht  genährt,  skrophulös,  schwächlich  und 
arm  an  Mut;  die  zu  Schlägereien  und  dergleichen  geneigte  Jugend 
ist  im  Gegenteil  kräftig  und  dreist.  Jene  ist  überwiegend  ein 
Produkt  der  GroGsstädte,  diese  hat  ihren  natürlichen  Boden  immer 
auf  dem  Lande;  wenn  sie  auch  in  Städten  sich  sehr  bemerklich 
macht,  so  zahle  man  einmal,  wie  viele  dieser  derben  und  üppigen 
Jungen  beiderseits  landgeborene  Eltern  haben,  oder  sogar  selber  noch 
auf  dem  Lande  geboren  sind;  wie  viele  an  der  Mutter  Brust,  und 
wie  lange,  genährt  worden  sind,  u.  dgl.  m.   Ueber  die  leichteren 

')  Stat.  «Ifs  Deutschen  Reichs,  N.ue  Folge  Bd.  30,  II.  10:  „Die  Zunahme  dieser 
Delikte  in  «kn  letzten  Jahren  wird  (in  den  diese  Nachweise  li.-^li  iliinlcn  amtlichen 
F-erichten)  mit  darauf  /.uriickgelührt,  ilaK  <]\,-  st rafverfolgrndi-ii  l'..  h"r(ien  immer  mehr 
auch  auf  «lie  f;.  riii^"  r<'n  Fälle  ihr  Auj^i  timerk  richten  und  >.ie  zur  Ainirtcilunfj  bring'*n; 
feroer  wird  ilaraut  hingewiesen,  dals  der  BegrilT  des  gefahrlichen  Werkzeugs"  bei 
den  Gerichten  eine  alliidttilich  erweiterte  Ausdehnung  erfahren  Iwbe'*.  —  „Diese  Er* 
wägungen  —  so  resamiert  rieh  der  Reichsstatistikcr  —  können  dam  dienen,  den  bc- 
unrahisenden  Eindruck,  welchen  die  Hinfigkeit  md  die  Zunahme  der  „geftbrlichen" 
Körpcrrerletzong  «n  und  ßtr  rieh  nudien  mttssen,  abcascbwichen".  —  Die  geflhr* 
liehen  Körperverletzungen  der  studierenden  Jugend  kommen  nur  xa  einem  Ter* 
schwindenden  Teile  vor  den  Strafrichter. 


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482 


GeseUgebong :  Preufscn. 


Delikte  (iic-><  r  Art  ein  I.amciitc»  zu  erheben,  ist  unweise;  sie  doku- 
mentieren auch  die  norh  vorhandene  ui  u  iichsit^^e  \"olkskraft,  wenn 
sie  j^leieh  solchen  nahe  >tclicn,  die  auf  lirutalc  Ni'i;^un^'en  und  wilde 
Tcnipcramcnlc,  und  mit  solchen  sich  berulnen,  die  auf  Exzesse  der 
Trunkenheit  sich   zurückführen  lassen ,   zu  denen   .solche  Naturen 
wiederum  den  gefahrlichsten  Hang  haben.   In  beiden  Hinsichten, 
einigermafsen  wohl  auch  durch  urwüchsige  Volkskraft,  zeichnen  be- 
kanntlich teils  die  polnischen  Elemente  in  PreuTsen,  teils  die  Ge> 
birgsbcwohner  und  Bewohner  der  Weingegenden  im  ^idliclieo 
Deutschland  sich  aus;  von  denen  jene  (die  Polen)  fortwährend  in 
hervorragender  Weise,  sowohl  durch  Mehrgeburten,  als  durch  Mdw- 
Zuwanderungen  im  Reiche,  und  speziell  in  Preulsen,  sich  vermehren. 
Dafs  durch  diesen  Umstand  die  moralisch  bedenkliche  Seite  der 
Sache  bezeichnet  und  verstärkt  wird,  liegt  auf  der  Hand;  viellekfat 
auch  aufserdem  durch  zunehmenden  Alkohotismus»  indessen  dürfte 
sich  dies  schwerlich  beweisen  lassen.   Gegen  Vermehrung  der 
eigentlichen  kriminellen  Roheit  möchte  ich  auch  hier  anfuhren 
(wie  ich  es  bei  Gelegenheit  der  sogenannten  Zuchthaus- Vorlage  g^ 
than:  Soz.  Praxis  5.  Nov.  X899),  dafs  die  Verurteilungen  wegen 
schwerer  Körperverletzung  und  wegen  Beteiligung  an  Schlägerei, 
die  Tod  oder  schwere  Körperverletzung  zur  Folge  hatte,  nicht 
gestiegen,  relativ  sogar  stark  zurückgegangen  sind.   Dies  gflt  ins- 
besondere auch  inPreufsen  von  der  Beteiligung  Jugendlicher:  die 
ZifTern  für  beide  zusammen  in  den  drei  hier  betrachteten  Bieonial- 
Mitteln  sind  30,  26,5,  27;  die  Relativzahlen  0,09 — ofiJ^OflJ- 
Anderes  bleibt  hier  der  Untersuchung  offen.  —  Ganz  anders  ver- 
hält es  sich  mit  dem  Diebstahl.    Dieser  ist  in  Wahrheit  das  charak- 
teristische Delikt  jugendlicher  Delinquenten  überhaupt,  und  insonders 
der  verwahrlosten  Juj^cnd,   wcnnj^leich   es  auch  hier  in  der 
grofsen  Mehrheit  der  P'ällc  um  höchst  unbedeutende  Vergehungen 
sich  handelt.  Dafs  aber  auf  die  Frequenz  dieser  Vergeh  uneben  herab- 
mindernd wirken  mufs,  wenn  man  eine  c^ro^se  Anzahl  von  hidivi- 
duen,  von  denen  mit  holier  W  ahrscheinlichkeit,  unter  gleichbleibenden 
Umständen,  solche  erwartet  werden,  in  Umstände  bringt,  wodurch 
entweder   die  X'ersuchunj;   stark   herabgesetzt   wird  —  friinstii,^cre 
häusliche  Unistände  —  oder  soi;ar,  wie  in  Anstaltverwahrung,  di^ 
Freiheit  des  Handelns  eingeschränkt  wird,  dies  liegt  auf  der  Hand, 
und  insofern  muls  immer  die  Zwangserziehung  dämpfend  aul  d'^" 
jugendliche,  daher  besonders  auf  die  Dieh<tahls-Kriminalität  wirken. 
Die  tliatsächliclie  Verminderung  dieser  mag  in  der  That  aut  jene, 


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Ferdinand  Tönnies,  Die  Enrdtening  der  /wangseruehimg. 


wenn  auch  schwerlich  aul  sie  allein,  zurückfiihrbar  sein;  und  hier 
könnte  mit  Ri  eht  die  von  mir  ermittelte  Differenz  der  Bewegung 
in  den  \"erurleihmgen  Jugendlicher  /wischen  Preufsen  einerseits, 
Haden  und  I  I e-s.se n  andererseits,   wenn  diese  Hitlercnz  auch  nur  l'C- 

tri 

r\ni[  ist.  /.u  Gunsten  der  erweiterten  Zw.mgscrziehung  ins  [''cid  ge- 
führt werden.  Die  Kmengung  der  Dichstahls-Fre(]uenz  jugend- 
licher l'ersonen  ist  gleichsam  eine  mechanische  Wirkung 
der  Zwangserziehung  überhaupt,  daher  auch  ihrer  Kr  Weiterung; 
dab  auch  diese  dem  Ciesamt -Phänomen  gegenüber  nieiit  viel  zu 
beileuten  hat,  zeigt  der  Krfolg  in  Haden  untl  I  lessen  ofTcnbar.  Die 
moralische  Wirkung  aber  mufste  in  ganz  anderer  Sphäre  gesucht 
werden:  wemi  irgendwo,  so  müfste  sie  in  der  Diebstahls-Kriminali- 
tät Erwachsener  sichtbar  >cin,  zumal  da  diese  erfahrungsiTiäl->ig 
in  den  ersten  Lebensjahieii  di  r  vollen  „Strafmündigkeit"  am  inten- 
siv.sten  ist;  mit  anderen  Worten,  wie  die  Zwangszöglingc  sich  ver- 
halten, nachdem  sie  dem  Zwange  entronnen  sind  und  ihre 
Freiheit  wiedergewonnen  haben,  das  ist  die  wahre  Probe  auf  das 
ExempeL  Ich  habe  mir  daher  die  Mühe  gegeben,  auch  die  relative 
Häufigkeit,  wegen  Diebstahls  Verurteilter,  die  über  i8  Jahre  alt 
waren,  in  Preufsen  einerseits,  Baden  und  Hessen  andererseits,  für 
die  drei  Biennien  zu  ermitteln  und  zu  vei^leichen. 
Das  Ergebnis  ist  folgendes: 

Preufen  Baden  und  Hessen 


Auf  io<x;o  über   18  jährige  Zivil- 

188586 

23,6 

14*4 

einwobn«r  kommen  Verurteilte 

1890 '91 

27,0 

17,6 

wegen  Diebstahb 

189596 

16,7 

24.7 

Die  Steigerung  betrug,  in  der  ersten  Spanne,  in  Preufsen  3,4 
14  Prozent  (der  Anfangsziffer);  in  Baden  und  Hessen  3,2  22 
Prozent  (ebenso);  die  Abnahme  in  der  zweiten  Spanne  dort  2,3 
=  8,5  Prozent;  hier  nur  0,9  =  0,5  Prozent.  Ich  kann  nicht  finden, 
dafs  diese  wesentlich  ungünstigere  Entwicklung  in  Baden 
und  Hessen  zu  Gunsten  der  erweiterten  Zwangserziehung  spricht. 

Die  „Begründung"  giebt  noch  etliche  Ziffern,  aus  denen  er- 
hellen soll,  „wie  wenig  die  strafrechtlichen  Mafsnahmen  geeignet 
sind,  dieser  wachsenden  Krirninalität  * d e r  Jugendlichen'  ent- 
gegen zu  treten".  Insofern  als  die  Kriminalität  überhaupt,  die  der 
Jugendlichen  insbesondere,  ökonomische  und  sittlich-soziale  LVsachen 
hat,  ist  die  Erwartung  von  vornherein  falsch,  sie  mit  strafrechtlichen 
Mafsnahmen  hemmen  zu  können.   Auch  die  Zwangserziehung,  die 


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484 


Gcsetsgebmig:  Fteübmn* 


nur  eine  modifizierte,  meinetw ej^eii  l  ine  verbesserte  strafrechtlicl  c 
Mafsre^a-I  i^i,  wird  >ieh  in  dieser  lluisi  lit  als  ohninäiMitii,^  erwcisoii. 
man  darf  sa*:en,  hat  sich  als  ohiimäcliiiL:  erwiesen.  Die  Arten 
und  Ursachen  der  Kriminalität  >iml  bisiicr  nacii  wissenschaftlich 
nüj^enden  Methoden  nicht  untersucht  worden.  Die  X'erhaadlun^cn 
(.hiruber,  in  Siaat>>chriftcn,  wie  in  rarlamentcn,  sind  dilettantisch. 
—  Die  Be^^ründun^  meint  noch  besonders,  der  Mifserfol^^  des  Strat 
rechtes  sj>reche  sich  ziffernmäfsig  darin  aus,  dafs  der  Rückfall 
unter  den  Jugendlichen  von  Jahr  zu  Jahr  steige.  So  allgemein  auch 
diese  Art  des  Denkens  ist,  so  behaupte  ich  doch,  dafs  ihr  ein 
Urteilsfehler  zu  Grunde  liegt  Bei  gleicher  Häufigkeit  der  Ver- 
urteilungen von  gleicher  moralischer  Bedeutung  (die  hier,  wie  sonst 
in  der  Begründung,  keiner  Rücksicht  gewürdigt  wird)  ist  der  wach* 
sende  Anteil  Vorbestrafter  ein  günstiges  Zeichen  der  Ent- 
wicklung —  dies  der  Satz,  den  ich  aufstelle.  Umgekehrterweise 
würde  die  relative  Vermehrung  der  „frischen  Falle"  ein  ungünstiges 
Zeichen  sein.  Bei  gewissen  epidemischen  Krankheiten  sind  bekannt* 
lieh  Rückfölle  ebenso  die  Regel,  wie  bei  gewissen  Arten  der  Krimi- 
nalität. Der  Hygieniker  muls  und  wird  es  für  wichtiger  halten, 
neue  Infektionen  zu  verhüten,  als  die  neuen  Symptome  einer 
alten  zu  bekämpfen.  Dem  Gesetzgeber  kommt  der  Standpunkt 
des  Hygienikers,  nicht  der  des  praktischen  Arztes  zu ;  der  Stand- 
punkt des  Politikers  und  Ethikers,  nicht  der  des  Seelsorgers.  Die 
Auflassung  des  heutigen  sozialen  Lebens,  die  in  der  uns  vorliegen- 
den „Begründung"  geltend  gemacht  wird, ist  in  der  That  die  des 


^)  „Die  wirtscbafUicbe  und  soiiale  GestaUmis  mueres  Volkslebens  htt  dabin 
gefilkrt,  dafs  jetzt  efai  weit  gröfseter  Teil  der  heranwachsenden  Jugend  den  f«tt«* 
fllgten  Ordnungen  des  Hanscs,  des  Lehr-  und  Dienstverhiltmaaes,  welche  sie  früher 

schützend  umgaben,  entzopcn  wird.  Kaum  der  Schule  entwachsen  gehen  sie  •«t^^lt*- 
stämlij;  ihren  Weg  in  Erwerb  und  Clcnufs;  viele  stürmen  rügellos  iti  das  l.'-brii 
hinein,  die  jugendliche  Kratt  des  Leibes  und  der  Seele  vergeudend.  I  )iiri  Ii  ■^chlcclitc 
(Jesellscliaft  vertlorben  folgen  sie  willenlos  den  eigenen  Tri»-b'  ii  ixler  Ireiiider  Ver- 
führung. Um  ein  oft  gaiu  äinnlu^cs  Begehren  zu  erfüllen,  zu  dem  die  Mittel  febioi. 
wird  ohne  Ueberlcgung  gestohlen,  betrogen,  unterschlagen  und  vor  cineni 

Ranbsafdl 

nicht  znrtlckgeschreckt;  um  die  nngetähmten  geschlechtlichen  Triebe  su  befriedigen, 
werden  skrupellos  die  schwersten  Sittlichkeitsverbrechen  begangen.  Wo  es  sich  am 
eine  Auflehnung  gegen  die  staatliche  Gewalt,  um  Auflauf  oder  Aufruhr  handelt, 
stellen  m.  ist  die  halbwüchsigen  Burschen  daxu  das  gröfste  Kontingent,  die  gcwalt- 
thätigsten  Angreifer."  Sollen  also  diese  halbwüchsigen  Burschen  sämtlidi  «i''"'' 
Zwangserziehung;  gestellt  werden?  —  Die  leUten  Sätze  machen  übrigens  erst  »ieot- 


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Entwurf  eines  GeseUes  über  Zwangserziehung  Minderjähriger. 


485 


Sit;(  n]trc(lii.fcrs  und  entlüfteten  Staatsbürgers,  nicht  die  des  Soziologen 

und  l'Dlitikcrs. 

Ich  für  nieinc  Person  bin  weil  davon  entfernt,  einem  sogen. 
Optimismus  inbezug  auf  die  Erscheinungen  und  Entwicklungs- 
tendenzen des  heutigen  sozialen  Lebens  zu  huldigen.  Aber  je  mehr 
ich  diese  mit  Ernst  und  tiefen  Bedenken  anschaue,  desto  mehr 
mufs  ich  davor  warnen  und  dagegen  Einspruch  erheben,  dafs  man 
sie  mit  Deklamationen  ankla^  und  mit  illusorischen  und  zugleich 
gefährlichen  Mitteln  verkleistert  oder  unter  die  Oberflache  zurück- 
treibt  Das  Gelegenheitsgesetzemachen,  wovon  wir  eben  mit 
Schaudern  die  Beispiele  erlebt  haben,  ist  selber  eines  der  Übelsten 
Zeichen  des  Verfalles  geistig-sittlicher  Kräfte,  ein  Ausfluls  ohnmäch- 
tiger  Verzweiflung.  Ich  weils  wohl,  dais  die  Ausdehnung  der 
Zwangserziehung  nicht  in  diese  Kategorie  gehört.  Aber  in  den 
Motiven  der  Denkungsart,  die  ihr  zu  Grunde  liegt,  ist  sie  von 
gleicher  Art  Man  wUl  die  kapitalistisch  zersetzte  Gesellschaft  gern 
von  gewissen  auffallenden  Flecken  befreien.  Aber,  wie  die  in  den 
Zeitungen  annoncierenden  HeilgehUfen:  brieflich,  ohne  jede  Aende- 
rung  der  Lebensweise. 

Im  folgenden  geben  wir  den  Wortlaut  des  Entwürfe  eines  Ge- 
setzes über  die  Zwangserziehung  Minderjähriger: 

Entwurf  einof  OMetsM  Qb«r  Zwangseniahung  Miiid«rjiUiffiger. 

Auf  Grand  der  AUerhöcfaatcn  Ordre  Tom  8.  Jamuur  1900  u  dem  selben  Tag  dem 
Herrenhaus  durch  den  Minister  des  Imicm  vorgelcgL 

Wir  Wilhalm,  Ton  Gottes  Gnaden  Kdnig  von  Prenlken  etc.  Terordnen,  mit 
Zustimmong  beider  Häuser  des  Lahdtags  für  den  Umfing  der  Monarehie,  was  folgt: 
§  t.  Zwangseniehong  im  ^nne  dieses  Geseties  ist  die  Ernebnng  verwahr'* 

lo!>tcr  oder  der  Verwahrlosung;  ausgesetltcr  Mindeijihriger  unter  üfTentlicher  Aufsidit 
und  auf  öffentliche  Kosten  in  einer  geeigneten  Familie  oder  in  dner  Eraiebong»* 
oder  Bci»serunganstalt. 

i;  2.  Der  ZwanKS4T/ Irl  Ulli;,'  kann  überwiesen  werden  ein  Minderjähriger, 
Welcher  das  18.  Lebensjahr  nuch  nicht  vollendet  hat,  wenn 

1.  die  Voraussetzungen  des  §  1666  oder  des  §  1838  des  Bürgerlichen  Gesetx» 
bvcbs  vorliegen  and  die  Zwangsenidbong  erforderlich  ist,  tun  die  sittlidie 
Verwahrlommg  des  lUndeijibrigen  m  vcrbttlen; 

2.  wenn  der  Minderjihrige  eine  strafbare  Handhmg  begangen  bat,  wegen 
der  er  in  Anbetnebt  seines  jagendUchen  Alters  stmfrechtlidi  nicht  verfolgt 

lieh,  (l.us  auch  mit  den  ersten  aussrhliefslich  die  Jagend  der  Arbeiterklasse,  nidkt 
etwa  .Studenten  und  junge  Oflixierc  gemeint  sind. 


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4S6 


(jcs.ct/.gcbung :  Prcul'scn. 


werden  kann,  nnd  die  Zwanfj^seniehoag  nit  Rücksicht  auf  die  Beschaffen- 
heit der  Handlung,  die  Persönlichkeit  der  Eltern  oder  MMUtj^en  Erzieher 

und  die  Übrigen  I.rbrnsvcrliältnisse  zur  Verhütung  weiterer  rittlicher  Ver> 
wahrlosmi);  des  Minderjährigen  erforderlich  ut; 
3.  Wenn  die  ZwanpscrTiiihunp  aufser  di^-sen  Fällen  wepcn  L'nzulänj,'lichkrit 
ilcr  «r/.uliliihin  r.inwirkun^;  der  Klt'-rn   i>d.  r  ^ntisti;:cn  Erzieher  oilcr  «irr 
Schule  zur  Verhiit\inp  des  volligen  sittlichen  \  erderben*  notwendig  i>t. 
§  3.    Die  Unterbringung  zur  Zwangscrziehuui;  erlolgt,  luubdcm  das  \  ormuiid- 
schaftsgericht  durch  Bcschlufs  daa  Vorhandensein  der  Voranssetntngen  des  §  2  anter 
Bezeichnung  der  fttr  erwiesen  eradttetcn  TfaaUachen  festgestellt  und  die  Unter» 
bringang  angeordnet  hat. 

{$  4.  Das  Vormondschaft^ericht  beschliefst  von  Amtswegen  oder  aof  Antrag. 
Zur  Stellung  des  Antrages  ist  der  I.andrat  (in  den  Mohen/.üllcmschcn  Landen  der 
Oberamtmanni,  in  Stadtkreisen  .h  r  Magistrat  und  der  Vorstand  der  Königlichen 
Poli/eiverwaltung  herechti^'t  und  Mr]itlicVitet. 

\'or  der  l'.r-sehlLilst.issung  soll  das  V  unnundscliaftsgericht,  soweit  dies  ohne  er- 
hebliclie  Sehwicrigkeil  geschclieo  kann,  die  Eltern,  den  gesetzlichen  Vertreter  de» 
Minderjährigen  und  in  allen  Fallen  den  Gemeindevorstand,  den  znstSndigen  Gcii«« 
liehen  und  den  Leiter  oder  Lehrer  der  Schule,  welche  der  MlndetjKlirige  t>esiicht 
oder  zuletzt  besucht  hat,  hören.  Auch  hat,  wenn  die  Bcschlufsfassnng  nicht  anf  An- 
trag erfolgt,  das  Vormundschaftsgericht  zuvor  dem  Landrate  (Oberamtmann,  Magistrate, 
Polizeibehörde)  unter  Mitteilung  der  Akten  Gelegenheit  m  einer  Aeufserang  zu  gehen. 

Der  Beschlufs  ist  dem  gesetzlichen  Vertreter  des  Minderjährigen,  diesem  selbst 
wenn  er  «las  vierzehnte  l,el)en>iahr  vollendet  hat,  dem  l.andrafe  '  >l>eramtmaiin, 
M  1  Mstratc,  Fuliicibehordc)  und  dciu  vcrptlicbtctcu  Koromunalverbaudc  14)  zuzu- 
stellen. 

Gegen  den  Beschlufs  6ndet  die  sofortige  Beschwerde  statt.  Die  Beschwerde 
hat  aufschiebende  Wirkung. 

§  5.  Bei  Gefahr  im  Verzuge  kam  das  Vormmdsdiaftsgericht  eine  TorlSnfige 
Unterbringung  des  Minderjährigen  anordnen.  —  Die  Polizeibehörde  des  Aufenthalts» 
Ortes  hat  in  diesem  Falle  Ar  die  Unterbringui^  des  MindeijSbrigen  in  einer  Anstalt 
oder  in  einer  geeigneten  Familie  zu  sorgen.  — 

l)ie  daraus  erwachsenden  Kosten  fallen,  sofern  die  Leberweisung  zur  Zwangs- 
erziehung demn.irhst  end;,'tiltig  angeordnet  wird,  dem  verpflichteten  Kommunal- 
verbande andefenlalK  demjenigen  zur  Last,  welcher  die  Kosten  der  i  rtliclten 
I'olizeiveru  ahung  zu  tragen  hat.  Die  roli/.eibehorUc  hat  in  allen  tällen  die  durch 
die  vurläutigc  Unterbringung  entstehenden  Kosten  vorznschiefsen. 

§  6.  Hat  die  in  $  4  angeordnete  Anhörung  der  Eltern  oder  des  gesetzlichen 
Vertreter»  nicht  stattfinden  können,  so  sind  dieselben  berechtigt,  die  Wiederanfhahme 
des  Verfahrens  zu  verlangen. 

§  7,  Soweit  nicht  in  diesem  Gesetze  ein  anderes  hcstin^mt,  finden  anf  das 
gt-richtliche  Verfaliien  die  allgemeinen  Vorschriften  über  die  durch  Landesgesetz  den 
ordentli(-hen  Gerichten  übertragenen  Angelegenheiten  der  freiwilligen  Gerichtsbarkeit 
Anwendung. 


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Entwurf  eines  GeseUes  üb«r  Zwangserziehung  Minderjähriger. 

§  8,  Die  gerichtliehen  Verhaodliiiigcn  üad  gcbObren-  und  stempdfn»;  die 
bwren  Aoslagen  fallen  der  Staatilcuse  sv  Last  Vertrilge  ttber  die  Unterforingtmg 
von  Zwangsiögliiigen  tlnd  ebenfall»  stempdfrei. 

§  9.  Die  Aiuftthrang  der  Zwangserziehung  liegt  d>-m  v<  rpHichtetcn  Kommunal' 
verbandi-  ob  (jj  I4;;  er  cntschcidrt  darüber,  in  welcher  Weise  di-r  Zugling  unter- 
^'ebrarht  werden  soll.  Die  [£inliefenuig  der  Zöglinge  hat  durch  die  PoUaeibebörde 
des  Aul'  ntli.iltsortev  tm  erf(dj;;cn. 

jj  10.  i>if  L  iu<  ri>rin}^ung  der  Zöglinge  darf  niclil  in  einem  Arl)citshau.>e  oder 
Landarmenhause  ertoigen,  in  Anstalten,  welche  für  Kranke,  Gebrechliche,  Idiote, 
Taubatumme  und  Blinde  bestimmt  sind,  mr  insoweit  nnd  10  lange,  als  der  körper- 
liehe  oder  geistige  Zustand  des  Zöglings  dies  erfordert. 

In  Ausführung  einer  eingeleiteten  Zwangserziehung  kann  die  Erziehung  in  der 
eigenen  Familie  des  Zöglings  unter  Aufsicht  des  Konnnunalverbnndes  widerruflich 
angeordnet  werden, 

jt  II.  Für  jcdt-n  in  einer  Familie  unterjjebrachten  Ziigling  ist  von  dem  Kom- 
mvinalvrrbiindc  »  in«-  jjt  ri^^ncte  I'"iir>orf,'«'  zur  Urlx-rw  ichunf^  der  Krzirhunj;  und  Pllcgc 
des  Zugling»»  an/uordiicu.    Die  Fürsorge  kann  aucli  FraiiLii  tibcrt ragen  werden. 

12.  Auf  Antrag  dcü  verptlichtcteu  Kommunalverbandt-s  kann,  unbeschadet 
der  Vorschriften  des  Art.  78  §  1  des  AusAÜirungsgcsets  zum  Bürgerlichen  Gesetz» 
buche,  der  Vorstand  einer  unter  staatlicher  Aufsicht  stehenden  Erziehungsanstalt  Tor 
den  nach  §  1776  des  Bfirgerlichen  Gesetzbuchs  als  Vormfinder  berufenen  Personen 
zum  Vormunde  der  auf  Grund  der  §§  j  ff.  in  der  Anstalt  untergebrachten  Zöglinge 
bestellt  werden. 

Das  Gleiche  gilt  für  Zöglinge,  die  unter  der  Aufsicht  des  Vorstamles  der  An- 
stalt in  einer  \nn  ihm  ausgewählten  Familie  er/i)}^<  n  werden ;  liegt  dii  l'eaulsirhtigung 
der  /.  •;;lin;^e  einein  von  dem  ver pniehte'.-n  Koininnnalverli;»nde  b<-^ti  illen  Beamten 
ob,  so  kann  dieser  aut  Antr.ag  des  komniunaUerbandes  statt  des  Vorstandes  der  An- 
stalt zum  Vormunde  bestellt  werden. 

Neben  dem  nach  den  Vorschriften  der  Abs.  i,  a  bestellten  Vormunde  »t  ein 
Gegenvormund  nicht  zu  bestellen.  Dem  Vormunde  stehen  die  nach  §  1853  des 
Bürgerlichen  Gesetzbuchs  snISssigen  Befreiungen  zu. 

§  13.  Die  Aufhebung  der  Zwangserstebnng  erfolgt  durch  Beschlufs  des  Kom- 
munalverbandes von  Amtswegen  oder  auf  Antrag  der  Kltem  oder  des  gesetzlichen 
Vertreters  des  Minderjährigen,  wenn  der  Zweck  der  Zwangserziehun*:  errei(  lit  «Mier 
die  Frreic!itinf^  des  Zweckes  anderweit  sichergestellt  isL  üic  Aufhebung  kann  unter 
Vorbehalt  des  Widerruf-«  beschlo>sen  wertien. 

Gegen  den  ablelmendcu  Beschlufs  des  Kommunalverbandcs  kann  der  Antrag- 
steller binnen  einer  Frist  von  zwei  Wochen  vom  Tage  der  Zustellung  ab  die  Ent- 
scheidung des  Vormundschaftsgerichts  anrufen.  Gegen  den  Beschlufs  des  Vormund- 
Schaftsgerichts  findet  die  Beschwerde  statt.  Die  Beschwerde  des  Kommnnalverbandes 
hat  aufschiebende  Wirkung. 

Ein  abgewiesener  Antrag  darf  vor  Ablauf  von  sechs  Monaten  nicht  emeneit 
werden. 

§  14.    Die  Provtnzial  verbände,  in  der  Provinz  Hessen -Nassau  die  Bezirks- 


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488 


Gesetzgebung:  Preufscn. 


verbälule  der  Rcgirrunghbozirke  Wiesbaden  und  Kusel,  der  Lancnborgisdie  Landcs- 
komimmalverband,  der  LandeskommitiMlverbMid  der  Hohensollenisdieii  Lande,  sowie 
der  Stadtkreis  Berlin  sind  Tcrpfliditet,  die  Untetbringnng  der  dordi  Beschlafs  des 
VormundscfaaAsgerichts  zur  Zwangsenneliiin;  flberwicseiien  Hiadeiillirigen  in  einer 
d«-n  Vorsrliriftrn  di<>«  s  r.csetse«  entsprecbesdcn  Weite  m  bewürfcen.  Sie  baben  für 
die  Errichtung  von  1  r/.irliuncs-  und  Pt>ssfninjisanstalt«*n  zu  sorgen,  soweit  o«;  an  Ge- 
l<"Pfnluit  It  hlt,  <lif  /'>^linj;»'  in  ^'rripti<-t<  ti  Familien,  sowie  in  ufTrntlichrn.  kirchlichen 
oder  ]irivaU-n  Anstulti-n  iinterzubrinfjcn ;  auc  h  soweit  nötig  für  ein  angemessene^ 
Intcrkummcn  nach  Ht  oiidi^ung  der  Zwaußscr/.ichung  zu  !>orgen. 

Zur  Unterbringung  verpflichtet  ist  derjenige  Xonmaittlvefbaiid,  in  dessen  Ge> 
biete  der  Ort  liegt,  als  dessen  Vornnindsdiaftsgericht  das  Gericht  Beacblols  ge» 
fafst  hat. 

§  15.   Die  Kosten,  welche  dorch  Einliefenmg  in  die  Familie  oder  Anstalt  und 

die  dabei  nötige  reglemcntsmifsige  cr>to  Ausstattung  des  Zöglings  und  durch  die 
Rückreise  des  Entlassenen  erwachsen,  fallen  dem  Ortsarnienver1>a!i'!.-.  in  welchem 
d.  r  /■  ^:linf;  seinen  Unterstützuni'swohnsitz  hat,  alle  übrigen  Kosten  des  Unterhalts 
und  ilcr  i'>/.iehung  sowie  der  Fürsorge  bei  der  Beendigung  der  Zwangserziehung  den 
Komniunalverbiinden  zur  Fast. 

Letztere  erhalten  dazu  aus  der  Staatskasse  einen  Znscbufs  in  der  Höhe  der 
Hälfte  dieser  Ausgaben,  dessen  Betrag  entweder  im  EinverstSndnisse  mit  den  ein« 
«einen  Kommanalverbünden  periodisch  als  Bansdismume  oder,  aowdt  ein  Eiaver- 
stSndnis  nicht  erreicht  ist,  jShrlidi  auf  Liquidation  der  im  Vorjahre  anfeewendeten 
Kosten  vom  Minister  des  Innern  festgestellt  wird. 

§  16.  Die  Kommunalverbiinde  sind  berechtigt,  die  Erstattung  der  Kosten  des 
Unterhalts  eines  /'»glings  während  der  Zwangserziehung  von  diesem  seihst  und,  so- 
weit dies  nicht  möglich  ist,   von  den  zu  seinem  I  ntt-rhult  Verpflichtete  n  /u  fordern. 

Für  die  Frstattuiic^Torderung  >iTid  Tarife  zu  ( Jrunde  zu  legen,  welche  von  dem 
Minister  des  Innern  nach  Aui»<«rung  der  Konnnunalverbände  festgesetzt  werden. 
Die  Kosten  der  allgemeinen  Verwaltung  der  Zwangserziehung,  des  Baues  und  der 
Unterhaltung  der  von  den  Kommnnalverbinden  errichteten  Anstalten  bleiben  hierbei 
anfser  Ansatz.  Wird  gegen  die  Erstattungsforderung  Widersprach  erhoben,  so  be- 
schliefst darttber  auf  Antrag  des  Kommunalverbandes  der  Kreisanssdiufs  (Amtsnna» 
schttfs),  in  Stadtkreisen  der  Siadtausschuf-.  Der  Beschlufs  ist  vorbehaltlich  des 
ordentlichen  Rechtsweges  endgiütig.  Die  Hälfte  der  von  den  Erstattni^spflicbtigcn 
eingesogenen  neträge  ist  auf  <1 -ii  P<i(r.xg  des  Staats  anzurechnen. 

§  17.  I  )ie  Kommunalvcrbäm!''  luibi-n  liir  die  Aiisluhrung  der  7wangserziehunc 
und  lur  die  Verwaltung  der  von  ihnen  errichteten  Erziehuugs-  unti  Besäcrungs- 
anstalten  Reglements  zu  erlassen. 

Dieselben  bedürfen  der  Genehmigung  der  Minister  des  Innern  und  der  geist- 
lichen, Unterrichts-  und  Medizinalangelegenheiten  inbetreff  derjenigen  Bestimmungen, 
welche  sich  auf  die  Aufnahme,  die  Behandlung,  den  Unterricht  und  die  Entlassung 
der  Zöglinge  beziehen. 

Inbetreff  der  Privatanstalten  bebfilt  es  bei  den  bestehenden  Vorschriften  sdn 
Bewenden. 


Entwurf  emes  Gesetxet  Aber  Zmacseniebitiig  Ifindcijihriger.  489 

^  18.  Die  gcscUlichcn  Bestimmungen  übrr  dif  relipiösc  Krzichuiip  der  Kinder 
linden  auch  auf  die  in  diesem  GeseUc  },'oordinte  Zwangserziehung  Anwendung. 

^  19.  Wenn  scbnlpflicbtige  Zwaughzugliuge  d«r  SITcndkheB  VoUutcbnle  ohne 
erb«blklie  sittlicbe  G«i2bfdang  der  Übrigen  die  Scbnle  besodiendcn  Kinder  nicht 
sngewiesen  werden  können,  so  hat  der  KonunanalTerbuid  dafür  sn  sorgen]  dafs 
dieten  Zwangwöglingen  wibrend  des  sdralpilicbtigen  Alters  der  erforderliehe  Sdml- 
unterricht  anderweitig  zu  Teü  wird.  Im  Streit£slle  entscheidet  über  die  vorliegende 
Frage  der  Oberpräsident. 

j*  .20.  Die  zustiindiijen  staatlichen  .\ufsichlsbehurden  der  Koinmunalvcrb.Hnde 
und  in  liuhercr  Instanz  der  .Minister  des  Innern  haben  die  Oberaufsicht  über  die  zur 
Uuterbringtmg  von  Zöglingen  gctrofFenen  Veranstaltungen  zu  fuhren;  sie  sind  befugt, 
zu  diesem  Behufe  Revisionen  vorzunehmen. 

$  ai.  Wer,  abgesehen  von  den  Füllen  der  §§  lao,  335  des  Stimfgewtibachs, 
es  unteminnnt,  einen  tfindeijübrigen,  gegen  den  die  Zwangienielmng  eingeleitet  ist, 
dieser  za  entziehen,  oder  ihn  an  verleiten,  sich  der  Zwangsenidning  an  entiidien, 
oder  wer  ihm  hierzu  vorsätzlich  behülflich  ist,  wird  mit  Gefängnis  bis  zu  zwei 
Jahren  und  mit  Geldstrafe  bis  F.intausend  Mark  oder  mit  einer  dieser  Strafen  bestraft, 
22.    Oer  Minister  des  Innern-  ist  mit  der  Ausführung  dieses  Gesetzes  be> 

auftragt. 

g  23.    Dieses  Gesetz  tritt  mit  dem   .  in  Kraft. 

Mit  dem  gleichen  Zeitpunkte  wird  das  Gesetz  vom  13.  März  1878,  betrelTend 
die  Unterbringung  verwahrloster  Kinder,  anfgehobcn. 

Beglaubigt 

Der  Minister  des  Innern. 
Freiherr  von  Rheinbaben. 


Archiv  fiir  wttt.  G««eugebui>g  u.  Sutittik.  XV.  3' 


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MISZKLLKN. 


Die  Statistik  der  Unfall-,  Alters-  und  Invaliditäts- 
versicherung im  Deutschen  Reich 
für  das  Jahr  1897. 

Von 

Dr.  ERNS  r  LANGE, 

in  Berlin. 

Die  folgenden  Mitteilungen  bilden  die  FortBCtsung  der  in  den  früheren 
Jahrgängen  des  Archivs  enthaltenen  Abhandlungen  über  die  Statistik  der 
deutsi  hcn  Arbeiterversicherung:  Bd.  II  S.  639,  IV  S.  531,  \'  S.  677, 
VI  ij.  566,  VII  S.  694,  IX  S.  228,  X  S.  774.  XI  S.  474  und  XII  S.  551. 

Die  wichtigsten  Quellen  der  Darstellung  sind:  die  „Nachweisung- 
uber die  ge!>amteD  Rechnuugscrgebnissc  der  Berufsgenossenschafteu  u.  s.  w. 
fttr  das  Jahr  1897"  und  die  „Nachweisung  der  Geschäfts-  und  Rechnungs* 
ergebnisse  der  auf  Grund  des  Invaliditäts-  und  Altexsversicheningsgesetzes 
errichteten  Versicherungsanstalten  für  das  Jahr  1897**  hi  Nr.  i  des 
XV.  Jahrgangs  (1899 1  der  ,,Aintli  hen  Xarhrichten  des  Reichs-Ver* 
sicherungsamts",  sowie  die  entsprechenden  Fubliluitionen  aus  den  vorher- 
gehenden Jahren. 

I.  Unfallversicherung. 

I.  Organisation,  l-ür  das  Jahr  1S97  vervollständigt,  giebt  unsere 
frühere  Zubainnicubicilung  luigcades  Bild: 

Gewerbliche 


1S88  l88y  1890  1S91  1892  1893  '^94  iSgy 
Berufsgenossenschaften  6464646464646464  64  65 
Sekrionen  366     365     358     358     358     358     3$8     358      358  358 


Mitt:lif(l.  r(l.  rii-noss<-n 
s<'ha)?>.vorstatul<-'  . 

Mif^lH-ttcr  d.  .Sektion» 
vorstKode  .    .  . 

Vemrancasin&raier  . 


740     737     73»     734     73^     73»     74»      74»      74a  747 

a045  »009  1988  1987  1990  1989  »987  199a  1995  1996 
73«>  8097   7498  7638  76$a  7739   7720    7731    7674  7861 


L,y  Googl 


Ernst  Lange,  Statistik  d.  UnCaUversicbcning  etc.  im  Deuuclicn  Reich  1S97. 


Gcwerblidie 

tSSS    ib89    1890            iS9a    11(93  1894  1895  1896  1S97 

AngesL  beioldete  Be- 
auftragte ....     1^4     IS»     146    163     1S7     168  ao5  198  aoi  att 

Schiedsgerichte  .   .   .     414     413     411     409     404     409  409  409  409  415 

Arbeiterveitreter    .   .   2951    a&36   2SS7   2837   2788   2784  3729  2780  2954  2966 

1888     1889     1890     1891     1893     1893     1894     1895     1896  1897 

Beruftgenossenschaften  aa  48  48  48  48  48  48  48  48  48 

^''^tyor^.n  549  552  553  555  556  556  $$6  556  559  56I 

Mitglieder  d.  Cienosscn- 

schaftsvorstände  .    .  189  352  352  352  353  354  354  355  355  355 

Mitglieder  d.  Sektions- 

vorstände  ....  3229  325 1  3256  3260  3268  32A6  3266  3267  3256  3258 

Vertraurnsm-inner       .  8016  13324  1422$  I5157  155*5  »SSW  »5739  >S7W  »745«  «759» 

Angest.  hesoldelc  Be- 
auftragte   ....  1  5  2  2  I  2  4  4  4  3 

Schiedsgerichte  ...  559  588  589  591  593  593  593  593  59^  «Ol 

Arbeitenreitrcter    .   .  960  I176  1185  ll8a  II86  1186  1186  1186  II96  I20S 

Auf^crdf-m  waren  für  die  Reichs-,  Staats-,  Provinzial-  und  Kommimal- 
beiriebc  in  Thatigkeit: 

1888  188g  i8i)o  1891  ]8r)2  i8q3  1894  iS(j5  1896  1897 

AusführuiiiJ^brliurdcn .      178  285  316  352  348  372  385  393  401  404 

Sdiiedsgerichte ...     174  275  310  329  334  358  368  395  403  406 

Arbetterveitreter    .   .     954  1275  1385  1445  1576  1643  1698  1857  1902  2109 

bemerkenswert  ist  hier  nur,  dafs  sich  die  Zahl  der  gewerblichen 
Berufsgenossensrhaften  um  eine  vermehrt  hat,  Ks  handelt  sirh  dabei  um 
die  Fleischerei-Berufsgenossenschaft,  die  sich  am  i.  J.imiar  1897  von 
der  Nahrungsmittel' Kusine •Berttfiganossenschaft  abgezweigt  hat.  Im 
übrigen  hat  sich  in  der  Organisation  so  gut  wie  nichts  geändert 

Die  Zahl  der  versicherten  Betriebe  betrug  bei  den 

t8tt       1889      1890  1891  1892 

gcwerbl.  Berufsgenossenschaften   350697     372236     39062a  405341  4^5335 

landwirtsch.  Bcnafsgenosseiiscb.  3046007  4753808  4843631  4776520  4859618 

Data  AutfUhmngsbehörden  .   .        178         285          316  352  348 

«uunmen  3396883  5136339  5334559  5 183 113  5375301 

1893  1894  1S95  1896  1897 

gewerbl.  Bernfsgenossenichiften  430874  436335  435137  443773  455  41 7 

landwirtseh.  Beniftgenoweasch.  4769343  4793356  4813573  4645057  4643130 

Dam  AuftlÜhnngshehördctt  .   .        373  385  393  401  404 

annuDCB  5 190489  5219976  524910a  5088230  5  09795» 

32* 


492 


Miszellen. 


Dabei  wurde  als  Zahl  der  versicherten  Personen  festgestellt  bei  den 

1888  1880  1890  iSqi  1892 

gewerbl.  Berufsgenossen.    4320663  4742548  4926672  5093412  5078132 

landwiit.  Bcnifigenossen.   5576765  808S698  8088698  132S9415  12389415 

Ansahrangsbdiördeii         446850  543 320  604380  633459  646733 

xosammen  10343678  13374566  13619750  18015286  18014280 

1893  1894  189s  1S96  1897 

gewerbl.  Berufsgenossen.    5168973  5243965  5409218  5734680  6042618 

huidwirt.  BcrafsgeooBBea  12289415  12289415  12289415  11189071  11 189071 

Auftthrangsbehöideii         660462  658367  690835  681439  715758 

nuunmen  18118850  18 191 747  18389468  17605190  17947447 

lieber  den  statistischen  Wert  dieser  Zahlen  ist  bereits  früher  f  Hd.  V 
S.  679  und  Bd.  \T  S.  568)  das  Notige  gesagt  worden.  Danach  dürfen 
nur  die  Feststellungen  der  g  e  w  e  r  b  1  i  c  h  e  n  Berufsgenossenschaften  über 
die  Zahl  der  versicherten  Betriebe  und  der  von  der  Versicherong  er« 
fafsten  Personen  einigen  Wert  beanspruchen.  Bei  den  landwirtschaftlichen 
Benifsgenosseaschafien  ist  seit  1896  die  Zahl  der  Betriebe  und  der  durdi- 
schnittlich  versicherten  Personen  unter  Benutzung  der  Berufs«  und  Ge- 
werbezählung vom  Jahre  1895  ermittelt  worden.  Daher  erklären  sich 
die  bedeutenden  Abweirhunpen  siegen  die  vorhergehenden  Jahre. 

Zu  den  versicherten  Personen  gehören  aufser  den  Hctriebsbearaten 
und  Arbeitern  auch  noch  Betriebsunternehmer  und  andere  l'ersonen,  die 
auf  Grund  des  §  2  Abs.  2  des  Unfallversicherungsgesetzes  der  Versiche- 
rung unterworfen  worden  sind.  Sieht  man  nun  von  den  letzten  beiden 
Gruppen  von  Versicherten  ab  und  betrachtet  man  nur  die  Arbeiter  und 
die  Beamten,  soweit  auf  diese  die  Versicherung  durch  Gesetz  und  Statut 
ausgedehnt  worden  ist,  so  ergiebt  sich  fUr  die  gewerblichen  Beruftgenossen- 
Schäften  folgende  Entwickelung: 

Zahl  der 


Zahl  der 

Tcrsicherten  BeaiDteo  und  Arbeiter 

Jahr 

Betriebe 

aberhMpt 

tliircliiBJiiiUtliftl 
Mf  1  Betrieb 

1888 

350697 

43«30» 

13,3 

1889 

372  236 

4718  822 

«»•7 

1S90 

390  622 

4  888  790 

".S 

1891 

405  241 

5  036  963 

t»A 

1892 

415  315 

5017490 

12.1 

420  874 

5  100  661 

12,1 

1894 

426  335 

5  178  786 

13,1 

1895 

43S  137 

5341007 

i».3 

1896 

44377s 

5666427 

iM 

1897 

455417 

5976046 

»3.» 

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Ernst  Lange,  Statistik  d.  Unfallversichenuig  etc.  im  Deutschen  Reich  1897.  ^^^^ 


Auch  im  Jahre  1897  ist  also  die  Zahl  der  versicherten  Betriebs- 
beamten und  Arbeiter  stärker  gewachsen  als  die  der  Betriebe.  Der  in- 
dustrielle Aufschwung  seit  1895  offenbar  auch  im  Berichtsjahre  noch 
ein  so  bedeutendes  Anwachsen  der  Arbeiterzahl  in  den  bestehenden  Be- 
trieben mit  sich  gebracht,  dafs  trotz  der  im  \  erbleich  zu  1896  recht 
lebhaften  Gründung  neuer,  zweifellos  meist  kleiner  Betriebe  die  Durch- 
schnittszahl der  auf  einen  Betrieb  entfallenden  beschäftigten  Personen 
noch  etwas  gestiegen  ist  Diese  Steigerung  ist  aber,  wie  nicht  anders 
«  zu  erwarten  war,  weit  geringer  als  von  1895  zu  1896.  Im  tlbrigen  ist 
hier  das  fraher,  namentlich  Bd.  X  S.  776  Gesagte  zu  vergleichen. 

Die  Zahl  der  Betriebsuntemehmer,  die  sich  selbst  bei  den  gewerb- 
lichen Berufsgenossenschaften  versichert  hatten,  ist  im  Jahre  1897 
gesunken;  sie  betrug 

1888     18S9     1890     1891      1892      1893     1894     1805      1896  1897 
3909   18656  33678  51881    55878  63 131   59464  61764  61937  60030 

Hiefvim  entfielen  im  letzten  Jahre  über  55  500  allein  auf  7  Bau- 
gewerks-Beni^genossenschaften. 

2.  Unfälle  und  Entschädigungen.  Unfallaiueigen  wurden 
erstattet 

1897    dagegen  1896 

bei  den  gewerblichen  Bcruf^enosseni>chaftcn  für  252  382  233  J19  Verletzte 

„    „  landwirtach.              „                „  98363  91099  „ 

„    „  Ausfllhnmgsbefaördeii                    „  a86as  34970  „ 

I)     ,,    Versirht'rnngsanstahcn  der  12  Bau» 
gewerkä-Bcrufsgenossenschaften  und  der 

Tiefban-Berofsgenoasciisdiaft                „  3750  3401  „ 

zusammen  fBr  383  1 17  3$t  789  Verletzte 

Die  Gründe,  weshall>  wir  diese  statistisch  ganz  wertlosen  Zahlen 
(z.  vergl.  Bd.  V  S.  679— 680J  hier  mitteilen,  sind  bereits  Bd.  VI  S.  568 
auseinandergesetzt  worden. 

Ffir  «deviel  IfoMe  1897,  im  ganzen  genommen,  Entschädigungen 
gezahlt  wurden,  zeigt  die  folgende  Aufstellung: 

Bestand  aus    Im  Laufe  d.  Jahres  1897 
denVorjahrea  binsofdcoauneiienile 

GewerbL  B«nifsgeiMMMBscliaftai .     1 8a  143  41746  333888 

Landwirisch.         „  .     131983  45438  177  42« 

Ansfithrunfr^^'honl.-n      ....        I9814  3987  3380I 

Versicherungsansuiten  der  IsBau- 
gewerfcs-B.G.  md  der  Tlefbra- 

•   .    •    •        4  594  i  »55  5  749 


338533  93336  430859 

Dagegen  1896:     388383  86403  374685 


494 


Hisselka. 


Wiederum  ist  also  die  Zahl  der  erstmalig  zur  EntschädigUDg  gelangten 
UnßÜle  bedeutend  gewachsen,  aber  doch  bei  weitem  nicht  mehr  so  stark 
wie  von  iSgS  zu  1896,  wenn  auch  in  den  industriellen  Berufsgenossen- 
schaften immer  noch  stärker  als  in  den  früheren  Jahren.  Seit  1SS8  be- 
trug nämlich  die  Zahl  der  verletzten  und  getöteten  Personen,  für  die 
erstmalig  Entschädigimgen  festgestellt  wurden,  bei  den 

1S&8     1889    1890     1891     1892    1893    1894    1895    ^^9^  <^ 

gewcrbl.  Beraft- 

genosscDscb.  18809  29340  26403  28289  28619  3117t  32797  337a8  38538  41746 

landwirtsch. 

PcrufsKen.  8o8  6631  12573  I93S9  SS^JI  27S53  3^491  373S3  4S934  4S438 
AiisfUhnings- 

behörden 
Baii«Veniche* 


1 440    2  048 


«79  430 


2444 
618 


2859 


702 


2977    3  «50 

827  855 


3389 


942 


3356 

1 060 


3800  3987 


1131  1155 


Zusammen  21236  31449  42038  $1209  5S654  62729  69619  75527  86403  9*326 

Ein  dcrartit^es  Ergebnis  war  nach  unseren  Darlegungen  auf  S.  555 
bis  556  Bd.  Xll  des  Arrhivs  bei  der  fortdauernden  Prosperität  der  In- 
dustrie unil  der  dieser  ents{)rL*(  lieiiden  Zunahme  der  versicherten  Per- 
sonen (S.  492)  zu  erwarten.  Um  uns  nicht  unnütz  wiederholen  zu  müssen, 
bitten  wir,  das  an  der  angegebenen  Stelle  Gesagte  nadiauksen. 

Von  den  gezahlten  Entschädigungen  interessieien  in  erster 
Linie  die  Renten.  Im  Berichtijalire  besahlten  Renten  die 

an 


Verletzte 

gewcrbl.  Berufsgenossenschaften  .  .  1 92  3 1 4 
landwirt&ch.  „  .    .    161 707 

Aiiifli]iniiig»b«bördeii  t8  704 

Bttu-Venidiemiigiaiiitalten ....  4870 

msamnun  377495 
dag«fen  1896:  327270 

Für  diese  Renten  verausgabten  die 


Witven 

Kinder  Ai 

G  e  t  i,  t  r  t  e  r 

21  822 

42457 

>75S 

10680 

16457 

246 

3776 

6225 

272 

715 

1069 

«3 

36993 

66208 

2286 

32982 

60555 

2141 

an 


gewerbl.  Berufsgenos&ensch. 
landwirtsch.  „ 
Ausf  Uhrangsbchörden .    .  . 
fiau-Versichenu^MiistaUea  . 


VerleUte 

Mk. 
29698  153,09 
11508240.04 

4003274t47 

660  399,06 


zus.imraen  45870066,66 
dagegen  1896:  40614670,70 


Witwen 

Mk. 
3495298,84 

829495*0^ 
536695,5» 

95155.93 

4  95'>Ö4S.37 
4401  740.«7 


Kinder 
Getöteter 
Mk. 
5034743.42 
«47547.5» 
629484.77 
100798,04 


Anendtnlcn 

255215.33 
19203.94 
34390,99 
2019,16 


6612573,74 
6019730,17 


310829,42 
287  289,5s 


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Erns.t  Lange,  Statistik  d.  UnfiiUvenidienuf  etc.  im  Deutschen  Keicli  1897. 


Auf  den  Kopf  der  Verletzten  entnUlt  somit  durchschnittlich  bei  den 
gewerblichen  Berufsgenossenschaften  154,5  Mk.  (1896:  155,5  Mk.,  1895: 
157,5  Mk. i,  bei  den  landwirtsrhartlichen  Berufsgenossenschaften  71,8  Mk. 
(1896:  73,2  Mk.,  1895  :  74,8  Mk.).  Weshalb  die  landwirtschaftlichen 
Invaliden  soviel  ungünstiger  gestellt  sind,  ist  bereits  Bd.  XI»  S.  478 — 479 
ansfÜhrlicH  dargelegt  wofden. 

Ante  den  laufenden  Renten  wurden  von  sämtlichen  Beruf^^enossen- 
Schäften,  AusfUhnmgsbehötden  und  Ban-Versicheningsanstalten  susanunen 
noch  an  einmaligen  ond  vorttbeigefaenden  Eatsdiidigungen  g^sahlt: 

Kneten  des  Hrihcrfahrens  Ar  49396  Pcnonen  i6ao6$ifit  Mk. 

Kocten  der  Unterbringong  in  Kiaakenhlasem 

a)  Renten  an  Ekefnmen  ,10417      „        «83360,19  „ 

b)  „         Kinder  33049      »       414385.34  .* 

,       „    Aszendenten   „  233  „  9501,29  „ 

d    Kur-  und  Verpflegtmgskostcn .    .    .    .  „  20104  „  2854134,32  „ 

Beerdigungskosten   „  7894  '„  378121,6$  „ 

Abfindungen  an  Witwen  Getöteter  bei  Wieder- 

Verheiratung   „  976  „  464501,82  „ 

Abfindungen  an  AniUnder   „  315  „  199766,36  „ 

Die  Gesamtsumme  der  Entsdiüdignngen  belief  ach  bei  den 

1897  1896  189s 

geverbl.  Bemfsgenon.  auf    43996319,78  38707864,70       34493960^  Mk 

landwirtschaftl.  „         „      14486407,98  13618917,46        10439059,81  „ 

AusfQhrungsbebörden      „        5539481,20  4951073,42          44S^99Si44  « 

B»u-Ver»icherungsanst.    „         95133*^7  2  876541.95  751766.90  „ 

auammen  auf    63973547,77  57  tS4i97i53        50 125782,22  Mk. 

Von  den  Verletsungen  hatten  1897  nach  den  Sdiätzungen  der  Fett* 
stellungsorgane  zur  Folge  bei  den 

danende  voiflbeigdiende 
Auf«        Bedn»      Anfkebng  oder 
hebung    trächtigung  Beeinträchtigung 
Tod  der  Erwerbsfähigkeit 

gewcrbl  Berofigenowenscbaften .  4252  625  21247  15622 

landwirtsrli.        „             .   .  2474  544  23260  19160 

Austübrung^bebörden    ....  561  283  1 982  1  161 

Bau*Versicberungsanstalten    .    .  129  55  589  382 

nuammen  7416  1507  47078  36325 

dagegen  1896:  7101  1547  44982  32773 
„  1895:  6448  1706  41052  26321 
„       1894:    6361       1784        39487  31987 


496 


Mifitdlen. 


Das  Bild  ist  das  alte:  eine  sehr  frrofso  Zunahme  der  Unfälle,  die 
vorübergehende  Aufhebung  oder  Beeintrat  hügung  der  Erwerbsfähig- 
keit  zur  Folge  hatten,  eine  geringere  Zunahme  der  Unfälle  mit  dauern- 
der Beeinträchtigung  der  Erwerbsfähigkeit,  eine  unbedeutende  Zu- 
nahme der  Todesfälle  und  dem  gegenüber  eine  allmähliche  Abnahme 
der  Unfätte,  die  die  Betroffenen  dauernd  völlig  erwerbsunfähig 
machten.  Zu  neuen  Betmchtnngea  geben  die  Zahlen  daher  keinen  An- 
lafs,  so  dafs  wie  auf  das  früher  an  dieser  Stelle  —  namentlich  Bd.  XU, 
S.  558—559  —  darüber  Gesagte  verweisen  können. 

Dem  Alter  und  Gesdilecht  nach  waren  unter  den  Verletzten  bei  den 


Erwachsene  Jugcndl.  (unt.  16  Jahr.) 

minnliche   weibliche     miniüiche  weibliche 


gcwcTbl.  Bernfi^enosienfdHiften    .  . 

3«78S 

157« 

1 909 

«77 

huidwirtaclk.        „                •  • 

31 3S1 

ia6os 

1091 

394 

3893 

«7 

8 

BMi'Vemdicrangniutidtai  .... 

1  isa 

st 

8 

4 

tanmmen 

75  «53 

14381 

1316 

dagegen  1S96: 

71  148 

2141 

$08 

Wiederum  ist  also  die  Zahl  der  UnGtUe  m  allen  vier  Gruppen  von 
Arbeitern  gewachsen.  Inwieweit  Industrie  und  Landwirtschaft,  gesondert 
genommen,  an  der  Vermehrung  der  UnfiUte  in  den  letzten  Jahren  be- 
tdligt  sind,  ei^giebt  sich  daraus,  dafs  entschädigten  die 

1896  Erwachsene  Jugendhche 

gewerbl.  Berufsgcnoss.  36027  inännl.  1314  weibl.  1055  männl.  142  wcibl.  Pcrs. 
hmdwirtscb.      „  30286     „    11220     „        1067     „      361    „  „ 

«895 

gewcrbL  BcrafigeiUMS.    31 510    „      1907  911     „      100    „  „ 

biMlwIrtsdi.     „  26485     „     9629  9te    „  309 

Man  sieht  deuthch,  eine  wieviel  gröfsere  Rolle  die  weibliche  Arbeit 
in  der  T-andwirtsrhaft  spielt  als  in  der  Industrie.  Andrerseits  ist  die  Zu- 
nahme der  Zahl  der  juf;c-ndli(-hen  Verletzten  bei  den  gewerblichen  Beruts- 
genossenschaflen  auffallend  und  weit  liedeutender  als  hei  den  landwirt- 
schaftlichen Berufsgenossenschaäeu  und  jedenfalls  eine  i'oige  zunehmender 
Verwendung  jugendlicher  Kräfte  in  den  industriellen  Betrieben. 

Die  Unfallursachen  fafet  die  amtliche  Statistik  in  14  Gruppen 
zusammen.   Unter  diesen  heben  wir  —  wie  in  den  früheren  Jahren  — > 


Ernst  Lange,  Statiitik  <L  Un&llvenidiennig  etc.  im  DeotidteTi  Reich  1897. 

nur  die  folgenden  7  Gruppen  hervor,  die  sich  durch  die  weitaus  grö&ten 
Zahlen  ausEeichnen: 


durch 


Es  wurden  Unfälle  Ter> 
omdit  in  den 


2  h 

■r  i> 

^  II» 

§  e 


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S  Ii 
T  < 

g 

6 

s  e 


3 


gewcrhl.  r.ftut 

:>gcnossenscb. 

9062 

7185 

6959 

5206 

2269 

48  7 

2978 

landwirtsch. 

3834 

2939 

13601 

3378 

7479 

6091 

373« 

AusfUhningsbebördcn.    .  . 

105 

619 

S73 

588 

»54 

«4 

41« 

Bau-VersicheningMnrtalten . 

6 

3*4 

413 

116 

39 

4 

»45 

siuHunmen 

13P07 

11047 

«»545 

9288 

9941 

6606 

736$ 

also  Ton  allen  cntschidigten 

UnftUeo  pCL  ,   .  . 

12^ 

33*3 

10,1 

10,8 

7.« 

7.9 

dagegen  1896 

t»    •  •  • 

13,8 

«S.4 

23,0 

9.8 

>i«3 

7.3 

8.1 

«895 

»1    •   •  • 

>4iS 

n.9 

«3.3 

9.8 

II.3 

6,6 

7.6 

„  1894 

11    •   •  • 

I4i4 

13,8 

21,9 

9,9 

»'.5 

6,2 

7.5 

*«  1S93 

II    •   •  • 

14.7 

12,8 

22,0 

9.7 

1 1,1 

6,1 

7.« 

„  189a 

H      •      •  • 

«5.7 

13,2 

21,4 

9.8 

n,4 

5.5 

7.1 

n  »«9» 

II      •      •  • 

»7.4 

18,0 

11,1 

5.9 

6.2 

ff       •      •  • 

18,5 

14f6 

18,3 

10,0 

IO,t 

4.3 

6,0 

Beim  A 

nblick  dieser  Zah 

enicihcn 

fällt  auf,  dafs 

die 

letzte  G 

ruppe 

die  durt  h  den  Gebrauch  von  Handwerkszeug  und  einfachen  Ap])araten 
veranlafsten  Unfälle,  zum  ersten  Mal  seit  1890  im  Verhältnis  /.u  den 
übrigen  (jrupi)en  ein  wenig  an  Bedeutung  verloren,  während  die  erste 
Gruppe  (Motoren,  Transmissionen  und  Arbdtsmaschinen),  gleichfalls  gegen 
die  aUgemeine  Tendenz,  etwas  gewonnen  hat  Ob  es  sich  hier  um  etwas 
anderes  als  blo&e  bedeutungslose  Zufölligkeiten  handelt,  werden  erst  die 
folgenden  Jahre  zeigen.  Einstwdlen  haben  wir  unseren  früheren  Aus- 
führungen an  dieser  Stelle,  sowie  dem  in  unserer  Arbeit  über  ,,die 
Ursachen  der  Betriebsunfälle  in  der  deutschen  liuhistrie  und  Land- 
wirtschaft" (Bd.  XI  S.  143 — 160)  Dargelegten  noch  nichts  Wesentliches 
hiozuzufugeu. 


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49R 


Miszellen. 


3.   Verwaltungskosten.     Aufser   den  Unfallentschädigungen 


haben  im  Jahre  1897  an  Ausgaben  gehabt  die 

Kosten  der  Unfall- 
untersuchungen u.  Schieds-  Unfall- 
der  Feststellung  der  gerichts-  Verhütungs- 
Entschädigungen  kosten  kosten 

gewerblichen  Berufs-            Ifk.  Mk.  Ifk. 

^scnschaften  .      1184235,24  579895,47  1026205,98 


Allgemeine 
Verwaltungs- 
kosten 

Mk. 

5  358  747,59  *) 


321472.89 
40438,99 


67273,84 
40079,13 


2058926,19 
14889,56 


8.74 


10636,60 


J  44 195.55 
l?3.5» 


353  7  J  5.03 


7786278,37 
7401  372.21 


Linen  Verwal- 
noch  nicht 


ten 


Ernst  Lange,  Statistik  d.  Unfallvenictieruiig  etc.  im  DeaUcbeo  Reich  1897. 


In  der  Ud)enictit  H,  die  in  den  „Amtlichen  Nachrichten  des  Reichs* 

Versicheningsatnts"  dem  eigentlichen  TaheUenwerk  vorangestellt  ist,  sind 
für  die  Jahre  1 890  —  1 896  Zahlen  angegeben,  die  von  den  obigen  direkt 
aus  den  Tabellen  entnommenen  ein  wenip  abweichen.  Eine  Erklärung 
dieser  Abweichungen  ist  leider  nicht  gegeben. 

Ueber  die  Art ,  wie  das  statistische  Material ,  das  über  die  Ver- 
waltung der  einzelnen  Berufsgenossenschaften  vorliegt,  beurteilt  werden 
mufs,  ist  das  Nötige  bereits  Bd.  V  S.  684 — 685  gesagt  worden. 

Unter  den  in  unserer  Zusammenstellung  als  Uufallverhutungs- 
kosten  bezeichneten  Ausgaben  befinden  sich  wiederum,  der  amtlichen 
Statistik  entsprechend,  anch  die  Kosten  der  Fürsorge  für  Verletzte  inner* 
halb  der  ersten  13  Wochen  nach  dem  Unfälle.  Diese  Beträge,  die  tbat* 
sächlich  nicht  der  Verhütung  von  Unfällen,  sondern  der  Verringerang 
der  Unfallfolgen  dienen,  stellten  sich  1897  auf  617065,28  Mk.  gegen 
1896  auf  499  133,63  Mk.,  1895:  316  354,84  Mk.,  1894:  219633.05  Mk. 
und  1893:  114712,59  Mk.,  sodafs  fiir  die  eigentliche  Unfallverhütung 
nur  zur  \'erwendung  kamen  1897:  527130,27  Mk.  gegen  1896: 
530189,88  Mk.,  1895;  462004,55  Mk.,  1894:  441871,39  Mk.  imd 
1893;  454789.53  Mk, 

Die  wirklichen  Ausgaben  (Ur  Zwecke  der  Unfiallverhütung  haben 
also  im  Berichtsjahre  nicht  nur  nicht  zugenommen,  sondern  sogar  ein 
wenig  abgenonmien.  Man  sieht,  wie  richtig  unser  Bd.  VI  S.  573  und 
Bd.  XI  S.  482-^483  auq;eq|)n>chenes  Urteil  war. 

Den  größten  Aufwand  haben  1897  für  die  Unfidlverhütung,  d.  h. 

also  in  der  Hauptsache  fiir  die  Ueberwachung  der  Betriebe,  die  Beruft- 
genossenschaft  ticr  chemischen  Industrie,  die  Steinbruchs-  und  die  Tiefbau- 
Berufsgenossenschatt  gemacht.  Die  landwirtschaftlichen  Berufsgenossen- 
schaften, die  1806  keinen  Ftennig,  1895:  5 1,80  Mtc.  tur  die  Ueber- 
wachung der  Betriebe  ausgegeben  hatten,  haben  sich  1897  zu  einem 
Aufwand  von  875  Mk.  fttr  diese  Zwecke  aa%eschwungen ;  hiervon 
kommen  6,80  Mk.  auf  das  Konto  der  Schlesischen  landwirtsdiaftlichen 
Benifi^enonenachaft,  der  Rest  auf  das  der  Anhaltischen  land-  und  fors(t- 
wirtschaftlichen  Bemftgenossenschaft. 

Angesichts  dieser  kläglichen  Ergebnisse  thut  man  ohne  Zweifel 
gut,  an  die  Thätigkeit  der  Berufsgenossenschaften  auf  dem  Gebiete  der 
Unfallverhütung  auch  in  der  Zukunft  keine  allzu  grofsen  Erwartungen 
zu  knüpfen. 

Die  Reservefonds  der  Rcnifsgenossenschaften  und  Hau-X'fr- 
sicherungsanstalten  endlich  (die  AusfuhrungsbehorUen  sammehi  keine 
Reser>etonds  an,  die  landwirtschaftlichen  Berufsgenossenschaften  nur  aus- 
nahmsweise) vergröfserten  sich  im  Jalure  1897  folgendermafsen : 


500 


MiszeUcn. 


GewerU.  Ben^f^;cnowen^dlaftca 
Luuhrirtadi.  „ 
IteiipVeisicheniiigsaiistalten    .  . 

Zusammen 
Dag^en  1896: 


Einla^'en  in  die 
Reservefonds 
Mk. 

1378830,49 
4»«  5*3.58 
67981,10 


1768335,17 
4  997  575.» « 


Bestand  der  koservc fonds 
am  Schlüsse  des  Jahres  1S97 
Mk. 
129853853,75 
5569958,06 
7l77ia,68  ^ 

136l415>4.49 
>34493 135.3s 


Eigentliche  Entnahmen  aus  dem  Reservefonds  sind  nur  bei  5  land- 
wiitsdufUicheo  Berufsgcnossenschaften  vorgekommen  im  Gesamtbeträge 
von  43  7i4»62  Mk.  und  zwar  wie  im  vorhergehenden  Jahre  bei  derHessen* 
Nassaukchen  landwirtschaftlichen  Berufsgenossenschaft  und  den  vier 
wflrttembeigischenlandwirtschnftlichcn  Berufsgenossenscliaftcn.  Attlserdem 
waren  die  meisten  gewerblichen  Herufsgenossenschaften  in  der  Lage,  1897 
die  Zinsen  oder  wenit^stens  einen  Teil  der  Zinsen  des  Reservefonds  zur 
Deckung  ihres  Jahresbedarfs  mit  zu  verwerten;  denn  der  18  Abs.  i  des 
Unfallvcrsicherungsgesetzes  gestattet  ihnen  das,  soweit  der  Reservefonds 
den  taufenden  doppelten  Jahresbedarf  erreicht  hat.  Diese  Zinsen  beliefen 
sich  zusammen  auf  den  recht  bedeutenden  Betrag  von  4489  546,84  Mk. 

4.  Lohnstatistik.  Wir  enthalten  tms  auch  in  diei^em  Jahre  wiederum 
aller  näheren  Mitteilungen  über  die  in  den  Rechnungsergebnissen  ent- 
haltenen Lohnangaben,  da  sie  aus  den  früher  (B±  U  S.  645  und  Bd.  IV 
S.  538)  dargelegten  Gründen  jedes  statistischen  Werts  entbehren.  Die 
Summe  der  ftir  die  Beitregsberechnung  in  Ansatz  gebrachten  Löhne  und 
Gehälter  der  in  den  gewerblichen  Bcrnfsgenossensrhaften  versicherten 
Personen  helief  sich  im  Berichtsjahr  auf  4253620601,92  Mk.  gegen 
3922996386,52  Mk.  im  Jahre  1896. 


IX.  Invaliditita-  und  Alteraveraicherung. 

I.  Organisation.  Im  Jahre  1807,  dem  siebenten  seit  dem  Inkraft- 
treten des  Invaliditäts-  und  AUersvi  rMi  hcrungsgeset/es ,  bestanden  wie 
in  den  vorhergehenden  Jahren  31  Versicherungsanstalten,  die  folgende 
Organe  hatten: 


1897 

1896 

1895 

1894 

»54 

«53 

»5» 

150 

76 

75 

73 

72 

36 

34 

»4 

«3 

Bureau-,  Kassen-  und  Kanzleibeamte  . 

.  1287 

1186 

1079 

981 

Unterbean-.tc  

107 

'05 

99 

87 

Mit jrlicd'T  (Jcr  Au>>thu>se  .... 

610 

bio 

610 

61S 

.  66328 

66274 

66  205 

65776 

Digiii^icu  b 


Ernst  Lange,  Statistik  d.  UnfaUvcraicfaenuig  etc.  im  Deutschen  Reich  1897.  joi 


KontroUbeamte  

Scbied^richte  

Besondere  MaikenTerkaufsstellen  .  .  . 
Mit  der  Beitragseiniiehimg  iietrante 

Krankenkassen  

In  gleicher  Weise  mitwirkende  Gemeinde- 
behörden und  sonstige  von  den  Landes- 
Zentnlhehfirden  bezeichnete  Stellen 


1897 

1&96 

1895 

1894 

333 

393 

35« 

302 

495 

499 

499 

605 

9113 

9095 

917« 

9a8s 

5334 

5«»4 

5014 

4819 

2  936 

2940 

2939 

3936 

Abgesehen  von  der  Vermehrung  der  Bureau-  und  Kassenbeamten, 
die  der  Natur  der  Dinge  entspricht,  sind  also  keine  irgendwie  nennens- 
werten Veränderungen  gegen  das  Jahr  1896  zu  verzeichnen. 

Atifser  den  Versicherungsanstalten  waren  an  der  Ausführung  der 
Invaliditäts-  und  Altersvenichening  wie  bereits  in  den  Gkof  vorhergehen- 
den Jahren  noch  9  besondere  Kasseneinrichtungen  beteiligt,  nümlich 
5  Eisenbahnpensionskassen  — •  die  preufsischei  bayerische,  sächsische, 
badische  und  die  Reichscisenbahnpensionskasse  —  und  4  Kaappschafts- 
]>ensioiiskasscn  —  die  norddeutsche,  Saarbrücker,  Bochumer  und  die  fUr 
das  Königreich  Sachsen. 

Die  Zahl  der  versicherungspflichtigen  Personen  ist 
nicht  bekannt.  Rechnet  man  46  Beitragsmarken  aut  eine  versicherte 
Person,  so  waren  rund  10,67  Millionen  Personen  versichert  (gegen  1896: 
10,42  Mill^  1895:  9»S5  MiU.  und  1894:  9,61  Mill.).  Die  Durchführung 
des  Invaliditäts-  und  Altersversicherungsgesetzes  läfit  also  nach  wie  vor 
viel  zu  wünschen  übrig  (z.  vergl.  das  Bd.  VII  S.  703 — 704  Dargelegte). 
Das  Reic  hs -Versicherungsamt  geht  in  den  Vorbemerkungen  zu  dem  Ta- 
bellenwerk für  1897  ^OJ'i  zwei  versrhiedenen  Annahmen  aus:  einmal  nimmt 
es  an,  dals  die  Zahl  der  versicherungspflichtigen  Personen  rund  1 1,23  Mill. 
betrage,  das  andere  Mal  —  unter  Berücksichtigung  der  Ergebnisse  der 
Berufszählung  vom  14.  Juli  1895  ~"  "»55  Mill.  Bei  der  ersten  An- 
nahme kommen  auf  den  Kopf  der  Versicherten  43,7,  bei  der  zwdtoi 
43,5  Wocfaenbeitiäge  (Marken)  g^gen  1896:  43,0,  1895:  40,9,  1894: 
40,4,  1893:  39,8.  Im  übrigen  bitten  wir,  das  Bd.  Xn  S.  564  Gesagte 
nachzulesen. 

s.  Leistungen  der  Versicherugsanstalten.  Von  den  31 
Versicherungsanstalten  wurden  festgesetzt: 

1897  1896 

AUenrentcn.  .  .  .  3i688  SS403 

Iimlideweiiten.   .  .   71733  60562 

nninmca  .  93411  85964 

Die  ans  den  früheren  Jahren  nachgewiesenen  Zahlen  sind  mit  diesen 
nicht  vergleichbar,  da  sie  nach  etwas  anderen  Grundsätzen  aufjg;estellt  sind. 


uiyiiizeo  Dy  Google 


502 


Miszellen. 


Beitiagserstattungen  wurden  gewährt 

mUe  von  Verheiratiing  TodcsftUe  zasammen 

1897   .   .   .   99680  20197  119877 

1896   .   .   .   63  812  14484  77696 

1895   ...     833t  2075  10396 

Wie  nicht  anders  zu  erwarten  war,  ist  die  Zunahme  hier  sdir  be> 
trächtlich. 

Die  v<»i  den  Versicfaerangsanstaht-n  an  Entschädigungen  und  Bei- 
tragserstattungen  gezahlten  Beträge  beliefen  sich  auf 


Kai»tal- 

Entattimg  von  BeitifccD 

Allers- 
rentcD 

Invaliden- 
renten 

abfindoDgen 
an  Aus- 

Kosten 
des  Heil- 

in Fällen 

diT  W'T- 

in  Todes» 
nUlen 

länder 

verfahren!» 

heiratung 

Mk. 

Mk. 

Mk. 

Mk. 

Mk. 

Mk. 

Mk. 

■891 

9048435.35 

9.45 

339.60 

30J.99 

9049086.39 

1892 

12318781,21 

713600.19 

64,60 

31835,70 

13064281,70 

1893 

13336163,55 

2797596,06 

963  — 

107 179,2  t 

16241 901,82 

1894 

14  177  586,05 

5  388  486,88 

907.01 

362773,78 

-■"Jo  753,72 

1895 

15630814.37 

6396990,25 

3  7 74.9. ^ 

62t>  759,40 

158  294,95 

S3  570.40 

^4870213,32 

1896 

16  187  279,86 

1 1  58S  im ,36 

1  470.34 

1  164009,39 

I  457099,14 

447  568,50 

30  845  528,59 

1897 

16  sog  83 1 .62 

I  5  07  I  ;6f  1.09 

2007,54 

•  ^^2733956 

2  5S5  946,48 

711  994.10 

y>  499579,39 

zus. 

97  192^892,01 

10427,04 

4120199,03 

4201340,57 

1  213  142,00 

150  700344,93 

Die  Ausgaben  (tir  die  Altersrenten  haben  sich  gegen  das  vorher- 
gehende  Jahr  also  fast  gar  nicht  mehr  erhöht,  die  für  Invalidenrenten 
dagegen  so  betleiitend,  dafs  sie  nunmehr  der  Summe  der  Altersrenten 
beinahe  gleich  kommen.  Die  Anfwenduniien  für  das  HoiK  erfahren  sind 
wiedeniin  beträchtlich  angewachsen;  ö.nch  k^mmt  aiuh  jetzt  noch  diese 
Art  (icr  Kiirsorge  in  den  einzelnen  \'erh.ichcruiiu^aiistaUcn  in  sehr  ver- 
schicdciiciu  Maise  zur  Geltung.  An  der  Spitze  stehen  m  dieser  Be- 
ziehung nach  wie  vor  die  Hansestädte  mit  einem  Aufwand  von  204  705  Mk., 
dann  Hannover  mit  169756  Mk,  Baden  mit  155  411  Mk.  und  Berlin 
mit  153620  Mk.  Sehr  wenig  geschieht  immer  noch  in  Bayern  fUr  das 
Heilverfahren :  eine  bayerische  Versicherungsanstalt,  Oberpfalz,  hat  sogar 
keinen  I'fennig  für  diesen  Zweck  ausgegeben. 

T'ie  ( 'Fes;in\tsnmnie  der  Entschädigungen  (einschliefslicli  der  Auf- 
wendungen tur  da-  Heilverfahren!  und  der  BeitragserslaHungen,  die  von 
den  Versicherungsanstalten  bis  Ende  1Ö97  gezahlt  worden  ist,  beläuft 
sich,  wie  man  sieht,  bereits  auf  liber  150  Millionen  Mark. 

Ein  Bild  davon,  was  die  Alters-  und  Invaliditätsversicherung  Air  die 
Versicherten  überhaupt  geleistet  hat,  erhält  man  indes  erst,  wenn  auch 
die  Leistungen  des  Reichs  und  der  besonderen  Kasseneinrichtungen  mit 
in  Betracht  gezogen  werden.   Es  ergiebt  sich  alsdann,  dafs  auf  An* 


DigiiL   j  l  y  Coogle 


Erntt  Lange,  Statistik  ä.  UnfiUlTemcfaenmg  etc.  im  Deutschen  Reidi  1897.  J03 


Weisung  der  3 1  Versicherungsanstalten  und  der  9  Kasseneiarichtungen  an 
Renten  und  Beitragsersiattungen  im  ganzen  gezahlt  sind 

Beitragscrstattungeu  in 


Atten- 

Invaliden- 

FlUlen Ton 

TodeS' 

fcntcn 

renten 

Verheiratong 

fSUen 

rosa  Minen 

Bfk. 

Mk. 

*  Mk. 

Mk. 

Mk. 

I89I 

15  306  702,26 

52,08 

«5  30^7541 34 

1892 

21 071  602,06 

"  353 433.  »9 

22425035,25 

1893 

22763337.03 

5282850,42 

28046  187,45 

1894 

24474443.49 

10173  183,29 

34647626.78 

1895 

26576369,93 

15525632,49 

158562,76 

60806,32 

42321  37 '.49 

1896: 

S7  412938,93 

21 101 179^1 

1 458 106,61 

517251,79 

50489476,60 

1897 

376a4893i4S 

»7386315.36 

3587433.7$ 

803599,81 

58401643.37 

sns 

.  165829687,14 

80822646,10 

4304103,12 

1381 657.9» 

351 638094,88 

Von  diesen  Summen  ftelen  dem  Reich  zur  Last 


Beitragserstattungen  in 


Altera- 

Invaliden* 

Fällen  von 

Todes« 

tenten 

renten 

Verheiratung 

aßen 

Mk. 

Mk. 

Mk. 

Mk. 

Mk. 

1891: 

6049848,4  t 

604984841 

1892: 

8410061,74 

561 010,30 

897*072,04 

»893: 

9052  ^^h, 71 

2  209016,30 

II  261 653,01 

1894: 

9682  iSd.^S 

4  172710,29 

13854806,57 

1895: 

10  4S  ;  >8o,3<j 

6329679.35 

158,11 

11,36 

16  813429,21 

1896: 

10  7 14  318,06 

8405010,25 

260,28 

69,72 

19119658,31 

1887: 

10742844,04 

108536:9,17 

192,92 

•77.S2 

31  596843.65 

65  »35475.63 

32  53' 055.66 

611,31 

358,60 

97667401,30 

Der  Durchsrhnittsjahresbetrag  der  von  den  Versicherungs- 
anstalten bewilligten  Renten  stellt  sich  einschliefsUch  des  Reichszuschusses 
bei  den  Renten,  deren  B^inn  fällt 


Altersrenten 

Invalidenrenten 

Mk. 

m. 

in  das  Jahr 

1891  aul 

»23.57 

i'3.39 

1.  1« 

1898 

»27.34 

114,70 

II      »  H 

1893  II 

139,50 

"7.99 

n    n  M 

«894  .. 

135,68 

131,3t 

»*    ..  1. 

1895 

13W 

134,03 

1.    »  II 

1 8  06  „ 

«33.89 

126,64 

II    n  II 

1897 

»37,88  . 

137,92 

Als  endgültig  können  diese  Zahlen  aber  noch  nicht  angesehen 
werden,  da  immer  noch  Renten  bewilUgt  werden,  deren  Beginn  In 


504 


die  früheren  Jahre  zurüdcfiült.  Namentlich  k&inen  sich  die  für  1897 
angegebenen  Beträge  noch  wesentlich  ändern. 

In  den  einzelnen  Versidierungsanstalten  schwankt  die  durchschnitt- 
liche Höhe  der  Jahresicnten  im  Jahre  1897  bei  den  Altersrenten  von 
174,13  Mk.  in  Berlin  und  169,88  Mk.  in  den  Hansestädten  bis  120,58  Mk. 
in  Oslpreufsen  und  119,44  Mk.  in  Oberfranken,  bei  den  Invalidenrenten 
von  139,22  Mk.  in  den  Hansestädten  und  138,97  Mk.  in  Berlin  bis 
122.56  Mk.  in  Schlesien  und  121,83  Ostpreufsen. 

Die  vom  Rechnungsbureau  des  Reichs-Versicherungsamts  vorge- 
DOmmene  Verteilung  der  Renten  auf  die  eansehien  Vetndienmgsinstalteii 
und  Rasseneinrichtungen  ergab,  dals  von  d^  bis  «un  Schluls  des  Jahres 
1897  verteilten  Renten  endgültig  zur  Last  fielen 


Da  die  Renten,  an  deren  .Aufbringimg  mehrere  Versichenmgsan- 
stalten  und  Kasseneinrichtungen  beteiligt  sind,  hier  mit  jedem  der  An- 
teile gezählt  sind,  so  übersteigt  die  Zahl  der  Rentenaiiteile  natürlich 
bedeutend  die  der  Renienemplanger,  die  von  der  Verteilung  bis  zum 
Schlufs  des  Berichtsjahres  bereits  betioflRen  worden  sind. 

Bei  der  Kapitafoierung  der  Renten  ist  von  der  VfMaitasetzung  aus- 
gegangen, daft  sie  lebenslänglich  gezahlt  werden.  Wo  an  Stelle  von 
Altersrentenanteilen  Invalidenrentenanteile  treten  oder  umgekehrt,  muls 
daher  der  Kapitalwert  der  weggefallenen  Alters-  und  Invalidenrenten - 
anteile  wieder  ausgemerzt  werden.  Der  auf  diese  Weise  auszuscheidende 
Kapitalwert  wird  im  ganzen  auf  1236087  Mk.  antrepeben,  so  dafs 
sich  der  Kapitalwert  der  Kentenanteile  der  Versicherungsanstalten  ins- 
gesamt auf 

(136087  541  +  171903989  —  1  336  087)  Mk.  »  306754443  Mk. 


Anzahl 


Jahrcsbetrag   K.apitalwert    Darehtchn.  Jähret* 

betrag  eines  Anteils 

Mk.  iOL*  Bfk. 


I.  den  Vcrsichenin^ 

anstalti'n  ; 

AUersrenU-nantcile  .  .  3 1 S  79S 
foTilidenrentenanteÜB .  295544 


23574093.99  13^087541 
19387572,18  171902989 


73>95 
65,60 


2.  den  Kasscneinrich' 
tungcn: 

AltenKnteDantdle .  .  6624 
InvalidcnrentiaiuiteQe .   ao  14S 


Stellt 

Von  den  Rentenanteilen  waten  bis  zum  Schlüsse  des  Jahres  1897 
bereits  wieder  in  Weg&U  gekommen 


Ernst  Lange,  Statistik  d.  UnfaUverrichemng  etc.  im  Deutschtn  Reich  1897.  J05 


1.  bei  den  VeN 
sicheniags* 
Anstalten: 

Altersrenten» 

antdlc 

Invalidenrenten- 
anteüe     .  . 

2.  bei  d.  Kassen- 
einriclitungcn: 

Alteritrcnteu- 
antcile     .  . 

Invalidonrcnten* 
antcilc     ,  » 


AnzaU  Jahresbetng 


Grund  des  Weglalls 
Tod     Kapital»  Invali«  Enrerba*  Andere 
aiifindnng  ditit  fibi^teit  Grflnde 


115746  83i537S«43  »«0053  23 
89299  5703478,19  84870  47 


5 135  —  S«5 
—     3018  1364 


2248 

6919 


227283, 


nicht  angegeben. 


Somit  waren  finde  1897  noch  zahlbar 

1.  bei  den  Versicherungsanstalten  : 

AU<-r«-ri  ni<  iiant<  ilc  .  .  203072  mit  einem  Jabresbctrag  von  l  5  25S  718,56  Mk 
Invalidenrculcuamcile    .    200245    „       „  „  „    io^^4093i99  n 

2.  bei  den  Kassenetnrichtangen : 

Altersrentenanteile   .   .      4376  „     „  „  „       4?7449i83  n 

Ittvalidenrentenanteile  .     13229  „     „  „  „       9l3t»*77  n 

Nach  den  Gehumjahren  stellt  sich  der  Bestand  an  Rentenanteilen 
am  Schlüsse  des  Jahres  1897  fotgendeimafsen: 

I.  Versicherungsanstalten. 

Altersrentenaateile. 


Jahresbetng 

AniaU 

pCL 

Mk. 

pCt 

1827  jojlUirige  Rentcnempflbiger)   .   .  . 

»0337 

5.09 

903  887,02 

5.9* 

1S26  (71     „              „           )   .   .  . 

18409 

9.07 

I  497  591.28 

9,8» 

1825  172    .,                          )   .    ■  . 

21  467 

10.57 

I  682393,78 

11,03 

«824  '73                    II            )    •    ■  • 

21  752 

10.71 

1059407,71 

10,88 

1823  (74    „               „            )    .    .  . 

21978 

10,82 

1646520,13 

10,79 

1822  (75    «t             M           )  •   •  • 

20762 

10,22 

1537973.41 

10,08 

J821 — 1817  (76 — SojShr.  Rentenempflnger) 

68677 

33.8a 

4957301.75 

32.49 

1816—1812  (81—85  n             n  ) 

»7  «39 

8,44 

I  201  552,8s 

7.87 

181 1  — 1807  (86—90  „             „  ) 

«371 

i.»7 

160231.47 

1,05 

1806  u.  früher  ^91  jähr.  u.  ältere  „  ) 

180 

0,09 

1 1 859,20 

0,08 

InTalidenrentenanteile. 

Jahresbetrag 

Anzahl 

pCt. 

Mk. 

pCt. 

1S77 — 1872  ,20 — 23  nhn^c  kcntencmpfilngcr ( 

3  '97 

1.55 

189679,59 

•-39 

1871—1867  (a6— 30    „             „  ) 

5  759 

2,79 

318598,65 

2i33 

1866—1862  (31—35  ) 

6312 

3.06 

377617,27 

2,76 

1861—1857  (36—40    **             ».  ) 

7819 

3.79 

483339.a3 

3.53 

Archiv  ftir  s«t,  G«4eUgcbuag  u.  Statistik.  XV. 

33 

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5o6 


Jabresbctrsg 

Anahl 

pCt 

Mk. 

pCt 

1856—1852  (41—45  jähr.  RentcneinpfSiiger  )  9333 

4.53 

593  4'®'^° 

434 

1 851  — 1847  (46  -50    „  „ 

1  13805 

6,72 

915  900,61 

6.69 

1846-1842  (51-55      M  n 

)  20941 

10.15 

t  409481,82 

10,30 

I84I      1S37  (56—60      „  „ 

)  39810 

»4.45 

202661  1,72 

14,81 

1836—1832  (61—65  »» 

)  43108 

30,43 

2873442,01 

3l,0O 

1831— 1837  (66—70     „  „ 

)  45307 

31,97 

3070547,13 

32,49 

i8a6  n.  früher  (71  jihr.  u.  Ütere  „ 

)  "794 

ff  A 

■4"95S^|6o 

'o»37 

2.  Kasseneinrichtungeo. 

AlteriTcntenanteile. 

Jahresbetrag 

Anahl 

pCt. 

Mlc. 

pCt. 

1827  f7ojährigc  RcntenempräQgcrj  .    .  . 

•  450 

10,29 

48968,53 

1 1.46 

1826  (71     „                »,             )  •    •  • 

.  608 

13  80 

61  313,06 

»4.34 

1825  (72     „               „            ) .    .  « 

.  658 

•5^04 

61  298,34 

14,34 

1*34(73    M              »           ).   •  • 

.  5«7 

13i4t 

5007«>tOo 

i3»»o 

1823  (74    „              .,           ) .   -  . 

•  S09 

II  «63 

48314,58 

11,30 

i8u  (75    ..             *.          )  •  •  • 

.  45» 

>o>47 

33S73i04 

7,86 

182 1— 1817  (76— 80  jihr.  Renteoempftager)  940 

21.48 

99340,4» 

23.24 

1816— 1812  81—85  „  „ 

)  147 

3.36 

1 5  809,43 

3.72 

1811  — 1S07  1S6 — 90  „  „ 

)  18 

0,41 

1  9^0,75 

0,46 

1806  u.  früher  (91  jähr.  u.  ältere  „ 

)  » 

0,02 

85,00 

0,02 

InTalidenrenteiiaiitei] 

c 

Jabrcsbetiag 

Anzahl 

pCt. 

Mk. 

pCt. 

1877 — 1872  (20 — 25  jähr.  Rentenempfänger 

)  76 

o.;;7 

4  231,20 

0.46 

187 1— 1867  (26—30   „  „ 

)  204 

»»54 

1,24 

1866—1862  (31-35   „  „ 

)  354 

3,68 

90883.65 

3,29 

1861— 1857  (36—40  „  „ 

)  466 

hS» 

38937.53 

3»>7 

1856—1852  (4>^5   «  H 

)  *93 

SM 

45906,38 

5.03 

1851—1847  (4Ä— 50  „  „ 

)  1133 

8.56 

77423,06 

8.48 

1846—184«   (51—55  M 

)  1834 

I3»79 

128713,99 

14,10 

1841  —  1837    (56—60     „  „ 

)  2644 

19,99 

»88333,39 

20,62 

1836  1832    161—65     „  „ 

)  2925 

22,1 1 

209  104,41 

22,90 

1831  —  1827    (60—70     „  „ 

)  2178 

16.46 

1 50  7S0.1 5 

16,51 

1836  u.  früher  (7 1  jähr.  u.  ältere  „ 

)  733 

5.54 

47  445.64 

5.20 

Bei  den  Altersrenten  kann  das  Gebuitsjalir  18:^7  ai  Vergleidien 
nicht  mit  herangezogen  werden,  weil  naturgemäfs  bis  Ende  1897  erst  ein 
Teil  der  bewilligten  .Mtersrenten  aus  diesem  Jahrgange  —  etwa  die 
Hälfte  —  verteilt  war. 


Ernst  Lange,  Statistik  d.  Unfallversicherung  etc.  im  Deutschen  Reich  1897. 


Die  Rentenempfitnger,  die  fiber  70  Jahre  alt  sind,  beriehen  hnner 
noch,  auch  soweit  sie  erwerbsunfähig  sind,  zum  weitaus  gröfsten  Teil 
Altersrenten.  Dies  wird  sich  erst  sehr  allmflhlidi  im  Laufe  der  Jahre 
ändern. 

3.  Aufwand,  Einnahmen  und  Vermögen  der  Versiche- 
rungsanstalten. 

Die  Verwaltungskosten  der  Versicherungsanatahen  stellten  sich 
folgendermaften 


1897 

1896 

1895 

1S94 

Mk. 

Mk. 

Mk, 

Mk. 

Laufen«! c  Vcrwaltungskosten 

3  61 1 630,86 

3387964,67 

3205184,83 

Kosten  der  Erhebungen  vor 

Gcwihntiiff  von  Renten  . 

396044,8s 

316377,68 

818891,53 

143011,31 

Schiedsgeriebtskoaten .  .  . 

335311.W 

398833,68 

30745^39 

Kosten  der  Pi  itragserliebing 

und  der  Kontrolle  .    .  . 

2  196  :r4S,!;S 

2050338.30 

1  814584,25 

I  642495,31 

Kosten  der  kcchbhillc  .  . 

3814,20 

3456x>6 

327368 

Andere   nidit  ^orgetebcne 

78510.76 

76958,87 

115991.20 

79  «44.77 

Ztu.  VerwahaoDgduwtcn 

6690889,00 

6171884,59 

5686930,54 

5<H<39«.— 

Dazu  I'ntsrhHdifjtingen 

ein&chl.  der  Beitrags- 

entatttuigen    .   .  . 

36499579,39  30845528,59  24870213,32 

20  129753,79 

Znsaminni  AiwgrtwB 

43  "0468,39  37017413,18  30557143.86 

25  171 144,79 

An  Kinnahmen  stehen  diesen  Ausgaben  gegenüber: 

1897 

1896 

1895 

1894 

Erlöi  M»  d«a  Beitragt» 

Mk. 

Mk. 

Mk. 

Mk. 

ni:\rkpn   104666538,71  101596395,51  95351893.17  99730431,38 

Erstattung  von  Renten» 

Zahlungen  ....  30781,09  34107,60  36725,23  33173,88 

Strafgelder  and  vertdiie* 

dene  EiuBahmen  .   .  197088,84  159231.25  941837.96  563333,65 

Zinsen   1493^036,43  13783381,97  10356467,61  7984858,68 

Miete    und  Pacht  aas 

GrundbesiU     .    .    .  49050,26  34637.49  29563,37  19558,36 

Zusammen :  Einnahmen  119879491,33  114536753,82  106716487,34  101329354,85 

Davon  ab:  Anagaben  43120468.39  37017 4i3t'8  30557  «43.86  25  171  144,72 

Bleibt:  Beataad  76759033,94  77519340,64  76 159343.48  76158210,13 
Dayon  ab:  Bnlagen  in 

die  Reservefonds')  .  4696962,92  »691843,31  6745735.59  7340838.33 

Bleibt  veriUgbar  73063060^  74837497^43  69413607,89  68817371,90 


')  Abzüglich  der  Entnahmen  aus  den  Resenrefonds  (1897:  35068,40  Bit.). 

33» 


50Ö 


Mis2cllen. 


Das  Gesamtvermögen  der  Venichenmgsanstalten  setite  sich 
am  Schlüsse  der  dnzeinen  Jahre  aus  folgenden  Bestandteilen  zasammeii: 

1897  1896  1895  1894 

Kusenbestand  ein*             Mk.              Üfk.  Mk.  Hk. 
schlicfiOkh  der  Gut- 
haben bei  BonUiEiiMni     S494799i77    7  >  15368,36    8168821,04  9280380,7a 
Weitpapiere  and  -Ur- 
kunden (Ankaufspreise)  521950746,85  443189593,74  363392683.67  285702691,75 
Grundstücke  (Ankaufspr. j  10576796,11     9436455,99  9224301,88  8587897,24 
Zusammen  53So2i342.73  459741  4iS,oo  38o7S;8q6,59  303570969,71 
Hierzu  Wert  d.  Inventar.         942183,98         897436,47  81)1464,18  741639,87 
Gesamtvcrraogcn  538964526,71  460638854,56  381677360,77  304312609,58 

Von  dem  Gesamtvermögen  entfiiUra  auf  die  Reservefonds 

1897   S3 56*6^.44  Mk. 

«896   43604314,99  „ 

»«95   35694105,21  „ 

1894   «789*780.»» 

Die  in  Wertpapieren,  Darlehen  lt.  8.  w.  angelegten  Kapitalien  haben 
sich  durchsdmittlich  verzinst 

1891  m  3,67  pCt. 

1892  „  3,67  „ 

1893  M  3.66  „ 

1894  „  3.65  „ 

"895  3.58 
1896       3,53  „ 

i8ii7       3.49  1. 

An  Beitragsmarken  wurden  von  allen  Versicherungsanstalten  ver- 
kauft in  der 

Lohnklasse         1897  1896  1895  1S94 

L  105135877  105830416  1029^4236  10I46S23S 

n.       1856S6395      184740012      177391:74  174179022 

m.  I19271078         115436086         106698714  I02q:;7209 

IV.  80586745  73505583  66128439  032^4909 

zusammen     490680095        479512097        453202563  441859378 

Unter  den  Beitragsmarken  II.  Lohnklaase  befanden  sich 

1897  452783  Doppelmiuken 

1896  411053 

»895  373149  .. 

»894  »73406 


L.ivjM^L,j  L,y  Google 


Erost  Lange,  Statistik  d.  UiifaUvenicbenmg  etc.  im  Dcatschen  Reich  1897.  J09 

Dem  Prozentsatze  nach  entfielen  aul  die 

von  den  Hcilragsmarkeu  vom  Gesamterlös 


iSq7 

1S96 

1895 

1894 

1897 

1896 

1895 

1894 

pCt. 

pCl. 

pCt. 

pCt. 

pCt. 

pCt. 

pCt. 

pCt. 

L  Lohnkhsf 

SM} 

aa,o7 

",73 

22,96 

14^ 

14.59 

15,12 

»5.32 

u. 

37.84 

3«.53 

39.t4 

3942 

3S49 

36.40 

37.ai 

37.57 

(darantcr  Doppel- 

markin) 

fo.OOi 

(0,09) 

(0.06) 

(0,09) 

(0,08) 

(0,08) 

(0,06) 

III.  Lohaklassc 

24  3« 

24,07 

23.54 

23.30 

27.35 

27.20 

26,86 

26,65 

IV. 

16,42 

15.33 

»4.59 

14.32 

23,10 

21,72 

2U,8l 

20,40 

Die  durchschnittliche  Höhe  des  einzdnen  Wochenbeitzag»  stellte  sich 

1S91  auf  20.81  Pfennige 

1892  „  20. S6  „ 

1803  ■•  20.97 

1894  „  20,99  ., 

1895  „  31,04  I. 

1896  „  si,i7 

1897  H  3i»33 

ist  also  von  Jahr  zu  Jahr  ein  wenig  gestiegen. 


LITTERATUR. 


Asc hro it ^  Dr.  P.  F.y  Laiidgerichtsrat  in  Berlin,  Die  ZwangserzieJtuug 
Minderjähriger  und  der  sur  Zeit  hierüber  vorliegende  Preußische 
Geset»enfwur/.    Berlin  1900.  J.  Guttentag,  Verlagsbuchhdlg. 

Ich  habe  diese  Schrift  erst  kennen  gelernt ,  nachdem  ich  meine 
eigene  Abhandlung,  die  in  diesem  Band,  S.  45S  tV  des  Archivs  abgedruckt 
ist,  bis  auf  die  Kink-itung  und  den  slatisti?>clien  leil  vollendet  hatte. 
Herr  Aschrott  nimmt  auf  die  zur  Begründung  verwertete  Statistik  kerne 
Rücksicht^  er  scheint  auch  sonst  mit  der  Begründung  im  ganzen  ein- 
verstanden ZU  sein.  Seine  Aufgabe  setzt  er  zunächst  darein,  den  Be- 
griff und  die  rechtliche  Stellung  der  Zwangserzidiung  zu  untersuchen  — 
eine,  wie  auch  aus  meiner  juristisch  geringeren  Darstellung  hervorgehen 
dürfte,  durch  das  Verhältnis  der  Landesgesetzgebung  zum  Reichsrecht 
ziemlich  verwickelte  Sache.  Er  unterscheidet  4  Aufgaben ,  die  der 
Landesgesetzgcbung  gestellt  seien,  und  prüft,  wie  (K  r  Kutwurf  jeder  dieser 
Aufgaben  gerecht  werde.  Er  steUt  die  Fnidrinutr  (ad  1).  die  vorge- 
sehenen Einschränkungen  bezüghch  der  auf  otlentliche  Kosten  er- 
folgenden Zwangserziehung  bei  den  Fällen  der  5$  1666  und  1838  B.G.B.  zu 
beseitigen;  d*  h.  diese  eigentlidie  obervormundschaftliche Zwangserziehung 
soll  auch  eintreten  können,  wenn  eine  erhebliche  Gefährdung  des  leib- 
liehen  Wohles  festgestellt  wird,  also  nicht  an  den  Zweck  gebunden  sein, 
den  ihr  der  £ntwurf  S  '  '  sittliche  Verwahrlosung  des 
Minderjährigen  zu  verhüten.  Da  die  Kompetenz  des  Amtsrichters,  über 
jede  erzieherische  Thätigkeit  zu  urteilen,  hierdurch  noch  erweitert  wird, 
so  sclrlicfst  mein  Einspruch  gegen  die  Erweiterung,  wie  der  Entwurf  selber 
sie  enthält,  einen  um  so  schärferen  Protest  gegen  diesen  Vorschlag  ein. 
Unter  II  (S.  23  ff.)  betrachtet  er  dann  die  auch  ihrem  Wesen  nach 
landesgeseizlichen  Fälle;  er  begrtifst  mit  lebhaftem  Beifall,  dafs 
die  untere  Altersgrenze  beim  Vorliegen  einer  sonst  strafbaren  Handlung 
weggefallen  ist  ~>  zur  Begründung  genügt  auch  ihm  die  allgemeine  Rede: 


• 


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Aschrott,  P.  F.,  Die  Zwangseixiehuiig  Minderjähriger  etc. 


„leider  zeigen  sich  nidit  sdlen  bei  einem  Kinde  verbiedieriadte  Neigungen 
schon  vor  dem  vollendeten  6.  Lebensjahre*'  — ;  mit  ebensolchem  Beifall, 
dafs  in  Ziffer  III  die  Zwangserziehung  bis  sum  vollendeten  i8.  Lebens* 
jähre  zugcbssi n  werde.  Nfan  sei  nunmehr,  unter  gleichzeitiger  Anwen- 
dung des  Allerhöchsten  Erlasses  vom  23.  r)ktober  1895  in  der  Lai?e,  .  .  . 
bei  einem  zu  Strafe  verurteilten  Jugendlichen  die  StralvoUstrec  kun^  \  or- 
läufig  auszusetzen  und  *statt  dessen*  lH.*i  dem  Vormunds(  hafisgcru  lite 
die  Anordnung  der  Zwangserziehung  zu  beantragen  (S.  25).  *)  i>ten  ganzen 
Uttiang  der  Gefahr,  und  der  Ungerechtigkeit,  der  mit  dieser  Bestimmung 
das  Thor  geö0het  wird,  habe  ich  in  der  That,  ehe  ich  diesen  Satz  las, 
mir  nicht  vogegenwirtigt.  Sie  bedeutet  nicht  weniger  als:  wenn  ein 
junger  Bursche  wegen  einer  Prttgdd  zu  8  Tagen  Gefängnis  verurteilt 
wird,  so  kann  nach  gesprochenem  und  ,, ausgesetztem"  Urteil,  also  ent- 
IXCiien  den  CIrundregeln  alles  Strafrechts,  dafs  Schuld  und  Strafe  einander 
rechtlich  decken  sollen,  der  Staatsanwalt  (denn  er  hat  ja  die  be- 
dingte Begnadigung  in  seiner  Hand,  und  der  Landrat  wird  sich  ihm 
nicht  versagen)  den  Jungen  abermals  {t^is  in  idem!)  dem  Richter  über- 
antworten, d^  ihn  nun  kraft  Vormundsdiaflsrechtes  zur  Zwangserziehung 
auf  unbestimmte  Zeit  verdonnern  kann  und  soll,  wenn  sie  wegen  Un- 
Ufnglichkeit  der  erddierischen  Einwirkung  der  Eltern  etc.  oder  der 
Schule  zur  Verhütung  des  völligen  sittlichen  Verderbens  ihm  notwendig 
scheint.  Wenn  diese  Befugnis  auch  nur  mit  fonnaler  Gerechtigkeit  an- 
gewandt wird,  so  mufs  sie  relativ  am  häufigsten  gegen  junge  Leute  der 
oberen  Gesellschaftskl.i.ss(,n  sich  richten,  denn  nur  solche  unterstehen  in 
Civilvcrhältnissen  regelmalsig  noch  als  15  —  lüjalxrige  er/iehensciien  Ein- 
wirkungen der  Ehern  etc.  oder  der  Sehnig  die  allerdings  auch  redit  oft 
schlechthin  unzuUtQglich  sind,  ihr  vWiges  sittliches  Verderben  zu  verhüten. 
Der  Minister  des  Innern,  Herr  von  Rhembaben,  hat  diesen  Haken 
des  Gesetzentwurfes  wahrgenommen  tmd  kühn  befestigt,  da  er  ba 
der  ersten  Beratung  im  Herrenhause  (am  11.  Januar)  auf  die  —  „Harm- 
losen" hinwies,  als  zukünftige  Objekte  der  Zwangserziehung.  ^)    Ob  er 

Weniger  bitte  ich  dagegen  dntvweiiden,  in  anderen  Füllen  wo  „wegen  der 
Schwere  der  stiafbMen  Haadlong"  zanicbat  die  Stimfe  voUatreckt  wird,  gleich- 
seitig einen  Beadütifs  des  Vommndschftflaigerichles  auf  Zwangieniehiiiig  herbeixiip 
fOhren  „und  so  dem  JngendUclien  nach  vollstreckter  Strafe  eine  geordnete  Eiziehiuig  sn 

teil  werden  zu  lassen".  Wenn  alx-r  in  einer  Anro.  hinzugefügt  wird,  solche  Nach- 
rrziclnmg  bestehe  in  Hamburg  umi  habe  sich  dort  ,,sehr  bewährt",  so  möchte  ich 
die  Dokumente  kcnrirn,  in  donm  liii.sc  B<  währung  nachgewiestu  wird. 

-)  V'crhaudluugcu  des  HcrrcnbauÄe&  1900  S.  15.  Der  Minister  will  sogar,  oder 
findet  doch  dnrdi  jenen  Proseb  den  Wmuch  nahe  gelegt,  „Jugendliche,  auch  wenn 
sie  majorenn  nnd  (t),  nnd  swar  gerade  Jugendliche  ans  den  oberen  Stinden,  der 
Zwansx^^hmig  tiberweisen  su  lUSonen**.  IHe  Geradheit,  womit  dies  ansgesprochen 
wird,  ist  durchaus  rflbmenswert    Wenn  aber  der  tfuiister,  am  Schlosse  seiner 


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512 


Littentur. 


den  Hi  rron  des  Herrenhauses  damit  die  Sache  empfohlen  habe,  ob  dies 
die  wirkliche  Meinun^j  des  Entwurfes,  oh  eine  entsprechende  f<mna\- 
c:er(?chtc  Anwcndnuf^  des  Ciesetzes  erwartet  werden  dürfe:  dies  alles 
niugea  wir  dahingestellt  sein  la.ssen.  Was  unser  Autor  terner  (suh  III) 
Uber  das  Verfahren  vor  dem  Vormundschafisgerichte  ausfuhrt,  bni  ich 
In  der  I^ge  zum  guten  Teile  billigen  su  können:  er  hat  starke  Be- 
denken dagegen,  eine  Ma&regel,  die  einen  so  eiheblichen  Eingriff  in 
die  Freiheit  der  Familie  mthalte,  in  die  Hand  eines  Einzehien,  des  Amts- 
richters, zu  legen;  er  macht  den  entschiedensten  Einspruch  dagegen 
gehend,  dafs  der  Land  rat  als  „politischer  üeamter"  in  dem  t^itwurfe 
als  fins  geeignete  Organ  lur  die  Stellung  des  Antrages  ciugefülirt  wird, 
und  im-int  ,.d:il's  wir  uns  gerade  bei  der  weiten  Ausdehnung,  die  wir  der 
Zwangser/ichung  jetzt  geben,  vor  nichts  so  sehr  zu  hüten  haben,  als  auch 
nur  den  Verdacht  aufkommen  zu  lassen,  da(s  die  neue  Mafsregel  iu 
irgend  einer  Weise  mit  der  Politik,  mit  politischen  Anschauungen  ver> 
quiekt  werden  könnte*'  (S.  30).  Dagegen  nimmt  Aschrott  einen  früher  *) 
von  ihm  verfochtenen  Gedanken,  für  diese  Funktion  besondere  ,Jugend- 
anwälte"  anzustellen,  wieder  auf  und  fiihrt  ihn  dahin  aus,  dafs  diese  der 
Staatsanwaltschaft  als  deren  Hilfsoronne  zu  imterstellen  seien.  Er 
nimmt  an,  es  würden  pensionierte  Offiziere  fiir  diesen  Posten  besonders 
geeignet  sein  und  sich  bereit  finden  lassen,  eine  solche  „ihren  sozialen 
Verhältnissen  entsprechende  uiid  iiuien  sympathische  Beschäftigung  an- 
zunehmen, die  ihnen  neben  der  Pension  eine  kldne  Nebeneinnahme 
bringt*'.  Dies  ist  gewils  sehr  wohlwollend  gedacht  —  für  die  pensio- 
nierten Offiziere ;  andere  Gründe  werden  schweriich  dafür  sprechen.  Auch 
will  der  Verfasser  (in  IV,  wo  er  die  Ausführung  behandelt),  aufserdem 
noch  besondere  Erziehungsämter  bilden,  in  denen  „neben  Venvaltungs- 
beaniten  und  Juristen  vor  allem  Pädagogen,  aber  auch  Aerzte  ihren  Sitz 
hai)en'  sollen  i^S.  35I  Nach  meinem  schlechten  Verstände  gehören 
in  ein  Krz.iehungsamt  weder  Verwaltungsbcamte  noch  Juristen  als  solche, 
sondern,  wenn  ein  LAienurtcü  genügen  soll,  so  ist  jeder  andere  redliche 
Mensch,  wenn  aber,  —  wie  ich  allerdings  meine  —  eine  fiu:hliche  Quali- 
fikation erfordert  wird,  so  sind  nur  Pädagogen  (männliche  und  weib> 
Hche)  dazu  berufen,  die  nicht  notwendigerweise  als  Lehrer,  wohl  aber 
notwendigerweise  als  Erzieher,  kundig  und  erfahren  sein  müssen.  Be* 


Rcrlr,  TTK-int,  es  handle  sich  darum  ,,srhwrr<-  Sehlden  des  Volkslebens  zo  beseitigen 

uml  gcf;ilirdi-ti-  Krt  i- ■  nn«Tcs  Volkes  wieder  unserem  Volksleben  und  unserer  Ge- 
sittung; zurückzug<-winiK-n''  —  «ItircJi  ilii--'  s  <",<-s,tz'I  ■  so  muls  man  sirh  hetrüheti 
wieder  einmal  über  dos  Material  vuu  liluäioueu,  womit  die  GeseUgebung:>ma.schine 
geheizt  wird. 

'1   In  der  Silirili  ,,Dic  ßcluiadlung  der  verwahrlonUn  und  verbrecherischen 
Jagend  und  Vorschläge  zur  Rcforni".    Herlin,  Liebraann,  1892. 


^         i.y  Google 


A Schrott,  P.  F.,  Die  ZwaugMrrnchuug  Minderjähriger  etc.  513 


Stehen  aber  solche  Erziehungsämter,  so  weifs  ich  nicht,  was  neben  ihnen 
noch  ein  Jugendanwalt  soll;  sie,  die  Eneiehungsbehäf den ,  oder  ein 

ihnen  unterstellender  pädagogischer  Beamter,  wären  die  gegebenen 
Organe  für  diese  pädagogisch-polizeiliche  Thätigkeit.  Ich  habe,  in  diesem 
Sinne,  schon  im  Jahre  iSoi.  in  einem  Gutachten,  da*^  der  von  A. 

3-'  35  erwähnten  Kommission  der  Internationalen  kriminalistischen 
^'ereinigung  vorlag,  den  Gedanken  ausgeführt,  dafs  „Krziehungsräte"  als 
Inhaber  i>taatlicher  besoldeter  Einzelämter  für  mindestens  je  i  Physikats- 
bezirk  ernannt  werden  möditen;  und  füge  heute  wie  damals  hinzu,  dals 
an  deren  Stelle  für  gröfsere  Städte  koll^alische  Erziehungs- 
ämter mit  ihnen  untergebenen  Distriktsbeamten  treten  sollten;  (der- 
gleichen Aeratcr  waren  auch  in  den  V'orschlägen  jener  Kommission  an- 
geregt worden).  Ich  gab  einen  Entwurf  für  die  Abgrenzung  der  Thätigkeit 
solcher  Erziehungsräte.  Ich  wie«;  am  Ende  darauf  hin,  dafs  die  Institution 
dem  Gedanken  nacii  sclion  \orhanden  sei:  „zwar  mit  }?eschräiikung 
auf  Kinder,  die  unter  Vormundschait  stehen,  aber  als  solche  sogar  für 
jede  politische  Gemeinde  vorgesehen".  „Das  ist  die  Institution  des 
Waisen rats.  Sie  entsprang  demselbigen  Bedttrfeisse,  das  wir  heute 
in  tieferer  Weise  erkennen  und  erfüllen  wollen.  Hören  wir  Dembtirg 
(Das  Vormundschaftsrecht  S.  iiS):  (die  Uebertragung  der  ( )berv()rnumd- 
schaft  an  die  Gemeindebehörden  empfahl  sich  nicht  flir  Freuisen  j.  „Da- 
gegen ist  es  /iilassijr  nnd  wünschenswert,  Gcraeindeorgane  zur  Obsorge 
über  die  persönlichen  Verhältnisse  der  Mvindel  heranzuziehen.  *Denn 
die  Erfahrung  zeigt  die  {Berichte  nach  dieser  Richtung 
hin  wenig  geeignet*.  Ist  es  doch  eine  traurige,  aber  kaum  zu 
Uberwindende  Thatsache,  dafs  ein  grofser  Teil  der  vaterlosen,  der  ärmeren 
Klasse  angehörenden  Minderjähr^;en  sittlichem  Verderben  und  Ver- 
brechen anheimtellt.  Zur  Abhilfe  sdilug  der  Regierungsentwnrf  der 
Vormundschaftsordnimg  vor,  für  jede  Gemeinde  oder  für  einzelne  Ge- 
meindebezirke einen  Waisen  rat  einzusetzen,  welcher  *in  freier 
L  i  c  b  c  s  t  h  ä  t  i  k  e  i  1  *  si«  h  der  sittlichen  Hebung  der  Waisen  .  insbe- 
sondere der  arnu  icn  Khisscn ,  annähme.  Ik'i  der  Heratunir  in  den 
Häusern  des  Landtags  erhielt  dieses  Amt  den  (Charakter  emes  Gemeinde- 
amts und  wurde  eingefugt  in  den  ordentlichen  Organismus  der  Verwaltung 
der  Gemeinde."  Soweit  Demburg.  Was  in  Wirklichkeit  aus  dem  unent- 
geltlichen ,  in  freier  Liebesthätigkeit  wirkenden  Gemeindeamt  geworden 
sei,  dafür  verwies  ich  auf  das  Urteil  Münsterbergs:  er  glaubte,  als 
Berichterstatter  über  den  Entwurf  eines  Bürgerlichen  Gesetzbuchs  im 
Deutschen  Verein  für  .Armenpflege  und  Wohlthätigkeit,  '  I  „darauf  hin- 
weisen zu  sollen,  welche  Uebelstande  io  dieser  Beziehung  (Verbindung 


*)  Bericht  Uber  die  lo.  JahresTcmminlang  in  Schmollers  Jahrbuch.  XIV,  s. 
S.  345- 


L.ivjM^L,j  L,y  Google 


5H 


Littemtur. 


der  Vormundschaftsbehörde  mit  der  Gemeindebehörde)  bestehen,  wid 
wie  wenig  die  Wünsche  Verwirklichung  fi&nden,  welche  man  namentlich 

in  Preufsen  an  die  Einrichtung  des  Waisenrates  geknüpft  hatte;  in  der 
That  ist  die  Verbindung  des  Vormundschaftsrirhters  und  des  Gemeinde- 
waisenrats fast  überall  zu  einem  toten  scliriftlirhen  Verkehr  über  die 
Namen  der  Vormünder  herabgesunken ,  bezw.  hieniber  nicht  hinau«;- 
gekttnumu  .  Das  amtliche  Urteil  freilich  lautet  anders.  ..Nach  den  im 
Gebiete  der  Preufsischen  V'orraundschaftsordnung  gemachten  Erfahrungen 
hat  diese  Einrichtung  namentlich  in  den  grüfseren  Städten  sich  entwickelt 
und  woMthätig  gewirkt"  heilst  es  in  der  Denkschrift  zum  (3.)  Entwurf 
eines  Bürgerlichen  Gesetzbuchs  (Berlin  1896  S.  360),  um  die  Ueber* 
nähme  des  Waisenrats  in  das  Reichsvorniundschaftsrecht  zu  begründen. 
Zur  Unterstützung  eines  Kenners  wie  Münsterberg  könnten  aber  noch 
viele  Zeugnisse  angeführt  werden.  So  sagt  Badstübner  Der  Waisenrat 
Berlin  1895  Vorwort  1,  es  habe  sich  gezeigt,  dafs  den  \N'aisenräten  .  ,  . 
„meistens  das  Bewufstsein  für  die  Tragweite  der  ihnen  eingeräumten  Be- 
fugnisse und  der  damit  verbundenen  Pflichten  mangelt".  Dies,  nachdem 
die  Institution  20  Jahre  lang,  bestanden  hatte!  Ebenso  Brückner  (Er- 
ziehung und  Unterricht  vom  Standpunkt  der  Sozialpolitik  Berim  1895 
S.  x6).  „Meistens  hat  es  übrigens  auch  der  Waisenrat  zu  keiner  wirk- 
samen Pflege  der  Minderjährigen  gebracht,  auch  bei  bester  Organisation 
ist  er  nicht  imstande,  die  Mangel  der  Vormundschaft  auszugleichen." 
Was  würde  man  wohl  \on  Rcgieunipstisrhen  aus  sagen,  weini  etwa  für 
militärische  Zwecke  so  unzulängliche,  annselige  und  sehlecht  bewahrte 
Mittel  empfohlen  und  die  Geldbewilligungen  für  bessere  Mittel  verweigert 
würden?!  Aber  ftir  moralische  Zwecke  ist  immer  noch  der  Schein, 
•die  Phrase,  die  Selbsttäuschung  gut  genug!  —  Zum  Beweise,  dafs  hier 
auch  das  Wollen  nur  schwach,  ja  oft  nur  ein  scheinbares  ist,  mt  alt' 
quid  fecisse  videamur!  —  Wenn  in  der  That  der  ernste  Wille  vor- 
handen wäre,  aus  dem  Waisenrat  eine  lebendig  wirksame  Institution  zu 
machen,  so  wäre  die  Finstellung  von  5  —  6  Millionen  Mark  in  den  ordent- 
lichen Etat  das  Allcmiindestc,  was  vcrhngt  werden  inüfste.  —  Auf  diese 
Betrachtungen  führten  uns  Herrn  Aschrotts  Jugendanwaltt-,  und  wir  treuen 
uns,  wenigstens  in  der  Negation  des  kritisierten  ( iesetzentwurfes  mit 
ihm  einig  zu  sein,  Ja  auch  über  die  Richtung,  in  der  eine  wirkliche 
Reform  einsetzen  müiste.  So  kann  ich  auch  manchem  zustimmen,  was 
der  Verfasser  gegen  die  hn  Entwürfe  vorgesehene  Ausführung  geltend 
macht;  insbesondere,  wenn  er  verlangt,  dafs  Vorkehrungen  getroffen 
würden,  damit  das  Kind  nirht  in  eine  Privatanstalt  komme,  die  flir  die 
Zwecke  der  Zwangserziehung  ungeeignet  ist;  werm  er  als  „noch  schlimmer'' 
(als  dafs  ts  inhetroff  der  Privatanstalten  ht-i  den  bi^herigen  \'orsf  hrifteii 
sein  Bewenden  haben  sollej  eine  Bestimmung,  die  von  der  Herrenhaus- 
kommission in  den  Entwurf  hineingebracht  ist,  bezeichnet;  wonach  (imd 
zwar  bis  zum  i.  April  1903  ohne  jede  Einschränkung)  die  Kommunal- 


Tugan-BAranowsky,  11,  Geschichte  der  russischen  Fabrik. 


verbände  Zwangszof^lin^e  auch  in  einer  Korrekiionsanstalt  oder  in  einem 
Lnndannenhausc  unterbringen  dürfen  (S.  431;  wenn  er  endlich  meint, 
wenn  man  den  Zuwachs  an  Zöglingen  nicht  in  gehöriger  Weise  unter- 
bringen könne,  so  solle  man  lieber  das  bikrafltreten  des  Gesetzes  „etwas 
hinausschieben"  (S.  44).  Meinetwegen  in  Kaienäas  Gratcas.  Mit  Recht 
wird  auch  gerügt,  dafs  die  Begründung  ttber  die  Frage  der  Ausführung 
so  wenig  enthalte,  und  sich  eingehend  nur  mit  dem  Kostenpunkt  und 
mit  Verteilung  der  Kosten  beschäftige  (S.  37).  Was  nun  diese  angeht, 
so  bin  ich  —  wenn  einmal  dies  Gesetz  gemacht  werden  sollte  —  wieder- 
um mit  Herrn  Aschroit  einverstanden,  dafs  am  l)esten  den  Schwierigkeiten 
(der  ungleichen  Leistungsfähigkeit  der  Provinzen)  sich  begegnen  liefse, 
wenn  der  Staat  einen  festen  Zuschufs  pro  Kopf  dc.^  Zoglmgs  zahlen 
würde;  ganz  und  gar  nicht  einverstanden  aber,  dafe  der  Staat  selber 
durch  seine  Bezirksr^ienmgen  die  Zwangserziehung  in  die  Hand  nehmen 
solle.  Die  Sache  würde  dadurch  voraussichtlich  nur  bureaukratischer 
und  seelenloser  gemacht.  Die  Vorsteher  und  Beamten  der  provinziellen 
Kommunalverbände  sind  durch  Kenntnis  von  I  and  und  Leuten,  durch 
gröfserc  Freiheit  und  Fähigkeit  der  Anpassung  an  Sitten,  Anschauungen, 
Redeweise  <1es  X'ulkes.  durch  näheren  Zusanimenhnng  mit  den  lokalen 
Hehurden  weil  besser  geeignet,  solchen  moralischen  Aufgaben  innerlich 
gerecht  zu  werden. 

FERDINAND  TÖNNIES. 


Tugan'Baran0'Wsky^  GiuhiekU  der  russisehm  Fabrik.  Vom 
Verfesser  revidierte  deutsche  Ausgabe  von  Dr.  B.  Minsks. 
(A.  u.  d.  T.  Sozialgeschichtliche  Forschungen.  Ergänzungs- 
hefte zur  Zeitschrift  für  Sozial*  und  Wirtschaftsgeschichte, 
herausg^eben  von  Dr.  Stephan  Bauer  und  Dr.  Ludo  Moritz 
Hartmann.  Berlin  1900,  Emil  Felber.   8^  VI  u.  636  S 

Rufslands  Wirtschaftsgeschichte  bietet  uns  nicht  nur  Interesse  an 
und  für  sich,  sondern  auch  als  bedeutendes,  in  mancher  Hinsicht 
eigenartiges  Glied  der  allgemeinen  europäischen  Wirtschaftsgeschichte. 
Leider  befindet  sich  der  des  Russischen  nicht  mächtige  Spezialfbrscher, 
vom  Laien  schon  gar  nicht  zu  reden,  inbezug  auf  Rufilaiid  in 
einer  sdtr  mifsUchen  Lage :  er  ist  angewiesen  entweder  auf  die  Original* 
Studien  weniger  nicht  russischer  Forscher,  auf  Uebersctzungen  aus  dem 
Russischen  oder  auf  mehr  oder  minder  zuPällige  und  dalx-i  kurze  Be- 
richte über  neuere  russische  Spe/ialwerke.  Da  aber  l)is  auf  den  heutigen 
Tag  in  der  einschlägigen  nuisischen  Litteratur  selbst  hinsichtlich  der 


516 


Litteratur. 


allerwichtigsten  Fragen  ein  „Streit  der  Parteien"  herrscht  und  Uber  den 
„Entwicklungsgang**  der  russischen  Sozialwirtschaft  die  Gelehrten  uneinig 
sind,  so  ist  die  Lage  eines  Berichterstatters  umso  mifslicher,  als  man  in 
der  russischen  Farhlitieratur  auch  „zwischen  den  Zeilen*'  lesen  mufs.  In 
Aiil>etracht  der  spezifisch  russischen  litternrisch-f^esoHst  haftlichen  Mifsvcr- 
halttiisse  (Zensur!!  nitirste  eigentlich  i^ler  Kritiker  eines  russischen  „grimd- 
legenden"  Werkes  auch  die  wohlweislich  gedaiuplien  „Zukunti^niusik- 
Töne"  berücksichtigen,  liefe  er  nicht  dabei  Gefahr,  dem  Verfasser  gerade 
dort  die  Karten  aufzudecken,  wo  dieser  sie  notgedrungen  verhehlen  mufs. 

Diese  „Töne"  drückten  besonders  in  den  letzten  Jahrzehnten  der 
russischen  volkswirtschaftlichen  Literatur  einen  charakteristischen  Stempel 
auf  und  könnten  auch  zum  Verständnis  der  unaufhurlichen  Kämpfe 
zwis(  hen  den  ..Narodniki"  und  „Marxisten"  als  Schlüssel  dienen.  Jene 
erl)licken  in  dem  „Volke"  iNarod),  das  /um  aUergrulsten  Teil  aus  grund- 
besit/enden  Hauern  besteht,  diese  in  der  j>roletarisierten  Arbeiterklasse, 
die  zweifelsohne  in  Zunahme  begritlen  ist,  den  Haupthebel  des  russischeu 
Fortschritts;  jene  sind  der  Meinung,  dafs  Kuisland,  ftir  den  Weltmarict 
ein  Agrikulturstaat  nun*  i^oxßy»  dank  seinen  Agrarverhältnissen  und 
wegen  der  Konkurrenz  der  bedeutend  fortgeschritteneren  Industriestaaten, 
die  Hauptaurga])e  seiner  So/.iali>olitik  im  Kampfe  mit  den  Verhältnissen, 
die  zur  Proletarisierung  der  Bevülkenmg  führen ,  erblicken  müsse  und 
k()nne .  diese  hegen  die  feste  Uel)erzcugung ,  dafs  Rufsland.  einmal  in 
den  Strom  der  kapilalistis(  hen  Produkt ions-  und  W  irt-(  liattsform  hinein- 
gerissen, notwendigerweise  von  den  von  Marx  entdeckten  Gesetzen 
auch  weiter  beherrscht  sein  würde,  um  dann  in  Gemeinschaft  mit  den 
westeuropäischen  Industriestaaten  in  das  breite  Meer  der  Sozialisierang 
hineinzumünden,  was  umso  wünschenswerter  sei,  als  hierin  auch  die 
sicherste  Bürgschaft  für  den  Sieg  der  bestmöglichen  Produktionsweise 
liege.    Fert  unda  nec  regitur! 

Die  (jeschichte  der  russischen  Fabrik  ,  die  mit  der  Geschichte  der 
arbeitenden  Bevölkerung  —  der  landlichen  und  städtischen  —  in  so  engem 
Zusammenhang  steht,  ist  wohl  geeignet,  zur  Lösung  der  erwähnten  Slreit- 
tragcü  das  werlvoUsle  Material  zu  liefern.  Deshalb  verdient  das  Werk 
des  Petersburger  Universitätsdozenten  Tugan>Baranowsky  besondm  be« 
achtet  zu  werden,  wie  dürftig  auch  die  Quellen,  die  ihm  zur  Verfügung 
standen,  in  mancher  Hinsicht  sem  mögen. 

„Meine  Aufgabe  war'',  sagt  der  Verfasser,  „die  allmählichen  Verände- 
nnigen  der  inneren  Ordnung  der  russischen  Falirik  unter  dem  Eintlufs 
der  \  eninderungen  <les  sozialökonomischen  Milieus  deutlich  genug,  doch 
ohne  ubertlussigi-  Kin/elheiten  darzustellen.  Ich  wollte  zeigen .  wie  die 
ursprunglich  kautmannische  Fabrik  auf  der  Hasis  der  ökonomischen  \  er- 
hältnisse  des  petrinischen  Kufsiand  entstanden,  im  I^ufe  des  XVIII.  Jahr- 
hunderts  in  die  auf  Zwangsarbeit  fufsende  Adelsfabrik  sich  verwandelte, 
wie  diese  letztere  in  der  nikolaitischen  Epoche  allmählich  abstarb  und 


Ta£an*Baranowsky,  M.,  Geaclrichte  der  russisclieii  Fabrik.  ^ij 


durch  die  neue  aus  der  Kustarhutte  /um  Teil  entstandene  kapitalistisc  lie 
Fabrik  ersetzt  wurde;  wie  sich  endlich  in  den  verschiedenen  Ki)ochen 
der  Stand  der  Fabrikantenklasse  veränderte,  aus  welchen  Schichten  sich  die 
Fabrikantenklasse  zosammensetzte.  Ich  war  bemttht,  die  Beziehungen 
zwischen  Grofs-  und  Kleingewerbe  wlhrend  der  Epoche  der  Leibeigen* 
Schaft,  wo  die  russische  Fabrik  Maschinen  kaum  kannte,  zu  skizzieren. 
Stets  dessen  eingedenk,  dafs  es  nicht  das  Bewufst-ein  des  Menschen, 
das  ihr  Sein,  sondern  «mi^ckehrt,  ihr  gesellscliaftlii  lies  Sein  ist.  das  ihr 
Bewufstsein  bestimmt >  ,  betrachtete  ich  die  Fabrik;.;esetzgehung  und  die 
in  der  Gcsellscliatt  herrschenden  Ansichten  und  Anscliauunj^^en  über 
Fragen  des  Fabrik wesens ,  als  einen  Ausdruck  der  gegebeneu  wechsel- 
seitigen Beziehung  Twischcn  den  gesellschaftlichen  Kräften.  Bei  der 
Beurteilung  der  gesetzgeberischen  Thätigkeit  des  Staates  stellte  ich  mir 
zur  Aufgabe,  nicht  so  sehr  diese  oder  jene  Mafsnahme  vom  Standpunkte 
der  Zweckmäfsipkeit  zu  kritisieren ,  als  die  wirklichen  Ursachen  aufzu* 
hellen,  infolge  welcher  diese  Mafsnahmen  ins  Leben  gerufen  worden 
waren.  Ueberhatipt  verfolgt  dieses  Ruch  ein  ausschliefslich  wissenschaft- 
liches Ziel  —  die  wirklich  vorhandenen  Thatsachen  zu  erklären."  (V'or> 
wort  S.  2.) 

Des  Hüttenwesens  erwähnt  der  Verfasser  nur  sehr  selten,  der  pol- 
nischen Industrie  gar  nidit.  Auch  beschränkt  er  seine  Untersuchung 
auf  den  in  indusirieUer  Hinsicht  typischen  2^tralrayon  Ru&Iands. 

Dieses  Buch  ist  der  erste  ^md  des  Werkes.  Hier  versucht  der 
Verfasser,  die  Geschichte  der  russischen  Fabrik  in  allgemeinen  Zügen 
7ti  schildern.  Die  gegenwärtige  Lage  der  Fabrik  und  des  Fabrikarbeiters, 
die  geographisclie  \'erteilung  der  russischen  Fabrikindustrie,  die  Konkurrenz- 
bedingungen verschiedener  Gewerbetjebiete  .  das  Konkiirrcn/x  n  haltnis 
zwischen  Fabrik  und  Kustarj,  die  liedeutung  des  Verhältnisses  /wischen 
Kustarj  und  Acker,  die  Arbeitsdauer  in  verschiedenen  Gewerbezweigen, 
Frauen'  und  Kinderarbeit,  die  ökonomische  Lage  des  jetzigen  Fabrik* 
arbeiters  und  dergleichen  mehr  sollen  erst  im  zweiten  Bande  untersucht 
werden. 

Der  Gegenstand  dieses  ersten  Bandes  ist  lediglich  die  Darstellung 
der  Fabrikgcschichte,  die  ineistentcils  bis  in  die  neueste  '/.eit  ihre  F.nden 
spinnt.  Nur  die  Geschichte  der  Anschauungen  untcrl)richt  <ier  X'erfas^er 
mit  den  70er  Jahren,  da  die  Untersuchung  der  neuesten  Litteratur  der 
Fabrikfrage  von  der  Charakteristik  der  jetzigen  Lage  des  russischen 
Fabrikwesens  nicht  getrennt  werden  könne. 

In  der  „Einleitung"  wird  die  russische  Fabrik  im  XVIIL  Jahr* 
hundert  behandelt.  Auf  Grund  der  Aussagen  verschiedener  Ausländer, 
die  Rufsland  besn<  lu  hatten,  und  der  Untersuchungen  rus'>ischcr  For- 
scher, kommt  der  Verfasser  ztini  S<  lilufs,  dafs  bereits  im  moskovitischen 
Rufsland  in  dem  Handel  das  Km] mal  eine  sehr  grofse  Rolle  gespielt,  in\ 
Gewerbe  dagegen  die  Kleinmdustric  unbeschränkt  geherrscht  hatte.  Wiq 


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Littcratur. 


in  anderen  Ländern,  so  ging  auch  in  Ru&land  dem  Gewerbekapitalismus 
der  Handelskapitalismus  voran.  • 

^Die  russische  althergebrachte  kapitalistische  Klasse  —  der  Kauf- 
mannsstand -  äufserte  gar  keine  Neigung,  sich  der  Produktion  zu  be- 
marhtiiren.  Der  Knufmniin  zog  es  vor,  den  Markt  beherrscliend ,  die 
ArbeitspK uiukte  di-r  kleinen  Produzenten  aul/ukauf'eii  und  diesen  in  voll 
kouimcner  Abiiongigkeit  zu  halten ,  ohne  ihn  in  einen  Loiniarbciter  zu 
verwandeln.**  Erst  unter  Peter  entsteht  die  Grolsindustrie  unter  unmittel- 
barer Mitwirkimg  der  Regierung. 

Die  Umbildung  der  kustarischen  Produktion  in  eine  fabrikmiUsige 
war  früher  aus  dem  einfachen  Grunde  unmöglich,  weil  sich  bei  der  da- 
mals herrschenden  primitiven  Produktioustechnik ,  bei  der  Pänfachheit 
und    P>illiL;keit    der    hergestellten  Waren,   die   Kleinprf>duktion  mehr 
rentierte     Was  aber  die  Produkte,  die  von  den  Kustaren  nicht  ver- 
fertigt wurden.  betritVt,  wie  /.  15.  feine  Tuchsorten,  Leinwand.  Seidenstoffe 
und  dergleichen,  so  standen  der  Organisation  von  speziellen  i  abnkuntcr- 
nehmungen  zur  Herstellung  dieser  Produkte  zwei  Hindemisse  im  N\  egc : 
das  Fehlen  geschulter,  kunstfertiger  Arbeiter  imd  die  Absatzschwierigkeit, 
,  da  auf  solchen  ausländischen  Waren  ein  geringer  Zoll  lastete.  Das 
Imltistriegewerbe  des  moskovitischen  Staates  behielt,  trotz  der  Entwicklung 
des  Handels,  seinen  primitiven  Charakter,  und  es  würde  diesen  noch 
lange  bewahrt  haben,  wenn  nicht  auf  der  Bühne  der  Volkswirtschaft  ein 
neuer  Faktor  aufgetreten  wäre  —  der  Staat  und  an  dessen  Spitze  der 
willensstarke,  bahnbrechende  Peter  der  Grofse,  der  m  ^euien  Bestrebungen, 
in  Rufsland  eine  Fabrikindustrie  zu  gtünden,  energisch  ans  Werk  guig. 
Und  es  war  ihm  auch  gelungen,  eine  Grolsindtistrie  ins  Leben  zu  rufen, 
da  es  genug  Vorbedingungen  dazu  gab,  die  ihrerseits  kein  Ergebnis  von 
Regierungsmafsnahmen ,  sondern  das  der  natürlichen  Handelsevolution 
gewesen.    Das  Handelskapital  war  die  Basis,  auf  welcher  während  der 
Ej)oche  Peters  die  Grofsindustrie  emporwuchs.    Dies  ersieht  man  daraus, 
dafs  zunächst  die  meisten  ersten  Fabrikanten,  zum  allergröfsten  Teil  ge- 
borene Russen,  aus  den   Hesit/ern  des  Handelskapitals  bestanden,  und 
dafs   sodann    trotz    Regierungsunterstützung,   die   man    übrigens  nicht 
Überschätzen  darf,  die  Gründung  einer  Fabrik  mit  groften  Angaben  ver- 
bunden war.   Ueberhaupt  wurden,  laut  offizieUeo  Angaben,  die  m^ten 
Fabriken  ohne  Geldsubvention  von  Seiten  dor  Regierung  gi^iründet. 
Die  von  Peter  zu  Gunsten  der  Grofsindustrie  getroffenen  Maüfsregeln 
versetzten  manchem  kustarmäfsigen  Gewerbezweig  einen  harten  Schlag. 

Diese  Politik  führte  zur  Entstehung  der  russischen  ( trofsindustrie. 
Nichtsdestoweniger  kann  Peter  schon  aus  dem  einlachen  Giunde  nicht 
als  der  Schopter  der  ru^M^  In  n  kapitalistischen  Industrie  betrachtet  werden, 
da  die  von  ihm  ins  Leben  gerufenen  Grofsgewerbe  lücht  kapitalistisch 
waren.  Rufslands  damalige  sozialen  imd  wirtschaftUchen  Verhältnisse 
machten  überhaupt  das  Vorhandensein  der  kapitalistischen  Produktion 


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Tugan-Baranowsky,  M.,  Geschichte  der  russischen  Fabrik. 


5*9 


unmöglidi.  Dazu  fehlte  vor  aUem  ^e  Hauptbedingimg  —  eine  freie 
Arbeiterklasse.  Die  Gesamtmasse  der  Dorfbewohner  war  unfrei:  zum 
Teil  waren  sie  Leibeigene  des  Staates,  zum  Teil  der  Grundherren.  Die 

Stadtbevölkerung  war  nicht  grofs  und  bestand  in  hohem  Mafsc  aus  den- 
selben leibeigenen  Klemcnten.  Dies  führte  dazu ,  dafs  es  den  nicht 
adeligen  Fabrikanten  gestattet  wurde  (18.  Januar  1721),  für  ihre  industri- 
ellen Unternehnmngeu  ganze  Dörler  aufzukaufen.  Dem  folgte  der  Ukaz 
vom  Jahre  i  7  36,  wonadi  die  freien  Arbeiter  an  die  Fabriken  för  ,,ewig" 
gebunden  wurden.  Die  Fabriken  gingen  also  zur  Zwangsarbeit  über,  und 
in  der  russischen  Gro(smdustrie  bekam  das  Verhältnis  zmschen  Kapital 
und  Arbeit  ganz  andere  Formen  als  in  Westeuropa.  Die  Fabriken 
machten  indessen  keine  Fortschritte:  der  Unproduktivität  des  russischen 
Arbeiters,  durch  die  der  Fabrikant  sich  vcranbfst  fühlte,  ihn  in  einen 
unfreien  zu  verwandeln ,  vermochten  die  Zwangsverhältnisse  erst  recht 
nicht  entgegenzusteuern.  Nach  Peter  erhebt  der  Adel  sein  Haupt,  ge- 
winnt an  Einflufs  und  erwirkt  endlicli,  dafs  man  den  Kaufleuten  das 
Recht  nimmt,  für  die  Fabriken  Bauern  au  kaufiea  Als  Ergebnis  all 
dieser  gesetzlichen  Mafsnahmen  ging  in  der  ständischen  Zusammensetzung 
der  Fabrikantenklaase  eine  bedeutende  Veränderung  vor  sich.  Hatte  es 
unter  den  petrinischen  Fabrikant  beinahe  keine  .Adeligen  gegeben,  so 
finden  wir  während  der  Regierungszeit  der  Kaiserin  Katharina  II.  adelige 
Fabrikbesitzer,  und  im  letzten  Viertel  des  XVIII.  Jahrhunderts  findet  ein 
rascher  Uebergang  der  Fabriken  aus  den  Händen  der  Kauficute  in  die 
der  Adeligen  statt. 

In  der  Katharinaschen  Kommission  flir  die  Ausarbeitung  eines  neuen 
Gesetzeskodex  stimmte  das  Manufakturkoll^  mit  den  Ansichten  des 
Adels  ttberein,  indem  es  forderte^  man  solle  die  Kustaigewerbe  ermuntern, 
die  Fabrikmonopole  und  die  unfreie  Fabrikarbeit  aufheben.  Für  die 
Freiheit  dtB  bäuerlichen  Gewerbes  und  Handels  setzten  die  Adeligen  ihre 
F<irderungen  energisch  ein ,  da  es  in  ihrem  Interesse  lag,  und  die 
Lehren  der  Physiokraten  waren  nur  Wasser  auf  ihre  Mühle.  Die  Folge 
davon  war  eine  Reihe  von  Gesetzen  zu  Gunsten  der  Gewerbe-  und 
Handelsfreiheit,  durch  die  der  rasche  Aufschwung  der  Industrie  bewirkt 
wurde.  Als  die  Kaiserin  (im  Jahre  1726)  den  Thron  bestieg,  zählte 
man  in  Rufiland  9S4  Fabriken  (abgesehen  von  den  Bergwerksbetrieben), 
während  ihres  Todesjahres  gab  es  solcher  316t.  Schon  ^  Vermehrung 
der  Stadtbevölkerung  von  328000  (im  Jahre  1724)  bis  auf  i  301  000 
(im  Jahre  1796)  mufste  selbstverständlich  den  Fabrikanten  erleichtert 
baV)en,  Lohnarbeiter  zu  finden.  Jedoch  die  gröfste  Rolle  spielte  dabei 
der  Umstand,  dafs  unter  den  grundherrlichen  Leibeigenen  der  Fron- 
dienst durch  die  Zinsabgaben  ^übrokj  immer  mehr  ersetzt  wurde,  was 
die  Bauern  veranlafste,  in  der  weiten  Feme  Verdienst  zu  suchen.  Diese 
zinspflichtigen  Landleute  lieferten  das  Hauptkontingent  der  freien  Lohn* 
arbeiter.    Im  XVUL  Jahrhundert  machte  die  russische  Großindustrie 


520 


Litteratur. 


gerade  damals  die  meisten  Fortschritte,  wo  sie  am  wenigsten  durch 
Schutzzölle  begünstigt  wurde  (vgl.  die  Katharinaschen  Zolltarife  von  den 
Jahren  1766,  1782  und  1703!),  obzwar  auch  unter  dieser  Kaiserin  den 
Fabrikanten    einsi  hneidende    Privilegien    und   Begünstigungen    zu  teil 

wurdi-n  Kin  interessantes  Moment  ist,  dafs,  wie  wir  (irund  genug  an- 
zunehmen haben,  /ur  /aIi  der  Kaiserin  Katharina  nieht  nur  die  Fabrik- 
industrie einige  Forisi  liritte  verzeiclmete,  sontlern  die  bäuerUchen  Cle- 
werbe  sich  in  noch  bedeutenderem  Mafse  entwickelten.  Diese  Erfolge 
der  Kustargewerbe  standen  in  einem  gewissen  Zusammenhange  mit  der 
Vermehrung  der  Zahl  der  Fabriken  und  der  Fabrikarbeiter.  Die  B'abrik 
war  im  XVIII.  Jahrhundert  die  einzige  Schule  der  gewerblirhet)  Technik. 
Diese  Fabriken  waren  indes  einfache  Manufakturen  und  wurden  für  die 
Kustari  zu  einer  praktist  hen  Schule.  Die  l""abrikarbeiter ,  gewöhnlich 
Landleute,  die  sich  niu-  eine  jjewisse  Zeit  in  den  Fabriken  aufhieUen, 
ptlcifteii  in  ihre  lleiraat  auf  das  flache  Land  zurückzukeliren,  dort  eigene 
klenieii-  Werkstätten  lu  gründen  und  auf  solche  Weise  auch  unter  iliren 
Dorfgenossen  die  in  der  Fabrik  erworbenen  technischen  Kenntnisse 
zu  verbreiten.  In  dieser  Epoche  kam  der  Antagonismus  zwischen  den 
Kustari  und  den  Fabriken  nur  in  sehr  schwachem  Grade  zum  Ausdruck» 
da  die  bedeutendsten  und  gröfsten  Fabriken  solche  Waren  produrierten, 
die  in  der  Kustarliütte  nicht  hergestellt  wurden.  W  o  der  Antagonismus 
dennoch  zum  Durchbruch  kam  (z.  B.  bei  der  Konkurrenz  der  Kattun- 
fabriken mit  den  liauerlichen  Leinwanddrui  kern  1 ,  pt1ep:te  die  f^)ualität 
der  Produkte  der  Fabrik  und  der  Kustarhuiie  derait  \ erstliieden  zu 
sein,  dafs  eigentlich  von  keiner  Konkurrenz  die  Rede  sein  konnte.  Die 
russische  Fabrik  des  vorigen  Jahrhunderts  •  produzierte  hauptsächlich 
yTaren,  die  fiir  die  Regierung  geliefert  oder  für  den  Gebrauch  der 
höheren  Bevölkenmgsklassen  bestimmt  wurden,  dagegen  verfertigten  die 
Kustari  grobe  Waren,  die  ihre  Kunden  unter  der  einfachen  Bevölkerung 
fanden. 

Und  nun  geht  der  \  erlasser  im  ersten  Buch,  welches  der  (ieschichtc 
der  russischen  Fabrik  in  den  ersten  bo  Jahren  unseres  Jahrhunderts  (also 
vor  der  üauernbelremngj  gewidmet  ist,  zu  seuiem  eigeuilicheu  Thema  Uber. 

Im  XVIIL  Jahrhundert  hatten  sich  die  Gewerbezweige  entwickelt, 
die  die  Nachfrage  des  Staates  befriedigten  (Tuch>,  Segeltuch*,  Schreib- 
papier-,  Leinwandproduktion).  Dagegen  wird  im  XIX.  Jahrhundert, 
während  der  Vorreforinzeit,  das  staunenswerte  rasche  Wachstum  der 
Baumwollfabrikation,  die  von  der  Nachfrage  der  Regierung  vollkommen 
unabhängig  war,  zum  Hauptfaktor.  In  allen  Büchern,  weh  lie  die  Frage 
des  aufialtenden  Wacli^tums  der  russischen  Baumuuilwcl)erei  in  dem 
zweiten  V  iertel  des  XIX.  Jahrhunderts  so  oder  anders  behandeln,  wird 
dies  irrtümlicherweise  ausschliefsUch  mit  der  Herausgabe  des  äufserst 
schutzzöllnertschen  Tarife  vom  Jahre  1S22  in  ursächliche  Beziehung  ge> 
bracht,  wo  doch  der  Grund  davon  in  den  während  der  Jahre  1825, 


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Tagan>Baranowsky',  M.,  GcKbkhte  der  nuiiicheii  Fabrik.  ^21 


1S36,  1839 — 40  in  England  stattgehabten  Gewerbekrisen,  die  zur  tech* 
nischen  Vervollkommnung  der  Garnproduktion,  folglich  zur  Verbilligung 
der  (iarnpreise  führten,  liegt:  trotz  des  Tarifs  vom  Jahre  1^22  fiel  in 
Riifsland  der  darnpreis  rasch.  Parallel  hiermit  sanken  auch  die  Preise 
des  Perrais  und  des  Kattuns,  die  Nachfrage  n.irh  HauinwoUgeweben 
wuclis  und  die  Produktion  derselben  nahm  zu.  Dasselbe  wiederholte 
sich  im  Jahre  1841  nach  dem 'Inkrafttreten  der  erhöhten  EinfuhtseoU- 
Sätze  auf  englisches  Baumwollgarn:  in  der  ersten  Hälfte  der  40er  Jahre 
war  der  Preis  des  englischen  Garns  in  Suja  um  15^30  Procent  billiger, 
als  während  der  vorhergehenden  fünf  Jahre. 

Und  so  findet  vor  allem  die  Entwicklung  des  russischen  Baumwoll* 
gewebes  in  den  allgemeinen  Wcltvcrhältnissen  der  (iewerbeevolution 
ihre  Erklärung.  Rufsland  wurde  in  den  Kreis  der  kapitalistis(  hen  Ent- 
wicklung Englands  hineingezogen  und  ei^niete  sich  die  technisclicn  Fort- 
schritte des  letzteren  an.  Selbstverständlich  war  dies  nur  dank  dem 
hohen  russischen  Schutzzoll  möglich,  denn  sonst  würde  die  russische 
Baumwollweberei  der  im  Vergleich  zu  ihr  in  technischer  Hinsicht  bei 
weitem  fortgesdiritteneren  englischen  unterlegen  sein. 

Erst  seit  den  40  er  Jahren  ftifst  die  ruasiadie  BaumwoUsfMnnerei 
feste  Wurzeln,  als  ihr  die  Möglichkeit  gewährt  wurde,  englische  Maschi- 
nen zu  beziehen.  Auch  dürfte  der  hohe  Schutzzoll  (nach  dem  Jahre 
1842  50  Prozent  ad  valorem)  viel  dazu  l)eigetragen  haben. 

Das  rasche  Wachstum  der  liaumwollwcberei  in  Rufsland  wie  in  den 
anderen  Staaten  rief  eine  schwere  Krise  im  Leiuengewerbe  her\or. 
Dieses  alte  bäuerliche  (iewerbe  hatte  noch  im  raoskovitischen  Rufsland 
bedeutende  Dimensionen  erreicht.  Im  XVIL  Jahrhundert  exportierte 
Rufiland  groise  Mengen  Leinwand  Im  XVIII.  Jahrhundert  wuchs  die 
Ausfuhr  der  Leinwandfidsrikat^  im  XDL  veränderte  sidi  die  Lage  — 
die  Ausfuhr  begann  zu  sinken.  Die  Ursachen  dieses  Sinkens  waren 
baupCsttcblich  technischer  Natur.  Das  russische  Gewerbe  mufste  also 
immermehr  seinen  Rückhalt  auf  dem  inneren  Markt  suchen,  da  Rufs- 
land, wegen  seiner  technischen  Rückständigkeit,  mit  Wet>tetiroj>a  nicht 
konkurrieren  konnte.  Daher  vermochten  sich  nur  solche  Gewerbe/weige 
bedeutend  zu  entwickeln,  die  so  billige  Produkte  herstellten,  dais  sie  von 
einer' so  aimen  Bevölkerung,  wie  es  das  russische  Bauemvolk  ist,  gekauft 
werden  konnten. 

Die  Ttichfabiikation,  dieses  Hätschdkind  der  russischen  Regierung, 
machte  im  XVIIL  Jahrhundert  sehr  schwache  Fortschritte. 

Und  erst  nach  dem  Jahre  18 16,  wo  die  Tuchfabriken  von  jeder 
Reglementierung,  die  ihren  Fortschritt  nur  hemmten,  befreit  wurden,  be* 

ginnt  sich  die  Tuchfabrikation  7\i  entwickeln:  im  Jahre  1814  gab  es  235, 
1825 — 324,  1S50 — 492  Tuchfabriken. 

Die  unter  der  unmittelbaren  Einwirkung  der  Regierung  gegründeten 

Archiv  für  soz.  Ceseugebuug  u.  Statiitik.  XV.  34 


522 


l.iUcratur. 


Fabriken  beruhten  auf  Zwanjisarbcit  und  waren   grof^'-  lletriebe,  die 

lihriu.  n  w  iion  ;ui  Umfang  kleiner,  hatten  die  grosse  Volksraassc  /um 
Abr.cIiiiuM  il.ii  i  I■.t/L•u^I^is^o  nm!  ver/cit  hiieton  wrluiltiii^märsifi  hedcutond 
;rröf-.crc   l  oiisi  hiiitc.  relative  /.ilil    der   unfreien  Arln  itcr  Itct.ind 

si«  li  in  stetiger  AImkiIuiu.'  nn'l  in  ursiehlieheni  /iN.nnnicnlKin<:e  mit  dem 
Wachstum  der  ii;uuiiuo(lindustrie,  des  1  U'  iiL;e\veibe>,  wo,  bei  Herstellung 
feiner  uod  mittlerer  Tuchsorten,  freie  Arbeiter  vorzugsweise  beschäftigt 
wurden.  Die  Verminderung  der  Zahl  der  Fabriken  mit  leil)eigenen 
Arbeitern  ersiebt  man  aus  der  relativen  Abnahme  der  Zahl  adeliger 
Fabriken. 

Nach  dem  Moskauer  Brande  beginnt  für  das  Zentiutn  der  liaum- 
woUindustric,  daN  1  )orf  Ivnnovo,  eine  niiitezeit:  die  Profile  stielten  ins 
iMiertnel>liehe,  bis  /um  „funff.uhen  Knltci"'  (300  l'ro/ent  1  und  eine  An- 
zahl kleiner  Produzenten  veiniochie  sich  zu  bereiehern.  Obschon  aui 
Anlange  der  /wanziger  Jahre  der  Preis  der  Druckarbeit  und  des  fertig 
gedruckten  Kattuns  zu  sinken  l>eginnt,  vermochten  die  kleinen  Fabri» 
kanten  indes  bescheidene  Kapitalien  anzuhäufen,  die  dann  ungehindert 
immer  mehr  und  mehr  wachsen  konnten.  Alle  Ivanovoer  Fabrikanten; 
von  denen  viele  Millionäre  waren,  entstammen  dem  Bauernstände.  Die 
Mehrzahl  von  ihnen  waren  gleicli  den  Sujaer  Patirikhesitzern  urs]>rnni^- 
lieh  selbständige  Krzeuuer-Ku>tari  ('der  l'a'hrikarbeiter.  Auch  an  anderen 
Orten  fantl  der>elL)e  L'eliergang  iler  KunI.uw crkstatt  in  die  Fabrik,  des 
kleinen  Kustar  zum  grulVen  lai)riki)esuzer ,  so  im  indusineilen  iJorfe 
Paviovo.  Die  Gründer  aller  BaumwoUwebcreieu,  die  am  Ende  der  50  er 
Jahre  funktionierten,  waren  mit  wenigen  Ausnahmen  gutsherrliche  Bauern, 
die  zuerst  kleine  Kustarwerkstätten  gehabt  hatten.  Das  Erscheinen  diesem 
neuen  Typus  (der  bäuerlichen  Fabrik)  zeugte  von  der  Reife  der  rus.sischen 
Gewerbe  und  da\'on,  dafs  dieses  l;ereits  dem  Stadium  des  Handels- 
kajjitalisnnis  entwachsen  und  in  das  des  indvistriellcn  getreten  war.  Die 
leibeigene  I'ahrik  lebte,  infoluc  fler  ( lew erVicc olution,  ihre  Zeit  aus;  sie 
wurde  dur»  h  die  neue  kapitali^tix  Iii'  1  al>rik  eiset/t,  die  auf  freiem  Ver- 
lrag zwischen  Unternehmer- Kaj^atalisten  und  Arl)eUern  miste.  Die  bauer- 
lichen Fabriken  konkurrierten  mit  den  adeligen  beinahe  nicht,  da  sie 
fast  ausschliefslich  billige  Ware  herstellten.  Weder  im  Interesse  der 
Regierung  noch  des  Adels  lag  es  daher,  der  Entwicklung  der  bäuer- 
lichen Fabrikindustrie  entgegenzutreten. 

Das  Kapitel  „Die  Krbfjuts-  und  die  Pos^ession^f aiuik"  ist  hau|)tsächlicb 
na«  h  unverotl'entru  heu  (Jue'ilen  aus  dem  Archiv  des  Departements  für 
Handel"und  Manufaktur  verfafst  und  bringt  viel  Neues  l)esonders  inbezug 
auf  die  Streik Uevvegungen  iler  unitcieu  .Arbeiter,  sowie  die  von  seilen 
der  Re-ierung  getroffenen  Mafsnahmen,  bald  durch  Gewalt,  bald  durch 
gesetzliche  Verordnmigen  und  Reglements  hier  Ordnung  zu  schaffen. 
Da  sich  aber  die  Reglementierungen  auch  auf  das  Produktionsverfahren 
erstreckten,  so  mufsten  sie,  selbstredend,  im  XIX.  Jahrhundert  Air  die 


r u <; a u •  U a r a no w > k y ,  M.,  Go.scliichtf  der  russischon  Fabrik. 


Entwicklung  dieser  Fabriken  hemmend  sein.  Dieses  Umstandes  wurden 
sich  die  Fabrikbesitzer  und  die  Regierung  des  Kaisers  Nikolaj  bewufst. 
Ohne  es  zu  waL:cn.  eine  einschneidende  RL'fonn  ili  rchzitführcn,  modelte 
die  Regierung  das  Institut  der  Possession sfabrikeu  allmählich  um,  indem 

sie  CS  an  die  neuen  te<  hnis'-hen  Dedin^ungon  aiuny>a>.sen  suchte.  Auf 
den  Uot  hluls  des  Reu  hsiMtes  hin,  UKin  Nolle  aut  j^e^  i/lii  lieni  We^^c 
aihnahlit;h  <lie  Po>sessiunbfabriken  nutUt-ben,  erfi)l_i;t<.-  da>  C 
18.  Juni  1840,  welches  einen  Markstein  in  der  Cieschichte  der  Possessions- 
fabrik bildet  und  von  dem  sehr  viele  Fabrikanten  sofort  Gebrauch 
machten,  indem  sie  ihren  unfreien  Arbeitern  die  Freiheit  gaben.  Ak 
Grund  dieser  Freilassung  gaben  die  Fabrikanten  an:  die  Einführung 
neuer  MasiMi  i  -i.  die  Veränderungen  drs  allj,auieiiun  (iinges  der  Ge- 
werbe- und  HaiidelsL'ex  hafte.  ilie  Xa<  liteiliükeit  unlVeie  .\il)eiter  /u  \er- 
wciiden,  nicht  selten  aber  auch  ilcii  l'iiL'chnrNiin  der  Posscssionsarbeiter 
uud  ihre  stetiuen  Kla^jcn  «ic^en  tiie  l'alinkln'^it/er. 

Weiler  behandelt  der  Verfasser  die  russis«  lie  tabiikL:esft/^ebuiig 
nach  der  Bauernbefreiung,  welche  Gesetzgebung  mit  dem  „Reglement" 
vom  34.  Mai  1S35  beginnt.  Dieses  war  einseitig  genug,  da  der  Arbeiter 
vor  Ablauf  das  Mietstermins  die  Fabrik  nicht  verlassen  durfte,  dem  Fabrik« 
besitzer  jedoch  das  Recht  einReraunit  wurde,  den  Arbeiter  „wegen  Nicht- 
erfüllanLi  seiner  l  ilichren  oder  schlechten  Hetrai;ens"  2U  entlassen. 

1  )ie  (Jes<  hichte  der  He>tiiiuiiunL.'  des  .\rbei!s?a<^cs  tuul  der  l?e- 
si  inankunu  tit^r  KunK-r.Trbcit  beginnt  in  RuTsland  nic'  t  rnil  dem  (lesetze 
vom  Jalire  1882,  wie  man  e>  an/r.nehinen  [itlei;!.  -.undcin  mit  dem  vom 
;.  August  1845,  ^vonach  die  Nachtarbeit  von  Kindern  bis  /.um  Lebens- 
jahre untersagt  wurde.  In  Wirklichkeit  blieb  dieses  Gesetz  unbeachtet. 
Das  Revolutionsjahr  2848  Jagte  auch  der  russischen  Regierung  Furcht 
ein.  Sich  auf  eine  alte  Gesetzesbestimmung  berufend,  reichte  der  Moskauer 
General'f^cnueincur  '/akre\skij  dem  Kaiser  eine  utnl;aiirreic  he  Denkschrift 
ein,  in  welcbei  n  tlen  \"t»rschlag  machte,  es  solle  ilie  Krrit-hlung  von  neuen 
l'abriken  imd  die  Frweiterung  der  beriits  vorhandenen  in  Moskau  ver- 
boten werden.  Kaiser  Nikolaj  t'aiul  diesen  (iedanken  sein  gut  und  niai  hte 
aul"  der  Denkschrift  die  eigenii.uuiige  ikinerkung;  „scitr  wu  luig;  es  soll 
vom  Ministerkoraitee  berücksichtigt  werden".  Die  Folge  davon  war  das 
Gesetz  vom  28.  Juni  1849,  welches,  wie  vieles  anderes,  auch  ein  toter 
Buchstabe  blieb.  Gegen  diese  „Eingriffe"  der  Regierung  trat  der 
Manufakturrat  ganz  energisch  auf,  und  ihm  schlofs  sich  auch  das  Finanz- 
ministerium an. 

'I'rotz  cncrgisrher  Hestrebungen  soh  h  einlUifsreii  her  .StaatsmSnner 
wie  (loli<  yn,  Seeri)atov,  /akrevskij,  die  (irundlage  einer  russischen  i'abrik- 
gcset/gebung  zu  schaffen,  sc  heiterten  sie  an  dein  Wideret. unle  ilcr  !•  ibnk- 
besit/.er,  deren  üpi^osition  sich  in  Kufsland  bedeutend  eilt»lgieiciier  er- 
wies, als  im  Lande  der  Bourgeoisieherrschaft,  England,  wo  bereits  im 
Jahre  1847  clcr  Zehnstundenarbeitstag  gesetzlich  bestimmt  wurde. 

34* 


524 


Littcratur. 


Wenn  man  die  Geschichte  der  russischen  Fabrikgesetsgebuog  ebem 
genaueren  Studium  unterriebt,  bemerkt  man  Idcht,  dafs  ihre  Ausarbeitung 
von  Tollenden  Umständen  beeinflulst  wurde:  i.  Von  häufigen  Unruhen 

und  ( lärun;;cn  unter  den  Arbeitern  in  rus-«isrVicn  Fabriken,  hervorgerufen 
dun  h  die  schweren  Arbeitsbedingungen,  den  geringen  Arbeitslohn,  die 
aufserst  lan^n-  Dauer  des  Arbeitstages  und  du-  ganz  unhaltbaren  hygienischen 
unci  sanuaren  Bedingungen  der  Arbeit.  Obgleicli  in  Rufsland  bis  zur  jUngsten 
Zeit  jede  Organisation  der  Arbeiterklasse  fehlte,  wirkten  diese  Unruhen 
gewöhnlich  stark  auf  die  Regierung,  die  nicht  gewöhnt  ist,  auf  irgend 
einen  Widerstand  des  Volkes  zu  stofsen.  Die  russischen  Fabrikarbeiter 
stehen  schon  seit  dem  vorigen  Jahrhundert  bei  der  Regierung  im  Rufe 
eines  im  politischen  Sinne  sehr  gefähilichen  gesellschaftlichen  Elements, 
das  /u  jeglichen  l'nruhestiftungen  und  Aufständen  geneigt  ist.  2.  In  An- 
betrat  ht  dessen  stand  das  Verhältnis  tler  russischen  Regierung  zu 
den  Kabrikar])citern  stets  unter  dem  sehr  betiac  htlidien  Einflüsse  von 
Erwägungen  politischen  und  polizeilichen  Charalviers.  Fast  aJle  Fabrik« 
gesetxe  in  Rufsland  sind  ttnt«r  der  unmittelbaren  Knwirkung  von  &• 
wägungen  dieser  Art  hervorgegangen.  Und  endlich  3.  ein  mächtiger 
Faktor  in  der  Entfaltung  der  nissischen  Fabrikgesetzgebung  war  und  ist 
bis  jetzt  geblieben  die  Konkurrenz  zwischen  den  Fabrikbesitzern  Zentral- 
rufslands und  denen  der  westlichen  Gren/gebiete  Rufslands  (hauptsächlich 
Petersburgs).  (Vgl.  den  vortrefflichen  .Artikel  „Die  neue  Fabrikgesetz- 
gebung Rufslands"  in  diesem  Archiv  Bd.  XII.) 

Im  Kajjitel  „Der  Arbeitslohn'''  beschränkt  sich  der  Verfasser  auf  die 
Textilindustrie  in  drei  Gouvernements  des  Gewerberayons  —  Moskau, 
Vladimir,  Jaroslarlj.  Der  Verfasser  verwertet  hier  dn  interessantes 
sdiriftliches  Material:  die  Kontorbficher  der  Possessionsfabriken  und 
die  schriftlichen  Angaben  der  Arbeiter.  Diese  Daten  beziehen  sich  auf 
die  Zeit  vom  Anfange  des  XDC.  Jahrhunderts  bis  zu  den  40  er  Jahren. 
Vor  allem  ersieht  man  daraus,  dafs  der  reale  Lohn  der  freien  Arbeiter 
bedeutend  höher  war,  als  der  der  unfreien,  auch  war  überhau|>t  der 
Arbeitslohn  im  zweiten  Viertel  unseres  Jahrlnmderts .  im  Veru^leu  h  zu 
der  friiheren  und  der  späteren  Epoche,  hoch;  eine  Ausnahme  davon 
bildet  der  Arbeitslohn  in  der  Baumwollindustrie.  Dieser  hohe  Arbeits- 
lohn war  durch  folgende  Ursachen  bedingt :  durch  das  rasche  Wadistnni 
der  Fabrikindustrie  und  der  Nachfrage  nach  Arbeitshänden;  durch  die 
Hörigkeitsverhältnisse,  die  dem  Angebote  von  Arbeitshänden  hinderlich 
waren,  sowie  durch  das  Gedeihen  der  Kustargewerbe,  die  den  Fabriken 
Arbeitskräfte  entzogen. 

Sehr  interessant  ist  da-  Ka;>itel  „Die  Fabrik  und  die  Kustarhütte". 
Das  Verhältnis  dieser  zwei  Gewerbeformen  /u  einander  bildet  einen  der 
Brennpunkte  der  volkswirtschattlichen  I>iskussion  in  Ruisland.  in  seiner 
„Entstehung  der  Volkswirtschaft"  vertritt  Bücher  die  Ansicht,  die  Haus- 
industrie der  osteuropäischen  Länder  sei  aus  dem  Hauslleifs  entstanden. 


Tagan*Bar»aowsky,  M.,  G«sdiichte  der  rnssbchcn  Fabrik. 


Dasselbe  wirdci  holen  Biicher  und  Sombart  im  Artikel  „Hausindustrie'* 
(Handwörterbuch  der  Staatswissenschaltcn).  Und  in  der  That  ist  dies 
mit  den  alten  rassischen  bäuerliclien  Gewerben  der  FaD. 

Allem  nur  zum  TeUl  Die  Moskauer  Statistiker,  die  die  Kustar- 
gewerbe  des  Moskauer  Gouvernements  erforschten»  lenkten  auf  die  That- 
Sache  die  Aufmerksamkeit,  dafs  die  meisten  bäuerlichen  Gewerbe  jüngeren 
Datums  sind.  Dasselbe  wird  auch  hinsichtlich  der  anderen  Gewerbe- 
j;ouvemements  —  Vladimir,  Jaroslavlj.  Kostroma  etc.  —  bestätifrt.  Sehr 
viele  von  ihnen  stammen  aus  dem  ,, französischen"  Jahre  (1812).  In  vielen 
höchst  bedeutenden  Gewerbezweigen  sehen  wir,  wie  erst  durch  das 
Verlagssystem  der  Fabrikindustrie  die  bäuerlichen  (bewerbe  ins  Leben 
gerufen  werden ;  wie  wir  es  am  klassischen  Bei^iel  der  Entwicklung  der 
Baumwollindttstrie  im  Dorfe  Ivanovo  illustriert  sehen,  die  dacn  fUhrte» 
dafs  sich  die  Grofsfabrikanten  bei  der  Regierung,  wegen  der  Konkurrenz 
der  kleinen  Produzenten,  zu  beschweren  begannen.  Dasselbe  wiederholt 
sich  z.  B.  in  der  Evolution  der  Leinenindustric.  Die  kustarmäfsige 
Seidenweberei  war  ein  ausschliefsiiches  Produkt  der  Fabrikindustrie. 
Auch  in  vielen  anderen  Gewerbezweigen  sehen  wir ,  wie  durrli  den 
fabrikmäfsigen  Grofsbetrieb  eine  Menge  kleiner  Unternchmimgen  ins 
Leben  gerufen  wird.  Die  kleinen  Betriebe  ▼ermochten  die  gro&en  aus 
dem  Sattel  zu  heben,  da  es  der  damalige  Zustand  der  Technik  zufieft. 
Wenn  die  nikolaitische  Epoche  indes  als  Blütezeit  der  Kustaigewerbe 
auch  betrachtet  werden  darf,  so  blieben  damals  dennoch  die  meisten 
Knstari  in  Abhä!i;:M<:rkeit  vom  Kapitalisten,  und  vollends  begann  eine 
neue  Aera,  als  die  Fabrikanten  zum  Maschinenbetrieb  Zuflucht 
nahmen. 

Obwohl  man  sich  während  der  Regierung  des  Kaisers  Nikolaj  in 
Regierungskreisen  gegenüber  Fabrikindustrie  und  Kapitalismus  mit  Anti- 
pathie, inbezug  auf  die  „Volksgewerfoe^  dagegen  mit  Sympathie  veihidt, 
beschrttnkte  man  sich  nichts^stoweniger  im  groften  und  ganzen  nur 
darauf,  der  Entwicklung  der  letzteren  keine  Schranken  in  den  Weg  zu 
setzen.  Der  Fabrikindustrie  griff  man  jedoch  durch  „Fabrikgesetzgebung**, 
ProhiV)itivzölle,  Geldsubventionen  und  dergleichen  mehr  unter  die  Arme. 
TikI  (lies  geschah  eben  darum,  weil  in  der  Realpolitik  nicht  moralische 
Rücksichten  und  Sympathieen  der  Regierenden,  sondern  reale  Wechsel- 
beziehungen der  gesellschaftlichen  Kräfte  den  Ausschlag  geben.  In  der 
nikolaitischen  Epoche  verwandelte  sich  das  Rufsland  der  Hörigkeit  in 
einen  kapitalwirtschaftlichen  Staat  und  demgemäls  gewinnt  die  Kapitalisten* 
klasse  an  Einflufs,  deren  Ausdruck  die  ganze  Gewerbepolitik  der  Re- 
gierang des  Kaisers  Nikolaj  I  war. 

Zwar  begann  noch  vor  der  Bauerobefreiung  die  Ablösung  der  Erb- 
giitsfabrik,  die  bahnbrechende  Reform  vom  19.  Februar  t86i  rief  den- 
noch eine,  wenn  auch  vorübergehende  Krise  der  Fabrikindustrie,  be- 
sonders in  den  Fabriken,  die  auf  Zwangsarbeit  beruhten,  hervor:  Die 


526 


l.illcralur. 


Arbeiter  verliefscn  die  Fabriken,  die  Produktion  nahm  ab,  ja  viele  Be- 
triebe wurden  eingestellt. 

Tm  Ciogcnsatz  zu  IVof.  Karysov  und  Prof.  Srhult/t'-(;ä\ ernitz .  der 
üi  seinen  Suidion  (Die  Moskau-Madirairsclie  HaumwtdliiKlusti ic )  ICary.sev5 
Ansichten  teilt,  L:elaiii;t  der  Vcrfa^-ser,  auf  (iiund  seiner  Bereehniinp  /um 
Schlüsse,  (lals  in  der  nissis<  lien  Industrie  eine  Kon^entrierung  und  \'er- 
griilserung  der  Betriehe  vor  sieh  gehe. 

Rulslaiid  befindet  sich  auf  dem  Wege,  ein  kapitalwirtschaftlicher 
Staat  mit  vorherrschender  Grofsindustrie  zu  werden^  was  aus  dem  Kapitel 
,,Der  Kampf  der  Fabrik  mit  dem  Kustarj^'  besonders  hervorgeht,  meint 
der  Verfasser.  Wo  die  Fabrikindustrie  ihre  Krallen  ausstrecke,  müssen 
die  Kustartrewerbc  zusammenschrumpfen,  im  ungleichen  Kamiife  mit  den 
billigen  l'al>rikerze!!gnissen  ihr  trauriges  Dasein  iVisien  bis  endlich  die 
weiteren  tcchinschen  l"<  •rts(  hritte  der  ( irolsbctriebc,  mithin  der  VerbiUigung 
der  Pkh Ulkte  ihnen  eleu  daraus  machen. 

Kulsland  icide  niclit  wegen  Entwicklung  der  kapitalistisclien  Produk- 
tiunsweise,  sondern  wegen  deren  schwachen  Entwicklung,  da  es  ach  in 
den  ersten  Stadien  dieser  Evolution  befinde.  Diese  Uebergangszeit  bietet 
freilich  dem  russischen  Fabrikhistortker  die  gröfsten  Schwierigkeiten,  da 
er  sich  mit  einer  sozusagen  symptomatischen  Diagnose  und  Prognose 
begnügen  mufs. 

Das  be.u  htcjiswerte  Werk  Tugan-Baranowskys  ist  vor  allem  ein 
Produkt  der  inneren  russischen  politisch  -  wissenschaftlichen  Fehden. 
Hat  auch  Marx'  Lehre  in  vieler  Hinsicht  bei  vielen  der  bedeutendsien 
russischen  Gelehrten  Schule  geniat  ht,  so  weichen  doch  auch  sie  gerade 
in  der  Auflassung  der  sozialpolitischen  Aufgaben  des  russischen  Staates 
von  dem  Geiste  dieser  Lehre  ab,  zu  deren  überzeugten  Jüngern  Tugan« 
Baranowsky  sich  offen  bekennt,  selbstverständlich,  insofern  es  sich  hier 
tun  streng  w  i  s  sc  n  s  r  ii  ,i  ft  1  i  c  h  e  Tragen  der  weiteren  wirtschaftlichen 
Entwicklung  Rufslantis  hantielt.  einer  Kntwickhuig,  die,  nach  ihm,  gleich- 
sam von  unüberwiiidb \ren  u  ii  ts(  haftlichcii  Cieset/.en  bedingt  wird. 
Mochte  sich  der  \  crfas>er  inl>e/:UL;  auf  \  u  le  Kin/elfragen  seiner  l'nter- 
suchung  auf  tut  litige  \'organ'j;er  gestüt/t  haben,  —  seine  Gesauilleisiung 
ist  selbständig  und  grundlegend.  Al)gesehen  von  den  zahlreichen  Rinzel- 
momenten  seiner  Arbeit,  die  selbstverständlich,  dank  dem  anerkannten 
Sammclfleifs  des  Verfassers,  durch  ihre  tüchtige  Beleuchtung  und  Grup* 
pierung  tms  viele  neue  Gesichtspunkte  hervorkehren,  ist  dieses  W  erk  in 
seiner  Gesamtheit  vor  allern  als  erster  umfassender  Versuch,  aus  der 
notwendigen  Entwicklung  der  russischen  Fabrikindustrie  den  s  i  e  g' - 
nie  heil  Lauf  des  Ka|iitali>inus ,  das  stete  Wachsttun  des  Fabrikprole- 
tariais  m  Kuisland  zu  zeigen,  ein  \  ersuch,  der  umso  ernster  gememt  ist, 
als  der  \  erfasser,  trotz  seines  jjolemischen  Eifers,  uns  nicht  nur  einen 
vollen  Einblick  in  seine  statistischen  Vorarbeiten  und  Berechnungen  ge- 
währt, sondern  auch  sehr  viele  Erscheinungen  der  russischen  Volks*  und 


1  ugan- Haranowsky,  M.,  (ji.-»t:hicbtc  der  ru^äi^jhcn  Fabrik. 


527 


Staatswirtschaft  aufdeckt,  die  seinen  Schlufsbetrachtungen  einen  Strich 
durch  die  Rechnung  machen,  so  z.  B.  wenn  er  uns  den  gewaltigen 

Aufschwung  der  sUdrussiscben  Eisenindustrie  itn  letzten  Jahrzehnt  schildert, 

die  doch  unter  enormen  Beijünstigungeii  der  Regierung  für  westeuropäische 
Verhältnisse  fabelhafte  Dividenden  abwirft  und  die,  mit  ausländischem 
(^elde  geschalTen,  so  zu  sagen  den  Stein] le!  der  „Kunden[)rodnktion" 
tragt,  l  ud  wenn  sicli  der  Verfasser  ati  \iL'len  Stellen  gegen  diejenigen 
scharf  wendet,  die  dieses  „Grofs/.iehen"  der  russischen  Fabrikindusirie 
fitr  eine  «»künstliche"  erklären,  so  giebt  er  dennoch  selbst  zu,  dafs  sich 
dabei  die  Regierung  von  ihren  Staatsinteressen,  d.  h.  politisch-militäri- 
schen leiten  läfst:  dem  gewaltigen  Ausbau  des  Eisenbahnnetzes!  So  ist 
nun  doch  die  schönste  Blüte  der  nach  dem  Verfasser  keine^u^  , .künst- 
lichen" echt  tuoderncn  grol'ska[)italistischen  Fabrikindustrie,  der  Eisen- 
industrie, nirl;t>  anders  als  die  Sch<)i>fnFifr  der  im  altpetrinischen  (leiste 
haiidehnien  kegicrung,  die  im  Hanne  iiires  staatli<  lu-n  ..Klasscn- 
iieu u^^tNeins"  befangen  und  um  das  Dasein  und  (irofhwcrden  iiires  m- 
dustriellcn  Pflegekindes  besorgt,  die  wirtschaftlich  bedeutendste  und 
zahlreichste  Klasse,  die  politisch  mtmdtote  Landbevölkerung  im  grofsen 
und  ganzen  einfach  im  Stiche  läfst.  Freilich  nur  bis  die  russische 
Grofsindustrie  auf  ihren  „eigenen"  Beinen  stehen  würde,  was  allerdings 
umso  schwieriger  ist,  als  die  russische  Fabrikindustrie  nach  der  richtigen 
An<i<  ht  de-^  Verfassers  immermehr  auf  den  inneren  Markt  angewiesen 
wird  und  daher  bei  der  Verarmung  der  grofsen  Massen  keine  alUu  rosige 
Zukunft  haben  kann. 

Sofia.  BüRlb  .\UNZ1-:S. 


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Das 

preufsische  Gesetz  betreffend  die  Warenhaussteuer. 

\'on 

Dr.  HEINRICH  COHN, 
RecbtsaDwalt  in  Berlui. 

I. 

Das   im  Juni    i<>oo  endgültig  beschlossene  (icsctz  betreffend 
die  W'arcnhausstcucr  war  in  der  Thronrede  vom  9.  Januar  dieses 
Jahres  angekündigt  worden,  mit  der  Hoffnung,  es  werde  „zur  Er- 
haltung und  Stärkung  des  Mittelstandes  in  Handel  und  Gewerbe 
beitragen".  —  Indem  die  Thronrede  sich  auf  diese  licgründung  be- 
schränkt, bringt  sie  klar  zum  Ausdruck,  dals  das  Gesetz  die  Steuer 
nicht  zu  fiskalischen  Zwecken  einführen  soll,  sondern  mit  dem  Ziele 
ausgleichender  Gerechtigkeit.    Der  wirtschaftlich  -  technische  Vor- 
sprung, den  das  grofse  Warenhaus  vor  dem  kleineren  Betriebe  vor- 
aus hat,  soll  dadurch  eimgerma&en  gut  gemacht  werden,  dals  der 
gro(se  Betrieb  mit  der  Steuer  belastet  wird.  Dieser  unfiskalischen' 
Tendenz  entsprechend,  fiberlalst  das  Gesetz  die  Ertragnisse  aus  der 
Steuer  den  beteiligten  Gemeinden,  und  zu  einer  gesetzlichen  Re- 
gelung griflr  man  nur  deshalb,  weil  nach  den  der  Regierung  ge- 
wordenen Nachrichten  die  „Annahme  begründet  erschien" :  „dals  die 
Gemeinden  sich  zu  einem  autonomen  Voi^hen  in  der  Richtung  einer 
gegenüber  derjenigen  der  kleineren  Konkurrenten  eriieblich  höheren 
gewetbesteuerlichen  Belastung  der  Grofsbetriebe  im  Detailhandel  in 
absehbarer  2^t  in  genügend  weitem  Umfiuige  nicht  bereit  finden 
lassen  würden"  (S.  Ii  12  der  Motive). 

Die  R^ening  will  also  das  Geld  nicht  für  sich.  Da  die  Ge- 
meinden es  aber  auch  nicht  haben  wollen,  wird  ihnen  das  Bencficium 
dieser  Steuer  obtrudiert.  Damit  ist  ebenso  scharf  wie  in  der  Thron- 

Afchiv  tat  tot.  OtmifbMin  «.  Statistik.  XV.  35 


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530 


Heinrich  Cohn, 


rede  zum  Ausdruck  ^^cbraclit,  dals  die  Steuer  der  Sozialpolitik  und 
nicht  Stcuerzweckeu  dienen  soll. 

Die  GesetZL,'ebuu*^  hat  damit  einen  N  olli^;  neui  n  W  eint^^e- 
schlat^^en.  Allerdini^s  handelte  es  sich  auch  hei  ein/einen  früheren 
(icsetzeii  darum,  ,.den  Sclnvachen  L,'eL^en  d'^n  Starken  zu  schützen"; 
docli  ^ehtjrlen  hier  der  Starke  und  der  Schuaciie  nicht  dem  i^leichon 
I'crsonenkreise  an.  .So  schützt  das  W'ucheri^esetz  den  Darlelms- 
nehmer  ^ei^en  tkn  I)arlehn>^cber,  die  Arheiterschutz^fesetze  den 
Arbeiter  'f^ei^en  den  Uiilcrneinner.  Bei  der  W'arenhausstcucr  ist  aber 
das  Ziel  des  (icsetzes,  den  schwachen  Konk  urrenten  ^e^^en  den 
stärkeren  zu  schützen,  und  damit  setzt  es  sich  in  Widerspruch  zu 
dem  herrschenden  Wirtschaftssystem.  Dieses  beruht  auf  dem 
Grundsatz  der  freien  Konkurrenz,  einer  Art  Anwendung  der  Dar- 
win'schen  Theorie  auf  das  Wirtschaftsleben.  Der  stärkere  Konkurrent 
verdrängt  den  schwächeren  zum  Besten  des  Gemeinwohls^  denn  nur 
der  kann  der  stärkere  sein,  welcher  seinen  Kunden  mehr  leistet, 
als  der,  den  er  verdrangt.  So  verdrängte  die  Eisenbahn  die  Post- 
kutsche, die  Webemaschine  die  Hand  weberei.  ^  Der  Staat  hat  aller- 
dings andrerseits  ein  berechtigtes  Interesse,  daCs  nicht  eine  gröisere 
Zahl  von  Menschen  brotlos  wird.  Wiederholt  hat  er  die  Folgen 
des  Konkurrenzkampfs  den  Unterlegenen  zu  erleichtem  gesucht  — 
sei  es  durch  Notstandsarbeiten,  sei  es  durch  Bestrebungen,  einer  öko- 
nomisch zu  schwachen  Schicht  die  Ergreifuni,'  anderer  Ik-rufszweigc 
zu  erleichtern.  Niemais  aber  suchte  man  die  Hilfe  für  den  Schwachen 
darin,  den  Starken  zu  schädigen.  Zu  Unreclit  wurde  bei  der  Be- 
ratung des  Gesetzentwurfs  versucht,  die  Schutzzölle  als  ein  Präjudiz 
in  dieser  Riciitung  anzuführen.  Will  man  selbst  die  falsche  Theorie 
waln-  haben,  dals  das  j'roduktcnreiche  Ausland  den  Zoll  zahlt,  so 
stände  hier  tler  starke  Konkurrent,  dem  man  das  (ieschiift  zu  er- 
schweren sucht,  doch  aul>erhal!)  lu  :>erer  \\  irtschaftsi;enR'inschaft. 
Ks  wurden  in  der  Disku>isi(jn  Hiaiintwcin-  und  Zuckersteuer  ziun 
Vergleich  heran;^'ezoi;cn.  —  So  erklärte  /.  H.  der  l^inanzminister 
Miquel  in  der  Sitzung  des  AbJ^cordnelenhau^es  vom  26.  I'cbruar  ioot). 
um  flie  HesteueruuL;  der  „(irolsen"  zu  rechtfertigen:  „hätten  wir  ii.x> 
Milliunen  M.uk  neue  Steuern  \on  diesem  (iewcrlie  iBrennereii  ver- 
langt und  einfach  eine  f^leichmäfsigc  Steuer  von  allen  ik'trieben  er- 
holx:n,  ohne  Rücksicht  darauf,  ob  der  Branntwein  in  grolsen  ge- 
werblichen oder  in  kleinen  landwirtschaftlichen  Betrieben  hergestellt 
wird  ..." 

Der  Vergleich  hinkt.  Es  ist  nicht  richtig,  die  „grolsen  gewerb- 


Das  prcubiüchc  (icsicu  bttrclltnd  die  Warenliaussioucr. 


liehen"  Brennereien  den  „kleinen  landwirischaftltcbcn"  gegenüberzu- 
stellen. In  vielen  Fällen  sind  die  landwirtschaftlichen  grofs  und  die 
gewerblichen  klein.  In  allen  Fällen  haben  aber  die  gewerblichen 
den  Zuschlag  zur  Verbrauchsal^be  zu  zahlen,  die  landwirtschaft- 
lichen dagegen  nicht.  Die  vom  Abgeordneten  Gamp  zum  Vergleich 
Herangezogene  Brennsteuer  ist  als  progressive  Ertragssteuer  (d.  h.  als 
Steuer  auf  das  produzierte  Quantum)  ein  Ausgleich  für  die  Maisch- 
raumsteuer,  welche  eine  Steuer  auf  das  Quantum  des  verbrauchten 
Rohmaterials  und  daher  im  Verhältnis  zur  technischen  Leistungs- 
nihiL^'kcit  des  Betriebes  eine  degressive  Steuer  ist.  Es  war  —  wie 
bei  der  Ziickersleucr  —  nicht  die  Absicht  vorhanden,  den  Grolsen 
zu  Gunsten  der  Kleinen  Sclnvieri^kciten  ZU  machen.  Ks  handelt 
sich  vielmehr  um  sehr  komplizierte  Steuersystcnic,  die  den  Zweck 
verfolgen,  den  Export  tu  steigern,  eine  erhebliche  Steuer  einzu- 
bringen lind  die  Preise  hoch  zu  halten. 

Der  Staat  hat  niemals  daran  fjrcdacht,  im  Interesse  des  Mittel- 
statids  der  Haiidwchcr  die  Maschinenwehcrci  diirrh  hesotidcrc  Steiu  rn 
zu  beschweren  oder  im  Interesse  des  Mittelstands  der  h'uhrlcute  den 
i'-isenbahnen  das  Leben  sauer  nia<"lirii  /u  udllen.  Ktwas  derartiifes 
auf  dem  (lebiet  des  W'arenhandcl^  /.u  thun,  ist  aber  der  in  iler 
Tliroiirede  feierlich  aus^^rsprochene  Zweck  der  W'arcnhaiisstcuer.  Dem 
ent.s|jrechend  j^eht  die  ,.Hei;riindun»^"  von  dem  Gedanken  aus,  dals 
das  Warenhaus  dem  altmodischen  Detailh. uuk  1  entschieiien  überlegen 
sei,  sie  hebt  fast  liebevoll  die  Vorzüge  der  Warenhäuser  hervor. 
Dieser  Teil  der  Begründung  ist  so  trefflich,  dals  wir  ihn  wörtlich 
wiedergeben. 

„Iiurch  ihre  Küpitalkrail  und  die  Gröfsc  ihres  L'niüaUi's  sind  jene  He- 
triebe  in  den  Stand  gesetzt,  sich  einen  billigeren  Einkaur  ibrer  Waren  zu 
verschaffen  als  ihre  kleineren  Konkurrenten.  Sie  vcrrodgen  gröisere,  eine 
reichere  Auswahl  bietende  I.äger  zu  halten  und  dabei  doch  ihr  Kapital 
rascher  umzusetzen,  das  Prinup  des  Verkaufes  mir  gegen  Barzahlung  durch- 
zuführen, brauchen  nicht  mit  Zins  und  Kapitalverlusten  an  Aufscnständen 
711  recliniMi  und  k<>nnen  sich  mit  rincni  ^jerinficren  Nutzen  im  ein/i-lnrn 
lir^iiti)4«-n  «uler  sojjar  oIuk-  ( 'H  liilirdunj^  ihrer  r.xi-.ten/  l.nifjiT«-  Zeit  oline 
Kcincrtr;i>^  arheiten.  Sie  sind  in  der  Lu^je,  ihre  Gesehaltshauver  his  in 
die  höchsten  Klagen  zu  Verkaufsräumen  zu  benutzen,  während  der  kleine 
und  mittlere  Dctailtist  nicht  daran  denken  kann,  als  Verkaufsräume  höhere 
und  deshalb  billigere  Etagen  zu  mieten.  Wie  in  den  Räumen  so  ist  auch 
bei  dem  grofsen  Umsatz  und  der  infolgedessen  durchtufllhrenden  Arbeits- 
teilung eine  lukrativere  Ausnutzung  des  Personals  nuijjlirh. 

Sind  diese  Vorteile  mehr  oder  minder  jedem  Grofsbethebe  im  Detail- 

35* 


532 


Heinrich  Cohn, 


handel  eigca,  so  poteiizieren  sie  sich  und  werden  noch  durch  besondere 

wcsf-titüch  verstärkt  für  diejenigen  Warcnliuustr  rtc,  die  Waren  der  Tcr- 
si  liicilcnartifjstcn  Hranclu-n  fuhren.  In  dit>or  Hiii-i<  hi  sei  nur  darauf  hin- 
j;c-\virsi-n ,  dals  sirli  wuhl  in  i<'>lrm  ^T'it^rri  ( icsi-h.ilt-shausc  Kauinc  bc- 
tindfti,  <lic  als  W-rkauls-  ndi-r  Laj^irrauiu  wuld  tur  Waren  der  einen, 
nicht  al»er  der  anderen  (latlunj;  verwertbar  sind,  und  die  daher,  wenn 
crstere  Warengattung  niclit  geführt  wird,  nicht  oder  doch  nur  unvoU- 
kommen  ausgenutzt  werden  Icönnenf  daCt  der  langsamere  Kapitalumschlag 
in  einer  Branche  durch  den  rascheren  in  einer  anderen  ausgeglichen  wird, 
Absatzstockungen  in  einzelnen  I'ranchcn  weniger  empfindlich  werden  und 
di'-  MM.^Ii.-hkri;  gegeben  ist,  einzelne  Artikel  ohne  Verdienst,  ja  mit  Verlust 
ab/ii^;i  I"  ti  unfl  vjeh  dafür  ihiri  h  den  Verdienst  an  anderen  /.u  erholen,  und 
dals  eniilich  die  (Gelegenheit,  die  versehieilni.irli'^i  n  l  inkaule  in  einem 
(iesi  lüilt  ni  bewerkstelligen,  einen  starken  Anreiz  aiit  das  Publikum  ausübt." 

Mit  anderen  Worten,  der  Grrofsbctrieh  im  Dctailhruidel  ist  dem 
Kleinbetrieb  eV)etiso  überlegen,  wie  die  Fabrik  dem  kleinen  Haod- 
werker  —  die  liisenbahn  dem  Fuhrmann  etc.  Diese  l'eberlegen« 
heit  ist  aber  nicht  erwünscht,  denn  sie  führt  nach  Ansicht  der  Be- 
gründung zum  Niedergang  des  Mittelstandes  in  Handel  und  Gewerbe 
und  zu  einem  Rückgang  in  den  Steuern.  Dahingestellt  mag  bleiben, 
ob  diese  Reliauptung  in  allen  Punkten  zutrifft,  klar  ist,  dafs  sich 
genau  da.sselhr  zur  Botcuerung  aller  (rrofsuntcrnehmungen  sagen 
lälst.  Der  \  ersuch  der  Motive,  sich  um  diesen  logischen  Schluls 
licrumzudrücken ,  ist  durchaus  misslungcn,  wie  ein  näheres  Kin- 
gehen auf  den  hihalt  des  üesetzes  und  der  Motive  ergiebt. 

II. 

Der  Warenhaussteuer  sind  unterworfen  Hctrirhc  des  Kleinhandels, 
welche,  sei  es  im  offenen  Laden,  sei  es  als  \  ei^andtgeschäfte  einen 
jährlichen  Umsatz  von  mehr  als  400000  Mark  ^)  erzielen  und  den 
Handel  in  mehr  als  einer  der  im  §  6  dieses  Gesetzes  unterschiedenen 
Warengruppen  betreiben.  Die  Steuer  beträgt  progressiv  steigend 
1^9—2%  des  Umsatzes.  Die  in  §  6  normierten  Gruppen  kann  man 
kurz  folgendermalsen  bezeichnen: 

a)  Gegenstande  des  Nahrungsmittel-Gewerbes, 

b)  Gegenstande  der  Textilindustrie  nebst  Möbeln, 

c)  Gegenstände  des  Hausrats  nebst  Mobein, 


*)  Im  Regierungsentwurf  500000  Mk.,  im  Abgeordnctenbat»  nuf  300000  Mk. 
abgeändert,  im  Tierrenhaus  auf  400000  Mk.  normiert  und  sodann  von  R^erung 
und  Abgeordnetenbaus  in  dieser  Höhe  gut  gebeilsen. 


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Das  preui'sischc  Gesetz  betreffend  die  Warenhausstcuer. 


533 


d)  Galantriewaren»  Instrumente,  Sportartikel,  Spielwaren, 
Juwelierwaren  etc. 

Bei  der  Eintheilung  in  diese  vier  Gruppen  fällt  sofort  au(  dals 
Möbel  sowohl  zur  Klasse  b  als  zur  Klasse  c  gehören.  Man  darf 
in  Klasse  b  einen  Lutherstuhl  zugleich  mit  einem  Unterrock  und 
in  Klasse  c  zugleich  mit  einer  Giefskanne  verkaufen,  ohne  sich  der 
Strafe  der  Steuer  auszusetzen.  Dadurch  werden  Geschäfte  mit 
grolsen  Umsätzen,  wie  Rudolf  Hertzog,  N.  Israel  etc.,  von  der  Steuer 
nicht  getroffen,  sie  ist  nur  gegen  die  cigentliclieii  <  v.u  imnnlen 
Warenhäuser  gericlitet,  es  ist  eine  „lex  Wertheim",  wie  der  X'olks- 
mund  sie  richtig  be/.eiclinet  hat.  Den  angegebenen  Zweck ,  den 
Mittelstand  in  Handel  und  Gewerbe  7.u  schützen,  kann  das  Gesetz 
somit  kaum  erfüllen.  Rudolph  Hcrt/.og  ist  dem  Mittelstand  in 
Handel  und  Gewerbe  ebenso  verhängnisvoll  wie  Wertheim  oder 
Tietz,  es  kann  sich  im  günstigsten  l*"all  um  einen  kleinen  Grad- 
unterschied handeln.  Wenn  das  Gesetz  hier  einen  L'nterschied 
macht,  so  sind  nicht  Gründe  der  Logik  oder  (ierechtigkeit  mals- 
gebend  gewesen,  sondern  Rueksichtcn  auf  die  öffentliche  Meinung 
bestimmter  Schichten.  Dem  Kleinhändler  ist  es  nicht  gleichgültig, 
von  wem  seine  Lxistenz  vernichtet  wird.  Leuten  wie  Hertzog  oder 
Israel  erkennt  er  in  dieser  Beziehung  eine  gewisse  Berechtigung 
zu.  Diese  Geschäfte  sind  vor  ihm  da  gewesen,  wenn  er  neben 
ihnen  nicht  bestehen  kann,  so  ist  das  sein  Unglück,  er  hat  aber 
keilt  Recht,  sich  darüber  zu  beklagen.  Wertheim  ist  aber  nach 
ihm  gekommen,  er  kann  formlich  die  Kunden  zahlen,  die  ihm 
durch  diesen  entz<^en  wurden,  während  die  Konkurrenz  der  vor 
ihm  an  Ort  und  Stelle  gewesenen  Geschäfte  mehr  latent  bleibt. 
Geföblc  dieser  Art,  welche  mehr  oder  weniger  anch  von  dem 
unbeteiligten  Publikum  gehegt  werden,  haben  bei  der  Abfessung 
des  Gesetzes  ihren  Einflufs  geübt 

Hertzog  c/a  Wertheim  bedeutet,  auf  den  Kleinhandel  ange- 
wendet,  das  Prinzip  der  Legitimität,  und  es  ist  vielleicht  mehr  als 
ein  blofser  Wortanklang,  wenn  die  Antipathie  gegen  die  Waren- 
häuser ihre  Rechtfertigung  darin  sucht,  dass  diese  „illegitime"  Ge- 
schäfte machen.  Sie  sollen  angeblich  bestinunte  .Artikel  ohne  Ge> 
winn  oder  gar  mit  Verlust  verkaufen,  um  so  das  Publikum  anzu- 
locken und  bei  anderen  Waren  desto  mehr  zu  verdienen.  In  den 
Motiven  ist  dieser  Vorwurf  nur  leicht  gestreift,  eine  um  so 
gröfsere  Rolle  s|)ielt  er  in  der  öffentlirhcn  Meinung,  in  welcher  er  das 
Um  und  An  der  gegen  die  Warenhäuser  erhobenen  Vorwürfe  bildet. 


534 


M  e  i  n  r  i  c  h  C  o  Ii  n , 


Man  mag  zugeben,  dafs  die  Warenhäuser  in  einigen  Artikeln 
besonders  wohlfeil  sind,  um  die  Gunst  des  Publikums  zu  gewinnen. 
Indessen  ist  das  nicht  eine  besondere  Gepflogenheit  der  Warenhäuser, 
vielmehr  eine  Gewohnheit,  die  unser  wirtschaftliches  Leben  weit 
mehr  durchdringt,  als  gewöhnlich  angenommen  wird.  In  dem  Be- 
trieb der  Gastwirtschaften  ist  das  Essen'  ein  Nebenartikel  geworden, 
welcher  keinen  Gewinn  oder  gar  Verlust  bringt,  der  Wirt  erholt 
sich  beim  Verkauf  der  Getränke.  Aehnlicli  verkaufen,  wie  der 
Abg.  V.  d.  Borcjlit  in  der  Sitzung  vom  27.  Februar  d.  J.  ausführte, 
die  Kleinhändler  häufig  Kaffee,  Petroleum  etc.  nlme  Nutzen.  Im 
Bankwesen  ist  die  Provision,  die  X'ergütung,  welche  der  Bankier 
für  seine  Miibewaltung  erhält,  nicht  ausreichend,  seine  Kosten  zu 
decken.  Er  iiat  dafür  indirekte  \'orteile  \on  seiner  Kundschaft,  für 
deren  bare  (hithaben  er  zum  Beispiel  weniger  Zinsen  entrichtet, 
als  er  lösen  kann.  Im  Zeitungswesen  ist  das  Abonnement  wirt- 
schaltlich  zur  Nebensache  geworden  und  lagcn  den  l\rl<)s  der 
Insernte  an  /.weite  Stelle  gerückt.  Andererseits  soll  e>  schon  \-or 
fünf/.ig  Jahren  vorgekommen  seiii,  dals  Kaufleute  den  lieben  Kleinen, 
die  in  Begleitung  ihrer  Eltern  in  den  1  .aden  kamen,  Zuckeri)lätzchen 
gaben  und  so  mit  Lockmitteln  (Waren,  wel«  lie  gratis  utkr  unter 
dem  Kostenpreis  verabfolgt  wurden)  unlauteren  Wettbewerb  trieben. 
Ein  innerer,  (irund,  gerade  die  Warenhäuser  besonders  zu  besteuern, 
liegt  also  in  ihrer  Geschäftsgebahrung  nicht,  die  Verhandlungen 
im  Parlament  haben  die  Warenhäuser  moralisch  nicht  belastet,  man 
kann  vielmehr  als  ihr  Ergebnis  den  Ausspruch  des  Abg.  v.  d.  Borght 
betrachten:  „der  Kampf  zwischen  den  Warenhäusern  und  dem 
Ladenhandel  ist  keineswegs  ein  Kampf  zwischen  berechtigten  und 
unberechtigten  Betriebsformen." 

Es  ist  nicht  verwunderlich,  da(s  die  nach  Schutz  vor  den 
Warenhausern  rufenden  Kleingewerbetreibenden  logischer  Weise  nach 
und  nach  dazu  kamen,  einen  solchen  Schutz  auch  gegenüber  den 
grofsen  Spezialgeschäften  zu  verlangen.  Vor  dieser  Lc^ik  ist  dem 
Verfasser  des  Gesetzentwurfs  nicht  wohl  zu  Mute,  durchaus  richtig 
iiihrt  er  folgendes  aus: 

.,Ncucr(liii;:>  trcilich  haben  »ch  die  Stimmen  ^i-mehrt,  welche  eine 
auf  die  grofsen,  sich  nur  auf  eine  Warengmppc  beschrinkendeu  Spczial- 
grschälle  ausgedehnte  Umsatzsteuer  fordern.  Eine  derartige  Ausdehnung 
der  Umsatzsteuer  würde  lediglieh  in  der  Gröfse  des  Betriebes  ihre  Be- 

jjriiinUin;,'  Michrn  können.  Wäre  al»fr  einmal  die  Gröfse  de»;  Betriebes 
alü  hinrcicliendcr  (irund  für  eine  Sonücrl>csteuerung  anerkannt,  so  würde 


pHvjij^cu  L.y  Google 


Das  prcuf&ische  Gesetz  bctrclTcnd  die  Warenhauüstcucr. 


555 


es  auf  die  Dauer  nicht  möglich  sein,  hicnnit  bei  den  Kleinhandels* 
betrieben  Halt  su  machen.  Es  würde  an  stichhaltigen  Gründen  fehlen« 
was  man  den  kleineren  Handetstreibenden  gewährt  hStte,  den  kleineren 

Industriellen,  Handwerkern.  Ttanki<-rs,  »MilicNlich  auch  den  kleinen  L;ind- 
wirten  zu  verNUgen.  Die  Fulj;e  w  äre  Jas  Verlanpen  na»  !i  ;;leiclien  Mafs- 
naluuen  (jejjeii  ilie  (Irolsindu^lrir,  dif  ^rciNcti  I^aiiki  n  und  den  grol'si-n 
(»runiUiesilz.  Sclum  jetzt  siml  ja  ilu-  klcwurea  Muller  und  Hrauer  mit 
der  Kurderung  einer  „gestaffelten  L  m*iil^!»teuer"  für  il>re  grolsea  Konkur- 
renten hervorgetreten.  Es  bedarf  keiner  weiteren  AusfQhrung,  dals  unser 
Wirtschaftsleben  eine  solche  Belastung  des  Grofsbetriebcs  nicht  su  er* 
tragen  vermöchte.  Schon  die  durch  Einftlhrung  einer  Umsatzsteuer  aut 
Spezialgeschäfte  im  Kleinhandel  wachgerufene  Besorgnis  vor  einer  gleichen 
Malsnalime  auf  anderen  Gebieten  wür<le  lähmen«!  auf  Han*lel  und  Verkehr 
wirken  und  die  Xonkurrenzfäbigkcit  auf  dem  Weltmarkt  gefährden. 

Worauf  dann  der  einzige  logische  Schlufs  wäre,  dafs  die  Waren* 
haussteuer  sich  nicht  rechtfertigen  läfst  Der  Verfasser  der  Motive 
lälst  beinahe  durchblicken,  dafs  dies  seine  Ansicht  ist.  Er  ist  durchaus 
Gegner  einer  Umsatzsteuer  und  hätte  eine  anderweite  Regelung 
der  Gewerbesteuer  vorgezogen.  Indessen  hätte  die  Durcharbeitung 
einer  solchen  längere  Zeit  erfordert,  und  man  wollte  solanc^e  mit 
einer  Hesteuerung  der  Warenhäuser  nicht  warten  (S.  14  a.  E.). 
Deshalb  griff  man  trotzdem  zu  der  Umsatzsteuer,  weil  .,eine  auf 
einer  anderen  Grundlag^e  als  der  des  Umsatzes  aufj^ebaute  Waren- 
hnussteuer  kaum  Aussicht  hat,  eine  Mehrheit  im  Abgeordnetenbause 
auf  sich  zu  vereini^i^cn". 

Zu  (Tiitistcn  der  Warenhausstcuer  sprechen  nach  den  Motiven 
folfjcndc  Momente,  i)  Dafs  in  Ba\  ern  eine  solche  Besteuerung  der 
Warenhäuser  einLjefijhrt ,  in  Sachsen  in  Vorbereit  un;:j  sei,  man 
also  vor  der  (iefahr  stehe,  dals  l  irolslictriebe  der  tredachten  Art 
nach  Preulsen  übersiedeln  S.  161.  2)  Dais  eine  Umsatzsteuer  ein 
Warenhaus  nicht  su  schwer  treffe  wie  Spezialgeschäfte.  Denn  in  den 
einzelnen  Branchen  bleibe  je  nachdem  ein  gröfserer  udei  geringerer 
Prozentsatz  des  Umsatzes  als  Ertrag.  Bei  Warenhäusern,  die  viele 
Branchen  (liiiren,  gleiche  sich  der  geringe  prozentuale  Ertrag  in  der 
einen  Branche  mit  dem  gröfseren  in  der  anderen  aus.  Nicht  so 
bei  Spezialgeschäften,  die  dann  sich  veranlaCst  sehen  könnten,  sich 
möglichst  viele  und  namentlich  die  „einen  höheren  Prozentsatz  des 
Umsatzes  als  Nettonutzen  abwerfenden  Branchen  beizulegen'"),  (die 

')  Als  ob  es  nicht  ohnehin  in  dem  Bestreben  jedes  Kaufmanns  liegt,  Waren 
tu  fähren,  die  einen  möglichst  hohen  Nettonutzen  lassen. 


536 


Heinrich  Colin, 


Umsatzsteuer)  „führt  also  nur  zu  weiterer  Schädigung  der  kleineren 
Betriebe"  (S.  17).  3)  Es  sei  aber  auch  billig,  diese  (jrofebetriebe 

stärker  zu  besteuern,  „die  insbesonck-rc  auch  an  einer  grofsen  Anzahl 
von  Gemetndeveranstaltungen  wie  den  W-rkehrsanlagcn,  dem  Feuer- 
lösclnvc'^t  n  u.  s.  \v.  ein  vorzügliches  Interesse  haben  .  .  .  (S.  12). 
Die  I'adcnsclieinii^kcit  (k-r  Argumentation  wird  cinigermafsen  durch 
den  Ausdruck  „Spczial^a^schäft"  verdeckt.  Indessen  sollte  man  doch 
Geschäfte,  in  welchen  man  sämtliche  Gc^'cnstände  der  Damen- 
und  I  lerrcukleitlun;.^,  also  Wäsche,  Handschuhe,  I  lüte,  Kleider,  Pelz- 
waren, daneben  Betten  und  Ikttstellen,  \'orhän^a%  Teppiche,  Mfibcl- 
sloft'e,  rolslermöbel,  (iarn.  Zwirn  und  Po^anienlierwaren  etc.  etc. 
kaufen  kann  (>j  6  Iii  nicht  ai>  ,,Spe/iai;^csciiäfle"  beschönii::^cn.  Es 
wären  das  im  Ciej^enteil  ( iesi  hdlte,  die  mindestens  ein  Dutzend 
Spezial;4t>chiifte  darstellen,  also  genüj^'cnd  Branchen,  um  einen 
normalen  Durchschnitt  des  P>tra<7es  zu  j^eben.  Diese  Geschäfte 
h.iben  von  den  Wraust altun^en  der  (iemeinde  —  wie  dem  er- 
wähnten Feuerlöschwesen  ■ —  die  gleichen  X'urteile,  wie  die  Waren- 
häuser, vielleicht  sogar  gröfeere.  Denn  auf  Waren  liegt  mehr 
Feuersge£ihr,  wenn  sie  ausschlielslich  der  Textilbranche  angehören, 
als  wenn  ein  grofser  Teil  davon  auf  Oefen,  Glas,  Porzellan,  Steingut, 
Thonwaren,  Haus-  und  Küchengerätschaften  etc.  entfällt  Schlecht- 
hin unsinnig  ist  das  Argument  bei  Versandtgeschäften.  Kann  man 
von  Warenhäusern  wenigstens  s^en,  dafs  sie  die  gleichen  Vorteile 
von  den  Veranstaltungen  der  Gemeinde  haben,  wie  Grofsgeschäftte 
nach  Art  von  Hertzog  und  Israel,  so  ist  es  sicher,  dafs  die  Ver> 
sandtgeschäfte  an  diesen  Vorteilen  weniger  teilnehmen.  Sie  sind 
denn  auch  nicht  an  den  grofsen  Ort  gebunden  und  befinden  sich  wohl 
überwiegend  an  kleineren  Orten  oder  Vororten,  welchen  sie  erheb* 
•  liehe  Vorteile  durch  Einkommensteuer  etc.  schaffen,  während  der 
Nachteil  ihrer  Konkurrenz  gerade  nur  in  anderen  Gemeinden  füiilbar 
wird.  Im  Herrenhaus  trat  die  innere  Unwahrheit  dieser  Begründung 
deutlich  darin  zu  Tage,  dafs  die  X'crtreter  der  Städte  einmütig  sich 
gegen  die  Steuer  erklärten.  Wäre  es  thatsächlich  wahr,  dafs  die 
Warenhäuser  von  den  W  ranstaltungcn  der  Gemeinde  grofscren  Vor- 
teil hätten  als  z.  B.  die  Spezialgeschäfte,  so  wären  die  Büp^M-rmeistcr 
zweifellos  die  ersten  c^ewesen,  einer  solchen  Steuer  zuzustimmen. 

Die  Gef.ihi  endlich,  dals  Gescl)äfte  vor  einer  Warenhaussteuer 
in  anderen  lUnuK^-^taalen  nach  l'reuiscn  flüchten,  mag  ein  (irund 
sein,  Wertheim  oder   Tietz  zu  besteuern,  abci  sicherlich  keiner, 
.  liertzog  geringer  zu  besteuern,  als  Werlheim. 


uiyiiizeo  Dy  Google 


Das  preußische  (jcscU  bclrctlcnd  die  WarcnhauÄStcucr. 


537 


Von  jenseits  der  preufsischen  Grenze  scheint  eher  eine  andere 
Gefahr  zu  drohen.  P^fsen  kann  nur  diejenigen  Betriebe  besteuern, 
welche  in  Preulsen  ihren  Sitz  oder  einen  Nebenbetrieb  haben.  Es 
kann  aber  niemals  an  die  Versandtgeschäfte  heran,  die  aus  einem 
anderen  Bundesstaate  ihre  Ware  nach  Preulsen  senden.  Die  preutsische 
Steuer  wäre  also  eine  Prämie  iiir  die  aufserpreulsischen  Versandt- 
geschäfte in  Deutschland. 

Irgend  ein  halbw^  einleuchtender  Grund,  gerade  die  Waren- 
häuser zu  besteuern,  ist  weder  aus  dem  Gesetz  noch  den  Motiven 
zu  ersehen,  man  war  mit  Bcwufstsein  unlogisch  und  ungerecht,  weil 
die  logische  Ausdehnung  der  Steuer  auf  alle  rTrofsbetriebe  mit  der 
„be.stehendeu  Wirtschaftsordnung"  sich  allzu  schlecht  vertragen  hätte. 
Und  da  man  logisch  und  gerecht  nicht  sein  konnte.  s<  Inif  man  die 
mechanische  Scheidung  der  vier  W  arongruppen  ^)  des  ^  6. 

III. 

Zwischen  dem  Standpunkt  des  Entwurfs  und  der  Haltung  der 
Regierung  bei  dessen  Beratung  im  Abgeordnetenhaus  besteht 
ein  auffälliger  Widerspruch.  I  latte  die  „Begründung"  des  Entwurfs 
die  Besteuerung  anderer  Grofsgeschäfle  als  der  Warenhäuser  für  ein 
Pudendum  erklärt,  so  lud  der  Finanzminister  Miquel  die  Kommunen 
zur  Besteuerung  dieser  Grofsbetriebe  geradezu  ein.  So  erklärte  er 
in  der  Sitzung  des  Abgeordnetenhauses  vom  26.  Februar  1900: 

..Nua  t'r.mi  man.  wohin  ;<nll  cl.is  führt'n?  können  d.inn  nit iit  an<l'  re 
durrli  (IroKhctrielie  hedriickti-  Klassen  koninirn  nn<\  sajjen:  wir  tiuis>.fn 
aucli  (Mitiastot  werden  gtj;cnul>»  r  clu-si  n  ( iroisln-trifbcn.'  (Zunil  links» :  die 
werden  auch  schon  kommen !)    Gewifs  meine  Herren,  die  können  auch 

kommen,  die  sind  auch  schon  da,  und  mit  Recbt,  meine  Herren  • 

Ebenso  ist  das  Prinzip  der  Staflelbesteuerung  auch  in  der  indirekten  Steuer 
an  sich  durchaus  berechtigt;  es  ist  nur  nicht  Aber  all  klar  und  bestimmt 
und  radikal  durchzuüBhren.  In  manchen  Fallen  kann  es  aber  wenigstens 
annähernd  geschehen;  wo  es  möglich  ist,  mag  es  geschehen." 

Und  ähnlich  im  Herrenhaus  12.  Juni  d.  J.: 

„Aber  nichtsdestoweniger  wUrr  eine  St affclbc Steuerung  der 
(^rofsen  Brauereien  gegenüber  den  kleineren  durchaus  berechtigt, 

*)  Wie  willkOrlich  diese  ist,  dafllr  folgendes  Beispiel.  In  Gruppe  b  hatte  das 
Herrenhaus  noch  die  Möbel  eingefUgt.  Der  Berichterstatter  Graf  Stolberg  begrOndete 
dies  folgendermafsen:  „Es  war  uns  bekannt,  dafs  insbesondere  einige  Herren  vom 
Rhein  im  .\1>);eordnetenhausc  d-irauf  Wert  legten,  namentlich  wegen  eines  altrenom- 
mierten in  Köln  bestehenden  Ge$chäAs."  (!) 


53S 


Heinrich  Cohn, 


denn  wenn  man  die  l^iMuDg^nihickeit  nur  cinigcrmafiicn  inbrtracht  zieht,  mufk 

m  in         sagrn,  tluis  es  s,  hon  eine  U' nprre i-b  t  i k  r  i  t  Ix-drutct,  einen 

( i  r  II  1  -  !i  (  t  r  i  (  It  in  der  I'.i.uuTi'i  mit  .1 1 1  r  n  \' <i  r  1 1- i  1  <■  n  <l'-r  m«>- 
i!i  rn<n  \V  i  >  -  f  n  s  >  Ii  .1  1 1  nur  tlun  si>  li»>cJi  zu  besteuern  wie 
einen  K  1  e  i  n  1>  e  l  r  i  e  b  u  u  1  tl  e  m     u  n  <1  v." 

Also  in  der  „Begründung"  des  Gesetzes  heifst  es 
,,Schon  jetzt  sind  ja  die  kleineren  Müller  und  Brauer 
(sie!)  mit  der  Forderung  einer  gestaffelten  Umsatz* 
steuerfür  ihre  grofscn  Konkurrenten  hervorgetreten. 
Es  bedarf  keiner  weitereii  Ausführung,  dafs  unser 
Wirtschaftsleben  eine  solche  Belastung  des  Grofsbe- 
triebcs  nicht  zu  ertragen  vermochte"  ^  und  der  Fi- 
nanzminister erklärt  es  geradezu  für  eine  Ungerech- 
tigkeit, c\:\{'<  eine  S t a ffel b esteuer u ng  im  den  Braüe- 
reien'nicht  besteht! 

Der  Richter,  der  verurteilt  wäre,  hier  den  „Willen  des  Gesetz- 
gebere"  zu  ergründen,  befände  sich  einer  unlösbaren  Aufgabe  gegen- 
über. Von  dem  Standpunkt  des  Ministers  ist  das  Gesetz  erst  recht 
unsinni},'.  Meint  er,  dafs  alle  ( irofslictriebe  —  zum  mindesten  des 
Handels  —  durch  eine  Steuer  belastet  werden  müssen,  so  war  die 
künstliche  Gruppen! )i1<lun.;  des  (icscizes  nicht  nötig,  und  man  kam 
einfach  zur  Umsat/.bestriu  rung.  In  etwas  zwcidculij^or  Weise  \e^e 
der  Minister  den  Konununen  nahe,  die  Hesteuerun^  auf  aTiderc  Be- 
triet )C  :\U  Warenhäuser  auszudehnen.  Er  erklärte  (Herrenhaus 
13.  Juni  d.  J.): 

„Wenn  es  so  enUctzlich  ungerecht  wäre,  einen  Heitxoe  hier  von  der 
Steuer  XU  befreien  und  ein  Warmhaus  zu  besteuern,  so  mag  der  Flcrr 

I  ii>i  rhiirj^ernieister  nur  in  seine  St.nlt\ erordnetenversammlung  gehen  und 
li(  ;intr.i^;en,  den  Ili  rt/o;;  na<  li  il^niscllx  n  l'riii/ip  7u  iM  li.inilcln,  was  frei- 
lich nicht  ganz  richtij;  wäre ;  einen  \Vider.>t.»iul  wird  er  wohl  nuht  linUen." 

Hierzu  bemerkte  Abgeordneter  Barth  zutreffend  (15.  Juni): 

„Nun  könnte  man  sich  ja  mit  dem  Gedanken  trösten,  wenn  ein 
solcher  Kommunalsteuerbeschlufs  an  die  Aufsichtsbehörde,  an  die  Re- 
gierung kommt,  so  hat  es  die  Regierung  immer  in  der  Hand,  zu 
sagen,  darauf  hissen  wir  uns  nicht  ein.   Wenn  der  Finanzminister  diesen 

Ilintcrgcdiink.  M  ^i  h.il.t  h.ih'>n  -<«Ilte.  so  glanl>e  ich,   w.'ire  er  verpflichtet 

jjrwes<'n.  ihn  i  '!i<  >>  r  ( lele^jenlu  it  mit  /um  AiiMlrui  k  zu  hrinpen.  r>a- 
liut  w.ir  i'  <  r  .»In  r  ^em  ganzes  Art;umen(  von  vorn  herein  wieder  zcr- 
schmetUrt  li.iben." 


I>as  prcuülsche  Gesetz  betreffend  die  Warenhausstcucr. 


539 


Nach  Replik  und  Duplik  fafste  der  Regierungskommtssar  Ge^ 
heimer  Rat  Stnitz  das  Ergebnis  der  Diskussion  dahin  zusammen: 

„Der  ganze  Streit  be/uglich  der  Sjiczialgiscliiilit  Im nilii  aut  lolgendem. 
Wut  haben  erklärt,  wir  lehnen  es  ah,  durch  ein  Staat s^e>etz  im  Rahmen 
dieses  Gesetzes  die  Spczia1|^schSfle  heranauziehen.  Das  ist  etwas  ganz 
anderes  als  wenn  eine  einzelne  Gemeinde  sich  ein  Steuerreguiativ  nach 
einem  Mafiistabe,  der  ihr  angemessen  erscheint,  zarecht  macht,  das  auf  die 
Spczialgesehfifte  Anwendung  findet" 

Eine  schlüssige  Antwort,  ob  die  Regierung  einem  solchen  Steuer« 
entwurf  zustimmen  würde,  und  weshalb  sie  lediglich  die  Besteuerung 
der  Warenhäuser  von  Staats  wegen  will,  ist  nicht  erfolgt.  Beim 
besten  Willen,  zum  Verständnis  der  Intentionen  der  Regierung  zu 
gelangen,  mufs  man  eingestehen,  dals  sie  um  so  dunkler  erscheinen, 
je  mehr  sie  von  der  Jlegierung  klar  gemacht  wurden. 

Verständlicher  war  die  Haltung  der  Freunde  des  Gesetzes  im 
Zentrum  und  der  konservativen  Partei.  Sie  sind  fiir  die  Besteue- 
rung der  Spezialgeschäfte,  nehmen  aber  Abstand,  weil  die  Regierung 
nicht  dafür  zu  haben  war.  Die  Konsequenz,  dafs  die  Grofsbetriebe 
in  Landwirtschaft  und  Industrie  mit  dem  gleichen  Recht  steuerlich 
zu  belasten  seien,  wie  Grofsbetriebe  im  Handel  lehnen  sie  mit  dem 
alten  Scherze  ab,  dafs  der  Handel  nicht  produktiv  sei.  Von  diesem 
Standpunkt  hätte  man  erst  recht  zur  Ablehnung  der  Warenhaus- 
steuer gelangen  müssen.  Denn,  wenn  es  sozialpolitisch  richtig  sein 
mag,  dem  kleinen  Produzenten  das  Leben  mögjlich  zu  machen  — 
so  wäre,  den  kleinen  Schmarotzer  zu  erhalten,  jedenfalls  nicht  Auf- 
gabe der  Gesetzgebung. 

IV. 

Wer  feierlich  versichert,  jemand  erhalten  und  stärken  zu  wollen, 
der  hat  ihn  fiir  krank  erklärt  Die  Thronrede,  welche  der  Hoffnung 
Ausdruck  gab,  die  Warenhaussteuer  werde  „zur  Erhaltung  und  Stär- 
kung des  Mittelstands  in  Handel  und  Gewerbe  beitragen"  ^  hat 
damit  zweifellos  zugegeben,  dals  ihrer  Meinung  nach  dieser  Mittel- 
stand aus  sich  heraus,  ohne  Hülfe  der  Gesetzgebung,  sich  voraus- 
sichtlich nicht  |Tesund  erhalten  ko/ine.  Geht  thatsächlich  der  Mittel- 
stand im  Handel  zurück  und  zwar  durch  die  Warenhäuser?  Kine 
wissenschaftliche  Beantwortun^j  dieser  Frage  würde  über  den  Rahmen 
dieser  Ausführunci^cn  hinausführen ,  immerhin  gewährt  schon  eine 
oberflächliche  Vergleichung  der  statistischen  Erhebungen  von  1882 


.  j  _  ^  y  Google 


540 


Heinrich  Cohn, 


und  1895  einen  Linl)lick  in  die  Entwicklung,  welche  der  Handel, 
beziehentlich  cini'^^c  Handelszweige  genommen  haben.') 

Die  Selbständigen  in  Handel  und  X'erkehr,  (iruppe  C.  der  amt- 
lichen Statistik,  machen  1882  =  44,25  Proz.,  1895  =  35,73  Proz.  der 
im  Gewerbe  Tliätii^en  aus,  sodals  ein  relativ  er  Rückgang  von  8,52  Proz. 
v  orliegt,  welclicr  nahezu  el)en.so  gr<  »Ts  ist  wie  der  cnt.sprechende  Rück- 
gang in  der  Inciu>trie  von  0.51  Pro/.  Dieser  Rückgang  ist  in  Stadt 
und  I^nd  verschieden  groiä,  und  i:war  machen  die  Selbständigen 
aus  in: 


(irols- 

MiUel- 

Klein- 

L.iiid- 

auf  dem 

s-tadten 

stiidtcn 

städten 

stadlcn 

])Utlcn  Lande 

l'r..z. 

Proz. 

I*roz. 

Proz. 

34.88 

38.  »4 

43.50 

SM« 

54,67 

30,65 

32.43 

36t75 

41.47 

44.01 

4t33 

5.71 

6.75 

9.69 

10,66 

1882 

i89S_  _ 
also  Rflckfranj; 

Der  relative  Rückgang  der  Selbständigen  ist  daher  in  der  (.Trofs- 
stadt  am  kleinsten,  am  stärksten  auf  dem  platten  Laiule,  sicherlich 
ein  unerwartetes  Ergebnis.  —  In  absoluten  Zahlen  betrug  die  Zahl 
der  in  Handel  und  Gewerbe  Thätigen : 


I. 

GroiÄstudlc 
a)  ttber-      b)  selb- 


Jl. 

MittcUladtc 
a)  Über«      b)  selb- 


III. 

Klciu.studte 
a)  fiber>      b)  selb» 


1882 
1895 


haupt 
346098 
77523» 


ständig 
120709 
237581 


haupt 

287433 
400046 


ständig 
109612 
129737 


haupt 
29S4S7 
393391 


ständig 
129813 
»44575 


1882 
1895 


VI. 

Landstädte 

:« I  uhrr-  sclh- 
liaujit  >t:in<li^ 
21779S  111427 
281433  116711 


V. 

Plattes  Land 

;i  I  üIkt-        l>j  sfll)- 
h.uipl  sliindijj 
420569  229947 

48S409       214  953 


Aufdeni  platten  Lande  hat  danach  SOgar  eine  absolute  .Abnahme 
der  Selbständigen  stattgefunden,  "wetche  von  der  Zunahme  in  Land- 
städten und  Kleinstädten  kaum  wett  gemacht  wird.  In  Prozenten 
betrug  die  Zu-  bezw.  .Abnahme  der  a)  überhaupt  bezw.  b)  selb* 
ständig  im  Handel  und  Gewerbe  Thätigen  in  den  Gruppen: 


'1  Fs  ist  rin  M.in^'rl,  dals  si.)ti-UM-lu'  N.ichwcisf  dieser  Art  in  dir  Ih  ^rütiduiij» 
des  Kutwurls,  sowie  im  Komniii>s;un.slicricht  des  Abgeordnetcnhauscä  vt>il:.iandig 
fehlen. 


Digitized  by  Google 


Das  preußische  Gesetz  betrctfcnd  die  Warenliausstcuer. 


54» 


I.                      II.  lU.  IV.  V. 

a)Uber«  b)selb>  a}aber-  b)Mlb-  «)  über- b)s«lb- •)  Aber- b)  selb-  a)  Uber-  b)selb- 

haupt  ständig  haupt    ständig  haupt  ständig   hau|)t  ständig  haupt  ständig 

Pniz.                     Proi.  Proz.  ^r<)^.  Proz. 

+  124  +97,5  -i-39.5   +18.3  +3'. 9  +«4.6   +30    +4.5  +*«  —6.5 

wogegen  die  Bevölkerung  von  1882  bis  1895  in  diesen  Gruppen  um 

+  ilt,S9  +  39,6a  +24,33  +10,16  — 1,31  Proz. 

ZU-  bczw.  ahn. ihm. 

Zuweitgehende  Schlüsse  wird  man  aus  den  angegebenen 
Ziffern  fiir  unsere  Zwecke  nicht  ziehen  dürfen,  da  unter  der  Rubrik 
Handel  niclu  nur  Waren-  und  rroduktenhantiel  figuriert,  sondern 
z.  B.  auch  der  I  lauMt  rliandel,  clcssen  Rückgang  sicherlich  an  der 
Abnahme  der  selbständigen  Handelsleute  auf  dem  Lande  grofsen 
Anteil  hat.  Andererseits  machen  die  im  Waren-  und  Produktenhandel 
werbenden  41  Proz.  aller  im  Handel  und  Verkehr  Thätigen  aus, 
also  eine  so  grofse  Zahl,  dafs  gerdde  die  Bewegungen  in  dieser 
Gruppe  in  den  GesamtzifTem  für  Handel  und  Verkehr  stark  zum 
Ausdruck  kommen  müssen.  Auch  ist  die  Progression  in  der  Zu- 
nahme der  Selbständigen  vom  platten  Land  bis  zur  Grofsstadt  durch 
alle  Stadien  so  regelmälsig,  dafs  die  gro&en  Ziffern  der  im  Waren- 
und  Produktenhandel  Thätigen  ihre  Wirkung  geäulsert  haben  müssen. 

Man  muls^ch  mit  dieser  Vermutung  begnügen,  da  die  amtliche 
Statistik  nicht  angiebt,  wie  der  Waren-  und  Produktenhandel  sich 
in  den  verschieden  Städtegruppen,  beziehentlich  auf  dem  platten 
Lande  entwickelt  hat.  Dagegen  sind  die  betreffenden  Ziffern 
für  das  ganze  Reich  und  für  die  Grofsstädte  aus  den  Veröffent- 
Hebungen  des  statistischen  Amts  zu  ersehen. 

Im  Waren-  und  Produktenhandel  betrug  dfe  Zahl 


1882 

in  ganz  Dcutsriiland  380228 
in  Berlin    ....  22399 


a)  der  Selbständigen 

1895  1895:1882  » 

476624       +96.396  =  -j- 25,4  Pro«. 
34620         -f  12,221   =  +54,5  „ 


b'l  der  Arbeiter  und  Angestellten 

in  ganz.  Deutscbland    294626       520646       226040  =  +76.6  Pros, 
in  Berlin    ....     30833        58840        2S007  ss        90  „ 

die  Selbständigen  machten  danach  in  Deutschland  tSSS  ss  56,3  Pros.,  1895  =  4^  Pros. 

in.Beriin  .  .  t88s»44     „     1895 » 19.3  » 
der  im  Waren»  nnd  Produktenhandel  Oberhaupt  Tbfltigen  aus. 


542 


Heinrich  Cohn, 


Die  Znlil  der  SelbstäiidiL^on  nahm  tlaher  im  X'crhältnis  erheblich 
ah,  in  In;!;!!  Sogar  nicht  im  L^leichcn  M.ifse  wie  in  Deutschland 
Übcrliaupt.  l'line  Veriileichun-j,;  der  einzelnen  ( irörsenklasscn  der 
Geschäfte  ist  kaum  mö^jUch,  da  die  Rubriken  der  Aufnahme  von 
1895  ')  "^'^  denen  von  18S2  nicht  übereinstimmen. 

£5  arbeiteten  in  Berlin  uhne  üeliilfen 


Die  Betriebe  ohne  Gehilfen  vermehrten  sich  daher  um  5990, 

die  Hetriebe  mit  (lehilfen  von  0645  auf  15876  um  6331.  Auf 
einen  Betrieb  mit  Gehilfen  kamen  im  Durchschnitt  1S82  3.2,  im 
Jalire  1895  3,7  Arbeiter  und  Angestellte.  Man  wird  folgende  That- 
sachen  feststellen  dürfen  : 

1)  Wie  in  Handel  und  Gewerbe  überhaupt  h.it  im  Waren*  und 
Produktenhandel  die  Zahl  der  Selbständi^'en  relativ  abgenommen, 
in  ganz  DeutM  hland  so;_;;ir  schneller  als  in  llerlin. 

2)  Von  neuen  Hetru  hen  enttällt  eine  un\ ei hähnlsmäisig  grolse 
Zahl  (in  licrlin  die  llällle)  aut  Im  triebe  ohne  (iehilfen. 

Diese  beiden  Thatsachen  hi>sL  ii  in  der  That  die  \  ermutun^ 
^^erechtfcrtijjt  erscheinen,  dafs  der  Mittel>tand  im  Handel  zurücksteht. 
Die  starke  Zimahme  der  Zwert^bctrielu-  s|iricht  für  die  von  den 
(  iegnern  der  \\  ai  riili.ui>>teuer  geltend  <^rmachte  Anschauun?^,  dafs 
nicht  i?owolil  ^Vw  Zunalime  tler  Warenhäust  r  als  die  rapide  Zu- 
nahme der  Kleinbelriel>e  an  dem  Ruckj^an^^  des  Mittelstands  schuld 
ist.  Aber  die  Ghfofsbctriebe  und  insbesondere  auch  die  Warenhäuser 
haben  an  diesem  Rück^an^^  doch  auch  ihren  beträchtlichen  An- 
teil. Die  Warenhauser  mit  ihren  ^rofsen  Umsätzen  können  nur  zum 
kleinsten  Teil  zur  Befriedig  utig  neu  «^cschaiTener  Bedürfnisse  wirken; 
den  Hauptabsatz  erzielen  sie  dadurch,  dafs  sie  im  Verhältnis  zu 
ihren  Konkurrenten  erfolgreich  um  die  Gunst  des  Publikums  be- 
müht, sind.  Es  steht  aufser  Zweifel,  dafs  die  Warenhäuser, 
wie  alle  grofsen  Betriebe  eine  Anzahl  selbständiger  Elemente 
deklassieren,  die  nunmehr  zumeist  in  abhängiger  Stellung  ihr  Brot 
suchen  müssen.  Demgegenüber  ist  darauf  hingewiesen  worden, 
dafs  diese  Angestellten  besser  daran  sind  als  früher,  dafs  ihr  Ein- 


>)  1S95  sind  die  Inhaber  mitgezählt,  1882  nur  die  Gehilfen  berechnet 

1.S95  die  kubnkcn:  2^5,  6  10,  II — 20.  3t  50.  51  200  n'  .r  200  Köpfe 
16S2   „         „  1 — 5,  6-10,  11—50,  51 — 2C»,  uliir  200  KujjIc. 


1882 
1895 


12754  Betriebe  von  22399 
»8744       n        H  346ao. 


^  ij .  .-Lo  Ly  Google 


Das  prcttfsUchc  GcseUc  betreffend  die  Warenhaassteuer. 


543 


kommen  sicherer,  häufig  auch  höher  ist  als  früher,  dafs  sie  ge- 
wissermafsen  einen  neuen  Mittelstand  bilden. 

Das  Wertheimsche  Warenhaus  hat  gegen  die  Warenhaussteuer, 

einen  Protest  \crötTcntliclit ,  aus  welclicm  hervorgeht,  dafs  es  für 
gleiche  Stellen  absolut  höhere  Gehälter  zahlt  als  die  „Branchen-Ge- 
schäfte". Dr.  Walter  Borgius  hat  intlesscn  in  einer  Abhandlung 
über  den  Eisenwarenhandel  in  Breslau  (in  diesem  Archi\  Bd.  XUI, 
später  abjredruckt  in  der  von  der  Handelskammer  zu  Hannover 
heraus^Ci^ebenen  (iutachten-Sammlun<:j  über  die  l-a^^c  des  Klein- 
handels in  Deutschland  Bd.  II  S.  32  ff  1  mit  Recht  darauf  hin- 
gewiesen, dafs  trotz  absolut  hohcier  Löhiie  in  den  Hazaren  und 
Warenhäusern  deren  Au^^Mben  für  die  AnL^eslcUten  im  Durciiäciinitt 
beträchtlich  nietlri^er  sind  als  im  Branclieii;^'eschäft. 

Die  \  ervollkomnmete  Arbeitsteilung  im  ( uolsl)etrieb  bringt  es 
eben  mit  sich,  dals  derselben  Zahl  geschulter  Kräfte  eine  weit 
'^'rtifsere  Zahl  uii|^^e>chulter  ents[tricht.  l'm  an  einem  einfach 
lie^'enden  GeschäUs/weig,  dem  Bankgeschält,  den  X'urgang  klar  zu 
machen.  In  dem  mittleren  (ieschäft  mufs  der  Kassierer  auch  ein 
Buch  fuhren,  ein  Buchhalter  gelegentlich  den  Kassierer  vertreten. 
Ein  solches  Geschäft  mufs  daher,  abgesehen  von  Lehrlingen,  durch- 
gehends  kaufmännisch  geschultes  Personal  fuhren,  das  auch  eine 
Vertrauensstellung  ausfüllen  kann.  In  den  grolsen  Banken  finden 
dagegen  auf  einen  Kaufmann  immer  mehrere  Leute  Verwendung, 
die  nichts  anderes  als  eine  bessere  Art  Schreiber  sind  und  jahraus 
jahrein  dieselbe  Art  Arbeit  verrichten.  Sowohl  der  Kassierer  in  der 
großen  Bank  als  ihr  Schreiber  mag  absolut  besser  bezahlt  sein 
als  die  betreffenden  Angestellten  im  kleinen  Geschäft.  Da  bei  ihr 
auf  eine  geschulte  Kraft  aber  vielleicht  zehn  ungeschulte  kommen, 
im  kleinen  und  mittleren  vielleicht  nur  einer,  so  ist  trotzdem  das 
Durchschnitts-Gehalt  pro  Kopf  in  der  I^ank  meist  kleiner  als  im 
mittleren  Privatgeschäft.  Dies  gilt  allerdings  nur  von  den  älteren,  . 
welche  durch  ein  traditionelles  Renommee  den  wirtschaftlichen 
Vorsprung  der  Banken  in  der  Gunst  des  Publikums  einigermalsen 
ausgleichen  können  und  ein  altes  Personal  haben;  in  den  neuen 
Geschäften  dagegen ,  welche  versuchen  müssen ,  durch  Billigkeit 
neben  der  Bank  zu  bestehen,  sind  die  Gehälter  pro  Kopf  eher 
nicdrif^er  als  bei  der  droistjank.  —  So  wirkt  jeder  ( irofsbetrieb 
auf  die  L()hiie  doppelt  ungünstig,  da  er  nicht  nur  in  diesen  Ge- 
schäften selbst  sondern  auch  in  den  Konkurrenzi^fesrhältcn  eine  Pendenz 
zum  Sinken  des  Durchschnittsgehalts  pro  Kopf  bewirkt. 


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544 


Heiarieh  Cohn, 


Der  Kaufmaniii  der  bei  einem  Warenhaus  gute  Stellung  findet, 
mag  sich  in  besserer  Lage  befinden  als  in  der  Zeit  seiner  fiüheren 
Selbständigkeit.  Wird  so  das  Warenhaus  seine  Rettung,  so  darf 
man  andererseits  nicht  vergessen,  dafs  das  Waretihaus  beziehentlich 
der  Grofsbetrieb  überhaupt  häufig  eben  die  Gefahr  war,  vor  der 
er  Rettung  suchen  mufstc.  Nicht  das  ist  die  Frage,  ob  es  fiir  einen 
Deklassierten  eine  Wohlthat  ist,  im  Grofsbetrieb  Anstellung  zu  finden, 
sondern  ob  der  Grolsbetrieb  den  Mann  flcklassiert  hat.  Sicher  ist, 
dafs  von  den  Vielen,  welche  als  Selbständige  sich  nicht  erhalten 
können,  nur  ein  kleiner  Teil  eine  entsprechend  gute  Stellung  im 
(irofsbetrieb  findet.  Der  ökonomische  Nut/on  der  Arbeitsteilung 
besteht  wesentlich  auch  darin,  dafs  in  hohem  Mafse  an  Stelle  ge- 
schulter Kräfte  ungesrhulle  treten.  Je  gröfser  die  Betriebe  werden, 
um  so  besser  kann  das  Prinzip  der  Arbeitsteilung  durchgeführt 
werden,  um  so  geringer  wird  relativ  die  Zahl  der  geschulten  Kräfte, 
d.  h.  um  so  mehr  muls  der  Mittelstand  in  dem  betrclienden  Ge- 
schäftszweig abnehmen. 

V. 

Mit  den  Warenhäusern  verfallen  auch  die  Konsumvereine  'j  der 
Strafe  der  Steuer.  Nicht  etwa  durch  einen  Zufall,  wie  solcher  bei 
Gesetzen  gelegentlich  vorkommt  Die  Konsumvereine  sind  vielmehr 
in  hohem  Mafse  der  Gegenstand  der  Angrifife  und  des  Hasses  der 
Kleinhändler.  —  In  klassischer  Weise  hat  diesem  Hafs  eine  Resolution 
des  Deutschen  Handwerkertages  vom  2}.  April  1895  Ausdruck  ge- 
geben :  •) 

,J>er  Vm.  Allgemeine  deutsche  Handwerkertag 
verurteilt  die  Konsumvereine  als  einen  Uebergriff 
nackter  Selbstsucht  in  die  Existenz  und  das  Recht 
des  Nächsten (1),  er  sieht  in  ihnen  den  Keim  zur  völligen  Zer- 
Störung  unserer  gegenwärtigen  Gesellschaftsordnung  und  Unter- 
grabung der  Monarchie  infolge  ihrer  sozialistischen  und  kommu- 
nistischen Tendenz"  (1). 

*)  Wcnißstcn.s  diojcnigcn,  welche  Gewerbesteuer  zahlen.  Darunter  befinden 
sich  gerade  die  Bedeotendstco. 

*)  Abgedruckt  und  zwar  anscheinend  beiföllig  in  einem  Bericht:  „Licht-  und 
Schattenseiten  der  Konsumvereine*',  erstattet  vom  deutschnationalen  Handluagsgehilfen« 

V  -1.  Mul  Hamburg,  der  in  di-r  erwähnten  Publikation  der  Handelskammer  zu  Hannover 
Autnuhmc  gefunden  hat.  Die  hicf  gesperrt  gedruckt«  Stelle  ist  in  der  PuUikatioa 
cbcnlalls  gesperrt  gedruckt. 


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Das  iireulsuchc  (Jl-^cU  bolrclYcnd  die  \Varcuhauj».slfUfr. 


545 


Hs  wäre  Schade»  die  monumentale  Wirkung  dieser  Sätze  durch 
«ine  Besprechung  abzuschwächen.  Nur  daran  darf  erinnert  werden, 
dafs  der  Konsumverein  als  ein  Produkt  der  Selt>sthilfe  bisher  für 
unsozialistisch  galt  —  geradezu  als  ein  Präventivmittel  gegen  den 
sozialen  Staat  Diese  Annahme  ist  ebenso  ad  acta  gelegt  wie  der 
Glaube  an  die  Erhaltung  des  Mittelstands. 

Die  Mittelstandsfrage  ist  In  den  letzten  Jahrbn  das  A  und  O 
der  Diskussionen  über  die  soziale  Fraj:,'e  f^cwesen.  Es  war  gewisser- 
mafsen  die  Citadelle  der  „bestehenden  (Tcseil-rhiftsordnung".  Jetzt 
hat  die  Rc-icrunfj  kapituliert.  Sie  erklärt  selbst,  dals  der  Mittel- 
stand zumindest  auf  dem  Gebiet  des  Handels  sich  von  selbst  nicht 
haltr-n  könne  — ,  und  der  Konsunncrcin,  welcher  als  Schutz  der  be- 
stclierulen  Gesellschaftsordnun;^'  dienen  sollte,  hat  verräterisch  dazu 
beigetraL^en,  sie  dem  I'einde  auszuliefern. 

Die  Animosität  ^e^jjen  die  Kon.sunn  ercinc  hat  sogar  dazu  i^e- 
fülirt.  diese  schlechter  zu  stclkti  als  die  \Varenhäu--er.  l)ie  \'cr- 
j^l^ünsti^urv^',  dafs  für  einen  Hctiieb  die  Steuer,  soweit  sie  20  iVoz. 
des  F.rtrai^cs  übersteigt,  auf  diesen  Hetr  v.;  I  jezw.  die  Hälfte  des  Steuer- 
satzes herabzu>el/en  ist,  hndet  auf  Koii^unvvereine  keine  Anwendung. 
Welchen  Standi)Uiikt  man  auch  zum(Tesetz  eiiiiielimcn  nu')ge,  diese 
Bestimmung  muls  doch  zu  recht  lebhalten  Bedenken  \'erati!a>sung 
geben.  Soll  einmal  der  Grofsbetrieb  über  den  Kleinbetrieb  tlen 
Sieg  da\on  tragen  —  und  der  wirtschaftliche  Fortschritt  führt  doch 
dahin  —  so  ist  es  zweifellos  vorzuziehen,  wenn  dieser  Grofsbetrieb 
kollektiv  ist,  als  einem  Einzelnen  eignet. 

In  merkwürdigem  Widerspruch  zu  dieser  Bestimmung  in  3 
Absatz  2  des  Gesetzes  hätte  ein  vom  Herrenhaus  zu  §  1  beigefügter 
Absatz  5  gestanden,  welcher  vom  Abgeordnetenhaus  wieder  gestrichen 
wurde  und  Gesetzeskraft  nicht  erlangt  hat.  Danach  sollten  die 
Minister  des  Handels,  der  Finanzen  und  des  Innern  ermächtigt 
sein,')  „för  gemeinnützige  Unternehmungen,  welche  unter  Aus« 
schlufs  eines  die  Verzinsung  von  vier  vom  Hundert  des  Anlage- 
und  Betriebskapitals  übersteigenden  Grewinnes  für  die  Unternehmer, 
den  Kleinhandel  ausschließlich  auf  den  Kreis  der  zur  Kaufberechti- 
gung zugelassenen  Angehörigen  einzelner  bestimmter  Berufe  be- 
schränken, Befreiung  von  der  W'arenhaussteuer  zu  gewähren." 

Worin   liegt  das  Gemeinnützige  solcher  Unternehmungen? 

Diese  Bestimmung  widerspricht  der  W-rfassung,  welche  in  §  lOt  bestimmt: 

dal^  St(iirr{icv(>rziißiing<  n  nicht  st;»tttindrri  dürfen. 

Aichiv  für  sni.  GcfcUgebuDg  u.  Statistik.  XV.  36 


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I 


Heinrich  Cohn, 

• 

Darin,  dafs  sie  dem  Konsumenten  einen  billigeren  Bezug  der  ge- 
brauchten Waren  ermöglichen,  was  natürlich  auf  Konsumvereine 

(und  Warenhäuser)  ebenfalls  zutrifft.  —  Dafs  nicht  mehr  als  4  Proz. 
.auf  das  Kapital  verteilt  werden  dürfen      kann  das  Institut  nicht 

gemeinnützig::  niaclien,  wenn  dessen  Hauptzweck  nicht  f^emein- 
nützig  ist.  Heisi)iols\veisc  wäre  die  Krri(  litini;::  von  Spielklubs  auch 
dann  nicht  gcmeinnüt/iL;,  wenn  das  Anlage- Kapital  mit  höchstens 
4  Proz.  zu  verzinsen  ist.  Das  Motiv  der  Steucrbefrciunij  wäre  al-o  die 
Aiischauunc:.  dafs  billii^er  Warcnbezut:  dem  (remcinwohl  dient.  Das 
(ie>et/  betretlend  die  Warenhaussteuer  teilt  —  «jelinde  rroa^'t  — 
die>en  Staiidjninkt  nicht  und  t^laubt  dieieni'^en  mit  einer  .Steuer  bc- 
lei^en  /.u  müs-rn,  die  /u  l)ilh<.:  wrkaufen  kemncn.  Fs  war  daher 
\"(M1  den  l-ieunden  tles  desetzes  vcrsiandi'^,  die  Steuerbetreiun^ 
dit  >i  r  ^cmeinnüt/.i;4en  l 'nternehmunL^en  ab/ulehnen,  bei  denen  he- 
Sdiuicrs  an  die  Warenhäuser  für  Armee  und  Marine  gedacht  war. 
Hau|:>tsächlich  lialien  indessen  puhtische  üiünde  zur  X'erwerfung 
des  1  lerrcnhauslie^chlusse.s  geführt.  Die  Steuerbefreiung  der  W'aren- 
iiaux  1  tur  .\rmce  uml  Marine  und  für  IkanUc  neben  einer  (Quali- 
fizierten Besteuerung  tler  Konsumvereine  für  Arbeiter  wäre  bei 
Wahlen  zu  eindrucksvoll  gewesen. 

Die  Belastung  der  Konsumvereine  würde  es  genügend  erklären^ 
dafs  die  Arbeiterpartei  Gegnerin  des  Gesetzes  ist  Im  Uebrigen  hat 
man  über  die  Frage,  ob  das  Gesetz  sozialistisch  sei,  gestritten. 
Hierbei  wurde  von  den  Freunden  des  Gesetzes  geltend  gemacht, 
dafs  die  Erhaltung  der  selbständigen  kleinen  Leute  den  Wünschen 
und  Interessen  der  sozialdemokratischen  Partei  zuwiderlaufe,  das 
Gesetz  somit  nicht  sozialistisch  sei.  Der  Schluls  ist  nicht  zwingend, 
man  mufs  wohl  zwischen  Grundsätzen  und  taktischen  Gesichtspunkten 
unterscheiden.  Beispielsweise  kann  in  concreto  einer  Arbeiterpartei 
die  an  sich  sozialistische  Verstaatlichung  eines  Betriebes  bei  einem 
Wahlrechte  mit  öffentlicher  Abstimmung  zuwider  sein.  Dafs  das 
Gesetz  der  sozialdemokratischen  Partei  aus  Parteigründen  zuwider- 
läuft, würde  also  an  sich  einen  soziaHstischcn  Charakter  des  Gesetzes 
*  nicht  aussrliliesscn.  Wohl  aber  scheint  das  Gesetz,  welches  im  Ziel, 
dem  Schutz  <lcr  Schwachen  gegen  die  (irolsen,  die  Sympathieen 
der  Sozialisten  hätte,  deren  wirt- -Ii 'ftlichcr  Auffassung  darin  zu 
widerstreiten,  dafs  es  einen  Ausgleich  durch  Hemmungen  im  Pro- 


'    \'<r\   (ir  11   Koii«univfr«  in<'n  frillt   si  ll.st  diese   Af)^,\l>c  von   4  l'rnz.    an  dttt 
auf!>ci)>tchcndcn  Kapitalisten  furt ;  sie  mulstcn  also  erst  recht,  gemeinnützig  sein. 


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Das  prcufsbchc  üoxetz  bctrcfTend  die  Warenhauüstcucr. 

<luktioiisi>ro/t'is  sucht,  während  die  soziaKlernokrnti<chc  Partei  che 
tjrr)isere  Produktivität  de<  ( irolshctrielies  au  sich  nicht  hindern  wilk 
Ini  l'ebrii^en  haben  der  P"  i  n  a  n /.  minister  und  Gcneralsteucr- 
dircktor  Buridiart  seiner  Zi  it  selh>t  Hedenken  «gehabt,  ob  ein  solches 
<  resetz  sich  mit  der  „botchenden  Wirtschaftsordnung"  vers:  iiUL;cn 
läist.  Der  AbL^.  (lothein  citierie  in  dieser  Bczichunj^  folgende  lir- 
klärungen  der  beiden  I  lerren : 

„Am  14.  Ajiril  1896  sagte  der  Finanzminister: 

„  t,Wir  werden  uns  nach  allen  Richtungen  bin  besinnen  mQssen,  nb  wir 
nicht  durch  Kingriflc  auf  diesem  Gebiete  schwere,  bedenkliche  Kon- 
sequenzen herbeinihren  und  Grundsätze  verletzen,  auf  denen  unsere  ganze 
Wirtschaft  heute  beruht."" 

Der  Herr  Generaldirektor  der  direkten  Steuern,  Herr  Burghart,  fUhrte  am 
9.  Juni  1896  nus ; 

..(l.Us  ih  r  <  <c(l.i!»k(  ii^ai);^,  mit  der  l'.c>U  ucrim^j  der  \ul>-vm.:i!n'^  dor  kli  incn 
\virt.s(')t.iHiichcii    I  .\i^t"  ii/t  n    tliiri  li    das    K.ijiital    t  iiu'ii    Hamm  t-ntj^i 
zusctzi-n,  zu  kolu»alni  Kunscijuenzcn  fülirc,  und  dat's  die  Kru);i'  d»  r  Be- 
steuerung der  Warenhäuser  dabei  nur  ein  ganz  kleines  Partikelchen  sei."  " 

VI. 

Das  groise  Aufsehen,  welches  das  Gesetz  betr.  die  Warenhaus- 
steuer erre<jt  hat,  ist  nicht  in  der  voraussichtlichsn  praktischen  Trag- 
weite des  Gesetzes  begründet,  sondern  in  seiner  ^grundsätzlichen  Be- 
deutuu}^.  hmnerhin  verlohnt  es  zu  prüfen,  welche  P'olgen  das  Gesetz 
voraussichtlich  haben  wird.  I  )ir  Steuer  bezahlen ,  dürfte  nicht 
leicht  inö<^'lich  sein,  —  sie  ist  that.^richlich  eine  P-rdrosselun<:jssteiier. 
Nach  §  5  sollte  allerdin'^s  die  Warenhausstcuer  20  IVoz.  des  nach 
dem  (icsctzc  \"om  24.  luni  1891  <^ewerl)e>teueri.)flichtij,a-n  Krtra^es 
nicht  ubersteii^en,  be/w.  auf  diesen  Hetra<^  herabzusetzen  sein.  Nach 
tler  \oni  .Abj^eordnetcnhaus  getroffenen  Acndcrun^j  ist  in  einem 
-olchen  hall  die  Steuer  aber  eventuell  nur  bis  zur  Hälfte  zu  er- 
inälsiLien.  Indessen  laj^H^ei  den  pji^'entümlichkeiten  unserer  Gewerbe- 
steuer schon  nach  dem  I-.nlwurf  der  Ke^icrun^  eine  trdro.ssclungs- 
steuer  vor.  Gewerbesteuern  sind  an  und  für  sich  nicht  gerade 
lobenswert,  sie  bedeuten  eine  Depression  zu  Gunsten  der  Rentiers. 
Das  Umgekehrte  wäre  viel  richtiger,  denn  bei  gleichem  Einkommen 
ist  das  Einkommen  aus  Renten  sicherer  und  bequemer.  Zudem 
darf  die  Gewerbesteuer  nicht  von  dem  Einkommen  abgezogen  werden. 
Hat  also  z.  B.  jemand  Mk.  lOOOO  Einkommen  aus  Renten,  so  zahlt 
er  Einkommensteuer  auf  lOOOO  Mk.    Hat  er  aber  Mark  lOOOO 

Ueberschufs  aus  Gewerbebetrieb   und  befinden  sich  in  seinen 

36* 


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Hoinricli  Cohn, 

Geschäftsspesen  lOOO  Mark  Gewerbesteuer,  so  mufs  er  Ein- 
kommensteuer auf  II 000  Mark  zahlen.  Wer  Gewerbesteuer 
zahlt,  hat  also  nicht  nur  diese  Steuer  selbst  zu  entrichten,  sondern 
sie  als  Einkommen  zu  fingieren  und  davon  noch  aufserdem  Ein- 
kommensteuer  zu  bezahlen.  Er  wird  also  zwiefach  dafür  bestraft, 
dafs  er  nicht  Rentier  ist.  Es  ist  ein  eigen  Ding  diese  Gewerbe- 
steuer. Sie  ist  nach  der  Erklärung  des  Ministers  eine  Realsteuer, 
bei  der  es  nicht  auf  Leistungsfähigkeit,  sondern  auf  das  Verhältnis 
von  Leistung  und  Gegenleistung  ankommt.  Woraus  natürlich  folgt, 
dafs  der  Rentier  der  nützlichste  Mann  ist.  Da  von  ihm  eine  Steuer 
ül)crhaupt  nicht  erfordert  wird,  ist  es  klar,  dafs  er  für  die  Leistungen 
der  Kommune  die  £:^rörste  Ge<;enleistung  liefert  —  ganz  im  Gegen- 
satz zu  den  faulenzenden  Fabrikbesitzern  oder  anderen  zur  Ge- 
\vcrl)esteucr  ln^r  angezogenen  Pcrisonen.  Es  ist  nicht  recht  verständ- 
lich, dafs  hei  <li  ri  Gef^nern  des  (leselzes  —  den  Kür;j^ermcistcrn  — 
die  ( ic\vcrl)e^ti  iier ,  beziehunf:;s\veisc  die  Mi')r^lichkeit  ihrer  allge- 
meinen Krhöhunt;  meist  symj)athi^rhe  liesjuechun;^  fand. 

An  und  für  sich  sc!i(  »n  n"u  ht  ideal,  kann  die  ( «ewerbcsteuer 
durch  die  Art  der  IkMerhiiun;^  eine  tCxlthche  l  ast  werden.  Als 
oewerbcsteiierlicher  Krtra^^  i^ilt  nicht,  wa>  dem  <  le-chäftseii^entümer 
verbleibt,  'Sondern  die  Summe,  welche  der  Iktrieb  alvvviiTt,  bevor  die 
Zinsen  aul  an;4eliehenc  Ivaiulalien  L;e/.ahlt  sind.  Gerade  bei  greisen 
Betrieben  (wie  die  \Varenhäuser\  die  mit  beträchtlichen  fremden 
Kapitalien  arbeiten,  wirkt  die  (iewerbesteuer  —  die  im  übrigen 
prozentual  ist  —  deshalb  häufig  progrc.ssi\ ,  und  es  ist  nicht  ver- 
ständlich, wie  Minister  Miquel  davon  sprechen  durfte  (im  Abgeord- 
netenhaus am  15.  Juni),  dafs  die  unglcichmäfsige  Verteilung^  der 
Gewerbesteuer  zum  Vorteil  der  Grofsbetriebe  (I)  die  Regierung  im 
Interesse  der  Gerechtigkeit  zur  Warenhaussteuer  gedrängt  habe. 

Der  Minister  erklärte  in  dieser  Beziehung  im  Herrenhaus 
(am  12.  Juni): 

„Ich  nehme  einma]  an,  dafs  in  Berlin  ein  Geschäft  besteht,  ein  Waren- 
haus mit  33  Millionen  Umsatz;  das  trägt  einen  Steuersatz  hier  in  Berlin 
von  15000  Mark,  will  sagen  in  Prozenten  des  Umsatzes  0,05  Plroz.  Da- 
gegen, meine  Herren,  ein  üewcrbe  von  80000  Mk.  Umsatz  bezahlt  schon 
1.6  I'roz." 

Aehnlich  im  Abgeordnetenhaus  (am  15.  Juni): 

„Ich  habe  nachgewiesen,  dafs  in  Hcrlin  ein  Umsatz  von  32  Millionen 
tu-stcurrt  wird  mit  15500  Mk.  und  umgekehrt  ein  Haus  mit  100000  Mk. 
Umsutz  mit  dem  2,16  fachen  dieses  l*rozentsatzes." 


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DiUt  prcuiiti.sclic  Gcäclz  bctreficad  die  Warenhau&ütcucr. 


549 


Im  ersten  Beispiel  hätten  bei  80000  Mk.  Umsatz  128000  Mk. 
Gewinn  erzielt  sein  müssen,  im  zweiten  bei  100  000  Mk.  Umsatz 
sogar  216000  Mk.  Gewinn.  Nach  Adam  Riese  dürfte  das  nicht 
möglich  sein,  vielleicht  soll  es  in  dem  einen  Fall  statt  1,6  »0,16 
und  in  dem  anderen  statt  2,16  =  0,316  heifsen.  Das  hiefse  wäh- 
rend das  Warenhaus  nur  5  Proz.  als  Gewinn  vom  Umsatz  erzielte, 
hätten  die  anderen  erwähnten  Häuser  16  und  bezw.  2t, 6  Proz.  des 
Umsatzes  als  Gewinn  übrig  behalten. 

Nach  der  Meinung  des  Ministers  ist  es  eine  Ungerechtigkeit, 
dafs  je  10000  Mk.,  welche  das  Warenhaus  gewinnt,  nicht  mehr 
Steuer  zahlen  als  lOOOO  Mk.,  die  das  kleine  Geschäft  Ueberschuls 
hat.  Weit  eher  ist  das  umgekehrte  wahr,  denn  um  diesen  Gewinn 
zu  erzielen,  wäre  heim  Warenliaus  f]i  1  3  Ix  zw.  5  fache  Umsatz 
nötig  gewesen  wie  bei  tlen  im  licispiel  erwähnten  kleinen  I  läiisern. 
Bleiben  wir,  um  die  Wirkung  tier  V\'arcnhau.sstcuer  darzulegen,  bei 
dem  vom  Minister  '^^cwähltc  11  Hi  isjMc  1  des  Warenhauses  von  32  Mil- 
lionen Umsatz  und  15  500  Mk.  <  iewerlx.  . Steuer. 

Der  Gewinn  hätte  danach,  da  l  i'roz.  des  Einkonmicn.s  aus 
detn  Gewerbe  als  Steuer  ge/.ahlt  wird  =  l  550000  Mk.  au^L^cmacht. 
Die  Steuer  würde  betrai^an  2  Proz.  von  32  Millionen  =  640000  Mk., 
ist  nach  i;  5  auf  20  Pro/.,  von  l  55OÜOO  .Mk.  ~  310000  Mk.  herab- 
zusetzen, beziehungsweise  da  sie  nicht  weniger  als  die  Hälfte  von 
640000  .\lk.  bctragcfi  darf,  auf  320000  Mk.  Das  werbende  Kai)ilal 
nuiisle  man  auf  mindestens  16  Millionen  .Mk.  annehmen,  da  bei 
solchen  (le^chäflcn  sicher  8  .Millionen  rund  als  Wert  der  Ininutl)ihca 
anzu.NClzen  sind.  Das  mobile  Kaj)ital  von  8  Millionen  hätte  alsdann 
einen  Umsatz  von  32  Millionen,  einen  Gewinn  von  i  550000  Mk. 
(«  ca.  19  ProZ.)  ergeben,  also  ein  anormal  günstiges  Verhältnis. 

Nimmt  man  an,  dafs  »der  Eigentümer  die  Hälfte  des  Kapitals 
besitzt,  während  er  die  andere  Hälfte  mit  rund  6  Proz.  verzinst,  so 
zahlt  er 


an  Einkommen-  und  Ei|;änzungssteuer  zu  entrichten  hatte.  Das 
heifst,  er  zahlt  an  Warenhaussteuer  30  Proz.  und  mit  Einkommen- 
steuer etc.  38,5  Proz.  seines  Einkommens  als  Steuer.    Hier  sind 

sehr  günstige  X'crhältnisse  zu  Grunde  gelegt,  nämlich  <  itu'  \''er- 
zinsung  des  Anlagekapitals  von  9,7  Proz.  (l  5  50 000  auf  16  Millionen). 


Ziiuen  

Steuer  ..... 
und  bdiiclte  selbst  . 
von  denen  er  noch  ca. 


480000  Mk. 
320000  „ 
750000  „ 
90000  „ 


L.ivjij^Lu  L.y  Google 


550 


Ileinricb  Cohn, 


Bei  einer  Verzinsung  von  7  Proz.  (der  Bazar  Gcrson  hatte  als 
Aktiengcsellsrliaft  Im  Durchschnitt  6  Proz.  erbracht)  würde  das 
Kapital  von  16  Millionen  ertragen 

1200000  Mk. 

wiivoii  Zinsen  wie  oben    ^'■oooo  Mk. 
Stt -jcr  .,       „       320 ouo 

l'i  lii  r->  hu/^  al>o  nur  4000CO 

von  denen  der  Eii^enluiner  nocli  65000  Mk.  Pcr-^nnalstcuern  zu 
zahlen  hat,  so  dals  er  selh-t  nur  335003  Mk.  Inhalt  und  385COoMk. 
also  53,5  Proz.  Steuer  entrichtet.  St  in  K.ipital  verzinst  sich  aK 
dann  mit  4  Proz.,  er  thut  also  sicher  bes>er,  das  (icschafl  autzu- 
^'eben.  Träj::jt  das  werbende  Kapital  von  i()  .Nhllionen  aber  nur 
6  Proz.  (wie  am  Bei.^j'iel  (lersmi  /u  ersehen,  ist  dies  nicht  abnorm 
niedrii^l  und  l)esitzt  er  \oii  dem  Kapital  nur  5  Millionen  selbst,  so 
zahlt  er  von  einem  Lrtraj^nis  von 

960000  Mk. 

an  Xini«en  660000  Mk. 

an  Steuern  320000  ,. 

980000  Mk. 

also  mehr  als  er  einnimmt  Abgesehen  davon,  da(s  er  auf  sein 
Kapital  von  5  Millionen  keine  Zinsen  bezieht.  Er  mufs  aber  von 
dem  Einkommen,  das  er  nicht  hat,  noch  aufeerdem  etwa  24  oc»  Mk. 
Einkommensteuer  zahlen  — ,  da  die  Warenhaussteucr  nicht  abzugs- 
fähig ist!  Dals  die  Warenhaussteuer  den  Namen  einer  Erdrosselungs- 
steuer verdient,  ist  danach  nicht  zweifelhaft. 

Einer  Umgehung  des  Gesetzes  durch  2:erlegung  des  Betriebes 
in  mehrere  Betriebe  hat  ein  vom  Abgeordnetenhaus  ein;^erü>4tcr  §  7 
vorzubeugen  gesucht  Beim  Konsumverein  und  Versandtgeschäft, 
bei  welchen  es  nicht  so  sehr  auf  die  Gescjiäftsräume  ankommt,  kann 
man  der  Steuer  leicht  ausweichen.  Die  Konsumvereine  namentlich 
werden  sich  nach  Gruppen  leicht  spezialisieren  lassen.  Da  die 
Verwaltung  getrennt  wäre,  sich  bald  auch  eine  Differenzierung  der 
Mitglieder  ergeben  würde,  könnte  das  als  eine  Um-^ehunj^  nicht  auf- 
gefafst  werden.  Im  Gegenteil,  der  Zweck  des  Ciesctzes  wäie  er- 
reicht, statt  eines  Vereins  ^abc  es  vier  „Spezial^e.sch<äftc"  —  wobei 
allerdings  sehr  zweifelhaft  bleibt,  ob  dem  Mittelstand  iu  Handel  und 
Gewerlic  damit  sehr  gedient  wäre. 

Anders  beim  eigentlichen  Warenhau.s.  —  iJiescs  ist  in  schlechterer 
I^nge,  als  der  Konsumverein,  der  auf  den  Eifer  seiner  Mitglieder 
rechnen  kann  und  zu  dessen  Gunsten  der  Konsument  selbst  eine 


uiyiiizeo  Dy  Google 


Das  prcufsiüche  GesrU  betreffend  die  Warenbaussteuer. 


Unbc<|ucinlichkcit  in  den  Kauf  nimmt.  Das  W  arenhaus  muls  ilahcr 
möglichst  suchen,  den  V'orteil  der  räumlichen  Zusammenbringung 
aller  im  Hat^alt  gebrauchten  Waren  auszunutzen.  Das  Warenhaus 
Werthetm  hat  erklart,  sich  in  Zukunft  auf  die  Branche  in  6  b  -des 
Gesetzes  beschränken  zu  wollen.  Andererseits  werden  nicht  alle 
Warenhausbesitzer  so  denken,  und  jedenfalls  ist  der  ökonomische 
Vorteil  der  Bequemlichkeit,  den  die  räumliche  Vereinigung  der  ver- 
schiedenen Warengattungen  bietet,  so  grofs,  dafs  er  bei  einigen  Ge- 
schäften fortbestehen  wkd.  Dies  kann  in  der  Form  geschehen,  dafs 
entweder  eine  Gesellschaft  oder  ein  Besitzer  nur  den  Bau  stellt  und 
unterhält  und  Teile  davon  an  eine  genügende  Anzahl  Spezialgeschäfte 
vermietet  —  vielleicht  ist  das  überhaupt  die  Zukunft  der  Bazare  — 
oder  dais  ein  Kaufmann  eine  Gruppe  von  Waren  (in  Frage  kommt 
hauptsächlich  die  Gruppe  b)  in  seinen  Geschäftsräumen  feil  hält, 
von  denen  er  Teile  g^en  feste  Miete  an  Spezialgeschäfte  ab- 
giebt.  Günsti^'sten  oder  ungünsti;^^f;ten  Falls  wird  ein  Warenhaus, 
das  sich  infolge  des  Gesetzes  auf  eine  Warengnippe  beschränkt, 
sich  auf  diese  mit  um  so  gröfscrer  Kraft  legen  und  dadurch  den 
Mittcl>tand  um  so  sicherer  schädigen.  Wieweit  eine  Abwälzung 
auf  habrikanten  uiul  TubUkum  moirlich  ist,  ist  wohl  eine  Fra«^c  des 
Kinzelfalls.  (ian/,  oluie  Mühe  kaim  sich  eins  Versan(lti:,'^csrhäft  der 
Steuer  entziehen,  welches  für  die  (icschiifte  in  den  nüttleren  und 
kleinen  Städten  min(ie>tens  ebenso  \ erhanL^nisvoU  ist,  wie  das 
Warenhaus  für  die  (ie.schäfle  in  den  ^rolsen  Städteti.  Das  V'er- 
samhL;LSchäft  braucht  z,  B.  nur  über  die  preufsische  1  .aiides-^rrcnze 
zu  ^elien.  Auch  hat  der  erwähnte  J;  7  nur  den  I-.ill  im  Auj^e, 
dals  ein  Betrieb  brluits  X'erdeckunf^  des  W'areiiliau^ln  t;  u  bes  zer- 
Icj^t  wird.  Wird  von  vornherein  ein  solches  I  Luis  in  der  \\'ei>e 
be-^ründet,  dafs  fürmcU  soviel  Rechtssubjekie  wie  (jruj»i»en  vor- 
handen sind,  so  ist  es  mit  der  Warenhaussteucr  nichts,  wie  aus  der 
Diskussion  zu  §  7,  insbesondere  der  Erklärung  des  Generaldirektors 
der  direkten  Steuern  Burghart  (19.  Mai),  hervorgeht.  Nachdem 
fernerhin  die  Besteuerung  der  Filialgcschäfte,  die  auch  nur  eine 
Warengrupi)e  fuhren,  abgelehnt  ist,  darf  man  sagen,  dafe  das  Gesetz 
irgend  wie  wesentliche  Folgen  nicht  haben  wird.  Jedem  Kaufmann 
schadet  nur  die  Konkurrenz,  die  in  seiner  Branche  gemacht  wird, 
nicht  die  in  anderen  Geschäftszweigen.  Es  ist  deshalb  z.  B.  für  die 
Zigarrenhändler  die  Firma  Loeser  &  WolfT  oder  Boenike  &  Eichner  ein 
unangenehmerer  Konkurrent  als  ein  Zigarren  verkaufendes  Warenhaus. 
Nicht  auf  das  multa  sondern  das  multum,  nicht  ob  ein  Konkurrent 


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Heinrich  Cohn, 

viele  Branchen  fuhrt,  sondern  ob  er  in  seiner  Branche  viel  verkauft, 
darauf  kommt  es  dem  Kleinhändler  an.  Vom  Standpunkte  der 
Mittelstandspolitik  ist  daher  das  einzig  Vernünftige  die  progressive 
Umsatzsteuer,  L(leicli.4Ühi<,%  ob  der  Betrieb  in  einer  oder  mehreren 
Gru|>i)cii  ;^aliihrt  wird.  Eine  solche  Steuer  W.irc  ebenso  verfehlt, 
wie  die  VVarcnhaussteuer,  aber  hätte  vor  dieser  den  Vorzug  ehrlich 
und  wirksam  zu  sein. 

Eine  unliebsame  Folp^e  des  Gesetzes  wird  dann  bestehen,  dals 
eine  Anzahl  von  Spt  /inl.M  srhäflcn  ;:;etroffen  wird.  So  ist  darauf 
hingewiesen  worden,  dals  tlie  Firmen  Hmma  Bette ,  Bud  6c  Lach* 
mann,  \  on  denen  jene  Kinderspielzeug  führte,  diese  Kinderkleidvmgetc, 
ihre  (leschäftc  vcrcInifTt  hatten,  um  die  Konkurrenz  der  Waren- 
häuser besser  zu  bestehen.  Jetzt  wird  ihr  (ie^chäft,  welches  wirk- 
lich ein  Spezialgeschäft  ist,  von  der  U'arcnhaussteuer  {getroffen. 
.Aehnlirh  krtnn  es  cle<::anten  Mode^eschäften  Miellen.  Dcrarticrc 
tieschäfte  führen  häutiL;  auch  französische  Schokolade,  ReitL^ertcn, 
Tennisutensilien,  —  sie  führen  als<»  nach  dem  (iesetz  scj.c  drei 
\\'arcngrupj)cn  i6  a,  b,  d'.  Oa^^  ;:(leiche  f^^ilt,  wie  im  Herienhans 
Herr  w  Lucius  au>luhrtc,  von  den  l-.rfurtcr  (lärtnereien,  dir- ('cit!]l"n- 
artikeL  \'asen  und  der<j^leichen  zu  führen  pflepfen ,  v  on  Spe/ial- 
ge-.(-häften  für  etvTlivolie  Luxuswaren,  die  t^'cwohnheil^i^emäis  Zi- 
garetten und  I\.auchulen^ilien  etc.  verkaulen.'  l  Derartii^e  dcschäfte 
werden  eines  Tages  aus  der  Stcnor,  die  man  von  ihnen  erfordern 
wird,  erfahren,  dafs  sie  Warenhäuser  sind.  Lnd  mc  werden  dafür 
um  SU  weniger  X'erständnis  haben,  wenn  sie  hören,  dafs  die  grofscti 
Bazare  keine  Warenhäuser  sondern  Spezialgeschäfte  sind. 

Sell)st  weiui  es  al)er  den  Benuiiiinigen  dc>  Minister>  gelänge, 
die  Weltgeschichte  auf/uhaUen  und  den  ( Trofsbetrieb  tot  zu  machen, 
hätte  er  den  Mittelstand  noch  innner  nicht  gerettet.  Ks  wäre 
immer  noch  die  Konkurrenz  der  Kleinen,  der  Zwergbetriebe,  zu 
beseitigen,  welche  dem  Mittelstand  ebenso  verderblich  sind,  wie 
die  Grofscn.  Ks  müfste  eine  Erdrosselung>steuer  auch  auf  alle 
neuen  Betriebe  gelegt  oder  die  vier  Gruppen  des  §  6  möfeten  zu 
Zünften  erklärt  werden,  mit  dem  Recht,  die  Errichtung  neuer  Be- 
triebe wegen  mangelnden  Bedürfnisses  zu  untersagen.  In  dieser 
Beziehung  war  das  Zunftwesen  des  Mittelalters,  welches  die  Er- 

—     « 

')  Es  macht  diesen  Geschäften  natürlich  nichts  aus,  diese  Artikel  aufzugeben, 
aber  einige  wonlni  .mi'  dir  Stt m  r  ln-n  ini.iilt  n.  weil  «-ir  ;:.ir  nirlit  auf  den  Gedanken 
kommen  werden,  duf«  »ie  Warenhäuser  im  i>inne  des  Gesetze»  sind. 


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Das  jirculsiM-hc  («mIz  hctrtlKiiU  «Jic  Warcnbaussicucr. 


553 


richtung  neuer  Betriebe  hinderte,  durchaus  folgerichtig  und  not- 
wendig, um  einen  gesunden  Mittelstand  zu  erzielen. 

Ist  so  ein  erheblicher  wirtschaftlicher  Nutzen  von  dem  Gesetz 
nicht  zu  erwarten,  so  hat  das  Gesetz  zweifellos  eine  unliebsame 
politische  Folge.  Es  greift,  wie  niemand  bestreitet  in  die  Autonomie 
der  Kommunen  ein.  Bestritten  ist,  ob  das  Gesetz  g^en  die  Ge- 
werbeordnung verstöfst.  Dies  ist  keine  blofse  Doktorfrage.  Da 
Reichsrecht  vor  Landrecht  geht,  wäre  in  diesem  Fall  das  Gesetz 
ungültig.  —  §  I  der  Gewerbeordnung  lautet: 

„Der  Iktrieb  eines  Gewerbes  ist  jedermann  gestattet,  soweit 
nicht  durch  dieses  Geseti  Ausnahmen  oder  Beschränkungen  vor- 
geschrieben  oder  zugelassen  sind." 

Es  ist  von  Seiten  der  Regierung  hchaujtt'  t  ^^  ordcn,  dafs  eine 
Steuer  keine  Beschränkung  sei.  Eine  Suiur  sciilcchthin  vielleicht 
nicht,  eine  Steuer,  deren  einziger  Zwe(  k  i  Iah  in  gehl,  die  Errichtung 
einer  Art  von  (  icsrhäftcn  -/u  hindern  und  die  errichteten  zu  schwächen 
ist  eine  lieschränkuiig.  Macht  man  sich  zahlenmäßig  die  Wirkung 
des  Gesetzes  klar,  der  Text  des  Gesetzt'-;  'äfst  die  Sache  /u  vo-ig 
erscheinen,  da*"  man  immer  nur  an  eine  Steuer  \on  '  fie>  Keiii- 
gcwiims  denkt  - — ,  ul)etlegt  man  sich,  dals  die  Erdrosselung  gerade 
das  Ziel  der  Steuer  ist.  so  niufs  man  doch  wohl  zu  der  l  el)er- 
zeugung  gelangen,  dals  diese  Warenhausstcuer  gegen  die  Gewerbe- 
ordnung verstölst. 


Die  Landwirtschaft  im  Deutschen  Reich. 

Nach  der  landwirtschaftticbcn  Betriebstäbliiiig  im  D«iAscheii  Reich  vom  14.  Juni  1895. 

Von 

Prof.  Dr.  H.  RAUCHBERG 

in  Prag. 

Ebenso  wie  die  Bcrufszähliing  von  1SS2  ist  auch  jene  von  lJ>95 
da/u  henut/.t  wonlcn ,  um  eine  Stati'^tik  <\cr  landwirtschaftlichen 
Betriebe  .uifzu^tclk  n.  Welche  dt  ^cn^tämlc  dic^t-  l'-ihcbun-^  unifalsl, 
und  wie  >ie  technisch  einj^crichtct  war,  habe  ich  scliun  früher  aus- 
einandrr^fc^ctzt,')  Ich  kann  daher  oiinc  weiteres  daran,  gehen,  ihre 
materiellen  hrgebnisse  vorzuführen. 

I.  Zahl  und  Fläche  der  landwirtschaftlichen  Betriebe. 

Zunächst  handelt  es  sich  dabei  um  die  Zahl  und  Fläche 
der  landwirtschaftlichen  lietricbe.  Es  wurden  im  Deutsclien  Reich 
ermittelt 

1895  iSSa 

Landwirtschaftsbetriebe^)   55583>7  5^76344 

mit  einer  rein  tandwirtschaftlich*)  benutzten 

Fläche  von  ha  3S5I7941  31868972 

und  mit  einer  Gesamtfläche  ^'on  ha  4328474a  4017868« 

Durchschnittlich  entfallen  auf  einen  Betrieb 

1895  1S83 

an  landwirtschaftlich  benutzter  Fläche   .     5,9  ha  6^  ha 

an  Gesamtfläche  7i8  „  7.6 


II 


>)  Siebe  den  XIV.  Band  dieses  Archivs  S.  247  ff. 

*)  Ohne  die  reinen  Forstbetriebe,  welche  erst  1895  *b  Betriebsstatistik  ein- 
bezogen worden  sind. 

")  Auch  Garten*  und  Weinbau. 


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Die  Landw  irLM  hall  mi  Dculsciicn  Reich. 


555 


Seit  1882  haben  sowohl  die  Betriebe  als  auch  ihre  Flachen 
erheblich  zugenommen,  die  Betriebe  um  281973  ha  oder  5,34  Proz., 
die  landwirtschaftlich  benutzten  Flächen  um  648969  ha  oder  2,03  Proz., 
die  Gesamtflächen  um  3 106 061  ha  oder  7,73  Proz. 

Die  Verschiebungen  erklären  sich  zum  Teil  aus  Aenderuogen 
in  der  Art  und  Weise  der  Erhebung,  wodurch  nach  mancher  Richtung 
hin  groisere  Vollständigkeit  erzielt  worden  ist.  Von  besonderem 
Belant/  ist  flabci,  dafs  1895  ticbcn  den  landwirtschaftlicbcn  Betrieben, 
auch  die  reinen  Forstbetriebe  erfragt  worden  sind.  Bei  dieser 
Gelegenheit  mag  eine  Anzahl  von  Forstbetrieben  entdeckt  worden 
sein,  welche  auch  andere  Kulturen  in  sich  schliefsen.  Derartige  Be- 
triebe zählen  nunmehr  mit  ihrer  gesamten  l-läche  zu  den  landwirt- 
schaftlichen Betrieben.  In  der  That  finden  wir  die  forstwirtschaft- 
lich benutzte  Fläche  der  Landwirtschaftsbetriebe  1S82  mit  495  i  c>7;  ha, 
1895  aber  mit  7  5S2276  ha  angrgel)cri.  Ob  diese  riesige  DiMcrenz 
hiermit  hall)W(v.;s  erklärt  ist,  muls  ich  freilich  dahin  gestellt  lassen. 
Für  1895  kommen  hier/u  noch  22041  reine  Im )rstl)etriei)e  mit  einer 
Fläche  von  6  ^43  00<7  ha, '  1  die  in  den  bisher  mitgeteilten  Zahlen 
nicht  cnthalleu  sind  uiul  später  ahgoondert  erörtert  werden  sollen.*) 
l  iiner  war  mit  der  Zahlung  \()n  1S95  eine  Erhebung  über  die 
Allmenden  veilHuuien.  Ohne  dais  die  .Misicht  ursprünglich  darauf 
gerichtet  gewesen  wäre,  hat  diese  SpeziaK  1  hi  bung  eine  .Anzahl  von 
Betrieben  entdecken  geholfen,  die  der  F.rhebung  von  1882  gänzlich 
entgangen  waren.  Sie  bestehen  in  jener  landwirtschaftlichen  Aus- 
nutzung von  Gemeindeland,  die  nicht  von  irgend  einer  Hauswirt- 
schaft, sondern  unmittelbar  von  den  Gemeinden  als  solchen  aus- 
geht, wie  z.  B.  Heugewinnung  auf  Gemeindeland  im  Eigenbetrieb 
der  Gemeinde.  Insbesondere  fiir  die  Verschiebungen  in  den  Gröfsen- 
klassen  der  Betriebe  dürfte  derartiges  Kammergut  der  Gemeinden 
hie  und  da  von  Einflufs  gewesen  sein.')  Endlich  sind  1895  jene  Be- 
triebe vollständiger  erfragt  worden,  die  weder  auf  Eigentum  noch 
auf  Pacht,  sondern  auf  dem  kontraktlichen  Arbeitsverhältnis  oder 
auf  der  Mitgliedschaft  an  einer  Realgemeinde  beruhen.  Alle  diese 
Momente  wirken  zusammen,  um  sowohl  die  Zahl  der  Betriel^  als 
auch  ihr  Gebiet  1895  erheblich  gröfser  erscheinen  zu  lassen  wie  1882. 

*)  Die  Erbel>ang  erstreckt  sieb  somit  im  ganzen  auf  eine  FlScbe  voa  49627  751  ba, 
wekbe  gegeoOber  der  Gesamtflicbe  des  Deutschen  Rcicbs  —  54065  760  bn  —  nicbt 
nnerbeblicb  sorllckbleibt. 

'1  Siehe  unten  S.  587  f. 

*)  VgL  weiter  oben      5S3  f. 


556 


II.  Kaucli  l>or)', 


Abgesehen  von  diesen  formalen  Momenten  hat  wohl  auch  die 
thatsächliche  Entwicklung^  die  Zahl  der  landwirtschaftlichen  Betriebe 
vermehrt :  Parzcllirungen,  Erbteitungen,  Abtrennung  von  neuen  Pacht- 
gütern, Errichtung  von  RentengUtem  in  den  östlichen  Pronnzen 
Preufscns.  Inwieweit  diese  matcrielk-n  X'eranlassungen  neben  jenen 
formalen  an  der  Zunahme  der  Betriebe  l>ctoiligt  sind,  läfst  sich 
allerdings  nicht  näher  feststellen.  Alles  in  allem  genommen,  be- 
stellt wohl  eine  Tcmlenz  zur  Vcrnit  liriinc^ ,  nicht  auch  zur  Ver- 
kleinerung der  landwirtschaftlichen  Betriebe.  Denn  die  (icsamt- 
flache  eines  Betriebs  ist  seit  1S82  von  durcliM-hnittlich  7,6  auf 
7,8  ha  j^esticLjcn.  Der  Durchschnitt  der  landwirtschaftlich  benutzten 
l'lächc  ist  allerdings  um  ein  Geringes  —  von  6,0  auf  5,9  ha  — 
zurückgc;^  a  n  l^c  11 . 

Be\or  ich  darauf  eiii^a'he,  die  In  u  t  ^^uhl,'  nach  nach  (irölsen- 
kli'^sen  der  Betriel)C  zu  untersuchen,  Wiil  ich  nur  noch  kurz  darauf 
auhiierksain  tnachcn .  dals  die  Zahlen  uii-eiei  Statistik  Ictli^- 
lich  B  e  t  r  i  e  b  s  einheilen  ,  nicht  auch  B  e  s  i  t  /  eiuheiten  betreffen. 
Allcrdini^s  jiähcrn  >ich  die  Angabt  11  tler  lanihviitbchatllichen  Be- 
triebsstatistik insofern  einer  ( irundbesitzstatislik  als  86,11  Proz.  der 
»gesamten  Wirtschaftstläche  im  liij^entum  der  Betriebsinhaber  stehen. 
Indessen  greift  die  Benutzung  von  fremdem  Land  doch  tief  und  in 
weitem  Umfange  in  die  Bctriebsvcrhältnissc  ein  —  nur  40,68  Proz. 
aller  Betriebe  beschranken  sich  ausschliefslich  auf  eigenes  Land  — , 
so  dafs  aus  den  Veränderungen  der  Zahlen  über  die  Betriebe 
keineswegs  auf  die  Entwicklungstendenz  des  Grundeigentums 
zurückgeschlossen  werden  kann.  Ich  werde  vielmehr  späterhin 
zeigen,  da(s  die  Besitzverhältnisse  sich  eher  nach  der  entgegenge- 
setzten Richtung  hin  verschieben  wie  die  Betriebsverhältnisse:  hier 
überwiegend  Zerlegung,  dort  Konzentration.') 

Genauerer  Einblick  kann  indessen  nur,  wie  bereits  bemerkt, 
durch  die  Untersuchung  nach  Gröfsenklassen  der  landwirt- 
schaftlichen Betriebe  gewonnen  werden.  Zu  diesem  Zwecke 
emp5eh]t  es  sich,  die  Betriebe  nicht  nach  der  Gesamtfläche,  son- 
dern nach  der  landwirtschaftlichen  Mäche,-)  wovon  ja  der 
Erfolg  und  der  Charakter  der  Betrielie  abhän^n,  in  Gruppen  einzu- 
teilen. Die  Gliederung  geht  1895  v  iti  1  wie  1 882,  indem  nunmehr 
die  Betriebe  unter  i  ha,  sowie  die  iktriebe  mit  2—5  ha  landwirt- 

'  iHi-  Au-fülirunj,-<  II  auf  S.  580  u.  5S1. 

-)  Gartea,  Weinberg,  Acker,  Wiese,  bessere  Weide  etc. 


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Die  Landwiruchaft  im  Deutschen  Reich. 


557 


schaftlicher  Fläche  nach  feineren  Abstufungen  unterschieden  werden. 
Darnacli  gelangt  man  zu  folgender  Au&tellung: 

L;uuiwirlbchalllich 
Anxahl  der  beouttte  FUlche  GeaamtfliEcbe 

Gröfsenklassen  Betriebe  Hektare 


18S2 

1S05 

18S3 

1895 

1882 

Ab  sol  Ute  Zahlen 

unter  2 

Ar 

76  SS6 

of)  143 

760 

658 

3  14>^ 

1  <t6o 

2 

Ar 

5 

»1 

212331 

195  2ijS 

6  629 

5994 

10  526 

5 

1» 

»» 

ao 

n 

656 193 

82797 

72860 

140  027 

93504 

ao 

II 

»♦ 

1 

ha 

I  491  363 

1405683 

730446 

698446 

96515a 

817316 

1 

ha 

II 

3 

II 

707335 

997803 

1 047  980 

1375786 

I  336  153 

3 

II 

5 

»♦ 

I016318 

981407 

3385984 

3190303 

4143071 

3832903 

5 

t« 

II 

10 

II 

605814 

554 174 

4333656 

3906947 

5  355  "3« 

4780980 

lO 

n 

M 

20 

392  9Q0 

5  4SS  2  !  0 

5  2^US' 

7 182  522 

6711037 

30 

11 

II 

50 

II 

239 

239  SS7 

7  «13231 

7 176  129 

9  45»)  240 

90S0545 

50 

»» 

1' 

100 

II 

42  124 

41  623 

2  756  (>o6 

2  732041 

3697901 

33349«^ 

100 

>i 

11 

200 

II 

II  250 

•  1  «33 

'  545245 

1  521  191 

2  349  2S4 

I  927  09<) 

soo 

•1 

II 

500 

»I 

9031 

9S14 

3079014 

3  '59900 

43118X0 

4  126325 

500. 

II 

II 

1000 

II 

3639 

3405427 

3397071 

3  301 1 18 

3300643 

1000 

>i 

und  darüber 

573 



802  115 

708  101 

1  159674 

I  024884 

zusamtnen 

• 

55S»3«7 

5376344" 

3*5»794« 

31868972 

43384743 

40178681 

Auf 

die 

einzeln 

en  Gröfse 

nklassen 

treffen  Prozente 

unter  a  Ar 

0,00 

0,00 

0,01 

0,00 

a 

Ar  bis 

S 

»1 

3,83 

3,70 

0,03 

0,03 

0,06 

0,03 

5 

ti 

tt 

30 

II 

13.47 

12,44 

0.26 

0.23 

0.33 

0.23 

20 

II 

I 

ha 

26,83 

26.64 

2.21 

2,19 

2.23 

2,03 

I 

ha 

»1 

3 

1 1 

12-73 

14,00 

:^.o7 

329 

2.95 

3.08 

2 

II 

II 

5 

II 

iä.28 

18,60 

iO,I  I 

9.57 

9.54 

5 

II 

II 

10 

II 

10,90 

10,50 

13,03 

13,36 

12.37 

11,90 

10 

II 

»f 

so 

ti 

7,07 

7i06 

16,88 

1648 

»6,59 

16,70 

ao 

II 

II 

50 

II 

4f3» 

4.55 

ai,87 

33,53 

31,86 

33,60 

50 

II 

M 

100 

II 

0,76 

0,79 

8,48 

«,57 

8.54 

8,30 

100 

>i 

n 

SOG 

II 

0,20 

0,21 

4i75 

4J7 

4.43 

4.80 

200 

•f 

♦« 

II 

0,17 

o,iS 

9,47 

9.92 

9,75 

10.27 

500 

J  Dl  Kl 

M 

0.07 

0.07 

7.40 

7v^2 

7.<''3 

7.97 

1000 

(Liriibi 

r 

O.ül 

0,01 

2. 40 

2  ZZ 

2,68 

2.  >  > 

im  j 

L;atucu 

100 

lüO 

100 

lUO 

100 

100 

In  formeller  Hinsicht  ermöglicht  diese  Tabelle  zunächst  ein 
Urteil  darüber,  inwiefern  das  Ei^ebnis  der  Erhebung  dadurch  bectn* 
flufst  wird,  dals  man  es  vermieden  hat,  den  Begriff  des  Betriebs 
nach  unten  hin  zu  begrenzen.   In  England  und  in  den  Vereinigten 


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558 


II.  Rau  c  h  ii (•  r R, 


Staaten  z.  B.  lälVit  mnn  nur  Betriebe,  die  ein  {gewisses  Minimal« 
ausmafs  überschreiten,  als  solche  gelten.  Atierdings  läfst  sich  eine 
solche  Untergrenze  in  sachlich  zutreffender  Weise  kaum  ziehen. 
Selbst  Zwergwirtschaften  unter  20  Ar  mögen  noch  immer  Hir  die 
Lebenshaltung  ihrer  Besitzer  von  Wichtigkeit  sein  und  können 
demnach  nicht  unbeachtet  bleiben,  wenn  man  die  Bedeutung  des 
Landwirtschaftsbetriebs  för  die  gesamte  Volkswirtschaft  richtig  be- 
urteilen will.  Auf  solche  Betriebe  kleinsten  L'infangs  entlallt  nur 
*  4  Proz.  der  landwirtschaftli»  Iion  und  nicht  viel  mehr  als  Vg  Proz.  der 
Gcsanittlrh'ho ;  aber  sie  niarlicii  18,67  I*''«'/.  —  1882  ii'ir  I7,"<>  Vmz.  — 
aller  laiiclwirtseliaftlichen  Betriebe  aus,  sind  also  immerhin  von  Belang 
für  die  ülicderuiij:,' der  i.;'  -  imtcii  Landwirisriiai't  nach  GrÖfsenstufen. 
Allerdings  häiv^un  die  trgcbnis.>e  hinsichtlich  jener  Zwergbetriebe 
in  so  hohem  Mal>o  von  der  Krhchun-^sweise  und  von  mancherlei 
Zufallii^kciten  l>ri  der  Aufnahme  ab,  tlal-^  sie  nur  mit  der  äulsersten 
X'orsicht  zu  '^'ebrauchen  sind.  Wenn  fite  Hetrichr  unter  20  Ar  seit 
1SS3  um  120236  oder  13.1  Vro/...  die  lietriel>e  nut  20  Ar  bis  i  ha 
noch  inuner  um  8;,3So  oder  6.1  Pro/.  zuL^cnoiumen  haben,  ^o  ist 
das  zweifelst »hne  ^inz  übcrwie-fend  au';  der  «'enaueren  HeantworUuiij 
der  hra^'cn,  in>bc>ondere  hinsichtlieh  <!<•:■  *  iartnereibelriei)e  zu  er- 
klären. Ich  halle  es  aUo  nicht  für  zutreffend,  daraus  auf  eine 
I  cndenz  zu  extremer  H< »dcnzcrspliit  .rutiL:  zurvickzuschliefsen.  (  ileich 
die  nächste  Stufe  —  voti  1—2  ha  ^  weist  wieder  eine  Abnahme 
auf.  Für  den  Ver^deich  mit  der  Erhebung  von  1882,  sowie  für 
die  Untersuchung  der  ^een^raijhischen  Verbreitung  der  Landwirt- 
Schaftsbetriebe  bleiben  jene.  Betriebe  kleinsten  Umfangs  vielleicht 
besser  aufser  Anschlag,  denn  die  Schwankungen  der  Zahlen  von 
Jahr  zu  Jahr  und  von  Ort  zu  Ort  sind  gewifs  in  hohem  Mafse  be- 
dingt durch  die  Ungleichmäfsigkeit  der  Erhebung. 

Zum  Zwecke  eines  orientierenden  Ueberblicks  über  die  Ent- 
wicklung seit  der  Betriebszählung  von  1882  und  über  die 
geographische  Gestaltung  der  landwirtschaftlichen  Betriebsverhält- 
nisse empfiehlt  es  sich,  die  oben  unterschiedenen  Grofsenklassen  zu 
gewissen,  in  sozialer  Hinsicht  charakteristischen  Gruppen  zusammen- 
zuziehen. Freilich  'kann  das,  wie  ich  früher  schon  bei  anderer 
Gelegenheit  ausL^cfiihrt  habe,';  nicht  ohne  einige  Willkür  ^^eschehen. 
Je  nach  der  Güte  des  Bodens,  der  (iunst  der  Lai^e  und  der  Intensität 
der  Bewirtschaftung  ist  die  Bedeutung  der  Winschaftsflächen  in 


*)  Vgl.  di«  be£ügl.  ErörteruDK«n  im  XIV.  Bande  dieses  Archivs  S.  631  ff. 


Die  Landwirtschaft  im  iJcutsclicn  Reich. 


559 


den  einzelnen  Gebieten  des  Deutschen  Reichs  eine  selir  verschiedene. 
Es  ist  daher  unmöglich»  an  der  Hand  der  Betriebsflächen  allein 
durchwegs  zutreffende  Scheidelinien  zu  ziehen.  Von  vorneherein 
hat  man  damit  zu  rechnen,  dafs  sie  die  sozialen  Schichten  und  die 
Wirtschaftsstufen,  die  man  damit  umschreiben  will»  nur  ganz  bei* 
laufig  und  nicht  überall  in  gleicher  Weise  zu  kennzeichnen  geeignet 
sind.  Mit  diesen  Vorbehalten  können  wir  uns  der  im  2^hlungs- 
werke*)  getroffenen  Gruppierung  anschliefsen,  wonach  die  Betriebe 
mit  einer  landwirtschaftlich  benutzten  Flache  von 

w 

unter   2  b«  als  Parz<rlleiibrtri«be 

2  bis   5  „     „  kleme'} 

5    ,,  20         ,,  mittloro 

20    ,.  ICO    ,.  f^roNcre 

100    .,  u.  darüber  „  Cirolsbetriebc 


Ltauemwirtscbaften 


bezeichnet  worden. 

Danach  gelangt  man  zu  folgender  Aufstellung: 


Landwirt^ 

chaftlich 

(_i  r  ö  I  s  0  n  - 

Anzahl  der 

benutzte 

Kliirhe 

k  1  a  s  s  e  u 

llctriebe 

ha 

ha 

ha 

ha 

189s 

i88a 

1895 

1882 

»895 

1882 

unter  aha  3236367 

3061 831 

1 808444 

182S93S 

2415914 

a<5935« 

2ba  bis  s 

IOI631S 

981407 

3285984 

3190203 

414207t 

3832902 

5  t»    M  2o  „ 

91  )S  So  \ 

926  605 

9  7-2  1  S75 

12537660 

11492017 

20  „    „  ICO  „ 

2S1 767 

2S1 5 10 

9  008  1 70 

13 157  201 

12415463 

100  „  u.  darüber 

25  061 

24091 

7S31801 

7786263  * 

I  lOJI 896 

10278941 

A  u  (■  d  i  0 

einzelnen  Gröfsenklassen  treffen  Prozente 

untir  2  !»a 

.  5.73 

5.58 

5.37 

2  ha  bis    5  „ 

ib,;i> 

1 8.''>o 

10. 1 1 

10.01 

9,57 

9.54 

5  n    "     20  ,, 

«7,97 

i7öt> 

20. yo 

iS.74 

28.96 

2S.60 

20  „     „   ICO  „ 

5.07 

5>34 

30,35 

31,09 

30,40 

30  00 

100  „  und  darüber 

0.45 

0,47 

24,08 

24.43 

«5,49 

-5.59 

Der  Zahl  nach  überwiegen  die  Par/ellcnbetriebe  ganz  ent- 
schieden.   Wesentlich  anders  gestaltet  sich  schon  das  Bild,  wenn 


'1  Unter  dem  /ahluny>\vt  ik«-  wird  in  da.sk  m  Ab.-,i  hnitt«-  immer  der  112.  Band 
der  Suti^tik  des  Deutschen  Reichs  N.  V.  verstanden:  Die  Landwirb-clialt  im  Deutschen 
Reich  nach  der  landwirtschaftlichen  Betriebszählung  vom  14.  Juni  1895.  \'gl.  da> 
selbst  S.  10  * 

*)  Dafs  höchstens  die  Hälfte  der  Inhaber  der  Betriebe  mit  2—5  ha  landwirt« 
sdiaftlicher  Fläche  zum  Mittelstand,  die  andere  Hälfte  aber  zur  unbemittelten  Klasse 
in  sählcn  sei,  habe  ich  schon  früher  ansgeftthrt  Vgl.  den  XIV.  Bd.  S.  623. 


H.  Raucbberg, 


man  die  1 037 870  Zwergwirtschaften  ausscheidet,  deren  laodwirt* 
schaftliche  Fläche  nicht  einmal  20  Ar  erreicht,  und  welche  kaum 
noch  als  Landwirtscliaft.sbctriehc  im  \  olk>\virtschaftlichen  Sinne  gelten 
können.  Denn  ihr  Ertrag  langt  bei  weitem  nicht  /ur  Ernährung 
der  Inhaber  aus,  die,  wie  später  ziAermälsi^'  beie;:(t  werden 
Süll,')  auf  andei-\vciti«:;en  Erwerb  angewiesen  bleiben,  l^lst  man 
also  <lic  Zwergbetriebe  unter  20  Ar  beiseite,  so  ermälsi^  sich  die 
Zahl  eigentliehcn    i'arzclienbetriebe    auf  2198497    und  ihr 

Prozentaiiteil  auf  39,56.    Die  ( irof'^iHnriebe  mit   mehr  als    103  ha 
machen  kaum  '  .  Prozent  au-;.    \)vr  l\e>i  eiitfalli  .luf  die  liäuerlichen 
tschaften,  unter  welchen  hinwiederum  die  kleinbäuerlichen  am 
stärksten  hervortreten. 

(ianz  ander>  ist  der  Anteil  der  oben  uiiterscliiedenen  Cirölsen- 
Wassen  an  der  landwirtschaftlichen  IJetriel >>tläciie.  Kaum  mehr  als 
5  Proz.  davon  ctufallen  auf  Parzellcnbetriebc ,  rund  ein  X'icrtel  ge- 
hört dem  (irol-^betricb  an,  und  mehr  als  70  Proz.  werden  in  über- 
wic^i^end  bäuerlielien  iK'trieben  bestellt.  Die  X'crteilun;^  der  (ic- 
samtflache  ist  so  ziemlich  dieselbe,  wie  jene  der  landwirtschalllich 
benutzten,  nur  dals  der  Anteil  der  gröfscren  Betriebe  an  der  (ic- 
samtfläche  vergleichswci.se  höher  steht,  ein  Anzeichen  daiiir,  dafs  die 
kleineren  Betriebe  ihr  Gebiet  intensiver  ausnutzen  wie  die  grolsen. 

Welche  Veränderungen  sind  in  der  Besetzung  der  einzelnen 
Gröfsenklassen  während  der  1 3  Jahre  zwischen  den  beiden  Betriebs* 
Zählungen  eingetreten?  Und  dürfen  wir  hoffen,  hierdurch  gewisse 
Einblicke  in  die  Entwicklungstendenzen  der  deutschen  Landwirt- 
Schaft  überhaupt  zu  erlangen? 


Es  haben  zugenommen,  bezw.  abgenommen  ( — ) 

die  Betriebe    di^landwirtschaft*     die  Gesamt- 
liche FUche  fUcbe 


Gröfsenklassen 

Zahl 

Proa. 

ha 

ha 

ha 

ha 

unter   2  Ija 

174  536 

?.7 

—  17494 

—  o,u 

256  556 

11,8 

2  bis     5  „ 

34  911 

3.5 

9;  62 1 

2.CJ 

,>oo  1 6g 

So 

5  .1    20  „ 

72  19') 

7-7 

563477 

0,1 

I  045  043 

9.1 

20  „  100  „ 

257 

o,i 

—  3J>333 

—  0,3 

741  15^ 

5-9 

100  ha  n.  darüber 

70 

0,2 

45  558 

0,5 

752955 

7.3 

Die  Eingangs  dieses  Abschnitts  fest^^estellte  Zunahme  der  Be- 
trielte  erstreckt  sich  demnach  Über  alle  (in'ilsenklassen  und  hat 
durciiaus  die  Gesamtflächen  erweitert;  die  landwirtschaftlich  be* 


')  Vgl.  weiter  unten  b.  572. 


Die  i^aadwirl.scliatt  im  OtuUclKU  Kticli. 


nutzten  Flächen  haben  gleichfalls  in  allen  Gröfsenklassen  zugenommen 
mit  Ausnahme  der  Parzellenbetriebe  unter  2  ha  und  der  grö(seren 
fiauemwirtschaften  von  20 — xoo  ha.  Bei  weitem  am  meisten  haben 
an  Flache  die  kleineren  Bauernwirtschaften  von  5 — 20  ha  gewonnen. 

Was  besagen  diese  Zahlen  über  die  Entwicklungstendenzen  in 
der  deutschen  Landwirtschaft?  Ich  meine,  dais  Rückschlüsse  daraus 
mir  sehr  behutsam  gezogen  werden  dürfen.  Die  Veränderungen 
sind  zum  «^^uUm  Teil  formaler  Art  und  ganz  danach  angcthan,  den  * 
statistischen  Dilettanten  irre  zu  führen,  der  nicht  wcils,  wie  grofs  der 
Einfluis  der  formalen  Behandlungsweise  auf  die  Gestaltung  der  Er* 
gebnisse  ist 

Aus  zwei  Quollen  können  hier  Irrtümer  entspringen:  aus  der 
Unsicherheit  über  den  BegritT  des  Betriebs  und  dann  aus  der  Art 
und  W  eise  der  Klassifikation  nach  Grölsenstufen. 

Die  crstcrwrihntc  Fehlerquelle  ist  insbesondere  für  die  Zu- 
nahm«; ilcr  Par/.cUenbetriebe  \on  Belanj^.  Icli  hal)C  srlion  weiter 
oben  darauf  hingewiesen,  dals  die  WrmehruiiL;  in  diocr  Katt  i^orlc 
hauptsächlich  auf  Zwerj^wirtschaften  allerkleinstcn  Lmt.iii^^s  iiurück- 
zuiuhicn  ist.  Wenn  i"so5  ilie  Zahl  der  Zwerj,d)etriebe  unter  20  Ar 
um    1 20         oder  I'roz.  ji^rölser  ausgewiesen  wirtl  wie  1882, 

-SO  i-t  bei  der  l  ii>icherhrit,  die  darüber  besteht,  ob  so  geringe 
Fkichcu  überli.uiiJl  nucli  als  Betriebe  anzusjirechen  sind,  anzu- 
nehmen, dals  die  Zunahme  hauptsächlich  aus  einer  geänderten  Auf- 
fassung und  genaueren  Beantwortung  der  Fragen  zu  erklären  sei. 
Das  wird  dadurch  bestätigt,  dals  in  der  Klasse  der  Pärzellenbetriebe 
zwar  die  Gesamtflachen,  nicht  aber  auch  die  landwirtschaftlich  be< 
nutzten  Flächen  seit  1882  zugenommen  haben.  Von  Belang  können 
also  die  Aenderungen  trotz  der  scheinbaren  Vermehrung  der  Be- 
triebe nicht  sein.  Aber  auch  bei  grofsen  Wirtschaften  steht  der 
Begriff  des  Betriebs  keineswegs  fest.  Ob  dieses  oder  jenes  Vorwerk 
als  selbständiger  Betrieb  gelten  solle  oder  nicht,  ist  häufig  zweifei- 
haft  und  1895  in  manchen  Fällen  wohl  anders  entschieden  worden 
wie  1882,  ohne  dafs  sich  in  der  Wirtschaftsweise  selbst  das  Mindeste 
geändert  hätte.  Aehnlich  verhält  es  sich,  wie  oben  auseinander- 
gesetzt worden  ist,  mit  der  Registrierung  der  unmittelbaren  Ge- 
nieindebet riebe.  Bei  der  verhältnismälsig  geringen  Besetzung  der 
höheren  Gröfsenstufcn  erlangen  derartige  Schwankungen  Ii  i  In  l  in- 
flufs  auf  die  materiellen  Ergebnisse.  In  der  That  zeigt  die  Be- 
wegung in  den  höheren  Gröfsenklasscn  sowohl  der  Zaiü  als  auch 
dem  Umfang  der  Betriebe  nach  von  Stufe  zu  Stufe  eine  verscliiedene 

Archiv  für  Ml.  G«fleUgebunf  u.  Statutik.  XV.  37 


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562 


H.  Rauclihcri;, 


Kiclilun-  —  bald  Zunahme,  bald  Abnahme.')  Aus  einem  einheil- 
liciiL-n  rriii/.ip  luraus  können  diese  Verschiebungen  in  materieiler 
Hinsicht  nicht  erklärt  werden. 

Für  diese  Schwankuncfcn  von  Stufe  zu  Stufe  kommt  nun  ins- 
besondere die  zweite  der  beiden  oben  erwähnten  X'eranlassungen 
zu  .Mii"s\erstrnuhi!S<eii  iiibctraclil:  die  Cirun(ila;.^e  der  Klassifikation 
nach  (tröl>en,st'.ileii.  ist  nämiirh  in  dieser  1  iinsiclit  sor^fiiltiL;  zu 

crwä'jeti.  was  die  I'.in/.i(  !iuti<' eines  Ik-triebs  in  eine  be<tininite  (in^lsen- 
kla->c  tlialsächlich  bedeutet.  Wie  ich  oben  !)ereit>  erwäiint  habe,  erfc>i;^t 
die  Kla'-^ilikation  nach  dem  AusmnKc  der  lnndwirt--rhaftli'^!i  Ite- 
nutzten  1' lache.  Nun  L;enut;t  .iber,  in^!  u  sondere  bei  den  iietriebcn, 
liie  nahe  an  den  (.TrenzHnien  ihrer  ( ir« '^Nt-iiklasse  L^eiet^en  sind,  eine 
^'erint;e  ( icl)iets.inderut u;,  oder  selb-^t  ohne  (icbietstinderuni^  auch 
rnn'  eine  Ausdi-Iinuiv^f  odtn*  häiisehränkun'^r  der  lntensi\ kuUuren, 
(U-ren  i  'ä<  li<  nausstattunL;  der  Klassilik.itioii  ja  zu  (uuude  hej^^t, 
um  den  lieirieb,  und  zwar  mit  seiner  ( icsamttläclie ,  \  (»n  der 
einen  Cirorsenklasse  zur  anderen  üi^ertretcn  /u  lassen.  liei  der  '^c- 
ringen  Besetzung  der  höheren  (iröfsenstufen  können  also  an  sich 
belanglose  materielle  Aenderun^en  zu  formal  recht  erheblichen  Ver- 
schiebungen fuhren. 

Diese  Schw  ieri;^keiten  .^.ind  schon  durch  die  Beschattenheil  der 
Materialien  bedingt.  Sie  müssen  bei  der  wissenschaftlichen  Be- 
arbeitung derselben  berücksichtigt,  können  aber  dabei  nicht  be- 
seitigt werden.  Schon  deswegen  sind  die  weiter  oben  S.  559  mit- 
geteilten Zahlen  über  die  Verschiebungen  in  der  Besetzung  und 
Flächenausstattung  der  einzelnen  Gröfscnkategorien  wenig  geeignet, 
uns  über  die  Hntwicklungstendeqzen  der  deutschen  Landwirtschaft 
aufzuklären.  Noch  aus  einer  anderen  Ursache  taugen  sie  dazu  nicht : 
es  sind  nämlich  Beziehungszahlen.  Aber  nicht  solche,  sondern  nur 
Gliederungszahlen  sind  hier  am  Platze.^  Gewi(s  muls  die  Unter- 
suchung damit  beginnen,  die  formalen  Verschiebungen  seit  1882- 
festzustellen,  indem  man  die  Differenzen  zwischen  der  Besetzung 
jeder  Gröfsenklasse  in  den  Jahren  1882  und  1895  berechnet.  Diese 
Differenzen  spiegeln  jedoch  die  thatsächlichc  Kntwicklung  nur  ver- 
zerrt w^ider.    Es  wäre  irreführend,  sie  mit  dem  Anfangsstande  zu 

0  ^E^*         li^^cUc  auf  ^.  564  im  Zusammenhalte  mit  iicr  tcbcrsicht  auf. 
S.  557- 

Vgl.  V.  Mayr,  Statistik  und  GesellMihaliblchrc,  i.  iki.,  .S.  1. 


Die  Lun(iwirt:>cli;it'l  im  ncutschcn  Reich. 


\  (  :  L;lciclieii  uiul  aus  den  j ini/(  uiu.ilcn  Scluvaiikun^i  11  aiti  d\c  seither 
cin<;etretenc  Rcu  c^'un^'  /.urückzu.schliefsen.  ^)  Denn  die  Verände- 
rungen in  der  Zahl  und  der  Fläche  jeder  einzelnen  Gröfsenklasse 
sind  nicht  durch  eine  Entwicklung^  innerhalb  der  betreffenden 
(iröfsenktassc  entstanden,  sondern  ganz  im  Gc<;cnteil  durch  den 
Austausch  von  Betriebseinheiten  zwischen  verschiedenen  Gröfsen- 
klassen,  je  nachdem  nämlich  die  landwirtschaftlich  benutzte  Fläche  die 
Obergrenze  überschritten  hat  oder  unter  die  Untergrenze  gesunken  * 
ist.  Es  ist  daher  unstatthaft,  die  Besetzung  der  einzelnen  Gröfsen- 
klassen  in  den  Jahren  1882  und  1895  in  direkte  Beziehung  zu 
einander  zu  bringen.  Die  richtige  Berechnungsweise  mufe  vielmehr 
damit  beginnen,  für  jede  der  beiden  Zählungen  die  Gesamtzahl 
der  Betriebe  und  der  dazugehörigen  Flächen  nach  Gröfsenklassen  zu 
gliedern,  Krst  die  Differenzen  zwischen  den  <  il'  lerungszahlcn  für 
1882  und  1895  lassen  Richtung  und  Mafs  der  Bewegung  richtig 
erkennen. 

Die  zu  dieser  Berechnung  erforderlichen  GHederungszahlen  sind 
557  und  in  ilen  bereits  auf  S.  559  niit;^^eteihen  Uel )ersichten  ent- 
halten. Ks  erübrii;!  demnach  hier  nocli  die  X'ersehiebun^cn  darzu- 
stellen, die  in  den  Prozentsätzen  der  einzehten  Gröfsenklassen  ein- 
getreten sind.    K>  sind  das  die  folgenden: 

Während  der  Jahre  1882 — 189S  bctrii-t  tlie  Zunahme  (+) 
bezw.  Abnahme  ( — )  in  den  Prozentanteilen  der  nebenbezeichneten 
Grössenklassen  an  der  Summe       too)  der 


*)  I'.  Kollmann  hn*  in  ^'-in-^r  «.rlinjif^n  Besprerluing  dt-r  hindwirtschattlichcn 
Betriebsziililun);  im  Iahrl)in  ii  Itir  ( -.  ti^<  bung,  V'crwaltiinp  um]  VnIkN\virt>cli.itt, 
23.  Jahrg.  S.  IM  fl'.  jene  \on  mir  aul  S,  5O0  mitgctcillcn  /aiilcn  glcichlalls  ^e- 
bracht,  aber  ebenso  wie  ich,  1' iliglich  am  die  formalen  Verscbiebong«»  aofnucigcn. 
Materielle  Folgonngen  daran  tu  knUpfen,  hat  er  gaas  richtig  «aterlassen.  Hingegen 
verHillt  Kautsky  in  seinem  Buche  Uber  die  Agrarfrage,  Stuttgart  1899,  S.  173  if. 
in  diesen  Fehler.  Und  er  vcrschXrflt  ihn  noch  dadurch,  dafs  er  die  im  Quellen- 
ni.itcrial  untorschi<"d<-ncn  Gn>r>cnkla>><on  nach  Giitdünkcn  wmbiMr't,  um'  stati>(isdie 
r.<K-;,'e  für  sein-  Auffassung:  li«T/nstfll<Mi  l'i'-  Kiitik,  dir  Riilf:ak(iff  im  XIII  TM.\ 
difses  Archivs,  S.  710  ff.  an  tli<-scm  \  nro.itii,'!-  f;<*iibt  hat,  ist  liurch.itH  brjjriiiidct. 
Vgl.  dazu  auch  die  Ausführungca  von  Vtof.  M.  Sering  iu  „Die  .Ajirarlra^;«-  und 
der  Sozialismus",  Jahrbuch  flir  Gesetzgebung,  Verwaltung  u.  Statistik,  33.  jaiirg. 
S.  1493  f^'  insbes.  S.  298  ff.  Eine  %'öUige  sachgemSfse  Behandlong  de«  statiatiscben 
Materials  findet  sich  bei  Buchenberger,  Grundfragen  der  deutschen  Agrarpolitik, 
a.  Aufl.,  Berlin  1899,  S.  21  f.  und  v.  d.  Golts,  Vorlesungen  ttber  Agrarwesen  und 
Agrarpolitik.  Jena  1899,  S.  84  AT. 

37*  • 


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H,  Kauchhcrgf 


<3röfs«tt> 

landwirtscbaßlkben 

landwirtschaftlich 

Gesamt- 

klassen 

Betriebe 

bemttxten  Flächen 

flichen 

unter  2 

Ar 

+  o,>3 

— 

+  0,01 

2 

Ar  bis 

5 

II 

+  0,12 

— 

+  0.03 

5 

if 

II 

20 

+  1.03 

4-  0.03 

+  O.IO 

ao 

ff 

■1 

I 

ha 

+  0.1 

4-  O.U2 

-l-  0,20 

I 

ba 

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2 

»» 

—  1,27 

—  0,22 

3 

tt 

I« 

5 

•» 

—  0,33 

+  0,10 

4-  0^3 

5 

tt 

II 

10 

II 

4-  0,40 

+  0,76 

+  0,47 

lO 

ti 

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30 

»» 

+  0,01 

—  o,it 

ao 

tt 

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50 

II 

—  0,34 

—  0.74. 

so 

II 

100 

tf 

  0.09 

—  0.09 

+  0|^ 

lOO 

II 

n 

300 

tl 

  0,01 

—  ü,02 

+  0.63 

TT 

M 

500 

?» 

—  0,01 

—  0.45 

tl 

>l 

1000 

II 

—  0,12 

—  ^'.34 

1000 

II 

ond  darüber 

-1-  0.24 

4-  0,  i ; 

oder  auf  fünf  (jr<>i\rnklaäscii 

zusammengezogen: 

unter  2 

ha 

-f  0,20 

—  0.17 

2 

ha 

bi; 

'  5 

II 

-    -  0.32 

-f-  0,10 

+  0,03 

s 

II 

n 

20 

»» 

+  Oi4« 

-f  1.16 

+  0,36 

20 

II 

«• 

100 

II 

~  0,27 

—  «-'.74 

—  0,50 

100 

>f 

und  darüber 

—  0,02 

-  0,35 

—  0,10 

Betrachten  wir  die  \'cränderLin»;cn  in  (Icr  landwirtschaftlich  be- 
niit/tcn  l-'läche  als  dir  nial--,.^fbendcn,  so  criT[iel)t  sich  aus  den  \or- 
stehcntlen  Bercclimin^^cii,  dai^  dir  Bctricljc  niiltlcrer  Ui"lsc  ')  von  5  bis 
20  ha  sich  zumeist  vcrnichn  hiilti  n  iiinl  zwar  auf  Kosten  der  Parzcllcn- 
iHirl  der  ( irorsbetriebc.  Zwar  haben  auch  die  Par/ellenbetriebe  unter 
1  lia  an  Zahl  /ugenonnnen  ;  aiirin  das  erklai  l  -ich,  wie  bereits  dar- 
f^ethan,  aus  der  ^^lulseren  \'olNtäiuliL,d<i.'it  der  la  hebunji;.  Die  Betriebe 
im  Ausniafsc  \on  50-  100  ha  tn  ti  n  iiunuRlti  zwar  nicht  mit  ihrer 
laiidwi' l>.chaltlichcn,  wohl  abi:r  nui  iiirer  ( ie>.inutlürhr  starker  her\"or 
und  cberivo  sind  die  Liitifundien  über  1000  lia  nuumeiu-  mit  etwas 
höheren  J'rozentsälzen  vertreten.  Aber  diese  Ausnahmen  sind  nur 
geringfü^di^'  und  verschwinden,  sobald  man  die  einzelnen  Stufen  auf 
die  5  grofsen,  sozialpolitisch  charakteristischen  Gröfsenklassen  zu- 
sammenzieht Von  einer  Konzentrationstendenz  des  Landwirt- 
schaftsbetriebs kann  also,  alles  in  allem  genommen,  nicht  die 

>)  Nor  von  den  Betrieben  nicht  anch  vom  Grandbesitz  gilt  das.  ^Venn 
das  Zählungswerk  S  1 1  *  vom  Grundbesitz  spricht,  so  sind  damit  wohl  die  Betriebe 
gemeint  • 


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Die  I^andwirtechaft  im  Deutseben  Reich. 


Rede  sein.    Der  hervorstechendste  Zug  der  gesamten  Entwicklung 
ist  vielmehr  die  Verstärkung  der  mittleren  Bauemwirtschaften. 

Bisher  ist  die  Gliederung  der  Landwirtschaftsbetriebe  nach 

Gröfsenklasscn  blofs  für  das  Reich  im  ganzen  erörtert  worden. 
Hinter  den  Durchschnitten,  die  für  das  Reich  im  ganzen  [gelten, 
vcrberj^en  sich  aber  gewaltige  Unterschiede  in  den  Betriebs- 
verhältnis s  c  ii  der  einzelnen  G  e  b  i  c  t  s  a  h  s  c  h  n  i  1 1  c.  Zeigt 
der  Rcichsdurchschnitt  eine  glückliche  Mischung  der  verschiedenen 
(irofsenklasscn,  so  belehrt  uns  die  Untersuchung  der  geog^raphischcn 
(iestaltunfj  darüber,  dafs  dieser  Durchschnitt  zum  guten  Teile 
.lediglich  als  der  rechnerische  Ausgleich  sehr  verschiedenartiger  Ver- 
hältnisse in  den  einzelnen  ( iebietsabschnitten  aufzufassen  ist.  An 
Stelle  jener  glückliclicn  Mischung  begegnen  wir  hier  häufig  einer 
<ehr  einseitigen  Au>l)iidung  der  einzelnen  Helriebsgrölsen  und 
•I'onnen  :  östlich  der  Klbe  dein  <  iroi^ljctrieb ,  westlich  der  Elbe 
dem  Kleinbetriclj.  I-"reilich  ist  die  <ie.->taUung  in  den  einzelnen  fic- 
bictsabschnitten  eine  sehr  mannigfaltige;  nur  durch  eine  eiiuli mgende 
Analyse  (les  geogi aj »hi-clien  Details  kann  sie  völlig  erschlossen 
werden.  Die  hierzu  erforderlichen  tabellarischen  Behelfe  können  an 
dieser  Stelle  nicht  beigebracht  werden.  Ich  mufs  mich  darauf  be- 
schränken, in  der  nachfolgenden  Tabelle  die  Verhältnisse  in  den 
grofsen  Grebietrabsdinitten  darzustellen,  in  welche  das  Deutsche 
Reich  nach  den  hervorstechendsten  Merkmalen  seiner  Agrarverfas» 
sung  zerlegt  werden  kann. ')  Nach  diesen  Gebietsabschnitten  sollen 
för  jede  der  oben  unterschiedenen  Gröfsenklasscn  der  Betriebe  die 
Prozentanteile  an  der  Gesamtzahl  der  Landwirtschaftsbetriebe  und 
an  der  gesamten  landwirtschaftlich  benutzten  Fläche  angewiesen  . 
werden.^  In  der  letzten  Spalte  der  Tabelle  füge  ich  die  ZUTem 
über  die  spezifische  Dichtigkeit  der  landwirtschaftlichen  Bevölkerung 
hinzu. 

Siehe  die  Uebersicht  auf  S.  566. 

Das  Östliche  Deutschland  wird  mit  44  Prozenten  seiner  land- 
wirtschaftlichen Fläche  als  der  Sitz  der  eigentlichen  Großbetriebe 
gekennzeichnet.  Für  die  Parzellenbetriebe,  die  kleinen  und  mittleren 
Bauemwirtschaften  erübrigen  daselbst  nur  27,6  Proz.  der  eigentlich 

')  Im  Anschlüsse  an  Sering.   V$;l.  den  Art.  Grundbesitz  im  Wörterbuch  der 

Volkswirtschaft  lifT:ui'<f;--;;.'l»rn  von  1,.  Elster.    Hd.  I,  S.  956. 

^  I > i < -  Zahlen  eninehroe  ich  den  eiogebenden Berecbaongen  Kollmaiinsa.a.O. 

S.  116 — 125. 


;66 


11.  Kauclil)crg, 


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Digitized 


Die  Landwirtschaft  im  Deutschen  Reich. 


landwirtschaftlichen  Mäche.  Am  meisten,  mit  6ü  rroz.,  überwiest 
der  Grofsbetrieb  in  Mecklenburg.  Aber  auch  noch  die  Provinz 
Sachsen  (mit  Ausnahme  des  Regierungsbezirks  Erfurt),  sowie 
Braunschweig  und  Anhalt,  die  zu  Mittelf leutschland  zahlen,  ragen 
durch  eine  überdurchschnittliche  Besetzun-  der  Grolsbetriebe  — 
29i3  und  264  Proz.  der  landwirtschaftlichen  Fläche  —  hervor.  Nord- 
Westdeutschland,  in  erster  Linie  Schleswig-Holstein,  ist  das  Gebiet 
der  gröberen  Bauernwirtschaften  mit  20  bis  lOOha;  47,4  Proz.,  in 
Schleswig-Holstein  sogar  6t, 6  Proz.,  der  landwirtschaftlichen  Fläche 
gehören  daselbst  dieser  Kategorie  an.  Mittel-  und  Südwestdeutschland, 
sowie  der  Südosten  zeichnen  sich  durch  die  grofste  Vertretung  der 
mittleren  Bauemwirtschaften  und  durch  die  geringste  Vertretling 
der  Grofsbetriebe  aus.  Für  den  Südosten  sind  daneben  noch  die 
gröfseren  Bauernwirtschaften  charakteristisch,  welche  in  Oberbayem 
mit  47  Proz.  der  landwirtschaftlichen  I'läche  am  stärksten  hervor- 
treten, für  den  mittleren  und  südlichen  Westen  die  Parzellenbetriebe, 
die  im  Landeskommissariats-Bezirk  Karlsruhe  mit  26,45  Proz.  der 
landwirtschaftlichen  Fläche  ihren  Höhepunkt  erreichen. 
,  Dafs  die  spezifische  r3ichtigkeit  der  landwirtschaftlichen  Be- 
völkerung im  umgekehrten  \'erhältnisse  zur  durchschnittlichen 
üröl'se  der  landwirtschaftlichen  Hetriebe  stehe,  habe  ich  schon  im 
IV.  Abschnitte  des  zweiten  Hauptteiles  die  ser  I7nt(M  >uchunL;en  dar- 
gelhan.  ')  Durch  die  letzte  .Spalte  der  \  orstehenilen  l  abclle  wird 
das  Itestatiijt.  In  erster  Linie  sind  es  die  ( irolsbetriebe,  welche 
die  Fntw  ickliuu^  der  X'olkschehli'rkeit  hemmen.  .Sic  steht  im  Osten 
mit  45  auf  je  lOO  ha  landwirtschaftlicher  Fläche  am  tiefsten  und 
sinkt  speziell  in  .McckU-n[)ur^  his  auf  31,1  herab.  Aber  auch  die 
geschlossene  l-Olge  grofser  HauciuL^uU  r  li.tt  du-  gleiche  Wirkung. 
Das  zeigt  das  lkisj)iel  Schleswig- Holsteins,  woselbst  61,8  Proz.  der 
landwirtschaftlichen  P'läche  der  Gröfscnklasse  von  20 — 100  ha  an- 
gehören und  die  spezifische  Dichtigkeit  der  landwirtschaftlichen 
Bevölkerung  mit  31,3  auf  das  ha  sich  kaum  über  jene  Mecklen- 
burgs erhebt.  Hingegen  wächst  die  spezifische  Dichtigkeit  (»rallel 
mit  der  Parzellirung  und  erreicht  zugleich  mit  dieser  im  mittleren 
Westen  den  höchsten  Stand.  Noch  viel  dichter  erschiene  daselbst 
die  landwirtschaftliche  Bevölkerung,  wenn  man  ihr  auch  die  Personen 
mit  Nebenerwerb  in  der  Landwirtschaft  zuzählte.  Denn  wie  die 
alsbald  folgende  Untersuchung  der  Berufeverhältnisse  der  landlichen 


>)  Vgl.  den  XIV.  Bd.  dieses  Archivs  S.  297  ff. 


568 


Ii.  RaucKberg, 


Betriebsinhaber  zeigen  wird,  gehört  nur  die  Minderzahl  der  Parzellen- 
besitzer mit  ihrem  Hauptberufe  der  Landwirtschaft  an.  Verhältnis- 
mäfsig  am  häufigsten  -  finden  sie  ihren  eigentlichen  Erwerb  in  der 
Industrie.   In  Gegenden  mit  höherer  Wirtschaftscntüütung  ist  somit 

das  rc!)LT\vii.';^ani  der  I'arzcncnl)ct riebe  niclit  etwa  als  ein  Symptom 
der  W-relondun;^  der  I.aiidwirlscliaft  zu  deuten,  sondern  \iclinchr 
ein  erfreulirlics  Anzeichen  dafür,  dafs  ein  erheblicher  Teil  der 
industriellen  Bevölkerung  einen  gewissen  Rückhalt  an  cjo^enem 
Grundbesitz  liat,  der  für  die  Deckung  des  Nahrungsbedarfs  vieler 
Arbeitt  rh.iushaltungcn  v»>ii  Hol.ing  ist. 

I)ie  iMitwickluniJf  seit  1882  bcweLjt  sich  in  den  eiiv/elncn,  in 
der'übij^en  Tabelle  unter>chiedenen  ( iel)ietsal)schnittcn  in  verschie*- 
denor  RichtiuiL:.  Im  Rdrhsdurch^chnitte  erscheinen  die  ^e^^en- 
sätzlichen  BeweLjun^^stc mlcn/en  so  ziemlich  kompensiert.  Die  Be- 
trachtung des  geograi>hischcn  Details  lehrt  nun,  dals  die  lintwick- 
lung  in  den  beiden  grofson  agrarischen  liebieten  des  Deutschen 
Reichs  die  entL;e;^enfj«'set/te  ist:  im  ( »sten  und  Norden,  den  (iej^enden 
des  überwiej^enden  (irol>belriebs.  anteiKweisc  Abnahme  der  tnoN- 
l)etricbc  und  X'erstärkun-^  der  Parzellenbeti  iel)e,  sowie  insl)esor)derc 
der  ei;4entlichen  15.uiern\virischaften  '),  im  Westen  und  Süden  Ab- 
nahme der  l'arzellenbetriebe,  hingegen  Ausbreitung  der  Grols- 
betricbc.  Die  mittleren  Bauernwirtschaften  aber  —  5 — 20  ha  — 
haben  durchaus  an  Bedeutung,  und  Umfang  gewonnen.  So  wäre 
denn  die  Entwicklung  danach  angethan,  den  klaflTenden  Gegensatz 
zwischen  den  beiden  grolsen  agrarischen  Gebieten  des  Deutschen 
Reichs  einigermafsen  zu  mildem,  wenn  sie  nur  durch  die  ermittelten 
Zahlen  richtig  gekennzeichnet  würde.  Von  welchem  Einflufs  dabei 
die  formalen  Momente  sind,  habe  ich  schon  früher  hervorgehoben. 
In  der  That  scheint  mir  die  Zunahme  der  Großbetriebe  im  Westen 
und  Südosten  hauptsächlich  auf  derartigen  formalen  Verschiebungen 

'1  Die  nr-hauptunp  Kautskys,  dafs  die  Znnahni  ■  odt-r  Intcnsifizirrung  des 
r.roisbetri»  dm  rar/cllnihctricb  iüclit«-.  wird  durch  iiit  hts  bi  sliitifjt.  Im  östlichen 
I >cut-cidand,  als  dc-m  rif^<  ntliclicn  tiriiii't'-  dos  Grolsbetriohs.  simi  di--  Umtriebe  mit 
100  ba  laiidwirtschaftlirliiT  Fläclir  uiul  ilariibrr  niclil  nur,  v,  u  dii  L  i-bi-r>iclit  auf 
S.  566  ^cißt,  aulriläwi-ihc  sontlcni  sugar  absolut  /-uruckyo^aiigcn,  die  Par^itllen- 
betriebe  und  kleinbitterlichen  Betriebe  hftben  nur  ganz  unweseatlich  an  Gebiet  ge- 
wonnen und  fast  die  ganze  Verschiebong  ist  gerade  den  mittleren  Banerowiit» 
Schäften  zognte  gekommen.  Ihr«  Zahl  ist  im  östlidhen  Deutschland  von  333  733  im 
Jahre  1882  auf  270120  im  Jalirc  1895  ß.-stic^i-n,  ihre  landwirtschaftliche  FlSche  hat 
sich  von  340893S  auf  270S821  ha,  also  rund  um  300000  ha  erweitert. 


Die  LaiKhvirtschati  im  iJtuLschcn  Kcicli.  .  S^9 

ZU  beruhen:  teils  darauf,  dafs  nunmehr  der  Besitz  juristischer  Per> 
sonen  vollständiger  verzeichnet  wurde  als  früher,  teils  darauf,  dafs 
Waldwirtschaften,  die  auch  mit  anderen  Kulturen  durchsetzt  sind, 
nunmehr  erfafst  und  mit  ihrer  gesamten  Fläche  zu  den  Landwirt' 
schaftsbetrieben  gezahlt  wurden.  Darauf  deuten  auch  die  gewaltigen 
Unterschiede  in  der  V^erteilung  der  Kulturen  hin.  In  den  Grofs- 
betrieben  des  Westens  und  Südostens  hat  der  Anteil  der  landwirt' 
schaftlich  Ixinutzten  Fläche  an  der  gesamten  Betriebsflache  seit 
1882  auffallend  abgenommen,  im  Osten  und  Norden  dn^'c^'en  nur 
um  ein  gerin«:;;es.  l  mgckehrt  ist  die  Bewec^un;::^  im  Waldland. ') 
So  betrug  die  landwirtschaftlich  benutzte  Fläche  Prozente  der  Ge- 
samtfläche 


1805 

1882 

94.2 

•  •  •  57.2 

91,8 

65,7 

89,4 

584 

dagegen 

78.5 

74,7 

84,« 

Für  den  Grofsbetrieb  des  Westens  und  Südostens  ist  nunmehr  die 
breite  Vertretung  der  Extensivkulturen,  insbesondere  des  Waldlandes 
charakteristisch,  wogegen  die  Extensivkulturen  von  den  Grofsbetrieben 
des  Ostens  nur  ausnahmsweise  mehr  als  den  vierten  Teil  der  Betriebs« 

fläche  ausmachen.  Hier  sind  die  Grofsbctriebe  ganz  überwiegend 
reine  Landwirtschaftsbetriebe,  wogegen  sie  im  Westen  und  Süd* 
Osten  durch  eine  hinter  dem  Reichsdurchschnittc  —  75,13  T';<v/.  — 
weit  zurückbleibende  X'crtretung  der  eigentlich,  landwirtsclialthchen 
Fläche  gekennzeichnet  werden.  VV'ic  die  oben  angeführten  Beispiele 
zeigen,  hat  sich  dieser  frapjiicreiidc  riitei -^c  liied  erst  bei  der 
Zählung  von  1895  herausgestellt.  So  in  ttachlliche  Verschicbungen, 
wie  in  den  angeführten  süddeutschen  hita.iten  k<innen  offenbar  nur* 
aus  Schwankungen  in  tler  Ii.rhebuiiL,'>weise  und  in  der  dadurch  be- 
dingten Beschaflenheit  der  iMaterialicu  erklärt  werden.  *)    Es  ist 

*)  Vgl.  weiter  unten  S.  5S5  f. 

*)  Nocb  gröfser  ist  der  Einllurs  der  Erhcbnngsweiic  bei  der  Vergleicbung 
internationaler  Materialien.  Die  Venchiedcnhdten  gehen  hier  snmeist  so  weit, 
dafs  munittelbare  Vergleichvng  aosgescblossen  erscheint   kh  glaube  daher  anf  die 


L.ivjM^L,j  L,y  Google 


5/0 


II.  Kauclil'C-r^, 


daher  höchst  wahrscheinlich,  dafs  die  Erhöhunp;  der  Zahlen  über 
die  Grofsbetriebe  im  Süden  und  Westen  hauptsächlich  auf  derartige 
formale  Veranlassungen  zurückzufuhren  ist,  und  da(s  daselbst  in 
Wirklichkeit  keine  oder  doch  keine  entschieden  überwiegende  Ten- 
denz zur  Ausbildung  von  landwirtschaftlichen  Grofsbctriebcn  besteht. 
Wohl  aber  zeigen  daselbst  die  Parzetlenbetriebe  Neigung,  in  der 
nächst  höheren  GrÖfscnklasse  aufzugehen. 

Das  Ergebnis  dieser  Untersuchung  ist  also,  dafs  der  erste  Ein- 
druck, den  wir  emp6ngen,  nur  verstärkt  wird:  die  Betriebe  mitt- 
leren Umfangs  breiten  >\ch  aus,  sowohl  auf  Kosten  der  Parisellen- 
bctriebe  als  auch  der  Grofslx  triebe;  die  Richtung  der  Entwicklung^ 
in  den  beiden  «i^rofsen,  a;;^raiisch  ;_;e;,;eii>ätzlieh  ^'eslalteten  Gebieten' 
des  DeuLselien  Reiclis  scheint  einer  allniählielien  MildcrunL^  dvv  bis- 
her schroüfen  Gegensätze  in  den  landwirtschaftlichen  Betriebsverhält- 
nissen nicht  ungünstig  zu  sein. 

II.    Die   H  e  r  u  f  s  \  e  r  1)  ä  1 1  ti  i  s  s  e  der   B  e  t  r  i  e  b  s  i  n  h  a  b  e  r  und 
die  1  a  n  d  w  i  r  l  s  e  h  a  f  1 1  i  r  Ii  e  II  X  e  b  e  n  ^  e  w  erb  e. 

W  elche  Hi  di  iitun|T  haben  die  Landwirtschaftsbetriebe  für  die 
Be r  u  f s i  e d e  r  un     des  deut-ehen  X'olkesr 

Icli  habe  schon  (riilicr  darauf  hint;ewiesen,  dafs  die  landwirt- 
scbnftliclu^  Ht.triel)sauh>ahine  beträchtlich  melir  Landwirtschafts- 
betriel)e  ergeben  hat,  als  \on  der  Berufs/ähhin^  selbständige  I.atul- 
wirte,  sei  es  im  I  lauj>tlieruf  oder  im  Nebem  rwr;  b,  ermittelt  worden 
sind,  'j  Das  ist  damit  erklärt  wtirden,  da^>  nicht  jeder  I.andwirt- 
schaftsbctriel)  für  >eincn  Inhaber  derartige  berufliche  HedeuiuuL:  hat, 
als  dafs  er  sich  als  selbständiger  Landwirt  fühlte  und  bezeichnete. 
\  H  Inn  hr  gt  hol  eil  x  on  den  Inhabern  der  c  ;  V»7  Landwirtschafts- 
betriebe, welche  unsere  Zählung  ergeben  hat,  nur  3210167  oder 
57»86  Proz.  mit  ihrem  Hauptberuf  der  eigentlichen  Landwirtschaft 
an,  2342  130  oder  42,14  Proz.  aber  anderen  Berufen.  Wie  sich  die 
Inhaber  der  I^ndwirtschaftsbetriebe  auf  die  wichtigsten  hierbei  in 


Venutunig  des  im  Quellenverfce  niu^^cteilten  Materials  Tür  das  Ausland  be»er  ver* 
ziehten  ztt  sollen. 

I)  Vgl.  dazu  die  Aosnibrungen  im  XV.  Band  dieses  Archivs  S.  149  tt.  u.  167  IT. 
Es  wurden  ermittelt:  2 522  $39  selbständige  Landwirte  im  Hauptberaf  und  2  159606 
im  Nebenerwerb,  zusammen  4682 14$.  Die  Zahl  der  Landwirtschaftsbetriebe  b^tr&gt 
5558367;  sie  aberragt  somit  jene  der  selbständigen  Landwirte  nm  876172. 


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Die  LaadmrUcliafl  im  Deutschen  Reich. 


57« 


l^ctrachl  koiiitneiulcii  Bcriirs^rui)j)Cii  \erteilcn,  /eii{l  die  iiaclisteheiide 
Uel«.  rsicht,  worin  die  Hctriel)sinhaber  fenicihin  tiaiiach  in  zwei 
Gruppen  j:,'escliicden  werden,  je  nachdem  sie  iliren  1  lauptberuf  in 
selbständiger  oder  in  unselbständiger  SteJIunf»^  ausüben: 

Inhaber  von  Liin(IwirtschaÜ.sbctrit.-l>en 

Hauptberufsgruppen           Personen  darunter 

ttberhaupt  Selbständige  Unselbständige 

Landwiitscbaft   ........     3316 167  3499130  717037 

Gärtnrrri,    I  i  rtucht,  ForstwirtSCboA, 

Fischerei                                             09356  3' 7?'  67605 

Industrie  1  495  240  704200  790950 

Han>i«-1                                                      14344'  lio'>Ü2  1-2  759 

Verkehr                                                    I.U  773  32992  loi  7S1 

Gast-  nnd  Scbankwirtscbaft  ....        ;3  53  7- ^'7  ^3^ 

Wecbsebde  Lohnarbeit                          36737  —  — 

Andere  Berufsarten ')                            359  550  —  — 

Die  nachsteiieiK len  X'erhalinis/.ahlen  verdcutlieben  zunäciisl  die 
IdiLclerunc^  der  lantlwirtschai'tliclien  Hetriebsinhaljcr  narli  Haujit- 
berufsL,nui)peii  und  dann  den  Anteil  jeder  dieser  Uruppen  an  der 
gesamten  lantlwirlNchaftlich  benutzten  Mäclie; 

Auf  die  nachbczcicinieten  I^erufsi^^ruppcn  entfallen  von  je  100 

Inhat)crn  vuu  Land-  ha  landwirtächafilich 

wirtäcbaftsbetricben  benutxter  Flüche 

aber*       und  zwar  ttber>       und  twar  in 

hanpt     Selb-    Unselb-  baupt    selbstän*  unselb- 
ständige ständige  Hij^-T  ■.t-imlit^i-r 

Slrllun^  Wwirtsrlialtet 

Lamlwiruchaft  ....  57,86     44,96     12,90  ^^,79       87,20  1.39 

Gärtnerei,  Tierxncht,  Forst* 
Wirtschaft,  Fischerei    .    1,79      0,57      1,2a         0,70       0,35  0,35 

Industrie  26,90  13,67  I4>23  5i93  4^9 

Haiidi-1  2,58  2.35  0,23  0,73  0,70  003 

Verktlir  2.43  0,60  I.83  0,47  0.22  0.25 

(j.nst-  u.  Si  haiikwirtschaft     1.31  1,30  0,0l  0,76  0,76  0,002 

VVechscIudc  Lohnarbeit    .    0,66  —  —  0,07  —  — 

Andere  Benifsarten .   .   .   647  —  -  -  2.55  —  — 

Wie  nicht  anders  zu  erwarten ,  gehört  natürlich  die  Mehr- 
zahl aller  Inhaber  landwirtschaftlicher  lielriebe  dem  Hauptberuf 
nach  der  eigentlichen  Landwirtschaft  an.    Nahezu  neun  Zehntel  der 

')  Darunter  öffentlicher  Dienst,  freie  Bemfsaiten,  selbständige  Berufslose,  häus- 
liche Dienstboten,  Familienangehörige  nnd  juristische  Personen. 


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572 


II.  Rauchbcri;, 


gesamten  landwirtsrhaftHrh  benutzten  Fläche  wird  von  Berufsland- 
wirtcn  bestellt.  Fast  der  vierte  Teil  von  iiinen  ist  im  Hauptberuf 
unselbständi^^  Daneben  stellt  aber  aurh  die  bidustrie  mehr  als 
den  vierten  Teil  der  landwirtschaftlichen  Betriebsinhaber,  und  zwar 

sind  flaran  die  Unsclbständi^aMi  ^'>:'  ir  nnrli  stärker  beteilif:;t  als  die 
SelbständiL^cn.  Freilich  bleibt  die  I'Uichenausstattun^  der  l'n- 
sell)>tändi^'i'n  hier,  wie  in  allen  aiulercn  beruf^L;riii>[icn,  i^anz  aulscr- 
ordentlich  ^;eL,H'n  jene  der  Sell)ständi'^;en  zuiuck.  An  dritter  Stelle 
ist  die  am  Fnde  der  obi^^t  n  l  el)ersicluen  anL;elii!ii  tr  Saninu  lix »--itiön 
andere  Herufsartcii"  /u  erwähnen,  welche  in>l)t >()[Rlere  desiialb 
lietiierkenswert  ist,  weil  ihr  auch  alle  i"anulienanL;ehöri<^en  zugezählt 
wurden,  die  ohne  einen  eii^enen  Hauptberuf  auszuüben,  doch 
hihalier  \on  I  .aiKlwirtschaftsbetrieben  sind. 

Nach  ( irolsenkate^orien  der  Betriebe  Irelfcn  von  je  lOO  Be- 
triebsinhabern jeder  Gröl^tMikla^se  auf 


üroUenk  lassen 

die  1- 

iilli<"}ic 

die 

andere 

der 

Landwirtschaft 

Industrie 

Berufe 

Landwirtschafb« 

Selb. 

Unselb. 

Selb- 

Unselb- 

betriebe 

ständige 

ständige 

ständige 

ständige 

unter  2  ha 

17,43 

21,30 

16^1 

3.24 

ha  bis  5 

72,20 

2,48 

",93 

J.70 

1 J  /19 

5 

«»       II  " 

0,2 1 

4,43 

0.75 

20 

..     loo  „ 

Qö,  1  6 

0,05 

I  53 

0,2s 

1,98 

lOO 

„    und  tUiriibcr 

.,3  S6 

0,72 

0,17 

5.20 

im  ganzen 

44.9<i 

12,90 

14,23 

2.35 

Es  zeigt  sich  also,  dafs  die  Beteiligung  sowohl  der  industriellen 
als  auch  aller  anderen  nicht  landwirtschaftlichen  Berufe  am  land- 
wirtschaftlichen Betrieb  im  all-^'cmeinen  im  umgekehrten  \*erhält- 
nisse  zum  Betriebsumfansj  steht.  Blols  am  Grolsbctrieb  sind  die 
,, anderen  Heruf<  irten"  stärker  beteiligt  als  an  allen  anderen  Gröfsen» 
klassen,  die  Parzellenhctriebe  au'f^^enommcn.  Demzufolge  treten  die 
eigentlichen  Berufslandwirte  in  der  Kate;:^orie  der  gröfseren  Bauern- 
wirtschaften xcrhältnismäfsi«^  am  meisten  hervor  und  nimmt  ihre 
X'ertrctnn;^  unter  ^len  Betriel)sinhabern  'Sowohl  mit  steigender  als 
auch  mit  fallenricr  Ik-triebsi^rtiKc  ah.  Uas  ist  eine  Reflexwirkung 
der  Hctcili'^aHiL:  aller  anderen  Berufe  am  Landwirtschaftsbetriel)e. 

Nicht  tlamit  zu  verwechseln  ist  die  B  e  t  e  i  I  i  <^  u  n  5:;^  der  be- 
ruf s  m  ;i  l's  i  g  e  n  I .  a  n  d  w  i  r  t  e  a  m  N  e  1 )  euer  w  e  r  b  in  jenen 
anderen  Berufen.  Was  zunächst  die  selbständigen  Landwirte  anbe- 
langt, so  sind  in  jeder  Gröisenklussc 


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Die  I^ndwirUichail  im  Deutschen  Reich. 


573 


Gröfsenklasse  sellMtSiidige  unter  je  lOO  selbständigen 


der 

Landwirte 

Landwirten  solche 

Landwirtschafts- 

obne 

mit 

ohne 

mit 

betriebe 

Nebe 

n  b  c  r  u  f 

unti-r  2  ha 

147  094 

73.92 

26,08 

2  lui  bis       5  „ 

187452 

74,46 

25.54 

5   »   II     *o  1» 

76S440 

138346 

84.74 

i5.a6 

ao  II  II   too  II 

247037 

«3894 

91,18 

8,82 

lOO   „  und  darüber 

17986 

5537 

76.46 

23.54 

im  ganzen 

1996807 

50*333  ♦ 

79,90 

20,10 

Tnimerhii)  zeii^'t  sich  auch  hier,  selbst  bei  der  Untersuchung 
nacii  feineren  .\b>lufuir_^'^eii,  die  j^deiche  KrscheinunjTj:  gcrijij.jste  neben- 
berulliche  Bethaii^u;  l>ei  den  Inhabern  der  f^rüfseren  Bauernwirt- 
schaften —  mit  5  20  ha  — ,  zunehmender  Nebenerwerb  so- 
wohl bei  fallendem  als  auch  bei  wachsendem  Betriebsumfanf;.  Ins- 
besondere brinijt  es  die  X'erwertunfr  der  eit;eiien  Produkte  in  den 
soj^enannti  ri  laiidwntsrhaillichcn  Industrialicn  mit  sich,  dals  aul*  der 
oberNtrn  ( irürsciistufc  soLjar  die  Mehrzahl  der  Betriebsinhabei  einen 
Xel)enl)eruf  anL;et^el)en  hat:  in  der  Klasse  \(>i)  ^00 — lOOO  iia 
41,09,  in  der  Klasse  von  lOOO  und  nu  lir  ha  S^-'^7  I'roz. 

Aulserdem  wurden  717037  landwirtsrliaftlielic  Betriebe  j^^ezähit, 
deren  Inhaber  ihrem  Hau|)tberuf  nach  der  Landwirtschaft  in  un- 
selbständiLier  Stellun^r  an^rehörcn.  Die  «ranz  über\v  ie<n'nde  Mehrzahl 
derselben,  639703.  sind  Ta;^'clöhncr  oder  sonstige  landwirtschaftliche 
Arbeiter.  575  873,  mehr  als  zwei  Drittel  aller  Betriebsinhaber  dieser 
Kategorie,  bewirtschaften  kleine  Betriebe  mit  einer  landwirtschaft- 
lich benutzten  Fläche  von  5  Ar  bis  i  ha.  AuCserdem  werden  57  574 
Betriebe  von  Knechten  oder  Mägden  und  19700  Betriebe  von  Ver- 
waltungs-  oder  Aufsichtspersonen  betrieben.  Insofern  diese  letzteren 
grölseren  Betrieben  vorstehen,  ist  allerdings  anzunehmen,  dafs  der  * 
Betrieb  auf  Rechnung  des  Besitzers  oder  Dienstgebers  erfolge. 

Auch  der  Landwirtschaftsbetrieb  der  Industriellen  beschränkt 
sich  zumeist  auf  die  unteren  Gröfsenklassen.  Von  den  selbständigen 
Industriellen  mit  I.andwirtscha(bbetrieb  gehören  mehr  als  zwei 
Drittel  —  534323  —  der  Grötscnldasse  unter  2  ha  an,  von  der 
ihnen  allerdings  16,5  t  Proz.  zueilen,  während  weiterhin  ihr  Anteil 
mit  steigendem  Betriebsumfang  rasch  abnimmt  Bemerkenswert  ist 
dabei  insbesondere  die  Ausstattung  der  Hausindustriellen  mit  land« 
wirtschaftlichen  Betrieben  kleinsten  Umlangs.  Von  287448  selb* 
ständigen  Hausindustriellen  im  Hauptberuf  haben  53308,  15,07  Proz., 


Kaucliherg, 

landwirtschaftliche  Hctricbc  imic,  von  denen  fn  ilirh  die  gröfsere 
Hälfte,  3 1  9<13  unter  50  Ar  lnn(!v,  ;i  !-<  liafiliehcr  Fläche  bleibt.  Noch 
/ahheirhor  ,'1  die  selbständigen  hulu.sti iellen  treten  die  industriellen 
Arbeiter  als  Inhaber  \  '  I.andwir*  Ii,  itsl )t  trie  ben  auf.  In  753953 
Fällen  wurden  sie  als  solche  verzet'  lirn  t.  aueli  hier  ganz  übervviei:^end 
niif  (Irii  U'it'-r^ten  Grörscfistufeii  i]v>  I u  irie b^utnfan;^s.  Vnr  !7.^i''>0 
Iiuii:-.ti irai  b(  ih  r  "der  17,;  I'ru/.  bcwirtschaflen  mehr  als  i  ha  iand- 
wirls<"liaftlii  li  iiemit/tiT  M.irlie. 

\\'a>  ist  (Jas  I'.:  .;i  bi'is  dicM-r  L  nler-^ih  lumL^en  '  Ich  habe  es 
srh'Mi  lri!livr  ;.;ek ;^(.  ntlich  duv  Im  '  irleriii..;-  tK  s  landwirtsrliaftlichen 
Nebene!  werbs  aiisL',e'>j)r<  ichcn :   d.xis  durchaus  icder  I  andwirt- 

.schall>l)cti  it  l)  \  <»n  solcher  Hedi  utuiiL;  für  da>  \\  irl^l:haU^sul )iekt  ist, 
als  dals  er  lür  >t  iiien  nau[)tberuf  «xli-r  in  vielen  bällen  auch  nur 
für  den  Nebeiu  rwer!)  tnal^L;eb(•nd  w  äre.  W  ir  st-lien  nuiunehr,  in 
WH-  weitem  L'n'.lai)L;e  I .andwirl>i  liatt  wm  l  iiier  anderen  als  der 
agrarischen  IJerufsbasis  aus  betrieben  wird.  Und  indem  wir .  die 
den  verschiedenen  Hauptberufsgruppen  angehörigen  Inhaber  von 
Landwirtschaftsbetrieben  nach  den  Gröfsenkategorien  dieses  letzteren 
gliederten,  haben  wir  auch  gesehen,  ein  wie  beträchtlicher  Teil  der 
Betriebe  überhaupt  objektiv  ungeeignet  ist,  für  sich  allein  Unterhalt 
und  Lebensstellung  zu  gewähren.  Die  agrarischen  Interessen  im 
deutschen  Volke  werden,  um  auf  die  schon  früher  berührte  Kontro* 
verse  abschlicfsend  zurückzukommen, ')  nicht  etwa  durch  die  Berufs- 
statistik  in  zu  schwacher  Besetzung  dargestellt,  wohl  aber  würden 
sie  nach  der  Zahl  der  Landwirtschaftsbetriebe  allein  beurteilt,  viel 
zu  breit  erscheinen.  So  wichtig  auch  jene  Betriebe,  denen  keine 
landwirtschaftliche  Berufsangabe  entspricht,  (ur  die  Lebenshaltung 
und  Hauswirtschaft  des  Inhabers  sein  mögen,  fiir  ihre  Bedeutung 
in  dem  rietriebe  der  volkswirtschaftlichen  Interessen  bleibt  doch  der 
Kinflufs  nial>>;ebend,  den  sie  auf  1^  Herufsbewufstsein  des  W  irts 
au>übrri.  Das  i^crufsbewufstsein  findet  aber  in  der  Her ufsangabe  seinen 
.Ausdruck.  Darum  kr»nnen  wir  uns  bei  der  W'iirdii^unL^  der  agrarischen 
Interessen  ruhig  auf  die  Angaben  iler  Bcrulsstati>tik  verlassen. 

Die  \'er;:::;leichuni^  der  einschläi^ii^en  Eri;ebni-se  von  1895  mit 
jenen  vnn  1892  i>t  nicht  ohne  weiteres  durchführbar,  weil  bei 
iler  Bearbeitun;'  der  lai.dwirtsrliaftlj«  hen  IV'triebsstatistik  von  1SS2 
tiie  Iktriebsleiter  niclit  nach  ilii  em  1  laujitberuf  au-^'e<chieden  worden 
sind.    Wohl  aber  ist  damals  —  nicht  auch  1695  —  untersucht 

*j  Im  XV.  tan«]  iliocs  Archivs  b>.  J50. 


.  .j,.i_i,ci  by  G 


Die  Landwirtschaft  im  Deutschen  Reich. 


575 


worden,  wie  oft  selbständiger  Landwirtschaftsbetrieb  mit  einer  anderen 
Erwerbthätigkeit  hanpi  oder  ncl)enberunich  verbunden  ward.  Damals 
zeigte  CS  sich,  dafs  das  in  nicht  weniger  als  3  220  2/0  Fällen,  bei 
61  Proz.  aller  I.and\virt>cliaft>bctriebc,  der  Fall  v  Hiervon 
kommen  87  [047  I-älle  in  Alv.ug,  welche  lafuhvirt>;ci)ariiiclu-  l'a-^'- 
lölnier  mit  Grundbesitz  betrefien,  denn  hier  handelt  es  sich  in  Wirk- 
lichkeit ja  nicht  um  zwei  verschiedene  Heruf>artcn,  sondern  lun 
zwei  verschiedene  Beruts-^tellunj^en  in  derselben  Ik-ruf^art.  Dann 
eriihi i.;i  ri  alier  noch  immer  2.350323  I.atidwirte  oder  44,5  l'roz. 
der  Inliaher  \on  landwirtschatllirhen  fVtiitl  i  n  als  solche,  welche 
i^^lcirli/ciliL;  auch  anderen  als  lan<lvvirt-chaltliclicn  lli  tufen  anj:j^elu*tren. 
Au,-,  den  Aur^lelh'.n-i  ii  .;ufS.  571  eriMebl  >ich,  dafs  1S95  tlcr  land- 
wirlschaltlichen  iktricbslciier  mit  einem  anderen  al.->  einem  land- 
wirtschaftlichen II  ,1  u  ])t  bcrnf  23422CO  oder  42,141^02.  aller  land- 
wiit>chaltlichen  In  tricbslciter  sinil. 

T)ie>c  Daten  stimmen  mit  jee.eii  \on  1882  annähernd  überein. 
Dafs  der  Prozcnt.salz  der  nicht  landwirtschaftlichen  Berufe  1895 
i^cn  jenen  von  1882  einigermalsen  zurückbleibt,  erklärt  sich  daraus, 
dafs  1895  der —  nicht  landwirtschaftliche  —  Nebenberuf  nicht  mit- 
berücksichtigt  worden  ist.  Xun  hat  die  Berufszählung  von  1895 
gezeigt,  dafs  450272  ihrem  Hauptberuf  nach  selbständige  Landwirte 
einen  Nebenerwerb  aufserhalb  der  Landwirtschaft  haben.  Um  die 
Vergleichbarkeit  mit  den  oben  angeführten  Ergebnissen  von  1882 
herzustellen,  müssen  diese  zu  den  2  342  200  landwirtschaftlichen  Be* 
triebsleitern  hinzugezählt  werden,  die  ihren  Hauptberuf  aufserhalb 
der  Landwirtschaft  finden.  Dann  kommen  wir  für  1895  im  ganzen 
zu  2  792  472  Inhabern  von  Landwirtschaftsbetrieben,  welche  haupt* 
oder  nebenberuflich  einen  anderen  Beruf  als  wie  Landwirtschaft 
ausüben.  Es'  sind  das  50,24  Proz.  aller  Hctriebsleiter,  also  1895  er- 
heblich mehr  wie  1882.  Die  Zunahme  ist  ^ruiz  übrrwieL^end  auf 
Rechnunnr  des  Hauptberufs  zu  Stellen,  da  die  Zahl  der  von 
selbständigen  Landwirten  ausgeübten  Nebenberufe  seit  18S2  im 
ganzen')  nur  um  1 14452  gestiegen  ist.  Ks  kami  also  kein  Zweifel 
darüber  bestehen,  dai"s  1895  die  Landwirtschaft  in  nodi  weit  höhcrem 
Mafsc  von  anderen  Berufen  aus  hctriel)en  wird  als  1882.  Noch  viel 
me!ir  Inhal )cr  von  bandwirtschaftsbctrieben  haben  sich  nuimiehr 
nicht  ruir  mit  ihrem  Nebenerwerb  .sondern  mit  ihrem  Hauptberuf 
nicht  zur  Landwirtschaft,  sondern  zu  einem  anderen  Beruf  bekannt. 


'j  EinschUcfülich  der  Nebenberufe  iu  der  LandwirUchafl  selbst. 


^^t)  H.  Rauchberg, 

Die  berufliche  Bedeutung  der  Landwirtschaft  geht  also  zurück,  nicht 
nur  im  Verhältnis  zur  Berufsgliederung  des  ganzen  Volkes,  sondern 
auch  innerhalb  des  engeren  Kreises  der  Inhaber  von  Landvirt* 
schaftsbetrieben.  Es  ist  jedoch  höchst  fraglich,  ob  das  zujrleich  eine 
Einbufse  an  alli^cincincr  Geltung  bedeutet.  Driiv^cn  doch  spe/.ifl-ch 
landwiiisch.ifilichc  Interessen  immer  mehr  in  jene  anderen,  auf- 
blülieiuk'ii  Hcrufc  ein,  unter  deren  An«^chörigcn  die  Inhaber  der 
Landwirtschaftsbetriebe  sich  vermehrt  haben. 

Hat  man  1895  darauf  verzichtet,  die  mit  dem  I^ndwirtschafts- 

betrieb  verbundenen  andcrw  l  itiujen  Haupt-  iniil  Nebenberufe  zu  er- 
mitteln, so  sind  d.ifür  die  landwirtschaftlichen  Nebenbe* 
triebe  aus  den  Ergebnissen  der  ( Tewerbezähkni;^^  mit  horan<^ezogcn 
worden  zur  Kennzeichnung  auch  der  landwirtschaftlichen  Betriebs- 
Verhältnisse.  N'ur  solche  Gewerbe  konnten  dabei  berücksichtigt 
werden,  für  die  nach  den  Hestimmun^a*n  der  (lewerbezahlun^  de- 
werbebogen  aiis^^cstcllt  worden  waren.')  Auf  solche  Weise  sind 
ermittelt  worden: 


350  Betriebe  mit  Zuckerfabriken  gegenflber  456  Zockerfabriken  ' 
5922      „       „   Branntwdnbreimereien  „      10950  Braimtwein» 

breimeieten 

439  >t   Stärkefabriken  „  578  Stärkefabriken 

4709S      t,       „   Getreidemühlen  „       52389  Getreidemühlen 

9255      „       „   Bierbrauereien  „      ^3233  Bierbrauereien 


mich  Aiu- 
weis  der 

Gewerbe- 
statistik. 


Demnach  sind  von  je  1000  Landwirt-charisl;cti  leben  O.I  mit 
Znr'kci  fabriki-  a ,  1,1  mit  Hranntweinbrennct  eien ,  0,1  n]it  Stfirkc- 
fabriken,  ^,5  mit  ( ietreidemühlcn  und  1,7  mit  Bierbrauereien  ver- 
bunden. Nicht  minder  charakteristisch  ist  für  die  betreffenden  Gc- 
w^erbezweige  ihre  Verbindung  mit  dem  Landwirtschaftsbetrieb. 
Diese  wurde  festgestellt  för  76,7  Proz.  der  Zucker&briken,  54,1  Proz. 
der  Branntweinbrennereien,  74,2  Proz.  der  Stärkefabriken,  90,0  Proz, 
der  Getreidemühlen  und  69,9  Proz.  der  Bierbrauereien.  Liegen 
diese  Gewerbe  also  ganz  überwiegend  im  Bereiche  der  landwirt- 
schaftlichen Interessensphäre,  so  haben  doch  die  verschiedenen 
Grölsenklassen  der  Landwtrtschahsbetricbe  einen  sehr  ungleichen 
Anteil  daran.  Denn  es  entfallen  auf  die  nebenbezeichneten  Gröfsen- 
klassen  von  je  100  landwirtschaftlichen  Betrieben  mit 


'j  Vgl.  die  bezügliclisn  Austühninjjcn  im  XIV.  Bd.  dieses  Archivs  S.  258  fif. 


j  i-  oj  by  Googlcf 


Die  Landwtrtscbaft  im  Deutschen  Reich. 

■ 


Zucker- 

Branntw«'in- 

Stärke- 

(ictrcide- 

Bier- 

Gröfsenklas.sen 

fabriken 

brennerciea 

fabriken 

inühlen 

brauereien 

unter  2  ha 

44,oo 

11.63 

i8.7§ 

•7.73 

2  ha  bis      5  ,. 

0.72 

6.55 

6.6  [ 

24, 1 5 

18,57 

5     .1     n       20  „ 

14.80 

10,25 

44.30 

41,86 

30    „    „    lOO  „ 

9Jt 

17.60 

11,29 

19,70 

lOO  „   und  darüber 

21,71 

46,64 

62,41 

a,»4 

Der  Zusammenhang  zwischen  den  oIkmi  hozcichnctcn  Gewcrbe- 
nrtcn  und  den  Gröfscnklnsscn  der  Landwirtschaftsbetriebe  ist  insofern 
kein  ganz  klarer,  al.s  durchau.s  nicht  immer  die  Landwirtschaft  die 
Hauptsache  und  das  Gewerbe  der  Xebenbetrieb  ist,  sondern  häufig 
wohl  auch  das  um^^ckehrte  Verhältnis  platzgreift.  So  insliesonderc 
bei  tlcn  Zuckerfabriken,  die  nicht  gerade  mit  landwirtscliafthchcn  » 
Grofsbelriebcn  verbunden  sind,  so  auch  bei  den  Bierbrauereien  auf 
l'arzellcnlietriebcn.  Hiervon  abgcsclicn,  stehen  (.TCtreidemülilen  und 
Bicrbraut  reien  vorzugsweise  mit  mittleren  und  kleineren  Landwirt- 
schaftsbetrieben in  W^rbinckmg ,  Stärkefabriken  und  Branntwein- 
brennereien mit  landwirtschafthchen  Grofsbetrieben. 

.Aul^er  den  erwähnten  landwirtschaftlichen  Xebengewerberi  wurden 
in  \'eii)indLnig  mit  der  Hctriebs/ählung  aucli  noch  ermittelt  der  Anbau 
\()n  Ruhen  zur  Zuckerfabrikalion  und  von  Kartotteln  zu  Brennerei- 
zwecken oder  zur  Stärkefabrikation,  ferner  der  Betrieb  von  Milch- 
handel  oder  Molkerei. 

Rüben  zur  Z  u  c  k  e  r  f  a  b  r  i  k  a  t  i  o  n  winden  \'on  113  244  Be- 
trieben, 2,04  I'ruz.  aller  Betriebe,  auf  einer  Fläche  \on  391  289  ha 
ge!)aut,  Kartoffeln  zu  Brennereizwecken  oder  zur 
St ä  r  k  c  fa  b  r  i  k  a  t  i  o  n  von  14023  Betrieben  oder  0,35  Proz.  aller 
Betriebe.  Nach  ( irofsi  nklassen  der  Betriebe  verteilen  sich  diese 
Kulturen  folgendermalsen : 


Auf  die  <  inzfln<ni  Grofsen- 
Anbau  von  kla&sen  cntlallen  von  je  lOO 

^rufsenklasscn     Kuben  2ur  Zucker»       Kar-  Betrieben 


fabrikation 

tofTeln 

mit  Zucker- 

mit 

Uber« 

Betriebe 

Rflbenfl.  ha 

rüben 

Kartoffeln 

baupt 

unter  2  ha  10781 

3781 

56$ 

9.S« 

4*03 

58,^3 

2  ha  bis     5   „    21 413 

12693 

947 

18,91 

6,7S 

18,28 

5   it   1»     20   „  47I4S 

48213 

3023 

41,63 

21,56 

1797 

20   „    .,    100    ..  26643 

97782 

4293 

2303 

30,61 

5.07 

100    „    unii  tl.irlil'.'r      7  263 

233  S20 

5  »05 

6,41 

37.o; 

Of45 

itn  ;:.uui  !i  1 1 3  244 

396  2S9 

14023 

100 

100 

100 

Archiv  für  «o/.  Cieset/gebung  u. 

SutUtik.  XV, 

38 

.  j  _  ^  y  Google 


57» 


II.  Rauchhcrü, 


Aus  den  X'crhältniszahkn  erhellt,  dal's  die  Produktion  von 
KartofTeln  zu  Brennerei? wecken  hauj)tsäclilich  Sache  der  GrolM>e- 
triebe  ist.  Die  I\ii!)eii]irodukti<)n  tritt  zwar  in  den  ci^rentlichen 
Hauernwirtschalten  anteilsweisc  am  meisten  hervor;  hinsichtlicli  der 
Anbaullii(  In  sind  ihnen  aber  in  dieser  Hinsicht  die  Groisbetricbe 
bedeutend  uh(  rle;.;en. 

Was  endlich  die  Fra^^'c  nach  dem  Milchhandel  nder 
M  ( >  1  k  e  r  e  i  b  e  t  r  i  e  b  aiibelaiv^t,  so  ist  die  la  hehuiiL^  iu)  .ill^riiu  iin  n 
milslunt;en,  vujd  i>t  die  Bearbeitung^  der  Daten  auf  (irutid  .s]K/icllcr 
l'eberpriifun;^  nur  für  die  <  Vte  mit  iibcr  5000,  also  von  überwieL^'cnd 
städtischem  (  iiaraktcr.  (hm  ij^;cführt  worden.  Hierfür  w  urden  41930 
derani*;e  Betriebe  mit  215S71  Kühen  ermittelt,  <;anz  überwiegend 
den  unteren  Gröfscnklassen  angehörig.  6718  Betriebe  waren  nur 
mit  I  Kuh,  10338  mit  2  Kühen  daran  beteiligt.  Im  Durchschnitt 
treflfen  etwas  mehr  als  5  Kühe  auf  einen  Betrieb.  Groüsartig  ist 
die  Beteiligung  an  den  Molkereigenossenschaften  und 
Sammelmolkereien.  Eine  solche  wurde  von  148082  Betrieben 
oder  2»66  Proz.  aller  landwirtschaftlichen  Betriebe  und  zwar  för 
1 082  946  Kühe  angegeben.  Ueber  ein  Drittel  dieser  Betriebe  sind 
eigentliche  Bauernwirtschaften  mit  5  bis  50  ha  landwirtschaftlicher 
Flache.  Oertlich  am  meisten  ausgebreitet  ^nd  die  Molkerei- 
genossenschaften in  Schleswig-Holstein,  Hannover  und  Württembeig; 
diese  Gebiete  umfassen  allein  mehr  als  die  Hälfte  aller  an  den 
Molkereigenossenschaften  beteiligten  Betriebe. 


Bcsontlerc  Sorj^^falt  ist  i)ei  der  landwirtschaftliehen  Bctrici^s- 
erhebuni^  \'on  1S05  auf  die  Ermittelun<,f  der  B  e  s  i  t  z  v  c  r  h  ä  1 1  n  i  s  s  c 
viTWcndct  worden.  Hatte  man  sich  18S2  in  dieser  Hinsicht  tlarauf 
l)eschrankt,  die  Bclriefie  mit  Pachtland  be>onilers  auszuweisen,  so 
sind  1895  die  in  der  naclistehenden  l  ebersiciit  angeführten  feineren 
Unterscheidungen  getrohen  worden  : 

\'on  den  5558317  Landwirtschaftsbetrieben,  auf  die  unsere  Er- 
hebung sich  erstreckt,  haben 


III.  Die  Besitz  Verhältnisse. 


Betriebe 


ausschlicfblich  eigenes  Land 

aii-scMiefslich 

im-lir       \     ^  .  F 

1  als  zar  Hälfte 


absolut 
2260990 


Prosent 
40,68 
«6.43 


weniger  J 


Pachtland 


9  !  2  f»?9 

I  i(>0  943 


^».59 
20,8^ 


j  _  d  by  Googl 


l>ic  Landwirtschaft  im  Dcutsclicn  Reich. 


579 


Betriebe 
ah>olut  Prozent 
ausschlictislich  )  g'gen  Krtra^aantcil  bcwirtscbaf»     10034  o.iS 


} 


teilweise         f     tdtM  Land  .  28362  0.51 

au:>»chlicülich  \  36U343  6,50 

....  >  Oepatfttland 

teilweise         |       *^  9*245  1,66 

auäijclilicblich  \  .  6;o6S  1,13 

....  1  Dienstluid  ^ 

teilweise  j  40032  0.83 

auaschliclslich  \  ,        ^  ,       '  12 667  0,23 

^      .  }  Anteil  am  Gerne indeland 

teilweis«         /  370166  6,66 

Die  Verteilung  der  Gesamtfläche  der  landwirtschaftlichen  Be- 
triebe im  Ausmafs  von  43  2S4  742  ha  auf  diese  Kategorien  ist  die 
folgende: 

absolut  ha  Proz. 

«i^'.ii.  s  Land  *  37270380       86,  tl 

Pacbtland  5360041  12,38 

gegen  Ertragsanteil  bewirtschaftetes  Land        48735  0,11 

Depatatlaud   159776  0,37 

Dtcnstland   377713 

Anteil  an  Gemeindeland   168097  0,39 

Wie  von  vornherein  nicht  anders  zu  erwarten,  nimmt  die  Eigen» 
Wirtschaft  den  breitesten  Raum  ein.  Zwar  bebauen  nur  40,68  Proz. 
aller  Betriebe  ausschliefslich  eigenes  Land,  aber  von  der  Gesamt- 
fläche aller  Betriebe  macht  es  86,11  Proz.  aus.    Immerhin  ist  die 

Thatsache  bemerkenswert,  dals  unter  je  1 00  Betrieben  59,32  fremdes 
Land  neben*  dem  eigenen  oder  ausschliefslich  bewirtschaften.  Die 
ganz  überwiej^cndc  Mehrzahl  derselben,  2607210  oder  46,91  Proz. 
aller  Iktriebe,  sind  Pachtbetriebe,  und  zwar  überwiegen  unter  diesen 
wieder  diejenigen,  welche  neben  dem  eigenen  auch  noch  dazu- 
gepachtetes  Land  verwenden. 

Ueber  die  geographische  Gestaltung  der  hier  erörterten  Ver* 
hältnisse  soll,  soweit  dies  ohne  breilere  tabellarische  Unterlassen 
durchführbar  ist,  die  nachstehende  Uebersicht  Auskunft  erteilen.^) 


')  Die  Zahlen  verdanke  ich  der  oben  angemerkten  Bearbeitung  von  K  oll  mann 
«.  a.  O.  S.  139. 

38» 


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58o 


II.  Kauclibcrg, 


Von  je  too  Betrieben     Von  je  loo  ha  der 
haben  Gesamtfläche 


Gebietsabschnitte 

aussrlilicfsl. 

auss<lili<fbl. 

s  i  n 

d 

eigenes 

oder  teilweise  ge- 

cigoue:> 

gepachte 

Land  ■ 

pachtetes  Land 

Land 

Land 

Oestliches  Deutschland  .  . 

40,13 

36.02 

86.48 

11,71 

Nr>ri1\v<--t(l<'Ut>rlil.ind      .  . 

3». 50 

65.27 

S2.7S 

16,30 

Mittrli|r-utM-lil:Uui  .... 

36,90 

54.«7 

«^.39 

i6.;8 

Miltclwcittdeutbchland    .  . 

36,20 

57-74 

78.63 

19.20 

Südwestdeutschland  .   .  . 

41.38 

47,00 

86,13 

11,89 

Südost-Deotschland  .   .  . 

62.07 

26,58 

95.44 

$AS 

im  ganxen  . 

40,68 

46,9» 

86,11 

12,38 

Der  Südosten  ist  das  Gebiet  der  ganz  überwieg^enden  Eigen- 
bewirtschaftung. Insbesondere  in  Bayern  lassen  die  geschlossenen 
Bauernhöfe  keinen  Spielraum  för  Pachtbetriebe;  66,59  Proz.  der 
Betriebe  und  93,82  Proz.  ihrer  Fläche  bestehen  daselbst  aus  eigenem 
Land.  Aber  auch  in  Sachsen  und  Württemberg,  um  nur  die  gröfseren 
Staaten  zu  nennen,  hält  sich  der  Eigenbetrieb  weit  über  dem 
Reichsdurchschnitt  Hingegen  ist  der  Norden  und  Westen  das 
Hauptgebiet  der  Pachtbetriebe.')  Sie  erreichen  in  Mecklenburg- 
Strelitz  mit  58,45  Proz.  der  Betriebe  und  43,14  Proz.  der  Fläche 
ihre  weiteste  Verbreitung.  Dafs  die  Deputatbetriebc  und  Dienst* 
ländereien  hauptsächlich  in  der  Arbeitsverfassung  des  Ostens  eine 
wichtige  Rolle  s|»iclen,  ist  bekannt  und  ncucrdinp^s  durch  die  l'ntcr- 
suchunj^jen  des  Vereins  für  Sozialpolitik  klargestellt  woidc;  .-) 
Wirtschaft  auf  Ertragsanteil  ist  insbesondere  in  Mittelwcstdcutscliland 
üblich,  während  die  Bewirtschaftung  von  Gemeindeland  am  liäuhg- 
Sten  im  Süden,  dann  aber  auch  im  Rheinland  \orkomint. 

Kin  \'ep_^Icii  h  mit  den  Ergebnissen  von  1882  ist  nur  hinsicht- 
lich des  Paciul  iiuics  möglich.  Damals  wurden  im  gan/,t  ii  2^r2Sr)i) 
Pachtbetriebe  ermitlelt,  darunter  829  1 37  reine  Pachtbetncl>c,  k  rncr 
546957  Betriebe,  die  mehr  als  zur  Hälfte  aus  Pachtland  bestanden, 
und  946  S05  Betriebe,  in  welchen  das  l'achtland  nicht  die  Hälfte 
der  Betricbsflärhc  nusmachte.  5  1 73  122  ha  oder  12,9  Proz.  der 
(icsanUilachc  cnthcU  n  auf  das  Pachtland.  Danach  haben  die 
I'achtbetricbc  1S82 — 1S95  um  284  311  fider  12,34.  die  Pachtdächen 
aber  nur  um  1 8691 9  ha  oder  3.61  Pro/,  /ugenommcn.    rrui/dcm  die 

'1  L  i-lxT  den  Zusamni.'iili.iiif;  nut  «li-m  Itoil/,  dc^  St.uits-  und  der  üfieutlicb- 
rechilii  li-n  Kurporationen  vgl.  Kolinianti  a.  a.  *..>.  S.  141. 

*)  V^l.  darüber  insbes.  die  ausgezeichnete  Bearbeitung  von  Mas  Weber,  Enl- 
▼icklungstendenzen  in  der  Lage  der  ostelbiscben  Landarbeiter,  in  diesem  Archiv, 
Bd.  VII,  S.  t  f. 


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Die  Landwirtschaft  im  Deutschen  Reich. 


581 


Zahl  der  Betriebe  ohne  Pachtland  seit  1882  um  2338  sich  ver- 
mindert hat,  erscheint  deren  bewirtschaftete  Fläche  nunmehr  von 
35005559  auf  37924701,  also  um  8,34  Proz.  erweitert  Nun  ragen, 
wie  die  Ucbersicht  auf  S.  578  f.  erkennen  läfst,  unter  den  Betrieben 
ohne  PachtlaiKi  die  Eigenbetriebe  sowohl  der  Zahl  als  auch  ins- 
besondere der  Fläche  nach  so  außerordentlich  hervor,  dals  wir  fast 
den  ganzen  Zuwachs  au  Fläche  für  dic>c  letzteren  in  Anspruch 
nehmen  können.  Es  besteht  also  kein  Zweifel  darüber,  dafs  die 
Flächenausstattung  der  Eigenbetriebe  zugenommen  hat  und  dais 
demnach  eher  eine  Tendenz  zur  Erweiterung  als  wie  zur  Ein- 
schränkung der  B  e  s  i  t  z  einheiten  vorhanden  ist.  Da/u  komirit  noch, 
dafs  ja  auch  ein  grolser,  wenngleich  zitiernniälsig  nicht  näher  be- 
siiniinhnrer  Teil  der  l'a<  htlläche  den  Besitzern  anderer  Betriebe  in 
ilir  Kigeiituni  einzurerlmen  i>t.  Allerdini;>  bleibt  es  fraglich,  welchen 
Anteil  an  ilieser  BeweLjuiiL:  die  schon  früher  erörterten  formalen 
X'erscln'cbungen  haben.  ')  auf  welche  die  erhöhten  .Angaben  über 
die  Bell  icbstläche  übei  iiaupt  zum  guten   Teile  zurück/ Litulu  cn  sind. 

Genaueren  Kini)liek  in  dii-  wirlsehafllichc  und  soziale  Bedeutung 
der  hier  erörterten  üesitzkalcgorieii  erlangen  wir  erst  durch  die 
Kombination  mit  den  Gröfsenklassen  der  Betriebe.  Was  zunächst 
die  Eigen-  und  die  Pachtbetriebe  anbelangt,  so  haben  von  je  lOO 
Betrieben  jeder  Grofsenklasse: 

im  Jahr  1895  i88a 


ausscUiefs- 

ansscbliefs* 

mehr 

welliger 

ttber- 

überhaupt 

GröfscB»        lieh  eigenes 

lieh 

ab  zur  Hälfte 

hanpt 

Pacht- 

kla^^t-n Land 

Pachtland 

land 

uulcr  2  hä.  31,18 

25,68 

11,65 

»4,32 

5^65 

49,94 

2  ha  bis     5   „  43,6» 

35,49 

49,55 

44,79 

5       „     90  „  58,51 

1,97 

5,«o 

>8.84 

35,91 

31.44 

20   „   „    100   „  74,06 

3,54 

2.91 

!6. 17 

21,62 

100    „    u.  fhirüb.  r  6t,.<q 

10.02 

4.<X) 

12"' 

36,77 

im  ßan/.<  n      40. oS 

9..S9 

20. S9 

40.91 

44,02 

Und  es  sind  von  je  lOO  ha  der  (resanufläche  jeder  Grölsenklasse: 

i  m 

Jahr 

I  S  n  ; 

1882 

Grolscnklassen 

eigeoes  Land 

Pachtland 

Tachtland 

unter  2  ha 

65,2a 

24,79 

27,71 

2  ha  bis     s  „ 

81,23 

15.93 

14,61 

5  »I  ti  1* 

90,55 

8,17 

7,aS 

20  ,,       100  ,, 

91.98 

7.30 

7.09 

100    „    Uliti  iljrüb'T 

80.45 

10,18 

22.39 

tni  ^anzou 

Sö,i  t 

12,38 

'12,88 

'}  Vgl.  ob«u  S.  561  f. 


582 


H.  Rauchlicrg, 


Die  Häufigkeit  und  Flächenausstattung  der  Pachtbetriebe  steht 
demnach  im  allgemeinen  in  umgekehrtem  Verhältnis  zu  den  Grölsen* 
klassen.  Und  umL^i-Kchrt :  je  '^rofser  die  Betriebe,  desto  eher  ist  es 
niciji^lich,  sie  auf  ciL;enes  Land  zu  beschränken.  Kiiie  Ausnahme 
bildet  die  oberste  Gröfscnstufc  -  lOO  ha  und  dariil)er  — ,  welche 
verhältnismafsig  s^L^ar  mehr  Paelnlaiifi  benutzt,  wie  die  Kleinbetriebe. 
Darin  äiifsert  "^ieli  der  iunflurs  der  Kitter«;utsi)ar!iimVj^en  im  Norden 
und  Osten,  welche  /war  der  Zahl  nach  nicht  auHalhj:^  hervortreten, 
für  die  X'erteilun^  der  I*"Iärhen  narii  Besitzkate«;orien  in  manchen 
(  jebicten  aber  ^aTadezu  enlscheiilend  sind.  .*^o  entfallen  in  .Mecklei  - 
bur^f-.Schwerin  7?  4')  l'roz.  der  »^esamteii  l'achtfiächc  auf  die  Grörsen- 
klassr  \on  loo  ha  und  darüber,  in  der  Provinz  Posen  74,59,  in 
Ponnnern  68,09,       ( )st}>rcurscn  63,^^0  Proz. 

Im  \'erhältnis  zu  den  Krc^ebni^^en  \on  l<SS2  haben  die  Pacht- 
bctrielte  in  sämtliclu  n  GrölsenkateLuirien  sowohl  absolut  wie  auch 
anteil>wcise  der  Z.ihl  nach  zuj:;en<)nMne!i.  I)er  I  hn  he  nach  haben 
sie  zwar,  mit  Aufnahme  der  Grolsbetriebc,  absolut  L^leichfalls  zu- 
genommen;') verhältnismafsig  aber  sind  die  Prozentanteile  des 
Pachtlandes  in  der  Katci^orie  sowohl  der  Parzellen-  als  auch  der 
Grofsbetriebe  zurückge^^an^^en.  Allerdings  ist  das  mehr  eine  Reflex- 
Wirkung  der  Veränderungen  in  der  Flächenausstattung  der  Eigen* 
betriebe,  weshalb  hier  nicht  so  sehr  die  Verhaltniszahlen  als  viel- 
mehr die  unten  angemerkten  absoluten  Zahlen  als  maf^ebend  be- 
trachtet werden  müssen.  Aber  auch  nach  den  absoluten  Zahlen  ist 
die  Fachtfläche  der  Parzellenbetriebe  eigentlich  unverändert  ge- 
blieben, jene  der  Grofsbetriebe  ist  um  184  91 2  ha  zurückgegangen 
und  die  Erweiterung  ist  hauptsachlich  den  kleineren  und  mittleren 
Bauernwirtschaften  zu  statten  gekommen,  die  auch  der  2^hl  nach 
die  gröfsten  Fortschritte  aufweisen.  Wir  sehen  also,  dafs  sich  auch 
die  Entwicklung  der  Pachtbetriebe  der  allgemeinen  Bewegungs- 
tendenz einfügt,  wonach  die  Bedeutung  der  mittleren  Wirtschaften 
den  Parzellen-  und  Grol'sbetrieben  gegenüber  gehoben  erscheint 

■)  Es  betrog  die  in  Pacht  bewirtschaftete  Fläche  in  ha 


Gröfsenklassen 
unter  a  ha 


1S95 
598851 
659894 
1024S81 

<)6o  200 
2  11(>2I5 


1882 
598297 

559995 

833  U3 

880  ;6o 


100 


und  darüber 


2301  127 


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Die  I.MindwirU>chaft  im  DcuUclicn  Reich. 


Wenn  diese  Bewegung  bei  den  Pachtbetrieben  sogar  noch  dcut- 
hcher  zutage  tritt  als  bei  den  Kigcnbctricbcn,  so  erklärt  sich  das 
daraus,  dal's  hier  die  Eigentumsverhältnisse  retardierend  wirken, 
wohingegen  die  Verpachtung  eben  eine  Handhabe  bietet»  um  die 
Belriebsverhältnisse  ohne  Aenderung  im  Eigentum  in  einer  den  wirt- 
schaftlichen Bedüffnissen  entsprechenden  Weise  umzugestalten. 

Was  endlich  noch  die  anderen  Besitzlcategorien  anbelangt  so 
ist  die  —  im  a%emeinen  wenig  belangreiche  —  Bewirtschaftung  gegen 
Ertragsanteil  häufiger  bei  kleinen  als  bei  gröfseren  Betrieben.  Als 
Deputatland  und  Dienstland  werden  ganz  überwiegend  Parzellen- 
betriebe bewirtschaftet  So  bestehen  11,05  Prco.  aller  Parzellen- 
betriebe  ausschliefslich  und  2,64  Proz.  teilweise  aus  Deputatland 
und  es  entfallen  in  diesen  Gröfsenlcategorien  $,^4  Proz.  der  Flache 
auf  das  Deputatland. 

Hingegen  kommt  die  Benutzung  von  Gemeindeland  hauptsäch> 
lieh  den  kleineren  und  mittleren  Bauernwirtschaften  zu  statten. 

Es  haben 

von  100  ha 


»OSScMirf'-Üih 

tfihvriNC 

von  je  100  Ht-trieben 

der  ( le'^amt- 

in  der 

Gemeint! 

c  1  ü  u  U 

ausächliclV 

teil- 

(läche sind 

Grofsenklasse 

Betriebe 

lieh 

weise 

Gemeindeland 

unter  2  ha 

13519 

160662 

0.39 

4,96 

3,03 

a  ba  bis     $  „ 

74 

130031 

0,01 

11,81 

«,«5 

5      »»     T»  1» 

64 

79353 

ox>i 

7,93 

0,41 

20  „  „   100  „ 

8 

9917 

0.00 

3,5a 

0,11 

100  „  und  darttber 

2 

303 

0,01 

1.21 

0»03 

fan  ganzen 

13667 

370166 

0,33 

6,66 

0.39 

Iii  Krgänzung 

zu  tlicscn  .^ 

ingaben 

ül>cr  dit 

intli\  iiluf 

llc  Nutzung 

von  Gemeindeland  ist  in  der  Landwirtschaftskarte  auch  der  Anteil 
an  gemeinsamer  Nutzung  von  ungeteilter  Weide  oder  von  un- 
geteilter Waldflache  erfragt  worden,  die  im  Besitz  einer  Gemeinde 
oder  Korporation  stehen.  Endlich  ist  versucht  worden,  direkt  bei 
den  Gemeinden  den  Allmendbesitz  zu  gemeinsamer  Nutzung 
sowie  an  aufgeteiltem  Land  zu  ermitteln.  So  interessant  und  wichtig 
die  Feststellung  des  Allmendbesitzes  sowie  der  Nutzungsverhält- 
nisse auch  wären,  so  stehen  ihr  doch  sehr  erhebliche  Schwierig* 
ketten  entgegen.  Denn  es  handelt  sich  dabei  um  die  Scheidung 
der  Allmend  von  dem  Kammergut  der  Gemeinden,  dann  um  den 
Unterschied  zwischen  der  gemeinsamen  Nutzung  von  Allmendland 
und   gewissen  Weide*   und  Forstservituten  an  herrschafitlichem, 


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584 


11.  Kauchbcrg, 


Staats-,  Gemeinde-  oder  sonstigem  ofTentltchen  Korporationsbesitz, 
Unterscheidungen,  die  den  befragten  Gemeinden  nicht  immer  ge* 
läufig  sind.  Ja  selbst  die  Verwechslung  von  Gemeindeland,  das 
zu  persönlicher  Nutzung  aufgeteilt  ist,  mit  Deputat-,  Dienst* 
oder  Pachttand  ist  nicht  ausgeschlossen.  W^aussetzun^r  für  das 
Gelingen  der  P'rliebung  ist  es  also,  dafs  die  rechtlichf  Natur  der 
bezii^Iiclieti  Hcsitz-  und  .\utzunL,fsverhältnisse  klarcjestcUt  werde. 
Das  ist  aber  bei  einer  bloü  ;<  legenllichen  rmfraj^c  im  Anhange 
an  eine  grofse  anderweitige  Aufnahme  unthunlich.  Nur  eine  Spezial- 
erliebung  könnte  damit  zurechtkommen. 

Es  ist  daher  nicht  zu  verwundern,  wenn  (Hcser  Teil  der  Er- 
hebung, wie  auch  das  Zählungswerk  zugicbt, ')  nian^eiliaü  ausLjc- 
falleii  ist,  weüii  auch  i^.icht  so  sehr,  (lafs  auf  die  Bearbeitung  und 
Darstellun-  der  KrL;cbnisse  hätte  verzichtet  werden  müssen. 

ts  wurde  AUniendbesitz  ermittelt: 


mit  ongetcilter  W«ide 
mit  aageteiltem  Wald 
mit  aofgcteiltcm  Land 


7M  <!er 
Gcmoiniicn 

.  12386 
8560 


llu  lu-  lia 

44" 
1340160 


Z:ihl  (It-r  nutzuDgs- 
biTcchtigten  Betriebe 

429  468 

510846 


3643091  382833 

Die  Betriebe,  die  zur  Nutzung  an  ungeteilter  Weide  oder  un* 
geteiltem  Wald  berechtigt  sind,  voteilen  sich  folgendermafsen  auf 
die  einzelnen  Gröfscnklassen : 

In  jeder  Grölscnklassc  haben  .\nteil  an  gemeinsamer  Nutzung  von 


Weide 

Waldllächc 

Wolde 

WaldHäche 

Gröfscnklassen 

absolut 

▼CO  je  100  landwiitschafto 

lidien  Betrieben 

unter  t  ha 

153539 

»77*95 

4.74 

5.48 

2  ha  bis     5  „ 

107408 

145236 

10.57 

»4,29 

5  »1  »»    20  „ 

135376 

158022 

«3,55 

15,82 

ao  „   „  100 

32548 

29  726 

1 1.55 

»0,55 

100    1,    und  dariibi-r 

607 

2,42 

2,26 

im  {^aiucn 

429  4()S 

5  10  S^o 

7.73 

9.19 

V.'i  sind  also  ^^ln/  überwiej^^end   bauerliche  Wirtschaften  und 
zwar  vorzugsweise  solche  mittleren  Ümiangs,  welchen  die  Nutzung 

0  S.  43.» 

*)  Von  den  Natzungsberecbtigten  selbst  sind  nur  168097  ^      Anteil  am  Ge> 

meindcland  angegeben  wordrn.  Der  Unterschied  erkKHrt  sich  teils  aus  IrrtUmem 
über  die  rcchtliclic  Qualität  d'-r  I  x  trctTmiien  Parzellen,  teils  datans,  dafs  manche  Lose 
sich  im  Besitz  der  Gemeinde  selbst  belinden. 


j  _     by  Goog 


LauUwiriachait  im  Deutschen  Reich. 


58S 


am  AHmendgute  vorzugsweise  zusteht.  Die  geographische  Ver- 
breitung desselben  ist  je  nach  der  Gesetzgebung  über  die  Gemein- 
heitsteilu Ilgen  in  den  einzelnen  Staaten  und  Gebietsabschnitten  sehr 
verschieden.  In  den  alten  preuisischen  Provinzen,  sowie  überhaupt 
im  Norden  und  Osten,  sind  die  Allmenden,  soweit  sie  überhaupt  - 
neben  der  gutsherrlichen  Verfassung  Bestand  hatten,  durch  jene  Ge- 
setzgebung der  Hauptsache  nach  beseitigt  worden.  Hingegen  haben 
sie  sich  im  Rheinland  und  Hannover,  hauptsächlich  aber  im  Süden, 
in  Bayern,  Württemberg,  Baden  und  Elsa(s>Lothringen  erhalten. 

IV.  Die  Bodenbenutzung. 

In  landwirtschaftlich-technischer  Hinsicht  sollten  die  Betriebe 
gekennzeichnet  werden  durch  die  Angaben  über  die  Benutzung 
der  landwirtschaftlichen  Fläche,  über  den  Viehstand 
undüberdieVerwendunglandwirtschaftlicherMaschinen. 

Was  zunächst  die  Benutzung  des  Landes  anbelangt,  so 
wurden  von  der  Gesamtfläche  der  landwirtschaftlichen  Betriebe  im 
Ausmafse  von  43284742  ha  benutzt 


ha 

Prozent 

32  062  49 1 

74,08 

329  34  1 

0,76 

:\\-  WoUij^.irttrii  odiT  Weinberg    ,  . 

126  109 

0,29 

forstwirtschaftlich  'l  

7582276 

»7.52 

erübrigen  als 

2256786 

5.21 

927  739 

Vergleich  mit  den  Ergebnissen 

von  1882 

betrug 

1895 

1882 

t»  landwirtsclKiftliih  benutzte  Fläche 

32517041 

e  torstwirtschalthch       ,,  „ 

7582276 

4  95 1  97 ■ 

die  sonstige  Fläche  -)   31 84 525  3  357  734 

Das  hervorstechendste  Ergebnis  ist  die  Zunahme  der  Wald- 
fläche.   Die  rein  formalen  Ursachen  davon  sind  schon  früher  dar- 

*)  Rechnet  man  noch  dun  die  mit  6l43654hft  bezifferte  Fläche  der  reinen 
Fontbetriebe,  90  «tdU  sich  die  fontwiitsdwAlkh  bcnntite  Flidie  im  gMuen  auf 
13  7*5  930  ha,  und  bebtet  mehr  als  ein  Viertel  des  kmd-  oder  fontwirtschaAlich 
benntsten  Gebiets. 

*)  dnschlierslieh  Oed«  oder  Vnhnd. 


j85  Kauchbcrg, 

gethan  worden.*)  In  auflallendem  Gegensatz  dazu  steht,  dats  die 
Betriebe  mit  Waldland  von  968947  auf  931 834«  also  um  3,8  Proz. 
zuruckg^angen  sind.  1882  machten  sie  18,36,  1895  nur  noch 
16,76  Proz.  aller  landwirtschaftlichen  Betriebe  aus.  Hingegen  haben 
die  Betriebe  ohne  Waldland  um  74  Proz.  zugenommen.  Ob  diese 
Verschiebung  aus  grösserer  Intensität  der  Bewirtschaftung,  oder  ge* 
Steigerter  industrieller  Verwendung  der  Holdi^tände  zu  erklären, 
oder  als  ein  S>'mptom  der  Notlage  mancher  Waldbesitzer  zu  deuten, 
oder  endlich  rein  formal  auf  die  fortschreitende  Zusammenfassung 
kleinerer  Besitzeinheiten  zu  einheitlicher  Bewirtschaftung  zurück- 
zuführen ist,  miifs  dahingestellt  bleiben. 

Nach  Grölscnklassen  war  die  Verteilung  der  Kulturen  die 
folgende : 

Von  je  100  ha  der  Gesamtfläche  jeder  Größenklasse  wurden 
benutzt 


G  röfsen* 

landwirt- 

(järttif 

als 

Uborliaupt  forstwirt- 

Oed-  u. 

sonstige 

klassen 

scbaftlidi 

riscb 

Wein- 

latulwirt- 

Unland 

Fläche 

berg 

M-lialtlicl» 

licli 

unter  2  ha 

60.25 

4,10 

'-50 

74, S5 

17,10 

4.52 

3 

ha  bis      5  „ 

77.12 

1,22 

0,99 

79,33 

13,20 

4,97 

2.50 

5 

H   »»  11 

76,61 

0,63 

0,30 

77,54 

14,76 

6,13 

«,57 

ao 

II    t>     iOO  n 

74,5« 

0,33 

0,07 

75,0a 

16,70 

6,87 

Ml 

100 

„   tt.  darüber 

70,58 

0.39 

0,02 

70,99 

23.34 

2,66 

3.01 

im  ganzen 

74,08 

0,76 

0,29 

75»  »3 

17.52 

l'ur  die  ( Te.staltunL; 

der 

W'rhältni.Nzahlen 

sind  in  erste 

r  Linie 

die 

Ziffern   über  das  W 

aidla 

nd  ma 

isgebend. 

Fäll 

rein  formales 

Moment  spielt  dabei  mit.  Wir  miisscn  bedenken,  dals  die  Bildung 
der  GröfscKiklassen  lediglich  nach  der  landwirtächaftlichen  Fläche, 
also  mit  Ausschluß  der  forstwirtschaftlich  benutzten  und  sonstigen 
Fläche  erfolgt  ist  Demzufolge  wurden  Betriebe  mit  ausgedehnter 
Wald»  oder  sonstwer  Fläche,  aber  mit  gerin^reti  Intensivkulturen 
lediglich  nach  diesen  letzteren  den  unteren  Gröfsenklassen,  auch  dem 
Parzellenbetrieb  zugerechnet,  obwohl  sie  ja  technisch  und  sozial 
keineswegs  dahin  gehören.  So  erklärt  sich  der  verhältnismaTsig 
hohe  Anteil  des  Waldlandes  und  der  „sonstigen  Fläche"  an  den 
Gröfsenklassen  unter  5  ha.  Wird  dem  Rechnung  getragen,  so  sind 
es  die  mittleren  Bauernwirtschaften,  welche  sich  durch  die  stärkste 
Vertretung  der  eigentlich  landwirtschaftlichen  Fläche  auszeichnen. 


*)  Siehe  oben  S.  555. 


Die  LunüwirtbcUalt  im  Deutschen  Reich. 


Waldland  und  „sonstige  Fläclie"  gewinnen  mit  zunehmendem  Be- 
triebsumfang  an  Bedeutung. 

Von  je  100  Betrieben  jeder  Gröfsenklasse  verfugten  über  Holzland 


Gröfsenklassen 

iS95 

I$S2 

unter  2  ha 

4t57 

5.33 

2  bft  bis     5  „ 

21, 9a 

«3.75 

5      »T      »1        ^  tf 

40,10 

43.54 

20  „  „    100  „ 

52.17 

5  5  "9 

100   „   n.  darüber 

54.88 

56,4Ä 

Wir  sehen  zugleich,  dafs  der  oben  festgestellte  scheinbare 

Rückgang  in  der  Ausstattunj^  mit  Holzland  sich  durch  sämtliche 
Gröfsenkategoricn  der  Betriebe  hindurch  fortsetzt.  Was  ejidlich  den 
Garten-  *)  und  Weinbau  -)  anbelanf^t,  so  rächen  sie,  wie  nicht  anders 
zu  erwarten,  am  meisten  im  Parzellenbetrieb  her\'or.  So  sind 
11,35  Pioz.  der  Betriebe  unter  2  ha  ausschliefsUch  gärtnerische;  von 
den  Zweigbetrieben  unter  5  Ar  ist  es  sogar  die  gröfscre  Hälfte. 

Die  forstwirtschaftlichen  Betriebe  sind  1S95  ^'"^ 
gehender  dargestellt  worden.  Zunächst  ist  die  diesbezÜLjIichc  .Statistik 
vollständiger  als  jene  \on  1882,  iiidcm  diesmal  auch  die  reinen  — 
nicht  mit  Landwirtschaftsl)ctrieb  veibnivleiicn  —  I-\>!Stbetriebe  er- 
mittelt worden  sind.  Sic  sind  allertlin''.->  sehr  in  der  Minderzahl: 
22041  oder  2,31  Proz.  aller  Forstbetriebe,  während  931833  oder 
97,69  proz.  zugleich   mit  der  Landwirtschaft   betrieben  werden. 

Jn  der  LaadwirtBclmfbkarte  ist  der  Betrieb  von  Kunst-  und  Handels- 
gärtncrei  besonders  erfragt  worden.   Hierfiir  worden  32540  Betriebe  mit  einer 

spezifU  zu  Kunst-  und  Handel sg-Hrtncrcizwccken  benutzten  Fl.Hchc  von  23570  ha  er- 
mittelt. Danfben  haben  jene  Betriebe  aber  auch  nocl»  53S  I07  ha  an  sonstiger  laiid- 
wirt^chiUtUchiT  Mäclu-.  x)  d.ifs  von  dif^er  b.l/.ttTcii  10  22,83  ha  auf  'l  ha  Gartcti- 
tläche  cntiaUen.  bic  sind  ganz  überwiegend  Parzellenbetricbc.  Bei  23,91  i'roa.  d«r- 
•etbeB  bleibt  die  Gartenflidie  VBter  10  Ar,  bei  59,71  Pros,  betiigt  de  lo  Ar  bis 
t  ba,  bei  10,44  Proz-  1  bis  3  ha;  nur  5,94  Pros,  sind  gröfser. 

*)  Mit  Weinbau  wurden  344^5**  Betriebe  mit  einer  Weinbauflficbe  von 
126 109  ha  und  einer  sonstigen  landwirtschaAHchen  Flache  von  1 242 1S7  ha  ermittelt, 
auch  diese  überwiegend  Kleinwirtschaften.  Denn  von  je  100  derartigen  Betrieben 
haben  25.62  ciiiin  Wtinparten  unter  IG  Ar,  und  67.53  eint»  WcinbauflSche  von 
IG  Ar  bis  I  ha,  und  von  ii<-m  fjo^amtcn  Wringeliinile  entfallen  63,40  Proz.  auf  Be- 
triebe mit  einer  Weintlächo  von  unter  l  ha.  —  74.34  Proz.,  nahezu  drei  Viertel  der  In- 
haber von  Weinbaubetrieben  geliuren  ihrem  Hauptberuf  nach  der  Landwirtschaft  an, 
verhlltiiismBftig  am  meisten  in  den  mittleren  Gröfseakkssen,  während  sowohl  in 
den  oberen  als  auch  insbesondere  in  den  unteren  Gröfsenstufen  die  anderen  Berufe 
etwas  stSrker  hervortreten. 


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588 


11.  R ;»  u  c  Ii  I)  f  r  j; , 


Nicht  nur  vom  forstwirtschaftlichen,  sondern  auch  vom  sozial* 
politischen  Standpunkte  aus  ist  es  von  Interesse,  die  Forstbetriebe 
nach  Mafsgabe  der  forstwirtschaftlich  benutzten  Fläche  in  Gröisen« 
klassen  einzuteilen  und  für  jede  derselben  die  wichtigsten  Betriebs* 
momente  darzustellen.   Es  wurden  ermittelt 

m\t  oint-r 

GrfiKi'Tikla^sen  ii.nh  der 
forbtwirtiscliaftlich 
benutztea  Fläche 
antcr  lo  ha 
lo  ha  bis    lOO  „ 

lOO      „      .,      UKX5  ., 

looo    „    und  dariibi-r 

im  t;aiuen 

Daraus  siiul  die  fol<::^fcndeii  Vt  rhäluii^/.ihlcn  ;il)/.uleiten 
Gr«'iscnkla»scn         Aul  die  einzelnen  Grulsen-    \'ou  je  icx)  Forsil-  VonjeioobA 

klassen  entfallen  betrieben  jeder    der  Gesamt- 

von  loo     von  je  icx>  ha 

Forst-     Gesamt-  Forst- 


Gesamt- 

forstwirt>cliaftlicl) 

Betriebe 

Häche 

benutzten  flache 

ha 

hn 

857 164 

II  764183 

1626093 

««531 

618S002 

1944290 

•1 1  730 

5  640441 

3422  503 

2449 

7  254601 

6733044 

953^^74 

3"  ^47  317 

13725930  ^) 

nach  der 
forBtwiftschaftlich 

benutzten 
Fläche 


betrieben  fläche 


unter  10  ha 
10  ha  Ins  100 

100   „    „  1000 
1000    „    und  darüber 
im  fjaiizen 


n 


89,86 
8,65 

lr23 
0.26 
100 


18.29 
23.52 

100 


Und 

11,85 

14.17 

24.93 

_49.o5 

1C3U 


Grörsenkl.  sind  flSche  jeder 

mit         ohne  Gröfsonklasse 
landw.  benutzte  sind  Forst- 
Fläche  land 
99,00       1,00  13,82 
92^8      7,5a  31^ 
49.79     50.21  6o,6.S 

42.S7        57, 13  _     JJ2,8l  ^ 

u7.<M)     2.:,i  44,50 


Der  Zahl  nach  überwiesen  also  bei  weilem  die  kleinen  Forst- 
betriebe i^iit  einer  forstwirt.schaftlich  benut/.lcn  Mäche  von  unter 
10  ha;  sie  machen  fast  9  Zehntel  aller  for;>t\virtschaftlichen  Betriebe, 
aus,  ja  suL^Mr  die  Bi  triebe  mit  unter  i  ha  I'orstfläche  noch  42,3 
Proz.  Anders  nach  lier  Fläche.  \'on  der  (icsamtfläche  der  forst- 
wirtschaftlichen Betriebe  entfallen  auf  die  ( irörsenklasse  unter  10  ha 
Forst tlärhc  nur  noch  38. 13,  von  der  ei<^entlichen  Forslrtächc  nur 
noch  Il.Sj  Proz.  N.iluvu  die  Hälfte  des.  l-'orsllandes  gehört  den 
grol'en  Forsteien  mit   iojo  ha  und  d.uul^er  an."')    Je  grölser  die 

'    Hin<3>-p<  n  wurde  bei  der  Anbauerhebutif;  von  1893  forstwirts«  hattlichc 

Fliiilic  \on  13956827  ha  festgestellt.  I>ic  DifTcre!)/,  ist  in  erster  Linir  au>  der 
Vcrächicdcnhcit  der  Erhebungsweise  zu  erklären  und  deutet  darauf  hin,  dali>  die 
Zählung  von  1895  die  Forstbetriebe  nicht  vollstindig  erfa(st  hat. 

*)  Der  gröfste  Teil  dieser  Riesenbetriebe  sind  Staats-  oder  Kronforsten. 
Es  wurden  deren  2215  mit  einer  Gesanit6Jlche  von  4998802  ha  and  einer  Forst* 
fläche  von  4741 422  ha  ermittelt.  93,34  Proz.  der  Fläche  fallen  in  die  GröfsenUasse 
von  iber  1000  ha. 


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Die  Lundwimchal't  im  DcuUchcn  Kcich. 


589 


forstwirtschaftliche  Betriebsfläche»  desto  schärfer  tst  auch  der 
Qiarakter  der  Betriebe  als  reine  Forstbetriebe  atis^eprä^a  und  desto 
seltener  wird  die  Verbindung  mit  dem  Landwirtschaftsbetrieb, 
welche  allerdings  bei  den  Forstbetrieben  bis  zu  lOO  ha  noch  die 
Regel  bildet.^) 

V.  Die  Nutzviehhaltung. 

Auch  die  Nutzviehhaltung  ist  gclc^cntUch  der  landwirt- 
schaftlichen  Betriebsaufnahme  ermittelt  worden.  Nicht  um  eine 
förmliche  Viehzählung  konnte  es  sich  dabei  handeln,  sondern  led^- 
lich  um  die  Kennzeichnung  der  Betrieb'e  durch  ihren  Viehstand. 
Die  hier  in  Betracht  kommenden  Gesichtspunkte  sind  hauptsächlich: 
die  Viehproduktion,  die  Arbeitsleistung  des  Nutzviehs,  die  Dung« 
gewinnung,  der  Kapitalswert  des  Viehstandes.  Gänzlich  ausge- 
schlössen  von  der  Erhebung  war  jener  Teil  des  Viehstands,  der 
nicht  zu  landwirtschaftlichen  Betriebszwecken  gehalten  wird.-) 

Im  ganzen  wurden  46892^4  Beiriebe,  84,35  Proz.  aller  land- 
wirtschaftlichen Betriebe  mit  Nutzvieh  ermittelt.  869736  landwirt- 
schaftliche Betriebe  iiatten  kein  Nutzvieh. 

Hierfür  kommen  folgende  Vieharten  in  Betracht: 

Zu  (-f-)  o(\cT  Von  ]c  100  Pctricben 


Betriebe 

Abnahme  (  -  - 1 

hi<-U.-n 

Xu(/.vieh 

Es  hielten 

seit  18S2  m 

voi bezeichneter  Art 

1895 

1882 

Proienten 

1895 

1882 

Pferde  und  Rindvieh .    .  . 

1057502 

996244 

+  6.15 

19,02 

18,88 

Pferde  aber  kein  Rindvieh  . 

• 

73271 

42180 

+  73,71 

l>3' 

0,80 

Rindvieh  aber  krinc  Pferde 

2084677 

3217463 

—  5.99 

37,50 

42,03 

Grotsvieb  überhaupt  . 

3315450 

3255887 

—  1.14 

57^ 

6t.7i 

543741 

749217 

—  27.43 

9.7S 

i4,ao 

3707441 

295038S 

66,09 

5  5  92 

1  720948 

«  505357 

-r  I  i  i-! 

30,96 

-^'53_ 

Nutzvieh  ülx-rli.vuj  l 

4  oScj  244 

4441  90; 

+  5.57 

5^4-33 

84,19 

kein  Nutzvieh     .    .  . 

-t9  736 

S34441 

+  4,^3 

»5,05 

15,81 

*)  Auch  die  forstwirtschaftlichen  Nehcngcwcrbe  werden  bei  weitem 
häufiger  mit  kleinen  iiIs  mit  ^^rolM  ii  Forstbetri«  l>en  verbunden.  In  er-^ter  I.ini.-  kommt 
dabei  die  Gewerbeart,  Ilolz/.iirirlituii^'  und  Ronserv ierunp  (Säj^emiihb  n  i  in  l'.etracht. 
.Sie  wurde  in  Vcrbindunf;  mit  5^44  1  orsibetrieben  ennitti  !t.  wovon  39^6  unter  lO  ha 
lind  U4Ö  10  bis  100  ha  an  Furüttläche  ausgewiesen  hatten. 

^  Nur  die  Külte  za  Milchhandel  und  Mdkereiswedcen  wurden  auch  von 
sokhcn  Betrieben  erbobcn,  die  keine  landwirtschaftliche  Fläche  aufweisen.  Es  sind 
aber  nur  663  derartige  Betriebe  veneichnet  worden. 


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590 


II.  Rauchhorg, 


Also  im  allgemeinen  zwar  weitere  Verbreitung  der  Viehhaltung, 
aber  Abnahme  in  der  wichtigsten  Kategorie:  bei  den  Betrieben 
mit  Rindvieh,  demzufolge  auch  bei  den  Betrieben,  die  überhaupt 
Grofsvich  halten. 

Der  Viehbestand  beträgt*) 


Zunahme  (4-),  oder 

auf  je  100  ha  land* 

Sfiifkzahl 

Abnahm r  (-  )  gesell 

wirt^cliaftlichcr 

Fläche 

»«95 

1895 

1S83 

in  l'nuenun 

rferdc     .    .  , 

3307298 

+  8,12 

10,36 

9,77 

Rindvieh    .  . 

17053642 

52.44 

48,49 

Schilfe    .    .  . 

12593870 

—  40.37 

38.73 

66,26 

Schweine    .  . 

13562642 

+  ^.86 

4lJt 

26,46 

Ziegen    .    .  . 

3105251 

+  26,6  t 

9.55 

7.70 

Auf  Rind 

Ivich  reduziert 

,  hat  der  gesamte 

Viehstand  di 

^r  Land- 

wirtscliaftsbetriebe  seit  1882  um  IO,6  Proz.  zugenommen,  ist  also 
hinter  der  Vermehrung  der  Bevölkerung,  die  14,5  Proz.  betrug, 
nicht  unerheblich  zurückgeblieben.^)  Freilich  kann  bei  derartigen 
Berechnungen  die  mittlerweile  erzielte  Verbesserung  in  der  Be- 
schafTenheit  des  Nutzviehs  nicht  in  Anschlag  gebracht  werden.  Ob 
dadurch  die  Differenz  gegenüber  der  Volkszunahme  thatsächlich 
wettgemacht  wird,  mufs  freilich  dahingestellt  bleiben. 

Was  die  Viehhaltung  nach  den  einzelnen  Gröfsenklassen  der 
Landwirtschaftsbetriebe  anbelangt,  so  hatten  im  Jahre  1895 

Nutzvieh  drr  nebi:nlK£cichuclen  Art  von  je  loo  Uetriebcn  mit  einer  UnUwirt- 

schaftlichen  FlSdie  von  ha 

unter  2    2  bis  5    5bis20  20 bis  100  looa.darttber 


Pferde  und  Rindvieh  .   .  . 

0,89 

15,00 

58,53 

94.83 

97.  »9 

l'fcrdc  abor  kein  Rindvieh  . 

1,24 

2.06 

1,06 

0,52 

o,S9 

Rindvieh  aber  keine  Pferde . 

«7.70 

77.41 

39, 1 2 

3,77 

0.33 

'•rorsvieh  Uberhaupt.  . 

29.S', 

"  r 

oS,7i 

00.12 

9S.31 

4.37 

18.49 

43.47 

60,14 

5,;.;o 

78,70 

SS.S; 

94.43 

88,67 

1 6, 10 

12,18 

10,41 

Nutzvieh  überhaupt  .  . 

99,09 

99,35 

kein  Nutzvieh  .... 

25,70 

2,62 

0,91 

0.65 

1,52 

*)  Der  Vergleich  mit  den  Viehzählungen  von  1.  Dezember  189'  und  1897 
ui'bt,  dafii  Schweine  utui  Ziegen  fast  gänzlich,  Pferde,  Rinder  und  Schafe  aber  bei* 
läuiiK  lu  neun  Zehnteln  in  landwirtschaftlichen  Betrieben  gehalten  werden. 
Kollmann  a.a.O.  S.  1507. 


uiyiiizeo  Dy  Google 


l>ie  Landwirtsrliaft  im  Deutschen  Reich. 


591 


Diese  Zahlen  hedürfcn  keiner  weiteren  Erläuterungen.  Im 

X'erj^leicli  zu  den  Erijcbnissen  von  1S82  inte  ressieren  uns  insbesondere 
die  X'eräiulerimgen  in  der  Rinderhaltung.  r)anial>  hesafsen  von  den 
Paizellenbctriehcn  noch  35. 20,  von  den  kleinen  Bancrtuvirtsohaften 
noch  93,71  Proz.  Rinder;  jetzt  sind  die  bezü<,dioheii  I'rozentsätze  auf 
28,59  und  92,41  hcral)L:cgangen,  während  die  Rinderhaltung  in  den 
anderen  Grörsenklassen  kaum  seltener  'geworden  ist.  Der  Ausfall 
trifft  also  aus^chliefslich  die  Iktriebe  kleinster  Art.  Allcrdins^s  er- 
scheint er  'gerade  hier  durch  die  tj^nilscre  Iläutii^keit  der  Schweine- 
und  Ziet^enhaltun^r  bis  zu  einem  ^rc^\  ;^-^cn  liradc  ausgci^lichcn. 

Noch  deutlicher  tritt  diese  Hcu  e^uii^^  zu  1  a'^e ,  wenn  wir  das 
X'crhalltus  de<  X'ichstands  zur  landwirtschaftlich  benutzten  Fläche 
nach  Gruisenklassen  untersuchen : 

Auf  je  100  ha  landwirtschaftlich  benotzter  Fläche  kommen 

im  Jahre  1895 


Pferde 

Kinder 

Schafe 

Schweine 

Ziegen 

nntcr  2  lui 

4i9l 

7S,a6' 

31.39 

191,66 

137.43 

2 

bis     s  „ 

6,88 

85.30 

14.89 

7l.«7 

8.98 

s 

.11,80 

64.05 

»9.«5 

43»3i 

a.59 

ao 

»«,7» 

47,12 

35.4S 

«6,93 

0,65 

100 

n 

und  darüber 

8.31 

24t99 

78,73 

»t.JS 

0,11 

im  ganzen 

10,36 

53t44 

38,73 

41,7» 

9:55 

im  Jahre  1882 

unter  2  ha 

3,11 

SS,  44 

4..1S 

1 14.12 

108,2 1 

2 

ha 

bis     5  „ 

6.38 

SiSo 

46,64 

7,06 

5 

» 

1 1 

<'0.24 

29.3S 

2S.90 

2,12 

20 

II 

12.13 

42.14 

55.46 

•7,49 

0.53 

100 

M 

und  dar&ber 

7u>4 

'9.75 

«47.07 

6,17 

0,07 

im  ganzen 

9,77 

48,49 

66,36 

26,46 

7.70 

Es  hat  also  die  spezifische  Dichti|;keit  aller  hier  berücksichtigten 
Arten  von  Nutzvieh  in  sämtlichen  ( iröfscnklassen  zugenommen,  nur 
der  Rinderbestand  der  Parzellen!  )etri«"be  ist  relativ  zurückgcfjangen. 

Im  allLfcinrinen  aber  Steht  die  Intensität  der  X'ichhaltung  im 
umgckehrlcn  X'erhältnisse  zum  Betriebsumfang.  Am  auffälli}^sten 
ist  das  hinsichtlich  der  Schweine  und  Ziejüjen.  .Aber  auch  bei  den 
Rimiern  trifft  das  zu  nut  alieinii^'cr  Ausnahme  der  Parzelleni)etriel)e ; 
hier  kommen  etwas  weniger  Stück  Rindvieh  auf  je  ic>o  lia  I^ctriel)S- 
fläche  wie  bei  den  kleinl)äuerlichen  Wirtschaften,  welche  sich  durch 
die  relati\'  stärkste  Rinderhaltung  auszeichnen.  Hingci^a  n  wächst  die 
l^ferdehaltung  von  Stufe  zu  Stufe  an  und  erreicht  in  den  groü- 


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592  H.  Raucliberg, 

bäuerlichen  Retrlchcn  den  höchsten  Stand,  um  darüber  hinaus,  in 
der  Klasse  der  (irorslietriehc,  rasch  abzunehmen.  Blofs  die  Schaf- 
haltung, die  weite  Weidcrtächen  voraus  .-t/t.  ist  in  den  Grofsbe- 
trieben  am  intensivsten.  Es  kann  aUu  kein  Zweifei  darüber  !)e- 
stehen,  dafs  die  kleineren  und  mittleren  Ik^trit  l)^kate<^orien  die  \'ieh- 
haltung  und  -Produktion  am  meisten  befjünsti*^en.  Soweit  die  Fleisrh- 
versorj;'ung  der  deutschen  \'olk>wirt<chaft ,  sDwic  die  Intensität  der 
I.andwirtsrhaft  überhaupt  von  <ier  X'iehiialtun-^  abhängen,  wertlen 
sie  oflenbar  durch  die  oben  konstatierte  \'crschiebunf:j  in  dem 
'^Gegenseitigen  X'erhältnis  der  einzelnen  Betriebsklassen  begünstigt, 
wonach  die  mittleren  Betriebe  den  Grolsbetrieben  gegenüber  an 
Boden  gewonnen  haben.') 

Ks  ist  schon  weiter  oben  Ijcmei  kl  worden ,  dafs  die  Betriclie, 
welclic  (irolsvieh  hallen,  trotz  der  im  übrigen  allgemeinen  \'er- 
breitutig  urul  Steigerung  der  N'k'hhallung  1882  gegenül)er  einigt  r- 
m.ilsen  zurückgegangen  sind,  insbesondere  infolge  der  Abnahme 
des  Rinderstandes  bei  den  Parzellcnbetrieben.  J^och  schärfer  ge- 
langt diese  Bewegung  zum  Ausdruck,  wenn  man  untersucht,  von 
wievielen  Betrieben  und  in  welchem  Umfang  Vieh  zur  Acker> 
arbeit  gehalten  wird.    Es  wurden  derartige  Betriebe  ermittelt, 

1895  1SS2 

welche  hielten  absolut  Proz.      absolnt  Proz. 

nur  Pferde   850187  37,67  ^ 

Pferde  und  Ochsen   f  aber  keine  Köhe    .  267374  11,85  f  *  ^^9985  51.8* 

oder  nur  Oclison  .    y  und  aufserden  KUhe  114  691      5,oS  ^ 

I'frrdo  und  Kühe   80609      3,58  |     '4^329  6.57 

nur  Kühe   943781  41. 82        039483  41,61 

im  ganzen.    .    .  2256732  40,00     2257797  42,79 

Wie  im  ganzen,  ist  die  Verwendung  von  Vieh  zur  Ackerarbeit 
auch  in  jeder  einzelnen  Grofsenklasse  der  Betriebe  zurückgegangen, 
denn  von  je  IOO  landwirtschaftlichen  Betrieben  verwendeten  Vieh 
zur  Ackerarbeit 

Gröfsenklassen  1895  1883 

unttT  2  ha  0  46  10,61 

2  ha  bis      5    y,  7i.3'>  74-79 

5    „    .,     20    „  02,62  96,56 

20    ^    „    100    „  97,08  09,21 

100    ,    und  darüber        97  jo  99,42 

Vfjl.  ilariiluT  iii>lKs.  1.  ('onra<i,   Di.-  I ..indwirt^chalt  im  iJcutsi-hon  Retcb. 
Jahrbüclier  für  ^ationalokonumic  und  Statistik,  III.  Folge,  l6.  Bd.  S.  508  ff. 


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iJic  I^ndwirUchali  im  iJcuUclicn  Kiicli. 


593 


Hand  in  Hand  damit  geht  insofern  eine  qualitative  Ver- 
schlechterung des  Zugmaterials,  als  die  Betriebe,  welche  nur  Kühe 
zur  Ackerarbeit  verwenden,  1895  in  allen  Gröfsenklassen  mit  Aus- 
nahme der  Parzellenbetriebe  stärker  hervortreten  wie  1S82.  Die 
bezüglichen  Prozentsätze  haben  sich  speziell  bei  den  kleinen  Bauern- 
wirtschaften von  68,29  auf  69,42,  bei  den  mittleren  von  184^9  ^^f 
20,30,  im  ganzen  aber  von  41,61  auf  41,82  Proz.  erhöht. 

Zur  Spannteistung  verwendet  wurden  1895  2646603  Pferde, 
1006253  Ochsen  und  2352406  Kühe,  somit  78,60  Proz.  des  ge- 
samten Pferdebestands  und  19,69  Proz.  des  gesamten  Rinderbestands« 
Die  Verschiebungen  gegen  1882,  sowie  die  Verteilung  des  Acker- 
viehs nach  Gröfsenklassen  ist  aus  den  Vcrhältniszahlen  der  nach- 
stehenden Uebersicht  zu  entnehmen: 

Auf  je  100  ha  der  landwirtschafdich  benutzten  Fläche  jeder 
Gröfsenklasse  treffen  zur  Ackerarbeit  verwendete 


IT 

.•  r  .1 

Ocli 

sen 

K  ii  Ii  »■ 

Gröfsenklasbcn 

1S82 

1S95 

iS.,5 

18S2 

unter  2  ha 

a,7o 

2,60 

1,«4 

0,84 

21,56 

24,00 

2  lia  bis     5  n 

5,37 

5.77 

3.83 

3,89 

33,77 

33,77 

S    n    n      »>  «" 

9,83 

10,04 

4,S9 

.5,66 

.  8,15 

7,08 

9,94 

9,54 

»,77 

2,36 

o,S9 

100   „    uad  darüber 

6,20 

5,67 

2,68 

3,68 

0,04 

0,00 

im  ganzen 

7,96 

3,09 

3,42 

7,23 

6.87 

Danach  hat  sich 

die 

SpannHil 

lij^kt  it 

des 

Grorshclric 

bs  etwas 

gehoben,  ilci  <lcii  Baucmwirtschafleii  erscheint  sie  gemindert,  bei 
den  Parzellenbetricben  gleiclifalls,  aber  doch  qualitativ  einiger- 
malsen  verbessert  Sehen  wir  von  der  mehr  gelegentlichen  Ver- 
wendung von  Kühen  zu  Zugleistungen  ab'),  so  sind  es  die 
mittleren  und  gröiseren  Bauemwirtschaften,  welche  verhältnismäfsig 
am  besten  mit  Zugvieh  versehen  sind,  weit  besser  als  die  Grofe- 
betriebe.  Wenn  die  Durchschnitte  bei  diesen  letzteren .  wesentlich 
niedriger  bleiben,  so  erklärt  sich  das  nicht  nur  aus  der  intensiveren 
Ausnutzung  der  Gespanne  auf  der  weiteren  Fläche,  sondern  auch 
aus  der  häufigeren  Verwendung  von  landwirtschaftlichen  Maschinen, 


>)  Von  den  Betrieben,  die  ttberbanpt  Vieb  zor  Acketarbeit  halten,  verwenden 
in  jeder  Gröfsenklasse  ausschltefslidi  Ktthe:  von  den  Pancllenbetrieben  8s,io  Prox., 
von  den  kleinen  BauemwirtKbaften  69,12,  von  den  mittleren  20,30,  von  den  grofsen 
nur  0,28  Pros.,  von  den  Grofsbetrieben  endlich  0,03  Pros. 

AfchiT  für  MI.  G«Mttt«lMiag  u.  Statittik.  XV.  39 


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594 


II.  Kaue  Ii  l>  erg. 


wodurch  nicht  nur  an  menschlicher  Arbeit,  sondern  —  wenigstens 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  —  auch  an  Acker\-ieh  gespart  wird. 

Bevor  ich  auf  diesen  Gesichtspunkt  des  näheren  eingehe,  will 
ich  nur  kurz  noch  das  Ergebnis  der  Berechnungen  mitteilen,  die 
über  den  Ka  gitalswert  des  Viehbestandes  angestellt  worden 
sind.  Legt  man  der  Berechnung  die  Verkauiswerte  zu  Grunde,  die 
anlälslich  der  Viehzählungen  von  1883  und  1893  ermittelt  worden 
sind,  so  betrug  der  Wert  des  Mehstands  der  landwirtschaftlichen 
Betriebe 


189s  1893 


in  ticn 

Millionen 

auf  l  lui 

Millionen 

auf  I  lia 

Zuiialimc  d«--i 

G  r  1  >  r  s  !•  u  - 

Mark 

landwiit. 

Mark 

lamhvirt. 

\Vrrti->  pr«t  lia 

klauben 

Fläche 

Fläche 

1SS2  -  1S95 

Mark 

Mark 

Mark 

unter  a  ba 

STA 

316 

49*,o 

369 

47 

3  ha  bis  5 

830,4 

347 

698,4 

319 

38 

5    n    n      *0  „ 

3089,9 

213 

1 7<>7.4 

193 

31 

30    „    „    l<x>  .. 

I  760,0 

178 

I  $66,3 

15S 

20 

100   ,f    D.  darüber 

862,8 

110 

103 

8 

im  ganz«» 

6 105,5 

188 

•73 

Haben  schon  irüher 

die  absoluten  Aiij^abcii  ui)er  den 

X'ichstand, 

sowie  die  BcrccI 

nuiiiL^cii 

über  die  spt 

•x.i  fische 

Wichtij^keit 

de>  \"ieh- 

Stapels  nach  Ciröfsenklassen  der  Betriebe  gezeigt,  dafs  die  Viehhaltung 
im  allgemeinen  im  umgekehrten  Verhältnisse  zur  BetnebsgrÖfse 
•  steht,  so  wird  diese  gegensätzliche  Progression  einheitlich  in  der 
Wertquote  au^edrückt,  die  durchschnittlich  auf  i  ha  landwirtschaft> 
lieh  benutzter  Fläche  entfallt.  Vielleicht  sind  die  Unterschiede  in 
Wirklichkeit  nicht  ganz  so  grofs  wie  die  Ziffern  angeben,  weil  die 
Qualität  des  Viehs  in  den  gröfseren  Betrieben  eine  bessere  sein 
dürfte  wie  in  den  kleineren.  Um  aber  die  Wertsätze  nach  Gröfsen- 
klassen  der  Betriebe  abzustufen,  dafür  fehlen  die  Unterlagen.  Jeden- 
falls kann  an  der  Grundthatsache  selbst  nicht  gezweifelt  werden, 
dafs  der  Viehstand  für  den  kleineren  Landwirt  von  noch  viel  höherer 
wirtschaftlicher  Bedeutung  ist  als  für  den  gröfseren,  und  dafs  das 
Scliwergewicht  der  gesamten  Vichhaltunnr  und  des  darin  begründeten 
Verni<")i;ens  i)ei  den  niitllcrrn  Hauernu  irisrhafteii  i^elcLjeii  isi.  Auf 
sie  entfallen  iS  Proz.  der  Betriebe  und  30  Proz.  der  landwirtschaft- 
lichen 1-läche  aber  34.4  Pro/.,  des  Kapitalsvverts  des  Viehstai»els. 

Im  Wr-leich  /u  <\vn  lüvrebnisscn  von  1882  hat  sich  der  Wert 
des  \  tel)stands  von  3312  aut  Ol 06  Millionen,  also  um  794  Millionen 


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Die  Landwirtschaft  im  Deutschen  Reich. 


595 


erhöht.  Der  Zuwachs  ist.  wie  sich  aus  den  Differenzen  z.wischen 
den  ol)en  mitgeteilten  ^[)c/.ihs<-hcn  Weilijuotcn  der  ein/chicn 
Grtifsv'nklassen  er^^iebt,  den  kleineren  Bctriel)cn  in  höherem  Malse 
zu^^etlo.ssen  wie  den  grulscrcn.  Die  kleinen  untl  mittleren  Betriebe 
also  sind  es.  die  mit  dem  j^frölscren  Krfolg  an  der  Hebung'  ihre.s 
Viehstands  gearbeitet  haben.  In  diesem  einen  Punkte  wenigstens 
hat  die  Betriebsstatistik  einen  exakten  Beleg  für  ihre  Ueberlegen- 
heit  dem  Grofsbetrieb  gegenüber  erbracht.  Damit  ist  eine  der 
Ursachen  klargelegt,  weshalb  die  kleineren  und  mittleren  Betriebe 
sich  besser  behauptet  und  den  grofsen  gegenüber  an  Boden  ge- 
wonnen haben. 

Zugleich  ergiebt  sich  daraus,  dafs  die  oben  festgestellten 
Aenderungen  in  der  Zusammensetzung  des  Viehstands,  ^insbesondere 
der  Uebergang  der  Parzellenbetriebe  von  der  Rinderhaltung  zur 
Schweine»  und  Ziegenhaltung,  doch  ganz  Uberwiegend  dem  Interesse 
der  betrefifenden  Betriebsklassen  entsprach.  Denn  es  entfallt  auf  je 
I  ha  landwirtschaftlich  benutzter  Fläche  durchschnittlich  ein  Wert- 
betrag in  Mark  für 


in  den 

Pferde 

Rinder 

Schafe 

Schweine 

Ziegen 

Gröfsenklasscn 

1895  1&82 

1895  1881 

1895  1882 

189$  1882 

1895  1882 

unter  2  ha 

15 

158  17a 

5 

7 

107- 

59 

23  16 

3  ha  bis     5  „ 

30 

172  160 

2 

4 

39 

24 

1  t 

S    n    »     «0  « 

57 

55 

I 29  117 

5 

24 

15 

20    ^     ^     lOO  ^ 

62 

5S 

95  S2 

6 

9 

15 

9 

lOO    „    u.  darül)er 

41 

36 

13 

24 

6 

3 

im  ganzen 

5» 

47 

106  95 

6 

»3 

23 

14 

2  1 

Es  ist  also  der  Ausfall  in  der  Rinderhaltung  beim  Parzellen- 
betrieb reichlich  wettgemacht  worden  durch  die  Vermehrung  der 
Schweine  und  Ziegen  und  des  dadurch  repräsentierten  Werts.  Aber 
auch  in  den  mittleren  Betriebsklassen  hat  die  Schweinehaltung  neben 
der  X'ermehrung  des  Rinderstands  ganz  erheblich  zur  Erhöhung 
des  Vermögens  beigetragen. 

VI.  Verwendung  von  landwirtschaftlichen  Maschinen. 

Zur  näheren  Kennzeichnung  der  Betriebsverhältnisse  ist  endlich 
auch  die  Benutzung  gewisser  landwirtschaftlicher  Masch  inen 
erfragt  worden.  Schon  die  Erhebung  von  1882  hat  diesen  Ge- 
sichtspunkt aufgestellt;  1895  weiter  verfolgt  worden, 

39* 


596 


Ii.  Kuuchlicr^, 


indem  man  mehr  Maschinenarten  in  die  Erhebung  einbezog. 
Nicht  um  den  Besitz»  sondern  lediglich  um  die  Benutzung  der 
Maschinen  handelt  es  sich  dabei.  Jede  Maschine  ist  so  oft  ge- 
zählt, als  sie  in  dem  der  Zählung  \'orhergehenden  Jahre  von  ver- 
schiedenen Betrieben  verwendet  worden  ist  Die  Zahl  der  Maschinen 
selbst  wird  also  nicht  angegeben.  Im  ganzen  ist  die  Benutzung 
von  Maschinen  für  909239  Betriebe,  das  sind  16^36  Proz.  aller  land- 
wirtschaftlichen Betriebe,  angegeben  worden.  Allerdings  ist  die  Er- 
hebung  nicht  durchaus  befriedigend  ausgefallen.  Insbesondere  sind 
die  Fragen  nach  der  Wrwendung  von  Hackmaschinen  und  Milch- 
/i  ntrifugcii  In  so  weitem  Umfange  mifsversiändlicli  aufgefafet  worden, 
ctafs  die  Ergebnisse  nur  mit  äulserster  Vorsicht  benutzt  werden 
können. 

Es  wurden  verwendet 

von  Betrieben 


über- 

Pro/rnt nlb  r  laud- 

bau]  >t 

wirtschaltl.  Betriebe 

gcwohiiliclic  1  >rc-,chinaschin^n  .    .  . 

590  809 

»0,74 

364 

4,67 

140792 

«154 

35084 

0,63 

breitwüifige  Sikmoschineii  .... 

a8673 

0,5a 

18649 

0.34 

1696 

0,03 

1,31 

fniit  II;iii<lbotrit-b  . 
MilcbMiitnfiigcn  <   .    ,  , 

1  nut   Dainpl  betrieb 

25  ^^3 

1,13 
<N45 

Nach  Größenklassen  der  Betriebe  war  die  Verwendung  von 
landwirtschaftlichen  Maschinen  die  folgende: 

Von  je  100  Landwirtschaftsbetrieben 

mit  einer  landwirtschaftlichen  Fläche  von  ha 


benutzten 

unter  2 

2~5 

5—20 

20—IOO 

100  u.  da 

O.CK.) 

0,01 

0.10 

5.iu 

brritwiirtijjr  >:iemast'!iinf 

.     .     .  O.Ol 

0,05 

4,29 

50.14 

1,29 

7,88 

17,69 

57.32 

0,03 

0,19 

a,49 

6t06 

0,68 

6,93 

3t,7S 

Dampfdresdimascbinen 

.   .  .  i,o8 

5,30 

10,95 

16,60 

61,32 

andere  Dreschmaschinen  . 

.   .   .  6,49 

6,56 

31,89 

64.09 

bndwirtich.  Maschinen  Überhaupt  2,03 

13.81 

45,80 

78,79 

94tt6 

Die  Landwirtschaft  im  Deulsclicn  Kcich. 


597 


Wie  nicht  anders  zu  erwarten,  werden  landwirtschaftliche 
Maschinen  desto  häufiger  benutzt,  je  gpröCser  der  Umfang  der  Be- 
triebe ist.  Wenn  gleichwohl  mancherlei  Maschinen,  insbesondere 
Dreschmaschinen,  auch  in  kleineren  und  mittleren  Betrieben  ver^ 

briltiusniäfsig  häufig  an<^c\vendet  werden,  so  erklärt  sich  das  daraus, 

dafs  "ft  eine  und  dieselbe  Maschine  von  einer  c^nnzcn  Reihe  von 
Wirtscliaflen  der  Reihe  nach  benutzt  und  von  jeder  derselben  an- 
<^:c<^'el)en  wird.    Immerhin  kann  in  der  zunehmenden  Häufigkeit  der 

Masciunen  von  <  Ttt  jücnklassc  zu  Grörsenklasse  cni  Symptom  für 
die  Steigerung  des  kapitahstischen  Charakters  erbUckt  werden. 
In  der  gleichen  Weise  i>t  es  zu  deuten,  wenn  die  Benutzunfj  der 
Maschinen  seit  ltS,S2  rasche  F(»rtscliritte  f^emacht  Iiat.  Damals 
hatten  angegeben  die  Benutzung  von  Dampfpfliigcn  836  Betriebe, 
Von  S.K  maschinen  63  S42,  von  Mähmaschinen  19634,  von  Damjjf- 
drc-chniavrhiiirn  7569O  und  von  anderen  Dreschmaschinen  20836;; 
ik'lriebe.  Die  X'erwendun}^  von  anderen  landwirtschaltlichen 
Maschinen  war  1S82  nicht  erfragt  worden.  Der  VcrLrIeich  mit  den 
oben  an^^egebenen  Zahlen  für  1805  er-^^nebt  für  alk  Wr< )lsenklas^en 
und  für  alle  Arten  von  Ma^^hiIK■n  eine  sehr  ei  hcliHi  lic  Zunahme, 
aust^'enommcn  die  Sc'iemaschincn,  an  ileren  Stelle  von  zalilrcichcn  Be- 
trieben nunmehr  Drillmaschinen  verwendet  werden. 

Die  Ergebnisse  der  landwirtschaftlichen  Betriebsaufnahme  unter 
dem  Gesichtspunkte  der  gesamten  wirtschaftlichen  und  gesellschaft- 
lichen Entwicklung  zu  würdigen ,  behalte  ich  mir  für  eine  spätere 
Untersuchung  Über  die  Entwicklungstendenzen  der  deutschen  \'olks- 
wirtschaft  vor,  in  welcher  ich  die  Hauptergebnisse  der  Berufs- 
zählung, sowie  der  landwirtschaftlichen  und  je  werblichen  Betriebs- 
zählung abschliefsend  zusammenzufassen  gedenke. 

*)  Zutreffende  Bcnicrkuugen  darüber,  um  wieviel  geringer  der  Eintlul!»  der  Ma- 
schinen in  der  Landwirtschaft  wie  in  der  Industrie  ist,  bei  Se ring  a.  a.  O.  S.  305  ff. 


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t 


Ueber  Schiedsverträge  der  Arbeitgeber  und  Arbeit- 
nehmer nach  dem  deutschen  Gewerbegerichtsgesetz 

und  der  Reichscivilprozefsordnung. 

Von 

M.  VON  SCHULZ, 

Gewerb«ricbter  and  VorsiUendein  des  Gewerbegerichts  Berlin. 

Während  der  Beratungen  der  VIL  Reichstagskommission  über 
den  Antrag  der  Alj^eordnetcn  Trimborn  und  Dr.  Hitze  betreffend 
dieGc\vcrhc;:jcnchte 'j  wurde  vorgoschla^cn,  im  GewcrbegcrichtsgcsctE 
eine  X'ereinbarung  der  l'artcicn,  dafs  die  Entscheiduii^  einer  ge- 
werblichen Rechtsstreiligkeit  durch  einen  oder  mehrere  Schieds- 
richter erfolgen  solle»  für  nichtig  zu  erklären.  Nachdem  dieser  Vor- 
schlag abgelehnt  worden,  wurde  in  zweiter  Lesung  angeregt, 
wenigstens  die  in  den  Arbeitsordnungen  festgesetzten  Schieds- 
verträge als  nichtige  zu  bezeichnen  und  zur  Gültigkeit  sonstiger 
Schiedsverträge  zwischen  Arbeitgeber  und  Arbeitnehmer  Schriftlich- 
keit  zu  crf.  irtiern.  ^) 

Diese  Anträge  teilten  das  Schicksal  des  V'orschlages  der  ersten 
Lesung.    Auch  ^^ie  wukIch  abgelehnt. 

In  der  K(unmis>iun  wurde  zu  dem  ui>|>riinglichen  Antrage  aus- 
geführt, dal's  mit  Rücksicht  auf  die  Zwangslage,  in  welcher  su  ii  der 
Ar  heiter  vielfarli  heim  I'-ngagcmenl  befinde,  der  Brauch,  tlie  aus 
dem  Arbeitsveiliakiiis  sich   etwa  ergebenden  Streitigkeiten  durch 

'  t  Berit lit  d<?r  Kommission  Nr.  85  ZitT.  2  der  Drucksachen  -  -  Xr.  2S6 
Rci«  !l^UlJ^  10.  I.'  j:i>l;itiir]>criudc,  I.  So>sioii  iSaS  iicj. 

*  Sirii,-  {!  10-7  Se;  ;,  R  c.i'.o.  und  diuu  Kohler  in  Grochots  Beiträgen, 
Hil.  31  S.  504  a.  A.  und  Anm.  143. 


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Uebcr  Schiedsverträge  der  Arbeitgeber  und  Arbeitnehmer  etc. 

» 

Schiedsvertrag  dem  Gewerbegericht  zu  entziehen,  ein  durchaus  ver- 
werflicher sei. 

Bei  der  zweiten  Lesung  wollten  die  Gegner  des  gewerblichen 

Schiedsvertrages  diesen  für  den  fiestimmten  Einzelfall  zwar  nicht 
ausschlicfseti.  Sie  erachteten  es  jedoch  für  unzulässig,  wenn  „der- 
selbe durch  die  Arbeitsordnung  generell  iiir  alle  Streitfalle  ge- 
wissermafscn  au foktro viert  werde".  . 

Die  Mehrheit  der  Kommission  ging  bei  ihrem  ablehnenden 
Verhalten  davon  aus,  dafs,  sobald  ein  ZAvanc^  beim  Abschlufs  des 
Schiedsvertrages  nachweisbar  sei,  die  bczvigliche  X'ercinbarung  schon 
nach  allgemeinen  Recht-^grundsätzen  nichtig  sein  wiirflc  Allerdings 
könne  dieser  Nachweis  woiil  meist  in  völlig  schliissigcr  \\  eise  nicht 
erbracht  werden.  Mit  Rücksicht  h  i  er  a  u  f  c  r  s  c  h  e  i  n  c  es  an 
sich  nicht  u  na  n  gezeigt,  dem  gerügten  Mifsbrauch 
durch  eine  besondere  gesetzliche  Bestimmung  ent- 
gegenzutreten. Im  übrigen  iialte  man  es,  wie  im  geschäflliciien 
I.eben,  so  auch  Ijeim  gewerblichen  Ari)eits\ eriiaknis  für  vernünftig  • 
und  den  hrieden  fördernd,  statt  vor  Gericht  zu  streiten,  irgend  eine 
Person,  die  sich  des  beiderseitigen  Vertrauens  erfreut,  entscheiden 
zu  lassen.  Eine  derartige  .Abmachung  sei  einwandsfrei,  wenn  in 
dem  vereinbarten  Schiedsgericht  Arbeitgeber  und 
Arbeiter  in  gleicher  Zahl  vertreten  seien. 

Zum  zweiten  Antrage  wurde  bemerkt,  dafs  für  Fälle,  in  denen 
es  sich  um  untergeordnete  DiiTerenzen  handle,  wie  sie  der  Betrieb 
tagtäglich  mit  sich  bringe,  die  Bestimmung  einer  Schiedsrichter« 
liehen  Instanz  in  der  Arbeitsordnung  sehr  verstandig  wäre.  Was 
endlich  die  Forderung  nach-  Schriftlichkeit  der  Schiedsverträge  be- 
trifft, so  erklarte  man,  dafs  ein  Schiedsvertrag,  welcher  nach  Lage 
der  Verhältnisse  zweckmäfsig  sein  könne,  dadurch  an  seiner  Be- 
rechtigung nicht  verliere,  dafs  er  nur  mündlich  geschlossen 
worden  sei.  -) 

Die  Kommission  hält  es  somit  nicht  für  ratsam,  die  Gültigkeit 


Zar  Beilegung  solcher  nntergcoidnetai  MifsbcUigkeiten  und  snr  Verhütung 
von  Strikes  und  Ausspemmgen  haben  die  Berliner  Maurer,  Tischler,  Tapexierer 
und  Dekorateure  in  ihren  Vergleichen  vor  dem  Einigungsamte  paritätisch 
aosammengesetzte  Kommissionen  geschaffen  (9  Arbeitgeber  und  9  Arbeiter,  bei  den 
TiachlerD,  Tapezierern  und  Dekorateuren  unter  dem  V^orsitz  eines  Gewerbericliters). 

*!  Schriftliche  Schiedsveriräpp  sind  in  Treu  füen  stempeipÜichlig  (Gesetz  vom 
31.  Juli  ii>95).    Siebe  auch  Kohl  er  a.  a.  O.  S.  4S5. 


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6oo 


M.  Von  Schule, 


der  Schiedsverträge  für  die  Gewerbetreibenden  den  gestellten  An- 
trägen entsprechend  zu  beseiti'j^^en  resp.  zu  beschränken.  W'olil  aber 
wnr  dieselbe  >iclitli.  Ii  ni«  ht  al );^reneigt,  zum  Schutze  der  Wirtschaft* 
lieh  schwa<  licn  Arbeiter  Vorschriften  über  den  Srhicdsvertrag  auf- 
zustellen. Leider  wurde  unterlassen,  daliin/t  l't  :ule  Bcstimmunc^en 
zu  formulieren.  Die  Notwendigkeit,  Rcj^aln  über  den  Schieds- 
vertraf:^  in  dem  Gewerbe;;erirhts;^fesctz  zu  .;ibcn.  ist  \orhandcn. 
An  einem  l'n  ./«  r<  \\cl<-!irr  \  >  »r  licm  Rcrliner  ( iewerbegericht  >_:e- 
führt  worden  ist,  gedenken  wir,  dies  darzuthun.  Der  Thatbestand  ist 
folgender: 

Kläi^er,  ein  Weber,  machte  Dezember  1899  eine  Lohnforderung 
{:^CL,fcn  seinen  Arbeitjijeber  s^eltend.  Bekla;4ter,  welcher  im  ersten 
1  ermiii  vun  seinem  W'erkführcr  X.  vertreten  wurde,  beaiitrac^tc  Ab- 
weisun;j[,  weil  Parteien  inhaltlich  des  vorzulehnenden  schriftlichen 
Schiedsvertrat^s  die  Hntscheiduntf  ihrer  Sircilii^kcitcn  aus  dem 
ArbeitSN  crhaltnis  dem  i^cnannlcn  Werkführer  mit  seinem  Einver- 
ständnis Übertrafjen  hatten.  Vom  Kläger  wurde  das  Bestehen  eines 
derartigen  Vertrages  abgeleugnet.  wurde  deswegen  in  dem 
zweiten  Termin  vom  Beklagten  in  Person  ein  von  ihm  und  dem 
Kläger  unterzeichnetes  Schriftstück  produziert,  nach  welchem 
Parteien  unter  dem  20,  November  v.  J.  beschlossen  haben,  dafe  der 
beklagte  Werkfuhrer  X.  alle  ihre  aus  dem  gewerblichen  Arbeits- 
verhältnis entspringenden  Differenzen  „unter  Ausschlufs  der  Zu- 
ständigkeit des  Gewerbegerichts"  schlichten  solle.')  Kläger  gab 
zwar  zu,  die  fragliche  Urkunde  unterschrieben  zu  haben.  Als  ihm 
seinerzeit  der  Werkfuhrer  das  Schriftstück  hingereicht  habe,  sei  ihm 
gess^,  dafs  er  von  dem  Inhalte  desselben  nicht  Kenntnis  zu  nehmen 
brauche.  Kläger  will  infolgedessen  dasjenige,  was  er  unterzeichnet 
habe,  gar  nicht  durchgelesen  haben.  Demgegenüber  bekundete  der 
Werkfuhrer  X.  nunmehr  als  Zeuge  des  Beklagten,  Kläger  ausdrück- 
lich darauf  aufmerksam  gemacht  zu  hal)en,  dafs  er  den  Vertrags- 
entwurf lesen  müsse.  Wenn  er  mit  dem  Inhalte  des  Schriftstückes 
nicht  einverstanden  sei  und  daher  nicht  unterzeichne,  würde  er  vom 
Beklaj^ften  nicht  beschäftigt  werden. 

Das  Gewerbegericht  hat  den  Kilver  abgewiesen,  weil  durch 


Beklagter  behauptet,  b«  der  Vereinbamiig  des  Schiedsvertrages  von  der  Er- 

wäjjiuifj  pe  leitct  zu  srin.  rine  Entscheidung  des  G<"werbef;cricht>  zu  vermeiden.  Er 
beabsichtige  in  Zukuntt  mit  sdnen  siiintbrlicn  .\rh<Mt<'m  S<  liifii^vcrlriige  einzugehen, 
um  nicht  immer  „nach  dem  Gewerbcgerichl  laufen"  zu  müssen. 


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Vcber  Schiedsverträge  der  Arbeitfrelicr  and  Arbeitnehmer  etc.  (3oi 


das  Vorhandensein  des  Schiedsvertrages  es  zur  Zeit  an  einer  £nt* 
Scheidung  in  der  Sache  selbst  behindert  werde.  ^)  In  der  Tagespresse 
ist  dieses  Urteil  als  ein  verfehltes  hingcsteUt  worden.  Die  Zu> 
standigkeit  des  Gewerbegerichts  könne  durcli  Vertrag  nicht  auf- 
gehoben werden.  Femer  widerspreche  der  hier  \  orliegcnde  Schieds- 
vertrag  den  guten  Sitten  und  sei  deshalb  nichtig.'^) 

Zunächst  mzg  zugestanden  werden,  dafs  vor  Erlafs  des  Ge- 
werbegerichtsgesetzes das  schiedsrichterliche  Verfahren  der  R.C.P.O. 
auf  besondere  Gerichte,  wie  dies  die  Gewerbegerichte  sind,  nicht 
Anwendung  zu  finden  halte."')  §  3  des  KinRihrun'jjsc^esetzes  zur 
R.C.P.Ü.  beschränkt  den  Geltun<;sbereich  der  R.C.r.O.  auf  alle 
bürji^erliclicii  Reclit.sstreiti^keiten.  welche  vor  die  <  >  r  f  1  e  n  1 1  i  c  h  e  n 
Gerichte  gehören.  Daher  ist  im  871  (jetzt  1045)  R.CI'A ).  Abs.  i 
auch  nur  vom  Amtsgericht  und  Land;.^ericht  die  Rede;  ilie  be- 
sonderen Gerichte  werden  dort  Tiiit  keinem  Worte  erwähnt. 
Dieser  Zustand  wurde  durch  das  Gewerbci^erichts^^esetz  j^eändert. 
Nach  §  24  da>ell)>t  sind  auf  das  Verf.ihren  vor  den  (icwerbc- 
{Tericliten,  >^oueit  im  (iewerbei^erichtsj^csetz  nicht  besondere  Ik'stiiii- 
mungen  enthalten  sind,  die  für  das  amtsgcrichtlichc  Wrtalncn 
geltenden  Vorschriften  der  Civilprozefsordnun;:^  entsprechend  an- 
zuwenden. Da  sich  das  Gewerbe<jerichtsgesetz  über  das  schieds- 
richterUche  Ver&hren  ausschweigt,  so  sind  die  Paragraphen  der 
Civilprozelsordnung  über  das  letztgenannte  Verfahren,  wie  für  die 
Amtsgerichte,  so  auch  für  die  Gewerbegerichte  massgebend.  Die 
Vereinbarung  des  Arbeitgebers  mit  dem  Arbeitnehmer,  dals  die 
Entscheidung  einer  Rechtsstreitigkeit  aus  dem  Arbeitsverhältnis 
durch  eiaen  oder  mehrere  Schiedsrichter  erfolgen  solle,  hat  also 
insoweit  rechtliche  Wirkung,  als  die  Parteien  befugt  sind,  über  den 
Gegenstand  des  Streites  einen  Vergleich  zu  schliefsen  (§851  [jetzt 
1025]  R.CP.O.).  Es  ist  demnach  nicht  anzuzweifeln,  dafs  Arbeit- 
geber und  Arbeitnehmer  zur  Beseitigung  von  Streitigkeiten  Schieds« 
richter  bestellen  dürfen.  *)  §  5  des  Gewerbegerichtsgesetzes,  welcher 

Vi  Soziale  I'ruxis  vom  S.  Februar  1900  Sp.  485. 

Siehe  auch  Schalhorn  in  der  Sozialen  Praxis  vom  S.  Februar  1900  und 
JaitTow  im  Gcwerbegeridit  vom  i.  l^fSrz  1900. 

'}  Wilmowsky  n.  Levy,  Kommentar  snr  R.C.P.O.  6.  Aufl.  Vorbemerkang 
zum  10.  Bach  S.  1119.  A.  A.  Meyer,  Die  Verembarang  adiiedsriditerlicher  Rechts- 
cnttcheidnng.    Erlangen  18S8  S.  5. 

*)  Haas,  Kommentar  zum  Gewerbcgcrichtsgcsctz  Anm.  2  zum  §  24  S.  164  a.  F. 
u.  Anm.  5  tum  §38.  30;  VVilhelmi  u.  Fürst,  Kommentar  zum  Gewerbegericbts- 


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602 


M.  von  Schulz, 


verordnet,  dafs  durch  die  Zuständigkeit  der  Gewerbegerichte  die 
Zuständit^keit  der  ordentlichen  Gerichte  aus£:^eschlosscn  werde, 
ändert  nichts  an  dieser  Thatsache.  Denn  das  durch  X^ertraj^  be- 
gründete Srliieds;^'ericht  zählt  nicht  zu  den  ordentlichen  Gerichten 
und  übt  übcrhau[>t  nicht  Gerichtsbarkeit  aus,')  ^.f.iti/  ab^^esehen 
da\on,  dafs  das  Ge\vcrbt  L:cricht  durch  Verabredung  eines  Schieds- 
gerichts n  i  r  h  t  u  n  zuhtiirn  li^^  wird.  -') 

Der  Arbeitji^cber  ist  aber  nur  in  der  La^'c,  mit  jedem  einzehien 
Arl)citcr  einen  Schiedsvertrag  cinzut^ehen ;  es  ist  ihm  nicht  frei- 
gegeben, ein  für  alle  Male  in  der  Arbeitsordnung  seine  Arbeiter  für 
ent>teheiidc  Kcchtsstreitigkeiten  an  einen  Schiedsvertra«g  zu  binden, 
wie  dies  in  einem  Urteile  des  Gewerbegericlits  zu  Leipzig ange- 
nommen wird. 

In  dem  Berichte  der  VlI.  Reiciistagskommission  wird  bereits 
bemerkt,  dafs  die  in  dem  besagten  Urteile  ausgesprochene  Ansicht 
eine  bestrittene  ist.   Wir  haben  hierzu  folgendes  anzuführen: 

Dem  Besitzer  einer  Fabrik  ist  nach  §  134  b  der  Reichsgewerbe* 
Ordnung  nur  übeiiassen,  neben  den  im  Abs.  i  unter  1—5  be- 
zeichneten noch  weitere  „die  Ordnung  des  Betriebes"  und  „des 
Verhaltens  der  Arbeiter  im  Betriebe"  betreffende  Bestimmungen  in 
die  Arbeitsordnung  aufeunehmen.  Ein  derartiger  Inhalt,  soweit  er 
sonst  nicht  den  Gesetzen  zuwiderlauft,  ist  (tir  Arbeitgeber  und 
Arbeitnehmer  rechtsverbindlich,  för  letztere  selbst  ohne  Kenntnis 
des  Inhalts.^) 

Diese  immerhin  ungewöhnlichen,  dem  freien  Arbeitsvertrage 
entgegenwirkenden  Vorschriften  der  R.G.O.  sind  erlassen,  weil  die 
in  der  Ar  beitsordnung  enthaltene  „bestimmte  und  klare  Kundgebung 
der  Bedingungen  des  Arbeitsvertrages  die  zahlreichen 


gesctz  Anm.  3  zam  §  5  S.  38  ;  M  u  pd  an  -  Cu  no  .  Kommentar  zum  Gewcrbegerichts- 

gf  sHz  S.  45  Anm.  zum  i?  '  :  ^  rh'u-  k  c  r ,  Kninni<n(nr  zur  keiclisge\verl>ror<!nunp 
S.  342  .\iun.  2;  Jabrobcncht  Uer  Gewerbegerichte  der  budt  Ucm  pro  1898  6.  26 
und  27. 

Förster,  KoiiiiD«ntar  m  R.CP.O.  Bd.  2  S.  691  Anm.  3  «um  §  851; 
Meyer  a.  a.  O.  S.  97  n.  107;  Kohler  a.  a.  O.  S.  320;  Laband,  Staatsrecht, 
III.  Ad).,  n.  Bd.  S.  336  tt.  337. 

•)  Meyer  a.  a.  O.  S.  lo  n.  32. 

')  Gewerbegericht  Nr.  2  vom  4.  November  1897,  lU.  Jahrig.  Sp.  19  u.  ao  n. 

Nr.  3  vom  2.  I^ezemlier  1S07  Sp.  25  u.  ff. 

Blankenstein  im  Archiv  tür  utTentlichts  K.-ilit  IM.  XIII  I,  S.  128;  sieh« 
hierzu  Gewerbcgcricht  vom  4.  Februar  1897,  II.  Jabrg.  Nr.  5  Sp.  37  ff. 


Vcber  Sehiedsvrrtr.i^e  der  Arbeitgeber  und  Arbehneliincr  etc.  603 

Streitigkeiten!  die  erfahrungsgema(s  aus  der  UnvoHständigkeit  und 
Unklarheit  der  Arbeitsverträge  entstehen,  abschneidet  und  somit 
zur  Erhaltung  eines  friedlichen  Verhältnisses  zwischen  Arbeitgeber 
und  Arbeitnehmer  beizutragen  geeignet  ist".*)  Ein  Schiedsvertrag, 
welcher  Streitigkeiten  der  im  §  3  Gew  erbej^crichtsgesetzes  ge- 
nannten Art  zur  Entsolicidun^  einem  Schiedsgericht  überweist,  ge- 
hört deswegen  nach  dem  Wortlaut  der  R.(i.O.  und  den  Motiven 
nicht  in  die  Arbeitsordnun;:;  hinein.  Infolgedessen  wird  ein  Schicds- 
vertragsentwurf  durch  die  Tliatsaclie,  dafs  er  sich  in  der  Arbeits- 
ordnung befindet,  nicht  für  die  Arbeiter  rechlsvcrbindHch.  Noch 
wenisrer  wird  ein  solcher  Scliieds\crtrag  durch  seine  zufäUige  Auf- 
nahme in  che  Arbeitsordnung  verwandelt  in  einen  Bestandteil  des 
Arbeitsvertrages,  dessen  irundlage''  die  Arbeitsordnung  bildet.  Der 
Schiedsvertrag  kann  niemals  in  den  Arbeitsvertrag  auigehen.  Wäre 
dies  möglich,  so  müfstc  der  Schiedsvertrag  mit  der  Beendigung  des 
Arbeitsvertrages  elienfalls  enden.  Dieses  wird  kaum  jemals  die  Ab- 
sicht der  rarieien  sein,  da  Streitigkeiten  regelmafsig  erst  bei  und 
durch  die  Losuug  des  .Arbeitsvertrages  entstehen.  Zur  Beilej^un^ 
derseU)en  soll  aber  das  Schied.-gericiit  in  Wirksamkeit  treten. 

.Aus  dem  Wirgetragenen  leiten  wir  die  Pflicht  der  unteren  Ver* 
wakungsbchörde  her,  einzuschreiten  und  in  Gemäfsheit  der  §§  134  f. 
a.  a.  O.  vom  Arbei^ber  eventuell  zu  verlangen,  da&  er  die  Be- 
stimmungen über  das  Schiedsgericht  aus  der  Arbeitsordnung  ent- 
ferne. Ungeachtet  dessen  sind  diese  Bestimmungen,  solange  sie  noch 
in  der  Arbeitsordnung  existieren,  keineswegs  untauglich,  dem  Arbeit- 
geber und  Arbeitnehmer  als  Unterlage  zum  Abschluß  eines  Schieds- 
vertrages zu  dienen.  Der  Arbeitgeber  muGs  allerdings  bei  der 
Annahme  des  Arbeiters  in  jedem  einzelnen  Falle  erklären ,  dals  er 
und  der  Arbeiter  sich  bei  vorkommenden  Streitigkeiten  der  Ent- 
scheidung eines  Schiedsgerichts  zu  unterwerfen  hätten.  Alsdann 
genügt  für  die  Details  des  Vertrages  ein  Hinweis  auf  die  Arbeits- 
ordnung. Ferner  wird  es  ausreichen,  wenn  bei  dem  Engagement 
des  Arbeiters  diesem  ein  Kxcmplar  der  Arbeitsordnung  behändigt 
und  ihm  dabei  eröffnet  wird,  dafs  der  Inhalt  derselben  für  üin  und 
den  Arbeitgeber  rechtsverbindlich  sei.   Mag  dann  selbst  der  Inhalt 


')  Motive  «in  Entwurf  eines  Gesettcs  t»etr.  Abündeninc  der  Gewerbeordnung 
Nr.  4,  Reicbstag,  S.  Legislaturperiode,  I.  Session  1890  S.  43.  Lotntar  (Die  Tarif« 
vertrage  zwischen  Arboitgebem  und  Arbeitnehmern  in  diesem  Arcbiv  Bd.  XV  S.  II2) 
bezeichnet  die  Arbeitsordnung  als  eine  einseitige  Verfügung. 


6ü4 


M.  von  Sclialz, 


der  eigentlichen  Arbeitsordnung  aus  ii^nd  einem  Grunde 
ungültig  sein,  die  GültiL^keit  des  Schicds\  ertraores  würde  hierdurch 
nicht  berührt  werden.')  F.iidlirli  >oi  noc!i  auf  die  Sitte  aufmerksam 
gemacht,  dnfs  heim  Eintritt  des  Arbeiters  ihm  die  Arbeitsordnung 
zur  Kenntnisnahme  vorgelegt  und  er  aufgefordert  wird,  nach  Durch- 
sicht der  Arln  itsordnung  unter  dieselbe  seinen  X.inv-n  zu  setzen. 
Mit  der  Unterschrift  des  Arbeiters  dürfte,  wenn  die  Arbeitsordnung 
Vorschriften  über  tlie  schiedsrichterhche  Entscheidunj^  der  ( rewerbe- 
st reitif^keiten  ciUhäU,  ein  rechts';:jültif:jer  schrifthcher  Schiedsvcrtra;:^ 
zustande  ^ckonimcti  sein.  Auf  diese  Weise  können  ein  l  'nternehnier 
und  seine  sämtlichen  Arbeiter  der  Rcchts])rechuMj^  der  dewerbe- 
gerichte  aus  dem  Wet^e  ^cheii.  Der  ArlieitL^ebcr  ist  nicht  darauf 
bcscliränkt,  wie  Cuno  meint,'-)  nur  mit  ein/cliicn  Ari)eitcrn  aus 
besonderen  (i  runden  einen  Schic(kvcrtra^  7.u  verabreden.  Mit 
Unrecht  sucht  (  "uiio  seine  Atisicht  <Uircli  die  Vorschriften  der  R.G.O. 
über  die  Arbeil^oidnung  zu  beii^riiiulcn.  Die  Arbeitsonlnung  ist 
ein  Bestandteil  des  ArbeitsverlraL;<'^.  Der  Schiedsvertrag  gehört 
aber  nicht  der  Arbeitsordnung,  auch  tiicht  dem  Arbeitsverträge  an.^i 
Aufserdem  will  uns  nicht  einleuchten,  warum  die  besonderen  (iründe, 
welche  dem  .Arbeitgeber  gestatten,  mit  einzelnen  Arbeitern  einen 
Schiedsvertrag  zu  schliefsen,  für  ihn  nicht  auch  bei  allen  seinen 
übrigeti  Arbeitern  vorwalten  und  zu  einem  Vertragsschlu&  berechtigen 
sollen. 

Wenn  aus  den  bisherigen  Erörterungen  erhellt,  da(s  das  schieds* 
richterliche  Verfahren  der  R.C.P.O.  auch  auf  die  gewerblichen  Ver- 
hältnisse von  Arbeitgeber  und  Arbeitnehmer  anwendbar  ist,  so 
können  Bedenken  irgend  welcher  Art  nicht  erhoben  werden  gegen 

')  In  Shnlicher  Weise  Muraert  sich  Sclienkel,  Kommentar  zur  R.G.O.  Anm.  13 
nun  9  I34n  S.  438:  Ebenso  können,  falls  ein  Aashang  nach  §  134a  Abs.  i  nnd 
■§  134a  .\bs.  2  nicht  stattgefunden  oder  durch  Arbeitsordnung  in  anHi^rt-r  Weise,  ins- 
besondere durch  Miftcilutij;  oinrs  Abdrucks  an  den  .Arbeiter,  den  in  der 
Fabrik  Heschältigti'n  kundjje>;ebt'n  worden  wciiit;>trii>  di>  nni<;cn  Bestimmungen 
der  Arlx  itsordnunj;,  welche  nicht  nach  J;  134  c  .-Xbs.  2  uusm  iiiit  fshch  einer  nach 
dem  Gesetze  erlai^scnen  Arbeitsordnung  vorbehalten  sind,  aU  gültige  Vereinbarungen 
Über  die  Bedingungen  des  ArbeitsverhilUiisses  privatrechtliche  Wirksamkat  gewinnen. 

*)  Gcwerbfgericht  vom  a.  Dezember  1897  Sp.  27, 

*)  Es  liegt  also  nicht  in  der  Gewalt  des  Arbeitgebers,  wie  dies  bd  den  Be- 
ratung-.n  der  VII.  Reichstag-skommission  behauptet  wurde,  durch  die  Arbeitsordnung 
seine  Arbeiter  ;;an/.  allgenv  in  und  ohne  deren  Zuthun  dem  Gewerbcgericfat  oder  dem 
ordcuüicbcn  Gericht  zu  entziehen. 


Leber  SjchicdsvcrIrUge  der  Arbeitgeber  und  Arbcnuehmer  clc.  605 

'  den  Abschlufs  eines  Schiedsvertrages  an  und  für  sich  durch  die 
genannten  Gewerbetreibenden.  Es  sei  denn,  dals  es  dabei  ^egcn  die 
guten  Sitten  ginge. 

Man  hat  nun  behauptet,  dafs  der  von  uns  oben  erwähnte 
Schiedsvertrag  des  Webers  mit  seinem  Arbeitgeber  gegen  die  guten 
Sitten  verstofse.  Es  wird  ausgeführt,  dafs  der  Arbeiter  nur  infolge 
einer  gewissen  Notlage  sich  zur  Abschliefsung  des  Schiedsvertrages 
bereits  gefunden  habe  und  dafs  es  ferner  nicht  den  guten  Sittea 
entspreche,  einen  Angestellten  und  daher  Abhängigen  zum  Schieds- 
richter zu  bestellen.')  Von  Jastrow^  wird  eingewendet,  dafs  „dit 
Absicht  des  Schiedsvertrages"  dahin  gehe,  nicht  einen  un- 
parteiischen Richter  zu  beschaffen,  sondern  einen,  der  von  einer 
Partei  abhängig  sei.  Dieser  Zweck  widerspreche  aber  der  sittlichen 
Auffassung  richterlicher  I'hätigkcit. 'l 

£s  dürfte  schwierig  sein,  nachzuweisen,  dafs  die  beiden  Parteien 
oder  wenigstens  eine  derselben  bezweckten,  zur  Entscheidung 
ihrer  etwaigen  '^^cwcrbliclien  Rechtsstreitigkeiten  „einen  nicht  un- 
parteiischen Riciitcr"  zu  bestellen.  Auch  würde  es  unverständlich, 
sein .  dals  der  Arbeitgeber  zu  seinen  Ungunsten  ein  parteiisches 
L  rteil  anstrel)i\  Ebensowenig  ist  anzunehmen,  dafs  der  Arbeiter 
der  mit  seinem  W  ilsen  lediglich  dem  Interesse  des  Arbeil;^el)ers 
dienenden  Willkür  des  Schieflsrichters  sich  überliefern  wollte,  jastrow 
hat  deswegen  vielleicht  gemeint,  dals  der  Arbeitgeber  von  dem  er- 
wählten Schiedsrichter  erwartete,  dieser  werde  seine,  des  .Arbeit- 
gebers, Vorteile  wahrnehmen,  gleichgültig  ob  er  oder  der  Arbeit- 
nehmer im  i\et  iite  wäre.  Er  hält  nämlich  die  Abhängigkeit  des 
Werkmeisters  für  erheblich  genug,  ,,um  im  grofsen  und  gruizen 
diese  Person  anders  zu  stellen,  als  es  bei  einem  Richler  sein  soll". 

Es  ist  aber  zunächst  luir  eine  Mutmalsung,^  1  dals  der  Schieds- 
richter sich  durch  seine  Abhängigkeit  beeinflussen  und  zu  Ungerech- 
tigkeiten verleiten  lassen  wird  Die  dem  Arbeitgeber  zugeschriebene 
nicht  anständige  Denkungsart  kann  gleichfalls  nur  vermutet  werden. 
Warum  sollte  nicht  der  Arbeitgeber  den  ernsten  Wunsch  haben^ 


'1  Schal  hörn  in  der  Sozialen  Praxis  vom  S.  Februar  1900  Sp.  485. 

')  Gewcrbcgericht  vom  l.  März  IQOO  Sp.  iiq. 

Fraglich  erscheint,  ob  die  von  Jastrow  angegebene  „Absicht  des  Scbieds« 
vertrage»"  mit  dem,  was  detten  Parteien  bezweckten,  identisch  srein  soll,  oder  ob 
vielmehr  diese  Absiebt  Toa  dem,  was  die  Parteien  im  Auge  hatten,  verschieden  ist. 

*)  Gewifsheit  kaum  natllrltch  hier  nicht  erbracht  werden. 


.  j  _  ^  y  Google 


6o6 


M.  V  u  n  S  c  Ii  u  1  £ , 


dafs  sein  Angestellter  nach  seinem  besten  Wissen  und  Gewissen  die 
Entscheidung  at^ebe.^)  Möglicherweise  bringen  Arbeitgeber  und 
Arbeitnehmer  dem  Werkmeister,  welcher  so  wie  so  bei  vielen  Ge- 
legenheiten die  Vermittlerrolle  zwischen  ihnen  hat,  beiderseits  gleich 
grofses  Vertrauen  entgegen,  so  dafs  sie  ihn  zu  ihrem  Schiedsrichter 
für  geeignet  halten.  Dennoch  soll  infolge  der  Wahl  eines  Arbeiters 
der  einen  Partei  zum  Schiedsrichter  der  Schiedsvertrag  ein  unsitt- 
Uicher  >cin.  Der  Werkmeister  resj>.  Arbeiter  sei  auf  Grund  setner 
AbhäiiLii^^kcil  als  Schiedsrichter  anders  gestellt  wie  jede  tlritte 
Person.-)  Durch  die  „Absicht  des  Schiedsvertrages"  (seinen  Inhalt?) 
werdr  ri-  parteiischer  Schiedsrichter  bestellt.  Es  kommt  hier  zum 
Ausdruck  dasselbe  AHfstrauen ')  gegen  Angestellte  als  S -Iiicdsrichter, 
welchem  wir  bei  ihren  Vernehmunf^en  als  Zeuci^en  so  oil  be-^^ei^nen. 
S''lion  wenn  sie  als  ZeiiL^en  vorLi^esrhlac^cn  werden,  hört  man  häufiL,^: 
,,I)ie  nrbeiten  ja  bei  dem  Kläger  oder  dem  }iekla>,'tcn ;  tlie  nehmen 
wir  nicht  an;  was  die  sn^rcn  das  p;ilt  nicht;  die  schwören  falsch." 
Diese  Bedenken  i^e^cn  die  W  ahrlicitsliebe  der  .Arbeitnehmer  sind 
ebenso  uiij^erecht  wie  die  ;ii)sprcchenden  Urteile  über  ihre  Qualifikation 
zum  .Schiedsrichterami.  Die  lirfahrunt^  bei  den  Gewerbegerichten 
lehrt,  dafs  die  .Arbeitnehmerbeisitzer  wohl  ohne  Ausnahme  —  selbst 
wenn  Prozefssachen  ihrer  Arbeit<^eber  zur  X'erhandlung  stehen^*  — 
durch  ihre  Arbcitnchmerpoüition  sich  nicht  beirren  lassen.  W  ie  wu'  be- 


Auf  Vorhalten  des  Vorsitzenden  d^r  Kammer  II  des  Gewcrbrgericht&,  dafs 
in  dem  Prozefs  des  Webers  der  Werkmeister  io  die  für  ihn  mi&licbe  Lage  kommen 
könne,  za  Ungunsten  seines  Arbeitgebers  den  Scbiedsspni«h  zu  flUlen,  erklSrte  der 
Beklagte,  dafs  er  bei  reiflicher  Ueberlegong  flir  die  Wahl  eines  anderen  Schicds* 
richters  gewesen  sein  würde. 

*)  Fttr  das  Dasein  eines  unmoralischen  Vertrages  kommt  es  im  übrigen  nicht 

tl;ir:iuf  ;ui,  ob  beim  M  chliifs  ilcNs.-lbi-n  busc  .\bsiolitcn  der  P.irtcien  im  Spiele  waren 
oder  nicht.  NN'-  «kr  die  ronii^iclieii  (^>i!.-ll.  ti  noch  das  Iiiirfjerlic!ic  Geriet /rbiidi  machen 
die  Nicliti^keil  tie>  unni!iraH>chen  \"e;tr,iL;''^  liavon  utiliiini,'!^'.  il.iN  <he  kontrahonten 
die  Muralwidrigkeit  kcuncu  (Lotmar.  iJer  unmoralische  \  ertrag  .S.  54  und  .\n- 
merkung  183  S.  171).  Ikis,  Gegenteil  nimmt  an  das  Urteil  bei  Seuffert,  Archir 
XXI  Nr.  3«- 

")  Zugegeben  mag  werden,  dafs  der  Arbeiter  leicht  in  einen  Konflikt  der 
Pflichten  geraten  kann,  indem  er  einerseits  objektiv  urteilen  soll,  andererseits  mit 
Rücksicht  auf  die  ihm  vielleicht  drohende  Entlassung  dem  Interesse  des  Arbeit« 
gebers  geneigt  gemacht  wird. 

In  diesem  Falle  würden  die  Arbeitnehmerbesitzer  wegen  Besorgnis  der  Be- 
fangenheit ablehnbar  sein. 


Ucbcr  üchicdsvcrlrägc  der  Arbeitgeber  und  Arbcilnehnicr  etc. 


reits  anderwärts  oftmals  bemerkt  haben,  lassen  auch  die  Arbeitnehmer- 
beisitzer  bei  den  zu  fallenden  Urteilen,  sogut  wie  es  eben  Menschen 
vermögen,  auf  sich  die  Klassengegensätze  nicht  einwirken.  Sie 
stehen  in  dieser  Beziehung  den  ordentlichen  Richtern  nicht  nach, 
welche  gleichfalls  bei  ihrer  Thätigkeit  unter  den  Einflufs  ihrer 
gesellschaftlichen  Anschauungen  geraten  können.  Der  Arbeiter, 
welcher  durch  das  Vertrauen  seiner  Kameraden  zum  Oewerberichter 
berufen  werden  kann  und,  sobald  er  erwählt  ist,  seine  volle  Pflicht 
.  thut,  ist  an  und  iiir  sich  auch  zum  Schiedsrichter  geeignet^) 

Freilich  liegt,  wie  Meyer  ^  mit  Recht  ausfuhrt,  in  der  Unter- 
werfung unter  die  Entscheidung  eines  Schiedsrichters  überhaupt  ein 
gewisses  Wagnis.  Es  ist  dies  jedoch  nicht  so  schlimm,  da  der 
Schiedsrichter  nach  objektiven  Grundsätzen*)  entscheiden  mufs 
und  hierzu  durch  die  X'orschrift  der  Begründunn;  seiner  Ent- 
scheidung und  durch  die  Strafgesetze  angehalten  wird,  l-erner  hat 
er  ja  auch  seinen  Spruch  zu  hinterlegen.  Unter  diesen  Umständen 
läfst  die  R.C.P.Ü.  im  Gegensatz  zu  dem  früheren,  insbesondere 
römischen  Recht  fast  schrankenlos  jeden  als  Schiedsrichter  zu,  V( 
danach  auch  aiijTcstcllte,  \on  ilircm  Prinzi|)ale  abhäncn^^e  Personen. 
Bereits  das  römische  Recht  fand  niciUs  Ar^cs  darin,  dafs  ein  Haus- 
sohn in  Sachen  des  X'aters  zum  Schiedsrichter  Ix-stelll  wurde.  Ks 
war  selbst  dcmii  cu;^a-n,  welcher  ein  I^terL•^sc  am  Ausgange  des 
Rechtsstreites  hatte,  gestattet,  das  Schiedsrichteramt  zu  über- 
nehmen. '') 

Die  Gesetzgebung  hat  hiernach  nicht  die  MiVlichkcit  für  vor- 
liegend  gehalten,  dafs  die  Bestellung  gewisser  Personen  als  Schieds- 


')  Siehe  bienu  Soziale  Praxis  vom  30.  November  1899  Nr.  9  Sp.  213. 

*)  Meyer  R.  a.  O.  S.  92,  94,  103,  I3I  und  R.St.G.B.  $§  334  tu  33^. 

•)  Xatilrlich  ist  hier  ein  Spielraum  für  subjektives  Ermessen  nicht  ausge- 
schlossen. Dies  triflfl  aber  t;leichmäi"sig  zu  bei  allen  Scbiedsrichte-rn.  Seintsr  hidi- 
vidualilät  wird  stell  auch  der  ordentliche  Kiclit-^r  nicht  inini<r  cnt/ielien  können;  an 
einen  Schiedsrichter  wird  man  aber  nur  die  .\napruche.  welche  man  an  den  ordent- 
lichen Richter  stellt,  erlieben  wolleu.  Vor  wirklichen  Thorhcitcu  und  Uugcrcchlig- 
kciten  schlitzt  den  Arbeiter  seine  Intelligenz  (s.  auch  Schalborn  in  derSoz.  Praxis 
vom  10.  Hai  1900  Sp.  828). 

Die  einzige  Aumahme  bilden  Wahnsinnige  nnd  Kinder.   Meyer  a.a.O. 

s.  57. 

^)  I.  6  und  L  7  pr.  D.  4,  8;  Meyer  a.  a.  O.  S.  53.  54,  55  nnd  Kobler 
a.  a.  O.  S.  498  (Entsch.  des  R.O.H.G.  Bd.  VIIS.   329,  332). 


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6o8 


M.  von  Schulz, 


richter  iiir  unmoralisch  erachtet  werden  könnte.  Wenn  das  Recht 
derart  entscheidet,  so  ist  man  berechtig,  darauf  zu  schlieCsen,  dafs 
im  allgemeinen  auch  die  moralische  Anschauung  dieselben  Bahnen 
verfolgt. 

Weder  nach  romischer  noch  nach  heutiger  Moral ')  ist  es  des- 
halb als  nicht  anstandig  oder  gar  als  unsittlich  zu  bezeichnen,  dafs 
Arbeitgeber  und  Arbeitnehmer  sich  auf  einen  Angestellten  des 
Arbeitgebers  als  Schiedsrichter  einigen.*) 

Da  das  Büi^rliche  Gesetzbuch  eine  Definition  des  unsittlichen  ' 
Vertrages  nicht  bringt,  wollen  wir  schliefslich  zur  Prüfung  da(iir, 
ob  der  Inhalt  unseres  Schiedsvertrages  als  ein  unmoralischer  zu  er- 
achten ist,  noch  die  von  Lotmar^}  aus  dem  römischen  Recht  zur 
Bestimmung  des  unmoralischen  Vertrages  gefundene  Regel  in  Be> 
nutzung  ziehen.  Sie  besagt,  dafs  ein  Vertrag,  um  unmoralisch  und 
danach  nichtig  zu  sein,  eine  Handlung,  Duldiin[^  otlcr  Unterlassung 
vercinlxircn  niuN,  die  entweder  an  und  für  ^'wh  oder  deren  Auf- 
nahme in  einen  Vertrag  oder  deren  k.i  ;  ili  X'crknüpfiing  (im  Ver- 
tri^)  mit  einer  pekuniären  l^tstung  der  Moral  widerstreitet. 

Bei  Anwendung  dieser  Regel  werden  wir  es  nicht  vermögen» 
den  von  dem  VVdier  niit  dem  Arbeitgeber  geschlossenen  Schieds- 
vertrag der  aufj^estellten  Regel  anzupassen,  alsn  dafs  jener  als  ein 
unsittlicher  befunden  werden  müfste.  Denn  die  vereinbarte 
„Duldung",  dals  an  Stelle  des  Ge Werbegerichts  der  Werkmeister 
entscheide,  '-t  nach  unseren  Ausführun<;en  keine  unsittliche,  eben- 
sowenig ist  ilirc  Aufnahme  in  den  Schiedsvertrag  ein  Verstofs  gegen 


Das  Recht  entscheidet  nicm:ils,  ob  etwas  anständig,  unsittlich  ist  oder 

nicht.  Die  panzc  Tra^jc  ist  eine  Moralfragc.  Ob  damit,  <l:\\\  tU-m  AfbfitT  im  Ver- 
traßsi*nt\vurt  anj^ebof .  n  %vur<K',  <ich  oincn  antb-rr-n  Arli- itni-lin'.rr  si  incs  Arbeitgebers 
al>  Solii'.-<bri<.  Iit>  r  t.ill«  is  m  las-cn.  eine  Duliluiig  \ creinbarl  werden  i>ollte,  die  von 
MoralweKL'i»  niciii  vertraglich  2uj;csiciicrt  werden  darf,  ist  nur  durch  die  Moral  zu 
beantworten  (Lot mar,  Der  onmoralische  Vertrag  S  76). 

*}  In  der  von  Schalhorn  cHicrten  übcrtribunalsent^cheidung  handelt  es  sich 
darum,  dafs  eine  Partei  resp.  Generolrersammlmi^  der  Mitglieder  der  PeDsions» 
zuscfaufskasse  der  Mnstknieisler  des  Preufütchen  Heeres  (nur  Organ  einer  Putei?) 
zum  Schiedsrichter  ernannt  ist.  Ein  derartiger  Schiedsrichter  ist  «blehnbar.  Siehe 
Kohler  a.  a.  O.  S.  497  and  Meyer  a.  a.  O.  S.  55.  Nach  röm.  Recht  war  eine 
Partei  xiun  Schiedsrichteramt  unfähig  I.  51  D.  4,  8. 

*)  Lotmar  a.  a.  O.  S.  65,  77,  80. 


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L'cl'i-'r  hclücdsvcrtragc  der  ArbcitgcU-r  und  Arbeitnehmer  etc.  609 

die  Moral.')  Eine  K^usalbeziehung  einer  geldwerten  Leistung  zu 
dieser  Duldung  koniint  endlich  überhaupt  nicht  in  Frage. 

Nach  alledem  müssen  wir  uns  dahin  erklären,  dafs  die  objek- 
tiven Umstände,  unter  denen  der  Schiedsvertrag  vorgenommen 
wurde  und  insbesondere  sein  Inhalt  nicht  so  beschaffen  sind,  dals 
sie  in  Verbindung  mit  den  oben  naher  behandelten  Beweggründen 
des  Arbeitgebers  ein  Vorgehen  gegen  die  guten  Sitten  in  Gemafs- 
heit  des  §  138  Abs.  i  ECB.  enthalten. 

Zu  demselben  Ergebnis  fuhrt  die  Betrachtung  der  „Notlage" 
des  Arbeiters.  Nach  Schalhorn  ist  „unter  Ausbeutung  einer  gewissen 
Notlage  des  Arbeiters,  der  in  erster  Linie  auf  Gewinnung  seines 
Lebensunterhaltes  sehen  mufste",  dessen  Kinversländnis  zum  Schieds- 
verträge erzielt  worden.  ^)  Diese  Ansicht  deckt  sich  bald  niit  der 
Ansicht,  dafs  der  \'crtra;^  des  Arhritcrs  mit  dem  Unternehmer 
immer  unter  „Ausbeutung  der  Xotlai^c"  des  ersteren  zustande  kommt.*) 
Bekannt  ist,  dals  beim  Arbeitsvertia^sschluls  fast  rcgelmälsi;^  der 
Arbeitsgeber  dem  .Arbeitnehmer  die  Bedingungen  diktiert  und  des- 
wej^a-n  der  Arbeitnehmer  auch  dem  etwaif^en  \'orschla;^e  eines 
.^chic<isvcrtra'^fcs  zuzustimmen  ^'enötigt  ist.*)  Alle  diese  X'erträge 
müKten  nach  ."^chalhorn  nirhtiL^  sein.  Doch  tnulet  zur  Zeit  die 
mals^ebende  all^'emeinc  \'nlk>.tiiscliauuiitj[  darin  nichts  Aiisl« «Isi^es, 
wenn  der  .Arbeit'^^ebcr  in  der  L^rschildertc  ii  Weise  seine  Lebermacht 
gegen  den  Arbeiter  mtj4licli->t  hervortreten  lafst. 

Der  anf^efeindete  Schie(l>vcrtrac^  ist  daher  nicht  nichtig.  In- 
direkt ist  dies  auch  .lus  der  Thatsache  zu  folgern,  dals  die  R.C.P.O. 
der  Partei  durch  das  Recht,  den  Schiedsrichter  abzulehnen,  ge- 
wissermaßen nur  ein  Anfechtungsrecht  in  die  Hand  gtebt.    §  1032 


*)  Sdner  Form  nach  wttrde  der  vorliegend«  Vertrag  des  Untemclimers  mit  dem 
Weber  in  diese  zweite  Fonn  des  nnroonliscben  Vertrages  gehören. 

*)  Plank,  Kommentar  zmn  B.G.B.  L  Bd.  2.  Aufl.  S.  189  Anm.  1  smn  §  138; 
Motive  zu  dem  Entwnrfe  eines  BUrgerl.  Gesetzbncbes  für  das  Deutsche  Reich  Bd.  I 
Allgcm.  Teil,  amtl.  .\usgabc  S.  211  u.  Lotmar  a.  a.  O.  S.  56  u  Si. 

^1  Der  Sc  h  ;ilho  rn  sehe  Satz  ist  auch  dahin  /ii  vrr^t«  h- n.  ilaCs  ein  solcher 
Vertra<;.  «irr  an  sich  rtwas  direkt  L'nmorali»chcä  enthält,  durch  die  bcwufste  BUligoag 
des  Arbeiters  nicht  Riihij;  wird. 

*)  Siebe  das  Nähere  darüber  Lotmar  a.  a.  O.  S.  93  und  Blame  in  Iheriqgs 
Jahrbttchem  fttr  die  Dogmatik  des  bürgert.  Reclits  XXXVm.  Bd.,  3.  Folge,  IL  Bd. 
S.  363;  Lotmar  in  diesem  Archiv  Bd.  XV  S.  38  und  Anmerk.  l. 

*)  Starke  Arbeiterorganisationen,  vielleicht  schon  paritStische  Arbeitsnachweise, 
vor  allem  Tarifverträge  (s.  hierüber  Lotmar  a.  a.  O.  S.  t  IT.)  brSchten  Hilfe. 
Archiv  (ur  los.  Ge«etcgebinic  u.  Statistik.  XV.  4*^ 


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6io 


M.  V  Oll  Sc  hu  Ii, 


a.  a.  O.  bestinnnt  nämlich,  dafe  ein  Schiedsrichter  aus  denselben 
Gründen  und  unter  denselben  Voraussetzungen  abgelehnt  n'erden 
kann,  welche  zur  Ablehnung  eines  Richters  berechtigen.  Das, 
was  beim  ordentlichen  Richter  gesetzlicher  Ausschliefeungsgrund  ist, 
gestaltet  sich  för  den  Schiedsrichter  zum  Ablehnuogsgninde  schon 
weil  auch  der  ordentliche  Richer  wc^^^en  dieser  Ausschliefeungs* 
gründe  ablclinbar  ist  42  Abs.  i  R.C.P.O.).  Malsgebend  waren 
also  für  den  klagehden  Arbeiter  <iic  §§  41 — 43  a.  a.  O.  Dies  ist 
dem  Weber  in  dem  al)\veisenden  Erkenntnis  bemerkt  worden» 
Jasirow  sagt,  dafs  die  Ablehnungsgründe  aus  §  41  hier  nicht  zu- 
trett'en.  Der  erwählte  Schieilsrirliter  ist  jedoch,  wie  wir  gesehen 
haben,  nicht  blols  Prozcfsbevollmächtiti^tcr  des  .Arbeitgebers,  sondern 
auch  sein  Zeuge  in  dem  l'ro/.els  vor  dem  Gewerbegericht  gewesen. 

r)a;4Cgcn  stimmen  wir  dem  Schriftsteller  zu.  dafs  die  Ablclmung 
des  Werkmeisters  wc^^cii  der  Besorgnis  seiner  Hcfaii;.:;ciihcit  durch- 
greift. Der  (irund  aber,  welcher  geeignet  ist,  Milstraiicn  gogen  die 
l'nparteilichkeit  des  Werkmeisters  /u  rerlufcrtigcn,  ist  nic!U  in 
seiner  abhäti'figcn  Lage  zu  suehen,  sondern  darin,  dals  er  bereits 
als  Iknollnuii  litigter  und  Zeuge  in  dem  Pro/f->^c  .niü^^tnrctcn  ist.  ') 

Der  Kläge  r  iiat  nun  den  .Schiedsriehtcr  .ujs  diocn  (nuiidcn  ab- 
gelehnt und  bei  dem  (iewerbegericht  eine  Entscheidung  über  sein 
Ablchnungsgesuch  und  über  das  Erlöschen  des  Schiedsvertrages  be- 
antragt. ')  Beklagter  hat  demnächst  die  Ablehnungsgründe  fiir  ge- 
rechtfertigt anerkannt  und  in  die  Lösung  des  Schiedsvertrages  ge- 
willigt  Es  erübrigte  sich  deswegen  eine  Entscheidung,  welche 
eventuell  in  Gemäfsheit  des  §  1045  (87 1}  R.C.P.O.  zu  üllen  gewesen 
wäre.  Die  erwähnten  Ablehnungsgründe,  welche  dem  Kläger  aus 
der  R.C.P.O.  zur  Seite  standen  und  bei  ihrer  Anwendung  den 
Schiedsvertrag  hinfallig  machten,  haben  sich  erst  nach  Schlufs  dieses 
Vertrages  entwickelt.  Sie  konnten  somit  den  Schiedsvertrag,  selbst 
wenn  derselbe  durch  Entscheidung  för  ungültig  erachtet  worden 
wäre,  nicht  nachtr^lich  zu  einem  unsittlichen  machen. 

Dem  gegenüber  ftihrt  uns  der  Minweis  von  Schalhorn  auf  die 


Die  Gegner  unserer  Anncht  werden  den  Arbeitenchicdsriefater  schäm  wegen 
Besorgnis  der  Befangenheit  «blehnes,  selbst  wenn  er  nidit  BevoUmScfatigter  oder 
Zeuge  gewesen  wäre.  ' 

*\  Das  Recht  der  Ablehnung  hat  auch  die  ernennende  Partei.  Meyera.a.O. 
S.  5S.  Dagegen  Wilmowski  u.  Lewy,  Kommentar  xnr  K.C.P.O.,  6.  Aufl., 
Anmerk.  I  zum  §  858  (jetzt  lojau 


Ucber  Schiedsverträge  der  Arbeitgeber  uod  Arbeitnehmer  etc.  ( 


Stets  mehr  oder  minder  vorhandene  Notlage  der  Arbeiter  tlazii, 
aufzuklären,  ob  nicht  die  von  dem  Zeugen  bekundete,  kurz  vor  dem  Ab- 
kommen von  ihnen  ausgesprochene  Drohung,  dem  Kläger,  falls  er  nicht 
den  Schiedsvertragsentwurf  unterschreiben  würde,  Arbeit  nicht  zu  ge- 
wahren, dne  widerrechtliche  genannt  werden  mufs.  Damit  würde  der 
Schiedsvertrag  mit  Un^tttichkeit  durchtränkt  und  anfechtbar  sein. 
Er  gehörte  dann  zu  der  Speeles  von  unmoralischen  Vertragen,  „die 
es  gewissermafsen  nur  von  aufsen  her  sind". Wur  haben  umsomehr 
Veranlassung,  uns  noch  mit  der  Bedrohung  des  klagenden  Webers 
zu  beschäftigen,  als  bereits  während  der  Beratungen  der  VH  Reichs* 
tagskommission  von  dem  Zwange,  welchem  häufig  die  Arbeiter 
unterliegen,  und  dessen  Folgen  die  Rede  gewesen  ist. 

Der  hier  inbetracht  kommende  §  123  Abs.  i  B.G.B,  lautet: 
„Wer  zur  Abgabe  einer  W  illenserklärung  durch  arglistige  Täuschung 
oder  widerrechtlich  durch  Drohung  bestimmt  worden  ist, 
kann  die  Erklärung  anfechten." 

Wie  steht  es  nun  mit  dem  Begriffe  des  Widerrechtlichen? 
Nach  V.  Blume,*  1  dem  wir  fol;^eii,  ist 

1.  die  Dn  .luin>^' an  sich  niclit  widerrechtlich,  wcnn  der  Drohende 
bcrechtij^t  wäre,  sie  auszuiuhren; 

2.  die  Drohung  stets  \er\verflich  und  insofern  auch  wider- 
rechtlich, wenn  ihre  AnwendunL,^  /nni  Zwecke  der  Herhei- 
führunL:  der  konkreten  Willenserklärung  gegen  die  guten 
Sitten  ')  verslofst. 

I'erncr  erklärt  genannter  .Schriftsteller,  dafs  der  Drohende  dann 
an  und  für  .sich  nicht  widerreclulich  L^fhandclt  hat,  wenn  er  ein 
Recht  hatte,  dem  Bedrohten  das  an^ediuhtc  l  el)el  /u/ufü^fen. 

Wir  müssen  verneinen,  dafs  der  von  dem  Werkmeister  auf  den 
Weber  ausgeübte  Druck,  um  denselben  zur  Unterschrift  zu  be- 
wegen, als  eine  unsittliche  Drohung  aufzu&ssen  ist  Sicher  würde 
der  Weber  dem  Schiedsverträge  nicht  zugestimmt  haben,  wenn  er 
hoffen  konnte,  mit  Leichtigkeit  anderwärts  Arbeit  zu  finden.  Da 
es  aber  den  sogen.  Handwebem  heutzutage  schwer  fallt,  ihre  Arbeits- 
kraft  ausgiebig  zu  verwerten,  so  befand  sich  der  Kläger  zwar  that« 
sächlich  in  der  von  Schalhorn  beschriebenen  Notlage.  Es  wird  aber 
tleider  nicht  durchweg  —  insbesondere  nicht  überwiegend  in  Arbeit- 


')  Lotmar  a.  «.  O.  S.  65. 

')  V.  Blume  a.  a.  O.  S.  «53. 

*)  Lotmar  a.  a.  O.  S»  a9,  30  o.  59* 

40* 


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6l2 


M.  von  h eil  u  1  z , 


geberkreisen  —  als  unmoralisch  empfunden,  wenn  der  Arbeitgeber 
aus  einer  solchen  Situation  des  Arbeiters  selbst  durch  das  von  dem 
Beklagten  angewendete  Mittel  der  Drohung  Vorteile  zu  ziehen  sucht. 
Diese  Vorteile  waren  aufserdem,  in  Anbetracht  des  Schiedsvertrages 
nicht  einmal  ökonomische.  Aufserdem  hatte  de»  Arbeitgeber  das 
zweifellose  Recht,  seine  Drohung  wahr  zu  machen  und  den  Arbeiter 
nicht  zu  beschäftigen.  Ebenso  war  er  befugt,  dem  Arbeiter  bekannt 
zu  geben,  dafs  er  im  Falle  der  \\'ei;^^crung  ihm  Arbeiten  nicht  zu- 
teilen werde.  Demzufolge  ist  der  Schiedsvertrag  ebensowenig  an- 
fechtbar wegen  Zwanges  wie  etwa  d;\<  \'ers])rerlieii  einer  Ijohn- 
Crhöliun^^  an  Arbeiter,  utn  einen  Streik  abzuwenden. '  i 

So\  iel  über  das  mehrerwähnte  Urteil  des  Gewerbegerichts  und 
seine  Auslc<;ini^. 

Unsere  Ausfülirunc^en  tmi^en  lioffentlich  dazu  bei,  tlen  Gesetz- 
}:(eber  /u  \rranlassen,  BestiiniiuniL,aMi  über  den  Schieds\crtra'^f  in  die 
\ovelle  zum  ( Trwcrl)e^'cricht-v.:esetz  aufzunehmen.  Hier  wäre  zu 
beiiicksichlii^tn.  dals  die  Vorschi  iticn  der  R.(".l*.(^.  ülicr  den  Sclneds- 
\ertra^  anfanL;s  für  die  Geweri)i  tici  ichte  nicht  berechnet  waren  und 
dals  s?  1045  (Sji  a.  a.  <X  Abs.  I  (Worte:  .\mi>;.;ericht  l.iiid- 
f^ericht)  immerliin  zu  h  riumern  X'eranlassun»^  ^^eben  kann.  W  .is 
al>dann  den  \'c»r«:rhlai^  von  Ja>tr()W  anlanj^t,  den  Schiedsvertrag  für 
gewerbliche  Reciit>streiti<^keiten  zwar  fortbestehen  zu  lassen,  ihn 
al)er  \on  der  Cienehmii^un^  der  (icwerbej^a^richte  aljhtui'^i^  zu 
machen,  .so  sind  wir  mit  demselben  nicht  völli<T  cinvcrstanilen. 
Wenn  man  nun  einmal  den  Parteien  die  Freiheit  lassen  will,  sich 
Schiedsrichter  zu  erwählen,  so  darf  man  diese  Freiheit  nicht 
durch  eine  bevormundende  Aufsicht  des  Gewerbe- 
gerichts einengen.  Es  ist  zudem  klar,  da(s  die  Gewerbe« 
gerichte  der  Regel  nach  die  Genehmigung  versagen  würden,'  es 
sei  denn,  dafs  man  genau  die  Bedingungen  auistellte,  unter  denen 
die  Versagung  stattzufinden  hätte.  Letzteres  wird  aber  nicht  durch- 
führbar sein. 

Hat  man  die  Absicht,  die  Parteien  in  ihrer  Wahl  zu  be- 
schränken, so  wäre  es  angebracht,  ihnen  ähnlich,  wie  bei  der 
Zusammensetzung  des  Einigungsamtes,  es  zu  überlassen,  die 
Schiedsrichter  aus  den  Vorsitzenden  und  Beisitzern 
des  Gewerbegerichts  zu  entnehmen.   Es  würde  nicht  be* 


'1  V.  Blume  a.  a.  O.  .S.  356  und  Loewenfeld  in  diesem  Archiv  Bd.  XIV 
S.  495  IT.   Siehe  aber  Entsch,  des  R.G.  in  Strafs.  Bd.  21  S.  1 14  f(. 


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I  l  iu  r  Schii-ilsvorlrUgc  <Ut  Art«  itjji  l.cr  usul  Ari<riiiu-liiiu  r  i  ic. 


613 


mangelt  werden  können,  wenn  man  den  Parteien  auferlegt, 
in  das  vereinbarte  Schiedsgericht  Arbeitgeber  und 
Arbeitnehmer  von  gleicher  Zahl  zu  senden.*)  Den 
Vorsitz  hätte  ein  Gewerberichter  zu  führen.  Um  jedoch 
den  privaten  Charakter  des  Schiedsgerichts  zu  wahren,  mü&tc  es 
den  Parteien  freistehen,  zu  verfugen,  ob  öffentlich  verhandelt  werden 
soll.  Damit  die  Wahlen  von  SchiedsrirlUoni  sich  nicht  liäufen  und 
um  den  Arbeiter  dem  gebietenden  Einfluls  di  >  Arlieiti^abcrs  mög- 
lichst zu  entziehen,  würde  es  vorteilhaft  sein,  die  Parteien 
anzuhalten,  das  Schiedsgericht  gemeinsam  vor  dem 
Gewerbc<::ericht  zu  ernennen. 

Bis  jitzt  erschien  es  übric^ens  nicht  angän^io-.  den  Prozcls  mit 
dem  X  crlahreii  wc^'cn  der  AhlehnunL^  eines  Sciiiedstichters  7.11  ver- 
binden und  über  l)cide  Ani^u]'";.fenhc!tcn  in  einem  Urteile  zu  be- 
findef),  da  la-i^en  che  Lntseliridun;^  uskt  \l>l(hmuu;  eines  Schieds- 
richters nach  ^;  1045  (871  R,C.l'.( ).  ^«it'.nloc  lioehwerdc  statt- 
hall i>t  und  die  Parteien  (heses  Rec  htsnuttels  durcii  das  l'rteil  des 
CieweriuL'crirhts  xerlusti;^  s^inL;eii.  Pei  ObjcUten  utiter  lOO  Mk. 
zumal  wurde  ihnen  auch  che  Ik-rufuni^''  \ erschh'^^rii  M.in.  Natur- 
j^'emäls  verlangsamt  sich  bei  der  heuii-eu  getrennten  Hehantilung 
die  end^ülti^e  hjitseheidun^  des  Rechtsstreites.  So  ist  es  c'c- 
kommen,  dafs  der  Prozefs  des  Webers  gej^cn  seinen  Arbeit'^nbcr 
wochenlang  gedauert  hat  und  erst  jüngst  durch  Vergleich  beendet 
ist.  Es  dürfte  sich  also  empfehlen,  für  die  Zukunft  im  Gewerbe» 
gerichtsgcsetz  festzusetzen,  dafs  der  G^werberichter  er- 
mächtigt ist,  zugleich  über  den  Prozefs  und  die  Ein- 
reden einer  Partei,  welche  auf  Ablehnung  eines 
Schiedsrichters  hinzielen,  abzuurteilen.  Während  aller- 
dings auf  der  einen  Seite  damit  die  sofortige  Beschwerde  verloren 
ginge,  wird  andererseits  —  und  dieses  ist  sehr  wichtig  —  dem  ge- 
werbegerichtlichen Verfahren  seine  Schnelligkeit  erhalten. 

Zum  Schlufs  wollen  wir  nicht  unterlassen,  noch  darauf  hinzu- 
weisen, tlafs  das  Gewerbegericht  in  seiner  Besetzung  das  beste 
.Schiedsgericht  bildet  und  hierdurch  das  Schiedsgericht  der  R.C.P.O. 
eigentlich  entbehrlich  macht.  *)   Soll  doch  das  paritätische  Schieds- 

'  Bericht  der  VII.  ReicbstagskommiiakMi  6.  16  Man  bat  za  venndden,  dafs 
Werkmeister  tmd  Arbeiter  des  Unteraebmers  Mitglieder  des  Scbiedsgericbts  werden. 

*)  Für  den  von  uns  mehrmals  rrwSboten  Prozefs  war  z.  B.  das  Gewerbegricbt 
nur  mit  sacbversUindigen  Heisiuem  besetzt. 


6l4 


M.  von  Schulz, 


gericht  der  Gewerbetreibenden  nichts  weiter  sein  als  ein  Gewerbe» 
gericht  für  den  speziellen  Fall  und  Betrieb.  Dem  Vertrauen,  welches 

man  dem  Schiedsrichter  entgegenbringt,  verdanken  auch  die  Ge- 
werbegerichtsbeisitzer ihr  Amt.  Hierzu  kotinnt,  dafs  der  Arbeiter 
im  allgemeinen  zum  Gcwerbej^ericht  unbedingtes  Vertrauen  ge- 
wonnen hat,  ein  \'ertrauen,  welches  er  dem  privaten  Gericht  kaum 
in  dem  Mafse  ent^a'^enbrinj^en  wird.  Es  wird  dies  bezeug  durch 
den  Artikel  eines  Arbeiters  über  die  Rechtsi^ülti^keit  gewerblicher 
Schiedsverträi^e  in  der  Zeitschrift  „dewerbcLjericht".  ^) 

I'iir  die  Al)scliaffun^  des  Srhiecls\  crtrai^i  s  lic/üf^lich  der  Ge- 
werbetreibendeii  ist  jedoch  Aussii  hl  norh  nicht  vorhanden.  Was 
die  Mehrheit  der  Miti^heder  der  Rcichsta<^fskommission  darüber 
denkt,  ist  bereits  ol)en  registriert  \v<:irden.  Ferticr  wurde  bisher 
norii  von  keiner  Pro/elskodilikaiioii  <]:<.<  s>  hiedsrifhterhciie  \"er- 
fahren  Ix-sc  itiL^t. -'l  Hiernach  werden  auch  (he  Bedenken,  welche 
Jastrow  ■"')  mitteilt,  zu  berücksichtigen  sein.  P^r  schreibt:  ..W'iiui  sich 
im  Anschluls  an  l'latzordnun^en,  Tarifvertr«ä;^^e  u.  a.  die  l'arteien 
KiniLiun^sämler  zur  Verhütung  von  Streiks  und  Aussperrun^^en 
schaffen,  so  läge  es  durchaus  nicht  im  Interesse  einer  sachgemälsen 
F<ntentwidclung,  wenn  man  ihnen  die  Möglichkeit  nehme,  sich  auch 
für  den  einzelnen  Streitfall  ähnliche  Instanzen  einzurichten".^) 

Sollte  man  endlich  das  Institut  der  Schiedsgerichte  in  der 
einen  oder  anderen  Form  für  die  Gewerbetreibenden  beibehalten, 
so  wird  in  Erwägung  zu  ziehen  sein,  ob  nicht  den  Parteien* 
vorzuschreiben  ist,  dafs  sie  diese  Verträge  schriftlich 
(vielleicht  vor  dem  Grewerbegericht)  schliefsen.  Die  Grunde  der 
Gegner  der  Schriftlichkeit  in  der  VIL  Reichstagskommission  sind 
nicht  durchschlagend.   Wie  sich  die  Gewerbetreibenden  zu  einem 


'  i  vom  6.  Januar  189S  Nr.  4  Sp.  47  u.  48. 

-  j  M  c  y  «•  r  a.  a.  O.  S.  j  2 1 .  Derselbe  erklärt  e»  fUr  einen  M  i  f  s  g  r  i  f  f ,  das  Schieds» 
},'eri<  lit  ah  .  liatTon  /u  wollen,  selbst  wenn  dieses  Institut  nicht  blofs  unnötig,  sondern 
üügar  ilbcriliis.sig  sei. 

Gewerbcjjcricht  vom  1.  März  1900  Sp.  120  a.  E. 

*)  „Fahrikschiedsgeridite'*,  wie  sie  Jastrow  nennt,  mUfstm  aber  unter  aUen 
Umständen  verboten  werden.  Bei  der  Besetzung  solcher  Sthiedsgerichte  sind  die 
Arbeiter  vor  dem  Belieben  des  Arbeitgebers  nidit  genOgend  gesdiUtzt.  Die  Fabrik- 
Schiedsgerichte  werden  deswegen  vielfach  Anstofs  erregen,  sei  es,  dafs  nur  ein  Ar» 
bcitnchmcr  (in  unM-rcm  Falle  ein  Werlimoistcr)  zur  Entscheidung  berufen  wird,  sei 
es,  (lal>,  wie  in  (Irr  Kensterralimentubrik  zu  Leip/if;  (( 'ie\verbep<-! 'i  h'  \r.  2  vom 
4.  >iovcn)bfr  li>97  Sp.  19)  3  Arbeitnehmer  zu  Scbicdärichtem  besümml  werden. 


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Ceber  Schiedsverträge  der  Arbeitgeber  und  Arbeitnehmer  etc.  615 


groisen  Teil  bereits  damit  befreundet  haben,  die  Arbeitsverträge 
schriftlich  abzufossen  (Arbeitszettel),  würde  sich  auch  die  Schriftlich- 
keit  för  Schiedsverträge  einbürgern  lassen.  Notwendigerweise 
müfsten  diese  schriftlichen  Schiedsverträge  ebenso 

wie  die  schriftlichen  Lehrverträge  stempelfrei  sein. 

An  der  Hand  unserer  mehrjährii,ren  Prozefspraxis  behaupten  wir, 
dafs  erst  durch  die  schriftlichen  Arbeitsverträge  ( Arbeitszettcl)  mehr 
Klarheit  in  die  Arbeitsverhältnisse,  welche  bespnders  von  kleineren 
Unternehmern  und  Handwerksmeistern  m^t  Arbeitern  cingc..7angen 
werden,  gekommen  ist.  Wir  sehen  nicht  ein,  warum  nicht  auch 
die  Schiedsverträge,  wcIcIh-  wie  unsere  Aljhandlung  J^eigt,  schwierige 
Verhältnisse  zeitigen,  schriftlich  fixiert  werden  sollten. 


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Der  gegenwärtige  Stand  der  Wohnungsfrage 

in  England. 

\'nn 

EDUARD  BERNSTEIN, 
in  LondoD. 

* 

Keine  l  ia-^o  der  Sozialpolitik  nimmt  zur  Zeit  die  öti'entlichc 
Aufmerksamkeit  iti  Knj^land  so  in  Anspruch  wie  die  Wohnungs- 
frage. Alle  sonstigen  Fragen  dieses  Gebiets  sind  unter  der  Wirkung 
des  nun  schon  seit  Jahren  andauernden  günstigen  Geschäftsganges 
entweder  in  den  Hintergrund  gedräi^  worden  oder  spielen  nur 
als  Spezialfragen  lokalen  oder  partikulären  Charakters  eine  Rolle. 
Einzig  die  Frage  der  Alterspensionen  nimmt  noch  einen  breiteren 
Raum  in  den  öfTentlichen  Diskussionen  ein.  Aber  wenn  sie  auch 
keine  lokalen  und  beruflichen  Abgrenzungen  kennt,  sondern  alle 
Glieder  der  Nation  in  der  einen  oder  anderen  Form  angeht,  so  er- 
scheint doch  selbst  sie  zur  Zeit  nicht  so  dringend  wie  die  Wohnungs* 
frage.  Denn  die  Wohnungsfrage  ist  die  soziale  Frage  der  guten 
Geschäftsjahre.  Zu  allen  Zeiten  den  Arbeiter  und  die  sonstigen 
kleinen  Leute  bedrückend,  wird  sie,  sobald  andauernd  guter  Ge- 
schäftsu,Miv^'  neue  \VandcrunL,'cn  in  die  Städte  verursacht  und  vielen 
die  Möglichkeit  erhöhten  Komforts  sich  eröffnet,  jedesmal  von 
neuem  akut. 

Man  kann  es  in  einem  Pü  1  ausdrücken.  Die  Masse  der 
ärmeren  Bc\  (ilkcrun;^^  lebt  zu  allen  Zcitrn  in  zu  en^jen  Wnlmungen! 
eine  flutf  udc  Meiv^^c.  die  im  Durchschiütl  i^eradc  soxiel  Raum  ein- 
nimmt, um  notdiirfti;^  atmen  zu  k('»nnen.  Nun  koiiinien  von  diesen 
Millionen  1  luiukt  ttau>ende  in  die  I-a;^^e,  etwas  tiefer  Aiem  schöpfen 
iw  kunm-n.  Sie  holen  aus  -  -  und  was  sie  dadurch  mehr  an  Raum 
in  Anspruch  nehmen,  erzeugt  an  anderen  Plätzen  ein  Defizit,  eine 


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Drr  gopciiwärtii^c  Stand  der  Wohnuii^^ir.'^c  ia  I  n^Lcul. 


617 


erstickende  Enge.  Als  die  Veröffentlicliungen  des  britischen  Ar* 
beitsamts  von  Monat  zu  Monat  Lohnaufbesserungen  verzeichneten, 
denen  so  gut  wie  keine  Lohnkürzungen  gegenüberstanden,  über- 
raschte eines  Tages  die  Ixindoner  „Daily  News"  ihre  Leser  mit 
einer  Serie  von  Artikeln,  die  die  Ueberschrift  trugen:  "Xo  Room 
to  live",  und  grauenhafte  Beispiele  von  Wohnungsnot  und  Wohnungs> 
jammer  enthüllten. 

„Kein  Wohnraum  I"  Und  doch  ist  die  Wohnungsfrage  keine 
neue  Frage.  Und  doch  hat  es  nicht  an  Enqueten  über  sie  f  lilt 
und  fehlt  es  nicht  an  Gesetzen  zu  ihrer  Bckämpfun;:^.  Und  doch 
sind,  wie  der  fabianische  Sozialist,  Mr.  Sidney  Webb.  in  einer  am 
I.  März  zu  London  aliL,'ehaltencn  otYentlichcn  Konferenz  über  die 
Wohnunpjsira^e  ausluhrtc.  im  Laufe  der  Jahre  in  iMv^land  \'on  (le- 
mctndcn  uml  Privati^escllschaflen  mindestens  10  .Miiiiouen  Pfund 
Sterlin<^'  für  die  Beliausung  der  arbeitenden  Klassen  ausgegeben 
worden. 

Es  sei  mir  j^a-stattet,  an  diese  Konferenz,  die  \on  X'ertretern 
aller  Parteien  besucht  war,  bei  Erörterung,'  der  derzeitii,^en  Wohnun<^s- 
zustände  und  W«>hnungsgesetzgebung,  bezw.  Wohnungspolitik  in 
England  anzuknüpfen. 

L  Die  Wohn.ungsfrage  auf  dem  Lande. 

Die  Wohnungsfrage  ist,  wie  anderwärts,  auch  in  England  nicht 
nur  eine  Frage  für  die  .Arbeiterklasse,  und  ebensowenig  ist  sie  eine 
auf  die  .Städte  oder  gar  nur  die  Grofsstäche  beschränkte  l'ragc. 
Alle  l'ebel  der  städtischen  W  ohnungsnot  —  sanil.ii>\\  nhigc  Woh- 
nungen, l 'fberfüllung  der  Wohnräume,  Wohnungswurher  —  sind 
auch  auf  dem  I.andc  zu  tlndeii,  und  zwar  oft  in  ihrer  sciiHmm.^ten 
Form.  Mr.  Clement  P^dwards,  der  die  Wohnung.>eniiuelc  der  „Daily 
News"  in  Stadt  und  Land  geleitet,  gab  auf  der  Konferenz  in  einem 
Referat  über  „Schlechte  Häuser  auf  dem  Lande"  drastische  Bei- 
spiele dafiir. 

„In  vielen  der  Kotten  liegt  der  jnlcnc  Fubboden  mehrere  Zoll 
tiefer  als  <üe  ThOrschwelle.  Die  Wolmnmmer  sind  oft  weniger  als  (Hilf 
Fufs  neon  Zoll  hoch,  and  sehr  viele  Scblafränine  sind  blofsc  .Dacliböden. 
Ihr  Fafsboden  beginnt  oberhalb  der  Dachrinne  und  die  schrägen  Seiten 
des  Daches  bilden  ihre  WSnde.  In  verschiedenen  Schlafräumen  von 
Kotten  konnte  ich  nur  gerade  nnterlialb  der  T.inie.  wo  die  beiden  Dach* 
Partien  znsammentrafen ,  aufrechutehen.    Die  Ventilation  war  etwas  au 


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6i8 


Eduard  Bernstein, 


viel  des  Gntea.  Sie  schien,  wie  Topsy,  „gewscbsen"  zu  sein.  Man  findet 

sie  unterschirdsl"-  zwischen  den  Dielen,  Tentärkt  durch  breit«-  Ritzen  in 
d<  n  IXTi  hcrti.  und  aut  ihri  r  H  ihc ,  wenn  ein  starker  Wind  die  Wider« 
standkkralt  der  papienicu  Fcustcr-„Scbetbcn"  Uberkommen  hat." 

Verfallen  und  reparaturbedürftig,  sind  diese  Kotten  oft  grauen- 
haft  überfüllt. 

„Allein  in  einem  Teile  von  Wiltsbire')  sttefe  ich  wfthrend  metner 
notgedrungen  kurzen  Unterrachungstour  auf  fünfzehn  Fälle,  wo  mehr 
als  filnf  Personen  in  einem  engen  Schlafraum  hausten.  In  sehn  Fällen 
waren  es  nxdir  ;il>  seclis.  in  acht  melir  als  sieben,  in  >'-rh>  mehr  al> 
acht,  in  drei  im  lir  al-;  n  -tm.  in  /.wci  mehr  als  zehn,  und  in  ciix-ni  l  allt 
schlieten  elf  rcrsuucn  —  Vater,  Mutler  und  neun  Kinder,  dn^  älteste 
davon  ein  Mädchen  von  filnfzehn  Jahren,  in  einer  einzigen  Schlafkammer," 

Dafs  diese  Benuikiitv^'cn  niclu  iilx  rtrieben  sind,  bestätigt  der 
zusammenfassende  Bericht  des  Mr.  William  C.  Little,  erster  Hilfs- 
koniiiiissar  der  könitjjliclien  rntersucluini^skominission  von  i8q2  über 
.Arl)eitcr\crhältnissc,  wo  es  am  Schluls  heilst,  dais  der  Zustand  der 
\\'n!inun;^en,  in  denen  ein  i^'rolser  Teil  der  1  ..iiidaiheitcr  /u  wohnen 
haben,  che  „am  weiii-^^ten  betrieilii^cnde  Seit«  "  ihrer  I  .t  bensv  erhält- 
nisse  iiiide.  L'nd  an  einer  anderen  Stelle  --eines  Hcrichts  'i?  48) 
charaktrrisiert  Mi.  I.iltle  die  Ani^abcn  der  Spe/.ialkoniniissare  über 
diesen  Punkt  wie  ful^i;  ,.Ks  ist  unmo^dich,  diese  Ik'richte  zu  lesen, 
ohne  den  [)cinlichi  ii  Iviiulruck  zu  empfangen,  dafs  der  Laiularbeiter 
zu  häufig  und  zu  allgemein  unter  Bedingungen  Icljt.  die  ])h\  sisch  und 
moraliseh  ungesund  und  al)stolsend  sind."  (hil'th  and  i  inal  Report 
of  tlie  Royal  Commission  of  I^abour  I,  p.  2091. 

In  diesem  Bericht  finden  sich  aucii  schon  alle  die  Umstände 
angezeigt,  die  einer  Verbesserung  der  Wohnverhältnisse  auf  dem 
Lande  entgegenstehen.  Interessengegensätze,  Tragheitswiderstande 
—  darunter  auch  solche  der  Arbeiter  selbst  —  und  in  einem  Teil 
der  Fälle  auch  Mangel  an  Mitteln  sind  die  Ursachen,  weshalb  in 
diesem  Punkt  der  Fortschritt  sich  langsamer  als  in  anderen  voll- 
zieht. 

Die  besten  Arbetterwohnungen  ünden  sich  auf  den  Gütern 
einer  Reihe  grofer  Landlords. 

„In  England  und  Schottland  sind  die  Verbesserungen  und  die  An- 
erkennung eines  höheren  (\Vohn*)Ideals  in  hohem  Grade  dem  Beispiel 
geschuldet  welches  eine  Aniahl  Grundbesitzer  geliefeft  haben,  die  viele 

LandwirUchaftUchc  Grafschaft  in  Süd-England. 


Der  ^c^cuwärlißc  Stand  der  Wohnun^-it.i^«-  in  Kngland. 


619 


Jahre  hiudiirch  konsequent  sich  die  Verbesserung  der  Lage  der  Arbeiter 

auf  iliroii  Gttteni  lur  Aufgabe  gemacht  haben.  In  vielen  Fällen  sind  diese 
Grundbesitzer  über  die  Wünsche  und  Ansprüche  ihrer  Arbeitt-r  hinaus» 
{jeganfjen  und  haben  l)esscre  Häuser  für  sie  gebaut,  als  »ie  sie  xur  Zeit 

/.u  schät/.en  wissen."    Mr.  I.ittle,  ^  43.^ 

Dafs  die  Landarbeiter  \  ielfach  erst  zur  Würdigung  eines  ordent- 
lichen und  gesunden  Heims  erzogen  werden  müssen,  ist  ohne 
weiteres  zuzugeben.  Es  ^iebt  aber  noch  einen  zweiten  Umstand, 
der  die  Arbeiter  abhält,  die  von  solchen  I^ndlords  errichteten 
Häuser  zu  benutzen.  Es  ist  das  System  der  Bindung  dieser  Häuser 
an  Pacht;4Üter.  Die  Pächter,  die  von  den  Grundbesitzern  Boden 
pachten,  bestehen  darauf,  d.iW  ilinen  nnt  diesem  Boden  eine  [ge- 
wisse .Anzahl  von  Kotten  zm  Wrfui^un^  ^esteUt  werden,  so  dafs 
sie  die  Mietsherrn  ihrer  .Arbeiter  werden.  W'as  das  für  diese  be- 
deutet. Hegt  auf  der  Hand.  „Aulscr  .Arbeit,  aufser  der  Wohnung;", 
erklärten  die  Eniui.u  Initer  dem  Mr.  Edwards.  „Der  .Arbeiter  zieht 
es  ents(  Iiifdcn  \or,  direkt  beim  Pligcnlüincr  zur  Miete  zu  wohnen", 
heifst  OS  im  Bericht  des  Mr.  I.ittle  50.  Der  .\rbeiter  will  für 
seine  Wohnung;  nicht  von  seinem  unmittelbaren  l.nhnhcrrn  ab- 
hängen. Er  zieht  es  oft  vor,  weit  entfernt  eine  elende  Baracke 
oder  cinijj^e  Kammern  in  einer  solchen  zu  mieten,  als  die  bessere 
und  billigere  Kotte  zu  beziehen,  die  ihm  der  Gutspächter  bietet. 
Er  schätzt  seine  Unabhän^Mgkcit  höher  als  den  Wohnungskomfort. 
Was  aber  vor  allem  auf  dem  Lande  fehlt,  sind  freihändig  erhältliche 
Wohnungen.  Vom  Bauen  auf  Spekulation  ist  bei  der  Unsicherheit 
der  Verhältnisse  auf  dem  Lande  wenig  zu  erwarten,  und  in  den 
Gemeinde*  und  Distriktsräten,  wo  die  Bauern,  bezw.  Pächter  über* 
wiegen»  fehlt  es  teils  an  dem  nötigen  Gemeinsinn,  den  Bau  von 
Häusern  selbst  in  die  Hand  zu  nehmen,  teils  sind  auch  die  Voll- 
machten dieser  Körperschaften  zu  beengt 

So  stellt  sich,  trotz  der  sonstigen  Verschiedenheit  der  Verhält-  * 
ntsse,  das  Wohnungsproblem  auf  dem  I^nde  in  den  Hauptpunkten 
ähnlich  wie  das  in  den  Städten  und  weist  auf  gleichartige  Mittel 
der  Abhilfe:  Stärkung  der  Position  der  Sanitätsbeamten  (die  heute 
in  viel  zu  grofser  Abhängigkeit  von  den  Bauern  und  Pächtern  sind, 
um  ihnen  energisch  entgegentreten  zu  können),  Ausübung  stärkeren 
Drucks  auf  die  Gemeinden  und  Distrikts(Kreis)- Vertretungen,  um 
sie  zur  Erfüllung  ihrer  Pflichten  zu  bewegen,  Aufhebung  lästiger  X'or- 
schriften,  die  den  Gcmcinflen  das  Aufnehmen  einer  guten  Baujjolitik 
zu  umständlich  und  kostspielig  maclien.  Da  wir  diesen  Vorschlägen 


620 


Kduard  Rcrniitcin, 


auch  bei  Behandlung  der  städtischen  Wohniingsfraf^c  be^^^cL^nen,  er- 
übrigt es  sich,  hier  genauer  auf  >ic  cin/u-clu  n.  Fc'^t;4t■-^t(llt  sei 
dagejjen  noch,  dats  }*älle,  wo  wirkliche  1  nularbeiter  eigene  Häus- 
chen besitzen,  nach  dem  Bericht  des  Mr.  Little  nur  vereinzelt  vor- 
kommen. 

II.  Die  städtische  Wohnungsfrage. 

Ks  licj^t  auf  der  liand,  dats  die  \Vohnuiu,'sl'ra^'e  in  <lcn  Städten 
je  nach  deren  (ir'il>e  in  .uulcrcn  !-if  iiuii  auftritt.  Aber  nur  in 
(janz  \crciii/.cllcn  I  Tillen  sind  tlie  n  inuntei -eliietlc  von  solchen  der 
Art  bc:^loitet.  iJals  in  einer  kkintn  Statit  die  Rnunucrhältiiisse 
nicht  die  ideiehe  RmHc  spielen  wie  in  tler  ( ir«  iissiadt.  d.  h.  dafs 
auf  die  räunilielie  <  i  i  uj  •]  »lenui^  der  Mauser  weni^  ankoiunit,  weils 
ein  jeder.  .Aber  nicht  )eiler  weii>.  dals  selbst  das  scheinbar  .spezi- 
fische Leltlcn  der  ( irolsstädte,  die  L^rolse  I'.nllernun^  vier  .Arbeits- 
stätte von  der  Wohnsiätte,  auch  Ln  kleinen  Städten  nicht  unbekannt 
ist  Wohl  spielt  es  sich  da  nicht  im  Rahmen  eines  Orts  aK  Aber 
häufig  genu^  zwingen  die  Wohnverhältnisse  den  Arbeiter,  an  einem 
anderen  Ort  zu  wohnen,  als  wo  er  arbeitet.  Wohnungswucher, 
UeberfüUung  der  Wohnungen  und  sanitätswidrige  Beschaffenheit 
'  der  Wohnungen  sind,  wie  jeder  Fachkenner  weifs,  nicht  von  der 
Gröfse  des  Orts  abhängig. 

Es  kann  daher  iiir  den  Zweck  dieses  Artikels  von  der  separaten 
Behandlung  der  Grofs-,  Mittel-  und  Kleinstädte  abgesehen  werden. 
In  den  Hauptpunkten  fuhrt  die  Wohnungsfrage  überall  äuf  die 
gleichen  Grundfragen.  Es  sind  nur  Xebenfr^en  oder  die  Gradver- 
hältnissc,  die  differieren.  Und  da  zeigen  Orte  der  gleichen  Gröfsen- 
stufe  oft  stärkere  Unterschiede  auf,  wie  der  T)Lnchschnitt  der  einen 
Gröfsenkl  1V--C  zu  dem  andrer,  rnterschieile  der  Lage,  der  Boden\  er- 
teiluii.:,  des  Wohlstands,  der  Klassen-  und  Berufsgruppierung,  der 
Ueberlieferungen  u.s.  w.  schaffen  überall  gewisse  Besonderheiten  und 
lassen  hier  eine  bestimmte  Seile  des  lV<tblems  stärker  hervortreten 
als  dort,  oder  eine  andere  \öllig  zurücktreten.  Im  konkreten  ball 
gilt  es  tlaher.  diese  lokalen  lk'>underheiten  zu  erkeiuien  uikI  nach 
ihnen  die  Methoden  der  .Abhille  ein/urichten.  bür  die  piin/if)ielle 
Betrachtung  kann  von  solchen  l^i 'iiderheilen  abgesehen  werden. 
Was  >ie  l)raucht,  sinfl  tvpische  Jjei^j'iele  für  die  Grundfragen  des 
W'ohiumgsiiroblenjs  be/\v.  der  W'ohnungsjiolitik. 

hl  dieser  Hinsicht  ist  nun  die  Kiesenstadt  Lontlon  eine  wahre 


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Der  gegenwärtige  Stund  der  Wuhnungslragc  in  Kngland. 


621 


Musterkarte  der  Wohnungsfrage.  Es  giebt  kaum  einen  Tyi>u.s,  der 
hier  nicht  vertreten  wäre.  Keine  zweite  Grofsstadt  der  Wdt  ist  so 
differenziert  und  dezentralisiert  wie  London.  Handelsstadt  und 
Fabrikstadt,  Luxusstadt  und  Gartenstadt  finden  wir  in  London  in 
variierenden  Typen  bald  fast  streng  gesondert  nebeneinander,  bald 
als  Konglomerat  zusammengewtrbelt,  Ueberreste  aus  allen  Jahr« 
hunderten  neben  modernsten  Schöpfungen.  London  ist  bekannt  ab 
die  Stadt  der  gröfsten  Kontraste.  Aber  nicht  das  ist  der  bedeut- 
samste seiner  Kontraste,  dals  es  zugleich  den  gröfsten  Reichtum  * 
und  die  bitterste  Armut  birgt.  Mit  nur  wenig  Modifikationen  zeigen 
das  andere  Grofsstädte  auch.  Aber  nirgendwo  anders  in  der 
Welt  fitidct  man  gleich  grolsi-  Kontraste  in  der  Lebensweise  von 
Angehörigen  der  gleichen  X'olkskiasse,  der  gleichen  Berufsschicht. 
Und  diese  Kontraste  sind  im  hohen  (irade  Produkt  tlcr  verschieden- 
artigen Wohnunc^^x crhähnisse  Londons.  Mehr  als  das  Kleid,  ist  es 
die  Wohnung,  (hc  den  Menschen  macht.  Bei  derselben  Lohnhöhe 
wird  der  Arbeiter ,  der  in  gewissen  X'ierteln  der  inneren  Stadt 
Wohnung  nimmt  und  behält,  mit  so  und  viel  grölserer  Wahr- 
scheinlichkeit zum  Säufer,  >i  ine  I'Vau  zur  Schmut/.finkin,  seine  Kinder 
an  das  Tragen  zerri^^t  iur  Kleider  gewöhnt,  als  wenn  er  ein  Häus- 
chen in  einer  der  X'orstäilte  iKväeht.  Keine  <  inilsstadt  der  Welt 
vereint  so  \icl  Stoll  zu  einer,  wenn  nicht  re\  nkitionären.  so  doch 
radikalen  Arbeiterbewegung.  wi(  London.  Wenn  aber  in  London 
die  Arbeiteii)ewegung  scliwächer,  zur  andauernden  selbständigen 
Bethätigung  unfähiger  ist  wie  die  jeder  anderen  ('irofsstadi,  so  tragen  • 
die  Loiulotur  Wohin  erhältnisse  hieran  den  \ornchmstcn  Anteil, 
l  nmensciiliche  Höhlen,  die  im  Laufe  tler  Zeil  alle  Spannkraft  des 
Geistes  ertöten,  oder  unmensciilichc  Entfernungen,  die  zwischen 
denen,  die  zusammengehören,  keinen  intimen  Verkehr  erlauben, 
das  sind  die  Scylla  und  Charybdis  der  Wohngelegenheiten  der 
Londoner  Arbeiter.  Mit  dem,  was  zwischen  ihnen  liegt,  umfassen 
sie  alle  Probleme  der  Wohnungsfrage  der  Neuzeit 

Man  kann  diese  Probleme,  die  natürlich  mannigfach  inein- 
andergreifen, in  vier  Gruppen  verteilen,  und  zwar: 

1.  Sanierung  und  Instandhaltung  der  Wohnquartiere,  sanitäre 
Beaufsichtigung  der  Wohnungen  und  Mafsregeln  gegen  ihre 
UeberfUUung; 

2.  Fürsorge  iiir  ausreichende  Wohngelegenheit; 

3.  Schutz  gegen  Wohnungswucher; 

4.  Fürsorge  für  ausreichende  und  billige  Verkehrsmittel. 


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622 


F. duard  Bern. stein, 


Was  die  erste  Gruppe  betrifft,  so  weichen  die  sie  betreffenden 
Gesetze  nicht  wesentlich  von  denen  des  Festlands  ab.  Die  Grund- 
sätze für  die  Zusammensetzung,  Rechte  und  Pflichten  der  Sanitäts- 
behörden sind  durch  verschiedene  allgemeine  Gesetze  festgelegt 
(Public  Health  Acts),  während  für  die  Baupolizei  meist  Spezialgesetze 
oder  örtliche  Verordnungen  soi^en.  Zu  Beschwerden  geben  hier 
weniger  die  au%estellten  Grundsatze  der  Wohnungshygiene  Anlafs,*) 
die  rationell  genug  sind,  als  die  mangelhafte  Durchführung  derselben. 
•  Es  sind  zu  wenip;  Beamte  dafür  da,  ihre  Rechte  sind  nicht  aus^jedehnt 
genug,  und  sie  sind  auch  oft  nicht  unabhängig  genug.  Dir  Sanitäts- 
liehörtlen  sind  Organe  der  Selbstverwaltung,  und  wo  diese  in  den 
Händen  der  Grundbesitzer  ist,  sind  die  Aufsichtsbeamten,  die  ihre 
Pflicht  zu  streng  nehmen,  Mafsregelungen  aller  Art  (Xichtwieder- 
wahl  etc.)  aus^jesetzt.  Dies  gilt,  wie  wir  sahen.  namcntHch  von  den 
ländlichen  Sanitätsl)ehörden.  Xarh  dem  Public  Hcahh  Act  von  1875 
bilden  auf  dem  L.andc  die  Aniu  iii  iiie  die  Sanitätskommission  ihres 
Distrikts,  und  bis  1803  waren  diese  ausschliclslirli  aus  der  Klasse 
der  Rcsit/eii(icn  zusamniciv^esetzt.  Imsi  in  jenem  Jahre  hob  der 
Minister  Fowler  durch  einen  Rr;^^icruni^sakt  den  W'ahl/.ensus  auf, 
so  dafs  jetzt  alle  scll>sländi<:jen  Mieter  —  auch  Frauen  —  (ia^  aktive 
und  passive  Wahlrecht  liabcn.  Das  liat  tlen  Räten  schon  vielfach 
frisches  Blut  zugeführt,  du(^h  ist  noch  zu  kurze  Zeit  verstrichen,  als 
die  Rückwirkung  jenes  Akte>  sich  im  vollen  M.ifsc  hätte  geltend 
machen  können.  In  den  Städten  sind  die  Gemeindevertretungen  die 
Sanitätsbehörde,  und  da  gilt  so  ziemlich  diis  gleiche.  Die  Demo- 
kratisierung des  Wahlrechts  ist  noch  zu  neuen  Datums  und  nicht 
weitgehend  genug,  als  dats  sie  jenen  Vertretungen  den  Charakter 
der  Vertretung  der  Besitzenden  schon  völlig  hätte  nehmen  können. 
Aber  England  hat  wenigstens  keine  spezielle  Klassenvertretung  der 
Grund>  oder  Hauseigentümer,  das  Wahlrecht  ist  vielmehr  durch- 
gängig ein  solches  der  Wohnungsinhaber,  so  dafe  das  Mieterinteresse 
fast  überall  den  Ausschlag  giebt 

Die  Sanitätsbehörden  unterstehen,  ebenso  wie  die  Gemeinde* 
vertretur^en  in  ihren  sonstigen  Funktionen,  der  Aufsicht  des  Mi* 
nisteriums  für  die  Ortsverwaltui^en  („Local  Government  Board"). 
Es  überwacht  die  Innehaltung  der  diesen  Behörden  gesetzlich  zu- 


')  Indes  wird  bebftuptet,  d*fs  die  Londoner  Bawerordnoag  von  1894  ittr  »>• 
genannt«-  I^lockhäuscr  (^rnr<;e  massive  Gebinde  mit  vielen  Stockwerken)  nkfat  ge* 
nVscnd  Luftraam  sicher  stellt. 


^  ij .  .-Lo  Ly  Google 


Dir  jjtj;t  n\vuriij»o  Slaiul  der  Wulmungslra^c  in  Kngland.  02 J 

gemessenen  Vollmachten  und  kann  sie  gegebenenfalls  zur  Beob* 
achtung  ihrer  Pflichten  anhalten. 

Wo  es  sich  lediglich  um  Anlegung  neuer  Wohnquartiere  bezw. 
den  Bau  neuer  Wohnungen  handelt,  stehen  der  Ausübung  der  Sa- 
nitätspolizei keinerlei  nennenswerte  Schwierigkeiten  gegenüber. 
Ihre  Vorschriften  werden  da  meist  ohne  Anstand  befolgt  Die 
Schwierigkeit  ist  der  Kampf  mit  der  Ueberföllung  und  Verrottung 
bestehender  Wohnhäuser  und  der  Verseuchung  von  Wohnquartieren. 
Hier  ist  die  englische  Freiheit  vielfach  ein  Hemmnis  des  Fort- 
Schritts,  indem  sie  dem  p  a  s  s  i  \'  e  n  Widerstand  zu  gute  kommt, 
den  nur  zu  viele  Mieter  den  Anordnungen  der  Sanitätsbeamten  ent- 
gegensetzen, sofern  sie  sich  nicht  überhaupt  deren  Konirolle  ent- 
ziehen. Das  zweite  Hemmnis  ist  die  UmständUchkeit  und  Kost- 
spiclii^'kcit  des  R  n  t  e  i  g  n  u  n  g  s  v  e  r  f  a  h  r  e  n  s  I )ei  der  Lichtung  bczw. 
Niederlegung  ungesunder  und  übervölkerter  Ouartierc.  I'iir  London 
biklet  eine  dritte  SchwieriL^kcit  die  \'nrschritl  des  Gesetzes  von 
l8r;o  ül)er  die  Ik'hau->utiL,'  der  arltcitciideii  Kla^^en,  dafs  durl  l)ei 
jedci-  snlrhcr  XiederltL^img  che  l)ttret1entie  Hehi)rde  itn  gleichen 
Distrikt  uuiulcstens  ebensoviel  neue  \V  o  h  n  u  n  c  n  für  Arbeiter 
herstellen  oder  lierstellen  lassen  niufs,  als  durch  das  Lichten  be- 
seitigt werden.') 

Wir  sind  daniit  an  einem  Punkte  aiiL^ciaiiL^t,  wo  der  Kanijtf 
gegen  samlätswiiirii^fes  Wohnen  mit  dem  Problem  der  Sorge  für 
ausreichende  V\'ohngelcgenheit  /.usanimenfällt ,  be/.w.  in  dasselbe 
übergeht.  Lichten  von  Quartieren  iieifst  Erweiterung  des  Luftraums. 
Die  Stra&e  oder  Strafsen  werden  erwettert,  die  Höfe  oder  sonstigen 
Räume  hinter  den  Häusern*  desgleichen,  neue  Stra(sen  werden 
durchgebrochen,  neue  Plätze  angelegt.  Sollen  also  dieselbe  Zahl 
Wohnungen  erstellt  werden,  die  vernichtet  wurden,  so  müssen  ent- 
weder die  neuen  Häuser  erheblich  höher  gebaut  werden  als  die 
alten,  oder  es  mufs  auf  noch  gröfserer  Fläche  operiert  werden  als 
sonst  nötig  gewesen  wäre.  Denn  leere  Häuser  oder  Grundstücke 
sind  gerade  in  der  Nachbarschaft  solcher  Quartiere  Londons  selten 
aulzutreiben. 

Gut  gemeint,  wie  die  Vorschrift  war,  hat  sie  so  das  Lichten 


*)  Art.  1 1  des  Honsing  of  tbe  working  classes  Act.  1890.  Nach  AbsaU  3  des- 
selben Pangrapben  kami  auch  fttr  Lichtungsprojekte  in  anderen  Städten  diese  Be- 
dingung vorgeschrieben  werden.  Aber  hier  ist  es  dem  I^r^le^scn  der  Aufsichtsbehörde 
anbetmgesteUt,  ob  die  örUicben  Verb&ltnissc  die  Verfügung  nötig  machen  oder  nicht. 


624 


l.  d  u  a  r  <l  Iii:  r  n  » l  f  I  n  , 


sanitätswidriger  Quartiere  zu  einer  überaus  kostspieligen  Sache  -ge- 
macht, die  allerhand  neue  Uebel  nach  sich  zieht.  Die  neuen 
Wohnungen,  welche  die  Behörde  —  d.  h.  also  in  London  der 
Grafschaftsrat  —  erstellt»  sind  für  die  Masse  der  aus  den  alten  aus- 
quartierten Mieter  gewöhnlich  von  keinem  Nutzen.  Denn  die  Be- 
hörde verlangt  von  den  Mietern  Einhaltung  der  Sanitätsvorschriften, 
wie  sie  dem  Gesetz  zu  Grunde  liegen,  und  bietet  ihnen  einen 
Komfort»  für  den  sie,  so  bescheiden  er  ist,  teils  nicht  die  Mittel, 
teils  aber  auch  noch  nicht  den  Sinn  haben.  Es  ist  über  jeden 
Zweifel  hinaus  festgestellt,  dals  stets  eine  andere  Klasse  von  Mietern 
in  die  neuen  I Tanger  (  iiizieht  als  aus  den  alten  ausc|uartiert  wurde. 
In  (1cm  Cläre  Market  Quartier,  unweit  Drury  I.ane,  das  vor  einigen 
J.ihren  mit  Li^rofscm  Kostenaufwand  ^^^oliclitct  wurde,  sind  in  den  afi 
Stelle  der  alten  erbauten  neuen  Arbeitcrwolinungen  noch  nicht  2o 
Familicti  '^-fuiulen  worden,  die  in  den  niedcrj:,a"nssenen  Mäusern  i:je- 
wohnt  hatten.  In  die  W'ohnujf^'cn,  die  der  Londoner  Grafschaftsrat 
in  H()undar\-  Strct  i,  i^rthnal  <  noon  'Kastetid)  errichtet  hat  und  die 
am  3.  Marz  ti.  J.  nnt  einer  Ansprache  des  l'rin/en  von  Wales  er- 
öffnet wurden,  welciie  die>eni  selbst  <.lcn  iieifall  sozialistischer 
Blatter  eintrul,^  sollen,  wie  auf  einer  ani  30.  März  in  der  Ij  uidoner 
^  (luildiiall  abi^chaltenen  Konferenz  von  .Xrnienräten  erklärt  wurde, 

nur  sechs  der  ursprünt^lichen  Mieter  ein^ezo^en  sein.  Diese  Woh- 
nuni^en,  die  auf  5  3S0  Personen  berechnet  sind,  kosteten  den  ( iraf- 
schaftsrat  über  12'^  Millionen  Mark  —  auf  die  funfkojjtige  1-aniiHc 
eine  Ausgabe  von  tlurchschnittlich  i2  500  Mark.  Dafür  kann  man 
aber  in  den  Londoner  Vororten  schon  eine  ganz  nette  kleine  Villa 
haben.  In  dem  Cläre  Market  Distrikt  bei  Drury  Lane  (Mittel  London) 
stellt  sich  aber  der  Kostpreis  noch  viel  höher.  Hier  wäre  es  billiger 
gekommen,  jedem  Mieter  eine  recht  anständige  Villa  in  einem  der 
Vororte  zu  bauen,  statt  Arbeiterwohnungen  auf  Boden  zu  errichten» 
auf  dem  eine  hohe  Vorzugsrente  ruht.  Diese  Rente  wird  jetzt  den 
neuen  Mietern»  die  einer  ganz  anderen  Klasse  wie  die  alten  ange- 
hören» mit  in  den  Kauf  gegeben.  Wohl  dem»  dem  sie  zufallt,  aber 
eine  rationelle  Wohnungspolitik  ist  das  nicht.  Zumal  unter  der 
Hand  doch  voraussichtlich  alle  möglichen  Geschäfte  mit  dieser 
Rente  werden  gemacht  werden  und  in  ihr  ein  starker  Anreiz  zur 
Bestechung  der  betr.  Verwaltungsbeamten  und  zu  anderer  Korrupt 
tion  liegt. 

Wo  aber  bleil)en  die  aus(::fcmieteten  Bewohner  der  zerstörten 
Häuser?  Nun,  sie  ziehen  nicht  in  die  X'ororte»  sondern  suchen  meist 


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Der  gegenwärtige  Stand  der  Wubnungstragc  in  England. 


625 


SO  nahe  ihrer  alten  Wolinungen  wie  nur  möglich  irgend  welche 
Unterkunft  zu  finden,  da  sie  dort  ihren  kärglichen  Verdienst  haben. 
Und  da  sie  an  Reinlichkeit,  Komfort,  Raum  die  denkbar  geringsten 
Anforderungen  stellen,  so  finden  sie  auch  neue  Unterkunft,  denn  es 
ist  ein  gutes  Geschäft,  durch  „Zerschlagen'*  grofserer  Wohnungen 
Wohnhöhlen  —  „slums"  —  zu  fabrizieren.  Und  so  bildet  sich  bald 
in  der  Nähe  des  eben  beseitigten  ein  neues  Höhlenquartier. 

Ueber  die  Einträglk^hkeit  der  Verwandlung  menschlicher  Woh> 
nungen  in  Wohnhöhlen  schreibt  Mr.  Haw,  einer  der  Kommissare 
der  „Daily  News",  in  der  Schrift  „No  Room  to  live",  die  die  Woh* 
nungszustände  Londons  behandelt: 

*  „Manches  in  einer  Seitengass«  von  Bennondsey  oder'dnem  der  Hüte 

von  Betknal  Green  (eng  bevölkerte  Arbeiterviertel  Londons)  gelegene 
Hiuschen  von  sechs  Räumen  tr%t  fiir  jeden  Raum  sechs  Schillinge  die 

Woctir  chIit  93  Pfd.  Stcrlg.  das  Jalir,  während  auf  den  Anhöhen  vot» 
Highgal'-  <»1'T  in  dm  Allron  von  Dnlwidi  dio  Mi.-f>_'  rin<T  klrini-n  Vilhi 
von  acht  Kaiinn  ii  mit  Badcvurrichturi;,'  uii  l  ( i.irtm  vorn  und  liint'  ii  s;init 
der  Steuer  50  I'ld.  im  Jahr  nicht  übersti  igt.  Wie  der  (christlicii-^'^/ial.-) 
KanoEÜkas  Scott  Hollaad  bemerkt  liat,  scheint  es  die  Regel  zu  sein,  d  iu 
.das  Gesetz  der  Rente  sich  unter  heutigen  VerhiUtnissen  so  gestaltet,  dafs 
je  inner  ein  Distrikt  wird,  seine  Renten  um  so  höher  steigen'.'* 

Mit  Bczu^  auf  die  X  ilh  n  in  den  ;^n  ti.uinteti  X'orortcn  hat  der 
Verfasser  vielleicht  etwas  zu  ojjtiinistisch  ^n->elien;  man  findet  sie 
wohl  zu  jenem  Preis,  alier  dann  sind  (lürten  und  Zinimcr  sehr  klein. 
Indes  kann  man  für  wenii^c  Pfund  mehr  in  der  Tliat  in  den  X'or- 
ortcn I.oiulons  ein  wohnliciics  Flaiis  hal)en.  Aber  das  mit  dem 
Steigen  der  Reute  in  den  ul)cr\ ulkerti  ri  Distrikten  ist  niciit  ul)cr-  • 
trieben.  In  den  verschiedensten  Formen,  die  dem  Oekonomie 
Studierenden  Anscliaulichkeitsbeispiele  ersten  Ranges  bieten,  bricht 
sich  das  Gesetz  der  Vorzugsrente  daselbst  durch. 

Es  ist  keineswegs  immer  der  Eigentümer  des  Grund  und  Bodens 
oder  der  des  darauf  erbauten  Hauses,  der  die  Zuwachsrente  ein- 
streicht Das  eigenartige  Bodenbesitzs)'stem  Englands  bewirkt  es, 
dals  sich  zwischen  dem  wirklichen  Grundeigentümer  und  dem 
wirklichen  Insassen  einer  Wohnung  eine  ganze  Reihe  von  Zwischen« 
Pächtern  schiebt«  so  dafs  es  oft  ein  schier  unlösbares  Problem  ist, 
festzustellen,  wer  nun  eigentlich  für  die  Oeflentlichkeit  der  haftbare 
Vermieter  ist  Der  Grundbesitzer  hat  gewöhnlich  den  Boden  zu 
einem  bestimmten  Pachtsatz  auf  99  Jahre  oder  länger  verpachtet, 
der  Pächter  hat  nun  den  Boden  entweder  bebaut  oder  unbebaut 

Archiv  für  toi.  Gc«eisge1>niic  n.  StMwtik.  XV.  4t 


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626 


I .  tl  u  a  r  d  Ii  c  r  ii  s  l  c  i  n , 


parzelliert  und  weiter  verpachtet,  auf  Bau-  oder  Reparaturpacht- 
verträge hin,')  und  diese  Verträge  haben  mehrmals  die  Hand  ge- 
wechselt, bis  endlich  ein  Kaufer  zwar  das  Haus  behält,  es  aber  auf 
längere  Pachtfristen  (3  Jahre  oder  mehr)  weiter  vermietet.  Der 
letzte  Mieter  des  ganzen  Hauses  mag  es  seinerseits  „parzelliert",  d.  h. 
es  in  Teilwohnungen  auf  kürzere  Fristen  vermietet  haben,  w^o  dann 
auch  noch  weitere  L'iitervermietung  möglich  ist.  Inzwischen  mag 
der  urspriin^lirhc  Grundtitel  auch  einige  Uebertra^un;_,fcn  durch- 
gemaclit  liahcn  oder  verhypotcziert  worden  sein,  (k<;4l(  ichen  das 
Heinifallrecht  des  Bau  Pachtvertrages,  und  so  ist  ein  Ratten!«  »ni-;  von 
Rechtsverhältnissen  cntstamloii,  wie  er  verwickelter  kaum  denkbar 
ist.  Der  all'^emeine  Ruf  hl  denn  auch  nach  Anlage  und  Führung 
oftizieller  Rej^ister  tier  haflbcircii  ( irundhcrrcii. 

Auf  der  vorerwähnten    l- ruitnunL^sfeier  in  Hcthnal  Cireen  gab 
ihm  der  Prinz  \on  Wales  in  t<ilL;etulen  Worten  Ausdruck: 

,,IlotY«:ntlirh  wird  'li<-  <  i'  -.i  t/.f;pbunt;  bald  in  <i<"r  I/.i;;--  si  in,  in  'Sa<'l)i-n 
derjenigen,  die  für  gcsundlicitswidriges  (\Voljn-;L,igcntum  vcranlworilKh 
sind,  Beschlüsse  zu  fassen.  Nienumd  kennt  besser  als  ich  die  Schwierig- 
keiten, die  den  Besitzer  von  Londoner  Freigut  nmgeben.  Ich  bin  der 
Nominaleigentilmer  von  einigem  Grundbesitz  in  Lambeth  (ein  Arbeiterviertel 
südlich  von  der  Themse),  aber  ich  habe  leider  keine  Verfilgung  darüber, 
wenn  auch  das  Publikum  glaubt,  es  gehöre  mir.  Thats.-ichlirh  bin  ich 
zur  Zi'it  ohnmächtig,  denn  om  Teil  dics<  >  T'oil.  n-  i-t  in  Form  von  I^au- 
]);\chtcn  lür  L<il)rfntfn  vrr;)acht(t,  und  d<T  ändert-  uiU'-r  l  iin-m  bc->oiuKrcn 
l'arlanientsikt ,  der  erst  1909  abläuft."  (,i,Thc  Municipal  Journal"  vom 
0.  M:ir/.  1000.) 

In  ahnlicher  Lage  wie  der  Prinz  befindet  sich  die  bekannte 
Führerin  der  Tempcrcnzbcwc^'uii^',  Lady  I  lenry  Somerset.  Die  sehr 
philanthropische  Dame  kann  absolut  nichts  dagegen  thun,  da(s  auf 
ihr  gehörigem  Boden  im  Bezirk  St.  Pancras,  Nord  London,  ein 
Höhlenquartier  schlimmster  Art  steht.  Und  so  in  unzahligen  an- 
deren Fällen.  Wohl  mochte  daher  der  Prinz  in  der  vorerwähnten 
Rede  fortfahren: 

„Ich  würde  mit  Frenden  ein  Gesetz  willkommen  heifsen,  das  den 
Grandbesittem  die  Verfügung  Uber  ihren  Besitz,  die  sie  niemals  hSttot 
aus  der  Hand  geben  snllcn,  unter  gehörigen  Bedingungen  zarückgäbe,  so 
daf'i  ich  in  die  Lage  käme,  dafür  zu  »iorf^r-n,  dal->  die  Mieter  auf  meinem 
(.irundbeMt/.  in  Lanibeth  ebenso  bctjucm  und  wohlversorgt  wohnen,  wie 
ich  sagen  kann,  dafs  es  in  Norlolk  der  Fall." 

^)  Building-,  bexw.  Repairing  Lease.  Bei  der  letsteren  verpflichtet  sich  der 
Mieter  zu  bestimmten  Reparaturen. 


Der  gcgcnwiirtißc  St.ind  diT  \Vt>linun;;s!i.im-  iti  l.nj;i.uul. 


627 


Die  gute  Absicht  des  Prinzen,  der  als  Gutsherr  in  Norfolk  be- 
greiflicherweise Musterlandlord  ist,  in  allen  Ehren,  und  die  Kot- 
n'cndtgkeit  der  von  ihm  verlangten  Reform  unbedingt  zugegeben, 
i>t  es  nach  dem  Vorstehenden  klar,  dafs,  wenn  er  in  der  Lage  wäre, 
seine  Absicht  auszuführen,  die  Mieter,  die  jetzt  auf  seinem  Boden 
wohnen,  einfach  das  Vei^nügen  hätten,  ihr  Quartier  in  Lambeth 
wechseln  7.11  müssen. 

„<  i  ^  >e  Blockwohniin^xn",  schreibt  Mr.  Haw,  sind  den  Armen 
unzugänglich,  wenn  sie  sich  nicht  entsclilicfscn,  den  Hauswart  zu 
bestechen".  In  vielen  Distriklen  il(  ^  1  »^thchen  London  ist  es  Sitte 
i^ewordcn,  unter  der  Finna  dc>  liüher  blofs  nominellen  „Schlüssel- 
j^eldes",  hohe  rrUmien  für  die  l  eberlassuni^  von  \Vohnun;^en  zu  er- 
pressen, äiinlich  wie  sich  heute  in  hlaiul  Bauern,  tlcren  Pachtsatz 
\'on  den  A^'rarLjerichten  ,.;e>i  t/lich  fixiert  ist,  '^'^c^n-hciu nfalls  von  den 
l'ärhtern,  denen  sie  ihre  Stelle  aljtrclc  n,  Abslandsprämien  zahlen 
lassen.  In  der  einen  I'orm  bcsciti'^l,  taucht  die  Rente  in  ir^^end 
einer  anderen  wieder  auf.  Nun  lic^^^t  es  in  der  Xatur  der  .'^nchc, 
dals  sich  die  X'iirzuj^srenti'  niemals  vollief  wird  1  ie--.eitiu(en  lassen,  so- 
l.in^e  man  nii^ht  zum  absnluten  Kommuiüsmus  auf  umfassendster 
( jrundlagi'  ubei|;(.  ht,  und  selbst  daru»  sind  noch  X'erluiltnissc  möt^lich. 
ilic  \'orzu«.,'spositioncn  .schatten;  die  Menschen  koiuicn  nicht  alle  auf 
einem  Platz  sitzen.  Aber  unter  allen  gesellschaftlichen  Zuständen 
lassen  sich  Mafsregeln  treffen,  welche  die  unvermeidlichen  Vorzugs» 
renten  auf  das  geringste  Mals  reduzieren  und  die  gröfstmögliche  Aus> 
^deichung  schaffen,  die  mit  dem  wirtschaftlichen  Gedeihen  des  ganzen 
Gemeinwesens  verträglich  ist.  Aus  dem  Vorherentwickelten  wird 
zur  Genüge  erhellen,  dafs  eine  gesunde  städtische  Wohnungspolizei 
gleichzeitig  ein  Kampf  gegen  die  städtischen  Vorzugsrenten  sein 
mufs.  Es  giebt  denn  auch  keinen  Wohnungsreformer,  der 
diesem  Erfordernis  nicht  in  der  einen  oder  anderen  Weise  Rech> 
nung  trüge. 


III.  Bisherit^'c  A b h  i  1  f  c  ve  r  s  u  c  h  c. 

Dals  inbezug  auf  das  Wohnungswesen  die  Manchesterpolitik 
»igcw<^en  und  zu  leicht  befunden"  ist,  bedarf  keines  besonderen  Be> 
weises.  Freie  Konkurren/  und  Angebot  und  Nachfrage  sind  gegen 
eine  Reihe  von  rel)clständen  ohnmächtig.  An  unternehmungslustigen 
Baumeistern  fehlt  es  durchaus  nicht,  die  spekulative  Bauthätigkcit 
rastet  ganz  und  gar  nicht.    .'\ber  sie  schafft  oft  nur  neue  Uebel 

41* 


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628 


Eduard  Bernstein, 


Statt  die  altea  zu  beseitigen.  Wohnungsnot  und  leerstehende  Woh- 
nungen finden  sich  überall  nebeneinander.  Hs  werden  nicht  zu 
wenig  Wohnungen  gebaut,  es  werden  aber  zu  wenig  Wohnungen 
fiir  die  Klassen  von  Mietern  gebaut,  die  am  meisten  unter  der  W'oh- 
miii^'snot  leiden.  Was  die  private  üntemchmerthätigkeit  in  dieser 
Hinsicht  leistet,  schafft  entweder  zu  teure  oder  zu  schlechte  Wohn- 
häuser. 

Auch  die  von  gemeinnützigen  Gesellschaften  oder 
Stiftungen  ausgehende  Hilfe  hat  ^irli  als  unzulänglich  erwiesen. 
London  hat  eine  j^'an/e  Reihe  solcher  Institute.  So  den  weltbe- 
kannten Peabody  Trust,  den  Guinness  Trust,  verschiede rx-  Aktien- 
gesellschaften für  den  Bau  von  Wohnungen  für  die  ^anverlisthätigen 
Klassen  (Industrial  Dwellinr^s  Companics)  und  die  von  Lord  Rowton 
gegründete  Gesellschaft  für  den  Bau  und  Betrieb  von  Loj^ierhäusern, 
bezw.  Herbcrt,'cti.  Daneben  bestehen  unzählii^e  Bau;^esellschaften, 
che  Arbeitern,  kleinen  Beamten  etc.  Mittel  zum  Bau  oder  Ankauf 
kleiner  Häuser  x-orschielsen.  Neuerdin^^'s  sind  auch  \ir-.rliiedene 
Konsuiüi^t  iK  issenschaften  dazu  über^<  .^^Tni'en,  Baugrund  anzukaufen 
und  in  r.u/ellen  zu  mäl-i<^en  Siitzen  an  kleine  Leute  zu  verpachten, 
die  sich  ihr  ci-^enes  Haus  erstellen  wollen.  X'iele  Konsuni;^eTu>'<sen- 
schatt<Mi  haben  aulscrdem  Bauvorschulskassen,  ')  des-j^ieichcn  eine 
Reihi-  von  freien  Hilfskassen,  sowie  auch  verschiedene  ("icuerk- 
veieinc  (u.  a.  der  grolse  (icwerkverein  tlcr  Maschinenbauei  (.  Im 
vorigen  Jahre  (iJ:>99l  hat  die  Regierung  ein  Gesetz  ausgearbeitet 
und  zur  Annahme  gebracht,  dafs  die  Grafechafts-,  Stadt-  oder  Be- 
zirksvertretungen ermächtigt,  kleinen  I^ten  sokhen  Bau-  oder  Haus- 
erwerbsvorschufs  zu  machen  und  zu  diesem  Zweck  gegebenenfalls 
Anleihen  aufzunehmen.  Das  Gesetz,  das  den  Titel  trägt:  „Small 
Dwellings  Acquisition  Act,  1899  (62  u.  63  Vict.^  Chap.  44)**,  ist  ein 
Werk  des  Ministers  Chamberlain  und  bestimmt,  da(s 

I)  der  Marktwert  des  lu  erwerbenden  Hauses  400  Pfd.  Sterl.  nicht  über- 
steigen darf; 

3)  der  Vorschufs  bis  an  vier  Fünftel  des  Marktwerts  liehen  darf,  aber 
240  Pfd.  Sterl.  oder,  im  Fall  mit  dem  Hanslcauf  der  Erwerb  einer  Boden» 
packt  von  mindestens  99  Jahren  Dauer  verknüpft  ist,  300  Pfd.  SterL  nicht 
übersteigen  soll; 

3)  der  Erwerbende  das  Haus  selbst  bewohnen  und  in  gutem  Stand  erhalten 

')  Nach  ein<T  neutrrcn  S!ati-;tik  haben  di«-  britischen  Konsumgenossenschaften 
bis  jeut  5  147  536  Pfd.  SterL,  d.  b.  gegen  103  Millionen  Mark  in  Häusern  angelegt. 


Der  gegenwärtige  Stand  der  Wohnungsfrage  in  l^ngiand.  639 

mar»;  (von  der  Verpflichtung  des  Sclbctbewobnens  kann  nntcr  bestimmten 
Umstünden  zeitweise  Abstand  genommen  werden.) 

4)  der  Zins  (ttr  das  Dnrleben  nm  nicht  mehr  als      Proz.  höher  sein  darf  als 

der  Zinssatz,  den  di<>  brtrcfTt-ndc  nenu-inde  selbst  an  das  Staatsamt  f&r  Be« 

triebsvorschüsse  zu  zaldrn  haben  würde . 

5)  der  Termin  fiir   i1i>'  Ahz;ddung  des  Vorschu'^vr-^  iln  if-iii:;  Jahre  nicht  iiher- 
srlireiten,  die  Abzahlung  in  mindestens  halbjiilirigen  Katen  erfolgen  soll. 

Andere  Bestimmungen  trcfifcn  Fürsorge  für  rchcrtnigung  des 
liitrentumstitels  im  Falle  von  X'eräufserimg,  Tod  etc.,  für  Rücküber-  " 
nähme  und  \>räufscrung  durch  die  betreffende  Behörde  im  Falle 
von  Zahlungsuiifähij^kcit,  sowie  für  die  nötige  Kontrolle  und  die 
Form  des  \'^crfahrens. 

Fs  ist  kaum  anzunehmenT'dnrs  dieses  Gesetz  Wesentliches  zur 
Milderung  des  \\'ohnuiigs|)r<>blems  beitragen  wird.  Nichts  ist  heute 
leichter  zu  erlangen  als  ein  solcher  Bauvorschufs ,  sofern  man  nur 
die  erforderten  mälsigen  Bürgschaften  zu  bieten  vermag.  Die  kapi- 
talistischen und  ganz  oder  halb  genossenschaftlichen  Bauvereinc  über- 
laufen die  kleinen  Leute  mit  ihren  .\nerbietungen.  Der  sefshalte, 
besser  situierte  Teil  der  Arbeiterschaft  braucht  diese  Art  Staatshilfe 
heute  nicht,  und  die  wirklichen  Opfer  der  Wohnungsnot  erreicht 
sie  nicht.  Allenfalls  kann  sie  im  X'erein  mit  den  kai)ilalisu.schen, 
philanthropischen  uml  genossenschaftlichen  Schöpfungen  ähnlicher 
Art  dazu  beitragen,  einen  besseren  Mafsstab  für  eine  gewisse  Klasse 
von  Arbeiterwohnungen  zu  schaffen  und  auch  einen  Malsstab  für 
den  Normalpreis  solcher  auszubilden,  aber  auch  das  wird,  da  die 
Malsregel  /akultativ  ist,  sehr  viel  Zeit  beanspruchen. 

Die  Bau  vereine,  die  sich  in  England  früher  als  antlerwärts 
ausgebildet  haben,  stellen  sicher  heute  eine  sehr  ansehnliche  Kapital- 
macht dar.  Im  Jahre  1898  gab  es  im  Vereinigten  Königreich  nicht 
weniger  als  2586  eingetragene  Bauvereine,  von  denen  2495 
gistrieramt  Bericht  gaben.  Danach  war  ihr  Mitgliederbestand  612  S74, 
ihr  Anteilskapital  34,6  Millionen  Pfd.  Sterl.,  neben  21,5  Millionen 
Pfd.  SterL  Einlagen  und  sonstigen  Guthaben,  sowie  3,3  Millionen 
Pfd.  nicht  erhobener  Dividenden  —  in  Mark  insgesamt  Weit  über 
eine  Milliarde  durch  Hypotheken,  sonstige  Forderungen  und  Bank- 
bestände repräsentiertes  Vermögen.  Und  das  sind  nur  die  einge- 
tragenen Bauvereine.  Aber  bei  weitem  nicht  alle  Mitglieder  der 
Bauvereine  sind  Arbeiter,  und  ebensowenig  sind  alle  Einleger  Haus- 
erwerber. Für  viele  ist  der  Bauverein  nur  eine  Art  Sparbank,  da 
die  Postsparkassen  blofs  bis  zu  eiAem  gewissen  Betrag  Einlagen  an- 


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^ l'^  il  u  a  r  d  H  <:  r  n  >  l  im  n , 

nehmen.  Jedenfalls  lösen  die  Bauvereine  nur  fiir  einen  Teil  der 
besser  gestellten  Arbeiter  die  Wohnungsfrage,  und  auch  dies  eher 
in  Klein-  und  Mittelstädten  als  in  London  und  den  grofsen  Emporien 
des  Nordens. 

Die  von  den  früher  genannten  Wohlthätigkeits-^Trusts",  den 
halbkapitalistischen  gemeinnütz^en  Wohnungsv'ereinen  und  dem 
Londoner  Grafschaftssatz  erbauten  Block- Wohnhäuser  beher- 
bergen im  Verein  mit  den  rein  spekulativen  Block-Wohnhäusem 

ins^'csanit  kaum  25000O  Einwohner.  Das  allein  zeigt,  wie  wenig 
sie  in  der  Millionenstadt  an  der  Wohnuii;:^sfrage  geändert  haben. 
An  der  Stelle  früherer  Slunis  errichtet,  haben  sie  nieist  nur  andere, 
aber  nirlit      lir  Wohngele<;cnheit  geschaflfcn.    Und  das  ewige  Lied 

der  Blockwohnunjren  ist,  dafs  sie,  wenn  die  Zimmer  j^eraumig  und 
hell  sind,  den  schlechter  be/.ahlten  Arbeitern  zu  teuer,  wenn  aber 
im  Preise  deren  Verhältnissen  nn;^feixirst ,  in  der  (Qualität  für  Ar- 
beiter, die  etwas  auf  sich  ^eben,  unertriii^lich  sind.  \'iele  .Arbeiter 
luliincii  liel)cr  Zimmer  in  den,  in  ..Taubcnschlät^e*'  \erwandelten 
Häusern  L^rcwis^cr ,  \  on  den  l)esit/.eii(len  Klassen  als  nicht  mehr 
>tandes^em.ils  \erl,i-senen  X'iertcl,  als  in  den  , .Muster"  (mudcli- 
Blocks.  Da>  dichte  Wohnen  dort  ist  ihnen  weniger  widerwärtig 
als  Hausen  in  den    von  vornherein   zu  Masscnijuarlieren  be- 

stimmten .SteinungcluHierii  mit  ihren  engen  Treppen  und  Oängen. 
Aber  >elbst  wenn  ilas  alles  nicht  wäre,  >.ü  ist  der  Gedanke,  immer 
mehr  in  die  Höhe  zu  bauen,  für  eine  so  kolossale  Stadt  wie  London 
geradezu  mörderisch. ')  Es  würde  entschieden  die  Luft  in  der 
inneren  Stadt  noch  verschlechtem.  * 


')  In  der  ,,Ethical  World"  vom  31.  März  erzählt  ein  Einsender,  dafs  in  einer 
Versammlung  des  radikftlen  Vereins  von  Muylebone  (West-London),  wo  der  ndilcale 
ParteifDbrer  Renwick  Seager  über  die  Wohnungspolilik  des  Grafschaftsrats  sprach, 
die  Mitglieder  erklärten,  „die  gewöhnlichen  (4uidlords  dem  Grafschafisrat,  dem 

IVabenlv  Trust,  der  Pliilantliropie  ond  den  so  und  so  viel  Pro/.ent-HiTren  vorzu» 
/.ii  licn."  l  )er  l'.insi  ik1<t  st't/.t  hinzu,  er  selbst  halte  schon  lange  aliiili<  li  pid  irlit,  i*s 
habe  ihn  aber  iiberra->tht,  von  Arlteitem  dies  I  rtr-il  zu  huren.  Al->  (.jnind  ihrer  Al>- 
nei^;uii^  hätten  die  Arbeiti-r  die  /u  liohen  Mi«  t>b;kt/.e.  die  vielen  I'.csehrankuujjen  ihrer 
Freiheit  und  das  strenge  Bestehen  auf  Vorausl)c/;alilung  angegeben,  welche  let/.tere 
Satzung  zur  Folge  habe,  dafs  die  Sterblichkeitsrate  in  jenen  Wohnungen  niedriger 
erscheine,  als  sie  wirklich  sei.  Die  krSnkelnden,  zablungsmiflUiigen  Mieter  ziehen 
ans,  bevor  es  zum  Sussersten  kommt 

I)irs  belrifTt  die  gutj^eli.iltenen,  besteiiit;erichteten  Blockwohnh:iu^er.     Selbst  da 

fühlt  der  englische  Arbeiter  sich  nicht  4rohl.   Mr.  Haw  teilt  mit,  dafs  man  von 


Ikr  i;igeawartij;o  Staiui  der  \V<tlinung>tra';c  in  Knglaiid.  63 1 

Ohnehin  werden  iiir  gewerbliche  und  öflentliche  Zwecke  aller 
Art  immer  mehr  kleine  Häuser  niedergerissen  und  durch  Kolossal« 
bauten  ersetzt 

Ueber  die  Thätigkeit,  welche  der  Londoner  Grafschafts- 
rat  in  den  zehn  Jahren  seines  Daseins  mit  Bezug  auf  die  Ver- 
besserung und  Vermehrung  der  Wohngelegenheit  entfidtet  bat,  giebt 
die  nachstehende  Zusammenstellung  Auskunft,  die  wir  der  soeben 
erschienenen  Schrift  „The  Housing  Question"  von  Alfred  Smith') 
entnehmen.  Mr.  Smith  war  jahrelang  Vorsitzender  des  Hausungs- 
ausschusses des  Londoner  Grafschaftsrats. 

Der  Grafschaftsrat  hat  bauen  lassen,  bezw.  beschlossen  zu  be- 
bauen oder  umzubauen: 

♦ 

A.  Auf  Grund  der  Abteilungen  i  und  2  des  Arbeiter- 
Wohnungsgesetzes  von  1890  (Sanierung  ungesunder  Häuser 
oder  Distrikte): 

1.  In  Boundary  Street,  Bethnal  Green  und  Shoreditch,  1 5  Acre 
[6  Hektar]  Baugrund,  der  mit  verfallenen  und  durchseuchten 
Häusern  bedeckt  war.  Jetzt  stehen  dort,  um  einen  Garten- 
platz gruppiert,  23  fiinlstöckige  Blockhäuser  besserer  Art, 
mit  Waschhaus  etc.  lur  die  Bewohner,  wozu  noch  77  Werk- 
stätten kommen  sollen.  Wohngclegenheit  für  5380  Personen; 

2.  Cable  Street  und  Brook  Street,  Limehouse.  Je  zwei  Block- 
häuser errichtet  für  zusammen  720  Personen; 

3.  Cläre  Market,  Stranddistrikt.  Wohngelegenheit  för  750 
Personen; 

4.  Churchway,  St.  Pancrasdistrikt.   Wohngel^enheit  (ur  580 

Personen; 

5.  Mill  Lane,  Deptford.    Wolin^rlc-cnheit  für  5|;o  rcrsonen; 

6.  Shelton  Street,  St.  Giles.  ininf  Blockhäuser,  die  VVohngelegen- 
lieit  für  292  Personen  enthalten; 

7.  Ann  Street,  Poplar.  Woliii^alef^enlieit  für  180  Personen; 

8.  Brooke's  Market   Ein  Blockhaus  für  60  Personen. 


Bewolm«ni  der  BlockwolmhSiuer  selten  das  Wort  „daheim**  oder  „zn  Hause"  höre, 
rie  seien  fast  iouner  nur  „im  Gebinde'*  (Vin  the  bnildings").  Das  Blockwohnliaus 
UUst  bei  dem  Engländer,  dessen  Sinn  flir  die  Znritckgeaogenheit  des  PrivaUebens  so 

stark  entwickelt  ist,  das  Gefühl  des  Dahtimseins  nicht  aufkommen.    Freilich  darf 
man  das  I'lockswuhnhaus  nicht  mit  dem  tostländiscben  Etagenwobnbaos  verwechseln. 
London,  öwan  bonnenscbein  &  Co.  1900. 


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632 


Eduard  Bernstein, 


B.  Auf  Grund  von  Abteilung  3  des  A.-W.  Gesetzes 

von  1890: 

1.  Millhank.  (Truiidstück  (früher  Stätte  des  gleichnamigen 
Zuchthauses)  in  W  estminster:  16  Blockhäuser  im  Bau  mit 
Wobiv^clcgcnlicit  für  4300  Personen; 

2.  Green  Street.  Horough  Road  und  Gun  Street  in  Southwark. 
\Volin^ele<;enheit  für  920  rcrsoncn. 

C.  Aus  Anlals  von  S  t  r a  fs o  n  d  u  r  c  h  I)  r  ü ch  e n  etc.: 

.1.  Beim  Blackwall  I  iuhk  I  i  I  untu  l  unter  der  Themse).  Block- 
hauswohiuin'^'cii  tvir  24O  iVM  -^onen ; 

2.  Stralsendurciibruch  \oii  Ilolborn  zum  Strand.  BlockhauS' 
\vohnun<^cn  itn  Entwurf  für  3300  Personen; 

3.  Lon^  LatK  Ke-ulierung.  Blockliauswohaunj^cn  im  Entwurf 
für  500  Personen. 

Auisculcni  hat  der  Grafsciiatlsrat  auf  vier  Stellen  kleine  W'ohn- 
häuser  (Cottages)  errichtet,  die  Wohnraum  für  1640  Personen  ent- 
halten, ein  Logierhaus  iür  324  Personen  erbaut  und,  neben  der 
Bebauung  eines  Terrains  in  Tooting  (Slid-Ijondou)  mit  Cott^e* 
Wohnungen  lur  10  bis  12000  Personen,  die  Bebauung  von  fönf 
kleineren  Grundstücken  mit  Cottage Wohnungen  für  zusammen  5295 
Personen  beschlossen.  Insgesamt  sind  demnach  (ur  rund  36000 
Personen  Wohnungen  teils  schon  errichtet,  teib  im  Werden,  woför 
rund  zwei  Millionen  Pfund  Sterling  aufgewendet  bezw.  ausgesetzt 
worden  sind.  Das  ist  liir  eine  so  junge  Körperschaft  keine  geringe 
Leistung,  für  das  Bedürfnis  Londons  aber  durchaus  ungenügend. 
Nach  dem  Zensus  von  1891  wurden  in  London  830000  Personen 
gezählt,  die  in  zu  enger  bezw.  überföllter  Behausung  leben.  Bei 
gleichem  Wachstum  mit  der  der  Gesamtbevdlkerung  würde  die  Zahl 
bis  1899  auf  890000  gestiegen  sein,  und  es  liegt  kein  Grund  vor 
anzunehmen,  dafs  dies  nicht  der  Fall  gewesen  ist. 

Die  Zahl  Icr  Häuser  im  Gebiet  der  Grafschaft  London  wächst 
langsamer  als  die  Zahl  der  Einwohner.  Das  Gebiet,  das  jetzt  die 
Grafschaft  London  bildet,  zählte 


Einwohner 

Zunahme 
in  troi. 

Hänser 

Zunahme 
in  Proz. 

1871 

3266987 

45»  »13 

1881 

3834194 

»7,3Ä 

526  US 

16.35 

I89I 

4  232  I  iS 

10,38 

587002 

•  11.57 

iSq6 

4433018 

4.75 

596  030 

1,54 

von    1S91  au 

f  1896  ist 

:  besondc 

r'?  chnr  ikt 

Zieht  man  nur  die  bewohnten  Häuser  inbetracht,  so  ergiebt  sich 


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1 


l>cr  gegenwärtige  ht.iiul  der  \\  «ihnungslrage  in  Knglund. 

ein  noch  gröfseres  Mißverständnis  zwischen  Bevölkeningszunahme 
und  Häuserzunahme.   Von  den  gezählten  Häusern  waren 

bewohnt     Zvnaliine    imbewobnt  Zunahme 
in  Pros.  in  Pros. 

1891  547  lao  —         3988»  ~< 

1896         553119         i,lo        42911  7,59 

Im  Jahre  1891  kamen  auf  das  Haus  7,74,  im  Jahre  1896  dagegen 
8^01  Bewohner,  die  Zahl  pro  Acre  (40  Ar)  war  1891  56,10,  1896 
aber  58,76.  Hierbei  sind  indes  die  Villenquartiere,  Parks,  die  grofsen 
Plätze  etc.  miteingerechnet  In  den  volkreichen  Distrikten  stieg 
die  Dichtigtwit  1896  bis  auf  300  und  400  Personen  pro  Acre.  Nicht 
weniger  als  2333152  Personen  wohnten  1896  in  sog.  Tenements, 
d.  h.  Hausabteilen  von  i — 4  Zimmern,  und  zwar  entfiel  je  ein 
Raum  auf 

3  bis  ge^en  3  Personen  bei  76*417  Personen 

3  II      II     4      II  II 

299074 

11 

4  11     II     5      II       II    i'4  7'4  II 

5  n      II     6       II        II     43  443  » 

6  „      „      7  n      '7  9  54 

7  .»  »8  „  „  6153  „ 
*   »f       .1      9        it         n        1848  I« 

9  nnd  mehr        „       „      1 03a  „ 

Und  das  ist  immer  nur  erst  ein  Teil  des  überfüllt  wohnenden 
Londons!') 

Da  die  Mieten  in  London  unter  dem  Einflufs  der  Ver- 
teuerung des  Baumaterials  und  der  Erhöhung  der  Arbeitslöhne  eine 
bestandige  Steigerung  erfahren  haben,  ist  eine  fernere  Zunahme 
des  zu  engen  Wohnens  aulser  Zweifel.  D^nn  die  Masse  der  kleinen 
Leute  machen  eine  Erhöhung  des  Mietszinses,  wo  dies  nur  irgend 
möglich,  durch  Abvermieten  wett  Wir  müssen  annehmen,  da& 
heute  in  London  900009  —  nemunalhunderttausend  Menschen 
zu  eng  behaust  sind. 

,J>ie  durch  die  Bemühungen  der  Gewerkschaften  erzielten 
Erfolge",  schreibt  Mr.  Alfred  Smith,  sind  ernstlich  in  Frage  gestellt 
Die  Steigerung  der  Mieten  hat  die  der  Löhne  be* 

Die  Zahlen,  die  der  amtlichen  Statistik  des  Londoner  Gralscbaltsrats  ettt« 
nommen  sind,  finden  sich  im  gednidcten  Referat  der  Mrs  R.  C.  Phillimofc  an  die 
LondoBer  Konferenx  der  Wohnangsfirsg«.  (VgL  die  treffliche  Braschflie  der  Fabian 
Sodcty  „Tht  Harnt  Famine**  1900,  die  eine  sehr  gnte  Bibliographie  der  Frage  ans, 
der  Feder  Sidncy  Webbs  bietet.) 


L.ivjM^L,j  L,y  Google 


634 


Ii  <i  u  a  r  (1  lU-  r  n  s  t  c  i  n , 


trächtlich  überschritten,  —  die  Wohlthat  erhöhter  Lohne 
wird  durch  unmärsige  Forderungen  der  Hauseigentümer  \'erschlungen. 
(A.  a.  O.  S.  15).  „Wir  haben  nur  erst  gerade  den  äufseren  Saum 
des  Problems  berührt",  erklärte  der  derzeitige  Vorsitzende  des  Graf- 
schaftsrats, Lord  Welby,  in  seiner  Ansprache  an  den  Prinzen  von 
Wales  bei  Eröfihung  der  Blockhäuser  in  Boundaiy  Street.  Die 
Verwaltungen  der  Baustiftungen  (ur  Blockwohnungen  haben  in  den 
letzten  Jahren  sogar  weniger  gebaut  wie  in  früheren  Jahren.  Die 
erhöhten  Baukosten  und  die  Schwierigkeit,  im  inneren  London 
passenden  Grund  und  Btuk-n  zu  niäfsi^en  Preisen  aufzuticil>en, 
schrecken  sie  nach  Mr.  Smith,  der  die  Steigerung  der  blofsen 
Baukosten  auf  30  Prozent  veranschlagt,  vom  Kauen  ab. 
Sie  können  unter  diesen  rmständcn  für  diejenige  Klasse  der  Be- 
völkerung, der  sie  nach  ihren  Satzungen  Wohnungen  erstellen  sollen, 
keijie  den  moderncti  hygienischen  Ans])riichen  entsprechenden 
Wohnungen  herstellen,  die  ihren  Mitteln  entsprechen. 

Sr>\\cit  das  innere  London  inbetracht  kommt,  ist  untir  deti 
der/(  it!.;en  W'iiuiUiiissen  eine  \'erbesserung  der  W  <  ihiumgsbe- 
dingunj;cn  dci  atbcitrndcn  Kl.l-^-'rIl  nicht  /u  erwarten.  Für 
Cottagewohnungen  k'unnit  der  Huden,  für  bcN-^erc  )ck\vohnutigen 
das  Hauen  dort  zu  teuer.  lane  Einsendung  in  der  ..Review  of  the 
Wcek"  vom  7.  .-\pril  giebt  über  die  X'erhältni -sc  i[n  westlichen 
Zentrum  \on  London.  —  der  Distrikt  /wis<dien  City  und  \\'e>tcnd  — 
folgende  Schilderung,  die  durchaus  den  Hei ih.irhtungen  des  Schreibers 
dieser  Zeilen  entspricht,  der  längere  Zeit  dort  gewohnt  hat: 
y  Der  gcwöbnlidie  ungtlemte  Aibeiter  hat  in  diesem  Teil  von  LondoDt 

wenn  er  regelmirsige  BescbSflignne  bat,  22 — 38  Scbillinge  Wochenlobn. 
Dies  begreift  in  sieb;  Fabrleutc,  Speieberarbeiter,  Ladendiener,  mindere 
Bncbbalter  n.  s.  w.  . . .  In  den  ungebeuren  Blockwobnmigen  in  Kcmble 
Street.  Dnif)"  L.inr,  niuf.s  d.-r  .\rheitfr  aber  für  ein  einzige-.  Zimmer 
6  Schillinge  6  Penco  di<-  Woclic  £;ilil<  n,  in  d<  r  L 'm{;'*lning  von  Tll^•l)iKll<l^» 
Road  kann  i-r  rin.-  \\'r>hnuTii,'  von  drei  Räumen  nirlit  unter  lo  Schillinge 
6  rem  e  die  Wuclie  550  Mk.  i:»li rlich '  I  l)al)en.  Will  er  weniger  geben 
oder  kann  er  nicht  so  viel  befahlen,  so  mul>  er  iu  (Quartiere  xieben,  die 
Auge  und  Nase  beleidigen,  die  Gesundbcit  und  die  Moral  seiner  Kinder 
zerstören  und  durcb  die  blofse  lifacbt  der  BerQbrung  ihm  die  letzten 
Reste  von  Selbstachtung  und  «nfacbem  Anstandsgefühl  austreiben. 

Ich  habe  hierzu  nur  zu  bemerken,  da(s  auch  die  erwähnten 
Wohnungen  bei  Theobalds  Road  weit  entfernt  sind,  den  Ansprüchen 
.an  ein  nur  einigerniafsen  einladendes  Heim  zu  entsprechen. 

Was  geschieht,  wenn  irgend  jemand  aus  Menschlichkeit^rnlnden 


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DtT  gcgfnwärugc  Stand  ücr  \\olinunj;>lragc  iu  Engiaud. 


versucht,  den  Mafs^tab  der  Wohnungen  2u  erhöhen,  zeigt  in 
drastischer  Weise  ein  von  dem  gleichen  Einsender  mitgeteiltes 
Beispiel. 

„Lassen  Sie  mich  Ihnen  ein  Beispiel  so  ansgezeichneter  Absichten 
geben,  wie  sie  Tor  ediclien  Jahren  ein  gewisser  edler  Earl  (Graf)  hatte. 
Mit  den  besten  Absiebten  von  der  Welt  baute  er  in  dieser  Gegend  Block- 
häuser lUr  achtbare  gelernte  Arbeiter  und  Handwerker.  Die  Zimmer 
waren  grofst  die  sanitären  F.inrichtung<-n  ausgezeichnet,  und  ein  Bekannter 
von  mir.  ein  tji'l'Tntcr  ArVicidr,  miftcte  eine  ab^ji-sclilossüiie  Wohnung 
von  fiint  Kimnirn  für  12  hihilliiii,-!«  6  r.*iico  die  Woche.  Fr  wohnte  «Jort 
scchä  Jahre.  Als  ihn  aber  sein  Gest  halt  notigto.  die  Wohnung  zu  wechseln, 
w^rd  dem  Mieter,  der  nach  ihm  kam,  die  Miete  auf  eine  Guinee  (21  Sch.) 
die  Woche  erhöht.  Die  Sache  war,  dafs  im  Laufe  der  sechs  Jahre  die 
Klasse  der  Mieter  eine  total  andere  geworden  war.  Die 
Klasse  der  gelernten  Arbeiter  war  verschwunden.  Die  neuen  Mieter,  die 
durch  ihre  Fähigkeit,  eine  höhere  Miete  zn  zahlen,  diejenigen  verdrKngt 
hatten,  für  welche  die  Wolinungen  ur.sprün;,'lich  errichtet  waren,  waren 
höhere  Buchhalter,  Cieschäftslciter.  kleine  <  ioschattsleute  un<l  .Xn^jelmrige  der 
freien  Berufe.  .Sell)7.t  philanthropische,  die  besten  ,\bsichtcii  von  der  Welt 
hegende  Grafen  können  Verfuhrungen  dieser  Art  nicht  widerstehen,  und 
^  was  als  Anlage  nt  vielleicht  vier  Prozent  erbaut  worden  war,  ward  ein 
gutes  Gesehfift  —  abzüglich  der  Philanthropie.** 

Der  Kinsender  will  mit  ditscni  Beisi)icl  nur  zeigen,  mit  welchen 
Schwieri;^keiten  der  Get^enst.uid  l)esäct  ist.  „F,s  ist  sehr  scIumi', 
schreiWt  er  in  Antwort  auf  die  BcliauinunL^,  die  Kosteiifrai^e  >ei  l)ei 
dem  Bau  von  X'nlkswohnimi^'en  untcrj^eurdncl,  mit  den  \Hetcn 
wijrden  aucii  die  Löhne  steigen  —  „es  ist  .sehr  schön,  grofse  Aus- 
gaben für  den  Bau  von  Wohnungen  für  unsere  gelernten  Arbeiter 
zu  empfehlen.  Aber  bei  dem  verhältnismäfsig  geringen  Raum,  der 
zu  haben  ist,  wird  die  Wirkung  nicht  die  sein,  die  Löhne  zu  heben, 
sondern  diese  Klassen  weiter  von  ihrer  Arbeit  hinweg  oder  tn 
kleinere  und  ungesundere  Wohnungen  zu  treiben."  Die  besseren 
Wohnungen  würden  von  denen  besetzt,  die  „in  den  Vororten 
wohnen  könnten  und  dort  wohnen  würden,  wenn  die  ihnen  in  der 
Nähe  ihrer  Berufsthätigkeit  gebotenen  Bequemlichkeiten  weniger 
anziehend  wären*'. 

Das  ist  ganz  richtig.  Bei  der  ungeheuren  Zahl  von  Leuten, 
•   die  gern  in  gutgehaltene  Wohnungen  in  der  inneren  Stadt  ziehen, 
sobald  sie  solche  nur  zu  leidlichen  Preisen  haben  können,  hat  die 
Errichtung  solcher  Wohnungen,  wenn  sie  nicht  auf  geradezu  riesen« 
haftem  Umfange  erfolgt,  iUr  die  Masse  der  Arbeiter  nur  Ver- 


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636 


Kduurd  Bernstein, 


schlechterung  zur  Folge.  Unternehmungen,  vrit  die  des  bezeichneten 
Aristokraten,  schaffen  bestenfalls  fiir  eine  kleine  Schar  Auserlesener 
ein  Privilegium.  Eine  Guinee  die  Woche  ist  für  eine  gutgehaltene 
Wohnung  der  geschilderten  Grölse  in  jener  Gegend  Londons  noch 
ein  sehr  mafstger  Preis  —  bei  12  Schilling  6  Pence  emp6ng  der 
Mieter  vom  Vcrtnicter  faktisch  ein  Geschenk  von  400 — Soo  Mark 
jährlich,  und  sicherlich  konnte  der  Aristokrat  nur  so  billig^  ver- 
mieten, weil  er  auf  eigenem  oder  billig  ^gepachtetem  Boden  gebaut 
hatte.  Fr  v.ar  offenbar  einer  der  Pioniere  in  dem  wohlgemeinten 
Werk  der  Errichtung  anständiger  I\lai:^cn\vohnungen  für  kleinere 
Mieter  gewesen.  Seitdem  liat  sicli  das  Baugeschäft  auf  die  Sache 
geworfen  und  einen  Normalpreis  geschaffen,  der  Vorzugs-  und 
Zuw.ichsrenlc  einschlielst.  Den  können  aber  Arbeiter  nicht  be- 
zahlen.   Eine  (luince  die  Woche  macht  i  100  Mark  im  Jahr. 

Der  hall  illustriert  drastisch  die  Unzulänglichkeit  des  guten 
Willens  Kinzelncr.  Der  jetzige  Marquis  von  Xorthampton  ,  der  im 
nordwestlichen  (iebiet  der  City  und  rmgebung  viel  (irund  und 
Bt)dcn  eignet,  \'erparhtete  gröfsere  Stücke  d.u  on  zu  mäfsigen  Preisen 
für  den  Erbau  vow  W  ohnungen  für  kleine  Leute.  Der  Effekt  war 
nicht,  dals  die  kleinen  Leute  billiger  wohnten,  sondern  dals  Zwischen- 
spekulanten die  Zuwachsrente  wegfischten.')  Die  .Agenten  des 
Marquis  und  die  des  Herzogs  von  Westminster,  dem  ein  grofscr  Teil 
des  Bodens  im  Westend  gehört,  wiesen  vor  der  Königlichen  Unter- 
suchungskommission von  1884  über  die  Wohnui^sverhältnisse  der 
Arbeiterklasse  nach,  dafs  die  Zwischenunternehmer  im  Grundstücks- 
und Häusergeschäft  bis  zu  hundertiunfeig  Prozent  Profit  machten. 
Auf  diese  Verhältnisse  bezieht  sich  offenbar  die  oben  zitierte  Be- 
merkung des  Prinzen  von  Wales,  dafs  die  Grundbesitzer  die  Ver« 
fiigung  über  ihren  Boden  nie  hätten  aus  der  Hand  geben  sollen. 
Die  Vereinfachung  der  Grund-  und  Bodenfrage  durch  das  Grof»* 
grundeigentum  ist  nur  eine  scheinbare.  Durch  die  üblichen  langen 
Pachtvertrage  und  Uebertragungen  solcher  werden  Legionen  von 
Mit-Interessenten  geschaffen,  von  den  Hypothekeneignern  gar  nicht 
zu  sprechen.  Zudem  giebt  es  in  London  auch  eine  Unzahl  von 
mittleren  und  kleineren  Bodeneigentümern.  So  ist  das  Eigentümer- 
interesse noch  ungemein  stark  und  macht  sich  an  entscheidender 


*)  Spiter  bat  der  Marqnis  durdi  Spezi«I«ertrSge  einigen  MiftMiiehen  einen 
Riegel  Toigeschoh'  n  Abrr  er  hat  auf  diese  Weise  nur  eine  kleine  Iniel  in  einem 
Ozean  verrotteter  WoboverhällniMe  sdiaffea  können. 


Der  gegcnM'ärtigc  Stand  der  Wohnungsfrage  in  tiingland. 


637 


Stelle  stets  wirksam  ^ijcltciid.  Diejenigen  Rctormvorschlä<je,  die  das 
Eigeniuin  uiiterschiedslos  angreifen,  haben  zur  Zeit  absolut  keine 
Aussicht  auf  Verwirklichung. 

IV.  Die  neuesten  Reformvorschläge. 

Dem  immer  stärkeren  Andrang  der  öflTentlichen  Meinung  fol* 
gend,  hat  nun  die  englische  Regierung,  bezw.  der  Minister  für  die 
Lokalverwaltungen,  Mr.  H.  Chaplin,  in  der  gegenwärtigen  Parla- 
mentssession einen  Zusatz  zum  Hausungsgesetz  von  1890  bean- 
tragt, der 

die  Distriktsrätc  auf  dein  Lande  ermächtigt,  mit  Zustim- 
mung des  betreffenden  (irafschaftsrats ,  die  nur  unter  be- 
stimmten Bedinguni^cn  vorenthalten  werden  darf,  eine  Hau- 
sunjü^spolitik  auf  (irund  jenes  Gesetzes  selbständig  durch- 
zuführen, und  weiter  die  I  .anddistriktsräte  und  die  Graf- 
schaftsräle  selbst  bevollmächtigt,  W  o  Ii  11  Ii  ä  u  s  e  r  für  Ar- 
beiter auch  aufserhalb  ihres  \ Crwaltungsge- 
biets  /u  erwerben  oder  zu  errichten. 

Die  letztere  Bestimmung  hat  namentlich  London  im  Auge. 
Ohne  das  Recht,  aufserhalb  seines  ("iel)iets  \\'ohnun;.;en  herzustellen, 
ist  der  (irafschaftsrat  bei  dem  jetzigen  Lx})r()|»riati«>ns\erfnhren  auf 
die  kostspieligsten  lirwerbsmethoden  und  eine  wahre  Sisyphusar- 
beit im  Hausungswesen  angrwiosen. 

Indes  eröffnet  der  Re^iicruntisantrag  nur  erst  eine  schmale 
Thür.  Nicht  mir  die  Sozialisten  und  die  Lil)cralen,  smulcrn  auch 
viele  konservatix'c  und  libcralunioni^ti-'rlK'  Ai)geor(incte  erklären  ihn 
für  durchaus  ungenügend.  h.r  ial^l  das  li.vprüpriationsproblem  ganz 
unberührt,  desgleichen  das  rrotilem  des  Iii)denl)c<itzes  und  die  He- 
steuerungsfrage.  Iis  sind  denn  auch  eine  ganze  Anzalil  tiegen-  und 
Ergänzungsanträge  eingebracht  oder  in  Aussicht  >tellt  worden, 
die  das  in  diesen  Punkten  und  sonst  Erforderte  nachholen  sollen. 

Der  weitestgehende  dieser  Gegenanträge  ist  vom  Abgeordneten 
W.  Steadman,  Vertreter  der  Arbeiter  und  Radikalen  von  Stepnev 
Ost-London,  eingebracht,  und  von  den  Arbeiterabgeordneten  John 
Bums  und  S.  Woods,  sowie  dem  liberalen  Abgeordneten,  Kapitän 
Norton,  mitunterzeichnet.  Er  berücksichtigt  so  ziemlich  alle  Vor- 
schule, die  von  Wohnungs-  und  Bodenbesitzreformern  mit  Bezug 
auf  die  vorliegende  Frage  bisher  gemacht  worden  sind ,  und  zwar 
meist  in  recht  drastischen  Forderungen.   Als  Zusammenfassung  der 


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638 


V.  d  u  a  r  d  H  c  r  n  .s  t  c  i  n , 


von  der  radikalen  Demokratie  und  den  Bodenbesitzreformern  Eng- 
lands hinsichtlich  der  Wohnungsfrage  gestellten  Anträge  hat  er  ein 
allgemeines  Interesse. 

Der  Gesetzentwurf  stellt  zunSchst  (§3)  das  Recht  der  Zwang»« 
enteignung  von  Grundstücken  auf.  Nach  vorhergcgai^Ber  secbs- 
mouatlicher  Kündigung  sollen  die  Ortsbehörden  (Gemeindevertretungen  etc. 
das  Recht  habm,  Grandstfirke  awangsweiiie  xu  erwerben.  Der  Preis  beim 
Zwangskauf  sull  auf  d.\s  fün Tundzwanzigfaclie  (tweoty  five  years  purchase} 
des  finnrscli:it/''  ii    :i]irlichen.  SteuenvrN  li-  mossen  Werden.  '  1 

l'alls  der  oi|<  r  die  Kij;L-ntiinior  il>  s  (irimdstiicks  unl)t>kannt  sind,  soll 
i'.  .ils  ;:<:iii;^i-iid  rraclitft  worden,  wenn  die  Kiindi^ung  an  den  Mieter  lür 
den  'nlor  die  I].ij,'<niuni<T  fin^cluindi;:t  word<-Ti  i>t. 

Ftrut-r  sollen  die  ( 'itsbtli'jrdcn  das  Kccht  haben  t«;  4.1,  fUr  Zwecke 
der  Wohnungsverbur^ung  Boden  aufserhalb  ihres  Gebiets  auf 
Gmnd  der  vorstehenden  Bestimmungen  au  er««rben.  Das 'Einspruchs- 
recht der  Gemeinden,  zu  deren  Gebiet  der  Boden  gehört,  soll  keine  Kraft 
haben,  wenn  die  erwerbende  Behörde  nachweisen  kann,  dafs  auf  ihrem 
Gebiet  nicht  •:;enit^ond  r>o<lcn  für  Arbeiterwohnungen  zu  haben  oder  der 
xngUngi$;r  ilovii-n  /u  tini<  r  ist. 

Pas  Staa{>amt  tiir  I*ctrirbsvorscliijs-.t*  soll  51  £:"halt<  n  «ein .  den 
( lrt'>b.  hurdi-n  für  die  Austuliruiii,'  von  \Vohnunj,'-iie>cli.iftunj,;-pläu>  n,  die 
die  Zustimmung  des  Mmii>tcriums  crhultcu  haben,  Darlehen  rurzuslreckeo, 
die  mit  höchstens  zweiProzcat  zn  verzinsen söntolkn;  die  Rttek« 
Zahlung  soll  in  auf  hundert  Jahre  verteilten  Raten  geschehen. 

Die  Ortsbehörden  sollen  das  Recht  haben  ($  6),  die  jährliche  Til- 
gnngsquote  solcher  Anleihen  aus  den  Lokalsteuern  zu  decken. 

Die  Ortsbehörden  sollen  femer  das  Recht  haben  {§  10),  Uebenchüsse 
aus  Gcmcindeuntcnichmungen  irgend  WLdclier  Art  für  Wohnuugszwcckc  zu 
verwenden,  dii'  l>/.fu;^ung  des  Materials  lür  die  Iläusor  selbst  in  die 
Hand  zvi  nehmen  und  das  fllr  diese  Produktion  erforderte  Land  zu  er* 
werben. 

Sind  (^rundsttu  ke  oder  auf  ihnen  st<  hende  HäU'^er  von  den  zu^tändijjcn 
Instanztjn  tür  s  a  n  i  t  ä  t  s  w  i  d  r  i  g  erklärt  worden,  so  »ollen  die  ürtsbeborden 
das  Recht  haben  f§  7),  nach  gebährcnder  Ankündigung  die  Eigner  der 
betreffenden  Grundstöcke  zur  Lichtung  derselben  auf  eigene, Kosten 
und  Gefahr  anzuhalten.  Sind  die  Eigner  nicht  bekannt,  so  soll  auch 
hier  Uebeigabc  der  Kündigung:  an  die  Mieter  genügen.  N.u  Ii  erfolgter 
Lichtung  sollen  die  Ortebehörden  das  Recht  haben,  die  Grundstücke  zum 

Dies  unterstellt,  da  die  Einschätzung  stets  etwas  hinter  der  wirklidien 
Jahresrente  zurttckbleibt,  einen  Zinsertrag  des  Bodenkapitals  von  vier  Prozent  und 
daräber. 


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« 


Der  pcßcinvärti};f  Si.uul  «itr  WUlinungNlragc  in  Kitgiand.  639 

Alnfun<kwaiuigfacb«ii  Betrag  der  vor  der  Lichtung  in  Kraft  gtwcsenen 
jäbrlichen  Gmndrfixte  zwangsweise  anzukaufen. 

Die  Ortsbebörden  sollen  das  Recht  haben  (§  S).  für  die  Zwecke  des 

vor1ii'^<nc!oii  flc-ct/f>  odt-r  sonstiger  tjcM-tztiiäfNi^ur  Zwtckc  von  allen 
Grundstiukcn,  -i'"  !>-(til  siini  oder  nicht,  unter  Zumund.  leguug  ihres 
volli-n  Mi'ls-  unil  M.uktwirt>  eine  SorniirsdiKT  m  frlul'cn. 

Alle  Lokjlsteuern  (die  in  Ijigland  siinithcl)  als  Mittastcucr  bewohnter 
Mäuser  erhoben  werden)  sollen  (§  9)  mit  dem  Inkraftreten  des  Gesetzes 
auf  leerstehende  Häuser  in  gleicher  Weise  umgelegt  werden,  wie  auf  be- 
wohnte Häuser. 

In  allen  Gemeinden  oder  Verwaltungseinheiten  sollen  (§  11)  Ge- 
richtshöfe zur  Fcstsetznnp  por»i  lif.  r  Mi  fiMi  —  »Fair  Rent 
courls-'  —  crriclitrl  w<  rd<'n.  I.nnflon  soll  si  ih>,  ncli-  andi  r«*  Gfni  •in<!>* 
rinon  »idoli«-u  tirrichtshor  halt- n.  I  ».  r-i-lhi-  snl!  atK  dr<-i  Mitgliedern  be- 
sti  lii  ii,  \,,u  detn-n  das  eine  von  dem  Gew .  rk  •  li.ut>rat  d«-»-  <  >rt5  oder,  wo 
ein  solclicr  nicht  lutslehl,  von  den  Mietern  jener  lläuscr  gewählt  werden 
soll,  die  nicht  tnebr  als  20  Pfd.  Sterl.  Miete  im  Jahr  kosten.  Das 
zweite  Mitglied  soll  von  der  Handelskammer  oder,  wo  eine  solche  nicht 
besteht,  von  den  Friedensrichtern  in  der  Qnartalssttzung  ernannt  werden. 
Das  dritte  Mitglied  soll  von  d<  n  ersten  beiden  oder,  falls  sie  sich  nicht 
einigen  können,  vom  (iewerl>emini>terium  ernannt  werden. 

Diese  Ri.  hter,  deren  Amtsdaiur  drei  J,ihr  >  währen  soll,  sollen  so  oft 
^ii^amnien  kommen  aU  eiiij^elaulene  F>e.Mliwerden  iil)er  die  Holio  von 
Mieten  dies  erfordern.  Sic  sollen  das  Recht  haben,  Bcwei^^aufnahmen  an- 
zustellen, Einschätzungen  vornehmen  zu  lassen,  und  sollen  bei  Ermittlung 
gerechter  Renten,  nach  Abrechnung  der  Durchschnittsansgaben  (ttr  Repara* 
turen  und  Verwaltung  nicht  mehr  als  einen  Nettogewinn  von  jährlich 
drei  Prozent  der  ursprünglichen , Kosten  zulassen.  Ihr  Erkenntnis  soll 
fÖr  alle  Bcteilifjlen  bindend  sein,  und  von  seinem  Datum  ab  während  der 
fol«,'enden  fünf  (ahre  weder  Steigerunjj  der  Miete,  noch  Fxmittierunp  de«; 
be>Ji\vi  rdr  fulir  -nd.  n  Mieters  zulässig,  jede  Zuwiderhandlung  als  Unge- 
horsam zu  bestrafen  sein. 

Bei  jedem  Hausuii^^plan  soU  Ar  jede  erwachsene  Person  12)  ein 
Lnftranm  von  mindestens  sechshundert  Knbikfnfs  nach  Ab- 
zug des  Raumes  (Br  Möbel  angesetzt,  und  sollen  je  zwei  Kinder  immer 
nir  einen  Erwachsenen  gerechnet  werden.  Diese  Bestimmung  soll  auch 
für  alle  Logierhäuser  (Herbergen)  gelteo. 

An  Annahme  dieses  Entwurfs  von  Seiten  des  jetztigen  Parta> 
ments  ist  natürlich  nicht  zu  denken.  Einzelne  Punkte  sind  auch 
mangelhaft  ausgearbeitet.  So  z.  B.  die  Bestimmungen  über  die  Ex- 
propriationen, bczw.  Zwangsankftufe.  Jedes  Gesetz,  so  radikal  es 
ist,  mufe  doch  im  Rahmen  seines  Grundprinzips  gleichmalsig  zu 
treffen  suchen.   Nun  ist  aber  nichts  ungleichmatsiger  normiert  als 


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640 


Lduaril  licrnütein, 


die  Nennbeträge  der  derzeitigen  Grundrenten,  weil  ihnen  ganz  ver- 
schiedene Zeitverhältnisse  und  ganz  verschiedene  RechtszVecke  zu 
Grunde  liegen.  Es  giebt  in  England  viele  Pachtverhältnisse,  wo  nur 
eine  Nominalrente  (das  berühmte  Pfefferkorn)  angesetzt  wird,  um 
den  Heimfall  des  Pachtobjeckts  nach  gewisser  Zeit  sicherzustellen, 
und  je  nach  der  Zeitdauer  des  Pachtvertrags  variiert  auch  sonst  die 
Rente.  Unterschiedsloser  Zwangsankauf  nach  dem  obigen  Schema 
würde  in  dem  einen  Fall  Konfiskation  heifsen,  in  einem  anderen 
aber  kann  er  ein  Geschenk  an  den  Grundeigner  auf  Kosten  der 
Steuerzahler  oder  der  Pächter  bedeuten.  Das  würden  die  Juristen 
im  englisclien  Parlament  nicht  zulasscti.  selbst  wenn  kein  Grund- 
besitzer- und  Kapila] ist cninteresse  sich  tlaj^egen  sträubte.  So  ein- 
fach kann  man  die  Sache  nun  doch  nicht  formulieren. 

Die  verschicdenarlige  Bemessung  der  Zinsraten,  je  nachdem  es 
sich  um  Slaatsvorschüsse,  KnteignunL^s^ät/.e  und  gerechte  Mieten 
handelt,  läfst  sich  zwar  prinzipiell  mit  guten  Gründen  rechtfertigen, 
bietet  aber,  wie  hier  geschehen,  matiche  Angriffspunkte  dar.  Die 
Festset/urii;  eines  Ziusmaxiinunis  von  zwei  Prozent  fiir  Staatsvor- 
schiissr,  wo  der  Staat  sowohl  seinen  kapitalistischen  ( iläubigei  n  wie 
seinen  (iläubigern  aus  der  Arbeiterklasse:  Sparcinlegern,  den  freien 
Ililfskassen  und  --  wie  jetzt  beantragt  wird  —  auch  den  (lewerk- 
Schäften  lioheie  Zinsen  zu  zahlen  hat,  wird  als  falsch  angewendeter 
Radikalisiinis  bezeichnet  werden  miissen.  l'm  eine  Zinsreform  nach 
sich  zu  zielien  ist  der  degenstand  zu  unbedeutend,  und  .im  l'reis 
der  Wohnungen  spielt  die  \eil.uigte  Zinsditterenz  keine  so  grolse 
Rolle,  dafs  es  nötig  wäre,  auf  ein  tinanztechni.^ch  so  wider- 
sinniges Mittel  zurückzugreifen.  Viel  eher  liefsc  es  sich  recht- 
fertigen, für  die  Gemeinden  das  Recht  der  Ausgabe  von  Hypotheken- 
scheinen auf  ihren  Grund-  und  Häuserbesitz  zu  fordern  und  es 
ihnen  zu  überlassen,  den  Zinsfufs  dieser  so  niedrig  als  nur  möglich 
zu  bemessen. 

Schließlich  könnte  noch  die  Frage  aufgeworfen  werden,  oder 
wird  vielmehr  von  einigen  Leuten  aufgeworfen,  ob  nicht  die 
Schaffung  billigerer  Wohnungen  aus  Staats-  oder  Gemeindemitteln 
schliefslich  doch  blofs  auf  eine  Prämie  an  die  Unternehmer  hinaus- 
laufe, indem  sie  eines  der  konstituierenden  Elemente  des  Arbeits- 
lohns —  die  Wohnungskosten  —  unter  seinen  natürlichen  Preb  her- 
abdrückten. Das  wird  man  aber  auf  sich  beruhen  lassen  können.  Es 
braucht  hier  nicht  erst  ausgeführt  zu  werden,  dafs  es  stets  eine 
Vielheit  von  Faktoren  sind,  welche  die  Lohnrate  bestimmen,  und 


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Der  t;f;;cn\variit;o  Stand  der  Wohiiunj:>lraj;c  in  En};Iaiid.  54 1 

dafs  die 'Faktoren,  die  mit  dem  Sinken  der  Lebensmittelpreise  ein 
korrespondierendes  Sinken  der  Ulhne  herbeiführen,  durch  die  mo- 
derne Entwicklung  immer  mehr  entkräftet  werden.  Eine  im  übrigen 
rationelle  WohnungspoHtik  braucht  sich  durch  diese  Möglichkeit 
nicht  beirren  zu  lassen. 

Dag^cn  ist  es  klar,  clafs  fast  jede  der  im  Stendmanschen  Ent- 
wurf vorgeschlagenen  Mafsrcr^eln,  wenn  einzeln  ins  Werk  gesetzt, 
sehr  leicht  neue  Ungerechtigkeiten  und  Mttsstände  zur  Fol<,'e  haben 
kann.  Wie  bei  anderen  Fragen,  giebt  es  auch  in  der  Wohnungs- 
(r^<^c  eine  Solidarität,  einen  starken  inneren  Zusammenhang  der  sie 
/usaminensetzenden  Tcilfraj^en,  und  uimicthodisclies  einseitiges  Vor- 
j^ehen  kann  daher  oft  zur  X'crcitclunL,^  des  (iewolltcn  oder  \'cr- 
schlimmerun^  des  zu  X^erbesserndcn  führen.  In  dieser  Hinsicht 
zeichnet  sich  der  Antiat;  der  Arbeitervertreter  sehr  vorteilhaft  von 
allen  anderen  Antra<^rcn  zur  Wolinuii^^fsfra^fe  aus. 

Einem  sehr  wichtigen  Punkt  trägt  er  freilich  nur  unj^cnü^'cnd 
Rechnung:  dem  Problem  der  möglichsten  Ausgleichung  der  Vor- 
teile der  Lage.  Iiidin  kl  wird  es  durch  die  Forderung  der  Besteue- 
rung der  Grundrenten  und  der  unbebauten  (Trundstiickc  und  leeren 
Häuser  berührt,  aber  wie  diese  Mafsregeln  auf  die  Mietspreise  zurück- 
wirken würden,  ist  vorläufig  noch  ein  ungelöi>tes  Rätsel.  Die  im 
Entwurf  vorgesehenen  Miets-Gerichtshdfe  würden  sogar  die  Aus- 
gleichung wieder  aufheben,  wenn  sie,  wie  dort  voi^eschrieben,  bei 
Bemessung  der  Mietssätze  nur  die  ursprünglichen  Produktionskosten 
inbetracht  aehen  dürften.  Die  Verfasser  des  Entwurfs  haben  sich 
an  das  Muster  der  von  Gladstone  1881  Air  Irland*  geschaffenen 
agrarischen  Gerichtshöfe  gehalten,  aber  deren  Erfahrungen  nicht  ge- 
nügend berücksichtigt. 

Alle  Hausungsprojekte,  die  auf  eine  weitere  Dezentralisierung 
der  Bevölkerung  Londons  und  anderer  Grolsstädte  abzielen  —  und 
das  thut  auch  der  Entwurf  der  Arbeiter  mit  seinen  Bestimmungen 
über  den  Erwerb  von  Bodengrund  aufserhalb  des  städtischen  Ge- 
biets —  schaffen  neue  Verschiedenheiten  und  damit  auch  neue 
V^orteile  und  Nachteile  der  l  äge.  .Sie  möglichst  auszugleichen,  ist 
u.  a.  eine  der  Hauptaufgaben  der  städtischen  Verkehrsjiolitik.  In 
London  ist  das  eine  besonders  wichtige  I-Vage  —  ja,  die  Wolmungs* 
frage  wird  in  London  stets  i'lickwerk  bleiben  ohne  eine  völlige 
Reorganisation  des  dortigen  X'erkehrswescns.  Heute  liegt  dies  noch 
sehr  im  .\rgen .  da  es  an  jeder  iMiiht-itlichkrit  der  (/Organisation 
fehlt.    Im  äulseren  Lmkrei.s,  der  sich  unheimlich  schnell  erweitert, 

Archiv  für  »ojt.  Ucscu^ebung  u.  SUUslik.  XV.  4' 


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9 


Kduard  Bernstein, 

fehlt  (  s  Mitteln  des  Verkehrs  von  X'orort  zu  X'oiort;  fast  alles 
mufs  durch  das  Zentrum,  was  di^n  Bewohnern  der  X'ororte  ^rofse 
Kosten  und  Zeitverluste,  tlcni  ZLutrum  selbst  aber  steiL^entlc  Hem- 
mungen und  StöruHLjcn  dc.s  Vet  kclir>  verursacht.  Die  Bahngesell* 
Schäften  "greifen  /u  den  \er/Aveifchsteii  Nhtleln,  che  Auf«;abe,  jeden 
Mor'jen  x.u  be^tinunteii  Stunden  huiHltTttau^-iide  von  Menschen 
rechtzeitig  unti  bc(|uciii  ins  /.entruni  zu  betordern,  leidHch  zu  losen. 
<i(^  l)cifitet  ihnen  aber  immer  wieder  neue  Schwicri;^keiten,  Die 
\"i  riiicliruii^  ihrer  ( leleise  und  die  AnliL,'«"  neuer  Linien  heilst  jedes- 
mal neues  Nietlcrrciisen  von  Wohnhausern,  neue  Austreibung  von 
Mietern. 

So  stellt  sich  (l.i^  1  otidonci  Wohnun^^jirol ileni  al>  eine  Mydra 
dar,  der  tur  uden  alt^ochlagenen  Kopl  immer  neue  anw.ichsen. 
und  es  bleibt  die  I'Vaj^e,  ob  es  nicht  ujöj^lich  ist,  die  Dezentrali- 
sierung lierart  zu  betreiben,  dafs  statt  neuer  Vororte  der  Stadt  neue 
selbständige  Städte  geschaffen  werden.  Eine  Gesellschaft,  die  sich 
"Garden  City  Association"  nennt,  hat  diese  Frage  in  die  Hand  ge- 
nommen und  einen  sehr  interessanten  Plan  ihrer  Lösung  ausgear- 
beitet. Der  Plan  enthält  nicht  Unrationelles  oder  Utopisches,  aber 
die  Schwierigkeiten  seiner  Verwirklichung  sind  ungeheuer,  und  es 
ist  sehr  fraglich,  ob  der  Eifer  seiner  Urheber  ihnen  wird  stand- 
halten können.  Es  ist  unglaublich,  wie  viel  Enthusiasnius  diese 
Menschenwüste  London  ertötet. 

Indefs  das  Uebel  ist  zu  schreiend,  als  dafs  es  ganz  beim  Alten 
bleiben  konnte.  Die  Regierungsvorlage  wird,  so  weit  sie  geht,  ohne 
•  Umstände  angenommen,  wahrscheinlich  aber  noch  durch  Zusätze  er- 
weitert  werden.  Es  ist  widersinniges  ( lemeindeverwaltungen  den  Er- 
werb von  Häusern  aufserhalb  ihrer  Domätie  zu  gestatten,  ihnen  aber 
den  von  Bauv^rund  vorzuciithalten.  Der  Grafschaftsrat  wird  also 
wahrscheinlich  die  Möglichkeit  erhalten,  eine  wcitaus«T|-eifende  muni- 
zipale Hausungspolitik  in  die  Hand  zu  nehmen.  Die  drastischen 
Enteignungsvorschläji^e  des  Entwurfs  der  Arbeiter  haben  zur  Zeit 
auf  Annahme  nicht  zu  rechnen,  daj^ei^en  findet  der  \'orschlai::f,  den 
KiL;entümern  \  (>n  Ihlusei  ii  und  ( fruiulstücken  in  sanitälswidrii^en  CJuar- 
ticren  die  l'tlicht  und  event.  die  Ko'-ten  der  IJchtun;^'  un<l  .Sanierung  * 
solularisch  aiit/ucrleLjcn.  lebhafte  Zu.slinnrjung  l)urgerliclier  b'achleute. 
hs  wurde  oben  i^e/ei^t,  wie  k* i-ts|)ielig  und  zweckwjdri;^  «lie  jetzt 
L:jeltende  Re'.;el  ist,  dafs  die  Beluirde  in  demselben  Distrikt  die 
gleiche  \\  uhn;^ek  '^enheit  für  die  AusL^emietelen  erstellen  soll,  um 
die  ihr  Lichtungsplan  ihn  verkürzt.    Haben  die  betretVenden  Eigen- 


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Der  gegenwärtige  Stand  der  WolinungsfR^e  in  England. 


Ö43 


tümer  die  Kosten  der  Lichtung  selbst  zu  trafen,  so  kann  die  Be- 
hörde den  alten  Bewohnern  der  zu  vernii  litriidcn  ..Slunis"  mit  weniger 
Auslagen  bessere  Hilfe  brinf^cn  als  dies  bei  den  Umbauten  des 
Londoner  Grafschaftsrats  bisher  der  Fall  <^'e\vesen. 

Am  10.  und  17,  Mai  kam  die  von  der  Regierung  eingebrachte 
Vorlage  zur  Krwciterung  des  Hausungsgesetzes  von  1890  (s.S.  637) 
im  Haus  der  (Gemeinen  zur  zwcitei.  I.csunj^.  Dazu  hatte  der  liberale 
Abgeordnete  Robson  ein  Amendement  beantragt,  das  erklärt: 

„Keine  Gesetiesvorlagf  Ix-trcffend  die  BcliauMUi^'en  der  arbeitenden 
Klassen  k.mn  als  ponit};enil  Ixtnuhtct  werden,  die  nur  die  At-nd  rtinäj 
eines  Teils   des  Gest  l/e>   von  über   die   Haiisung   der  arb<-i',i-iui.-n 

Kla>sen  vorsieht;  die  dii  .\bäiidening  des  (iesetzcs  über  die  Ab~i  liät/.ung 
der  Entscbädiguu^'^ansprüche  für  sanitäUwidrige  Wohnhäuser  übcri^eht,  and 
die  keine  Bestimmungca  enthält,  kraft  deren  Vertretongskörper,  die  Wohn» 
hittser  aufserhalb  ihres  Distrikts  errichten,  in  den  Stand  gesetzt  werden, 
angemessene  Eisenbahnen  oder  sonstige  Verbindung  zwischen  ihren 
Distrikten  und  den  betreffenden  Hänsem  zu  »langen." 

Nach  einer  sehr  lebhaften  Debatte,  an  der  sich  mehrere 
Minister  beteiligten,  ward  das  Amendement  zurückgezogen,  um  das 
Zustandekommen  des  Gesetzes  in  der  gegenwärtigen  Session  nicht 
zu  gefährden,  und  darauf  die  zweite  Lesung  der  Vorlage  ohne 
Widerspruch  genehmigt. 

Aus  der  Debatte  sind  besonders  hervorzuheben  die  Reden  des 
Arbeiterabgeordneten  Steadman,  des  liberalen  At^eordneten  Sir 
Robert  Reid  und  der  Minister  Chaplin  und  Balfour. 

Mr.  Steadman,  dessen  Antrag  weiter  oben  mitgeteilt  ist,  gab 
ein  eindrucksvolles  Bild  von  dem  Wohnungselend  im  Londoner 
Eastend.  Auf  Grund  eigener  Erfahrungen  in  seinem  Wahlkreis 
teilte  er  mit,  dafs  in  den  letzten  zwei  Jahren  Mictssteigerungen  von 
13  Sh.  auf  18  Sh.,  Ii'.,  Sh.  auf  16  Sh.,  9'!„  Sh.  auf  16  Sh.,  5'  ..  ^^h. 
auf  lo'/j  Sh.  —  d.h.  also  bis  um  fast  loc  Proz.!  —  von  ihm  fest- 
gestellt worden  seien.  £s  sei  so  weit  gekommen,  dals  W  ohiiräume 
oder  vielmehr  Schlafräume  nirht  nur  nach  dem  beriilmiten  Schicht- 
system von  Tag-  und  Nachtbenutzung,  .sondern  selbst  nach  dem 
Acht.stundenschichtsv.stem  vermietet  worden  seien.  Um  alle  die- 
jenigen,  die  nach  amtlicher  Fcsisteliiiiig  in  London  sanitätswidrig 
wohnten.  geh<irig  unterzubringen,  sei  eine  \'ermehrung  der 
j  e  t  z  i  e  II  Wo  h  n  g  e  1  e  g  c  n  h  e  i  t  um  s  e  r  h  7.  i  g  t  a  u  s  e  n  d .  acht 
Räume  enthaltende  Häuser  erfordert.  Das  zeige,  wie 
wenig  mit  kleinen  Mitteln  auszurichten  sei. 

42. 


644 


Eduard  Bernstein, 


Steadmaiis  Rede,  die  in  einer  Bep^riindun|T  seiner  Vorschläg;e  auf 
Afiuicrnng  der  Kiitci}jjnun^s<;csctze  und  Kinsctzun^:,'  von  Miets- 
iiericht<li<»fen  auslief  und  dessen  Schilderungen  tler  Wohnungsnot 
von  iil)er.ilcii  und  konscr\ati\cii  X'crtrttcni  Londoner  Arbeiterviertel 
bestäiii:i  wurden,  wird  vom  X'erein  der  l'abier  als  Traktat  heraus- 
gegeben werden. 

Sir  Robert  Rcid,  der  unter  der  let/.ien  Hberalen  Regierung 
Kronjutisl  war,  bheb  \n  seinen  \'or.>chlägeii  nur  wenig  hinter 
Stea(hnan  zurück.  Audi  er  erklärte  die  .Aenderung  des  I*"nteiiMiun;4>- 
\ertahrens  fui-  tlringend  erfordert.  Der  Zwangsenteigiuin;^  niii^sc 
ilie  Selb>tcinschät/.ung  der  I-,ii^^cnliinier  iür  die  Steuerveranlagung  /u 
( irundc  gelegt  werden.  Er  sähe  auch  keinen  Grund,  der  Einsetzung 
von  Mietsgerichtshöfen  zu  widersprechen,  würde  vielmehr  ebenso 
daför  stimmen,  wie  er  für  die  irischen  Facht^richtshöfe  gestimmt 
habe.  Ferner  sei  er  für  drastische  Marsregein  gegen  die  UeberfÜlle 
I^ndons,  Verbot  der  Errichtung  neuer  Werkstätten  in  den  inneren 
Distrikten  Londons  ((ur  welche  Mafsregel  sich  u.  a.  auch  der  liberale 
Abgeordnete  Professor  Bryce  ausgesprochen  hat)  und  eine  radikale 
Verkehrspolitik. 

Neben  den  liberalen  Rednern  erklarte  auch  eine  Anzahl  kon- 
servativer At^eordneter,  darunter  der  bekannte  Sozialpolittker 
Mr.  Geoffroy  Drage,  dafs  das  Amendement  Robson  das  Mindeste 
enthielte,  was  die  Bekämpfung  des  Uebels  erfordere. 

Von  den  R^ierungsvertrctern  zeigte  sich  der  Minister  für  die 
Lokalverwaltungen,  Mr.  Chaplin,  den  Reformern  ziemlich  ent- 
gegenkommend. Seine  \\>rlage,  erklärte  er,  SoUc  keinen  .\bschlufs 
der  einschlägigen  Gesetzgebung  bilden,  .sondern  nur  einen  Schritt  nach 
vorwärts.  Man  müsse  aber  nun  erst  ihre  Wirkungen  abwarten.. 
Allenfalls  wolle -er,  der  Minister,  noch  die  V'orscliläge  in  Erwägung 
ziehen,  die  darauf  abzielten,  die  Tilgung.sraten  der  kommunalen  Bau- 
font^ls  zu  ermälsigen.  Im  üliriL^en  seien  die  X'ollmachten  der  I.ckal- 
l)eli"rden  heute  schon  sehr  weitgehende,  sie  würden  nur  nicht  in 
ihrem  \ullen  l'nifati  "c  aus^eruitzt. 

Letzteres  liehauptete  auch  Minister  J.  .A.  l^alfour,  dessen  Rede 
die  1  )el)atte  ab>chlors.  Kr  wies  darauf  hin,  dals  die  tiemeinden  das 
Recht  hätten,  die  l^esitx.er  von  sanitätswidrigen  Häusern  für  jeden 
lag,  wo  ihr  Haus  noch  fernerhin  in  dem  Zustand  verl)leibc,  mit 
2  I'fd.  .Sterling  lkil>e  zu  belegen,  und  was  brauche  man  mehr?  Strafe 
man  den  Slum-Kigentümer  —  er,  der  Minister,  würde  sich  keine 
Augen  ausweinen,  wenn  jeder  Eigner  von  sanitätswidrigen  Häusera 


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Der  gegenwärtige  Stand  der  Wohnungsfrage  in  England. 


645 


vor  (iertii  Tlnir  aufL^chätv^t  würde.  Aber  die  Scliukl  dafür,  dafs 
sanitäre  L'cbel  forlbeständei),  lie^e  bei  den  Ortsbehörden  und  nicht 
beim  Gesetz.  X'on  den  \'nrschlä<::jen  auf  Erleichterung  und  Vcv- 
billigung  des  Fnlei^iiun^sv erlahreiis  wollte  Mr.  Balfour  jetioch  nichts 
wissen.  Kr  erklärte  sie  für  Einbruch  in  c^as  Ic^jitinic  (ieschäfts- 
leben.  Der  X'orschlacr  des  Mr.  Reid,  den  Bau  von  neuen  Werk- 
stätten in  den  inneren  Di>trikicn  I.ondun>  /u  verbieten,  sei  das 
.\Utcni.stc,  was  nian  je  «gehört.  Kr  hiclsc,  die  einen  Eigentümer 
von  Grund  und  Boden  zu  Gunsten  anderer  berauben,  den  jetzigen 
Eignem  von  Werkstätten  ein  Monopol,  verleihen.  Ebenso  abge- 
schmackt sei  der  Vorschlag  auf  Einsetzung  von  Mietsgerichtshöfen. 
Den  Vogel  schicfsc  die  Idee  des  Professor  Brycc  ab,  auf  die  Ver- 
ringerung des  Umfangs  von  London  hinzuwirken.  Mit  diesem 
Problem  habe  sich  bekanntlich  schon  die  Königin  Elisabeth  abge- 
quält. Der  eimige  praktische  Vorschlag  sei  der  Regterungs- 
vorschlag,  und  im  übrigen  müsse  man  seine  Hoffnung  auf  die  Ver- 
besserung der  Verkehrsmittel  setzen.  Wir  standen  am  Vorabend 
ungeheurer  Vermehrung  der  Verkehrsmittel.  Gebe  man  den 
Munizipalitäten  alle  Möglichkeiten,  die  Wissenschaft  und  Erfindungs- 
gäbe  für  diesen  Zweck  auszunutzen.  Sein,  Mr.  Balfours,  Traum  sei, 
neben  Trambahnen  und  Eisenbahnen  besondere  W'e^^e  für  schnellen 
motorischen  Verkehr  errichtet  zu  sehen,  der  die  Möglichkeit  biete, 
die  Arbeiter  mit  gröfserer  Geschwindigkeit  als  jene  von  Haus  zu 
Haus  zu  befördern. 

Der  Gedanke  ist  unzweifelhaft  schön,  wenn  nur  niclit  gerade 
die  Regierung  es  wäre,  die  auch  hier  jede  Gelegenheit  wahrnimmt, 
der  Verschleppun;4sj)olitik  der  in  Frasjc  kommenden  Ikhörden  und 
Institute  \"orschub  zu  leisten.  Gerade  am  laj^e  zuvor  halte  im 
Parlament  ein  von  den  Londoncf  ( Icwerkschaftcn  ansf^ehcndcr  und 
von  tlem  I.iltetaUii  l.ou^h  vertrcUMur  Antra;j^  zur  X'erliaii« lluiv^  ;.;<-■- 
standen,  die  l'ascnbahn'^cscllschafien  zur  X'crmclu uik;  uikI  Au>- 
dehnung  der  biili;^en  l',isen})ah!i/,ii^rc  zwischen  Eondon  und  den  \'or- 
orten  anzuhalten,  .^ber  trot/tlem  ihn  auch  viele  Konser\ati\e  unter- 
stützten, l)raclite  ihn  die  Regierung,  unter  Austuitzung  eines 
Verslolses  in  .seinem  W  ortlaut,  zu  Fall,  und  eine  \<in  der  Eontioner 
Arbeiterschaft  erstrcl)tc  Reform  ward,  wenn  niclit  \ereilelt,  so  doch 
auf  die  lange  Bank  geschoben. 

Die  Sache  ist  die,  dafs  im  Haus  der  Gemeinen  in  seiner  der- 
zeitigen Zusammensetzung  das  Interesse  der  Etsenbahngesellschaften 
und  der  Grundeigentümer  noch  aufserordentlich  stark  vertreten  ist.  Die 


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646 


K  d  u  a  r  d  Bernstein, 


L,'an/c  Rcilc  Minister  Ballour.s  atmete  Rücksichten  auf  das  Grund- 
eigentumsinteresse, vor  allem  auf  das  städtische  Grundeigentum,  das 
heute  in  England  viel  mehr  zu  bedeuten  hat«  als  das  ländliche.  So 
radikal  der  Minister  mit  Bezug  auf  die  Eigner  von  Slum-Hausern 
sprach,  so  energisch  wies  er  den  Gedanken  ab,  die  städtischen 
Grundeigner  für  die  auf  ihrem  Boden  stehenden  Häuser  verantworte 
lieh  zu  machen.  Und  wenn  sich  dafür,  soweit  es  sich  um  rück- 
wirkende Verantwortung  handelt,  noch  mancherlei  sagen  läfst,  so 
waren  die  Grunde  für  die  Zurückweisung  der  auf  Reform  des  Ent* 
eignungsverfahrens  und  auf  planmäfsige  Dezentralisierung  Londons 
abzielenden  AntrS^e  Zeugnisse  übermäfsiger  Rück»cht  auf  Eigen- 
tümerinteressen. 

Der  Gedanke  einer  Einschränkung  des  Rechts  auf 
Errichtung  neuer  Fabriken  im  inneren  London  wird 

durchaus  nicin  als  so  unvernünftig  betrachtet  werden  können,  als 
wie  ihn  Mr.  Halfour  hinstellte.  Solche  Einschränkungen  wurden 
auch  vr.nst  srli^n  verfügt,  ohne  dafs  man  sich  durch  die  Furcht,  ein 
Monopol  zu  schaffen,  hat  beirren  lassen.  Der  geschaticne  Monoi>ol- 
wert  kann  durch  eine  zweckniäfsigc  Steuerpohtik  wieder,  eingeholt 
werden,  l'nd  frrner  kann  ein  rntcr.schied  gemacht  werden  zwischen 
Fabrikt  n  fiir  Artikel  des  ortlichen  Bedarfs  und  solchen,  die  weder  inhezug 
auf  ihren  Ah-.it/  noch  •enu'lfs  der  N'atur  ihrer  l'roiluklion>l)edin''uni[en 
örtlich  gebuiulen  >intl.  l'.in  X'orM'hl.iL;  aut  iMitlastuiiL;  !  undons  \  (>n 
einem  Teil  seiner  Fabriken,  der  aut  ilk^t  r  1  nterscheiiiung  zwischen 
örtlich  gebundenen  und  örtlich  unabhängigen  Werstätten  fufste, 
ward  \or  einiger  Zeit  sehr  detailliert  im  redaktionellen  Teil  der 
kons«  r\ rn  ..['.ill  Mall  (i.a/.ette"  entwickelt.  Mit  grofsciri  Recht 
ward  dort  au>gctuhrt,  dals  es  unsinnig  sei,  eine  Abnaliine  oder  auch 
nur  einen  Stillstand  in  der  l'eberfüllung  der  \'olks»|uartiere  Londons 
zu  erwarten,  solange  die  Arbeitsgelegenheiten  sich  dort  zusammen- 
drängen. 

Dieser  Gedanke  ist  um  so  mehr  im  Auge  zu  halten,  als  die 
blofse  Verwirklichung  von  Mr.  Balfours  Traum  einer  Revolutionierung 
der  Verkehrsmittel,  soweit  London  inbetracht  kommt,  noch  keine 
sichere  .Abhülfe  verspricht.  Die  Entfernungen  sind  hier  so  grols, 
dafs  immer  ein  wesentlicher  Teil  der  Arbeiter  das  Hinausziehen  in 
die  weniger  beengten  Vororte  scheuen  wird.  Der  das  innere 
London  umgebende  Gürtel  ist,  soweit  er  nicht  von  ViUenquartieren 
belegt  ist,  in  sehr  erheblicher  Breite  teils  ebenso,  teils  fast  noch  mehr 
übervölkert  wie  die  zum  inneren  Teil  gehörenden  Arbeiterdistrikte. 


Der  j»fj;fawärtigi-  .Stund  di-r  \Vidinunj;slragc  in  l.ngland. 


647 


In  dieser  Verbindung  sei  noch  bemerkt,  dafs  der  auf  dem  Pro- 
gramm der  meisten  Bodenreformer  stehende  Vorschlag,  die  un- 
bebauten städtischen  Grundstücke  so  hoch  zu  be- 
steuern, dafs  ihre  Besitzer  genötigt  werden,  sie  zu  bebauen  oder 
bebauen  zu  lassen,  in  London  von  vielen  Reformern,  die  sonst  dem 
privaten  Grundeigentum  nicht  sehr  gewogen  sind,  mit  dem  Hinweis 
darauf  bekämpft  wird,  dafs  London  schon  jetzt  viel  zu  dicht  bebaut 
sei  und  jedes  leere  Plätzchen  'im  G^enteil  erhalten  werden  müsse. 

Neuerdings  hat  der  Londoner  Grafschaftsrat  die  Errichtung  von 
Arbeiterliäusern  in  die  Hand  genommen,  zu  der  ihn  kein  Lichtungs- 
plan nötigte,  sondern  nur  das  Verlangen,  die  Wohngclegenheit  zu 
vermehren.  Er  hat  in  dem  Vorort  Tooting,  wie  erwähnt,  ein  grofses 
Stück  Land  erworben,  und  wird  dort  Wohnhäuschen  für  Arbeiter 
erbauen,  die  12  0(X)  Menschen  modernen  .Ansprüchen  entsprechende 
Unterkunft  bieten  sollen.  In  dieser  ToHtik  des  tn  ihändigcn  Mrrichtens 
von  Wohnungen  für  Arl>eiter  und  andere  Leute  in  gleichen  \'er- 
m< vgcnsverhäknis<en  sind  ihm  indes  v  iele  Städte  des  vereinigten 
Königreichs  vorausgegangen,  und  zwar  fast  ausnalunlov  mit  guteni 
hrlolg.  \'on  grölseren  Städten  sintI  da  in<hr-<nuKre  Birniiiighani, 
(rlasgow  und  Liverpool,  von  kleineren  Richin(»nd.  (ircenock  und 
Ooydon  zu  nennen.  .Xbcr  mcibt  scheitern  die  Pläne  an  den  vorher 
aufgezählten  .Schwieri:;keiten. 

Die  Stadt  M  a  n  c  Ii  e  >  t  c  r  hat  bei  ciiK  in  von  ihr  beabsichtigten  An- 
kauf eines  grölseren  .Areals  fiir  I  >eliauMiii:;-./\\  ^  ckc  mit  der  Oj^position 
verschiedener  Pri\ alinteressenlen  zu  k.ini|«len.  l:>  li.uuielt  sich  um 
237  Acre  (95  Hektare)  Land  bei  Hlackle\  iin  Süden  von  Manchester, 
das  die  Stadt  für  36  oOO  Pfund  Sterling  ankaufen  will,  um  1 87  Acres 
mit  Arbeiterhäusern  zu  bebauen  und  50  Acres  fUr  Arbeitergärten 
(„Allotments")  auszulegen.  Ein  Bauplan  fiir  Hausungszwecke  im  grofsen 
Stil,  den  der  in  seiner  Mehrheit  aus  Sozialisten  und  Gewerkschafts- 
Vertretern  bestehende  Gemeinderat  von  VVestham  bei  London— ^ 
ein  hochindustrieller  Bezirk  mit  etwa  250000  Einw^ohnem  —  aus- 
gearbeitet hatte,  ist  am  6.  April  d.  J.  in  direkter  Abstimmung  von 
den  Gemeindewählem  verworfen  worden.  Nach  dem  Plan  sollte 
eine  Million  Pfund  Sterling  fiir  den  Ankauf  von  Land  und  den  Bau 
von  Arbeiterwohnungen  ausgelegt  werden.  Die  verwerfende  Mehr- 
heit  war  nicht  sehr  grofs  und  soll  nur  dadurch  zustande  gekommen 
sein,  dafs  viele  Pluralstimmen  abgegeben  wurden.*)  Indefs  würden 


')  Dft  in  England  der  Mieter  qua  hticter  Stimmrecht  hat,  kann,  wer  zwei  Lo* 


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648 


s 

Eduard  Bernstein, 


die  Pluralstimmen  zur  Erzietung  der  Mehrheit  nicht  ausgereicht 
haben,  wenn  nicht  die  Tdlnahme  an  der  Abstimmung,  trotz  einer 
aufscrordentlich  intensiven  Agitation,  eine  sehr  geringe  —  noch  nicht 
40  Proz.  der  Stimmbercchti^en  —  gewesen  wäre. 

Klassenprivile^ium,  Klasscnvnruitcil,  Klassenträi^licit  —  das  sind 
die  drei  gröfsten  Feinde  einer  durciigreifenden  Verbesserung  der 
Wolinungsverliältnisse.  und  es  Ist  schwer  zu  sn«:jcn,  welcher  davon 
der  gröfsere  ist.  Mr.  Sidney  \\  <M'.  einer  der  besten  Kenner  der 
einsrh]äj:^i5:jcn  Verliältnisse ,  erklärte  auf  der  Einp^angs  erwähnten 
Konferenz  unter  allseitii^er  Zustinmiunf^  den  Trä;^dicitswiderstand 
derjeniL,'(  n,  für  welrlic  die  W'olmunf^^sretormcn  Ijetrielu-n  würden,  für 
den  sc!iliinnib.ten  ihrer  Feinde.  I'.s  ist  unendhch  schwer,  Klassen, 
die  (iener.iliunen  hindurch  an  nienschcnunwvirdij^es  Wohnen  ;j^cwöhnt 
worden  sind,  zur  vollen  \\'iir(1i<^un|^^  ^esutiden  und  aiisländiL^en 
WOhnens  zu  erziehen.  Die  Stadl  GlasL^DW  hat  vielleicht  nielu  als 
irj:jend  eine  zweite  Stadt  des  \  ereini^^ten  Königreichs  für  die  Hcsserunv;^ 
der  W'ohnungsverhältnisse  der  ärmeren  Bevülkerungsklassen  ^i  than. 
Sie  hat  u.  A.  neben  I  .ogierhäusern  für  Einzelpersonen  auch  ein 
Logierhaus  für  Familien  (Witwen  oder  Witwer  mit  Kindern)  errichtet. 
Aber,  wie  der  sozialistische  Gemeinderat P.  G.Stewart  am  16.  April  d.  J. 
auf  einer  Konferenz  von  sozialistischen  und  gewerkschaftlichen  Ge- 
meindevertretem  ausführte,  —  so  gut  die  Idee  war,  so  mache  die 
Stadt  doch  bei  diesem  Logierhaus  jährlich  700 — 800  Pfund  Sterlii^ 
Verlust.  Viele  Angehörige  der  ärmsten  Bevölkerungsschicht  wohnten  • 
lieber  in  den  Slums  als  sich  der  Bequemlichkeiten  zu>  bedienen, 
welche  ihnen  das  F'amilienheim  biete,  es  scheine  manchmal  hoffhungs* 
los,  ihnen  beizukommen.  „Die  ärmeren  Klassen",  fiihrte  auf  der 
Hausungskonferenz  der  sozialistische  Gemeinderat  Lawson  Dodd  aus» 
„wollen  und  müssen  billige  Wohnungen  haben;  sie  verstehen,  was 
sechs  Pence  die  Woche  weniger  Miete  meint,  aber  sie  verstehen 
nicht,  welchen  Vorteil  solide  Fundamente,  staric  verbundene  Abzugs- 
rohren und  Spülklosetts  bedeuten.  Sie  stehen  nicht  an,  in  ein  schon 
übcrfüUtes  Heim  norli  ein  paar  Aftermietcr  /u  nehmen,  aber  sie 
verstellen  nicht,  ilals  jeder  Inwohner  eines  .Schlafzimmers  mindestens 
ir)Do  Kubikfufs  Luftraum  1;  i!i  11  sollte.  So  haben  die  ötTcntlichen 
Behörden  denen,  die  sowohl  arm  wie  unwissend  sind,  einen  ge- 
sunderen Artikel  unter  den  gegenwärtigen  Gesetzen  ebenso  teurer 
oder  noch  teurer  darzubieten  wie  der  Markt" 

kalitiit.  n  f;omietet  bat  —  etwa    ine  Wohnung  und  ein  GeschXflslokml  —  bei  ge- 
wi«»«n  Abstimmungen  flir  jede  derselben  Stimmrecht  aosttben. 


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Der  gegenwärtige  Stand  der  Wohnungslragc  in  i.ngland. 


Mr.  Dodd  teilt  in  seinem»  auch  sonst  sehr  instruktiven  Referat 
einen  eigentümlichen  Plan  mit,  nach  dem  der  Gemeinderat  eines 
der  Vororte  im  Norden  Londons  —  Hornsey  —  eine  Schwierigkeit 
munizipaler  Hausungspolttik  zu  überwinden  sucht,  nämlich  das 
Problem,  auch  (tir  den  individuellen  Fall  die  Wohngelegen* 
heit  möglichst  dem  Wohnbedürfnis  anzupassen.  Ein 
schlechtbezahlter  Arbeiter  mit  viel  Kindern  braucht  offenbar  mehr 
Wohnraum  als  ein  gutbezahlter  Arbeiter  mit  wenigen  Kindern. 
Wird  aber  die  Wohnungsmiete  streng  nach  dem  Kostpreb  berechnet, 
so  wird  natürlich  bei  der  Wahl  der  Wohnung  die  Zahlungsfähigkeit 
über  den  faktischen  Bedarf  entscheiden.  Man  ist  nun  in  Hornsey 
auf  den  Ausweg  verfallen,  die  Mietssätze  der  gröfsten  urul  kleinsten 
Wohnungen  etwas  höher  anzusetzen,  als  der  wirkliche  Kostpreis, 
um  dafür  tlie  Wohnungen  mittlerer  (xröfse,  für  die  der  gröGste 
üiktische  Bedarf  ist,  etwas  billiger  liefern  zu  können.  Es  ist  un> 
schwer,  in  dieser  Anordnung  die  Anwendung  eines  durchaus 
sozialistischen  Prinzips  zu  erkennen,  und  es  ist  um  so  merkwürdiger, 
dafs  man  gerade  in  Hornsey  darauf  verfallen  ist,  als  der  ( leincinde- 
rat  dieses  ( )rtcs  keinc'^'.vcgs  besonders  radikal  i>l.  Freilich  darf 
nicht  übersclu  ii  werden,  dals  die^^es  ganze  Arrangement  sich  nur 
auf  die  von  der  deiiieinde  (  i>tellteii  Arheiterliäu-^clien  l)c/ieht,  der 
Ausgleicii  zwi-chen  iSedarl  und  l'reis  sieh  ><>niii  nur  innerhalb  der 
Arbeiterklasse  abspielt.  Doch  sind  die  Häu.schen  gut  eing<.ri<-htet 
und  bewirkt,  wie  Mr.  Dodd  schreibt,  ,.die  gegebene  lendciiz  der 
menschlichen  Natur,  einen  Gegen>l  ind  nach  seinem  Preis  zu  werten, 
dals  alle  Beteiligten  mit  dem  Arran.4enient  zulricdi-n  sind." 

Die  Preise  der  kommunalen  WUhnungen  weichen  nirgends 
sehr  von  den  Durchschnitt.si>reisen  der  Wohnungen  von  gleicher 
Gröfsc  ab,  doch  wird  in  den  meisten  Fällen  Besseres  in  der 
(Qualität  geboten.  So  z.  B.  in  Richmond,  wo  die  munizipale 
Bauthätigkeit  so  erfolgreich  ausgefallen  ist,  da(s  alsbald  die  Ver- 
mehrung der  Kommunalwohnungen  beschlossen  wurde.  Eine  Be- 
schreibung der  Wohnungen  selbst  fallt  nicht  in  den  Rahmen  dieses 
Artikels.  Doch  sei  soviel  bemerkt,  da(s,  wie  übrigens  selbstver- 
ständlich, mit  dem  Fortgang  der  Bewegung  auch  die  Wohnungen 
—  ob  Blockwohnungen  oder  Ein-  und  Zwei  •  Familienhäuser  — 
immer  zweckmäßiger  und  gefalliger  hergestellt  werden.  Das  gilt 
z.  B.  auch  von  den  zuletzt  gebauten  Blockwohnungen  des  Londoner 
Grafschaftsrats.  Früher  gemachte  Fehler  werden  vermieden,  ander- 
wärts erprobte  Neuerungen  aufgenommen  die  Wünsche  der  Mieter 


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Eduard  Bi-  rn  s  t  <■  i  n , 


selbst  besser  berücksiclnigt.  Was  diePreisbemessung  anbetrifft, 
so  wird  heute  vielfach  darüber  gestritten,  ob  man  die  jährliche 
Tilgungsquote  bei  ihr  mit  in  Ansatz  bringen  oder,  statt  aus  den  Mieten 
aus  den  Steuereinnahmen  decken  soll.  Nach  den  Einen  gehört  die 
Tilgungsquote  zu  den  Selbstkosten  und  bedeutet  ihr  Erlafs  eine  Unter- 
stützung der  Mieter  und  je  nachdem  ihrer  Lohnherren.  Dagegen 
wenden  die  Verteidiger  der  Gegenansicht  ein,  dafs  die  Mitansetzung 
der  Tilgungsquote  bei  der  der  Mietshöhe  eine  ungerechte  Be- 
1a>tun;4  der  Mieter  zu  (nnistcn  iler  übrigen  Steuerzahler  bedeute. 
Denn  die  Häuser  fielen  ja  doch  schliefsiich  der  ("lenieindc  als  freies 
fcigentUTTi  /.u.  Wie  aus  dem  ttitu  iuT  der  Arbeiterabj^enrdnclen  er- 
sichtlich, haben  diese  sich  auf  den  letzteren  Standpunkt  gestellt. 
Im  übri«:fen  schlagen  sie  eine  so  weite  Ausdehnung  tier  Tilgungsfrist 
vor,  dafs  die  Frnge  viel  von  ihrer  praktischen  Bedeutung  verliert. 
Und  hierin,  in  dem  X'erlangen  nach  Ausdehnung  der  Tilgung>fristen, 
werden  «ii-  von  den  meisten  bürgcrlirlu  n  Reformern  unterstützt. 

Aui  einer  in  den  l'tingsttagcii  in  l)ublin  abgehaltenen  Koii- 
fcrenz  des  Bundes  städtischer  \' e  r  t  r  e  t  u  n  g  e  n  .  auf  der 
alle  bedeutenderen  Städte  des  vereinigten  Königreichs  ».»lli/icll  \  er- ■ 
treten  waren,  beantraL;ten  die  Vertreter  für  Dublin  folgende  Reso- 
lution zur  Hausungsfrage : 

.  l)];-  (  i. -i  t/.^-rVnitij,'  üb  r  d.  n  Frwt  rU  von  Badcu  durch  örtliche  Behörden 
bctiurl  in  lol^t mler  Rirlitung  d«.  r  Abänderung  : 

1.  Vereinfachung  und  Abkürzung  dtfS  Verfahrens; 

2.  Bestimmungen,  welche  den  Erwerb  des  Freilebens  von  GnuBdstOcken  and 
GebSuden  erleichtern,   und  Bcseitif;ung   der  so  hSiixüg  auftauchenden 

Schwierigkeiten  mit  Bezug  auf  übersehene  lntert  s>i-n ; 

3.  Redoktion  der  Kosten,  dir  li.-ut*-  v.  rursacht  wt  rd.  n  ilurcli .  ;i  dir  An- 
S'-f/.nng  eines  liktivrn  Wert»  lur  ( irinuKstvi«  .  .Jir  Sur  'ttVntliclic  Zwi  ckf 
j^'rhr.iuilit  w.nlcn ;  In  dir  l'c\villi;;unf:  von  unm-l>uhi In  ht-n  AulVcldä^'-  n 
bei  Zwan^sv  crkaulcn ;  c.i  die  AiiNct/unj;  eines  \Verte>  (iir  Gebäude.  «!if  zu 
menschlichen  Wohnungen  nn^ct  i^nei  sind;  d)  die  ungi  iicure  Kostspielig- 
keit de*  gregenwärtigen  Systems  der  Prüfung  der  Kechtstitel; 

4.  Ausdehnung  der  Bestimmungen  der  Agrargesetzgebung  auf  Erbxinse,  Krön« 
renten,  Zehnten,  Zehnttitel  und  Meliorationslasten ; 

5.  II.  -i  hränkung  d<-r  Zubilli^utit;  \-on  Zins<  n  auf  Ankaufspreise  auf  solche 
F.nlle,  wo  willkürliche  Verschleppung  seitens  der  Loltalbebörden  vorliegt." 

Auf  Vorschlag  des  Rechtsberaters  der  Londoner  City  ward  die 
Resolution  einstimmig  durch  eine  einfacher  g^efafste  ersetzt,  die  nur 
fjenerell  Abänderung  der  deseize  ül».  r  den  Bodenerwerb  von  Ge- 
meinden verlangt  und  den  Ausschuls  des  Bundes  beauftragt,  einen 


Dcr^  gcffcnw&rtif^e  Stand  der  Wuhnungsfragc  in  Kurland. 


entsprcchcfHlfii  Gcsct/.ciitwurf  auszuarl  iciten.  Prinzipiell  sprach  sich 
jedoch  nieniarul  i^ci^^cn  den  l)ul)IiiKr  AnUa;^^  aus. 

Es  ^iebl  überliaupl  keinen  einzigen  namhaften  l'tjliliker,  der 
den  jetzigen  Zustand  hinsichtlich  der  Wohnungs/.ustände  untl  der 
damit  in  Verbindung  stehenden  Gesetzgebung  nicht  als  unhaltbar 
bezeichnete.  So  erklärte  vor  einigen  Monaten  Lord  Roseber>-  bei 
der  Eröffnung  kommunaler  Arbeiterwohnungen  in  Shoreditch  (Nordost- 
London),  in  I^ndon  erheische  die  Wohnungsfrage  einen  Diktator, 
der  mit  eiserner  Hand  dreinfahre,  und  demselben  Gedanken  äufserte 
am  31.  Marz  auf  einer  Versammlung  des  christlich-sozialen  Bundes 
der  Abgeordnete  Haidane,  ein  sehr  einflufsreiches  Mitglied  der  libe- 
ralen Partei.  Mr.  Haidane,  ein  Jurist,  der  besonders  die  englischen 
Bodetirechtsprobleme  gründlich  beherrscht,  erklarte  es  ftir  das  beste, 
erst  einen  General  Kitcheiier  oder  Roberts  zu  beauftragen,  alle  Slums 
niederzulegen,  und  .dann  die  Rechtstitel  zu  untersuchen.  Im  übrigen 
betonte  auch  er  die  Notwendigkeit,  sich  nicht  auf  ein  einziges  Heil- 
mittel zu  l)escliränken,  sondern  die  Frage  von  allen  Seiten  anzu- 
packen, im  die  Wohnungsfrage  gruppiere  sich  die  ganze  soziale 
Frage.  In  den  X'ordergrund  gehöre  indes  zur  7a  \\  die  Erweiterung 
der  Gemeindevollmachten  und  die  Reform  der  Bodenbestcucrung  — 
ohne  sie  keine  wirksame  Hausungs-  und  Verkclnspolitik. 

Ueherblicken  wir  noch  einmal  das  (icsamtbild,  welches  die  Hc- 
wegung  für  die  bessere  Behausung  des  X'olkes  in  Kngland  darstellt, 
so  läfst  sich  nicht  verkennen,  dafs  sowohl  in  der  (iesetzge!)ung  wie 
in  der  Praxis  der  ( ienieindcn  und  ähnlicher  KTirj^erschaftcn  mancherlei 
Fortschritte  zu  verzeichnen  sind,  die  l-lcwei^un;^  üheihaupt  sich  stetig 
ausbreitet.  .Aber  den  l 'ehelständcn  gegenülK-r,  die  zu  l)ckcänij»feü 
sind,  ist  das  bisher  (leleistele  —  einzelne,  niei^t  klriiu  re  Orte  aus- 
genommen —  immer  noch  sehr  wenig,  l-.s  bedarf  noch  unendlich 
vieler  Aufk]äiimg->-  vnid  .Agitationsarl)eit,  um  eine  gründliche  Reform 
herl)cizufühicn.  In  dieser  luki-nntnis  haben  sich  allerhand  Komitees 
gcliildct,  die  Agitation  uiul  .\ktion  in  (lang  zu  erhalten.  Die  wicii- 
tigsten  von  ihnen  sind  der  A  r  b  e i  t  e  r  ha  u  s  u  n  g s a  u  s sc  Ii  u  i  s 
in  London,  der  aus  Delegierten  gewerkschaftlich  und  politiscii 
organisierter' Arbeiter  zusammengesetzt  ist,  und  das  nationale 
Komitee  für  die  Hausungs  frage,  dem  Reformer  aller  Art, 
darunter  eine  ganze  Reihe  Parlamentsmitglieder,  angehören.  Beide 
Komitees,  bezw.  die  sie  vertretenden  Parlamentarier,  wollen  jetzt  ihr 
Möglichstes  aufbieten,  die  R^ierungsvorlage  über  die  Wohnungs- 
reform  in  der  Kommissionsberatung  durch  Zusatzanträge  zu  er- 


L.ivjM^L,j  L,y  Google 


652  Bernstein,  L)cr  gegenwärtige  Stand  der  Wuhnungsürage  in  England. 

weitem,  wobei  als  nächste  Ziele  Vcrbilli^^uii^  der  BodenbescliatiuiiL; 
und  Verlängefung  der  Tilt;uii-sfristen  kommunaler  Bauanleihcn  in 
Aussicht  genommen  sind.  Begründet  wird  die  letzte  Forderung 
mit  dem  Hinweis  auf  die  gröfsere  Solidität  der  von  den  Gemeinden 
erstellten  Wohnhäuser.  Wo  nicht  abnorme  Bodenrenten  gezahlt 
werden,  bildet  der  Zins  für  die  Baukosten  und  den  Tilgungsfond 
bei  kurzer  Tilgungsfrist  den  gröfsten  Posten  in  der  Reihe  der  Ele- 
mente, aus  denen  der  Mietspreis  sich  zusammensetzt 


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GESETZGEBUNG. 

DEUTSCHES  REICH. 

Die  Novelle  zur  Gewerbeordnung.  0 

(Vom  30.  Juni  1900.) 
Von 

HERMANN  MOI.KENBUHR, 

Mitglied  des  Kcichsta^vs. 

Manche  That  der  ticset/gcbun|^'  ist  für  den  fcrnstchciulcii  volli;^ 
unverständlich.  Plötzlich  werden  einige  Spe/ialfr.i^cn  aul^cj^M  iiicii 
und  gesetzgeberisch  geregelt,  während  man  andere  Dinge,  oft  schrei- 
ende Milsstände,  völlig  unbeachtet  lafst  Am  häufigsten  wurden 
die  Gewerbegesetze  von  der  Gelegenheitsgesetzmacherel  betroffen. 
Hier  kämpfen  veraltete  und  moderne  Ansichten  miteinander,  und 
wenn  dann  scheinbar  unerwartete  Ereignisse  hinzutreten,  dann  hält 
man  den  Augenblick  gekommen,  um  gesetzgeberisch  einzugreifen. 
Dem  Geschichtsschreiber  wird  es  schwer  werden,  die  Gründe  zu 
finden,  die  zu  den  vielen  Abänderungen  der  deutschen  Gewerbe* 
Ordnung  geführt  haben.  Nur  teilweise  werden  sie  in  den  Motiven 
angeführt.  Ja  es  kommt  vor,  dafs  die  wirklichen  Gründe  nicht 
nur  verschwiegen,  sondern  oft  direkt  in  ihr  Gegenteil  verdreht 
werden. 

Wer  z.  B.  die  Begründung  der  neuesten  Gewerbeordnungsnovelle 

liest,  mufs  zu  der  l"ebcr/A  Ui;ung  kommen,  dafs  die  Aenderungen, 
betreffend  die  Stellenvermittking  nur  dadurch  herbeigeführt  sind, 
dafs  man  die  Stellenvcrmittler  als  unzuverlässige  Leute  erkannt  hat. 
In  der  That  liegen  die  Gründe  auf  einem  ganz  anderen  (Tcbict.  Die 
Klagen  der  ostelbischen  Grundbesitzer  über  die  Leutenot  haben  .der 

*)  Vgl.  meine  Besprechung  der  Norelle  in  ilirer  «m  2.  März  1899  dvm  Kriclis* 
tag  vorgelegten  Gestalt,  in  diesem  Archiv,  Bd.  XIV,  S.  191  ff. 


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654 


(rr>ctig<.'l>ung:  Deutsches  Reich. 


Rej^ierung  schon  manch  schwere  Sorge  gemacht.  Die  Grunclbesiucr 
verlangen  Beseitigung  der  Frei/ü«:jigkcit  für  ländliclie  Arbeiter. 
Diesem  Wrlan-^^cn  kann  die  Regierung  aus  Rücksiclit  auf  die  In« 
dustrie  nicht  nachgeben.  Kann  man  die  Freizügigkeit  niclit  besei- 
tigen, so  soll  wenigstens  der  Versuch  gemaclit  werden,  dem  Land'- 
arbciter  das  I'ortzichen  zu  erschweren.  Da  <:ch  der  Landarbeiter 
vielfach  an  SiellcnveTmittler  wendet,  uni  Arbeit  in  den  Zucker- 
fabriken oder  bei  Kanal-  und  hüsenbahnbautcn  zu  erlangen,  so  glaubt 
man  die  Wanderlust  der  Landarlu-itcr  t  inschränken  zu  können,  \\enn 
man  tler  Thäligkeit  der  Stellen\ 1 1  niiuler  Schranken  setzt.  Uic  Aeii- 
derungen  der  ijij  ;^4.  3"  und  der  ( iewerbeonlnung  sind  haupi- 
sächiicli  dun  Ii  die  Klai;cn  der  Landwirte  hervorgerufen.  1  )a  man 
.sich  eiinn.il  mit  den  Stellenvermittlern  beschäftigte,  nuilste  man 
•  auch  Riicksicht  auf  die  Klagen  der  ( iastwirtsgehilfen,  Schaus{)ieler, 
The;iterange>tellten  u.  s.  w.  nehmen  und  versuchen,  diese  vor  Aus- 
beutung zu  schützen;  daraus  ei\tstand  der  i;  73a. 

Noch  zwei  aulsere  rmstände  wirkten  auf  die  Kinbrinj/ung  und  den 
Inhalt  der  Novelle  ein.  Die  Bestimmungen  über  die  Ladengeschäfte 
wurden  nötig,  als  die  Kommission  für  Arbeiterstatistik  durch  ihre 
im  Herbst  1892  eingeleiteten  Erhebungen  festgestellt  hatte,  dals  in 
Ladengeschäften  die  Gesundheit  der  Angestellten,  durch  übermäßig 
lange  Arbeitszeit,  schwer  geschädigt  wird.  Wenn  in  anderen  iCre- 
werben  ähnliche  Zustände  festgestellt  werden,  dann  hat  der  Bundes- 
rat das  Recht,  auf  Grund  des  §  I20e  der  üewerbeordhung  durch 
Verordnung  eine  Regelung  der  Arbeitszeit  herbeizufuhren.  Auf 
dem  Wege  der  Verordnung  konnte  hier  nicht  vorgegangen  werden, 
weil  der  §  i2oe  der  Gewerbeordnung  für  das  Handelsgewerbe  nicht 
gilt  und  das  Handelsgesetzbuch  eine  gleichlautende  Bestimmung 
nicht  hat. 

Der  dritte  äufsere  Anlafs  zu  dieser  Novelle  wurde  im  Februar 
1896  durch  den  Strike  der  Konfektionsarbeiter  gegeben.  .\ls  infolge 
des  Strikes  die  X'crhältnisse  dieser  Arlx  iter  näher  beobachtet  wur- 
den, fand  man  solch  schreiende  Mifsstände.  dafs  sie  ein  Eingreifen 
der  ( iesetzgebung  dringend  erforderten.  Die  .Abgeordneten  Hey! 
zu  Hernsheim  und  Prinz  zu  Schocnai'  h-Carolath  brachten  infolge- 
dessen im  Reichstage  eine  Interpellation  ein,  um  die  Verhältnisse 
zu  besprechen  und  stellten  im  .Anschlufs  an  diese  Interpellation  eine 
Reihr  Min  Anträgen,  durch  welche  die  1  lewerbeordnung  tlerart  ab- 
geändert werden  sollte,  dafs  viele  Mifsstände  beseitigt  wurden,  l'eber 
die  Anträge  konnte  nicht  verhandelt  und  abgestimmt  werden,  da  es 


HcMuaiiu  MMlkcaliuhr,  Die  Novelle  zur  GcwcrbcordnuDg.  (j^^ 

nach  der  Getehaftsordnung  des  Reichstages  unzulässig  ist,  an  eine 
Interpellation  Anträge  zu  knüpfen.  Statt  direkt  Beschlüsse  zu  fassen, 
wurde  die  Kommission  für  Arbeiterstatistik  beauftragt,  die  N'erhält' 
nisse  der  Konfektionsarbeiter  näher  zu  untersuchen.  Diese  Unter- 
suchungen kamen  im  Frühjahr  1897  zum  Abschiuls  und  bewirkten, 
dafs  die  Regierung,  durch  eine  am  18.  Mai  1897  eingebrachte 
Novelle  zur  Gewerbeordnung,  eini<,'cn  Mifsstämlcn  cntL^egentreten 
wollte.  Die  Novelle  wurde  wegen  Sclilufs  der  Session  des  Rei<  lis- 
tages  nicht  crltdi'^'t  und  erscliien  zum  Teil  als  drittes  Glied  in  der  * 
jetzigen  Xo\  <11<  Die  verschiedenen  Materien  erschwerten  die  rasche 
Erledigung  der  Novelle  im  Reichstage. 

Ks  gehvirt  wohl  zu  den  .Seltetiheitcn  in  der  (.jeschiclitc  der  Ge- 
setzgebung des  Dcutx  hcn  Reiches,  dals  eine  Novelle  von  so  ge- 
ringcni  l'mfaiig,  wie  die  <  it  \vcrhcordnungsiio\elle,  so  lange  Zeit  ge- 
braucht hat,  bis  -ie  \  >  im  Keichstai^i'  \  rrab>chicili  i  wnidc  Arn 
2.  März  1899  kam  die  Noxelle  .in  den  Reichstag,  sie  wurde  am 
19.  und  20.  April  in  erster  L.esung  beraten  und  an  eine  Kom- 
mission \erwiesen.  Mitte  Juni  gelangte  der  Kommissioi',si)eiicht 
an  das  1  laus  und  gleich  nach  den  grofsen  Ferien  wurde  die  No- 
velle in  zweiter  Lesung  thnchbci att  11 ,  so  dals  am  5.  Dezember 
schon  die  dritte  Lesung  sl.itttuulen  komilc.  Wegen  schwacher 
Besetzung  des  Hauses  uufl  Drohungen  mit  Bczwcitlung  der  He- 
schlufsfahigkeit  mul'ste  die  Beratung  abgebrochen,  und  konnte  dann 
erst  am  23.  Mai  1900  beendigt  werden.  Also  nicht  weniger  als 
volle  vierzehn  Monate  ist  diese  Novelle  „Gegenstand  reiflicher  Er- 
wägungen"  gewesen. 

Alle  Erörterungen  hatten  nur  die  Folge,  einige  Vorschläge 
der  Regierung  konsequenter  durchzuluhren,  aber  in  wesentlichen 
Punkten  blieb  der  Reichstag  hinter  den  Vorschlägen  '  der  Re* 
gierung  zurück.  Auch  seine  Mehrheit  erblickte  in  der  Thätigkeit 
der  Stellenvermittler  eine  der  Quellen,  durch  welche  die  Leute- 
not auf  dem  Lande  verursacht  wird.  Deshalb  wurde  dem  §  38 
des  Entwurfs  ein  neuer  Absatz  hinzugefögt,  welcher  den  Zentral- 
behörden das  Recht  giebt,  den  Stellenvermittlern  die  Ausübung 
ihres  Gewerbes  im  Umherziehen,  sowie  den  gleichzeitigen  Betrieb 
des  Gast-  und  Schankwirtschaftsgewerbes  zu  beschränken  oder  zu 
untersagen.  Für  die  erstere  Bestimmung  wurde  angeführt,  dafs  oft 
Leute,  tlie  gar  nicht  daran  denken  ihren  Arbeitsplatz  zu  verlassen, 
von  den  Stellenvermittlem  aufgesucht  und  zum  I'ortziehen  überredet 
werden.   Es  mag  ja  vorkommen,  dafs  der  Wandertrieb  durch  um- 


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656 


OesetZ|;e)>ung :  Drutscbes  Reich. 


herziehende  Agenten  angeregt  wird,  aber  dieser  Uebelstand  wird 
kaum  durch  die  neue  Bestimmung  beseitigt  werden.  Wenn  auch 
in  Gegenden,  wo  Mangel  an  Landarbeitern  und  Dienstboten  ist, 
kein  Steilem  trmiitler  konzessioniert  wird  und  es  dem  in  der  Stadt 
wohnenden  Vermittler  auch  untcrsaqt  ist.  selbst  hinauszugehen  und 
Leute  nn/inverben,  so  kann  es  doch  <;e\viss  nicht  v  erhindert  werden, 
dals  Arbeiter  in  <!cn  Dörfern  des  (Ostens,  die  Lage  der  Erdarbeiter, 
der  Bergleute  und  der  Arbeiter  in  den  Rübcnfeldern  in  den  rosigsten 
Karben  schildern  untl  den  unzufriedenen  Landarbeitern  die  Adresse 
lies  X'ermiitlers  sagen,  der  in  der  Lage  ist,  besser  bezahlte  Arbeit 
nachzuweisen. 

Das  \'erbot  oder  die  BeschränkunL:  des  Gast-  und  Sch.itikwirt- 
scliaftsbctriebes  für  Stcllcnvermittler  soll  ein  Schutz  \uv  die  Arbeits- 
losen <cin.  Bei  Sceschirtern.  Kellnern  und  einit;cri  antleren  (iewerbcn 
wird  (larulicr  <^'ekla;^'t,  dafs  der  .Stellenvcrmittler,  welcher  ^ieich/.eilig 
(last-  oder  Sch.uikwirt  ist,  nach  t4Ut<:^el< »hiitcii  Stellen  nur  solche 
Leute  hinschickt,  die  ihr  f^an/.es  Geld  bei  dem  Stellenvermittler 
\er/,chiLii.  Iii  diesen  f'ällen  ist  die  L;e/ahUe  \'ernnttluiii^st,abühr 
nur  ein  Bruchteil  der  Summe,  welche  der  Arbeitslf^^e  für  die  Stelle 
auszugeben  hat.  Schitislcutc  will  die  Reichsregierung  besonders 
schützen.  Für  diese  ist  der  Entwurf  eines  Spezialgesetzes  ausge- 
arbeitet worden,  das  sich  insoweit  von  den  Bestimmungen  der  Ge- 
werbeordnung unterscheidet,  als  es  vorschreibt,  dafs  die  Taxen  von 
deif  Landesregierungen  festgesetzt  und  von  dem  SchiiTsmann 
und  Rheder  je  zur  Hälfte  zu  bezahlen  sind.  Ferner  wurden  eine 
Anzahl  Kautelen  vorgeschlagen,  den  Schiflfsmann  vor  Ausbeutung 
durch  Vermittler,  oder  deren  Helfer  zu  schützen.  In  der  Gewerbe- 
ordnung ist  man  aber  nicht  soweit  gegangen,  und  da  das  Gesetz 
„betreffend  die  Stellenvermittlung  für  SchifTsleute"  nicht  erledigt  ist, 
wird  ein  grofser  Teil  der  Uebelstände  auch  lur  SchifTsleute  fortbe- 
stehen.  Würde  die  Regierung  zunächst  ein  scharf  umrissenes  Ziel 
vor  Augen  haben  und  dieses  durch  positive  Organisationen  zu  er- 
reichen suchen,  dann  könnte  ein  grofser  Teil  der  Uebelstände  ohne 
polizeiliche  KeglenienticrunL;  beseitigt  werden.  Aber  ein  Ziel  ge- 
nügt der  Regierung  in  der  Regel  nicht,  sie  will  gleichzeitig  mehrere 
Ziele  erreichen  und  erreicht  dann  gar  keins.  So  wurden  hier  die 
Klagen  der  Landwirte  über  die  Lt  utcnot  mit  den  Beschwerden 
der  .Arbeiter  vermengt  und  da  blieb  kein  anderer  Ausweg  als  der 
Appell  an  die  l'oli/ei. 

Diese  soll  dafür  sorgen,  dafs  nicht  zu  viel  Stellenvennittler  kon- 


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Her  mann  Molkenbuhr,  Di«.-  .Ni»vt'llc  ^Uf  (jcwcrbcordnung. 


zessioniert  werden;  sie  soll  verhindern,  dafe  unzuverlässige  Leute 
das  Geschäft  betreiben;  sie  soll  auch  verhüten,  dafs  durch  Betreiben 
des  Gewerbes  im  Umherziehen  oder  durch  den  gleichzeitigen  Be- 
trieb  einer  Gast-  und  Schankwirtschaft  Mtlsbrauch  getrieben  wird 
Würde  das  bunte  wirtschaftliche  Leben  sich  nun  in  den  polizeilich 
vorgeschriebenen  Grenzen  bewegen,  dann  wäre  auf  diesem  Wege 
etwas  zu  erreichen,  da  aber  heute  noch,  genau  so  wie  zu  Sliake- 
spcares  Zeiten,  es  mehr  Dinge  im  Hinunel  und  auf  Erden  giebt, 
als  unsere  Schulweisheit  sich  träumen  iäfst,  so  werden  trotz  allen 
Reglementierens  die  alten  Mifssiände  fortbestehen. 

Den  Petitionen  der  Barbier-  und  Friseurinnungen,  in  denen 
darum  gebeten  wurde,  dafs  die  Cieschäfte  dann  an  Sonn-  und  Fest- 
tagen geschlossen  sein  sollen,  wenn  keine  Gehilfen  und  Lehrlinge 
beschäftigt  werden  dürfen,  ist  durch  den  neugeschaifenen  §  41b 
Rechnung  getragen. 

Ein  solcher  Schluls  der  Geschäfte  soll  eintreten,  weini  zwei 
Drittel  der  beleiligten  Gewerl)etreibenden  es  beantragen.  Da  es 
aufser  den  Harbier-  und  IViscurgeschäften  noch  (iescliäfte  geben 
kann,  in  welchen  die  \'erhältnis>e  ähnlich  liegen,  so  hat  man  die 
Worte:  ,,in  Barbier-  und  h riseurgeschäften"  wie  es  in  dem  .Antrage 
der  Kommission  hiefs,  durch  die  Worte :  „in  bcstininiUMi  t  u  \\  erben" 
ersetzt  Hier  wird  es  einer  Mehrheit  uberlas.sen  Beschlüsse  zu 
fassen,  die,  wenn  sie  gefafst  sind,  von  den  Behörden  durchgeführt 
werden  müssen.  Der  Verstols  gegen  solche  rechtsgiltig  gewordenen 
Beschlüsse  wird  mit  Geldstrafe  bis  zu  600  Mk.  bestraft.  Die  Ver- 
letzung dieser  Beschlüsse  wird  abo  schärfer  geahndet  als  eine 
Uebertretung. 

Der  hier  in  die  Geset^ebung  eingeführte  Grundsatz  könnte, 
wenn  er  weiter  ausgebaut  würde,  zu  wirklichen  Reformen  des 
Arbeiterschutzes  fuhren.  Man  brauchte  nur  den  Arbeitern  gleiche 
Rechte  zu  geben,  z.  B.  indem  ein  Maximalarbeitstag  in  einem 
Gewerbe  eingeführt  werden  soll,  sobald  mindestens  zwei  Drittel, 
der  in  dem  Gewerbe  beschäftigten  Arbeiter  dies  beschliefsen.  Aehn- 
lich  könnte  man  den  Arbeitern  Rechte  geben  zur  Einfuhrung  von 
Unfall-  und  Krankheitsverhütungs\orschriften.  Die  durch  solche 
Beschlüsse  eingeführten  Schutzbestimmungen  würden  vom  Tage 
ihrer  Einführung  an  populär  sein,  und  deren  Durchführung  würde 
auf  wenig  Schwierigkeit  stofsen,  weil  die  übcrgrofse  Mehrheit  der 
Arbeiter  die  Durchfuhrung  selbstgeschaffener  Gesetze  kontrollieren 
würde. 

Archiv  für  w<.  CcMttgebung  u.  Statiilik.  XV.  43 


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6^8  Gesetzgebung:  Deutsches  Reich. 

Die  Durchführung  des  §  1 05  e  hat  zu  berechtigten  Klagen  An- 
lafs  g^eben.  da  einzelne  Landesregierun;^^cn  Sonntai^sarbcit  in  Be- 
trichen, wclclic  mit  durch  unregelmäfsige  Wasserkraft  bcwc^'tea 
Triebwerken  arbeiten,  <;estattetcn,  während  sie  in  anderen  Bundes- 
staaten gleicharti;;  n  Betrieben  VLiboten  ist.  Speziell  klagten  die 
rheinischen  Papiertabrikantcn  darüber,  dafs  <ie  ihre  Werke  still- 
stehen lassen  müssen,  während  in  Sachsen  und  Bayern  das  Arbeiten 
gestattrt  ist. 

L  in  diesen  lVl)clstanil  zu  beseitigen,  ist  ein  neuer  Absatz  in 
i?  105  e  eirv^efüi^'t,  nach  ^velrheIn  der  Bnndcsrnt  nälicrc  Hcstini- 
niiinL^cn  über  »Ik  Vorausscizunj^cn  und  Btdinj^^unj^cn  trclicn  soll, 
lUiter  wclclu'ii  ilic  Ausnaiimen  zulassig  sein  sollen. 

T).is  Sfliiiicr/enskind  des  Kntwurfes  sind  <lie  Iksimnnungen 
über  tlic  1  l.iu-.irbeit.  Durch  diese  wurde  die  bciilulsabstimniung 
auch  so  lange  liinansgeschobcn. 

Zwar  w  ird  allseitig  anerkannt,  dafs  hier  grobe  Mifsstände  be- 
stehen. Aller  die  Hausarbeit  ist  bis  jetzt  das  Freij^cbict,  wo  die 
schützende  Hand  des  (iesetzes  nicht  hinreicht.  Daher  werden  gegen 
den  Schutz  der  Hausarbeiter  alle  Einwendungen  geltend  gemacht, 
die  sonst  gegen  den  Arbetterschutz  überhaupt  ins  Feld  geführt 
wurden.  Von  allen  gutgemeinten  Anläufen,  die  im  Februar  1896 
in  dem  Antrag  Heyl  zu  Hernsheim,  in  der  Novelle  vom  18.  Mai 
1897  und  in  dem  jetzigen  Regierungsentwurf  gemacht  wurden,  bt 
nur  Lohnbuch  resp.  Lohnzettel  übrig  geblieben.  Das  Lohnbuch 
soll  den  Arbeitsvertrag  klarstellen  und  dem  Arbeiter  AufechluCi  da- 
rüber geben,  welche  Arbeit  er  zu  liefern  und  welchen  Lohn  er  zu 
beanspruchen  hat.  Der  Reichstag  hat  hinzugefugt,  daCs  für  den 
Fall,  wenn  Kost  und  Wohnung  gewährt  wird,  auch  die  hierüber 
geltenden  Bedingungen  im  Lohnbuch  aufgeführt,  ferner  dafs  die  Be- 
stimmungen der  Gewerbeordnung  über  Lohnzahlungen  in  dem  Lohn- 
buch abgedruckt  werden  nuissen. 

Das  Lohnbuch  wurde  auch  gleichzeitig  für  in  Fabriken  be- 
schäftigte minderjährige  Arbeiter  vorgeschrieben,  falls  in  den 
1  abriken  dasselbe  Gewerbe  betrieben  wird,  für  welche  das  Lohn- 
buch für  Hausarbeiter  \  <  >rgeschrieben  ist.  Ferner  wurde  in  S  134  b 
ein  Zusatz  eingefügt,  nach  welchem  es  \'erl)oten  ist  in  Fabriken 
den  Arbeitslohn  an  einem  .'Sonntag  auszuzahlen. 

Der  \  ()n  der  Regierung  vorgeschlagene  und  \  on  der  Kommission 
angenommene  i?  137  a  und  iler  Zusatz  zu  154  b  wurden  in  flritter 
Lesung   von»   Kcich.stagc  abyelehnl.     Mit  diesen  Bestinunuugen. 


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Hermann  Molkcnbultr,  Die  Nuvclle  /.ur  iicwcrbcordnung. 


659 


wollte  die  Regierung  nur  die  Durchfuhrung  der  §§  135  bis  137 
ermöglichen.  Hs  ist  eine  völlig  falsche  AufEissung,  wenn  man  an- 
nimmt, da(s  hierdurch  der  Versuch  gemacht  werden  sollte,  die  Ver- 
haltnisse in  der  Hausarbeit  zu  regeln.  Auch  wenn  diese  Bestimmungen 
Gesetz  geworden  wären,  hätten  die  Frauen  als  Hausarbeiterinnen 
täglich  24  Stunden  beschäftigt  werden  dürfen,  ebenso  hätte  es  keine 
Schranke  für  Kinderausbeutung  gegeben.  Nur  für  den  Fall,  dafs 
der  weibliche  oder  jugendliche  Arbeiter  in  der  Fabrik  oder  Werk- 
statte  bereits  zehn  resp.  elf  Stunden  beschäftigt  war,  sollte  es  ver- 
boten werden,  die  in  der  Fabrik  al^brochene  Arbeit  zu  Hause  für 
dasselbe  Geschäft,  fortzusetzen.  Praktische  Bedeutung  würde  die 
Bestimmung  für  Wäschefabriken  gehabt  haben,  in  denen  es  vielfach 
üblich  ist,  dafs  I<rauen  die  elf  Stunden  in  der  Fabrik  mit  Maschinen- 
nähen beschäftigt  waren,  die  zugeschnittenen  Sachen  mit  nach 
Hause  nehmen  und  dort  die  \"orbcreitungen  für  das  Maschinennäben 
wie  Kleben  u.  s.  w.  für  die  Arbeiten  des  nächsten  Tages  besorgen. 

Gegen  den  Paragraphen  des  Kntwurfs  sowie  der  Kommissions- 
beschlüsse war  eine  umfangreiche,  von  Berliner  Konfektionsfirmen 
veranlalste,  Petition  eingelaufen,  in  welcher  <!ic  Hausarbeit  als 
idyllischer  Zustand  geschildert  und  als  besonders  gute  f^igcn- 
schaft  für  die  Arbeiter  der  l'mstand  gepriesen  wurde,  tiafs  die 
Frauen  länger  als  elf  Stunden  arbeiten  dürfen.  ( lanz  offen  wurde 
anerkannt,  dals  die  Löhne  nicht  au>rcic  iifii .  um  bei  elfstündiger 
Arbeit  eine  Grundlage  für  die  Existenz  /.u  bieten.  Kine  längere 
als  elfstündigc  tägliche  Arbeit  soll  deshalb  nötig  sein,  weil  das 
Konfektionsgeschäft  ein  Saisongeschäft  ist  und  die  Arbeiter  zwei 
mal  im  Jahre  eine  arbeitslose  Zeit  haben.  Die  Frage,  ob  es  nicht 
möglich  sei,  die  Arbeit  mehr  über  das  ganze  Jahr  zu  verteilen,  wurde 
garnicht  berührt.  Und  doch  wird  kein  Kenner  des  Geschäfts  be- 
streiten, dafs  ein  gewisser  Ausgleich  möglich  ist.  In  jedem  Ge- 
schäft werden  Stapelartikel  angefertigt,  die  ganz  gut  das  Lagern  ver- 
tragen können.  Die  Anfertigung  dieser  Stapelartikel  könnte  sehr 
wohl  in  die  flaue  2^it  verlegt  werden.  Aber  so  lange  der  Kon- 
fektionär in  der  Saison  hinreichend  Arbeitskräfte  findet,  die  bei 
sehr  intensiver  Arbeit,  die  verlangten  Stücke  fertig  stellen,'  so  lange 
werden  die  Sachen  erst  dann  in  Arbeit  gegeben  werden,  wenn  der 
Kunde  auf  Ablieferung  dringt.  Wenn  es  nur  gelänge  die  Perioden 
der  Arbeitslosigkeit  abzukürzen,  wäre  den  Arbeitern  schon  viel  ge- 
holfen. Das  Bewufstsein,  zweimal  im  Jahre  längere  Zeit  arbeitslos 
zu  sein,  zwingt  die  Arbeiterinnen  zu  übermenschlicher  Anstrengung 

43* 


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66o 


(j<  si  i/^cbung :  DfUUchi's  Keu  h. 


und  zur  Zerstörui^g  ihrer  Gesundheit  Die  Annahme  des  §  137  a 
würde  thatsächüch  wenig  geändert  haben.  Aber  einen  indirekten 
Nutzen  von  nicht  zu  unterschätzender  Tragweite  hätte  er  gehabt. 
Durch  seine  Annahme  wäre  der  Teil  der  Hausarbeit,  för  welche 
diese  Bestimmung  gelten  sollte,  der  Gewerbeaufeicht  unteistellt 
worden,  jedes  Jahr  hätten  die  Gewerbeaufeichtsbeamten  in  ihren 
Berichten  Ihre  Wahrnehmungen  mitteilen  müssen  und  da  lälst  sich 
annehmen,  dafs  dauin  solches  Material  an  das  Tageslicht  gefördert 
worden  wäre,  dafs  man  schliefslich  die  Gcsetzj,'ebun<T  gezwungen 
hätte,  weitere  Schritte  zur  Beseitigung  der  Mifsstände  zu  thun. 
Die  wenigen  Augcnblicksbilder,  die  bei  dem  Strike  der  Konfektions- 
arbeiter im  Februar  1896  ans  Licht  gebracht  wurden,  wirkten  schon 
so  aufregend,  dafs  ni.m  mit  einiger  Sicherheit  sagen  kann,  eine 
stets  erneuerte,  sj-steniatische,  amthche  Darstellung  der  \'crhältnis?;e 
würde  bald  vollständigen  Wandel  schaften.  Auf  die  Dauer  hätten 
die  verbohrtesten  ManclRstcrleutc  dem  Drängen  nicht  widerstehen 
können.  Die  Scheu  vor  dem  Betreten  eines  neuen  Gebietes  war  so 
iiiachiig,  dals  man  da  zurückwich,  wo  man  glaubte,  die  Grenz- 
gebiete der  ]laiHarl)eit  berühren  zu  nuisscn. 

Ein  I 'ni-^'-liwung  in  den  Ansichten  tritt  bei  Beurteilung  der 
weihHchen  Arbeiter  zu  Tage.  Wälirend  1890  die  Ansicht,  dais 
weibliche  Arbeiter  auch  I-'ortbildungsschvilen  besuchen  miifsten,  auf 
heftigen  Widerspruch  stiefs,  hat  man  jetzt  durch  eine  Kinschaltung 
in  120  herbeigeführt,  dafs  weibliche  Hantlluiigsgehilfen  und  Lelir- 
linge  durch  statutarische  Bestimmung  zum  Besuch  der  Fortbildungs- 
schule gezwungen  werden  können.  1890  kämpfte  der  verstorbene 
Kleist  •  Retzow  mit  wahrem  Heroismus  für  seine  Ansicht,  nach 
welcher  Mädchen  höchstens  im  Strümpfestricken,  Nähen  und  Kochen 
unterrichtet  werden  dürfen,  und  er  fand  in  diesem  Kampfe  das 
Zentrum  in  seiner  Gefolgschaft  Aber  mit  Kleist -Retzow  scheint 
auch  diese  Ansicht  begraben  zu  sein. 

Die  neuen  hinter  dem  §  133  a  der  Gewerbeordnung  einge- 
schalteten drei  Paragraphen  sind  ihrem  Wortlaute  nach  dem  Handels- 
gesetzbuch entnonmien  und  sollen  itii*  Betriebsbeamte,  Werkmeister 
und  Techniker  dieselben  Kündigungsfristen  schaffen,  die  fiir  Handels* 
angestellte  gelten. 

Die  Zusätze  zu  §  136  und  §  138  a  schaffen  keine  Neuerungen, 
sondern  sollen  nur  Mifsverständnisse,  die  aus  der  buchstäblichen 
Anwendung  des  §  136  hervorgegangen  sind,  beseitigen.  Die  .Aende« 
ning  in  §  138  a  soll  nur  bezwecken,  dalis  eine  erteilte  Erlaubnis  für 


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Hermann  Molkcnbuhr,  Die  Novelle  zur  (»cwcrbconlnunj;.  56l 

Ueberarbeit  weiblicher  Arbeiter  auch  zur  Kenntnis  der  Arbeiterinnen 
gebracht  werden  mufs.  Von  wesentlicher  Bedeutung  sind  die  Zu* 
.Satzparagraphen  zu  §  159.  Hier  tritt  zum  ersten  Male  eine  Be- 
schränkung der  Arbeitszeit  (iir  erwachsene  mannliche  Arbeiter  durch 
die  deutsche  Gesetzgebung^  ein.  Zum  ersten  Male  hat  man  hier 
den  sonst  l)cobaclitcten  Grundsatz  männliche  und  weibliche  Arbeiter 
vcrschicilcn  zu  behandeln,  verlassen.  Nur  für  juj^cndliche  Arbeiter 
unter  18  Jahren  und  auch  hier  gleichartig  für  männliche  wie  für 
weibliche,  bat  man  die  Bestimmung  <;etrofTen,  dafs  man  ihnen  Zeit 
zum  Besucii  der  Fortbildungsschule  gewähren  mufs.  Zwei  Unter- 
schiede sind  gemaciit  worden,  aber  nicht  nach  Art  iles  (icschäfts,  des 
(leschlechts  oder  Ahers  der  Arheitor,  -sondern  nacli  (irftise  iles  Ortes 
und  des  Geschäftsbetriebes.  Hiertür  war  die  Ansicht  malsgcbend, 
dafs  in  der  Regel  die  Arbeit  in  greisen  ( hu  n  und  grot'scn  (  le- 
schäften  weit  inteti-siv  cr  ist  als  in  kleinen  Orten  oder  kicirR-n  Ge- 
^cliäften,  und  daher  das  Bedürtni>  nach  längerer  Ruhe  für  die  .Arbeiter 
111  den  letztgenannten  nicht  m»  dringend  ist,  wie  für  Arbeiter  die 
in  lirol>städlen  uikI  lmoIscicu  Grschaltm  beschäftigt  sind.  Für  die 
kleinen  (ie.schäftc  kam  die  Krwä'.'un^  hinzu,  dafs  es  hiei  nicht  so 
leicht  miiglieh  sein  wird.  .Ablösung  zu  beschatten,  i.uie  Al>lö^>ung 
mufs  stattfinden,  da  die  l.aden/.eit  länger  ist  als  die  zulässige  Ar- 
beitszeit. Die  Abkürzung  der  Arbeitszeit  wird  trotz  der  X'erschieden- 
heit  ziemlich  gleichmäfsig  wirken,  da  gegenwärtig  die  längste  Ar- 
beitszeit am  häutigsten  in  Kleinstädten  und  in  kleinen  Geschäften 
vorkommt  Nach  den  von  der  Kommission  für  Arbeiterstatistik  im 
Herbst  1892  angestellten  Erhebungen,  stellte  sich  die  Ladenzeit  wie 
folgt: 

Von  je  100  Betrieben  sind  solche,  in  denen  die 
Ladenzeit  dauert 

12  St.    13    13  13—14   14  -'5   i.^^itj   Tiit  lir 
utul    ätuuUcn  Stunden  Stunden  Stunden  .ils 
In  < 'rten  mit  \vtni;;iT  l6St. 


lOotKJO  und   iiH  iir  I-inw. 

26.7 

27,7 

lb,l 

«2,3 

",4 

Orten  mit  20000  Iiis  10000  1  inw. 

13,1 

.27.6 

19,2 

iS,5 

17.J 

4,2 

„     5000  „  aoooo  £iaw. 

4.0 

14,6 

20,1 

»4.8 

30,1 

6,4 

„     „     3  000  „    5000  Finw. 

4.6 

7,9 

I4,a 

20,9 

39.1 

i4,a 

„      „  weniger  als  2000  Einw. 

3t4 

6,5 

11,8 

a»,5 

41,9 

H.9 

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662 


(jßsct/^'cbung :  Deutsches  Reich. 


Nach  GröHsenklassen  der  Geschäfte  geordnet,  ergiebt  sich  folgen- 
des Bild: 

Von  je  100  Betrieben  sind  solche,  in  denen  die 
Ladenzeit  dauert 


12  -^v 

12  13 

13  14 

14  15 

15  — 16 

mehr 

n;;ii 

Munden 

Stunden 

htundcn 

Stunden 

als 

16  St. 

hei  1  Hilfsperson.    .    .  . 

12,5 

'7.1 

1C.9 

20,9 

34.6 

8.0 

„   2  oder  3  Hilfspersonen 

M.a 

30.8 

17.I 

17.4 

23.1 

7.4 

„   4  bis  9  Hilfspersonen 

18,9 

30,1 

19.3 

«5.5 

13.0 

3.2 

IG  bis  19  Hilfspersonen 

24.7 

42,8 

31,1 

8,8 

2.6 

„  30  u.  mehr  Hilfspersonen 

30.4 

423 

»7.9 

8.9 

Diese  Ladenzeitet)  sind  iin  Soinincr  üblich.  Im  VViiiler  sind 
sie  in  der  Rej^^el  elw.i.s  kui/ci.  W  ."Ihi  eiul  nach  obi<^er  Tabelle  03.2 
Proz.  des  Peisonals  in  den  t^rfilM  icn  (icschäfteii  schon  eine  elf- 
stünd!<^fe  Kulu/rit  li.ii,  hat  von  ilein  Personal  in  dcschäiten  niit 
eint  i  l  >is  di  t  i  I  lilfspcrsc »nen  nur  49,3  Proz.  eine  zeiuislüntli^c  Ruhe- 
zeit. .Wso  trotz  der  .Schonuns.^  füi'  die  kleinen  deschäfte,  werden 
diese  docli  starker  getrotVen  als  die  grolsen.  Während  man  nach 
der  geltenden  Gewerbeordnung  nur  lur  in  Fabriken  beschäftigte, 
weibliche  und  jugendliche  Arbeiter  eine  Mittagspause  von  einer 
Stunde  vorgeschrieben  hat,  ist  (tir  samtliche  in  Ladengeschäften 
beschäftigte  Personen,  die  nicht  im  Hause  wo  sich  das  Geschäft 
befindet,  essen,  eine  Pause  von  i  Vt  Stunden  voigeschrieben.  Auch 
diese  Vorschrift  ist  ein  Erfolg  der  Erhebui^en  der  Kommission  für 
Arbeiterstatistik.  Nach  Aussage  vieler  Kassenärzte  gehören  Magen- 
leiden zu  den  häufig  unter  Kaufleuten  vorkommenden  Krankheiten. 
Die  Aerzte  behaupten,  dals  die  Ursache  dieser  Krankheiten  häufig 
in  dem  Mangel  einer  ausreichenden  Mittagspause  zu  suchen  ist. 

Ferner  hat  man  die  für  Fabriken  mit  mehr  als  zwanzig  Arbeitern 
geltenden  Bestininuuii^en  über  .Arbeitsordnungen  nach  cnt.si)rechenden 
Abänderungen  für  I  adengeschüfte  mit  mehr  als  20  Hilfspersonen 
g  v(M-L:;csclirieben,  und  den  für  Handwerker  geltenden  §  128  über  das 
l^hrlingshalten  auf  das  Handelsgewerbe  ausgei!«  !v.t 

Von  allen  .Arbeiten  der  Kommission  für  Ai  bt  iterstatistik  hat 
die.  über  die  Regelung  der  X'erhältnisse  der  .Xiigestclltcn  in  oflfenen 
I .adengfsrhällen.  d*  11  i^roi^ten  Krfnlg  gehabt.  l  nd  doch  wurde 
gerade  diise  .\rl)eit  .un  heftigsten  angegritteti.  Kaum  waren  die 
Ueschlüssc'  in  der  Kommission  gefafst,  da  er<>tTnete  Herr  H.  W  .  X'ogis 
in  iicrlii)  eine  Agitation  gegen  den  einheitlichen  i^adenschluU  und 


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Hermann  M  u  1  k  c  n  b  u  U  r ,  Die  Novelle  zur  (jcwcrUcordnung. 


er  hatte  den  Erfolg,  die  Mehrheit  der  Abgeordneten  in  einer  grofsen 
Anzahl  von  Bundesstaaten  zu  seiner  Gefolgschaft  zu  zählen.  Im 
preußischen  Landtage  hatten  die  Abgeordneten  Brütt  und  Freiherr 
von  Zedlitz  einen  Antrag  eingebracht,  der  sich  in  der  denkbar 
schroffsten  Form  g^en  die  Beschlüsse  der  Kommission  ausspradi. 
Selten  hat  ein  Antrag  so  allgemeine  Zustimmung  gefunden  wie  der 
Antra Ikütt  vom  7.  Mai  1806.  In  der  Debatte  wetteiferte  man 
in  Kraftausdrücken  gegen  das  Schablonisiercn.  Da  aufser  dem  An- 
tragsteller die  Abgeordneten  v.  F.}  ncrn .  Gothein,  Hueck,  Richter, 
Möller,  Cahensly,  Sciiall  und  \.  Kanl^tT  sich  für  den  Antrag  aus- 
sprachen, fiele  n  die  Retlen  der  Herren  Stötzel,  Stöcker  und  des 
Freiherrn  v.  Berlepsch  kaum  ins  Gewicht.  Aehnlichc  Scenen 
spielten  sich  in  den  Landtat^en  anderer  Staaten  ab.  Die  von  der 
Kommission  für  Arbeilcrstatistik  vorgeschIaL,'eiie  einheitliche  Rc^e- 
luui,'  schien  so  angreifbar,  dafs  kaum  noch  I  loffnunj:;  vorhanden  war, 
in  dieser  Richtun«^  cinr  KcL^chmL;  hci Ijcizuführen.  Jetzt  hat  der 
Reichsta;4  l.^^'^'k^i'ti  den  W  illcn  der  Re^icruiT^'  den  einheitlichen  Laden- 
schluis verfÜL^t.  l-'ieilich  ist  statt  des  X'orschlaycs  der  Kommission 
für  Arbeitcrstaiisiik.  welche  Achtuhrschluls  verlangte,  neun  l  hr  als 
Schlufsstun'le  gesetzt.  Aber  alle  Hinwendungen  des  Herrn  \'ogts  und 
seiner  (iesinnuiigsgetios>;en  treftcn  für  jeden  einheitlichen  baden- 
schlufs  zu.  Nun  hat  der  Reichstag  auch  noch  den  Achtuhrschluls  zu- 
gelassen, derselbe  soll  eintreten,  werui  mindestens  zwei  Drittel  der 
beteiligten  Geschäftsinhaber  es  bcschliefsen.  Hier  ist  auch  eine  Ein- 
teilung nach  Branchen  möglich  und  es  ist  anzunehmen,  dafs  min- 
destens för  eine  Reihe  von  Orten  und  Brancl^n  von  dem  § 
Gebrauch  gemacht  wird,  sobald  man  sich  überzeugt  hat,  dafs  ein 
ÜrUherer  Schlufs  wohl  Ersparnisse  in  den  S^jescn,  aber  keinen  oder 
doch  nur  ganz  minimalen  Ausfall  in  den  Einnahmen  bringt.  In 
einer  Richtung  ist  der  Reichstag  noch  über  die  Vorschläge  der 
Kommission  lur  Arbeiterstatistik  hinaus  gegangen.  Nach  diesen 
sollte  Ladenzeit  und  Arbeitszeit  des  Personals  gleich  sein  und 
nur  eine  Mittagspause  innerhalb  der  Arbeitszeit  gewährt  werden. 
Damach  war  aber  die  Ruhezeit  auf  neun  Stunden  bemessen, 
an  deren  Stelle  hat  der  Reichsts^  zehn  resp.  elf  Stunden 
gesetzt. 

Dieser  Vorgang  ist  psychologisch  von  grofsem  Interesse  und 
beweist,  daOs  veraltete  Anschauungen,  auch  dort  wo  sie  rein  äufser* 
lieh  noch  ganz  zeitgcmäfs  erscheinen,  sich  nicht  mehr  halten  können. 
'  Bis  in  die  neueste  Zeit  hatte  man  den  Begriff  „Arbeiterschutz" 


664 


Gesetzgebttn^:  Deutsches  Reich. 


immer  nur  mit  dem  Bc<:^riflf  „Fabrikarbeiter"  verbunden.    Die  Vor-  . 

schläj^^e  der  Kommission  für  Arbeiterstatistik  wirkten  nun  als  vcr- 
bliiftende  Neuheit,  weil  sie  den  Arbeiterschutz  auf  Angestellte  in 
Ladengeschäften  niiwf'nden  wollten,  da  brachen  mit  elementarer 
Gewalt  alle  matu  hcsterlichcn  Ansichten  wieder  her\'or.  Der  Sturm 
war  heftig,  aber  die  Rcichstagsdcbatten  über  diese  Bestimmungen 
haben  bewiesen,  dafs  er  völlig  ausgetobt  hat.  Hatte  man  1896  den 
Versuch  gemaciit,  die  X'orschlägc  gesctz^^cbcrisch  zu  verwerten, 
waren  sie  aucli  im  Rcicli<t;!'^e  si  hroll  abi^ewic^rti  worden,  wäh- 
rend sie  jct/t  eine  crdruckcntic  Mehrheit  fanden.  Selbst  die  Ab- 
ge( >r( hü  ten,  die  im  Landtage  ihre  Kraftausdrücke  gegen  die  Kom- 
mission für  Arbciterstati.stik  schleuderten,  stimmten  zum  Teil  für 
\'orschläge,  die  sie  \'or  vier  Jahren  als  den  ( ii)>felj)unkt  bureau- 
kiati^chen  Schabionisierens  und  starren  Doktrinarismus  bezeichnet 
hatten. 

Die  Krgän7unj^  der  Straf  be>linunungen  waren  nötig  wegen  der 
Krweiterung  des  ( iesetzes.  Man  hat  nur  für  neugeschafifene  Verbote 
entsprechende  Straf  bestimmungcn  ^chafTen ,  aber  überall  die 
Strafen  gewählt,  die  für  ähnliche  Vergehen  schon  vorgesehen  waren. 
Diese  Acnderungen  treten  am  i.  Oktober  1900  in  Kraft.  Sie 
werden  schon  Gesetzeskraft  haben  bevor  die  Novelle  vom  i.  Juni 
1891  ganz  durchgeführt  ist  Die  kaiserliche  Verordnung,  durch 
welche  die  §§  155  bis  139  b  auf  solche  Werkstätten  in  denen  durch 
elementare  Kraft  getriebene  Triebwerke  verwendet  werden,  An* 
Wendung  finden  sollen,  ist  am  9.  Juli  fertig,  gestellt  worden  und 
treten  die  Bestimmungen  mit  den  entsprechenden  Ausnahmen  und 
Abänderungen  am  I.  Januar  1901  in  Kraft. 

Endlich  sind  drei  Resolutionen  beschlossen  werden.  Die  erste 
charakterisiert  die  Stimmung  des  Reichstages  ganz  verblüffend. 
Nachdem  der  Versuch  der  Regierung,  die  §§  135  bis  139  b  da  durch- 
zuführen, wo  Fabrik-  und  Mausarbeit  zusammentrifft,  vom  Reichs- 
tage abgewiesen  ist,  beschliefst  derselbe  Reichstag  in  derselben 
Sitzung,  die  verbündeten  Regierungen  zu  ersuchen,  die  ijs^  135  bis 
139b  durch  \'erordnungen  oder  Gesetz  auf  die  Hausarbeit  anzu- 
W'  rtdrn.  Em  (ircset/  wäre  hier  schon  notig,  weil  §  154  Abs.  4 
direkt  verbietet,  die  Schutzbestimmungen  durch  Veronlnungen  auf 
die  Kleinunternehmer  und  Hausarbeiter  auszudehnen.  Durcli  die 
.Annahme  der  er>len  RcNolution  werden  die  HcdlnuiiL^en  wieder  neu 
belebt,  die  durch  .Ablehnung  des  ij  137a  zcrstr>rl  wurden. 

In  der  zweiten  Resolution  wird  der  Kommission  für  Arbeiter- 


Hermann  Molkenbuhr,  Die  Novell«  zur  (kwcrbeordnung. 


Statistik  Arbeit  zugewiesen.  Sie  soll  die  Erhebungen  über  die  Lage 
der  Handlung^ehilfen  eigänzen,  indem  nun  die  Teile  erforscht 
werden  sollen,  die  1892  ausgeschlossen  wurden.  Schon  1892,  als 
die  Erhebungen  über  die  in.  offenen  Verkaufsstellen  beschäftigten 

Personen  gemacht  wunlcii,  wurde  \ielfach  erwähnt,  dafs  die  Lage 
der  in  anderen  kaufmännischen  B  tti  Inn  peziell  in  Speditions- 
geschäften ani^cstelhen  Personen  mindestens  ebenso  reformbedürftig 
sei  wie  die  des  Personals  in  Ladengeschäften.  Damals  wurde  von  der 
Ausdehnung  der  Erhcbun-^en  auf  diese  Retriciie  Abstand  genommen, 
weil  man  sich  sagte,  dafs  diese  Betrielic  vielfach  in  engerer  Verbindung 
mit  dem  X'erkehrs-^'ewcrbe  als  mit  dem  Kleinhandel  ständen.  Die 
Re^eluiii;  der  X'erli.iltnisse  der  im  X'erkelirsi^ewerbe  beschäfiif:^ten  Per- 
sonen durcti  ein  SonderLjeset/  wurde  aber  sch"ii  am  18.  l  eljriiar  iS<)I 
durch  den  i)reulsi>clien  Handelsminister  hreiherrn  v.  Perle|)sch  in 
Aussicht  gestellt.  .Aber  hier  ist  bis  jetzt  garnichts  geschehen  und 
wird  es  auch  sclnver  fallen,  hier  durch  die  ( iewerbcortlnung  etwas 
zu  erreichen,  l  ur  die  beirlen  wichtigsten  Zweige  des  X'crkehr.s- 
gewerbes,  Kisenljahneii  und  SeescliitT.ihrt,  gilt  die  ( lewerbeordnung 
nicht.  F.twaige  \'er>uehe  hie!  \  or/ugelicn,  werden  sofort  Kotupt  tenz- 
einrcden  hervorrufen.  .-\ls  der  .Abgeordnete  Dr.  Hitze  in  der  letzten 
Sitzung  der  Kommission  für  .\rbcitcrstatistik  einen  Antrag  einbrachte, 
nach  welchem  Untersuchungen  über  die  Lage  der  im  Verkehrsge- 
werbe beschäftigten  Personen  vorgenommen  werden  sollten,  erwähnte 
er  bei  dessen  Begründung,  dafs  diese  Materie  ja  besonders  aktuell 
sei,  wie  die  Strikes  der  Stralsenbahnarbeiter  beweisen.  Da  wurde 
sofort  von  mehreren  Regierungsvertretem  gesagt,  dais  hier  die 
Kommission  nicht  zuständig  sei. 

Die  Kommission  dürfe  ach,  so  wurde  behauptet,  nur  mit 
solchen  Fragen  beschäftigen,  die  auf  die  Gewerbeordnung  Bezug 
haben.  Durch  §  6  der  Gewerbeordnung  sei  deren  Giltigkeit  für 
Eisenbahnen,  und  hierzu  gehören  auch  die  Strafsenbahnen,  direkt 
ausgeschlossen.  Dr.  Hitze  nahm  darauf  eine  Einschränkung  in 
seinem  Antrage  auf^  indem  er  hinter  dem  Worte  „Verkehrsgewerbe" 
die  Worte:  „soweit  die  Gewerbeordnung  für  dasselbe  Giltigkeit 
hat",  einschaltete,  l'reilich  kann  die  Sache  durch  ein  Reichsgesetz 
geregelt  werden,  da  nach  .\rt.  4  Ziffer  8  der  Reichsxerfassung  die 
Reichsgesetzgebung  auch  für  das  Eisenbahnwesen  zuständig  ist. 

Endlich  will  die  dritte  Resolution  einem  dringenden  Bedürfnis 
abhelfen,  da  hier  eine  grofse  Klasse  von  Personen  genannt  i>t.  für 
deren  Arbeitsverhältnis  keinerlei  Reichsgesetze  gelten.  Höchstens 


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606 


(««setzgchung :  Deutsches  Reich. 


kommen  hier  die  allgemeinen  Bestimmungen  des  Bürgerlichen  Ge* 
setzbuchs,  über  den  Dienstvertrag  in  Frage.  Aehnliche  Bestimmungen 
wie  für  Handlungsgehilfen  im  Handelsgesetzbuch  könnten  auch  liir 

die  Gehilfen  der  Rechtsanwälte,  Notare  und  Gerichtsvollzieher  ge- 
schaffen werden.  \n  den  bestehenden  Organisationen  der  Bureau- 
gehilfen sind  vielfach  Wrsuche  gemacht  worden,  durch  statistische 
Aufnahmen  die  Las^c  der  Bureauangestellten  zu  schildern.  Jede 
dieser  Aufnahmen  hat  bewieseti.  d.ifs  hier  himmelschreiende  Zu- 
stände vorhanden  sind.  Wenn  da  die  Gesetzgebung  bessern  will, 
findet  sie  ein  weites  Feld  für  segensreiche  Thätigkeit. 

Wir  la.ssen  < nunmehr  den  Wortlaut  der  Novelle  folgen: 

Qeiett,  betreffend  die  Ablodenmg  der  Oewerbeordnunir. 

Vom  30.  Juni  1900. 

Wir  Wilbetm,  von  GoUes  Gnaden  Deutscher  Kaiser,  König  von  Preufscnetc. 
verordnen  im  Namen  des  Reichs  nach  erfolgter  Zustimmung  des  Bundesrats  und  des 
Reichstags,  was  folgt: 

Artikel  i. 

I.  Hinter  §  19  der  Gewerbeordnung  wird  ein^cscli.'iltct: 

§  19:1.  In  tli  ni  Kcschcidc  kann  dem  L'ntiTnehmer  aiM"  svinv  Gefahr, 
unln-Ncli.uli  t  <lr>  Kt  Utir>v<Tf'alirfns  r§  2o\  di>'  uri\  <'r/ii;jlii  lic  .\ii-.t'üliruni; 
der  li.iulii  lu  n  .\nl.iu,''  :i  ;^'  «.t.ittrt  wrrdi'ti,  wriui  er  ilirs  vnr  So!ihil>  Arr  I  r- 
I »rit  t  11:1;:  ht  aiitr.ij;:.  I  )ir  (n  >l.nuiiij;  kann  v«n  einer  .Siclu  rlicitskislung  .ib- 
hatij;ij>  ;:eniacht  werden. 

II,  Hinter  g  a:  der  Gewerbeordnung  wird  eingeschaltet: 

9  aia.  Die  Sachverständigen  (§  31  Ziffer  1)  haben  Uber  die  That- 
sachen,  welche  durch  das  Verfahren  m  ihrer  Kenntnis  kommen,  Ver- 
schwiegenheit zu  beol.a.  litt  u  Und  sich  der  Nachahmung  der  von  dem 
L'iitt  rnelimfr  ^-i  lu  im  ;^i  li.ilti  neu ,  7\\  ihrer  Kfiiiitnis  ^elan^tmi  Helricl»- 
«  iiiri«  litimm  n  uik!  bctricb.suciacu,  solange  als  diese  Bctricbagchcimnisitc 
<>ind,  lu  enUiallen. 

Artikri  2. 

I.  i>cr  ^  23  2  il'T  ( i'  Wi  r! ii-i )r<ltiun^  '-rhiill  lol^i  ndc  l-a»uni;; 

I)er  i^aiidi  >^<M  t/.j^i  l>uiij;  liii  ibl  vurlu  lialic n ,  dii-  leineie  Bcuutzuni; 
bestehender  und  die  Anlage  neuer  Ptivatschlächtereicn  in  solchen  Orten, 
für  welche  «iflTrntlirhe  Schlachthäuser  in  genügendem  Umfange  vorhanden 
sind  oder  "errichtet  werden,  zu  untersagen. 

II.  Der  g  ^3  Abs.  3  diT  Gcwerheordnung  erhält  folgende  Faiwung: 

Soweit  durch  landcsr^^liiliclc-  N'tirschriften  Bestimmunjjcn  t;>tt(.ri''ii 
werden,  wonach  gewisse  Anlagen  oder  gewisse  Arten  von  Anlagen  in 


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Gesetz,  bctrclicnü  üic  Al>utuU-rung  der  liewcrbcorduung  vom  30.  Juni  1900.  667 

einzelnen  Ortsteiicn  gar  nicht  oder  nur  unter  besonderen  BesehrSnkungen 
zugelwsHen  sind,  finden  diese  Bestimmungen  auch  auf  Anlagen  der  im 
§  ih  erwähnten  Art  Anwendung. 

Artikel  3. 

!•  Im  §  34  Abs.  I  der  Gewerbeordnung  werden  nach  den  Worten  „Geschäft 
eines  Pfandleihers"  im  ersten  Satze  die  Worte:  „Pfandvermittlers,  Gesindevermieters 
oder  Stetlenvermitticrs"  und  nach  den  Worten  „die  ErlaubnisV  im  dritten  Satze  die 

Worte:  ,./um  Betriebe  des  Pfandleili};i'\vrr!><>>"  cin};r-;cl(alt«t. 

II.  Im  ersten  S:^t/r  (lr>  ^  35  Alis.  3  der  Gcworhcordiiun;;  werden  nuch  den 
Worten  ..srliriltlirlicii  AuN:it/e"  dir  \\''>rte:  ..von  der  i^ewi-rlisniiilsii^en  .\uskuntl- 
erleiiiin;;  iihcr  X'ermr ■■^i  ti^verludliii^si  imIit  | ht»« «nliclie  .\ii;:'  lt>^'  tdieiten"  ein^e>rli.dlet 
untl  «lif  Worte .  „von  dem  Gesi  ltatte  eines  Gesimlcvemjielcrs  und  eines  Stelicn- 
vermittlers"  gestrichen. 

III.  An  Stelle  des  {f  38  Abs.  I  der  Gewerbeordnung  treten  folgende  Be> 
Stimmungen : 

Die  .Zentnilhehdrden  sind  befugt,  über  den  Umfang  der  Befugnisse 

unfl   VerptUclitiuv^en    ^nwl'-    iilicr   den   Clcschäftsbetrii  Ii   der  Pfandleiher, 
l'f.uid\  erniittler .    ( "n  ^iiKlcM  (inieter ,    Stelli  n\  ermittler    und  Auktionatoren, 
ii  iliiriilier  die  I.andes};e.<4eUe  nicht  Kc!>titnmuugen  treffen,  Vorschritu-a 
zu  erlaben. 

Die*  in  dieser  Beziehung  hinsirhtlich  der  I'tandieihcr  bestehenden 
lande  «voKotzlichen  Bestimmungen  finden  auf  den  im  §  34  Abs.  3  be- 
zeichr.o'.en  (jeschäfbtbetrieb  Anwendung.  Soweit  es  sich  um  diesen  Ge> 
schäl  ./*  ..r:  'o  handelt,  gilt  die  Zahlung  des  Kaufpreises  als  Hingabe  des 
Darlelu-.is,  «Itr  L';..  «eliied  /\vi>eiien  dem  K.uif|'rei>  und  dem  verahredi-ten 
Riickkaut  ;  ••  iv  .iN  Ii  Inn-' :ic  Verjjütun'^  für  I);irleht-n  und  die  Uebcr- 
gahe  di'i  .^.iclie        \  «  rpt.indun'j  der-celln  ri  lür  d.H  I>arlelien. 

Iliti>i  lulirli  der  ( le^itxlevermieter  untl  St'  llenverniitler  sind  die  Zeii- 
tralbehonlcn  mshesomlere  belunl,  die  Ausübung  des  (»ewcrbes  "im  Um- 
herziehen sowie  die  gleichzeitige  Ausübung  deti  Gast-  und  Scliankwirt- 
schaftsgewerhes  zu  beschränken  oder  zu  untersagen. 

IV.  Im  ersten  Satze  des  §  53  Abs.  3  der  Gewerbeordnung  werden  nach  den 
Worten  „begonnen  haben",  die  Worie:  „sowie  Pfandvermittlem,  Cicsindcvermicteni 
und  Stellenvrrmittlem,  weK  lie  vor  dem  I.  Oktober  1900  den  Gewerbebetrieb  be> 
gönnen  haben",  einfre^i  h.dtet. 

V.  Hinter  §  75  der  ( iewei  In  ..rihnin^  wird  ein;;e,eli.iltet ; 

§  75  a.  Die  ( iesindevermieler  und  Steilenvermitller  sind  verptliclitet, 
das  Verzeichnis  der  von  ihnen  für  ihre  gewerblichen  Leistungen  auf^^c- 
stellten  Taxen  der  Ort&polizeibehArde  einzureichen  und  in  ihren  Geschäfts- 
räumen  an  einer  in  die  Augen  fallenden  Stelle  anzusehlagen.  Diese  Taxen 
darfen  zwar  jederzeit  abgeändert  werden,  bleiben  aber  solange  in  Kraft, 
bis  die  Abänderung  der  Polizeibehörde  angezeigt  und  das  abgeänderte 
Verzeichnis  in  den  Geschätlsräumen  angeschlagen  ist. 


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668 


Gesetzgebung:  Deubtches  Reich. 


Dit"  (icsinilr .  (  rmii  tcr  un<l  Strlli  rn  <  rniittlt«r  sind  frrtKT  \rr|iHic}itct, 
(Inn  S?t  ll.-~.!,-li(  iid,  II  vor  AIim  IiIuIs  drs  VcrtuittclungiigeitcbäfUs  die  liir  iba 
zur  Aawxiuluri};  kt'nimcndc  l  axe  mitzuteilen. 

Artikel  4. 

Im  J?  3b  I  di  r  ( ii'wcrbcordnung  wird  nach  dem  Worte  „Auktionatoren" 

cingelügt :  „BiiclierrcviNuren". 

Artikel  5. 

Hinter  §  41a  wird  rinm-srlialtct : 

55  41  l».  Aul  Antrag  von  niiiulf>icns  zwei  Dritteln  der  beteiligten  (Ic- 
vrerbetrcibcnden  kann  Air  eine  Gemeinde  oder  mehrere  örtlich  zusammen- 
hängende Gemeinden  durch  die  höhere  VcrwnUaogsbchörde,  vorgeschrieben 
werden,  dafs  an  Sonn-  und  Festtagen  in  bestimmten  Gewerben,  deren 
vollständige  oder  teilweise  Ausübung  zur  Befriedigung  täglicher  oder  an 
diesen  Tagen  besonders  hervortretender  Bedürfni->M-  der  IVvoikerung  er- 
fortlerlich  ist,  ein  lUtriel»  nur  iriMiweit  stattfinden  darf,  als  Ausnahmen 
von  den  in\       lo^h  Abs.  I  ;;etrolt<ncn  HolininiUngen  /ugelas>en  sind. 

1  »er  Humlesrat  ist  V>etugt.  Kotimniungi  n  darüber  zu  irla^en,  web  he 
Gewerbetreibende  als  beteiligt  anzusehen  sind  unil  in  welchem  Verlahren 
die  erforderliche  Zahl  von  Gewerbetreibenden  festzustellen  ist. 

Artikel  6. 

Der  Ziffer  9  di>  §  56  Abs.  2  der  Gewerbeordnung  werden  die  Worte:  „sowie 
Bruchbänder"  hinzugefügt. 

Artikel  7. 

Dem  §  105  c  der  Gewerbeordnung  wird  als  Abs.  2  eingeiügt: 

Der  Bundesrat  trifft  (Iber  die  Voraussetzungen  und  Bedingungen  der 
Zulassung  von  Ausnahmen  nähere  Bestimmungen;  dieselben  sind  dem 
Reichstt^e  bei  seinem  nächsten  Zusammentritte  zur  Kenntnisnahme  mitzu- 
teilen. 

Artikel  S. 

I.  Hinter  §  114  der  Gewerbeordnung  wird  eingeschaltet: 

§  114a.     Für  b(  ~-tinin(!r  (Icivrr)"-   kann   der   Bundesrat  I.uhnbücher 

oder  Arl»  it>/'t  ttel  vors.  hr«  ilx  n.  In  diese  sind  von  dem  Arbeitgeber  oder 
dein  da/u  Hevollniaclitigten  t  in/iitru^i  n : 

1.  Art  und  L'mtang  der  übertragenen  Arbeit,  bei  Akkord.-irbeit  die 
Stückzahl; 

2.  die  Lohnsätze; 

3.  die  Bedingungen  (Ur  die  Lieferung  von  Werkzeugen  und  Stoffen 
zu  den  übertragenen  Arbeiten. 

Der  Bunch  srat  kann  bestimmen,  dafs  in  die  Lohnhürher  «der  .\rbeits- 
Zettel  am  Ii  du-  ltrdin^un;x<'n  für  «lie  (lewälirung  v<ui  Kii>t  und  Wohnung 
I  iii/'utri;;.  ri  Mild.  >ot<rii  K-.st  odcr  WohnuDg  aiü  Lohn  oder  Teil  des 
Lulines  gewahrt  werden  sollen. 


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Gesetz,  bctrcttcnü  die  Abänderung  der  Oewcrbcurdnung  vum  30.  Juni  1900.  669 


Auf  die  Eintragtingcn  finden  die  Vorschriften  des  §  Iii  Abs.  2  bis  4 
entsprechende  Anwendung. 

Das  Lohnbuch  oder  der  Arbeitszettel  ist  von  dem  Arbeitgeber  auf 
seine  Kosten  zu  hcscbaffen  und  dem  Arbeiter  nach  Vollzieluiii}^  der  vor- 
jjeschriebenen  F.intra;:un|»en  vor  oder  bei  der  Uebcrgabc  der  Arbeit 
kostenfrei  aus/iiluindifien. 

nie  I.<»lml)üclK'r  sind  nul  «im  ni  Ahdrueke  der  lUstinimun^en  der 
§^  115  bi:i  119  a  Abs.  1  und  des  ^  119  b  2u  verschen.  Im  übrigen  wird 
die  Einrichtung  der  Lohnbücher  durch  den  Reichskander  bestimmt. 

Auf  die  von  dem  Bundesrate  getroffenen  Anordnungen  findet  die  Be^ 
Stimmung  im  §  i2oe  Abs.  4  Anwendung, 
n.  Im  §  119 b  wird  statt  ,.§S  115  bis  119a"  geseUt:  „$|  tl4a  bu  119a". 

Artikel  9. 

Im  §  120  Abs.  3  der  Gewerbe,  .rdnuiiß  wird  hinter  den  Worten  ..acbtaehn 
Jahren"  ein^elii^:  „sowie  flir  weibliche  Handlungsgehilfen  und  -Lehrlinge  unter 
achtzehn  Jahren  ^  , 

Artikel  10. 

Hinter  sj  133.1  dt  r  ( ie\v<-rhei>r<inunjj  wiril  einfjescliiiltet: 

§  1333.  Wird  durch  Vertrag  eine  kür/.ere  oder  laogere  Kündigungs- 
frist bedungen,  so  mufs  sie  f&r  beide  Teile  gleich  sein;  sie  darf  nicht 
weniger  als  einen  Monat  betragen. 

Die  Kündigung  kann  nur  ftir  den  Schlufi»  eines  Kalendermonats  zu- 
gelassen werden. 

Die  Vorsehrilteii  des  \l)s.  I  finden  auch  in  dem  Falle  Anwendung, 
wenn  da:>  Dienstverhältnis  lur  Ix  stininili-  Zeit  mit  der  Vereinbarung  ein- 
gejjanjjen  wird.  d.Us  i  s  in  !"rnianj,'i'lun^  einer  vor  dem  Ablaute  der  Ver- 
Irajj^/.eit  erfoijjten  Kundigunjj  als  verlungert  gelten  s»ill. 

lüne  Vereinbarung,  die  diesen  Vorschriften  zuwiderluui),  ist  nichtig. 

§  133  ab.  Die  Vorschriften  des  §  iJSaa  finden  keine  Anwendtuig, 
wenn  der  Angestellte  ein  Gehalt  von  mindestens  filnftausend  Mark  fUr 
das  Jahr  bezieht. 

Sie  bleiben  ferner  aulser  Anwendung,  wenn  der  An^^estellte  lür  eine 
aul'sereuropiiisehc  Niederlussunfj  angenommen  ist  und  nach  dem  Vertrage 
df-r  \rb<  it^r  her  für  den  Fall,  er  das  I >ienstverhältnis  kündigt,  die 

Ki>~l<n  il'T  Ktirkrt'isc  des  Ari;^i-si(-llti-n  /ii  tra^rn  iiat. 

§  133 ac.  Wird  cm  Angestellter  nur  zur  vorübergehenden  AushiUe 
genommen,  so  finden  die  Vorschriften  des  §  133  >ia  keine  Anwendung,  es 
sei  denn,  dafs  das  Dienstverhältnis  ttber  die  Zeit  von  drei  Monaten  hinaus 
fortgesetzt  wird.  Die  Ktlndigungsfrist  muls  jedoch  auch  in  einem  solchen 
Falle  ftir  beide  Teile  gleich  sein. 

Artikel  11. 

■I.  Im  §  134  der  Gewerbeordnung  wird  als  Abs.  3  eingeschaltet: 

In  Fabriken,  ftir  welche  besondere  Bestimmungen  auf  Grund  des 


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djQ  (icseUgol'unt; :  Dratwhcs  Reich. 

§  It4a  AI«.  I  nicht  erliwsen  sind,  ist  auf  Kostt  n  des  .\rl><  it>;<  ln  r>  fiir 
jeden  minderjährigen  Arhi  itcr  ein  I.ohn/alilun^-lnul)  ein/iirirhtcn.  In  das 
Lol>n/.i!ilun;:^l.u<li  i^l  lici  jeiler  l..ilui/aiili:n-  drr  l'.elra^;  des  verdienten 
!.olHie>  cin/utra^:!  n  .  e>i  i^t  l>ei  tU  r  I  .••liiualilu  i'rni  Min<l«  r|.ihri<:'-ii  oder 
seinem  M  t/iieiien  X'erlreter  aus<cuiiandi}(en  und  vdu  tleiu  l.nijilanjier  \or 
der  niiclislon  Lohnzahlung  larttclotureicken.  Auf  das  Lohaxabiungsbuch 
linden  die  BestimmunfSea  des  $  lio  Satz  i  und  des  §  III  Abs.  2  bis  4 
Anwendung. 

Im  §  134  b  Abs.  I  Zifler  a  der  GewcrbcardnunK  wird  am  Schlüsse  hinzu- 

gefilgt: 

mit  der  Malspahe,  tl  ils  die  re^elmäl'-i;;«-  I .ulin/aliluii);  nirlit  um  Sunntage 
statttitidt'M  (lait.  Ausnahmen  können  von  der  unteren  Verwaltungsbehörde 
/ugeia.Nsen  weiden. 

Artikel  \i. 

Der       136  I  tl' r  <  irvverlx'driln'Hi'^  ••rli!ilt  tnlm-iuieii  Zii-at^ : 

I'aii'-  \'<»r-    und  \.irliiiiitta|;N[iau^c    iu.uuht   nielit    j^evv.ilirl    /u  werden. 
lern  die  jujjeiidii«  iie  n  Arl)eiler  täglich  nicht  langer  als  acht  Stunden  be- 
'  schäftigt  werden,  und  die  Dauer  ihrer  durch  eine  Pause  nicht  unter- 
brochenen Arbeitszeit  am  Vor-  und  Nachmittage  je  vier  Stunden  nicht 
übersteigt 

Artikel  13. 

Der  letzte  Absatz  des  i(  ijSa  der  Gewerbeordnung  erhält  folgende  Fassung: 
Die  untere  Verwaltungsbehörde  kann  die  BeschSAigung  von  Arbeite- 
rinnen aber  sechzehn  Jahre,  welche  kein  Hauswesen  zu  besorgen  haben 
und  eine  Fortbildungsschule  nicht  besuchen,  bei  den  im  §  1050  AI»,  i 
unter  '/itT»'r  3  und  4  bezeirlin<-t'-n  Arbeiten  an  Snnnabcrid'-n  uiul  \'or- 
abeiuieii  v<(n  l-'esttajjen  na-  Imiiti.s^js  nach  I linli-inhalb  I  hr.  je<l4>ch  ni>  lit 
über  achteinli.db  L'lir  abi-iui>  liinatis  ^e>(.iUi  n.  l>ie  I'rlaidmi^  ist  srlirili- 
licb  i\x  erteilen,  l'.ine  .\bsclirill  dt  r^elbi  ii  i>t  in  den  Kabrikrumneii,  in 
'  welchen  die  Arbeiterinnen  beschiiiligt  werden,  an  einer  in  die  Augen 
fallenden  Stelle  auszuhSngen. 

.\rtik«l  14. 

I.   Ilinti  r       I  ,>y  b  (irr  ( it  v^t  rix-ordnun^  wird  eiii^t     hallt  !  : 

\'l.   (leliiltcn,   l.t  hrliiic    und  .\rbciter  in  oHenen 
\'  e  r  k  a  u  I  N  s  t  >•  1 1  e  n. 
si  1390.    In  offenen  Verkaufsstellen  und  den  daxu  gehörenden  Schreib- 
stuben (Kumtorc)  und  Lagerräumen  ist  den  (jehilfen,  Lehrlingen  und  .\r- 
beitern  nach  Beendigung  der  täglichen  Arbeitszeit  eine  ununterbrochene 
Ruhezeit  von  mindestens  zehn  Stunden  zu  gewähren. 

In  (jcnieinden,  welche  na.  h  der  jeweili;^  li  t/T'-n  \'«.ik^/ iblun;;;  mehr 
als  /w  in/i;:tau-!  nd  l'inwoliner  haben,  imils  dit-  Kuhe/i  u  in  otit  ni-n  Ver- 
kuulsstellen,  in  denen  zwei  oder  mehr  Gehilfen  und  Lehrlinge  beschüftigt 


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Cie&ctz,  bcireli'cnd  die  Abundcrunj;  der  ( icwcrbcordnuug  vimi  30.  Juni  lycx).  0^1 

werden,  fiir  diese  mindcsteiu  elf  Stunden  betragen;  fllr  kleinere  Ort- 
scbaAen  kann  diese  Ruhezeit  durch  C>rtsstatut  vorgeschrieben  werden. 
Innerhalb  der  Arbeitszeit  mufs  den  <iehilfcn,  Lehrlingen  und  Ar- 

bfitiTH  finr  ;\n<;fnif««srnc  Mitta;^sj>:iusf  fjcwiüirt  werden.  1' ilr  (Icliilfcn, 
I.flirliivj''-  und  Arbeilrr,  die  ihn-  i  lauptnialil^eit  aulserlialh  des  die  \'cr- 
k.niN-ti  Iii  t  ntli.ilti  iiden  (iel).iuiles  einnehmen,  muis  diese  l*au.>»c  niui<leslcns 
ein  und  <  nie  li;dl)e  Siuntlc  In  traj^en. 

§  I39d.   Die  Bestimmungen  des  ^  1390  finden  keine  Anwendung 

1.  auf  Arbeiten,  die  zur  Verhütung  di*s  Verderbens  vun  Waren  un- 
verzüglich vorgenommen  werden  müssen, 

2.  für  die  Aufnahme  der  gesetzlich  vorgeschriebenen  Inventur  sowie 
hei  Neueinrichtungen  und  L"ni/ii;;cn, 

3.  aulM  rih-in  an  i.dirlii-!i  li'>t  h^len^  «IreifVi^  von  der  '  )rt-|)idi/eilit  li.irde 
all^^eniein  ixler  lur  ein/eine  ( leschLitt^zwei^e  /u  tii->tinmienden  Ta^en. 

§  1 39  e.  Von  neun  L  hr  abends  his  luni  L  hr  nu»rgeii>  müssen  oUi-nt: 
VerkaufsHtellen  itir  den  ge.tchuftlichen  Verkehr  geschlossen  sein.  Die  beim 
Ladenschlufs  im  Laden  schon  anwesenden  Kunden  dürfen  noch  bedient 
werden. 

Ueber  neun  Uhr  abends  dürfen  Verkaufsstellen  fiir  den  geschäftlichen 
Verkehr  geöffnet  sein 

1.  für  unvorhergesehene  Nottidle, 

2.  an  höchstens  v  i«  r/i;:  mn  der  <  )rls[Kdi/eilielh.rde  zu  bestimmenden 
'la^en,  )e(i<n  ii  Ins  i[i.itestens  zehn  L'lir  a!)ends, 

3.  nacli  näherer  Kestnnniung  der  höheren  \  crwaltun^>l>i  Ip.rde  in 
Städten,  welche  nach  der  jeweilig  letzten  Volkszäldimg  weniger 
als  zweitausend  Einwohner  haben,  sowie  in  ländlichen  (temein- 
den,  sofern  in  denselben  der  Geschäftsverkehr  sich  vornehmlich 
auf  einzelne  Tage  der  Woche  oder  auf  einzelne  Stunden  des  Tages 
beschränkt. 

Die  Hesiimmungen  d<T  Sfi;  J39''  ""d  139d  werden  durch  die  vor» 
stehenden  l^estininiunfjen  rn(-!«(  Ixruhrt. 

Wahrenil  d<'r  Zeil,  wi»  die  \  (■rkaiils>telien  -.rldossen  s<  ui  imiN^en, 
ist  das  Feilbieten  von  Waren  auf  öfTenllichen  Wegen,  Slralsen,  i^lätzcn 
oder  an  anderen  öffentlichen  Orten  oder  ohne  vorherige  Bestellung  von 
Haus  zu  Haus  im  stehenden  Gewerbebetriebe  (§  42  b  Abs.  i  Ziffer  i) 
sowie  im  Gewerbebetriebe  im  Umherziehen  (§55  Abs.  i  Ziffer  1)  vcr- 
boten.  Ausnahmen  können  von  der  Ortspolizeibehörde  zugelassen  werden. 
Die  l'estinmuni;:  des  5^  55  a  Abs,  2  Satz  2  findet  .\nwendun;:. 

ji  l3<)t.  Aul  .Antra;;  \««n  niiiKl'  -iens  /wej  Dritti  ln  der  ;>  :!ij'trn 
(ieselKiÜsinhaber  kann  lur  rnn  (  i.  ni< hkIi  odi-r  niehrrre  «»rtlioh  »itiniitl' il  .ir 
icu:>ammcnhangende  (icmeinden  durch  Anordnung  tier  htdieren  Verwal- 
tungsbehörde nach  Anhörung  der  Gemelndeliehörden  filr  alle  oder  ein» 
xelne  Cirschäftszweige  angeor<lnet  werden,  dafs  die  «tffenen  Vcrkaufsstrllen 
während  bestimmter  Zeithiume .  oder  während  des  ganzen  Jahres  auch  in 


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GcseUj:;«  l>ung :  Deutsches  Reich. 


ilrr  '/.fix  «wischen  acht  und  neun  L*lir  alxmis  und  /wisrlim  fönf  ttod 
sieben  l  lir  morgens  lür  «Ion  ;;<"S(*li;ittliclu-ti  X'i'rkflir  g<  >clili>v«.-fi  sein 
tiui>^<-ti.   Die  Be»limmuRgcn  Uer  §^  139c  und  I39d  werden  hierdurch  nicht 

lierulirt. 

Aui  Antrag  vun  mindestens  oitu  lu  Linllol  der  beteiligten  Gesoliatts- 
inhaber  hat  die  höhere  V'erwaltunj^.sbehörde  die  beteiligten  Geschäfts» 
Inhaber  durch  ortsübliche  Bekanntmachung  oder  besondere  Mitteilung  au 
einer  Aeufserung  ftir  oder  gegen  die  Etnflthrung  des  Ladenschlusses  im 
Skinne  des  vorstehenden  Absatzes  aufzufordern.  Erklären  sich  zwei  Drittel 
der  Abstimmenden  für  die  Finfuhrun^.  s<>  kann  die  höhere  Verwaltungs« 
bcli'irdc  die  entspreclieiule  Anordnung  treffen. 

1  )iT    lUitid' sr.it    i>t    liefu^t,    Heslimnmnjjt  n    djrii'u  r  erl;i>'»<'n.  in 

welrliem  \  erfaiiren  die  crtorderiiciie  Zaiil  vt^n  ( iescliaiusinliabcrn  »esizu- 
stellcn  ist. 

Während  der  Zeit,  wo  Verkaufsstellen  auf  Grund  des  Abs.  i  gc- 
schlössen  sein  müssen,  ist  der  Verkauf  von  Waren  der  in  diesen  Verkaufs- 
stellen geführten  Art  sowie  das  Feilbieten  von  solchen  Waren  auf  Öffent- 
lichen Wegen,  Strafscn,  Plätzen  oder  an  antleren  'ifTentlirlien  '  >rten  .>d<T 
<»hne  vorherige  Bestellung  von  Il.ui«;  /u  Haus  im  -.uht-ntlen  tiewerbe- 
hetrielic  (§  4-''  Al'>.  I  /.itfer  l  s<>\\ii'  im  ( jewi  i i"  iM  tru  b  it:i  L'ndn  r- 
/ielien  i§  55  Ai)>.  1  /ifÜT  Ii  verboten.  .\usinhniin  k'iniini  von  der 
Ort.spoli/.cibclior«le  /ug<  lassen  werden.  Die  Hestimniung  de»  §55a  Abs.  2 
Satz  9  findet  Anwendung. 

S  139  g.  Die  Polizeibehörden  sind  befugt,  im  Wege  der  VcrfUgung 
fttr  einzelne  offene  Verkaufsstellen  diejenigen  Ma&nahmen  anzuordnen, 
welche  zur  Durchführung  der  im  $  6a  Abs.  i  des  Handelsgesetzbuchs 
enthaltenen  Orundsiitze  in  Ansehung  der  Einrichtung  und  Unterhaltung  der 
( ieM-liaftsraume  und  der  fiir  den  <  it  seli;ift>be(rieh  bestimmten  X'orrieli- 
tungen  und  ( 'r'-rat^rdiifii  n  s<i\vi>-  in  .VnM-hung  iler  Regelung  des  tiesrlnfts- 
betriehs  erlorderlich  und  nacii  der  Beschatleuheit  der  .Anlage  auäiuhrbar 
erscheinen. 

Die  Bestimmungen  im  §  120  d  Abs.  2  bis  4  finden  entsprechende 
Anwendung. 

§  139  h.  Durch  Beschlufs  des  Bundesrats  können  Vorschriften  dar- 
über  erlassen  werden,  wdi  hcn  .\nfortlerungrn  die  Laden-,  Arbeits-  und 
I^gerräume  un<l  tieren  ICinrichtung  sowie  die  Maseliiii'n  und  <ierlit>eliaften 
zum  '/werke  d>T  Duffli fülirung  der  itn     62  I  des  liandelsgeset/.lnu-hs 

eiith.iiii neu  ( o  un<ts.it/c  /u  genügen  haben.  Die  Bestimmung  im  §  I20c 
.\bs.  4  lindel  Anwendung. 

Sow^eit  solche  Vorschriften  durch  Beschlufs  des  Bundesrats  nicht  er- 
lassen sind,  können  sie  durch  Anwendung  der  Im  §  t2oe  Abs.  a  bezeich- 
neten Behörden  erlassen  werden. 

§  139  >•  Di«  durch  §76  Abs.  4  des  Handelsgesetzbuchs  sowie  durch 
§  120  Abs.  I  begründete  Vcrpllichtung  des  Geschäftsinhabers  findet  an 


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Gcsctt,  bctrcllcnd  die  Abänderung;  der  licwcrhcordnung  vom  30.  Juni  1900.  673 

Orten,  wo  eine  vom  Staate  oder  der  Gemeindebehörde  anerkannte  Fach- 
schule besteht,  hinsichtlich  des  Besuchs  dieser  Schule  entsprechende  An» 
Wendung. 

Der  Grs<-1i;iftsinli;il>iT  hat  <lie  Gcbilifcn  und  !  '  hrün^«-  unter  a<  lit/<  !ni 
Jahren  7un^  tirsurix  der  I-Ortbildungü-  und  Fachschule  anzuhalten  und  den 
Schulbesuch  zu  überwachen. 

§  139  k-  l'  ür  j<  <li-  iiftVnc  \'i  rl<.uit">sti  lle.  in  \v«  l<  lu  r  in  der  Rt '^'-l 
minil>v>tens  /wan/ij;  Culnilliti  und  f.iiiilin;^i'  bi->ili;i(u^t  uird<n.  i-;  inncr- 
lialb  vier  Wochen  n.n  li  bikraiur«  teti  tlioes  (jeset/.es  oder  nach  dir  Er- 
ütTnunji  des  l?«-triebs  eine  Arh<  ilMir<lnunp  zu  erhisscn. 

Aul  die  Arbeil.-ordnuiij;  liiiden  die  Vor^chrillen  der  Jji;  1^411,  134b 
Abs.  I  Ziffer  1  bis  4,  Abs.  2,  Ab>.  3  Sau  i,  des  4j  ij4c  Abs.  1,  .\bs.  2 
Satz  2  und  3.  des  §  134  d  .Abs.  1  und  der  §§  I34e,  I34f  entsprechende 
Anwendung. 

Andere  als  die  in  der  Arbeitsordnung  oder  in  den  §§  71  und  72 
des  Handelsgesetzbuchs  vorgesehenen  GrOnde  der  Entlassung  und  des 
Austritts  aus  der  .-Vrlwit  dürfen  im  Arbeitsvertrage  nferht  vereinbart 
werden. 

!'!'■  •  ■  'li  iti'.,'!''!!  (;L!d>traren  sind  in  ein  Ver/.eichnis  cin/utra;:en,  weh  lu  s 
lien  Nanu  n  des  Üestratlen,  den  I  .i^  der  Heslralunfj  sowie  den  (irund  und 
die  Holl«'  der  Str.ile  er;;»  l>en  und  auf  l>tordern  der  UrLspolizcibcliordc 
jederzeit  zur  l'iiisiclit  \or^f|<t;t  weiden  ninis. 

Auf  .\,rbeitsordnun;^i  11,  welche  vor  (hin  Inkrafltn  len  diesis  (iesetzes 
erlassen  wi>rdcn  sind,  linden  die  Bestimmungen  der  I34^i<  134''  Ab.s.  i 
Ziffer  t  bis  4,  Abs.  3,  A1>s.  3  Satx  I,  des  §  134  c  Ahe.  I,  .\bs.  2  S.ttz  2 
und  3,  des  §  1346  Abs.  2  und  des  §  134  f  entsprechende  Anwendung« 
Dieselben  sind  binnen  vier  Wochen  der  unteren  Verwaltungsbehörde  in 
twei  Ausfertigungen  cinzurcirlien.  \nf  .s[.:itere  AV>ändeningcn  dieser  Ar- 
beit<;nrdnungen  und  aut  ilie  seit  dem  i.  <  )ktober  1899  erstmalig  erlassenen 
.'\rbeitsordnun«:«  ii  tin.len  der  §  I34d  Abs.  I  und  der  §  134c  Abs.  l  ent- 
sprechende Anwi'n<lung. 

§  139I.  Auf  das  Halten  von  Lehrlingen  in  offenen  V'erkaulsslellen 
sowie  in  aiiih n  ti  r.rtiielten  de.N  ilandclsgewerbes  tinUet  die  Kcslimmuug 

des  g  12S  Anwentlung. 

§  139  m.  Die  ne^timmungen  der  Jj^  139  c  bis  1301  tindi  n  ;\ul  den 
GeschiiÜsbelrieb  der  Konsum-  und  anderer  Vereine  entsjirechende  An- 
wendung. 

U.  Im  §  154   Abs.  1    der   Gewerbeordnung   wird   anstatt  105    lii^  133c" 

fcsetlt:  „§g  105  bis  I33e,  139c  bis  139m"  und  hinter  „§§  103,  106  bis  119b" 
cittgeichaltet:  „sowie,  vorbehaHlicb  des  §  139  g  Abs.  1  und  der  §§13911,  139I« 
13910,  die  Bestimmungen  der  §§**. 

Archiv  fiir  101.  GescKgebuiiK  u.  SutUdk.    XV.  44 


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GcscUgcbung:  Deutsches  Rfich. 
Artikel  15. 

I.  Im  §  J45  Abs.  I  der  GcwerbeordnUDg  wird  statt  „§§  146  und  IS3"  ge> 

sctit:  ,,§§145».  »46  und  153  '. 

II.  Hinter  55  145  ilcr  ( \vi 'iM  .inlniinjj  wir<l  <'inpi-M  liait«'t : 

J;  145;!.     I  »u-    in    lic  ri    l  .Jli  n    (1>  r         l6,  24    und   25   gcmäf«  §  31 
Zilü  i   1  /u^i -'Miellen  S.u  livcrstunrli^t  n  wrrdrn  bcstrait, 

I.  wenn  »ic  unbefugt  Betriebsgeheimnisse  offenbaren,  welche  durch 
das  Wfabren  xu  ihrer  Kenntnis  gelangt  sind,  mit  Geldstrafe  bi* 
zu  eintausenfiinfliundert  Mark  oder  mit  Geftngnis  bis  su  drei  Mo- 
naten ; 

a.  wenn  sie  absichtlich  zum  N'arbteile  der  Betriebsunteriiehmcr  Be- 
trieb'«^<'hciiiuii>-<'.  welche  durrli  das  Verfahren  zu  ihrer  Kenntnis 
jjr  l.in^^t  sind,  uflenliaren  i)der  pelieiin  >;ehaltene  Betriebscinrichtunjjen 
<id<r  r.ctritliswciscn,  wtlfhe  durch  das  Verfahren  zu  ihrer  Kennt- 
nis );elangt  sinil,  -•">  hinjie  als  diese  Bctnebsj;eiieimni»se  sind,  nach- 
ahmen, mit  Gefiingnis,  aeben  welchem  auf  Verlust  der  bttrgcrlicben 
Ehrenrechte  erkannt  werden  kann.  Thun  sie  dies,  um  sich  oder 
einem  anderen  einen  Vermögensvorteil  su  Terscbaffen,  so  kann 
neben  der  Geßingnisstrafe  auf  Geldstrafe  bis  zu  dreitausend  Mark 
erkannt  werden. 

Im  l  alle  (h  r  Ziff«  r  i  tritt  die  Verfolgung  nur  auf  Antrag  des  Be- 

trielountiTncdimers  <  iti 

III.  Im  §  147  Ab.s.  1  der  Gewerbeordnung  erhalten  djc  ZiH'cro  2  und  3  fol- 
gende Kussung: 

3.  Gewerbetreibende^  welche  den  135,  136,  137,  139c  oder  den  aut 
Grund  der  §§  139,  139a  getroffenen  Verfügungen  zuwiderhandeln; 

3.  Gewerbetreibende,  welche  dem  §  iti  Abs.  3«  §  113  Abs.  3  oder  dem 
§  114a  .W».  3,  soweit  tiaselbst  die  Bestimmungen  des  §  III  Abs.  3  fOr 
anwcndbcr  erklärt  worrlen  sind,  zuwiderhandeln. 

IV.  Im  4?  146  a  der  r.ew.  rlM  ..rdnung  wird  der  Scbluls  nacb  den  Worten  „Be- 
schäftigung yirbt"  wie  fol^t  ab^cmiicrt : 

oder  den  41a,  55  a,  139c,  §  I39f  Ab.s.  4  oder  den  auf  Grund  des 
§  105  b  Abs.  2  erlassenen  statutarischen  Bestimmungen  oder  den  «ut 
Grund  des  $  41b  oder  des  §  I39f  Abs.  i  getroffenen  Anordnungen  tu- 
widerhandelt. 

V.  1.  Im  I  147  Abs.  I  Ziffer  4  der  Gewerbeordnung  werden  die  Worte  «,aut 

Grund  des  §  1 20  !  iur.  Ii  die  Worte:  ..auf  Grund  der  J^;^  i2od,  139g*'  und  die 
Worte  „auf  Grund  des  §  I20e"  durch  die  Worte:  „auf  Grund  der  §§  laoe,  139 h" 
ersetzt. 

2.  Uic  /iiicr  5  drs      147  .\b-.  i  erli.ilt  fol^undc  Fassung: 

1.  wer  eine  I-'abrtk  betreibt  oder  eine  offene  Vcrkauf^stclle  hall,  für 
welche  eine  Arlieitsordnung  (§§  134  a,  139  k)  nicht  besteht,  oder 
wer  der  endgültigen  .Anordnung  der  Behörde  wegen  Ersetzung  oder 
Abänderung  der  Arbeitsordnung  nicht  nachkommt. 


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<icscu,  bcUrcffcad  die  Abänderung  der  Gcwcrbeurdaung  vom  30.  Juni  1900. 


VI.  Der  §  14S  Abs.  I  der  Gewerbeordirang  wird  wie  folgt  abgeändert: 

1.  Hinter  Sffier  4  wird  ciogcscbaltet: 

4  a.  wer  aufser  den  Fällen  de«  §  360  Nr.  la,  §  367  Nr.  16  des  Straf- 
gesetzbuchs den  auf  Grund  des  §  38  erlassenen  Vorschriften  xu- 

wirlt  rliandclt ; 

2.  Di«^  '/iffor  8  «  rliiilt  fi-l^.  ndi-  Kassunj;; 

wrr  )n-\  «Icni  Ilflnotic  srint-s  <  i<'\V'Tl)cs  <lic  «iuriii  'Iii-  OhfirjUcil 
oder  durch  Aiuci^c  bei  (U  rsi-nK  ii  it -.tgclogten  Taxen  überschreitet 
oder  es  unterläßt,  das  gcmäD»  ^  75  oder  §  75  a  vurgeschricbcne 
Verzeichnis  einsureicben ; 

3.  Die  Ziffer  12  erhfilt  folgende  Fassung: 

Wer  es  unterläfst,  der  durch  §  134c  Abs.  1,  §  134g,  |  139k 
Abs.  5  für  ihn  bc;;ründctcn  Verpflichtung  zur  Riareichung  der 
Arlu-itsiirdnuag,  ihrer  Abänderungen  und  Nachträge  nacfaxn> 
kommen. 

VII.  Per  jj  149  .\b>.  1  der  ( ;i  w«'rbe..rdnunj;  wird  wie  folgt  abgeändert: 
Hinter  Zilfer  7  wird  ein^;eschaltet : 

7  a.  wer  es  unterläfiit,  jemals      75,  75  a  das  Verzeichnis  anxuschlagca 
oder  dem  StcHcsuchenden  vor  Abscblufs  des  VcrmittltingsgeschfiAs  die 
für  ihn  zur  Anwendung  kommende  Taxe  mitzuteilen. 
VIIL  Im  %  150  Abs.  I  ZifTcr  3  der  Gewerbeordnung  werden  die  Worte  „in . 
Ansehuitg  der  Arbeitsbücher"  durch  die  Worte:  „in  Ansehung  der  ArbeitsbQcber, 
Lohnbücher  oder  .\rl>eit^/e^leI•'  ersetet. 

IX.  Im  §  150  Alls.  1  /iiVer  4  der  f lewerbeonhuinj;   winieu   du-  Worte  „des 
•§  120  Abs.  1"  durch  die  Worte:  „des  {;  120  Abs.  I,  des  §  IS^f  ersetzt. 

X.  ^  »50  Abs.  I  Ziffer  5  der  Gewerbeordnung  erhält  folgende  Fassung:  wer 
CS  unterläfst,  den  durch  §  134  c  Abs.  3,  §  139  k  Abs.  4  flir  ihn  begrün- 
deten Verpflichtungen  nachzuliommen. 

Artikel  16. 

Dieses  Gesetz  tritt  mit  dem  i.  Oktober  I900  in  Kraft 

Artikel  17. 

Der  Reichskanzler  wird  ermächtigt,  den  Text  der  Gewerbeordnung,  wie  er  sieh 
.aus  den  Aenderungen  eq;iebt,  welche  in  diesem  Gesetz  und  den  Gesetzen  vom 

15.  Juni      i8$3,  Retchs-Gcsctzbl.  S.  73, 

I.  Juni       1891,       „  „         „  261, 

19.  Juni       1S93,       „  „         „  197, 

6.  .Xujjust    I.S96,        „  „  ,.  685. 

18.  August   1S96,        „  „         ,,  604, 

10.  Mai       1S97,       „         „        „  437, 

und  vom 

96.  Juli      18971      .1         »t        »  663 
sowie  durch  die  am  13.  Juli  1884,  31.  Januar  1885,  1$.  Februar  1886^  16.  Juni 
j886,  16.  Juli  1888,  9.  Februar  1898  und  3t.  Oktober  1899  bekannt  gemachten, 

44* 


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676 


Gesetzgebung:  Deutsches  Reich. 


v«iB  ReichsU^  genehmigten  BescblOsae  des  Bandesrats  (Reichs-Gesetzbl.  von  1884 
S.  118»  von  1885  S.  8,  von  1886  S.  38  und  S.  304,  von  1888  S.  3t8,  von  1898 
S.  37  nnd  von  1899  S.  664)  festgestellt  dnd,  durch  das  RcichsoGcsctzblatt  bekannt 
so  maclien. 

Urktitvllicli  unter  Unserer  HöchstcigcnbüQdigcn  Unterschrift  und  bcigcUrucktcm 

Kaiserlichen  Insirgcl. 

Gegeben  Travemünde,  den  30.  Jan!  1900. 

(L.  S.) 

Wilhehn. 
Graf  von  Posadowsky. 


^  kj  .  ..Lo  i.y  Google 


DÄNEMARK. 


Das  Gesetz  über  das  Recht  zu  Zeugenvernehmungen 
für  gewerbliche  Schiedsgerichte  vom  3.  April  1900. 

Von 

ADOIJ»H  JENSEN. 

SckrctSr  des  statUtuichen  Amtes,  ia  Kopenhagen. 

Das  ohcti^enaimtc  Gesetz,  welches  vom  Reichstage  im  März  1900 
angenommen  wurde  und  am  3.  April  königliche  Bestätigung^  er- 
hielt, verdient  auch  aulVerhall)  Dänemarks  zur  Kenntnis  Derjenigen  zu 
gelangen,  die  sich  für  'Soziale  Probleme  interessieren.  Die  tlänischc 
Sozialgeset/gebung  hat  hier  einen  Weg  eingeschlagen,  den  —  so- 
weit mir  bekannt —  bisher  kein  anderes  Land  zu  betreten  versucht 
hat.  Um  das  vorliegende  Kxperiment  zu  verstehen,  ist  es  nötig, 
seine  Vorgeschiclite  zu  keimen. 

Das  Verlangen  nach  Einrichtungen  zur  Beilegung  von  Arbcitcr- 
konfliktcn  ist  in  Dänemark  verhältnismäfsig  älteren  Datums.  In  den 
fiiniziger  Jahren  schon  erschienen  Vorsclilägc,  welche  die  BSdung 
von  Fabriksgerichten  empfahlen.  Später  wurde  die  Sache  von 
der  Arbeiterkommission  des  Jahres  1875  in  Erwägung  gezogen, 
welche  einen  in  allen  Einzelheiten  ausgearbeiteten  Entwurf  zur  Ein- 
führung von  Arbeitsgerichten  vorlegte.  Der  Grundgedanke 
dieses  Entwurfs  war,  dals  jeder  Gemeindevorstand  Manner  aus 
dem  Kreise  der  Arbeitgeber  und  Arbeiter  wählen  sollte,  welche 
im  Verein  mit  dem  Polizeirichter  in  der  betreffenden  Stadt  über 
gewerbliche  Streitigkeiten  entscheiden  sollten. 

Dieser  Kommissionsvorschlag  blieb  ohne  Ergebnis,  und  eine  Reihe 
von  Jahren  vergingen,  be\  er  die  Oeffentlichkeit  sk:h  wieder  mit  der 
Sache  beschäftigte.  Dals  die  Frage  auls  neue  behandelt  wurde,  ist 
dem  Minister  des  Innern  Bramsen  zu  verdanken,  der  die  Sache  1S93 


L.ivjM^L,j  L,y  Google 


6;8 


Gesetzgebung:  Dänemark. 


auf  einem  grofsen  Kongrcfs  der  Industrictrcibenden  in  Kopeohagen 
zur  Sprache  brachte.  Weil  der  Gedanke  Anklang  zu  finden  schien» 
brachte  Bramsen,  der  damals  Mitglied  des  Reichstages  war,  einen 
Gesetzentwurf  über  Gewer bc^'eric lue  und  Kl  ni<^u  ngskam- 
mern  ein,  dessen  wesentlichster  Inhalt  folgendermafsen  lautete. 

Wenn  die  Arbeitgeber  und  Arbeiter  in  einer  Kommune  bei 
deren  Vorstand  auf  Errichtung  eines  Ciewerbegerichtes  antragen,  kann 
der  (iemeindevorstand  mit  Zustimmung  des  Justizministeriums  ein 
solches  bilden.  Für  die  Wirksamkeit  des  Arbciisgcrichtes  bestimmt 
dieser  Regeln,  welches  in  jt  dt  in  einzelnen  I'^allc  einer  (uitheifsung 
des  Justijrministerivmis  bedurien.  Der  \'orsit/ende  des  (.lerichts  wird 
vom  König  ernannt,  die  Beisitzer  weiilen  in  gleich  grofser  Anzahl 
von  und  unter  tlcn  Arbeitgebeiii  und  Arbeitern  in  der  Kommune 
gewählt.  l-"alls  Differenzen  zwischen  Arbeitgebern  iniil  deren  Ar- 
beitern innerhalb  des  Gebiets  iles  Gewei l>ergerichtes  sieh  ergeben, 
kann  dieses  als  fcinigungskannner  angerufen  werden.  l  indel  keine 
iMiii 'un<:  statt,  so  wirtl  die  Kainnur  ein  Urteil  über  die  .Sache 
fällen,  indem  sie  nach  ihrem  Gutdünken  eine  angemesse  Ordnung 
der  Streitfragen  bezeichnet.  Erreicht  man  weder  Einigung  noch 
Urteil,  so  kann  auf  Verlangen  ein  einzelner  Schiedsrichter  von  der 
Obrigkeit  ernannt  werden,  dem  alle  von  der  Einigungskammer  ge< 
-sammelten  Materialien  zur  Verfügung  gestellt  werden  sollen. 

Dieser  Vorschlag  erfuhr  ein  sehr  merkwürdiges  Schicksal.  Er 
gewann  gleich  einen  bedeutenden  Anhang  im  Reichstage,  wurde 
sogar  im  Folketing  angenommen,  und  dennoch  mufste  er  er- 
leben, nachem  er  in  drei  verschiedenen  Rcichstagstagungen  vorgelegt 
worden  war,  schlielslich  in  aller  Stille  zu  verschwinden. 

Die  Ursachen  dieses  traurigen  Schicksals  waren  freilich  teilweise 
politischer  Natur,  allein  auch  sachliche  Umstände  bewirkten  das 
negative  Resultat.  Schon  ganz  kurze  Zeit  nach  dem  Erscheinen 
des  Gesetzentwurfs  wurde  von  selten  der  praktischen  Industric- 
trcibenden die  prinzipielle  Einwendung  erhoben,  die  öflfentUchen 
Gewerbegerichte  könnten  die  bestehenden  und  heranwachsenden 
privaten  Schiedsgerichte  verdrängen.  AnCings  tnelnte  man  diese  Ge- 
fahr abwehren  zu  können,  wenn  im  Gesetz  Hestimmungen  aufge- 
nommen würden,  welche  die  privaten  Schiedsgerichte  als  erste 
Instanz  konstituierten,  während  die  ötfentlichen  ( iewerbegerichte  als 
zweite  In>tan/  ul)er  sie  gestellt  würden.  Dieser  (iedankc  wurde 
jedoch  bald  als  unpiaklisch  angesehen,  und  der  Wunsch,  der  l\ef».)rm 
von  oben  die  rechte  Leben.skraft  zu  verleilien  durch  Verbindung  mit 


Adolph  Jensen,  Das  Gcset«  Ober  das  Recht  zu  Zeugenvernehmungen  etc.  6/9 

der  Entwicklung  von  unten,  wurde  bald  au%egeben.  Indessen  wurde 
im  Herbst  1893  eine  Gewerbenovelle  vorgelegt,  und  diese  be* 
schäftigte  sich  mit  der  Bildung  &clilicher  Meisterorganisationen, 
welche  verschiedenen  sozialen  Aufgaben  obliegen  sollten,  unter 
anderem  auch  der,  eine  Schlichtung  fachlicher  Streitigkeiten  herbei- 
zufuhren.  Die  Industrietreibendeii  meinten  jetzt,  die  Fra^^e  wäre 
am  leichtesten  und  natürlichsten  gelöst,  wenn  innn  clcn  in  l'eber- 
einstimmun^  mit  dem  Gewerbegesetz  errichteten  Schiedsgerichten 
die  Autorisation  des  Staates  verleihen  würde. 

Die  anfanj^s  ganz  günstige  Stimmung  für  den  obengenannten 
Entwurf  betr.  öffentliche  Gcwerbcgcriclitc  hatte  sich  im  Laufe 
von  ein  paar  Jahren  gänzlich  geändert:  der  Ik'Uri-.  hierfür  trat 
zutage,  als  die  Repräsentant cp  der  Indu>trie  auf  dem  I\eicli>tage 
im  Jahre  1896  geradezu  gegen  die  Förderung  des  ( lesct/csx  or- 
schlags  stimmten,  „um  nicht  die  von  unten  heranwachsende  natür- 
liche Entwicklung  zu  stören". 

Die  Industrietreibenden  knüjiften  also  ihre  Hoffnung  einer  zu- 
friedenstellenden Losung  der  I'Vage  an  die  Mrjglichkeit ,  welche 
der  Abschnitt  tler  (iewerbeno\  eile  über  Innungen,  Korporationen 
und  X'ereiric  in  sich  schlols.  Die  politischen  Verhältnisse  bewirkten 
indessen,  dafs  etliche  Jahre  vergingen,  bevor  der  Reichstag  im 
Emst  anfing,  sich  mit  der  Revision  der  Gewerbegesetzgebung  zu 
beschäftigen.  Erst  in  der  Session  1898—99  erschien  ein  Gutachten 
vom  Landsting,  und  nach  dem  Inhalte  desselben,  konnte  man  mit 
einigem  Recht  erwarten,  dafs  in  organischer  Verbindung  mit  dem 
Gewerbegesetze  eine  Form  zuwege  gebracht  würde,  in  welche  sich 
die  freiwUligeo  Organisationen  einlugen  und  eine  Grundlage  ftir  In- 
stitutionen  zur  Ausgleichung  fachlicher  Streitigkeiten  bilden  würden. 

So  verhielt  sich  die  Sache  vor  einem  Jahre.  Inzwischen  hat 
sich  die  Situation  völlig  geändert. 

Die  Gewerbenovelle  wurde  im  Herbst  1899  meder  im  Lands- 
ting eingebracht,  und  hier  geschah  unter  anderen  merkwürdigen 
Dingen  auch  dies,  dafis  der  ganze  Abschnitt  über  Korporationen  u.  dgl. 
aus  dem  Vorschlage  entfernt  wurde ,  weil  man  es  nun  bedenklich 
fand,  derartige  Organisationen  in  Verbindung  mit  dem  Gewerbe- 
gesetze zu  fordern  und  zu  regulieren.  Nach  der  Entwicklung  zu 
urteilen,  welche  diese  Frage  zur  Zeit  in  Dänemark  erreicht  hatte, 
meinte  man  richtig  zu  handeln,  wenn  man  ihre  Lösung  zum  Gegen- 
stand einer  besonderen  Gesetzgebung  machte. 

Um  diese  so  merkwürdige  Wendung  verstehen  zu  können, 


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68o 


GesetzgebuDi;:  Dänemark. 


niufs  man  sich  in  Kriniicrung  rufen,  wie  die  Verhältnisse  im  Laufe 
der  Zeit  sich  draufsen  im  praktischen  Leben  gestaltet  hatten. 

Das  wesentlichste  Hindernis,  zu  einem  Resultat  zu  kommen, 
7.cv^u-  sich  ursprünglich  darin,  dafs  es  detn  selbständigen  Industrie^ 
treibenden  —  im  Gegensatz  zu  den  Arbeitern  —  an  Organisation 
fehlte.  I'Veilich  sind  die  Handwerker-  und  Industrievercine  älteren 
Datums  in  Dänemark,  und  gcwils  existiert  eine  gemeinschaftliche 
X'ertrctung  für  die  diuiische  Industrie  und  da>  dänische  Hand- 
werk, tlie  auf  eine  mehr  als  zwanzigjährige  Wirksamkeit  zurück- 
blicken kann.  Teils  aber  waren  die  älteren  X'ereinc  der  Industrie 
treibenden  nicht  fachliclie,  teils  hat  (lie  Bewegung  zu  einem  Zu- 
sammenschlufs  cr>i  m  späteren  Jahren  die  grofse  Masse  der 
Industrietreiberalen  im  ganzen  Lanile  er^riften.  Die  gemeinschaft- 
liche Wrtrelung  umfafste  l886  73  X'ereine  mit  2IOOO  Mit- 
gliedern, 1S92  126  X'ereinc  mit  jSooo  Mitgliedern,  1899  aber  201 
Vereine  mit  40000  Mitglietlern.  Diese  Zahlen  zeugen  von  dem 
starken  Organisatioiisdrangc,  welcher  den  letzten  10  Jahren  seinen 
Stempel  aufgedrückt  hat,  aber  erst  von  der  Mitte  der  neunziger 
Jahre  an  eine  praktische  Wirkung  zeitigte,  indem  man  auf  einen 
wirklichen  fachlichen  Zusammenschlufs  hinarbeitete.  Der  Gedanke 
eines  solchen  war  schon  viel  früher  entstanden,  und  man  hoffte,  da(s 
der  Organisationsgedanke  von  seiten  des  Staates  unterstützt,  und 
die  Gesetzgebung  Formen  fiir  die  Organisationen  darbieten  würde. 
Als  diese  Erwartung  aber  fehlschlug,  fing  man  resolut  an,  das  Haus 
von  unten  aufzubauen.  Die  erwähnte  gemeinschaftliche  Vertretung 
für  Industrie  und  Handwerk  nahm  1896  die  Sache  in  die  Hand, 
und  im  Lauf  von  ein  paar  Jahren  gelang  es  durch  energische  Agi- 
tation, eine  Zentralorganisation  aller  fachlichen  Meister  und  Fabri- 
kantenvercine  im  Lande  zu  bilden.  Dieser  Zcntralverein  begann  seine 
Wirksamkeit  am  i.  Januar  1899  unter  dem  Namen  „Dänischer  Meister- 
und  . \  r bc i  tgebc r \  c  re  in". 

Ohne  irgendwelche  Aufmunterung  von  Seiten  der  Gesetzgebung 
war  diese  Organisation  vor  sich  gegangen.  Der  Endz\\  t  k  des 
Zentralvcrcins  war  Sicherung  des  Friedens  zwischen  Arbeitgebern 
und  Arl)eitern.  und  der  Vorsitzende  der  gemeinschaftlichen  Ver- 
tretung charakterisierte  im  Jahre  1898  deren  Bedeutung  durch 
f<>l;^'Lt.(lc  Worte:  „Können  wir  die  grofse  einträchtige  ( 'rganisation 
der  Arbeitgeber  durchführen ,  dann  l<)sen  wir  zugleich  auf  frei- 
willi;^cm  Wege  die  Aufgabe,  welche  seinerzeit  die  Gcsetzvorüciiläge, 
betrertend  Gcwerbegerichte  und  Eiiiigungskammern,  sich  zum  Ziele 


Adolph  Jensen,  Das  Gesetz  Uber  das  Recht  zu  Zeugenvernehmungen  etc.    58 X 


gesetzt  haben,  und  hofTentlich  wird  dadurch  die  Auljg^be  in  einer 
besseren  Weise  gelöst,  als  ein  Gesetz  dies  hätte  können.  Das 
Zusammenwirken  der  grofsen  Organisationen  der  Arbeiter  und  Ar- 
beitgeber wird  ein  System  von  Schiedsgerichten  bilden,  welche 
sich  von  unten  entwickeln  aus  den  praktischen  Verhaltnissen  des 
Lebens,  wie  sie  sich  zwischen  Arbeiter  und  Arbeitgeber  gestalten, 
und  man  wird  sicher  dadurch  sowohl  nutzlosen  unpraktischen 
Theorieen  entgehen,  als  auch  jedem  fremdländischen  Beigeschmack." 

Zur  Sicherung  des  Friedens  —  des  sozialen  Friedens  —  war 
diese  grofse  Assoziationsarbeit  zuwege  gebracht  worden.  Und  wc« 
nige  Monate  später  empfing  ^e  die  Feuertaufe  in  einem  sozialen 
Kampfe  von  so  umfassendem,  langwierigem  und  heftigem  Charakter, 
dafs  er  in  der  Geschichte  seinesgleichen  sucht') 

Nach  dem  Abschlufs  des  grofeen  Lockouts  Hegt  indessen  die 
Frage  der  Arbeitsgerichte  wesentlicli  anders  als  bisher. 

Der  L^cbereinkunft  zur  Wiederaufnahme  der  Arbeit  wurde 
folgende  Bestimmung  hinzugefügt:  Bei  der  Ordnung  praktischer 
Arbeitsverhältnisse  darf  von  keiner  Seite  der  ilnuptorganisationen 
irgendwelche  Bestimmung  festgestellt  oder  gutgchcilsen  werden, 
welche  gegen  die  l'cl)ereinkunft  streitet;  und  ferner:  falls  irgendeine 
der  1  lauj)türganisationen  meint,  dals  diese  Regel  übertreten  ist, 
darf  sie  die  I'Vage  vor  das  Mof-  und  Stadlgericht  in  K<)i)enha;^cn 
bringen,  bis  sie  an  ein  pcrniancntes  Schiedsgericht  verwiesen  werden 
kann,  bei  welchem  dicsell)e  Zeugenpflicht  gesetzlich  festgestellt  ist 
wie  bei  den  übrigen  (ierichten  des  Landes. 

Diese  Bestimnuingen  haben  das  Zustandekommen  des  de- 
s e t z c s  vom  3.  April  1900  über  das  Recht  zu  Zeugen- 
vernehmungen für  gewerbliche  Schiedsgerichte  vcr- 
anlalst. 

Die  zwei  Hauptorganisationen  „Der  Meister-  und  Arbeitgeber- 
verein" und  „Die  zusammenwirkenden  Fachverbande"  haben  ein 
permanentes  Schted^ericht  gebildet,  welches  aus  7  Mitgliedern  be- 

')  ^^^^  gro&e  I.ockoiU  im  Summer  1899  ruhte  in  15  Woclu  ii  mit  Mcicrncr 
Scliwcro  .-luf  cir>rm  sehr  l)i-(lcin>  n  !>  n  I  i  il  di  r  Frwcrblliiiti^ikcit  des  Landes.  In 
13  Wiichen  Wiirt  ii  unfjelahr  35000  .XiUriti  r  .uiNjjcspcrrt,  in  den  l<'/ttri  2  Wodien 
ungeluhr  50000.  Die  ganze  Anzahl  verlorener  Arbeitstage  betrug  c.i.  3'^,  .Nlilhoncn. 
Die  normale  Arbeiterstärke  der  Industrie  in  Di&enotfk  belicf  sich  1899  auf  ca.  18000O; 
diese  180000  Arbeiter  wOrdeo  zusammen  in  den  1$  Lockovt -Wochen  normalerweise 

Millionen  Arbeitstag  gearbeitet  haben;  der  Verlast  bei  dieser  Arbeitsstockung 
betrag  also  etwas  Uber  '/^  der  normalen  Arbeitskraft. 


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682 


(.icsel/gcbunt; :  Danemark. 


Steht,  von  denen  jeder  Teil  3  Mitglieder  gewählt  hat,  die  nicht  zu 
den  Vorsitzenden  der  Organisationen  gehören,  und  diese  6  Mitglieder 
haben  dann  wieder  den  Vorsitzenden  gewählt.  Unter  der  Voraus- 
setzung, dafs  dieser  in  seiner  Person  die  Erfordernisse  besitzt,  die 
ein  gewöhnlicher  Richter  haben  muls,  verhelfst  das  Gesetz  nun 
diesem  Schiedsgerichte  eine  B^^nst^ng,  welche  noch  keiner  an* 
deren  bestehenden  privaten  Institution  im  Lande  zuteil  wurde,  näm- 
lich das  Recht  der  Zeugenvernehmung  narli  wesentlich  gleiclien 
Grundsätzen,  wie  sie  Tür  die  übrigen  Gerichtshöfe  gelten.  Die 
Hauptre^eln  lauten  folgendermafsen. 

Das  Schiedsgericht,  welches  in  Kopenhagen  seinen  Sitz  haben 
mufs,  ist  wie  jedes  Gericht  befugt,  jeden  Zeugen  zu  verhören,  der 
sich  freiwillig  einfindet,  ohne  inbetracht  zu  ziehen,  wo  der 
Zeuge  wohnt.  Die  Pflicht,  vor  das  Schk'dsc^'^cricht  als  Zeu^c  zu 
erscheinen,  haben  dagegen  nur  die  Bewc)liner  von  Kopenhagen  u;.d 
der  angrenzenden  Gcriehtskreise.  Sollte  aulserhall)  ilieser  (iren/.c  eine 
Zeugenvernehmung  vorgenonunen  werden,  so  hat  dies  vor  dem  ei- 
genen Gerichtshof  des  Hetrert'enden  zu  geschehen.  Der  \'or>itzciKle 
des  Schiedsgerichtes  leitet  die  Zeugenvernehmung  und  ist  dafür 
verantwortlich,  dafs  sie  in  geliörigcr  Weise  geschieht.  Hinsichtlich 
der  abgegebenen  Zeuge  ru  i  klärung  ist  der  Zeuge,  was  Strafen  anlangt, 
ebenso  gestellt,  als  wäre  die  Erklärung  vor  einem  >tändigen  ücnclits- 
hof  abgegeben  worden. 

Auf  eine  ganz  eigentümliche  Weise  hat  die  Gesetzgebung  hier 
die  Sache  angefafst.  Ohne  sach  damit  abzugeben,  Regeln  iiir  die 
Bildung  des  Schiedsgerichtes  festzustellen,  oder  auf  die  Wahl  des 
«Gerichtsvorsitzenden  Einflufs  üben  zu  wollen,  ohne  danach  zu 
fragen,  unter  welchen  Formen  das  Gericht  wirken  wird,  giebt  die 
Staatsmacht  einer  solchen  ganz  privaten  Institution  eine  weit' 
greifende  Befugnis,  die  sonst  ausschliefslich  den  Gerichten  des 
Staates  vorbehalten  Ist') 

Das  neue  Prinzip,  das  man  hier  befolgt  hat,  ist  jedoch  nur 
auf  einem  sehr  engen  Gebiete  angewendet  worden,  nämlich  zur 
Schlichtung  der  Streitigkeiten  zwischen  Zentralvereinen  der 


')  MaD  bemerke  hier,  dafs  während  der  Verhandlungen  wegen  einer  Revision 
des  geltenden  Fabrikgesetzes  die  Frage  erörtert  wurde,  ob  nicht  die  oberste  Leitung 
der  Gewerbeaufsicht  einem  Arbeitsrate  anvertraut  werden  mUsste,  den  die  zwei 
grofM-ii  Zentralorganisationen  der  Arbeitgeber  und  Arbeiter  zu  schaffen  das  Recht 
erhalten  sollten. 


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Adolph  Jensen,  Das  Gesetz  über  das  Recht  zu  Zeugenvernehmungen  etc. 


Arbeitgeber  und  Arbeiter.  Schiedsgerichte,  die  nur  für  ein  einzelnes 
Fach  gelten,  können  also  nicht  das  Recht  erlangen,  Zeugen  zu  ver- 
nehmen, und  dasselbe  gilt  fiir  lokale  Gewerbegerichte,  wenn  solche 
künftighin  in  verschiedenen  Teilen  4es  Landes  errichtet  werden 
sollten.  Praktisch  findet  das  Gesetz  jedenfalls  augenblicklich  nur 
Anwendung  (lir  das  Schiedsgericht,  welches  vom  Arbeitgeber- 
verein und  den  zusammenwirkenden  Fachverbänden  gebildet  ist 
zur  Austragung  von  Streitigkeiten  zwischen  diesen  zwei  Zentral- 
vereinen. 

Durch  das  Gesetz  vom  5.  April  1900  hat  der  Staat  den  zwei 
Zentralvereinen  eine  Art  indirekter  Anerkennung  erteilt,  welche 
ihre  gro(se  prinzipielle  Bedeutung  hat   Dieses  kleine  Gesetz  von 

4  Paragraphen,  dessen  Inhalt  vielleicht  nur  von  einem  engen  Kreis 
von  juristix  h  und  sozial  interessierten  Personen  gehörig  beachtet 
wurde,  ist  ein  wesentlicher  Behelf  zur  Erreichung  friedlicher  sozialer 
Zustände  in  Dänemark.  Während  der  Behandlung  (U  -  rit  sctzes  im 
Reichstag  hielt  man  mit  gröfster  Sorgfalt  alle  Nebenfragen  fern, 
ebenso  jede  Betrachtung  über  die  ferneren  Konsequenzen  des  Ge- 
setzes. Man  that  dies  nach  dem  ausdrücklichen  Wunsche  der  zwei 
Zcntralvcreine,  und  man  handelte  sicher  klug,  als  iiiaii  diesem 
Wunsche  I'olge  leistete.  Ks  ist  aber  kaum  ohne  starke  Re>ignatinn 
geschehen,  denn  mit  Xachdrurk  drängt  sich  die  Frage  auf,  wie  die 
begonnene  Arbeit  weiter  gefuhrt  werden  soll. 

Man  bcfiiKkt  sich  jetzt  wesentlich  anderen  Voraussetzungen 
gegenüber  wie  v  or  sieben  Jahren ,  als  der  Gesctzvorschlag  über  Ge- 
werbegerichte zum  ersten  Mal  im  Reichstag  v  orgebracht  ^vurde.  In 
den  vergangenen  Jahren  ist  der  Oganisatioiisprozefs  inncrlialb  des 
Kreises  der  Arbeitgeber  und  Arbeiter  vollzogen  worden,  und  die 
Assoziationen  haben  durch  eigene  Kraft  eine  Stärke  erhalten,  von 
der  damals  niemand  träumte.^)  Die  indirekte  Sanktion,  welche  sie 
jüngst  von  Seiten  des  Staates  erhalten  haben,  legt  ihnen  sehr  um- 
fassende  Verpflichtungen  auf,  deren  Erföllung  vermutlich  bedeutsame, 
über  den  unmittelbaren  Zweck  des  Gesetzes  hinausgehende  sozial- 
.  politische  Folgen  in  sich  schliefsen  dürfte. 

')  Die  Arbeiterorganisationen  zählen  ca.  tooooo  Mitglieder  oder  ca.  80  Prozent 
sämtlicher  erwachsenen  Industriearbeiter. 


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f 


MISZELLEN. 

Die  Ergebnisse  der  schweizerischen 
Wohnungsenquiten. 

Von 

Dh.  KMfl.  UOFM ANN. 

Nationalrul  in  FraucntL'ld. 

Dem  gegen  das  Ende  der  achtziger  Jahre  in  der  Schweiz  erwachten 
Eifer  mit  Erforschung  und  Verbesserung  städtischer  Wohnungsvcrhiiltnisse 
liegen  andere  Motive  zu  Grunde  als  seinem  V  orgänger  in  früheren  Jahren. 
Ty])lnis.  Cholera  und  andere  epideniiscjie  Krankheiten,  welrhf  entweder 
ausgehrochen  oder  in  hodrohlii  he  Nahe  geiutkl  waren,  ^Nihcn  nielinnais 
das  Sitrual  zu  WolnninL:>erhel)ungen  oder  dorli  A\'ohnungsinsj)eklionen. 
W  ar  die  (jelahr  vorüber,  hegaiin  auch  dei  auf  ihoein  Gebiete  entbrannte 
Eifer  sofort  zu  erkalten.  Die  Berichte  wurden  um  so  kursorischer  und 
die  polizeilichen  und  gesetzlichen  Mafsnahmen  um  so  zahmer  und  müder, 
je  rascher  die  Gefahr  vorüber  gezogen  war.  ^)  Später  and  die  ge> 
nannten  Motive  in  den  Hintergrund  gekommen.  An  Stelle  der  Gelegen- 
heitsenqueten sind  die  Enqueten  ,4snger  Dauer"  getreten,  um  einen 
Ausdruck  des  Bearbeiters  der  Lausanner  Wohnungserhebung  zu  ge- 
brauchen. Sie  wollen  nicht  blofs  dem  Augenblicke  dienen,  sondern 
sollen  eine  feste  (irundlage  für  die  Wohnungsgesetzgebung  etc.  der  Zu- 
kunft l)ilden.  Die  Ursachen,  welche  die  Wohnungserhebungen  dieser 
Art  veranlafsten,  liegen  in  der  Wohnungsnot  der  arl)eitenden  Kla>sen 
und  den  damit  verbundenen  hygienischen  und  moralischen  Milsstaiiden 
sowie  in  dem  üpi>ig  sich  entfallenden  Grund-  und  Bauwucher,  dessen 
krasse  Auswüchse  ungeschminkt  an  die  Oeffentlichkeit  traten.  Der  Aus- 
gangspunkt dieser  Wohnungserhebungen  ist  darum  auch  meistens  bei  der 


*)  Vgl.  hierzu:  Enqtifte  m  Ics  conditions  da  logement  Aiiii6e  1894.  Memoire 
pr^senti  ä  hi  mtmicipaliti  de  Laasaone  par  Andri  Sehne ttter  Avoc&t,  Prirat- 
docent   rUniverMt^  de  Lauianne.  Lansuiic  (Imprimerie  Luden  ViDgent)  1896.  p.  10  ST. 


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Emil  Hofmann,  Die  Ergebnisse  der  schweizerisclien  Wohnungsenqu^cn. 


Arbeiterschaft  oder  deren  Vertretern  in  den  kommunalen  l'.eliurden  zu 
suchen.  In  Basel  wurde  die  Wolmungserhebung  durcli  einen  sozial- 
demokratischen  Abgeordneten  in  Foim  eines  Antrags  im  Grofsen  Rate 
veranlafst.  In  Lausanne  hat  die  Thatsa^he,  dafs  die  Arbeiterschaft  diese 
Frage  auf  ihr  Programm  genommen»  die  Vornahme  der  Erhebung  zum 
mindesten  begünstigt  und  beschleunigt  In  Bern  ist  dasselbe  noch  aus- 
drücklicher geschehen,  in  l.  in  dort  die  öffentliche  Meinung  immer  ener- 
gischer die  Untersuchung  der  VVohnungsverliältnissc  fnnierte,  welche  vom 
Gcmeinderrtte  entgegen  dem  Antrag  der  Polizeidirekiion  und  Sanitats- 
.  koininission  auf  die  lange  Bank  geschoben  werden  wollte.  In  Aarau 
machte  die  Aibeilerunion  durch  Zuschrift  vom  15.  Mai  iSqö  die  An- 
regung „es  niui  lile  durch  die  stadtlsclie  Behörde  eine  Wuhnungsenquete 
veranstaltet  mid  zu  diesem  Behuf  Erhebungen  über  die  Wohnungen  der 
Gemeinde  und  insbesondere  darüber  gemacht  werden,  ob  and  in  wie 
weit  solche  den  hygieinischen  Anforderungen,  dem  Bedürfnis  von  Licht 
und  Raum  etc.  entsprechen,  wobei  es  sich  auch  empfehlen  dürfte,  kon- 
statieren  20  lassen,  ob  nicht  bei  vielen  Wohnungen  ein  Mifsverhältnis 
zwischen  den  Mieteinsen  und  der  Qualität  der  Wohnräume  bestehe". ') 
In  Solotliurn  gelangte  der  Gnitlivcrein  an  den  Einwolmergemeinderat 
mit  dem  (»csuch  um  Vornahme  einer  Wohnungsen(|Uete. 

In  Luzern  gab  den  eisten  Anstofs  7m  Wohnungserhebung,  die  von 
der  Schweiz,  gemeinnützigen  (n  seiisi  haft  \  ersuc  hte  Durchfulirung  einer 
Erhebung  über  die  Wohnverhaltnisse  der  unbciuittclten  Klassen.  "-) 

Die  erwähnte  Erhebung  der  Schweiz,  gemeinnützigen  Gesellschaft, 
welche  die  Kommission  für  Hygieine  im  Jahre  ZS95  begann,  hat  noch 
ein  schlimmeres  Schicksal  erfahren,  als  wir  derselben  voraussagten. ")  Wir 
sweifelten  von  Anfong  am  Erfolge  dieser  Untersuchung  und  glaubten 
nicht,  dafs  diescll^e  die  gemeinnützige  Gesellschaft  in  die  Lage  versetzen 
werde,  ihre  Mithilfe  auf  dem  Gebiete  der  Wohnungsfrage  anzubieten. 
Doch  hofften  wir,  dafs  wenigstens  das  eingegangene  Material  richtig  ver- 
wertet werde.  Leider  ist  nicht  einmal  das  geschehen.  Fabrikinspektor 
Dr.  Schuler  hatte  keine  Zeit,  das  sehr  lückenhafte  aber  zum  Teil  recht 
intercs-sante  Material,  welches  der  von  ihm  geleiteten  Kommission  für 
Hygieine  zugegangen  war,  selber  zu  verarbeiten.  Er  leitete  diisselbe  an 
die  Gesellschaft  mit  dem  Bemerken  weiter,  dafs  daraus  kein  Bild  ftir 


')  RccbeuclMflsbericbt  des  Gcmdiiderales  ttber  die  Geniciiide<Verwalta]ig  der 
Stadt  Aaran  f&r  1896.  Aanui  (Bndidnickcrd  tob  H.  R.  SaoerUadcr  u.  Cie.)  i897>  i^-  >3* 

*)  Die  Wohnungsenqu£te  in  der  Stadt  Lnaera  vom  lo.  Mai  bis  3.  Juli  1897. 
Im  Aalltagtt  des  Stadtrates  bearbeitet  von  Heinrich  Pietscker.  Lusem  (Bndi* 
dmckerei  H.  Keller)  1898.   S.  1. 

*)  Die  Wohanngseiiqolten  m  der  Schweis.  Arcbiv  Ar  sodale  Gesetzgebung 
n.  Statistik.  HerMMsegeben  von  Dr.  Heinrich-Braaii.   Bedin  1896.  S.  6iOb 


686 


Mis/cHl-ii. 


die  ganze  Schweiz  sondern  nur  recht  wertvolle  Einzelbilder  zu  gewinnen 
seien.  Wahrscheinlich  hat  man  aber  auch  auf  die  Gewinnung  dieser 
Einzelbilder  verzichtet.  Wenigstens  ist  seitdem  nie  mehr  etwas  Ober 
diese  Elrhebung  in  die  Oeifentlichkeit  gedrungen. 

Als  Ersatz  für  diese  \Vohnungserliel)ung,  welche  eine  möglichst 
j^ründliche  Kenntnis  aller  auf  dem  Gebiete  des  Wohnungswesens  in  Fra^^e 
kommenden  \'erhältnisse  im  ganzen  Schueiicrland  sich  als  Ziel  gesetzt 
hat,  sowit'  als  uiltkonunene  Kri^änzunjr  zu  den  wirklich  durch^etührten 
\Vohnunu:icn<iucten ,  kann  eine  Frhebun^'  tk-r  cidi;en()ssischen  I'abrik- 
inspektoren  und  eme  solche  des  Sekretärs  des  schweizerischen  Ge- 
werbevereins ^)  betrachtet  werden. 

I^e  Anlage  der  genannten  stidtischoi  Erhebungoi  ist  ohne  Aus- 
nahme wesentlich  von  der  Baseler  Wohnungsenqudte  beeinfluist  worden. 
Die  dortigen  ErhebungsFormulare  dienten  durchweg  zum  Muster,  das 
an  einigen  Orten  ergänzt  und  erweitert,  an  anderen  noch  wesentlich  be- 
schnitten wurde. 

Die  Aufiirbeitung  des  Materials  wurde  meistens  durch  städtische 
Beamte,  die  wissenschaftliche  Darstellung  desselljcn  durch  Fachleute  be- 
sorgt. Dies  mochte  da  ohne  besonders  schlimme  Folgen  bleiben,  wo 
der  zur  wissenschaftlichen  Darstellung  berufene  Fachmann  die  Aufarbei- 
tung zu  leiten  und  zu  überwachen  in  der  Lage  war.  Wurde  aber  dem- 
selben das  technisch  aufgearbeitete  Material  ohne  weiteres  zugestellt,  so 
mufste  er  sich  um  so  mehr  gebunden  und  beengt  fühlen,  wenn  er,  wie 
in  den  allermeisten  Fällen,  der  Anlage  der  Erhebung  völlig  femgestanden 
war.  Einzig  Bern  und  Zttrich  machen  hievon  eine  Ausnahme.  Dort 
wurde  die  Aufarbeitung  des  Materials  unter  Leitung  des  Bearbeiters  der 
Wohnungserhebtuig  ausgeführt,  hier  war  Anlage  und  Bearbeitung  der 
Enquete  dem  städtischen  statistischen  Bureau  als  Aufgabe  überwiesen. 

Nicht  zuletzt  infolge  dieser  Zersplitterung  hat  die  \'ollcndung  dieser 
Erhebungen  länger  auf  sich  warten  lassen,  als  nach  den  Erfahnmgen 
von  Baselstadt  vorgesehen  war.  Dort  waren  von  der  Vornalime  der 
Erhebung  bis  zur  Publikation  der  Bearbeitung  ungefähr  zwei  Jahre  ver- 
strichen. In  Lausaime  genügte  ebenfalls  eine  zweijährige  Frist  hierfür. 
Luzcrn,  welches  wie  Lausanne  Erhebung  samt  Bearbeitung  ziemlich 
ängstlich  dem  Baal«  Vorbild  anzupassen  botrebt  war,  kam  damit  noch 


Die  FabrikwohabSuser  ia  der  Schweis.  Nadi  den  Erbehungea  der  eid- 
genössischen Fabrikinspektoren  bearbeitet  von  Dr.  F.  Schüler,  Inspdctor,  Dr. 
H.  Wegmann,  Adjunkt,  lageoieur  W.  Wilhelm,  Aasisteat  Zeitschrift  fOr 
schweizerische  Statistik.   Jahrgang  1896  S.  333  fr. 

•)  Statistik  über  die  BauthKtigkcit  in  den  schweizerischen  Gemeinden  mit  mehr 
ah  10000  F.inwohticin  im  I)c/.L-miium  1SS9 — 1S9S.  Neunzehnter  Jahresbericht  des 
schweizcrischcu  Gcvverbevereins.    Bern  (Buchdruckerei  BUcbler  u.  Co.)  1899  S.  41  ff. 


L-iyui^L.j  cy  Google 


Emil  Huf  mann,  Die  Ergcbnisüc  der  &cliweizcrisclicn  Wobnungsenquetcn.  68/ 

ia  kürzerer  Zeit  zu  Ende.  Bern  benötigte  etwas  mehr  als  3  Jahre,  bis 
die  umfangreiche  Publikation  seiner  Wohnungserhebung  ^)  erscheinen 
konnte  und  darf  der  Vorwurf  gegen  Behörden  und  Presse  nicht  erhoben 
werden,  irgend  ein  Mittel  unversucht  gelassen  m  haben,  den  Bearbeiter 

zum  Kilmarscli  zu  nötigen. 

Zürich,  welches  seine  Wohnungserhebung  in  der  Zeit  vom  15.  Ok- 
tober bis  21.  November  1896  unternahm,  wälirend  die  anderen  Städte 
'die  Aufnahme  mehr  in  die  Zeit  pegen  den  Frühling  vcrlcfrten,  hat  bei 
der  \'i'r<)ftVntlicl»uiig  der  Wohnungs-  und  (jrundstiickserhebung  den  Weg 
ein;:esi  Iii. igen,  die  Krtjebnisse  unmittelbar  nncli  ihrer  Ferti;^stelhmg  al)- 
schniitweise,  zunaciist  ohne  erläuternden  Text  der  Ueticnllitiikcit  mit- 
zuteilen. ^  Winterthur ,  welches  die  Wohnungsuntersuchung  im  Marz 
1896  und  St.  Gallen^),  welche  dieselbe  im  April  1897  vornahm^  haben 
bis  jetzt  nur  vorläufige  Ergebnisse  publiziert.  Doch  ist  die  Verarbeitung 
des  Zahlenmaterials  an  beiden  Orten  dem  Bearbeiter  der  Bemer  Woh> 
nungscrhebung  iil)ertiairen  worden  und  steht  die  Vollendung  beider 
F.n([ueten  wohl  bald  in  Aussicht.  Wenigstens  meldet  der  jüngste  Bericht 
der  Gesinidheitskonimission  der  Statlt  St.  Gallen,  „dafs  die  X'erarbeitung 
des  gesammelten  Zahlenmaterials  der  W'ohnungsenciuete  ihren  ungestörten 
Fortgatig  nehme  und  unter  LeitunL,-^  des  Statistikers  Carl  Landolt  aus 
rJern  unter  Aufsicht  der  Poli/eidiicktion  durch  Dr.  Hans  Meyer  und 
einen  Poli/.eigehulfen  bereits  bis  zur  Aufstellung  der  statistischen  Ta- 
bellen vorgeschritten  sei".  In  Winterthur  Uifst  der  endgültige  Abschluis 
der  Arbeit  wohl  noch  etwas  länger  auf  sich  warten,  weil  der  anßbiglich 
mit  der  .Bearbeitung  Betraute,  sich  als  unfähig  erwies  und  durch  den 
eben  genannten  Statistiker  ersetzt  werden  mu&te,  nachdem  die  Arbeit 
mehrere  Jahre  sozu.sagen  auf  dem  gleichen  Flecke  stehen  geblieben  war.*) 
Aarau  liat  die  Ergebnisse  seiner  Wohnungserhebung  zusammengestellt 
und  das  Material  dem  mit  Arbeit  mancherlei  Art  l>elasteten  Kantons- 
statistiker am  2S.  Mai  1897  mit  dein  Ersuchen  überniiltcU,  die  wesent- 
lichen  Krgcbnisse  in  geeigneter    Weise  zur  üti'entlichca  Kenntnis  zu 


*)  Die  ^\  uhiiuiigscrhebuiig  iu  der  Stadt  Bcru  vom   17.  Februar  bis  11.  März 

1896.  Im  Auftrage  der  stÄdti^ben  Hehordea  bearbeitet  von  Carl  Laodolt.  Bern 
Dmck  v.  Kommissioiuverlas  YonNeukomm  u.  Zimmermano  j  1S99.  LV  u.  712  Seiten. 

')  Mitteilungeu  aus  den  Ergebnissen  der  Wohnungs-  und  Gnmdstttckierhebuag 
in  der  Stadt  Zttrich  im  Oktober/November  1896.  Heransgegeben  vom  statistischen 
Amt  der  Stadt  Zürich.  Kr.  i.  August  1898.  Vm  n.  34  Seiten.  —  Nr.  2,  Juli  1899. 
IV  tt.  88  Seiten.   Nr.  3.   3.  April  1900,  III  u.  40  Seiten. 

*)  Berichte  n.  Jabresreclinnngen  der  politischen  Gemeinde  St.  Gallen  vom  i.  Juli 
1897  hl*  30,  Juni  1898.  St.  Gallen  (Buchdmckerei  Victor  Schmid;  1898.  S.  17. 

*)  Geschlftsberichte  der  Verwaltungsbehörden  der  Stadt  Winterthur  vom  Jahre 

1897.  Winterthur  (Bucbdruckerei  Geschwister  Ziegler)  1898.   S.  149. 


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688 


MiäzclU-n. 


bringen.')  Dieser  Wunsch  wird  um  so  länger  unerfüllt  bleiben,  als  die 
seiner  IZeit  von  der  Polizei  durcfagefährte  Erhebung  ziemlich  mangelhaft 
und  mit  zahlreichen  Irrtümern  behaftet  sein  soll. 

Freiburg,  welches  mit  seiner  im  November  1898  begonnenen  und 

in  zwei  Quartieren  dtiirhfiefuhrten  W'ohntmgscnciuetc  mehr  j>raktische 
Zwecke  verfoli^te,  luu  auf  eine  Veröffenthchunfj:  der  ..Rapporte"  ver- 
zichtet. Ks  he^aui^te  sich  damit,  dafs  die  Inspektoren  ihre  Üeobach- 
tun;:en  über  sanituiische  Zustaiule  etc.  der  Wohnungspulizei  mitteilten 
und  mit  oder  ohoe  Verfügung  derselben  für  Abhilfe  sorgten. 

Solothum  ^  mit  der  Bearbeitung  seiner  Wohnungsenquete  ebenfalls 
noch  nicht  zu  Ende  gekommen  und  scheint  dieselbe  noch  geraume  Zeit 
in  Anspruch  zu  nehmen.^) 

Die  Kosten  dieser  Erhebungen  haben  das  gemeinsam,  dafs  sie  die 
vorausgesehenen  Beträge  meist  in  erkleckh'chem  Mafse  überschritten. 
An  dieser  Ueberschreitung  der  budgelierten  Summen  trägt  wohl  der 
Umstand  die  Hatiiits<hiild.  dafs  die  cii^entriinlichen  Verhältnisse  der 
Basler  W  ohnungsencpiete  und  deren  unvollständig  wiedcrgci,'ebene  Kosten- 
note zu  wenig  gewürdigt  wurden.  Nach  liuclur  beliefen  sich  die  Kr- 
hebungskoslen  in  Basel  auf  6087,25  Frs.  und  die  Hcrsiellung>ko>trn  des 
schwarzen  Buchs  auf  374  Frs.,  während  „die  gesamten  Konten  der 
statistischen  Aufbereitung  (Vorarbeiten,  Tabellierung  und  gröbere  kal- 
kulatorische Arbeiten  zusammen)  4342,75  Frs.  betrugen. 

Nach  dem  Berichte  des  Regierungsrates  *}  setzen  sich  die  i63o8»75  Frs. 
betragenden  Kosten  der  Wohnungsenquite  m  Basel  folgendermafsen  zu- 
sammen : 

Kosten  der  statistischen  Bearbeitung  .   .   5300  Frs.  —  Cts. 
Kosten  der  Bearbeitnng  durch  HilfskrSfte  4500   „  — 
Far  kleinere  Auslagen  des  Herrn  Bticher     243    „   75  „ 

Dnickko>,trn  3166    „   —  „ 

Honorar  des  Verfiissers  4000    „   —  „ 

in  Luzern  überschritten  schon  die  Kosten  der  Wohnungsauiuatnue 
den  budgetierten  Kredit  von  6000  Frs.  um  601,8  Frs.  und  erforderte  die 
gesamte  Erhebung  18551,45  Frs.  Die  Lausanner  Enquete,  ftir  welche 
ursprünglich  ein  Kredit  von  5000  Frs.  bewilligt  worden  war,  hatte  schon 
Ende  1894  einen  Betrag  von  13533  Frs.  erfordert,  obwohl  die  statts* 


*)  Recbenscbaftsbericbt  des  Gemcindemtes  Uber  die  Geraeindevcnraltnng  der 
Stadt  Aaratt  Ox  1897.   Aaran  (Buchdmckerel  v.  H.  R.  Sauerlinder  n.  Cie.)  1898  S.  x  $  f. 
*}  Mitteilung  des  Stadtscbrribers  von  Solothnm. 

'1  57.  Verwaltaagsbcricht  des  Regienmgsrates  n.  44.  Bericht  des  A]>]>ellation»- 
(icrichts  über  die  Ju<>tizTerwaltang  nun  Jahre  1897  an  den  Grofsen  Rat  des  Kantons 
Basel-Sudt.    VIIL    S.  37. 


Emil  ilulinunn,         llrjjclmis.'jc  der  scliwci/crisclicu  \Volinung.>cuqueUa.  689 

tischen  Arbeiten  erst  im  August  1895  vollendet  wmden.  Die  Zürcher 
Erhebung  hat  Ende  des  vorigen  Jahres  den  bewilligten  Kredit  von 
30  000  Frs.  bereits  um  1 5  000  Frs.  Überschritten.  Die  Kosten  der 
fiemer  WohnungsenquSte  stellen  sich  nach  Abschlufs  sämtlicher  Arbeiten 
wie  folgt: 

GewimniDg  des  statistisebcn  Matcriak  (Erhebung)  5760  Fn.  —  Cts. 

Bearbettniic: 

Für  BesoUungen    ....   25  012  Frs.  10  Cts. 
„   Bareaiiaa»gaben  .   .   .       656    „   85  „ 
„   Dmckarbciten  ....      1014    ,.  45 


26683  Fn.  40  Cts.. 


Pttblikation : 

Für  den  Druck  des  Werkes  Ii  520  Fr>  —  Cts. 

..    ihr  Pläne   1208  ..    65  „ 

„    Buchbindcrarbeiten  .    .  632  50 


13  361  Fr>.  15  Cts. 

Total  der  Konten  für  die  Wobuuagäcnquete     ....   45  Ö04  Fr».  55  Cts. 

Die  Kosten  der  Erhebungen  betragen  per  Wohnhaus  in: 

Lnsem     4,14  Frs. 
Basel  1,65 
Bern  1,4 

Als  Ursache  dieser  Differenz  mag  angeführt  werden,  dafs  Luzern 
bei  der  Wohinin[i'iaufnahme  etwas  zw  kornpli/iert  verfahren  ist,  wie 
übrigens  schon  aus  dt-r  Zeit,  welche  hierfür  gel>raurht  wurde,  hervorgeben 
dürfte.    Die  DurchlilhruDg  der  Enqueten  dauerte  in: 

HHuser  Wohnungen 

Basel  vom  I. — 21.  Februar  iSS'i  und  erstreckte  sich  auf  3618    u.  13377 

Bern  vom  17.  Februar  bis  11.  M.=irz  1S96    „  „  „     „    3394  10679 

Lausunne  vom  7.  März  bis  3.  A]iril  iS94    „  „  „     „     lOOi  73'9 

Liuem  vom  12.  Mai  bis  3,  Juli  1897       ,.  ..  ,.     ,.    1586  4*^'38 

Zttrich  „  15.  Okt.  bb  21.  Not.  1896  „  „  „  „  8692  „  2903? 
Wintertbur*)  vom  9.-26.  MSn  1896  „  „  „  „  1745  .»  4345 
St. Gallen*) vom 3 i.Itttrz bis April  1897  u         •>         n    n  f  6871 

Wesentlich  anders  gestaltet  sich  das  Bild,  wenn  nian  die  Gesamt- 


'   Goschärtsberichte  der  Verwaltungsbehörden  der  Stadt  Winterthiur  vom  Jahre 
1896.    VVinterthur  1897.    S.  98. 

Bericht  u.  Jahresrechnungen  der  politischen  Gemeinde  St.  Gallen  vom  I.  Jttli 
1897  bi«  30-  Juni  iSoS.    St.  Gallen  1898.    S.  17. 

Archiv  Iliv  «ot.  Geseugebuns  u.  SutistiK.  XV.  45 


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690 


Miszellen. 


kosten  dieser  Wobnongsenquöten  ins  Auge  fa&t  Diesdben  betrugen  per 
Haus  in: 

Bern         13,33  Fn. 
Lazem       1 1*64  „ 
Basel  4,41  „ 

Der  niedrige  Betrag,  weldier  in  Basel  fiir  die  Wohnungsenqu^ 

aufgewendet  werden  mulste,  erklärt  sich  vor  allem  daraus,  da&  eine  An> 
zahl  Arbeiten  durch  Studenten  ausgeführt  wurde,  welche  etwas  niedriger 
entlohnt  werden  konnten  als  Arbeiter,  die  auf  ihren  Arbeitsverdienst  an- 
^'ewiesen  sind.  D.i/u  kommt  in  zweiter  Linie  der  Umstand,  dafs  der 
Bearbeiter  der  Enijuete  zugleii  li  als  Professor  an  der  Basier  Hochschule 
lehrte,  wahrend  in  Bern  ein  Statistiker  und  in  Lu/ern  ein  Kavallerie- 
otftzier  der  Bearbeitung  der  Entjuete  sozusagen  bcrufsmäfsig  ihre  ganze 
Zeit  zu  widmen  batten.  Femer  darf  nicbt  vergessen  werden,  dafs  in 
Basel  die  Näbe  der  Volkszählung  vom  i.  Dezember  1888  die  Arbeit 
etwas  erleichterte  und  die  der  Wohnungsenquite  unterworfenen  Häuser 
an  sich  nicht  einen  Gegenstand  der  Aufnahme  bildeten.  J£benso  muß 
darauf  hingewiesen  werden,  dafs  namentlic!)  io  Bern  die  Bearbeitung 
eine  viel  einiäf>lirhcre  gewesen  ist  als  in  Basel,  was  sich  unter  anderein 
schon  rein  äufscilich  aus  dem  ungefähr  doppelt  so  grofsen  Umfang  der 
Berner  V^eröiVetulichung  der  \V()hnungsenc|uete  ersieht,  wahrend  die 
Lausanne!  und  Luzerner  Frliebiuig  auch  in  dieser  Bezielmng  hinter 
ihrem  Basler  Vorbild  etwas  /uru(  kgeblirben  sind. 

Diese  Verschiedenheit  in  der  Durchdringung  des  Unuaterials,  .>u>vie 
die  ungleichartige  IkschatTenheit  des  letzteren  selbst  setzen  einer  ver- 
gleichenden Zusammenstellung  der  Ergebnisse  der  schweizerischen  Woh> 
nungsenquöten  und  einer  kritischen  Würdigung  der  Methode  und  des 
praktischen  Erfolges  derselben  Schwierigkeiten  und  gewisse  Schranken 
entgegen.  Zudem  möchte  man  versucht  sein,  die  Verallgemeinerung 
des  aus  einer  solchen  Vergleichung  gewonnenen  BÜiK  ^  fiir  unzulässig  zu 
halten  wegen  des  allzugeringen  Umfanges  des  Vergleichsniaterials.  Man 
möchte  fra>;en,  was  bedci.Hct  die  Zahl  der  rliiK  h  die  WohnungseiiMuC-ten 
untersuchtfii  Hauser  Lregenuber  der  srhwei/erischen  (iesamtzahl  derselben? 

Wurden  ja  im  Jahre  1888  400  121  bewohnte  Wohnhäuser  mit  im 
ganzen  f>37'^,P  H  iushaltuni:en  und  2917  754  Emwohneni  gezahlt.  Die 
\Voiinungseni|ueien  aber  beziehen  sich  auf; 


*)  Schweueriscbe  Statistik.   84.  Liefenmg.   Die  Ergebnisse  der  eidgenöuischea 

Volkszählung  vom  1.  Di  zcmber  1888.  I.  Bd.  Zahl  di  r  Häuser,  der  Haiishaltangcn, 
der  Gesamtbevulkcruiijj,  letztere  UDtcrschicden  nach  den  IleinuUsverhältnissrn.  dem 
Geburtsort,  nacli  der  Konfession  und  der  Muttersprache.  Vom  statistischen  Bureau 
des  cidgfn. wsischen  Departements  des  Innern.  Bern.  Art.  Institut  OrcU  FUssU  in 
Zürich.    i^'j2.    Ü.  39. 


uiyuiiiL,.. 


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Emil  HofmanDi  Die  Ergebnisse  der  schwcizcrisciien  Wohnungsenqu^cn. 


Häui«r 

llaushaliungen 

Eiiiwoliiipr 

in  B«sel 

3618 

58  Ü07 

„  LftUMnae 

asii 

36834 

„  Lnsero 

1315 

23098 

yf  Bern 

3551 

52493 

„  Zürich 

8692 

138  4O8 

„  St.  GallMi 

2272 

30520 

„  WinterÜMur 

1745 

2oSTr 

„  Aarau 

778 

• 

7273 

Dazu  kommen  die  untersuchten  3026  FabrikwohnhäuseTf  wovon  aber 
'  ungefähr  die  Hälfte  schon  in  (len  genannten  Wohnungsenquöten  mit  ein- 
bezogen sein  dürfte  mul    He  von  der  Stati'^tik  des  schweizerischen  Ge- 
werbevereinssekretärs  berührten  Städte  ohne  Wohnungsenqu6ten : 


mit  Häitsem 

Einwohnern 

Genf 

1 0  500 

112750 

La  Chaux-de-Fonds  1826 

32053 

Ncuchätel 

1532 

20177 

Biel 

1350 

10027 

l-ribourg 

1185 

Herisau 

»504 

1 5  320 

Sduffhansen 

1388 

13021 

Le  Locic 

821 

12532 

Cuwifs  ist  diese  Zahl  gering  im  Verhältnis  zur  Cicsamtzahl  der 
Wohnhau>cr  in  der  Schwei/.  Allein,  wenn  man  die  Stäthc  allein  ins 
Auge  fafst,  so  durfte  man  wenigstens  geuugcnü  Anhaltspunkte  zur  Kenn- 
zeichnung der  städtischen  Wohnungsverhältntsse  in  der  Schweiz  besitzen, 
die  im  nachstehoiden  hinsichtlich  der  allgemeinen  Wohnungsdichti|^it, 
der  Wohnungsmängel,  der  Eigentumsverhältnisse»  der  Mietpreise,  der  bau- 
lichen und  populationistischen  Entwicklutig  sowie  der  Folgen  der  Woh- 
nungsenqu^en  untersucht  werden  sollen. 

I.  Die  Wohnungsdichtigkeit 

Die  Behausungsziffer  betrug 


in 

Lau>annc 

iS,4  Froz. 

l  lucrn 

17.5 

Zürich 

15 

•» 

Bern 

M.9  „ 

!f 

Basel 

«3.6  „ 

)* 

St.  Gallen 

13,4  » 

*• 

Winterthnr 

11*9  » 

» 

Aaran 

9.3 

45* 


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^2  Miszellen. 

Selbstvdstäiullirh  winl  (lie>f  r>ehau;>uiit;s/.it1er  wesentlich  davon  1>ecin- 
rtiifst,  ob  alle  /um  nornialcn  Bewohnen  ht^stiinnUen  Wohnhäuser  und  die 
in  ihnen  wohnenden  Bewohner  hibetracht  gebogen  oder  ob  blol's  die 
normal  und  vollständig  bewohnten  Wohnhäuser  mit  der  Zahl  ihrer  Be- 
wohner berücksichtigt  werden. 

Die  Bemer  Wohnungsenqudte  hält  daiUr,  dafs  tur  Feststellung  der 
thatsächlichen  Wohnungsdichtigkeit  das  letztere  Verfahren  das  allein  rieh- 
tige  sei.  Bücher  I  n  iie  unbewohnten  Häuser  weggelassen  und  zwischen 
normal  und  anormal  bewohnten  Gebäuden,  d.  h.  Privathäusern  und  An- 
staltsi^ebäuderj  eint-u  Unterschied  geniaclu.  Die  Luzemer  Krhebung 
scheidet  271  (Ic^audo  oder  17  Pro/.,  aller  aufi^enoinmenen  (leltaude  für 
die  cigentlirhe  staii-iische  Berechnung  aus,  weil  diese  entweder  leer 
stehen  oder  teils  (Jeschuflsgebäude  teils  öffentliche  Gebäude  sind,  welche 
nicht  als  eigentliche  Wohnhäuser  sich  qualifizieren.  Die  Folgen  dieser 
ungleichartigen  Auflassung  und  Behandlung  zeigen  sich  unter  anderem 
darin,  dafs  z.  B.  in  Basel  die  Behausungszifier  13,6,  wenn  die  Anstalts- 
gebäude mit  einbezogen  sind,  und  15,3  beträgt,  wenn  blofe  die  bewohnten 
Privathäuser  inbetracht  gezogen  werden.  In  Bern  macht  sich  diese 
Differenz  ganz  in  derselben  Weise  bemerkbar.  Die  normal  und  voU- 
stÄndii:  bewohnten  und  vollständig  untersuchten  Wohnhäuser  zeigen  eine 
dur»  lischniitliche  Bewohnung  von  15,2  Personen,  während  die  unter- 
suchten Wohnhäuser  überhaupt  eine  Behausungsziflfer  von  14,9  Be- 
wohnern aufweisen. 

Noch  deutlicher  treten  die  Folgen  verschiedener  Auffassung  zu 
Tage,  wenn  man  die  Ergebnisse  der  Statistik  des  Sekretärs  des  Schwei* 
zerischen  Gewerbevereins  mit  denjenigen  der  Wohnungsenqudten  ins 
Auge  fafst,  wie  aus  folgender  Zusammenstellung  ersichtlich  ist: 


Bchftumngsaffer 

Behansongszifl'er 

nach  der 

nach  der 

Wobnongsenquite 

Statistik  drs  Owerbevcreiiis 

Zürich 

15 

16,8 

Basel 

12,6 

Genr 

«0,7 

Bern 

14.9 

12,8 

Lausanne 

14,6 

St.  Oallcn 

16 

l.a  Ciiaux  de 

Fouds  — 

«7,3 

i.uzern 

«7,5 

«3.1 

Wiaterthar 

»»,9 

11,6 

NettchAtel 

12,7 

Biel 

14.7 

Fn-iburp 

»3.6 

llcn.suu 

10.2 

Scbaffhaiisen 

9,2 

Le  Locle 

14.4 

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Eiuil  llofniann,  iJic  Ergcbni^c  der  schweizerischen  \Vuhnung!>L-nquclen. 


Allerdings  liegt  bei  diesen  Zahlen  die  Versuchung  nahe,  die  Re- 
duktion der  BehausungszifTar  auf  die  zwischen  dem  Zeitpunkt  der  W<^o 
Dungsenqudte  und  demjenigen  der  Statistik  des  Gewerbevereins  aus* 
geführten  Neubauten  und  Häusererweiterungen  zurückzuführen.  Altein 
selbst  in  Lu/ern,  wo  diese  Diffcrin^  ntn  gröfsten  ist,  hat  die  Bautliritig- 
keit  larij^e  nicht  ein  so  rasches  Tempo  eingenommen,  dafs  dadurch  die 
Reduktion  der  Behausungszifier  nur  einigermalsen  motiviert  werden 
konnte. 

Unter  diesem  (icsiclitswinkcl  bttinchtet,  lassen  die  Behaiisungs- 
zitTern  von  Chaux  de  Fonds  mit  17,3,  M'U  liiel  mit  14,7  und  von  Lui.le 
mit  14,4  darauf  schliefsen,  dafs  dun  die  \Volmungsverhältni!>se  zum 
mindesten  die  Vornahme  einer  Wohnungserhebung  vollauf  rechtfertigten. 
Dieselbe  Forderung  ergiebt  sich  auch  aus  der  Thatsache,  da&  an  den 
genannten  Orten  in  dem  Zeiträume  von  1889 — 1898  die  prozentuale 
Vermehrung  der  Wohnhäuser  mit  derjenigen  der  Bevölkerung  sozusagen 
ziemlich  gleichmäfsig  Schritt  ^'ehalten  Iku,  wahrend  in  Bern,  Basel  und 
Luzern  die  prozentuale  Vermehnuiu  der  Wohnhäuser  diejenige  der  I>e- 
völkeruii^'  weit  übertroffen  hat.  Die  durchschniltlir.he  Zunahme  der 
Wohnhauser  der  genannten  15  Ortschaften  itn  erwähnten  Zeitraum  be- 
trägt 32, Pro/-,  diejenifie  der  Wolinbev olkerung  32,0  Pro/,  l'iesem 
Durchschnitt  stein  Lausanne  mit  emer  V'ermeiirung  der  Wohnhau.ser  um 
33,6  Proz.  und  einer  Bevölkerungszunahme  um  31,3  Proz.  am  nächsten. 
Weichet  Gegensätze  treten  in  dieser  Reihe  zu  Tage.  Bern  erstellte 
51,5  Proz.  Wohnhäuser  mehr  für  nur  19,4  Proz.  Wohnbevölkerungs* 
zunähme.  In  Herisau  entspricht  einer  Wohnbevölkerungszunahme  von 
18,5  Proz.  eine  Hauservermehrung  von  1,5  Proz.  Und  dennoch  ist  die 
durchschnittliche  Behausungsdichtigkeit  in  Bern  noch  bedeutend  gröfser 
als  in  Herisau. 

Uebrigeii'^  ^enMal^  die  P.chausungs/ifl'er  kaum  ein  richtiges  Hild  von 
der  Ik"' olkeruiiusdii  hügkeit  in  den  Wohnhäusern  zu  geben.  Dies  wird 
erst  ein  X'ergleich  der  P>ehausuuL;>/ilVer  der  Wohnhäuser  mit  ihrer  ab- 
soluten Wohnungsgröfse  thun.  Wir  verzichten  darum  auf  die  Darstellung 
der  BehausungszifTer  nach  Eigentümer-,  Miet>  imd  Freiwohnungshäusem 
und  beschränken  uns  auf  die  Bemerkung,  dafs  im  allgemeinen  unsere 
gröfseren  Schweizerstädte  die  Behausungszifferverhältnisse  der  mittel» 
deutschen  Städte  aufweisen.  Ebenso  verzichten  wir  darauf,  die  Zahl  der 
Bewohner  auf  die  Zahl  der  Wohnungen  oder  die  Zahl  der  Zimmer  zu- 
rückzubeziehen  und  wenden  uns  der  Ermittelung  des  kubischen  Inhalts 
der  eigentlichen  Wohnräume  imd  der  Berechnung  des  Anteils  am  Luft- 
raum zu,  welcher  auf  den  Kopf  i  nttallt. 

Erschwert  wiril  die  Vergleichung  dadurch,  dafs  Wa^cI  alle  Einfamilien- 
häuser weggelassen  hat  und  der  Kubikraura  der  Kuchen  aufser  Üetraciit 
fiel.  Unter  dieser  Einschränkung  beträgt  der  durchschnittliche  Raum* 
gehalt  aller  Wohnungen  in: 


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694 


Miszcllen. 


Bern 

Zürich 
Bax-1 


Laxem 


183  cbm 

164  » 

164  „ 

127  ,. 


In  den  MietuDlimui^cn  ist. der  Raiitncehalt  bedeulend  gerinffer.  Der- 
selbe betrai^t  in  iiascl  loCt  rbin,  in  licrn  147  »  hm  und  in  Luzern  164  (I)ni. 
Die  Berner  £rliebung  geht  noch  weiter.  Sie  kombiniert  den  Raumgehait 
der  Wohnangen  mit  Einschlufs  der  Küchen  mit.  der  sozialen  Gruppen - 
Zugehörigkeit.  Die  kleinsten  Wohnungen  haben  die  Bauarbeiter  mid  die 
.  Arbeiter  in  Verkehrsanstalten.  Ihre  Wohnungen  sind  durchschnittlich 
81  cbm  bezw.  90  cbm  grofs.  Die  gröfsten  Wohnungen  treffen  wir  bei 
Bierbrauern  und  Grofsgewerbemeistem,  Grofshändlern  und  Bankiers  u.  dgL, 
Fürsprechern,  .'\erzten,  Ingenieuren,  Notaren.  Ihre  Wohnungen  enthalten 
dur<'h'^(  imittlic  Ii  533  bc/.\v.  40S  bczvv.  392  cbm.  Der  durchschnittlii  he 
Kubikraum  der  \S  ohnungen  <ler  mittleren  sozialen  Schicht  ist  genau  noch 
einmal  so  grofs  als  derjenige  der  W  oiinun^rn  der  unteren  sozialen  Schicht. 
Die  Wohnungen  der  oberen  sozialen  Schicht  sind  etwa  um  ein  \'iertel 
gröfser  als  diejenigen  der  mittleren  und  beinahe  ums  Dreifache  gröfser 
als  diejenigen  der  unteren  sozialen  Schicht. 

Auf  einen  Bewohner  entfallen  durchschnittlich  in: 


Lttzem  weist  denselben  Luftraum  auf  wie  Bern  bei  den  Figen- 

tünierwohntmgen,  während  derselbe  bei  den  Mietwohnungen  33  cbm  be« 
trägt.  Diese  nicht  gerade  glanzenden  Verhältnisse  modifizieren  sich 
naturlich  innerhalb  der  emzelnen  sozialen  (inippen  und  Schichten  so 
wesentlich,  dafs  das  I>ild  unvollständig  uaie,  wenn  dasselbe  nicht  durch 
einen  Hinweis  Incrauf  ergänzt  würde.  So  kommen  in  Bern  in  2203 
Wohnungen  zu  einem  Zimmer  mit  6326  Bewohnern  durchschnittlich  14  cbm 
Luftraum  und  in  2803  Wohnungen  zu  zwei  Zimmern  mit  12041  Be- 
wohnern durchschnittlich  18  cbm  Luftraum.  In  Luzem  trifft  es  in 
1,8  Proz.  der  Wohnungen  auf  den  Kopf  blois  i — xo  cbm  Luftraum, 
in  11,4  Proz.  11 —ao  cbm.  In  Basel  trifft  das  erstere  Verhältnis  sogar 
bei  5,5  Proz.  der  Wohnungen  und  das  letztere  bei  30,5  Proz.  zu.  In 
Zürich  (titft  es  in  »,^  Prc»z.  der  Mietwohnungen  mit  4220  Bewohnern 
4^ — 10  <  bm  Luftraum  und  in  27,3  Proz.  nüt  36  924  Bewohnern  10  —  20  ("Inn. 
Nach  (kr  Krlielning  des  Fabrikiiis[it.'kttnats  scheinen  die  \*erhaltnisse  in 
den  l  abrikhaiwern  ungefäiir  ähnlic  h  zu  sein.  2,16  Wohnungen  gewahren 
pro  Kopi  einen  Gesamt-Kubikraum  von  4 — 10  cbm,  und  34,0  Proz. 
einen  solchen  von  10 — 20  cbm. 

'1  Mitif  ilunf,''  !!  aus  'J<  ti  I  .i  j^tIhüssi  ii  <1.  r  \\  < 'hnungs-  u.  ( iriincistiicksorhcbnng  in 
<lcr  .Sudt  Zürich.  ii<^rausge|;cbcn  v.  Statislibchcii  Amt  der. Sudt Zürich.  Juli  1S99.  i>. 54. 


Lausanne  37,4  «bm  Luftiaiim 
Bern        36      „  „ 
Zürich»)  33,a    „  „ 


L/'iyiki<_cCi  Ly 


Lmil  Hofmann,  Die  Lrgcbni^iic  der  !>chwcucri&chea  Wolmungseu^urlcn. 


IL  Wohnungsmängel. 


Neben  dem  zu  geringen  Luftraum  bestehen  noch  eine  ganze  Anzahl 

von  WohnuDgsmängeln.  Hier/u  f^ehört  vor  allem  das  Fehlen  einer  Küche 
für  eine  selbstandit;c  Haushaltung  oder  die  Kemit/nug  einer  solchen 
durch  mehrere  Haushaltungen.  Mit  vollem  Recht  bemerkt  Fabrikinspektor 
Dr.  Schuler  hierül»er  folgendes: 

..Wir  verlangen  für  jede  NVohnuiii^  nicht  nur  eine  Ruche  ul)erhau|jt 
zur  Benuizung,  sondern  eine  eigene  Küche.  Es  giebt  wohl  wenig  Arbeiter- 
frauen, die  unsere  Forderung  nicht  unterstützen.  Die  Küche  ist  ein 
RaunOf  dessen  Geheimnisse  man  nicht  gern  einem  Fremden  anvertraut 
Wollen  ja  unzählige  Fabrikarbeiter  nicht  anmal  im  gemeinsamen  £fs- 
Zimmer  ihr  mitgebrachtes  oder  zugetragenes  Essen  verzehren;  „niemand 
braucht  zu  wissen,  was  wir  essen,  wie  wir  leben'*.  Aber  die  Ktlche  ist 
auch  ein  Reich,  das  nur  eine  Herrscherin  haben  sollte;  tausend  Kleinig- 
keiten lassen  den  Krieg  entbrennen,  wenn  zwei  im  Regiment  sich  teilen 
sollen.  Das  Feuer  aber,  das  von  der  Küche  ausgeht,  von  den  Köchinnen 
entzündet  wird,  ergreift  rasch  das  ganze  Haus,  beide  l\amiben.  Kine 
Wohnung  mit  gemeinsamer  Ruche  ist  selten  oder  nie  ein  l)ehagli(  lirs  Heim." 

Deshalb  haben  die  meisten  Wohtumgserhebungen  aui  h  nat  h  dieser 
Seite  hin  mit  mehr  oder  weniger  Geschick  Aufschlufs  zu  geben  versucht 
Bebtehende  Tabelle  soll  über  diese  Verhältnisse  Aufschlufs  geben.  Es 
waren  Wohnungen 


Leider  findet  sich  derjenige  enttäuscht,  welcher  annimmt,  es  gebe 
in  den  neueren  Häusern  keine  Wohnungen  mehr  ohne  Küchen  oder 
mit  gemeinschaftlichen  Küchen.  Wenigstens  deutet  die  P)asler  F.rhcbung 
dies  durch  folgende  Worte  an:  „Angesichts  der  l'ebelstäude  dieser  im- 
provisierten Küchen  richtet  man  suchend  den  Ulick  nach  den  neuen 
Häusern,  welche  der  Vermehrung  der  Rüchen  Widerstand  entgegen- 
setzen. Aber  wenn  nur  dieser  Widerstand  auch  ein  Hindernis  abgäbe  flir 
die  Vennehrung  der  Wohnungen."  Die  Bemer  Wohnungsenquete  ist  dem 
Zusanmienhang  dieser  Verhältnisse  mit  dem  Alter  der  Häuser  noch  näher 
auf  die  Spur  gerückt  und  hat  gefunden,  dals  es  gerade  in  den  neuesten 
Häusern,  neben  denjenigen,  die  in  den  sechziger  und  siebziger  Jahren 
erbaut  wurden,  eine  ganze  Reihe  von  Wohnungen  ohne  oder  mit  ge- 
meinschaftlichen  Küchen  giebt 


ohne  KUche 

in  Aarau 


mit  gemeinsamer  KQche 


„  Basel  9,8  Proz. 

„  Bern  5,1  „ 

„  Lnzcjrn  a,4  „ 

„  Zürich  2,26  „ 

„  den  Fabrikhäusem  0,2  „ 


5  Proz. 
1.6  .. 
4t9  „ 


ff 


6q6  Mi.s/.tUcn. 

Der  bauliche  Zustand  der  Küchen  läfst  ebenfiills  oft  sehr  viel  ta 
wünschen  übrig.  Leider  ist  hier  durch  die  cinzekien  Wohnungserhebungen 
wiederum  so  verschieden  verfahren  worden«  dafs  die  Vergleichung  dieser 
Verhältnisse  nur  sehr  unvoUkcnnmen  möglich  ist.    Die  Basler  Erhebung 

Kumigt  sich,  in  den  S(  hlufsberichten  der  Erhebungsbearaten  auf  die 
wahrhaft  beklagenswerte  Beschaffenheit  der  Küchen  in  alten  Häusern  im 

allgemeinen  hinweisen  7\\  lassen.  Born  bezeichnet  als  K'irlicnmangel : 
FetirhticrVicit.  Dnnk<'lheit,  rnmo^'lichkeit  tler  Ventilation  und  l»,uiiich  un- 
befrietligendcn  Zustaiul.  Tiiter  diesetn  Gesichtswinkel  wurdi-n  2g,S  Proz. 
Wohnunfren  konstatiert,  deren  Kuchen  einen  oder  mehrere  Mängel  auf- 
weisen.   Davon  waren: 

22<j'j  Küclit-n  odi-r  33,3  Vtoz.  mit  1  Mangel 

511      „        „     5,2     „      „    2  Mängeln 

«07      «•        „     «,l     »     t,   3  11 

Ziirich,  das  merkwürdigerweise  nach  dieser  Seite  hin  nicht  besonders 
tief  eindringt  und  z.  B.  die  Krmittelung  des  Raimiinhahs  bei  Kuchen 
unterläfst,  notiert  unter  den  baulichen  und  sanitarischen  Mangeln  15S2  in- 
direkt beleuchtete  Küchen.  In  Basel  leiden  2990  Küchen  oder  36,6  Proz. 
der  untersuchten  Räume  und  in  Luxem  679  der  Küchen  oder  15,4  Pioz. 
unter  indirekter  Beleuchtung.  Luzem  ist  hierbei  nicht  stehen  geblieben. 
Dasselbe  liefs  auch  die  Mafsverhältnisse  der  Küchen  konstatiewn  und 
fand  dabei  29  Proz.  der  Küchen  mit  einem  Kubikinhalt  unter  20  cbm. 
Die  grofse  Mehrzahl  der  Küchen,  nämlich  25  Proz.,  enthalt  nicht  einmal 
12  cbm  Luftraum.  8,7  Proz.  lier  Kuchen  ül>crliau])t  hntton  eine  Boden- 
flache von  weniger  als  6  ( hiadratmetei.  Auf  diese  Art  werden  feste  Anhalts- 
punkte vermittelt,  wahrend  die  Fragen  iles  Berner  Erhelaungsformulars 
nach  die.scr  Seite  hin  nicht  besonders  glucklich  gestellt  sind.  Aiicrduigs 
wird  den  Erhebnngsbeamten  anbdbhlen,  die  Feuchtigkeit  z.  B.  durch 
Auflegen  der  Hand  zu  konstatieren  und  der  Schimmelbildung  besondere 
Aufmerksamkeit  zu  widmen.')  Allein  die  Erhebungsbeamten  stammten 
auch  in  Bern  gröfstenteils  aus  Volksschichten,  die  nicht  an  luxuriöse  oder 
auch  nur  behagliche  Wohnverhältnisse  gewöhnt  sind  tmd  deshalb  die  \'er- 
häitnisse  günstiger  beurteilten.  Es  ist  deshalb  sehr  zu  bedauern,  da£s 
die  Bearbeitung  der  Berner  Wohnungsenfiuete  blofs  diese  allgemeinen 
Merkmale  verwertet  und  die  ebenfalls  erhobenen  Maf:>verhältnisse  der 
Kuchen  unt'erücksichtiut  liefs. 

Als  \\  oinumgsm.Tngel  i^t  ferner  ilas  Fehlen  eines  eigenen  .\biriits 
zu  l)etrachten.  Mit  Rei  ht  weist  die  Berner  Wohnuugsentiuete  darauf  hin, 
dafs  Wohnungen  ohne  Abort  oder  mit  gemetnschaftlichem  Abort  nur 

^}  Instruktion  fllr  die  Erhebungsbeunten  der  WohnimgsenquSte  in  Bern  (voin 
10.  Februar  1896)  S.  5. 


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« 


Emil  Hofmann,  Die  I-lrgflmisite  der  schwcizrriHcben  Wohnunjjscnqurtrn.  ^97 

unter  ganz  bestimmten  Aiisnaiiineverhaltuihsen  die  Bcuohnnu^^  ^^estattet 
werden  sollte.  „Wenn  der  Hauseigentümer  eine  Wohnung  ohne  Küche 
inne  hat,  so  ist  das  schliefslich  seine  Sache;  er  schädigt  nur  sich  allein 
in  seiner  Häuslichkeit.  Aber  wenn  er  an  mehrere  Wohnparteien  einen 
Abort  2ur  gemeinschaftlichen  Verwendung  zuweist,  so  gefUhrdet  er  damit 
unter  Umständen  die  öfTentliche  Sicherheit.'*  Ebenso  richtig  ist  die 
folgende  Aeusseruni;  von  Fabrikinspektor  Schuler  über  diesen  Gegenstand : 
„Die  Nachteile  der  Geraeinsamkeit  liegen  auf-  der  Hand.  eine 
Gefahr  für  Sitte  und  Anstand,  so  ist  sie  es  noch  mehr  fiir  die  Aufrecht- 
erhaltunu  von  Ordnung  und  Reinlichkeit.  l;iese  ist  sozusagen  verun- 
mogli(  hl,  wenn  aiu  h  nur  die  Bewohner  der  einen  Woimung  derselben 
al>geneigt  oder  au(  h  mit  nicht  daran  gewöhnt  sind." 
Trotzdem  fiiulen  wir  gemeinsam  benutzte  Abtritte 

in  Basel       bei  54,6  Prot,  der  Haushaltungen 

.,  Htm  ..    34  „  „ 

,.  Lausanne   ,.    31.6  .. 

n  Luiern      .,    2o,j     ,,      .,  „ 

„  den  Fabrikhäosem  23,9  Prox.  der 

„  Aaiau  l>ei  11,«    „     „  „ 

I, eider  ist  Bern  allein  dem  V'orbilde  Basels  gefolgt,  das  sich  nicht 
blofs  mit  der  Konstatierung  gemeinschaftlicher  .\btrittlienut/ung  begnügte, 
sondern  aucli  dii'  lutensiiai  gemeinsamer  l!enut/-ung  zu  «  rt«  rsi  hen  strebte. 
Hiemach  dienten  von  den  gemeinschaitlich  benutzten  Abtritten 

in  Bern  in  Basel 

2  Haushaltungen  184  Proz.  23,6  Proz. 

4  n  4i3    M  7.2 

5  ».7  51 

6  „  0,8    „  3,9  „ 

mehr  ab  6  „  i,S     „  3,2  „ 

Bei  der  Besprechung  der  mangelhaften  Beschafilenheit  der  Abtritte 
selbst  gebührt  der  Art  der  Ableitung  die  wichtigste  Stelle.  Hucher  weist 
mit  Nachdruck  darauf  hin.  dafs  in  Basel  im  Februar  1889  noch  nicht 
der  vierte  Teil  der  Abtritte  Knnalcn  angeschlossen  sei,  während  bei  mehr 
als  drei  Vierteln  Gruben  oder  Dohlen  ohne  S]»ulung  im  Ciebrauch  seien. 
In  Luzern  geschah  zur  Zeit  der  Wohnungsentju^te  ungefähr  in  -'5  i'roz. 
aller  Häuser  die  Entleerung  der  Fäkalstoffe  durch  Grubenentleerung.  In 
Bern  münden  die  Aborte  von  1667  (55,8  Proz.)  Wohnhäusern  in  Kloaken, 
von  1242  (41,6  Proz.)  in  Gruben,  von  12  (0,4  Proz.)  in  Tonnen  und 
von  29  (1,0  Proz.)  in  Bäche.  In  Zürich  wurden  11640  Abtritte  ohne 
Klappen  und  ohne  Syphon  und  2499  Abtritte  mit  Gruben  gezählt. 


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698 


Neben  diesen  baulichen  und  sanitarischen  Mangeln  venchwinden 
sozusagen  die  übrigen,  welche  sich  um  die  Art  der  Beleuchtung,  Venti- 
lation, den  baulichen  Zustand  etc.  drehen. 

Auch  die  T^ge  der  Aborte  in  und  aufserhalb  des  Hauses  oder  der 
Wohnung  ist  nicht  so  wichtig,  wenn  auch  nicht  zu  leugnen  ist,  dafs  diese 
sanitarische  und  moralische  (jcfahrcn  in  sich  birj^t.  In  Hern  befanden 
sich  die  Alitirto  bei  71,8  Pro/,  der  Wohnhäuser  ausschliefsUch  im  Hause 
unii  ln-i  l'ro/..  ausM  hliclshih  aul'ser  dem  Hause.  I)azu  gab  es  8.6  Proz. 
W  uhnliauser,  deren  Aborte  teilweise  aufser  dein  Hause  gelegen  sind. 

III.  Die  E  i  >i e n  t  u ra s V e r h ä  1 1 n  i  s se. 

Ein  grofser  Teil  der  ini  Mietuc-'cn  l>c>tehenden  l'ebelstat^de  hängt 
unbestreitbar  en^  niit  den  KiL;ciUiun>>  ei  hallni'>•^en  /usainniLMi.  Daher 
suchen  die  neueren  \\'ohmii)^'sen(jueten  die  Verhaltnisse  tUiK  h  die  Klassi- 
fizierung der  Wohnliausci  in  Eigentiiiner-,  Miel-  und  Ereiwuhuungsliäuscr, 
sowie  durch  .\tsscheidung  der  Eigentümer  nach  Berufsklassen  oder  sozialen 
Grup|)en  klar  zu  legen.  Allerdings  sind  die  Meinungen  über  den  niannig* 
faltigen  Einflufs  dieser  Eigentumsverhältnisse  besonders  nach  der  erst* 
genannten  Seite  hin  verschieden.  Bücher  scheint  dem  Wohnen  des 
Mieters  in  dem  vom  Eigentümer  selber  bewohnten  Hause  aus  mehr- 
fachen Gründen  den  Vorzaig  zu  geben,  während  Landolt  als  wahr- 
scheinlich annimmt,  dafs  die  (Iründe  gegen  das  7'isammenwohnen  mit 
dem  Eigentumer  auf  den  Mieter  starker  einwirken.  Uebercinstiumiung 
herrseht  daL;ei:en  in  der  An^ichi.  difs  die  von  Eigentümern  heselzfen 
Woiunmgen  in  jeiier  Hinsicht  die  .Mietwohnungen  im  allgemeinen  an 
Qualität  libertreften.  Nicht  umsonst  schliefst  man  aus  der  myhr  oder 
weniger  grofsen  Zahl  von  Eigentttmerwohnungen  in  einer  ^dt  auf  mehr 
oder  weniger  günstige  Durchschnittswohnverhältnisse.  Schon  von  diesem 
Gesichtspunkte  aus  ist  eine  Vergleichung  der  Relativzahlen  der  Eigen- 
tümerwohnungen  in  verschiedenen  Städten  nicht  uninteressant. 

Eigentümerwohnungen  wurden  festgestellt  in: 

Basel  33,1  Proz. 

ZOrich  19,8  „ 

I.U7.«Tn  16,1  „ 

Bern  14  „ 

Nicht  vom  Eigentümer  bewohnt  waren  in: 

Laiuanoe       54,3  Proz.  der  Wohnhäuiier 
Bern  54,2  ff,      „  „ 

Liuem  43. S  „  „  „ 
Basel  30,3     „      „  „ 

I)ie  Freiwohnungen  bestehen  zumeist  aus  Amts-  oder  Dienstwohnungen, 
ferner  aus  Woluiungen,  welche  von  Privaten  an  Bedienstete  oder  Arbeiter 


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iCniil  Hof  mann.  Die  KrgcUni&^c  der  schweizerischen  Wohnungsi-nqut-tcn.  699 

abgegeben  werden  und  für  welche  eb  gröfserer  oder  kleinerer  Abzug 
an  der  Entschädigung  fUr  die  von  ihnen  zu  leistende  Arbeit  vorgenommen 
wird.  Endlich  werden  Freiwohnungen  Verwandten,  gewesenen  Dienst- 
boten, sowie  kränklichen,  erwerbsunrähigen  Dienstboten  gewährt.  Doch 

können,  wie  lUiclu-r  trert'end  sa;^t,  diese  Rücksichten  zwischen  den  edelsten 
Beweusruiulcn  der  Harmher/igkeit  und  der  raffiniertesten  Beiechnuns;  alle 
Stufen  ^a'inischlcr  Motive  durchlaufen.  Die  Ausdehnung  des  Dienst-  oder 
Ireiwohnungswescns  soll  folgende  l  auelle  veranschauiit.  i>en.  h'j>  waren 
Frei-  oder  Dienstwohnungen  in: 

Hern      328  oder  3,1  Proz. 
Zürich  618     „     2,1  ,. 
Basel    243     .,  1,8 


Hieraus  geht  h<'rvor,  dafs  sogar  Iktu,  die  Heanitenstadt.  hinsichtlich 
der  Dienst-  und  1- rciwohnungen  wesentlich  hinter  vielen  deutschen  Stä<lten 
zurückstellt.  Darum  wäre  sehr  zu  wünschen,  dafs  Privatverwaltungen, 
Bund,  Kantone  und  (leineinden  sich  an  dem  Vorgehen  des  Auslandes 
nach  dieser  Richtung  iün  ein  Muster  nehmen  würden. 

Die  BehausungszifTer  ist  in  den  Eigentümer-  und  Freiwohnungs- 
häusem  Berns  im  allgemeinen  und  im  besonderen  wesentlich  kleiner  als 
in  den  Mietwohnungshäusem.  Dieselbe  Beobachtung  zeigt  sich  in  Luzern» 
wo  in  reinen  Miethäusern  durchschnittlich  19,5  Haushaltungen  in  19^4 
Räumen  w()j\nten,  während  in  den  von  Eigentümern  und  Mietern  zu- 
gleich bewohnten  Hausem  durchschnittlich  13,8  Räume  auf  12,6  Mieter 
entfielen. 

Der  Kubikiuiialt  pru  Wulmuag  betrug  in: 

bei  Eigentttmerwobmtngeii  Mietwohimiigen 

H<'m  297  cbm  147  cbm 

Zürich  349    „  145  „ 

Basel  215    „  JOS  „ 

Aehnlicl^e  Erscheinungen  finden  wir  hinsichtlich  der  Wohnungs- 
mängel. Wohnungen  mit  gemeinsamer  Küche  sind  viel  hau6ger  bei  den 
Mietswohntmgen  als  den  Eigentiimerwohnungen.  Von  den  Wohnungen 
mit  gemeinsamer  Küche  sind 

Mietwohnungen       Eieeatümerw.  Fretw. 

in  Basel              621                    45  i 

..  Bern                 154                       12  7 

I.u/.ern                 57                          *  — 

Hinsichtlich  der  Küchenmängcl  ^  t-rschiedenster  Art  führen  wir  der 
Kürze  halber  blofs  die  Resultate  der  lierner  Wohnungsenquete  an.  Dort 
weisen  13,8  Pro/,  der  Kigcntümei woimungen  und  31,7  Proi.  der  Miet- 
wohnungen einen  oder  mehrere  Küchenmäugel  auf.    Dasselbe  ist  der 


^  i;jKi.  „^  i.y  Google 


yOO  Miszellen. 


Fall  mit  Bezug  auf  die  Abortverhälinisse.  So  entfallen  in  Bern  von  den 
Wohnungen  mit  gemeinschaftli« hei  Atiortbenutzung  auf  die  Eigentümer« 
Wohnungen  5,5  Pro/.,  auf  die  Mietuohnunfjcn  a1)er  93,4  Proz. 

Das  so^.  U'olinunfT.szubeliör  oder  die  I  )ei>cntienzen .  wie  dies  in 
Uern  «jenannt  wird,  i>t  n  itiirtretniifs  in  den  W  olinunfien  tlet  Mieter  seltener 
als  in  den  Kigentüniei  wolmungen.  Am  kleinsten  ist  der  Unter>t:hied 
zwischen  den  relativen  Z;dilen  der  Eigentümer-  und  Mietwohnungen  hin- 
sichtlich der  sog.  Schwarzzeugkammem,  am  gröfsten  hinsichtlich  der 
Gärten.  Die  Reihe  dieser  Gegenüberstellungen  liefse  sich  leicht  ver- 
mehren. Doch  hat  dies  keinen  Zweck;  denn  aus  dem  Angeführten  er> 
giebt  sich  ohne  weiteres,  dafs  die  Mietwohnungen  auch  hinsichtlich  der 
Treppen  etc.,  sowie  der  .Ausstattung  der  Wohnungen  gege  nüber  den  Eigen- 
tümcrwohnungcn  sich  im  Nachteil  befinden.  Dasselbe  Resultat  würde 
eine  Musterung  der  schwarzen  Bücher  in  den  einzelnen  Städten  ergeben. 

Der  Kintlufs  des  /usaTiiinenwohDciis  der  Mieter  im  gleichen  Hause 
mit  den  Rigentüineni  isi  durch  diese  Aust'uhiungeii  s(  hon  ziemlich  klar 
dargelegt.  Immerhin  giebt  Büclier  zu  bedenken,  dafs  sich  die  städtischen 
W'ohnhäuser  vielfoch  in  schwachen  Händen  befinden,  die  mit  Hypothekar- 
schulden beUstet  sind  oder  den  Bauunternehmern  gehören,  die  auf  einen 
Käufer  warten.  Daneben  fmdet  sich  der  benifsmälsige  Häuserbesibser 
und  der  Hausbesitzer  alten  Schlags,  der  etwa  einmal  ein  Stockwerk  oder 
mehrere  seines  Hauses,  weil  er  sie  nicht  selbst  braucht,  an  ihm  wohU 
bekannte  Familien  vermietet  und  mit  ihnen  die  besten  nachbarlichen 
Beziehungen  unterhält.  Rechnet  man  hierzu  noch  die  Kateg<nie  der 
kleineren  Kapilalisten,  die  in  H.uisern  spekuliert,  so  ist  es  begreillich, 
dafs  die  oben  gestellte  l  ia^e  sii  h  iii<  lit  oluie  Rucksiclit  auf  diese  srie/.icllen 
Eigentumsverhältnisse  beantworien  lafsl.  Immeilün  ist  als  siciicr  anzu- 
nehmen, dafs  das  Interesse  des  Eigentümeis  für  die  Liegenschaft,  welche 
er  selbst  bewohnt,  ihre  Instandhaltung  und  pflegliche  Behandlung  ein 
lebhafteres  ist,  als  fUr  eine  solche,  die  er  lediglich  als  Vermögensanlage 
betrachtet  und  die  für  ihn  um  so  schätzbarer  ist,  je  mehr  Zins  sie  ein- 
bringt und  je  weniger  sie  ihn  persönlich  in  Anspruch  nimmt.  Es  scheint 
deshalb  begreiflich,  dafs  die  Luzemer  Wohnungsenquite  den  Beweis 
dafür  mehrfach  leistet,  dafs  die  .Mieter  in  lien  vom  Eigentümer  mit- 
bewolmtcn  Häusern  sich  l)e>ser  befinden  als  in  den  Häusern,  wo  die 
Eii,'entumer  nicht  mitwohnen.  Seri)>tverst;tndlich  ist  unter  diesem  Besser- 
betindeii  blofs  die  mefs-  und  schat/.baii-  Befriedigung  des  NNOhnungs- 
ücdürfuisses  zu  verstehen.  Wie  sich  die  übrigen  Beziehungen  der  Mieter 
zu  den  Eigentümern  stellen,  hängt  neben  der  soziaten  Stufe  derselben 
auch  vom  Charakter  und  der  Erziehung,  sowie  von  dem  Verhältnis 
zwischen  Angebot  und  Nachfrage  ab.  Während  Bücher  die  persönlichen 
Beziehungen  zwischen  Eigentümer  und  den  mit  ihm  im  Hause  wohnenden 
Mietern  nicht  gering  anschlägt  und  ihnen  einen  <!ie  möglichen  Härten 
des  Vertragsverhältnisses  unter  Umständen  mildernden  Einäufs  zuschreibt. 


Kmil  liofmann,  Die  Ergebnisse  der  schweizerischen  Wulitiungsenqueten.  ^qI 

fuhrt  Laiuiolt  folgende  Reilic  von  Gründen  an,  welche  die  Mieter  das 
Wohnen  in  einem  vom  Eigentümer  nicht  bewohnten  Wohnhause  vor- 
ziehen lassen  können.  „Oft  genug  kommt  es  vor,  dafs  der  Eigentümer 
als  Herr  seines  Wohnhauses  zum  Nachteile  und  Aergernis  seiner  Mieter 
gerade  das  thut,  was  diesen  untersagt  ist  Korridor,  Hof,  Estrich,  Durch- 
gänge und  Trepi>en  des  Wohnhauses  werden  von  ihm  gewöhnlich,  wenn 
sie  nicht  ausdrücklich  als  zu  einer  bestimmten  Wohnung  gehörig  mit 
dieser  vermietet  sind,  als  seinem  uneint,^e''(  hräiikten  Niefsbrauch  unter* 
stehend  bctrarhtet  und  ck'mentsprcchend  nat:h  Giitddnken  /u  den  Ver- 
schiedenart igslen  /wecken  benutzt,  während  es  dem  Mieter  soL;ar  liautig  ver- 
boten ist,  die  zu  seiner  Wohnunij  gelujrenden  Treppen,  lJurchgan:re  und 
Korridore  selbst  nur  wahrend  kurzer  Zeit  zu  benutzen.  Wenn  mit  einer 
Wohnung  ein  Gartenanteil,  die  Mitbenutzung  einer  Terrasse  oder  der- 
gleichen mitvennietet  ist,  können  zwischen  dem  Eigentümer  und  Mieter 
entstehende  Differenzen  dem  letzteren  die  gemeinschaftliche  Benutiung 
dieser  Teile  seiner  Wohnung  mit  dem  Eigentümer  widerwärtig  machen. 
Dieser  kann  in  einem  solchen  Falle  als  der  Herr  des  Wohnhauses  leicht 
das  Feld  l)ehaupten.  Wenn  mnn  dazu  noch  in  Betracht  zieht,  dafs  — 
wie  die  Erfahruni;  lehrt  —  dem  Mieter  in  einem  Wohnhnu'ie.  in  dem 
der  Kigentümer  wohnt,  oft  nur  deshalb  die  Wohmin^^  gekun<ii<;t  wird, 
weil  der  I.ann,  den  seine  Kinder  verursachen,  die  Hausruhr  stört,  so 
ist  es  als  wahrst  be  inlich  anzunehmen,  dafs  iliese  moglu  hen  Cirunde  gegen 
das  Zusammenwohnen  mit  dem  ^.igentümcr  auf  den  Mieter  stärker  ein- 
wirken, als  die.  von  Bücher  aufgeführten  Gründe  für  dieses  Zusammen  wohnen/' 

Die  Betrachtung  der  Mietpreise  soll  noch  neue  Gesichtspunkte  zur 
Beantwortung  der  genannten  Frage  ergeben.  Da  ergiebt  sich  vor  allem 
die  Thatsache,  dafs  die  Mietwohnungen  in  den  von  den  Eigentümern 
selbst  bewohnten  Häusern  durchschnittlich  kleiner  sind  als  in  reinen 
Mietwohnhäusern,  weil  die  Eigentümer  für  sich  selbst  mehr  Raum  bean- 
spruchen. Troti'dem  sind  wenigstens  in  den  grcifsen  Mirtliauseni  die 
NN'ohnraumpreise  niedriuer  als  in  den  Wohnhäusern  der  higcntumer,  wäh- 
rend in  den  kleineren  Mietliäusern  der  Durchschnittspreis  eines  R.tmnes 
•  erheblich  hoher  ist,  als  in  den  kleineren,  von  Eigentümern  selbst  be- 
wohnten Häusern.  Die  Gründe  hierfür  mögen  darin  liegen,  dafs  sich 
emerseits  das  persönliche  Verhältnis  zwischen  Eigentümer  und  Mieter 
hinsichtlich  der  Miete  auf  die  kleineren  Häuser  beschränkt  und  andrer- 
seits die  Eigentümerwohnungen  eine  bessere  Qualität  aufweisen. 

Bei  den  Eigentumsverhältnissen  und  ihrem  Einflufs  auf  die  Miets- 
verhältnisse kommt,  wie  bereits  angedeutet  wurde,  auch  die  soziale 
Gruppenzugehörigkeit  des  Hausbesitzers  wesentlich  in  Betracht.  Wie  weit 
die  Wohnhauser  einen  (n-f^enstand  der  blofsen  Kapitalatilatje  oder  der 
Spekulaiioii  bilden,  ist  einmal  an  der  Gröfse  des  Wohnhäuserbesiizes  in 
einzelnen  Händen  zu  erkennen. 

Eine  Vergleichung  der  Zahl  der  Eigentümer  nach  der  Gröfse  ihres 


uii^u i-L-j  cy  Google 


702 


Mtsaellen. 


Wohnbäuserbesitzes  in  Bern  und  in  Basel  zeigt  folgendes  Bfld.  E» 
giebt  in 

Basel  Bern 


abs. 

Pro/.,  aller 

abs. 

Proi.  aUer 

F-iycntüraer 

Eigcntüraer 

Eigentümer 

eino  \Volinliau!ic> 

3050 

Si,i 

J575 

75.5 

II 

von  2  Wohnliäuscra 

415 

»'.3 

3«4 

15,0 

II 

>•  3  II 

88 

>i4 

94 

4.5 

II 

1»  4  II 

46 

1.3 

36 

».7 

II 

II  5  >» 

12 

Oi3 

3t 

«*o 

II 

..  6— lo  „ 

40 

38 

1.8 

II 

„  11—20  „ 

14 

OA 

8 

0,4 

„  von  mehr  als  30 

5 

0,1 

7 

Der  W 

ohnhaustr  besitz 

ist  somit 

in  Bern  in 

\vciiij;er 

ILmden  kon- 

zentriert  als  in  Basel.  Diese  Erschf'inung  ist  wahrscheinlich  iti  dem  Um- 
Stande be«|;rundet,  dafs  in  Basel  bereits  seit  Jahrzehnten  Baugesellschalten 
sich  mit  dem  Bau  kleber  Atbetterwohnhäuser  und  deren  Verkauf  an 
Arbeiter  und  andere  Zugehörige  niederer  sosialer  Gruppen  befassen. 
Dazu  kommt,  dafs  die  durchschnittliche  Zahl  der  Wohnhäuser  eines  Eigen- 
tümers um  so  kleiner  wird»  ein  je  gröfserer  Teil  der  WohnhauseigentUmer 
einer  niederen  sozialen  Gruppe  angehört.  Deshalb  k<)iintc  die  vor- 
wiegende Zahl  der  Eigentümer  <*;iies  Wohnhauses  in  Basel  mit  der  Zu- 
gehörigkeit einer  grofsen  Zahl  von  Kigcntümem  zu  einer  niederen  sozialea 
Schicht  zu  erklaren  sein.  * 

Die  N'erteiluii;^  der  Wohnhäuser  nach  dem  Beruf  der  Kicnituuier. 
wie  sie  in  Basel  vor^entMnmen  wurde,  bietet  ein  viel  khiieres  Hiid,  als 
diejenige  nach  der  sozialen  Gruppcnzugehürigkeit  ihrer  Eigentümer,  welche 
in  Bern  versucht  wurde.  Die  Ausscheidung  in  40  soziale  Gruppen  hat 
hier  den  Nachteil,  dafs  dieselben  oft  zu  klein  werden,  während  die 
schichtenweise  Zusammenziehung  klarem  Einblick  wiederum  nach  der 
anderen  Seite  hin  hinderlich  sein  nmfs.  Diesen  Nachteil  der  Bemer 
Wohnunjjsenquete  mißlichst  uneingeschränkt  wirken  zu  lassen,  setzt  sich 
der  textliche  Kommentar  an  dieser  Stelle  merkwürdige  Schranken  und 
verzichtet  auf  die  Verglcichung  mit  den  Resultaten  der  Basler  Erhebung. 
Zu  dii'setn  Zwecke  scheiden  wir  vor  allem  den  Wohniiänserbesitz  der 
otifenlli»  lieii  K.(ji i>orationen  und  die  j)ri\ai('n  Kollcktivbesit/.er  aus.  Die 
Rolle,  welche  der  Hauserbesitz  der  ötieiulichen  Korporationen  spielt,  soll 
folgende  Zusammenstellung  charakterisieren; 

\^on  den  \\'(»liuhiiuserii  gehörten- 

15J  Oller  4,3  i'roz.  Ge-sclLchaftcD,  Zünlten  u.  dgl., 
40    „    1,1     „    der  EidgenoBsenschaft, 
205    II    5iS    II    dem  Staat  Bern, 
66    „    1,9    „    der  Einwobiwrgcmoinde  Bern, 
9    »    Oi3    II     II   Bttrgergemeinde  tiern. 


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Emil  Hulnuinn,  l)ir  Krgcl>ni.>sc  tlcr  schweizerischen  Wohnungscnqui-lcn 


Im  Kollektivbesits  von  2  und  mehr  Privaten  befinden  sich  198 
Häuser  oder  5,6  Proz. 

In  Bern  wie  in  Basel  wiegt  der  WohnhäuserbesiU  der  Personen 
ohne  Beruf  (Rentner  etc.)  vor.    Die  absoluten  iZahlen  mit  705  in  Bern 

und  818  in  Basel  auf  diese  Kigentiimergruppe  entfallenden  Hauser 
nahem  sich  einander  auffallend.  Dagegen  zeigen  sich  bei  dem  Wohn- 
hauserbesitz fast  aller  anderen  Berufsgruppen  in  Bern  und  Basel  auffallende 
DiÜerenzen.  Die  Arbeiter  in  Basel  besitzen  mit  370  Wohnhäusern 
7,3  Proz.  der  gesanacn  Ilauser,  während  ui  Bern  ihr  Häuserbesilz  blofs 
1,5  Proz.  ausmacht.  In  Basel  zeigt  eine  Zusammenstellung,  dafs  Gast' 
und  Schankwirtschaft  weit  schwerer  in  gemietetem  Lokal  betrieben  werden 
kann  als  der  Handel.  Die  Gast-  und  Schankwirte  in  Basel  besitzen 
5,8  Proz.  der  Häuser,  während  ihre  Kollegen  in  Bern  samt  den  Kost- 
und  Logisgebern  ara  Häuserbesitz  l)lofs  mit  3,1  Proz.  und  die  Klein- 
händler mit  7,8  Pro/,  beteili;,^!  sind.  Ungefähr  gleich  oder  ähnlich  ist 
der  Häuserbesitz  der  Beamten,  Aer/te,  Kiinstler  u.  dergl.  in  Hasel  und 
in  Bern,  wenn  man  bei  dem  3,8  Pro/,  ausmaclienden  Häuserbesitz  der 
Staats-  imd  ('iemeindel)eamten  den  Charakter  Berns  als  Mundes-  und 
Beamteiistadt  in  }?eru«:kNit  hii^ung  zieht.  Die  dem  niederen  Diensiperscjnal 
der  \'er\valiung  zufallende  Zahl  von  Häusern  ist  in  Ba.sel  wie  in  Bern 
auflallend.  Die  Erklärung  Biichers,  es  handle  sich  in  diesen  FäUen  oft 
um  Personen  mit  einigem  Vermögen,  welche  zur  Verbesserung  ihres 
Einkommens  ein  Aemtchen  angenommen  haben,  scheint  uns  auch  für 
Bern  ziemlich  zutreffend  zu  sein. 

Zur  Illustrierung  der  mangelhaften  Vergleichbarkeit  unserer  Woh- 
nuogsenqu^ten  führen  wir  noch  an,  dafs  zu  obiger  Vergleichung  der 
relative  Anteil  der  einzelnen  Berufsgruppen  am  Wohnhäuserbesitz  der 
Stadl  Basel  von  uns  berechnet  werden  raufste,  sowie  dafs  die  ISasler  En- 
([uete  die  Häuser  auffuhrt,  welche  auf  je  hundert  erwerbende  l'ersonen 
jeder  Benifsi;riippe  konuuen,  wahrend  der  Berncr  Bearbeiter  statt  dieser 
Aufstellung  prozentual  berechnet  wie  viele  Haushaltungsvorstände  einer 
Gruppe  Wohnhausbesitzer  seien.  Damach  waren  von  je  loo  Haus- 
haltungsvorständen der 

oberen  sokialcn  Sdiicht  40,9  Wohnhattseigentflmer 
mittleren  „         „      «5,6  „ 
unteren     „         „       5,3  „ 

Der  Anteil  der  einzehien  sozialen  Schichten  am  Wohnhäuserbesitz 
verteilt  sich  so,  dafe  auf  die  obere  Schicht  53,7  Proz.,  die  mittlere 
38,5  Proz.  und  die  imtere  7,8  Proz.  der  Wohnhäuser  entfallen. 

Die  Vergleichung  defi  Wohnorts  und  des  Wohnhäuserbe>itzes  der  Eigen- 
tümer mit  ihrer  sozialen  Gruppenzugehörigkeit  durch  die  Hemer  WOh- 
nungsenquete  zeigt  deutlich,  was  Bücher  blofs  andeuten  konnte.  Er 
findet  die  Zahl  von  8,5  Proz.  der  Eigentümer,  die  zwar  m  der  Stadt 


ui^juiiL-j  cy  Google 


704 


MiMellen. 


aber  nicht  im  eigenen  NN'ohnhause  wohnen,  auffallend  hoch  und  glaubt, 
dafs  namentlich  auch  die  Entfernung  der  Arbeitsstelle  hier  eine  wesent- 
liche Rolle  spielt*.  In  l'ern,  wo  im  ir^nzen  i  Pro/  nller  W'ohnhaus- 
eifrentümer  in  eineni  anderen  \\  ohnhause  zur  Miete  wohnten,  waren  haupt- 
sächlich die  Aimcstcllten  der  i^isenbahncIl,  Pust  u.  d<^\.  nebst  den  Ar- 
l»eitern  in  den  \  erkehrsanstalten  sowie  den  Knct  luen,  Maj^den  u.  dgl. 
in  diesem  Fall.  Während  diese  durch  die  Arbeitsstelle  an  gewisse  Zonen 
der  Stadt  in  der  Wahl  ihrer  Wobnungen  gebunden  and,  wohnen  unter 
den  78  Personen  ohne  Beruf  eine  Reihe  kleiner  Partikulare  nicht  in  der 
eigenen  Wohnung»  weil  die  Vermietung  derselben  ihnen  einen  höheren 
Ertrag  abwirft  und  sie  durch  keinerlei  Berufepflichten  ans  Verkehrs- 
oder Erwerbszentrum  der  Stadt  gebunden  sind. 

IV.  Die  Mietpreise. 

Die  Vergleichung  der  durch  die  Wohnungsenquöten  ermittelten 
Mietpreise  der  verschieden«!  Städte  zeigt,  dafs  dieser  wichtigste  Teil  der 
städtischen  ^^'ohnungsstatistik  immer  noch  nicht  befriedigend  entwickelt 
ist.  Allerdings  liaben  sämtliche  Wohnungsenquöten  soweit  dieselben 
wenigstens  diesen  Namen  verdienen,  durch  Berechnung  des  Preises  für 
den  Kubikmeter  Wohnraum  die  Versrhiciienheit  der  Rauingrufscn,  auf 
welche  der  .Mietpreis  bezotjen  wird.  ruM^Mtigt.  Aufserdcia  haben  sie  die 
VVohnungs/.ubeliOr  mehr  oder  weniger  berücksichtigt  und  durch  die 
Gliederung  nach  der  Zahl  der  auf  eine  Wohnung  entfallenden  Zimmer 
die  innere  Ausstattung  der  Wohnungen  wenigstens  nicht  ganz  unberück- 
sichtigt gelassen.  Dagegen  ist  der  Versuch,  die  Angaben  Uber  die 
Lastenverteilung  bezüglich  der  Instandhaltung  und  Reinigung  der  Woh- 
ntmg,  den  Wasserbezug  etc.  statistisch  zu  verarbeiten,  nicht  recht  ge- 
lungen. Die  .An^^aben  über  Wasserzinse  und  Illuminationsgebühren,  wie 
sie  in  Bern  gefordert  wurden,  sowie  die  Fragen  der  Zürcher  Erhebung 
nach  Nel>en Vergütungen  für  Wasser,  Gas,  elektrisches  Licht,  (lartcn  etc. 
scheinen  uns  eher  zu  einer  Fchler<|uelle  geworden  zu  sein.  Jedenfalls 
ist  es  nicht  unbedenklich,  die  Zuschläge  des  Vernnetcrs  für  Wasser^ins 
und  Illumination  ohne  weiteres  zur  Wohnungsmieie  zu  schlagen,  wie 
dies  durch  die  fieroer  Bearbeitung  geschehen  ist.  Die  Beleuchtung  kann 
ja  nur  unter  gewissen  Voraussetzungen  durch  den  Vermieter  bezahlt 
werden  und  bildet  schon  aus  diesem  Grunde  keinen  regelmäfsigen  Bestand- 
teil der  Wohnungsmiete.  Wo  der  Mieter  die  Kosten  der  Illumination 
im  Mietpreise  bezahlt,  verschwindet  in  seinem  Haushaltungsbudget  ein 
Posten,  der  in  allen  übri^^en  notwendigerweise  zu  finden  ist.  Deshalb 
hätten  unserer  Ansicht  na<  h  die  Vergütungen  für  Illumination  eher  vom 
Miefpreis  abgez(^^en  werden  sollen,  um  „die  Kosten  des  \\'ohnens"  genau 
bestimmen  zu  können.  .Achnlich  verhält  es  sich  mit  den  so«:;  Wasser- 
zinsen.   Es  ist  ein  grofser  L'nterscined,  ob  der  V'erraieter  im  Mietzins 


Emil  Hofmann,  Die  Ergebniue  der  scbweizerischen  Wohmingsenquiten.  jq^ 

das  Recht  und  die  Gcle<jcnheit  zur  BenttUUng  der  Wasserversorgung  in- 
begriffen erhält,  oder  oh  er  die  Benützung  eines  Brunnens  in  der  Nähe 
seiner  Wohnung  durch  einen  Hoitrag  sich  erkaufen  mufs.  Glückhcher- 
wcise  ist  die  Fchkrquclle  nicht  allzugrofs,  indem  die  elektrische  Be- 
leuchtung der  Pri\ atwohiiungen  nicht  sehr  häufig  und  der  Anschhifs  an 
die  Wasserversorgung  sowie  die  Bezahlung  des  Wasserzinses  durch  den 
Vennieter  ziemlich  die  Regel  bilden  dürfte. 

In  Anbetracht  dieser  Umstände  ist  es  doppelt  zu  bedauern,  dals  die 
neueren  Wohmmgsenqußten  nicht  dem  Beispiel«  Bttchers  gefolgt  sind 
und  zur  Abnmdung  des  Bildes  nicht  wenigstens  die  ortsübliche  Belastung 
des  Mieters  nach  dieser  Seite  hin  im  allgemeinen  aufgeführt  haben.  Dals 
die  Verteilung  der  Instandhahungs-  und  Reinigungskosten  unter  Mieter 
und  Verniictt  r  eine  merkhc  hc  \'eranderung  der  Kosten  des  W  ohnens 
herbeiführen  kann,  mag  unter  anderem  daraus  liervorgehen,  dafs  sich 
dieselben  in  Basel  bei  einer  Wohnung  im  Preise  von  1200  Frs.  in  ver- 
schiedenen Jahren  auf  4 — 6  Proz.  des  Mict/mses  l>c<:inerten,  ungerechnet 
die  Strafsenreinigung.  Uebrigens  werden  alle  diese  Momente  dadurch 
mehr  oder  weniger  ausgeglichen,  da&  dieselben  Verhältnisse  zwischen 
Angebot  und  Nachfrage  auf  dem  Wohnungsmarkte  die  in  den  einzelnen 
Städten  herrschenden  Unterschiede  auf  Kosten  des  Mieters  zu  nivellieren 
bestrebt  sind. 

Unter  diesen  Einschränkungen  ergeben  die  folgenden  Zahlen  immerhin 
ein  ziemlich  zuverlässiges  Bild  der  Mietpreise  in  den  einzelnen  Städten. 
Die  durchschnittliche  Jahresiniete  einer  Wohnung  belauft  sich 

in  Lausanne  anf    634  Frs. 

„  /.iirich        „       614  „ 

„  l.nzrm       ,.  517 

f,  i^<'m  M       47^*  1» 

„  Basol         „       368  „ 

Der  Unterschied  der  I-a^e  und  der  damit  im  Zusammenhang  stehen- 
den Bauart  etc.  äufsert  sich  natürlich  im  Mietjjreis  um  so  deutlicher,  je 
tiefer  die  Unterscheidung  der  Wohnungen  nach  dieser  Seile  hin  ein- 
dringt. Die  durchschnittlichen  Wohnungsmieten  betrugen  in  Bern  in  der 
unteren  Stadt  37 5  Frs.  in  der  oberen  Stadt  720  Frs.  Der  Unterschied 
der  Wohnungsmieten  wird  sofort  beträchtlich  gröfser,  wenn  die  einzelnen 
Quartiere  ins  Auge  gefa&t  werden.  Im  Quaitier  Felsenau  beträgt  die- 
selbe 203  Frs.  und  im  Villenviertel  (Rabbenthal)  1005  Frs.  Dieselbe 
Erscheinung  finden  wir  in  Zürich.  Den  höchsten  Durchschnittpreis  zeigen 
der  I.  und  II.  Stadtkreis  mit  80S  Frs.,  den  niedrigsten  der  III.  Kreis 
mit  485  Frs.  per  Wohnung.  Unter  den  (Juariicren  weist  die  Altstadt 
rechts  der  Linimat  aufscrer  Teil  mit  1167  Frs.  den  höchsten  und  das 
(Quartier  WoUishulcn  mit  384  Frs.  den  niedrigsten  Durchschnittspreis  auf, 
wenn  wir  von  dem  sozusagen  rein  ländlichen  Quartier  Leimbach  absehen. 

Archiv  Cm  not.  GeaeUKebung  u.  Statiatilt.  XV.  4^ 


yod  Mi«£ellen. 

In  Luzern  beträgt  die  Differenz  der  Durchschnittsoiiete  zwischen  Grofs- 

stadt  und  Kleinstadt  l^ofs  5!^  Frs.,  wülircnd  der  Unterschied  zwischen 
(iem  Maximum  und  dem  Minimum  der  liezirke  514  Krs.  f)cträgt.  Zur 
TKihcrri!  Motivieruntr  dieser  Diftcrcnzcn  wäre  eine  knappe  Darstellung^ 
der  iJeliauuugs-  und  Hauvcrhältnisse,  j^a-wissermalsen  ein  rebersichtsplan 
n()tig,  ueiui  die  \\  cjlinuni^'srni |ueten  nicht  all/u  hohe  Ansjjruche  an  die 
persuniichen  Kenntnisse  ihrer  Le»er  machen,  oder  auf  die  Vergleichbar- 
keit bis  zu  einem  gewissen  Punkte  verzichten  wollen.  Allerdings  fehlt 
es  nicht  an  Bemerkungen  in  genannter  Richtung,  welche  demjenigen, 
der  die  Städte  aus  eigener  Anschauung  kennt,  Anhaltspunkte  zur  Ver- 
gleichung  geben  und  ist  gerade  auch  damit  unsere  Forderung  zusammen- 
hängender Schilderung  dieser  Wrhaltnisse  begründet. 

Die  Ihizuverlässigkeit  des  durchschnittlichen  Mietpreises  einer  Woh- 
nung als  Mafsstab  zur  Beurteilung  der  Kosten  des  Haushaltes  verschie- 
dener Städte  ergiebt  si«  }i  tiutrr  inderem  aucli  daraus,  dafs  die  Reihen- 
folge unserer  Städte  hiiisu  niii«  h  dfr  durrhx  Imitthrhen  \N'ohnunL:stniete 
und  hinsichtlich  des  durchschnitlliclien  Preises  eines  Zimmers  eine  aanz 
andere  ist,    Iis  kostet  ein  Zimnier  durchschnittlich  in: 

Bern  172  Frs. 

Zürich  i(yo  ,, 

Basel  138  „ 

Luzern  IS9    „  , 

Lausanne  120,5  «• 

Der  beste  Mafsstab  iwx  Bestimmung  des  relativen  Mietiireises  ist  der 
Kubikraum,  den  die  Wohnungen  bieten.  Der  Mietpreis  pro  Kubikmeter 
Luftraum  mit  Einschlufs  der  Küchen  stellt  sich  in : 

Zürich     auf  4,23  Fr-. 

Basel  3.54  „ 

Bern       „  3,35  „ 

Lausanne  H  3,24  „ 

Luxem    „  3,15  ,, 

Der  Nachweis  daiur,  dals  der  Aermere  relativ  erheltiu  h  (eurer  wohnt 
als  der  Reiche,  wird  auf  verschiedene  Art  geleistet.  Vor  allem  geschieht 
dies  dadurch,  dafs  fttr  ganze  Gröfsenklassen  von  Wohnungen  der  durch- 
schnittliche Raumpreis  ermittelt  wird.  In  Basel  zeigen  die  Ziffern  des 
relativen  Mietpreises  von  den  kleinsten  (4,66  Frs.)  bis  zu  den  gröfsten 
Wohnungen  (2,93  Frs.^  eine  fortgesetzte  Abnahme.  In  Zürich  trifft  dies 
blofs  bis  zu  den  fiinfzimmerigen  Wohnungen  zu.  Die  gröfseren  Woh- 
nungen /eigen  wieder  eine  Steitrerung  des  relativen  .\Iieti)reiscs.  Der- 
sell»e  bctr.i;;t  bei  den  cin/inimei  luen  W  oiinuiii;en  5,81  Frs.  bei  den 
5  zinuueri^en  4,06  I  rs.  und  bei  «Jen  til)er  5  Zinuuei  enthaltenen  Wohnun^^en 
4,43  Frs     Dasselbe  leint  die  Beobacljtung  des  Zusammenhangs  zwischen 


biyitizeü  by  Google 


Emil  Hofmann,  Die  Krgcbnisse  der  schweizerischen  Wohaungsonquften. 


Wohnun Undichtigkeit  und  relativem  Mietpreis,  wie  folgende  ^^usammen- 

Stellung  zeigt. 

Es  beträft  der  DurchsclinitLsmictprcis  pro  cbm 
in  den  Wohnungen,  die  an 


amn  per  Kopf  gewährten 

in  Basel 

in  7lin<-1i 
in  AUilCU 

bis  A 

cbm 

Frs. 

f  ^  T  Timm 

7,37  rr». 

»»  y 

,, 

M 

7,55 

c.I — 6 

„ 

Ii? 

o,»5 

6.1 — 7 

„ 

3»**' 

»» 

e 

7.1—8 

n 

,» 

5»5*  '1 

II      ■  ' 

n 

4.  22 

1» 

c  in 
5,19  it 

t» 

4.49 

II 

ji  Sc 

II 

M 

4.>7 

», 

4.57 

n   »5,» -»9,9 

3.7S 

.1 

4,31  M 

,t  «0-25 

»t 

—  ^ 

»1 

4,20  u 

H  »5.»— 30 

»t 

3,45 

1, 

4,12  „ 

„  30,1-40 

>• 

3,57 

1, 

4,08  „ 

„  40,»-S0 

3,»8 

M 

4,08  ,. 

„  50,1—60 

3,34 

„ 

4,19  11 

»  60,«  -70 

ir 

3,33 

,♦ 

4,2  t  „ 

..  70,1—80 

,t 

3»«9 

,» 

4.10  „ 

„   So,  i  90 

?» 

3.12 

„ 

4,37  ,1 

.,   <>o,i — 100 

II 

3.33 

II 

4.2') 

iib'T  l(x> 

J.20 

4.40 

Aehnliche  Erst  lifinuiipcn  hrHlen  sic  h  hitjsic  hthch  der  Sto<  kwerks- 
laj^e.  Ciiebt  die-e  .lurb  k'-men  absoluten  Mafsstal)  tur  che  (iute  der 
Woiinung,  so  lalst  sie  doch  i;ewisse  Unterschiede  ^riit  hervortreten.  Auch 
da  zeigt  sich,  dafs  der  Preis  um  so  höher  ist,  je  ächlcchter  die  Woh- 
nungen liegen. 

Die  Berner  Wohnungsenqu^te  hat  sich  nicht  mit  diesem  indirekten 
Nachweis  begnügt.    Die  Einteilung  der  Mieter  und  Vermieter  in  soziale 

Grupjjen  und  Schichten  hat  die  Thatsache  !»e\veisen  las>en ,  ciafs  der 
relative  Mielpreis  um  so  ^röfser  ist,  einer  je  niederen  sozialen  (Gruppe 
bc/w.  Schicht  der  Hansliaitunfrsvorstand  angehört.  her  1  )urchschnitts- 
|)reis  fiir  den  Kul>ikmeter  Luftraum  e.\kl.  Küche  stellt  sich  nämlich  in 
den  Wohnungen  der 

olx  Ti-n  >(  iiirht  iiiit  ]r  .V.S4  Its. 
miulcrcn  „  j/jo  „ 

imteren  .,    „  4,14 

Der  relative  Mietpreis  der  unteren  Schicht  wurde  noch  wesentlich 
erhöht,  wenn  man  die  288  Haushaltungen  in  den  Mietwohnungen  der 
Stadt  Bern  mit  ihrem  niedrigen  Mietpreis  ausschalten  würde.  Aehnliche 
Verhältnisse  zeigten  sich  in  Basel.    Dort  wurden  die  Mietwohnungen 

46* 


708 


Miszellen. 


nach  dem  llerufe  der  Mieter  und  der  Höhe  des  Mielzinses  untersrliieden. 
Zur  Wr^leichung  stellen  wir  die  Ergebnisse  von  Bern  und  Basel  nach 
dieser  Seite  hin  einander  gegenüber. 
In  Basel  betrug 


die  DoTcbsdiiiittsiniete     der  dnrcbsclmittliclie  Mietsans 


in  den  Benifskla:s8cn :      einer  Wohnung 

per  Kopf 

per  cbn 

Frs. 

Fis. 

Frs. 

I. 

Kahrika!it»>n  

4 

*  WSW 

2CX 

2 

6oi 

1  IQ 

3 

Gai>ti>utä-  u  \VirUchaft>besiUcr 

573 

99.49 

3.21 

4. 

Selbst.  Handeltreibende  .   .  . 

573 

3.59 

5. 

Handlungsgehilfen    .   .   .'  . 

538 

138,41 

5>73 

6. 

< 

Rcnfn«  r,  l'frutMose  .... 

457 

3.4S 

7. 

Selbitt.  Urprodu/.-iUf-n 

410 

74.58 

2.69 

8. 

.,  Kleingewerbetreibende 

86,48 

3.01 

9. 

34<J 

»05,73 

3.91 

10.  Niederes  VerwaUwigspersoiial 

320 

71.39 

3.40 

II. 

Arbeiter  im  Kleingewerbe. 

*95 

68,64 

3»77 

I  2. 

in  der  Urproduktion  . 

369 

64.76 

3.71 

Fabrikarbeiter  

268 

69,86 

3,47 

14- 

Taglöhncr,  Dienstboten  etc.  . 

243 

67.82 

3-74 

Ueberhaupt  

368 

92.13 

3.54 

In  Bern  belauft  sich  der  durchschnittliche  Mietpreis  für  den 
Kubikmeter  eig^entlichen  Zimmerrautns  in  den  Wohnungen  der  Gruppe: 


Selbständige  Landwirte   auf  3  Fn.  54  Cts. 

Professoren.  Lclirrr.  Pfarrer,  Richter  u.  dgl.  .    .    .  „  3  ..  60  „ 

Gastwirte,  Kost-  u.  Logisfjcber   3  68  „ 

Wt  itiliclif  l%  r>()non  ohne  Reriif   3  75 

Für»prci;her,  Acr/tc,  Ingenicure,  Notare     .    .    .    ,  „  3  .,  82  „ 

Baumelst«',  Aidiitdcten   »t  3  ,1  85  „ 

AObmlicbe  Personen  ohne  Beruf   »  3  »  87  „ 

Staats*  u,  Gemeindebeamten   »  3  »  89  „ 

GrofshSndler,  Bankiers  u.  dgl   n  3  n  94 

Beamte  der  Eisenbahnen,  Post  n.  dgl   i«  3  «•  94  » 

Andere  Gr         .\  .  rbcmeister   n  3  t»  96  „ 

.Spediturru,  1  uiirlialtcr  u.  dgl   11  3  96  „ 

Gypscr.  Maler  u.  dgl.,  Kleingewerbemeister    •    •    •  „  3  „  99  ,y 

Kaulmänn.  u.  techn.  Hilfspersonal,  Schreiber  u.  dgl.  „  4  ,,  — 

Andere  Kleingewerbenieister   „  4  ,,  01  ,, 

Staats*  o.  Gem^ndebeamten   „  4  ,,  02 

Im  Handelsregister  eingetragene  Kleinhlndler    .   .  „  4  „  03  „ 

Nicht  im  Handelsregister  eingetragene  Kleinhindl«r  „  4  07  „ 

Künstler,  Journalisten  u.  dgl   „  4  „  04  „ 

Andere  Arbeiter  im  Klein*  u.  GroC^ewerbe  .   .   .  „  4  „  10  „ 


uiyiti^ed  by  Google 


Dienstndbiner,  AuslXafer,  Maguiiier  o.  dgl. 

Agenten  u.  dgl  

Arbeiter  in  Verkehrsanstalten  

Schneider  u.  dgl.  Kleingewerbemeister  .  . 

Bauarbfitor  

Knechte,  Mägde  u.  dgl  

Angestellte  der  Eisenbahnen,  Post  u.  dgl.  . 


.  auf  4  Frs.  17  Cts. 
•   „   4   II    18  „ 

II    4    I«    '8  „ 


4 


4 


4 


37 


II 


Ueberdies  wird  bewiesen,  dafs  die  \Volinun<;smieter  an  die  Woh- 
nunfisverniieter  für  um  so  srhlerhtere  Wohnun^jen  einen  relativ  um  so 
höheren  Mietzins  be/aiilcn,  einer  je  niederen  sozialen  (Iruppe  der  Woli- 
nun^srnieter  einerseits  und  der  W'ohnungsvcrniietcr  .uKhef^eits  an- 
gehören. Dieser  Nachweis  wird  auch  mit  lie/ug  aut  die  Abtrittverhalt- 
mase  und  die  Dependenzeo  geleistet.  Der  relative  Mietpreis  einer  Woh- 
nung ist  um  so  gröfser,  je  mehr  Haushaltungen  ihren  Abort  gemein- 
schaftlich mit  ihr  benützen.  Relativ  am  teuersten  sind  die  Mietwohnungen^ 
die  nur  eine  Schwarzzeugkammer  haben.  Die  Wohnungen  mit  Schwarz- 
zeugkammer,  Keller  und  W'asciiküclie,  diejenigen  mit  Schwarzzeugkammer 
oder  Keller  und  Waschküche  und  diejenigen  mit  .Schwarz^'eugkaramer 
und  Keller  sind  relativ  billiger  als  sie.  Die  letztgenannten  Wohnungen 
sind  überhaupt  am  wenigsten  teuer;  sogar  jene  die  gar  keine  Dcpen- 
denz  enthalten,  sind  noch  teiuer  als  sie." 

Die  .\rt  der  Ikvalilung  des  Miei/inses  ist  sownhl  zur  Erkenntnis 
des  Mietverhältnisses  im  allgemeinen  als  auch  der  sozialen  Stute  der 
Mieter  wie  Vermieter  wichtig.  Wohl  wei^  jedermann  zum.  vorneherein, 
dafs  kurze  Mietfristen  bei  Mietern  und  Vermietern  der  niederen  sozialen 
Schichten  am  häufigsten  sind.  Auch  die  ortsüblichen  Miettermine  »nd 
im  allgemeinen  ohne  weiteres  bekannt  Aber  über  den  Grad  der  Ver- 
breitung derselben»  die  Häufigkeit  in  den  verschiedenen  Quartieren,  ihren 
engeren  ZusammenlianL,'  tnit  der  QualiLat  und  dein  Preise  der  Wohnungen  etc. 
kann  erst  einlafsliche  Untersuchung  Auskunft  geben.  Wie  weit  dies  eine 
solche  zu  thun  verniatr,  zeigt  die  Herner  Wobnungsenquäte.  Dort  gicbt 
es  W  ohnungen,  für  weit  he  die  Miete 

jährlich  ZU  entrichten  ist  14S1  oder  18,7  Froz.  aller  Alietswohnungen 

halbjahrlirli  „         „         „     785  (j,9     „       „  „ 

viertfljUhrlich  „         „         „    19^)4    „  25,1     „       „  „ 

monatlich  „         „        „  3659    „  46,3     „      „  „ 

• 

In  der  tmteren  Stadt  ist  der  Mietzins  von  54,6  Proz.  aller  Wohnungen 
monatlich  zu  entrichten,  in  der  oberen  Stadt  ist  dies  nur  fiir  23,1  Proz. 
der  Wohnungen  der  Fall.  In  der  unteren  .Stadt  haben  26,4  Proz.  der 
WohnunL'cn  vierteljährlichen  Zinsternnn,  in  der  oberen  12.6  Proz.  Die 
zonenweise  \'crteilung  der  Miettermine  lafst  darauf  s(  hlicfsen,  dafs  es 
vor2üglich  die  niederen  sozialen  Gruppen  sind,  welche  ihren  Mietzuis  m 


y  lO  Mis^i-llcn. 

kurzen  Terminen  /u  entrichten  haben.  Noch  deutlicher  zeigt  dies  der 
schichtenweise  Zusamnienzui;  der  Mieter.  Darnach  entrichten  iliren 
Mietzins : 

dor  Hau-^li.iltiin;.;-!- 
vi)i>t:indf 

()b>:rf  Soliicht 


MitfK-r.-  Scliicht 


n.iii>- 

Viert  <.-l- 

monat- 

Tot.il- 

liilirlkli 

j.Hlirliili 

iührlirh 

Uch 

Wohnungen 

22h 

Li» 

I0S5 

i  Pro/.. 

20.8 

IM 

14.6 

100,0 

497 

299 

444 

1826 

{  Vrui. 

loo.o 

l  ahs. 

596 

260 

10S4 

30.>7 

4'W7 

(  Pro/. 

I  1,0 

21.7 

bl,2 

100,0 

Den  Zusaintnenlian;^  der  sozialen  Gruppeiizufiehörigkeit  des  Haus- 
eigentümers mit  der  zeitHchen  Grofse  des  Miettermins  zeigt  folgende 


Zusaiumenstellun«!.    Fs  wurden  vermietet : 

von  ik-r  sozialen 
Eigcntiimrrsiliiclit 


Obere  .Schicht 
Mittlere  SchiHit 

Untere  Schicht 


halb- 

virrtel- 

TTionat- 

j.ilirlich 

jährlicli 

jalirlich 

lich 

Uberhaupt 

[  all». 

793 

407 

I4Q2 

357& 

\  Vhu. 

22,2 

1  1,4 

iL! 

100,0 

(  abs. 

Li  30 

2>00 

'  Pro/. 

im 

9d 

26,5 

47.4 

100,0 

^  abs. 

52 

12 

1  Pro/. 

2.'> 

22,5 

65.7 

100.0 

Die  /usamnunstelluiig  des  Mietjtreises  mit  dem  Miettermin  zeigt, 
dafs  die  Wohnungen  die  billigsten  sind,  deren  Miet/ins  halbjährlich  ent- 
richtet wird,  während  die  Wohnungen,  deren  Miete  monatlich  bezahlt 
werden  mufs.  relativ  am  teuersten  sind.  Finden  sich  ja  unter  den 
40  teuersten  Wohnungen  nicht  weniger  als  ^  mit  monatlicher  Entrich- 
tung des  Mietzinses. 

Zur  Abrundunp:  des  Bildes  fiihren  wir  noch  an,  dafs  in  Bern  der 
durclischnittli(  he  Mietpreis  jiro  Kubikmeter  Luftraum  derjenigen  Woh- 
nungen, die  in  Hausern  liegen,  die 

bis  /.u  4j9  Pro2.         Rendit.*  abwerfen.  3,90  Frs.  beträgt 

5— 9>9     ._.  u  u        4-33  n 

10.0     14.9     ^  tt  1;         4'5.>     u  M 

15,0—19,9  n  11  4-^7     Ii  Ii 

20.Q        u.  darüber  ,,  „         4,83    „  „ 

Ebenso  hat  sich  in  Hern  gezeigt,  dafs  die  ( Irundstitcke  eine  tun  so 
klemere  Rendite  liefern,  einer  je  höheren  sozialen  Schicht,  resj>.  (Iruj)pe 
ihr  Figentumcr  zugehört,  sowie  dafs  die  reine  Rendite  um  so  grol'ser 
ist,  Je  vernachlässigter  und  schlechter  ein  Wohnhaus  ist. 


Emil  ilofroann,  Die  Ergebnisse  der  schweizerischen  Wohnungsenqueten,  yn 

V.  Die  bauliche  und  populationistische  Entwicklung. 

Die  Entwicklung  der  BdiausungszifTer  zeigt  nach  den  Erhebungen 
des  Sekretariats  des  schweizerischen  Gewerbevereins  in  dem  Zeitraum 
von  x888  bis  1889  folgendes  Bild. 

Abgenommen  hat  dieselbe  in: 


Bein 

mn 

3,0  Personen 

per 

Wohnhans 

Lausanne 

>i 

1,8 

II 

1» 

II 

Le  Locle 

ti 

i>3 

»» 

II 

1« 

Srhaffhaiwen 

•1 

«,« 

»t 

n 

ti 

Ba^el 

n 

»,o 

II 

II 

»I 

Genf 

<• 

0.5 

»♦ 

•I 

•I 

Biel 

It 

0,4 

n 

»» 

II 

Neuchdtcl 

»1 

0,3 

II 

»1 

La  Chatts-de-Fond 

It 

0,3 

II 

II 

II 

Winterthur 

II 

0,1 

♦ 

Zugenommen  hat  dieselbe  in : 

Fribourg  um  1.7  Personen  per  Wohnbaus 

St.  Gallen  „  1,6       „        „  „ 

Herisan  „  1,5        „         „  „ 

Züricli  .,  0,6  ,, 

Auf  den  ersten  Blick  scheint  die  Abnahme  der  Behausungsziffer  ein 
sehr  erfreuliches  Symptom.  Allein  die  Heurteüimfj  des  Ganors  der  r?e- 
hausungszitier  hangt  in  erster  Linie  von  der  Art  der  baulichen  Entwicklung 
ab.  Hat  die  Zunahme  ihren  (irund  darin,  dafs  bei  Neubauten  die  Miets- 
kaberne  vorherrscht,  so  mufs  damit  keine  gröfsere  Beengtheit  des  \\  ohnens 
in  den  älteren  Häusern  verbunden  sein.  Schlägt  aber  die  bauliclie  £nt* 
Wicklung  einen  anderen  Gang  em  und  besteht  die  Mehrzahl  der  neu 
bezogenen  Häuser  aus  kleinen  Arbeiterhäusem  oder  Einfamilienhäusern 
der  «"ohlhabenden  Klassen,  ohne  dafs  m  den  älteren  Stadtteilen  eine 
stärkere  Ausnutzung  der  überbauten  Fläche  durch  Vennehrung  der  Zahl 
der  Stockwerke  in  gröfserem  Umfange  stattfindet,  so  nnifs  eine  stärkere 
Zus^mmendranLT'ing  der  Bevölkerung  in  den  älteren  Häusern  eintreten. 

Für  HasL-1  trifft  das  letztere  zu.  Von  den  147 1  in  den  Jahren  von 
1870 — 1SS8  neu  l)e/(>fieiien  H:iusern  waren  16,7  Pro/.,  kleine  Aibeiter- 
häuser.  Dazu  machten  iSöo  die  ein-  und  zwci^itürkif^en  Häuser  zu- 
sammen ül)er  drei  Viertel  des  ganzen  Bestandes  aus  und  hatten  die  in 
den  zwanzig  Jahren  von  1860— >x 880  hinzugekommenen  Häuser  im 
Durchschnitt  fast  jedes  3  bewohnte  Räume  weniger  als  die  dem  früheren 
Bestände  angehörigen,  woraus  zu  entnehmen  sein  dürfte,  dafs  sie  auch 
wenige  Bewohner  aufzunehmen  im  stände  waren  und  thatsächlich  auf* 
nahmen.   In  Luzem  finden  wir  ähnliche  Verhältnisse.    Dort  betrug  der 


uiijui.iL.j  cy  Google 


712 


Miszellen. 


}icv()lk<,TUiiL:^/\i\\  ;i(  hs  seit  i8SS  c  irc  a  3  mal  so  viel  wie  die  vorlier- 
gclienden  8  Jahre,  die  Zahl  dei  Neubauten  aber  uur  2  mal  so  viel.  Trotz 
vermehrter  Bnus])ekulation  hat  die  Bauthäti|^eit  mit  der  Bevölkerungs- 
zunahme nicht  gleichen  Schritt  gehalten.  Weil  dort  grofse  Mietskasernen 
nicht  „gekannt  werden",  so  mufsten  die  älteren  Häuser  für  diese  Be- 
völkerungsvermehrung aufkommen,  was  hauptsächlich  durch  Aushau  der- 
selben nach  oben,  Verwertung  der  Dachräume  oder  durch  Anbau  mehr 
oder  weniger  zweckmäfsig  durchgefulut  worden  sein  soll.  Die  bauliche 
Entwickluii?  Zürichs  scheint  ähnliche  Wege  gefjangen  zu  sein. 

Dort  unterscheidet  die  Uohnnnt^seTuinete  drei  Hniiperioden,  deren 
/eithche  Ab^n  ii/uni;  in  der  Haugcsct/Licbung  begründet  ist.  Zur  ersten 
l{au|)criodc  sinil  die  Wohnungen  deijenigen  Häuser  f:erechnet,  welche 
vor  dem  Bestehen  eines  eigentlichen  städtischen  Baugesetzes,  also  vor 
dem  Jahre  1863  erbaut  worden  sind;  die  zweite  Bauperiode  nmfkfst  den 
Zeitraum  vom  Jahre  1863  bis  April  1893;  zur  dritten  Bauperiode  ge< 
hören  die  unter  dem  neuen  städtischen  Baugesetz  bis  zum  Zeitpunkte  der 
Wohnungserhebung  errichteten  Wohnungen. 

Die  folgende  Zusammenstellung  der  Wohnungen  nach  Gröfsenklassen 
und  Bauperioden  spricht  so  deutlich,  da(s  darüber  weiter  keine  Worte 


zu  verlieren  sind. 

w 

ohnraum 

(cbml 

Hüdcntlächp 

'  chm) 

Zahl  <lrr 

pro 

pro 

pro 

jiro  pro 

{iro 

Wohuuii^cn 

Zimmer 

bcwohücr 

Wohuung  Zimmer 

BfWühni 

L  Bauperiode  73S7 

119 

33,* 

27,1 

49.4  '3.8 

11,2 

M.        „  94*3 

t6o 

39*4 

33.» 

59.»  14.7 

ni.       „  534a 

»55 

40,7 

30,1 

57.6  15,1 

n.s 

In  Hein  sclieinen  sich  diese  Verhältnisse  antlers  entwickelt  zu  haben. 
\'oii  dort  erfahren  wir  zunächst,  daTs  5-5.^  Vro/.  der  Wohnhäuser  aus 
üci  Zeil  nach  und  46,7  i'roz.  aus  der  Zeit  vor  i.SSj  stammen,  sowie 
die  jährliche  Zunahme  der  Häuser  während  längerer  Perioden.  Dieselbe 
zeigt  in  Gegenüberstellung  mit  der  Bevölkerungszunahme  folgendes  Bild : 

Es  betrug  die  durchsclmuthchc  jälirhchc  Zuuahme 

der  Häuser         der  Bevölkerung 
V.  1870—1880  3,i  Proz.  20  Pros. 

„  1880 -1888  0,5  0,79  „ 

„  1888—1896  3.3  „ 

Dagegen  koninicn  in  den  vor  1853  erbauten  Häusern  blols  2,8 
Zimmer  auf  die  einzelne  VNohnung,  während  in  den  nachher  erbauten 
3,7  Zimmer  auf  die  einzelne  Wohnung  entfallen. 

Ueberdies  erfahren  wir  durch  die  Wohnungsenqu^en,  namentlich 
durch  diejenige  Berns,  noch  mancherlei  andere  Beziehungen  zwischen 
den  Wohnungen  und  dem  Alter  der  Häuser.   Wir  sehen,  wie  es  auch 


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Kmil  Hufniann,  i'ic  Krgelinis.sv  der  ücltwvizcrisclicn  Wo|inunc-<(i'n(iueten.  ji^ 


in  den  neueren  und  netiesteti  H  niscrn  Wol.nunuen  ohne  oder  mit  i:e- 
nieinschaltliciier  Küche  giebl.  Die  DiftertMu  zwisciicn  der  Zahl  der 
Wohnungen  und  derjenigen  der  Köchen  ist  am  kleinsten  in  den  ältesten 
und  nidit  in  den  neueren  Quartieren.  Der  Grund  hierfür  wird  von 
Bücher  in  der  Thatsache  gesehen,  dafs  die  alten  Häuser  mit  ihren  breiten 
Gängen,  ihren  Winkeln  etc.  öfters  die  Möglichkeit  bieten,  etwas»  das 
einer  Küche  ähnlich  sieht,  im  Falte  des  Bedarfs  anzubringen  als  die 
neuen  mit  möglichster  Räume rsparui^  eingericliteten  Bauten.  In  Bern 
zeigt  sich  ungefähr  dieselbe  Erscheinung.   Dort  waren  in: 

\V<>1inun;;«-n  mit  Wohnungen  • 

gemein  soll iiftl.  RUche  ohne  KUche 
den  vor  1S53  erbauten  Häu&em         2,2  Prox.  7,0  l'ro«. 

in  den  v.  95  „  „  1,1    „  2,5  „ 

Femer  zeigt  sich  die  bemühende  Erscheinung»  dafs  es  nicht  nur 
die  älteren  Häuser  sind,  welche  Wohnungen  mit  gemeinscliafth*  hen 
Aborten   enthalten.     Die  Bemer  Wohnungsenquite  weist  hierauf  mit 

folgender  Tabelle  hin: 

Von  den  \Vohiuin.,'en,  die  sich  in  Hausern  belinden,  weh  he 

vor  1853  erbaut  wurdeo,  haben  2706  oder  49,1  Vrca,  gemeimcbaftlicbe  Aborte 

von  1S53    5(1  „ 

•1   ibjü— 79  , 
„   1880—89  ,1 
„   1890—95  .. 
„  1853-95 

In  Zürich  und  Luzcrn  zeigt  die  quartier-  be/w.  !>e/ii ks\s ei-e  Zu- 
s;imuienstellung  der  W  ohnungsmängel ,  dafs  geuieuisc  iiatilu  h  benui/Je 
Aborte  auch  in  neueren  Häusern  noch  vorkommen.  Dagegen  zeigt  sich 
in  den  netteren  Häusern  Berns  eine  Verbesserung  hinsichtlich  des  An- 
schlusses an  die  Wasserleitung,  die  Ableitung  des  Küchenwassers,  die 
Treppenverhältnisse  und  die  Beleuchtung.  Allerdings  bt  die  durch- 
schnittliche Zahl  der  Feuster  pro  Zimmer  von  1,7  in  den  vor  iSS^  er- 
bauten Häusern  auf  i,5  in *den  seither  erbauten  herab<;esunkcn.  Dafür 
sind  aber  nach  den  Relativzahlen  betrachtet  beinahe  keine  Zimmer  mehr 
ohne  Fenster  eingerichtet  worden  und  weisen  die  neueren  Häuser  viel 
mehr  Zimmer  mit  direktein  Sonnenlicht  auf.  Dasselbe  /.eiiit  si(  h  auch 
in  Basel  und  Zürich.  Dort  ist  die  Zahl  der  zwei-  und  mehrlenstrigen 
Zimmer  in  dem  neueren  Teile  des  Sleiuenquariier.s  erheblich  geringer 
als  im  Stadtquartier,  wo  ein  grofser  Teil  der  Zimmer  in  den  alten 
Häusern  indirekte  Beleuchtung  hat.  Hier  kommen  von  den  1732  in- 
direkt beleuchteten  Zimmern  nicht  weniger  als  1093  auf  den  L  Stadt« 
kreis,  während  die  4  übrigen  Stadtkreise  sich  in  den  Rest  teilen. 


35  •• 

25-5 

IT 

tl 

II 

>l 

220  ., 

20,5 

•  1 

l< 

ft 

27,8 

II 

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1» 

n 

8,6 

»1 

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!♦ 

n 

8,7 

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»t 

»» 

f» 

18,9 

Jf 

«• 

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Jl^  Miszrlltn. 

Die  bauliche  Qualifikation  der  HSüaer  im  allgemeinen  in  ihrem  Ver- 
hältnis tum  Baujahr  ist  wohl  überall  ungeßthr  dieselbe  wie  in  Bern,  wo 
sich  zeigte,  dals  die  Wohnhäuser  im  allgemeinen  um  so  häufiger  die 
Qualifikation  gut,  um  so  weniger  die  Qualifikation  befriedigend  und  um 
vieles  weniger  die  Qualifikation  schlecht  trafen,  je  neueren  Datums  sie  sind. 

Die  Tendenz  der  baulichen  Entwickluujj  ist  durch  das  Vomnpegangene 
schon  ziemlich  fjenügend  veranschaulicht  und  erubriut  blof?,  noch,  die 
Verhältnisse  von  Aui^cbot  und  Nachfra^T-  auf  dem  W  ohnun;^suiat  kt  der 
verschiedenen  Städte  zu  skizzieren,  soweit  dies  an  Hainl  der  Statistik  der 
Icerslehendeu  Wohuungen  möglich  ist.    Es  gab  leerstehende  Wohnungen  in 

Zürich       4.8  Proz. 
Lu/A-rn  1,5 
Bern  1.3  „ 

Ik>rn  weist  somit  die  geringste  Zahl  an  leerstehenden  Wohnungen 
auf.  Zudem  waren  die  unbesetzten  Wohnungen,  die  es  im  Jahre  1896 
iral),  zu  eine!n  irrofsen  Teil  so^  Sonmierwohnungen  und  neu  eingerichtete 
\\ohnun:;cn  in  Neubauten.  Leider  erfahren  wir  über  die  Raumverhält- 
nisse der  leerstehenden  WObnungcn  wenig  und  müssen  uns  mit  der  .An- 
gabe liegnügen,  dals  in  der  aitcn  Stadl  von  den  4S42  W  ohnungen  zur 
Zeil  der  WohnungseaquSte  nur  a8  leer  standen  und  die  ganze  obere 
Stadt  nur  5  leere  Wohnungen  aufwies.  Im  Stalden-Mattequartier,  das 
vorzüglich  von  Arbeitern  bewohnt  ist,  fanden  sich  ebenfalls  bk)fs  5  un- 
bewohnte Wohnungen. 

In  Zürich  ist  den  Verh^missen  der  leerstehenden  Wohnungen  gründ- 
lich nachgegangen  worden,  was  in  Anbetracht  der  Zahl  derselben,  sowie 
der  Wichtigkeit  dieser  Tb  itsache  tür  die  städtische  Baupolitik  eigentlich 
selbstverständlich  ist.  Ks  waren  dort  im  ganzen  1401  leerstehende 
Wohnungen  mit  ??i3  Zimmern  und  1361  Küchen.  .\m  meisten  leer- 
stehende Wohnungen  finden  wir  Itei  den  dreizimmerigen  (412  ,  den 
vierzimtnerigen  (.357)  und  den  fünfzimmerigen  (207),  am  wenigsten  bei 
den  vierzimmerigcn  mit  gemcinschafUicher  Küche.  Den  höchsten  l'rozent- 
satz  leerer  Wohnungen  weisen  die  fünfzimmerigen  ohne  Küche  auf 
(44,^  Proz.),  den  niedrigsten  die  einzimmerigen  mit  Küchenanteil  (i»5  Proz.). 
Bei  den  zwei*»  drei*  und  vierziramerigen  Wohnungen  machen  die  leeren 
crfme  Küche  6,7.  bezw.  14,9  bezw.  14,3  Proz.  aus.  Die  Verteilung  der 
leeren  Wohnungen  auf  die  Stadtkreise  zeigt  folgende  Zusammenstellung: 

leere  Wobnungcn  l.  Zimmer       cbm  Inhalt    Proi.  der  Wöhningen 


SUdtkreb  I 

13» 

590 

28360 

2,3 

„  II 

136 

641 

«9433 

m 

819 

»843 

108 14a 

7.8 

119 

510 

19677 

3.6 

„  V 

»95 

929 

38375 

a,9 

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Kluil  llofiiiunii,  Die  llrj;i  lini.»c  der  .^cliwci/cri-iclitn  Wulinung-sfiiijUclcii.     71  C 


Im  dritten  Stadtkreis  (Wiedikon  und  Aussersihl)  wurden  somit  am 
meisten  leere  Wohnungen  gezählt  und  liefern  bientu  die  dreizimmerigen 
mit  37,6  Proz.,  die  vierzimmerigen  mit  38,4  Proz.  und  die  fUnfzimmerigen 
mit  I4t4  Proz.  den  Löwenanteil. 

VI.  Die  Folgen  der  Wohnungsenqulten. 

Die  Verwertung  der  durch  die  Enqudten  erhobenen  Einzelthatsachen 
ist  sozusagen  überalt  eine  zweifache  gewesen,  eine  administrative  und 
eine  statistische.   Dementsprechend  sind  auch  die  praktischen  Erfolge 

der  Wohnungsenriui^ten  in  zweierlei  Richtungen  zu  suchen. 

Die  administrative  Benutzung  des  Materials  stützte  sich  entweder 
auf  ein  furnilirhes  ..srhwnr/.cs  Buch",  in  welciieni  für  jedes  ein/chic  Haus 
alle  durch  die  W  ohnungscnquete  ans  Licht  i;c/.o£^cnen  Mantrtd  hau- 
poUzeiUcher  und  sanitarischer  Art  nach  besiiniuiien  Rubriken  aufge- 
nommen wurden  oder  wie  z.  B.  in  Luzern  auf  in  regehnäfsigen  Inter- 
vallen an  den  Stadtpräsidenten  geleiteten  Zusammenstellungen  der  groben 
Mängel  in  baulicher  und  sanitarischer  Hinsicht.  Selbstverständlich  war 
diese  administrative  Benutzung  des  Nfaterials  sehr  verschieden  je  nach 
dem  Stand  der  in  Frage  kommenden  Gesetzgebung,  sowie  der  Einsicht 
und  der  Energie  der  Behörden.  In  Lausanne  scheint  die  Coniniission 
de  saluhrite  dem  aus  18  Heften  l)estehenden  schwarzen  Biich  keinen 
besonders  grofsen  (llauhen  gesrlienkt  zu  })al)cn.  Wenigstens  drückte  sie 
sich  um  die  Ptlirht  des  Einschreitens  t:ei:enüber  den  in  der  Zahl  von 
890  konstatierton  Wohinmgsraängeln  mit  der  Ausrede  herum,  dafs  die 
Beobachtungen  allzu  unbestimmt  lauten.  In  Aarau  fand  die  Sanitäts- 
kommission  das  Einschreiten  vom  sanilätspolizeilichen  Standpunkt  aus  in 
doppelter  Hinsicht  für  nicht  angezeigt.  Einerseits  betrachtet  sie  das  Er« 
gebnis  der  Enquöte  als  günstig  und  andrerseits  bekennt  sie,  dafs  die 
gesetzlichen  Grundlagen  zu  administrativer  Benutzung  des  Nfatcrials  fehlen. 
Dieser  letztere  Umstanrl  nKichte  sich  auch  in  St.  Gallen  unliebsam  fUhlbar, 
wo  bauliclie  und  andere  hygienische  Uel)elstände,  die  einer  sofortigen 
Abhilfe  auf  bau-  oder  gesundheitspolizeilichem  Wege  bedürfen,  in  der 
hohen  Zahl  von  6;^2  durcli  die  NN'ohnungscnquete  konstatiert  wurden. 
Dort  sah  sich  die  ( iesumiheuskcmnuission  veranlafst,  in  allen  Fallen,  bei 
denen  die  ge.setzliche  Grundlage  zu  amtlichem  Einschreiten  fehlte,  au 
die  Eimicht  und  Opferwilligkeit  der  Hause  ige  ntfimer  zu  appellieren. 

An  anderen  Orten  wurde  strenge  auf  die  Abstellung  der  konstatierten 
Müsstände  gedrungen  und  die  Befolgung  der  behördlichen  Anordnungen 
durch  sog.  Nacbiuspektionen  eruiert,  auch  wenn  die  gesetzlichen  Hand- 
haben hiertiir  nur  zum  Teil  vorhanden  waren.  In  Bern  hat  die  Polizei- 
direktion auf  Grund  der  gemachten  Erhebungen  bei  einer  grofsen  Zahl 
von  sanitarisch  ungünstigen  Wohnungen  eine  KontroUuntersuchung  durch 
den  Polizeiarzt  oder  dessen  Stellvertreter  vornehiuen  und  die  polizei- 


7i6 


Mis2«Uon. 


ärztlichen  Anträge  zur  Beseitigung  der  sanitär i  sehen  Uebelstände  den 

Hausel^jentüracrn  /i:r  Kenntnis  bringen  lassen.  In  der  groften  Mehrzahl 
der  Fälle  haben  sich  die  letzteren  auch  bereit  erklärt,  die  vorgeschlagenen 
Verbesserungen  aus/utühren. '  i  Im  Jahre  1S97  wurden  die  Kontroll- 
uiitersuchungen  der  durch  che  Kthehunf;sl)eaiiiten  siijnalisierten  sanitari- 
S(  nen  Uei)eIstaiHlc  in  ausgcdelinter  Weise  forigeiet/l.  Durcii  den  l'oh/.ei- 
ar/t  und  2  ihm  beigegebene  Aer^te  wurden  nicht  weniger  als  697 
sanitarisch  beanstandete  Wohnhäuser  auf  ihre  hygienischen  Verhältnisse 
begutachtet  und  diesbezügliche  Vorschläge  zur  Abhilfe  der  sanitarischen 
Mifsstände  der  Polizeidirektion  eingereicht  „in  weitaits  der  grofeen 
Mehrzahl  der  Fälle  kamen  die  Hauseigentümer  den  an  sie  gestellten  An- 
suchen,  die  nidit  selten  erhebliche  finanzielle  Opfer  von  ihnen  ver- 
langten, willig  nach  und  dürfte  schon  jetzt  die  viel  angefochtene  Wohnun^s- 
enqu^te  ilire  guten  Früchte  getragen  haben;  gegen  die  übrigen  Haus- 
eigentuiuer  wird  sich  die  Poli/cichrektinn  die  weiteren  Schritte  \  orl)ehahen."- 1 
Zürich,  tiessen  schwar/.es  Kuch  '73,48  Proz  )  Itewohnte  Hauser 

in  einem  Folioband  von  364  Seiten  uintafsi,  hat  noch  im  gleichen  Jahre, 
in  welches  die  VVohnungsenquete  liel,  lulgeude  Verfügungen  erlassen, 
betreffend*): 


l'Dgexiefer  in  Wobnräumen  .... 

»4 

Unreinlichkeit  in  .... 

*3 

22 

• 

Unrat  in  Keller  n.  Dachboden    .   .  . 

94 

44 

I'Ü^K-r  

2$ 

• 

44 

Keurhto  VVofiminficn  

1C9 

L  •  li'-rv.  illj.  rt-'  Wolinuiij^cu  

HO 

34 

19 

Wobnrinme  ionstwie  ongcnü^c-nd    .  . 

39 

109 

Belüstigende  Zustünde  verschiedener  Art 

78 

Sämtliche  \  er  fugungen  wurden  auf  deren  W  irkung  kontrolliert  durch 
2  Sanitätsbedienstete  und  2  Mann  Aushilfe  luid  zwar  im  allgemeinen 

*)  Beriebt  des  Gemeindetales  der  Stadt  Bern  an  den  Stadtrat  ttber  den  all- 
gemeinen Gang  und  die  Ergebnisse  der  GemeiodeTerwaltung  im  Jahre  1896.  Bern 

(Bucbdnickerei  oi  rr^ht  u.  Käser)  1897.   II.  Teil  S.  26. 

•)  Bericht  des  Genifimieratos  der  Stadt  Bern  an  den  Stadtrat  üV)cr  den  all- 
gemeinen Gann  und  die  lir;;f.liiii>sc  der  ( ionu-imli-vcrwahung  im  lahre  I.S97.   II.  Ti-il  S.  20. 

'    Ge-><  haltstx  richt  <1'  >  Stadtrates  u.  der  Zentralschulpflef^e  der  Stadt  Zürich  vom 
Jahre  l8y6.    Züricl»  (Buthdruckerei  U«richthau&;  '^97.    S.  143  f. 


uiyiii^oa  Dy  Google 


Emil  Hofmanti,  Die  Ergebnisse  der  schweizerischen  Wohnungsenqu^n.  jiy 

mit  zufriedenstellendem  Lrj,'ebnisse.  Immerhin  waren  39  X'erwarnungcn 
und  36  Hülsen  notwendig.  Dem  Ikiuwesen  I  wurden  60,  dem  Bau- 
wesen II  (Strafscninspcktoratj  74,  *^Um  Polizeiwesen  (Feuerpolizeij  39  Fälle 
zu  weiterer  Behandlung  Überwiesen. 

Eine  fernere  Klasse  von  Wohnungsschäden,  die  in  zweiter  Linie  in 
Bearbeitung  zu  nehmen  war»  beschlug  die  Abtrittverhältnisse.  Die 
Wohnungserhebung  ergab:  \ 

I.  Abtritte  ohne  DmckwasserspOlung  11.  ohne  Loftabschlafs 

3.  Abtritte  mit  Spttlimg  a.  ohne  Lnfinbseblttfs   348 

3.  Abtritte  oline  Spülunj,',  j-  dorli  mit  I.nftubschlufs     ...  6 

4.  Abtritte  ohne  direkte  Belcuchtong  u.  Ventilation  .    .   .  103 

Diese  Fälle  verlangen  einzeln  die  einläfslichste  Prüfung,  um  Ver* 

fügun^en  treffen  /u  können,  welche  einerseits  vorhandene  Uelielstände, 
vorab  Geruchbelastigiuig  beseitigen,  uund  andrerseits  sich  zu  halten  ver- 
mögen 

Ik'sontiere  Aufmerksamkeit  »sodann  erheist  ht  der  weitverbreitete  Uehel- 
stand,  dafs  tiie  H(jden  der  Ahtriite  blofs  bis  /.u  den  mit  lioden  und 
Wänden  fest  verbundenen  Einkleidungen  der  Schüsseln  reichen,  statt  an 
die  Wände,  sowie  an  die  Abfall-  und  Dunstrohre  dicht  anzuschliefsen.'* 

Jm  folgenden  Jahre  wurden  wenigstens  die  dringend  Abhilfe  er- 
fordernden Uebelstände,  welche  durch  die  Wohnungserhebung  aufgedeckt 
worden  waren,  erledigt,  trotz  des  groisen  Widerstands  namentlich  gegen 
die  Ausschaltung  der  hölzernen  Abtrittrohre. 

Winterthur  liefs  in  säinilii  hen,  anläfslich  der  Wolmuii^^suntersuchung 
beanstandeten  Wohnungen  durch  eine  Abordnung  der  Behörden  eine 
Nachinspektion  vornehmen  und  mutsten  in  25  Fällen  Anordnungen  zur 
Abhilfe  erlassen  werden.') 

Hasel  liefs  sich  mit  der  administrativen  Benutzung  der  Wohnungs- 
enquete ziemlich  Zeit.  Wenigstens  war  die  Besichtigung  der  durch  die 
Wohnungsenqudte  namhaft  gemachten,  indirekt  vom  Tageslicht  beleuchteten 
Wohn-  und  Scblafräume  erst  im  Jahre  1896  beendigt.^  Dafür  führte 
aber  die  Choleragefahr  im  Jahre  1892  wenigstens  zu  einer  regelmäfsigen 
Inspektion  eines  Teils  der  Wohnräume.  Im  genannten  Jahre  wurden 
während  der  Monate  Augtist  und  September  eine  gröfsere  Zahl  von 
Wohnungen  einer  genauen  Inspektion  unterworfen.  In  den  folgenden 
Jahren  fanden  regelmäfsige  Insf)ektionen  der  Kost-  und  Schlafgüngereien, 
der  kassierten  Wolmimgen,  sowie  der  iuiechtekauunern  samtliclier  Fuhr- 


')  Gcischäftüberichtt:  der  V  erwaltungsbehörden  der  ■stadi  Wuiicrlhur  vom  Jahre 
1897.   Winterchttr  (bachdmckerei  Geschwister  Zic^ler)  1898.    S.  148. 

")  63.  Verwaltongsbericlit  des  Regierungsrates  u.  50.  Bericht  des  Appellations- 
'  gerklitcs  über  die  Jnatizverwnltnng  vom  Jahre  1896  an  den  Gfofsen  Rat  des  Kantons 
Basel-SUult   VU.    S.  3a. 


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718 


Mi!>2clU-n. 


und  Droschkciihaltcicicn  st:m.  Dies  halle  zur  Folge,  dafs  in  u<  n  Schlaf- 
gangereien  mehr  auf  Reinlichkeit  gehalten  wird  luid  das  Ergebnis  der 
Besichtigung  der  Knechtezimmer  in  den  Droschken»  und  Fuhrhaltereien 
im  Jahre  1897  als  ein  befriedigendes  bezeichnet  werden  konnte. 

Als  weitere  Folge  der  Wohnunjrsenquöte  ist  die  Thatsache  zu  be- 
trachten, dnfs  dem  Wohnmiusvvi-M'M  sowohl  seitens  der  Hehörden  als  der 
öftentli<hen  Meinuii-  crh(')hfe  Aufmerksamkeit  geui  im-'t  wird.  So  hielt 
es  die  bcrnische  P<  »lizeidirektion  fiir  angemessen,  zur  lit-ialuntr  von  Frafren 
aus  dem  dehieie  der  \Vohnunf:sh\  «^iene  eine  erweiterte  Saiuiai^kommission 
durch  lk'i/.iehung  von  'lechnikern.  Aer/ten  uml  lUirgern,  die  sirli  um 
diese  Sache  interessieren,  zu  bilden.  In  Zürich  wurde  der  Inspeklion  der 
Ma.ssen(particre  erhöhte  Aufmerksamkeit  geschenkt. 

Die  Untersuchung  erstreckte  sich 

in  den  Jahren  1895 

auf  Häuser   298 

Zimmer   1000 

„   Betten   2110 

„  Schtefer   3255 


1896 

1897 

1S98 

347 

3»5 

290 

1186 

ins 

1030 

2641 

4211 

3555 

3084 

Dil  Jahr  zu  Jahr  ein 

1895 

1896 

1897 

65 

10 

7 

»3 

10 

44 

29 

Ergebnis.    So  wurden  gefunden: 

1898 
48 

Holzbehälter  als  Schlafräume  .... 
Räume  mit  Flachlicht  (nicht  kontrolliert) 

AUeruni^s  war  die  Forderung  von  10  cbm  Luftraum  für  den  ein- 
zelnen Schlafer  und  eines  eiuschlaligen  bezw.  eines  aiiderlhalbschläfigen 
Bettes  fUr  2  Personen  fiir  die  Vermieter  oft  eine  harte  Nufs.  Aber  die 
Nachinspektionen,  welche  den  Säumigen  entweder  Verwarnungen  oder 
Bufsen  in  sichere  Aussicht  stellten,  veranlafsten  dieselben  doch  wenig» 
stens  die  gröbsten  Mifsstände  abzuschaffen.  ' 

Die  intensivere  Beschäftigung  der  ötfentlichen  Meinung  mit  dem 
Wohnungswesen  Sufserte  sich  in  der  Fresse  und  namentlich  auch  in 
zahlreicheren  an  die  Behörden  ticliitetm  Kli'jcn  viber  \\'ohnuiii;sinifs- 
stäude.  So  i)erich!ct  unter  antU  icm  du-  rnli/eidircktion  der  Stadt  Bern, 
dafs  im  Jahre  1807  /.ahlreit  here  Bcsclnverden  über  Feuchti<:keU  der 
Wohnungen  eingelaufen  seien  als  in  früheren  Jaliien.  In  .St.  (ialien 
mufsten  auf  eingt^an;;cne  Klagen  hin  im  Jalire  der  Wohnnngseniiudte 
in  33  l'ällen  Wohnimgsuntersuchungen  stattfinden.  Der  Einflufs  der 
Wohnungsen< luvten  auf  die  öffentliche  Meinung  in  dieser  Richtung  machte 
sich  sogar  weit  herum  geltend.  Der  schweizerische  Grütliverein  befafste 
sich  ebi  nlalls  mit  dieser  Fra^e.  Seine  Delc-giertenversanmilung  erteilte 
dem  Zentralkomiie  den  Auftrag,  im  Schofse  des  Grütlivereins  dahin  zu 


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Emil  Hofmann,  Uic  Ergebnisse  der  schweucrisclirn  Wuhnungsenqucten.  ji^ 

wirken,  dalb  allenthalben  die  Wohnungsliagc  in  Diskussion  gezogen  und 
auf  praktische  Lösung  derselbeu  Bedacht  genommen  werde.  Das  Ceotra!- 
komite  beschlo&  zur  Befolgung  dieses  Auftrages  zunächst  die  Erstellung 
eines  Leitfadens  fiir  die  Wohnungsfrage.')  Auch  der  Verein  Schwei« 
zerischer  Post-,  Telegraphen-  und  Zollangestellter  hatte  diese  Frage  auf 
die  Traktandcnliste  einer  seiner  X'ersatninlungen  genommen  und  die 
Gründung  einer  Genossenschaft  zur  Erstellung  von  kleinen  billigen  Woim- 
häusern  fiir  eidijenössisrhe  lienmto  diskutiert.  I)ie  Pre^^se  oder  die  Ar- 
bcilerschati  fonlerie  an  den  (  )rteii.  wo  die  Vornalnne  von  WChnun^s- 
on<|ueteii  untliunlich  ciselicinen  nuiibte,  wcin^siens  L nlersiu  hiniL.'  der 
schlethien  Wohnungen  oder  Abstellung  unwürdiger  VVohnungsverhahmsse, 
wie  dies  in  Rorschach  geschah  und  in  Frauenfeld  (K.t.  Thurgau)  und 
Binningen  (Kt  Baselland)  hinsichtlich  der  Italienerwohnungen  der  Fall 
war.  An  dieser  Stelle  ist  femer  auch  der  Organisationen  der  Mieter, 
der  sog.  Mietervereine  zu  gedenken,  welche  in  mehreren  Städten  entstanden 
sind.  Auch  diese  Vereinigungen  sind  geeignet,  die  Wohnungsfrage  nie 
mehr  aus  der  Traktandenlistc  der  Oefl'entlichkeit  verschwinden  zu  lassen. 
Als  Mu>ter  cintr  solchen  Organisation  nennen  wir  den  1891  gegrün- 
deten Mietervercin  in  /.urich.  Dieser  hat  einen  unentgeltlichen  Rechtsrat 
in  Mielaiigcle^enheiten  für  seine  Mitglieder  eingeführt,  ein  Nortnalmiets- 
fonnular  vereinbart,  ein  \"ercinsoif;aii,  den  „Wohnungsmieter  '  gegründet 
und  /ahlreiche  \'orträge  veranstaltet. 

Bei  der  administrativen  Verwertung  des  Materials  der  Wohnungs- 
enqu6ten  mufsten  die  Behörden  ohne  weiteres  auf  die  Unzulänglichkeit 
oder  das  ganzliche  Fehlen  der  Wohnungsgeset/^ebung  sowie  bau-  und 
sanitätspolizeilicher  Vorschriften  nach  dieser  Seite  hin  aufmerksam  werden, 
wie  dies  bei  dem  meist  ehrwürdigen  Alter  dieser  Gesetze  etc.  begreiflich 
ist.  In  Bern,  wo  die  Wohnungsentiu^te  mr  .Anbahnung  eines  Wohnungs> 
gesetzes  dienen  soll,  welches  nicht  nur  den  hygienischen  sondern  auch 
den  sozialpolitischen  Anfordenintjen  der  Neu/eit  entsjjricht,  werden  unter 
anderem  nanientlirh  auch  sirikti-  \ Urschriften  üljer  den  Be/u^  \nii  Neu- 
bauten vernnl^t.  \)oi[  isi  (.iuentlich  die  einzige  gesetzliche  Handhabe, 
um  Mifssianden  ni  den  bestellenden  Wohnungen  zu  begegnen,  die  „Tolizei- 
verordnung  über  das  Vermieten  und  Benutzen  der  .Wohnungen  von 
1857".   Dieselbe  enthält  die  folgenden  Bestimmungen: 

I.  „Es  ist  verboten,  Räumlichkeiten,  die  ihrer  Beschaffenheit  und 
Einrichtung  nach  sich  nicht '  zu  Wohnungen  eignen,  wie  z.  B.  Keller, 
Stalle,  Remisen,  offei^  Dachräume  etc.  als  Wohnungen  zu  vermieten. 
Eine  blofs  vorübergehende  Benutzung  solcher  Räume  zum  Wohnen,  wie 


*)  Jahresbericht  des  schweizerisiChen  Grtttlivereins,  umfassend  den  Zeilabschnitt 
vom  1.  Januar  bis  31.  Dezember  1897.  Zürich  (Buchdnickerei  de$  schweizer.  Grtttli- 
Vereins)  1898.   S.  27. 


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720 


namentlich  von  Ställen  im  Winter  und  von  Dachfäumen  im  Sommer, 
kann  ausnahmsweise  von  der  Polizei  auf  unbestimmte  Zeit  gestattet 
werden.  2.  Das  Zusammenwohnen  einer  su  grofsen  Anzahl  Personen  im 
nämlichen  Wohnräume  kann  a\i>  i:csuiidhL'itsi)ülizciIichen  Gründen  unter- 
snLTi  werden.  Der  Raum,  welcher  im  Minimum  je  für  eiiu-  Pereon  er- 
forderlich ist.  wird  nie  In  mir  durch  den  Innern  Halt  des  Wohnraumes 
selbst,  sondern  auch  durch  die  Laj^e  desselben  in  Ikv.u«,^  auf  Genufs 
der  Snniic,  auf  Luftungsfahigkeit,  Hei/.cinrichtung  und  Troi  krntieit  be- 
urldill  und  durch  S.ich\cisiandi;i:e  nach  Art.  5  hierna<  h  bcstuntiit.  In 
keinem  Falle  aber  darf  dieser  Raum  für  eine  Person  weniger  als 
200  Kubtkfufs  Luft  enthalten.  3.  Ebenso  kann  das  Zusammenleben  von 
erwachsenen  Personen  verschiedenen  Geschlechts,  welche  nicht  zum 
gleichen  engem  Familienverbande  gehören,  aus  sittenpoUzeüichen  Gründen 
untersagt  werden.  4.  Es  ist  verboten  „Wohniugen  oder  deren  Um- 
gebunu  in  so  unreinlichem  Zustande  zu  erhalten,  dafs  -lic  (icsundheit 
der  Bewohner  oder  ihrer  Nachbarn  gefährdet  wird.  5.  In  allen  zweifel- 
haften Fallen,  auf  welche  die  vorstehenden  Hestinununpen  Anwendung 
ünden,  ist  ein  Ciutachlen  von  zwei  Sachverständigen  einzuholen," 

Luzerns  Stütze  im  Kampfe  wider  \\  ohnun^^smilsständc  ist  ein  Gesetz 
vom  2q.  August  1864  und  ein  Reglement  vom  13.  März  1S67.  Lau- 
sanne stand  das  Baupolizeigesetz  von  1875,  Basel  die  Sanitätspolizeiver- 
ordnung  vom  9.  Juli  1864  und  die  Verordnung  vom  9.  Oktober  1864 
zur  Verfügung.  St.  Gallen'),  Winterthur  und  Zürich^  waren  insofern 
etwas  besser  gegen  Wohnun^mifisstände  gew^pnet,  als  ihre  beztigl.  Regle- 
mente  und  Vorschriften  jttigern  Datums  sind.  Uebrigens  sind  die  Mei- 
nungen auch  über  das  Letztere  geteilt.  Der  Stadtrat  von  Zürich  spricht 
diesem  Baugesetz  einen  sehr  wohlthätigcn  Kinflufs  auf  die  Verbesserung 
der  W  ohnungen  zu.  Er  stützt  sich  dabei  auf  die  völlig  übereinstimmenden 
Berichte  der  F.rhebungsbeainten  tmd  äufsert  sich  folgendernuifsen : ''i 

„Nun  sind  die  Mansarden  und  Dachschlafräume;  die  in  l)es!>eren, 
ja  eleganten  Hausern  früherer  Bauperioden  vielfach  beklagenswerte  Zu- 
stande aufwiesen,  den  gesundheitlichen  Anforderungen  an  eine  Schlaf- 
stelle gemäfs  hell,  geräumig  und  ventilierbar;  nun  ist  die  indirekte  Be- 
leuchtung, die  man  in  alten  und  neueren  Häusern  so  oft  antriiR,  auf  die 
Nebenräume  beschränkt  und  fUr  die  Gesundheit  und  Sicherheit  wie  fUr 
die  Bedürfnisse  und  die  Annehmlichkeit  der  Bewohner  besser  gesorgt. 
Auch  in  bescheidenen  Verhältnissen  läfst  sich  in  solchen  Häusern  mit 
bequemen  Treppen  und  Korridoren,  weiten  Fenstern,  freundlichen  Zimmern 


1)  12.  Mai  1887  u.  to.  mn  1892. 
*)  23.  April  1893. 

^1  Hcridit  des  Stadtrates  an  d«n  <iroi-,  n  Stadtrat,  betroffend  vorltnf^  Er- 
gebnisse der  WohnongwnqoAte  von  1896  ^d.  d.  2.  März  1897)  ^* 


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F. r.iil  iluimuiin,  I»ic  Ergebnisse  tlcr  schwciiiLTisclicn  Woliuuugscnquijlcii,    72 1 


und  hellen  Küchen  nebst  allen  nötigen  Zubehörden  gut  wohnen,  wenn 
der  Ordnungssinn  der  Insassen  dem  Ganzen  den  Stempel  behaglicher 
Häuslichkeit  aufdrückt. ' 

Aus  Winterthur  wird  berichtet,  dafs  die  Durchführung  dieses  Ge- 
setzes den  lk'h<)rden  wenigstens  im  Anfang  viel  zu  schaffen  gab,  was 
unserer  Ansicht  nach  kein  schlechtes  Zeugnis  ist.  Diese  beiden  That- 
sachen  verbunden  mit  dem  Wortlaut  des  in  l'rage  siehenden  Gesetzes 
lassen  es  begreifhcli  erscheinen,  dafs  demselben  vom  Bearbeiter  der 
Lausanner  Wohuungsenquetc  die  Rolle  eines  Vorbildes  zugewiesen  wird. 
Allein  bei  näherem  Zusehen  zeigen  sich  auch  in  diesem  Gesetz  er- 
hebliche  Mängel  und  Lücken,  die  aber  zum  Teil  durch  den  Erlals  eines 
Wohnungsgesetzes  ausgefUUt  werden  könnte.')  Die  Erkenntnis  von  der 
Unzulänglichkeit  der  bestehenden  gesetzlichen  Vorschriften  mufste  natur« 
gemäß»  dazu  drängen,  dieselben  zu  revidieren  und  zu  ergänzen,  .\ller- 
dings  lassen  sie  sich  hierzu  fast  mehr  Zeil  als  notwendig  erscheinen 
mag.  aber  wenn  dabei  wicilcrum  nach  dem  Vorbilde  Basels  verfahren 
wird,  so  mag  die  Qualität  der  Gesetzesarbeit  über  das  etwas  langsame 
Mar>clueni[)o  hinwegtrösten.  Schon  liucher  i^ieht  im  Schlufswort  zur 
Basler  Wohnungsenquete  der  Hoft'nung  Ausdruck,  dafs  der  von  einer 
besonderen  Kommission  in  der  2^it  vom  Novanber  iSSS  bis  Dezember 
1889  vorberatene  Entwurf  eines  Hochbaugesetzes,  wdciies  in  seinem 
III.  Abschnitt  den  sanitarischen  Anforderungen  in  mustergültiger  Weise 
Rechnung  trägt,  nach  den  jetzt  gemachten  Erfahrungen  demjenigen 
Wohlwollen  der  Gesetzgeber  begegnen  werde»  welches  notwendig  sei, 
um  ihn  so  bald  als  möglich  /um  (I^.  setze  werden  zu  lassen.  Diese 
HotTnung  erfüllte  sich  hinsichtlich  der  Zeitdauer  nicht.  Besagtes  Gesetz 
trat  erst  am  i.  Sej)tember  1895  in  Kraft,  nachdem  es  am  27.  Juni  vom 
GrofNcn  Rat  genehmij^t  worden. 

Der  Krlafs  eines  Wohnungsgeset/es  liefs  noch  langer  auf  sich  vvai  ten. 
Eine  au^  Männern  der  verschiedensten  Lebensstellungen  zusammen- 
gesetzte Kommission  kam  mit  ihren  Beratungen  über  dieseln  Gegenstand 
im  Anfang  des  Jahres  1897  zu  Ende.  Der  von  derselben  vorgelegte 
Entwurf  wurde  nach  eingehender  Beratung  durch  den  Kegierungsrat 
unterm  8.  September  an  den  Grofsen  Rat  geleitet '-) ,  welcher  am 
13.  Januar  1898  denselben  an  eine  neimgliedrige  Grofsratskoramission 
überwies.  ^)   Leider  war  diese  Arbeit  vergeblich,  indem  das  Volk  diesen 

>)  Vgl.  bimn  Pflflger,  Pfarrer,  Die  Wohnungsfrage.  Sozialwiaseoacbaftliche 
Volksbibliothek  Nr.  14.  Zttricb  (Kommissionsverlcig  der  Buchhandlung  d.  Schweix. 
CriUliveKiiis)  1899.   S.  36. 

•)  64  Vfr«Mltungst)eric1u  lU-s  Rogirnittgsrates  vom  Jahre  1897  an  denGrofsiea 

Rat  des  Kantons  Bas.l-Stadt.    VII     S.  2. 

65.  VerwÄltuußsboricht  des  Kc{;ierttogsrate«  vom  Jabrc  1898  anöden  Grofsen 

Rat  des  Kanton«;  Ha^i^l-Siadt.    VII.    S.  1. 

Archiv  für  »o^.  ücsct/^cbuug  u.  Suti^tik.  XV.  47 


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722 


MiszcHcn. 


Gesetzentwurf  vom  24,  Juni  1000  mit  urofsem  Mehr  ablehnte.  AHeia 
die  Regierung  lieis  sich  dadurch  niciii  abschrecken.  Sofort  nach  dem 
Volksentscheid  tli)kumenlierte  sie  ihren  festen  Willen,  zur  Verbesserung 
der  \VohnunL;s\ i.ih;il(nissc  ihr  Möglichstes  beizutra^a-n. 

Die  KntwirkhiuL;  tlei  Dini^e  ist  Ijci  diesen  Malsregeln  der  IJehOrde 
nicht  stellen  gel)liel>en.  Dem  kuniMniei ten  Angiitt"  verschiedener  Streit- 
kräfte, um  das  Wohnungselend  der  grolsen  Massen  zurüc  kzmlrangen,  liat 
dicseUie  eine  neue  zugefügt.  Die  Behörden  beginnen  noch  iu  anderer 
als  in  der  von  Bücher  ihnen  zugedachten  Weise  in  den  Kampf  zu  treten^ 
indem  sie  selber  den  Bau  von  Wohnungen  namentlich  für  Arbeiter  an 
die  Hand  nehmen.  In  dieser  Beziehung  hat  die  Stadt  Bern  in  an- 
erkennenswerter Weise  den  Anfan^j  gemacht.  Ihre  Thätigkeit  auf  diesem 
Gebiete  ist  bekannt')  und  1ii;au  hen  wir  blofs  noch  beizufiigoi,  dafs  der 
am  7.  Dezember  i8()o  von  der  Gemeinde  bewiUigte  Kredit  von  900,000  Frs.. 
für  den  Hau  billiger  Wohnunj;en  bereits  erscliöpft  ist.-) 

In  Hasel  wurde  diese  Kra^e  dur»  h  eine  F.ingabe  der  ( 'iOncIIsc  iiaft 
„Frei-Land"  angeteut,  welclie  nel)en  einer  Knt[uete  über  \eiteiluiiu,  He- 
weirunt:  und  l!cii'.it/unir  des  Tiotlens  auch  die  möglichste  Au:»deanun^  des 
Gemeiudegrundbesitzes  und  die  Erstellung  von  Arbeiterwohnungen  auf 
Staatsboden  postulierte. ')  Vier  Jahre  später  legte  das  Finanzdepartement 
dem  Regierungsrat  einen  Antrag  betrefifend  Erstellung  von  Wohnungen 
ilir  die  Angestellten  der  Strafsenbahnen  vor.^) 

In  Zürich  setzte  der  Stadtrat  durch  Beschlufs  vom  26.  Februar 
1896  ,,das  generelle  Programm  betreffend  Hebung  bezw.  Milderung  der 
Wohnungsnot  in  Absicht  auf  Leute  mit  geringem  Rinkommen"  fest,  nebst 
einem  Beschlufsantrag ,  in  der  Hauptsache  dahin  gehend ,  es  möchte- 
jenes  Programm  gruiidsat/lich  gebillii^t  und  dcra/ufol-^e  der  Stadlrat  ein- 
geladen werden:  a)  dem  urofsen  Stadtrate  eine  \  orlagc  über  die  Kr- 
stellung  gesunder,  billiger  W  uhnungeii  fui  -~t.ultis(  he  Arbeiter  und  äiiiilich 
bezahlte  städtische  Angestellte  einzubringen,  b)  betretfend  Deckuu^  des 
Wohnbedürfnisses  anderer  Gemeindeeinwohner  mit  geringem  Einkommen 
tonflcbst  mit  den  interessierten,  sowie  den  gemeinnützigen  Kreisen  (in- 
begriffen die  bestehenden  gemeinnützigen  Baugesellschaften)  behufs  Fest-» 
stelluiig  eines  generellen  Ausführungsprogrammes  in  Verbindung  zu  treten 
tmd  dieses  Programm  dem  Grofsen  Stadtrate  zur  Genehmigung  vor- 
zid^^.  Das  Bedürfnis  derartiger  Mafsnahnien  wurde  durch  die  Woh- 
nungsenqufite  treftlich  illustriort.    Dieselbe  ergab  nämlich,  dals  blois 


*)  Vgl.  hierzu  Adolf  Lasche,  Die  Herstellung  hilliger  Wohnungen  durch 
die  Geracind«' Hern.    Zeitschrift  für  schweizerische  Statistik.    Jahrgang  1 894.  S.  193  ft". 
*)  Verwaltungsbericlit  d<  s  CimifiTulcratcs  der  Stadt  Bern  vom  Jabrc  1897  S,  57» 
•)  Verwaltungsbcrichi  »U-s  Kcyu  i  uiigsratcs  pro  1892  IV'  .S.  4. 
*)  Verwaltungsbcrichi  des.  Kcgierungsrates  pro  1896  IV  S.  2. 


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Emil  Hofmann,  Die  hrgi.-biiis.st;  der  i^cli\vc)/.cn!>chen  Wohnungscnqut-tcii. 


7785  Wohnungen  mit  einem  400  Frs.  nicht  übeisteigenden  Mietwerte 
vorbanden  waren.  Diesen  Wohnungen  standen  aber  25000  Haushai« 
tungen  gegenüber,  welche  über  ein  2000  Frs.  nicht  übersteigendes  Ein- 
kommen  verftigen.  Das  heifst  also  mit  dürren  Worten  nichts  anderes, 
als  daft  über  *  g  dieser  flaushaitunf^en  mehr  als  den  fünften  Teil  ihres 
Einkommens  für  Mietzins  auf/uwenden  haben.  Mit  Recht  beweisen  dem 
Stadtrate  diese  Zahlen,  dafs  die  Frage,  ol)  die  AÜL'^eineiiilu-it  Wranlas- 
sunj?  habe,  in  cias  Wohnungswesen  zu  Cunstca  der  Leute  mit  geriniieni 
Einkommen  direict  und  indirekt  einzugreifen,  entschieden  zu  be- 
jahen ist."  ' ) 

Trotzden»  steht  die  Erledigung  der  Arbeiterwohnungsfrage  iuuuer 
noch  auf  dem  Boden  theoretischer  Envägungen.  Allerdings  hat  die 
vom  Grofsen  Stadtrate  ernannte  Kommission  ihre  Anträge  bereits  ge- 
stellt, aber  diese  sind  noch  nicht  behandelt  worden,  weil  das  Er- 
scheinen des  schriftlichen  Berichtes  sich  verzögerte.  -)  Er  ist  im 
Dezember  1899  im  Drucke  erschienen  und  bildet  namentlic  h  i  i  seinem 
II.  Teil,  den  „Mitteilungen  über  den  gegenwärtigen  Stand  der  Arbeiter- 
Wohnungsfrage  in  Dcutsehlaiid  und  der  Sc  hweiz,"  der  von  II.  .Mettier 
verfafst  wurtle,  eine  sehr  instruktive  Ergan/vmg  und  Motivierung  der 
Gesichts] lunkte.  welche  im  I.  Teil  entwickelt  wurden. 

Die  \'oraussetzung  des  Baues  von  Arbeiterwohnungen  seitens  der 
Städte  ist  ein  entsprechender  Besitz  von  Baugnmd.  Dies  verbunden 
mit  der  Erkenntnis,  dafs  ausgedehnter  städtischer  Grundbesitz  bei  den 
vielen  wirtschaftlichen  Problemen,  die  an  ein  Gemeinwesen  herantreten, 
von  hoher  Bedeutung  sei,  hat  in  diesem  Jahrzdmt  unter  mehreren 
schweizerischen  Städten  einen  regen  Wetteifer  entfacht,  ihren  Gnuid- 
besitz  zu  vermehren.  Allerdings  ist  dies  bis  jetzt  blofs  als  eine  sehr  • 
günstige  Kapitalanlage  betrachtet  worden  und  hat  man  darauf  verzichtet, 
auch  noch  auf  andere  Weise  vermitteKt  dieses  ( irundl)esitzes  in  die  bau- 
liche EntwicklunL'  einzugreifen.  An  Anregungen  hierzu  hat  es  nicht  ge- 
fehlt. Erst  ueuliih  lehnte  der  Grofse  Rat  des  Kantons  Haselsfadt  eine 
Motion  betrettend  Verwendung  des  dem  Staate  gehörenden  Batirechts 
nadi  dem  System  der  beweglichen  Grundrenten  oder  nach  dem  Heim- 
fallsrecht  ab.  Neben  den  Städten  sind  eine  Anzahl  von  Baugesell- 
schaften und  Genossenschaften  verschiedenster  Tendenz  bestrebt,  durch 
den  Bau  von  Wohnungen  der  Wohnungsnot  abzuhdfen.  .  Dasselbe  ge« 
schidit  durch  einen  Teil  der  Unternehmer. 


')  Geschäftsbericht  des  Stadtrates  und  der  Zcntralschulpflege  der  Stadt  Zürich 
vom  Jahre  1897.  ZUrich  (Bochdruckerei  Bericbthaus)  1898  S.  97. 

*)  Gtsehiftsberififat  des  Stadtrates  etc.  vom  Jahre  1898.  Zttrich  1899.  S.  99. 
*)  Vgl.  hiemi:  Ville  de  Lausanne.   Enqofte  snr  les  conditioos  du  Logement. 
<S.  139. 

47* 


724 


MuzcUcn. 


Die  Zahl  der  Fabrikwohnhäuser  hat  in  der  Zeit  von  z88o — 91 
eine  sehr  wesentlidie  Vennehrung  er&hren. 

Im  Jahre  1891  «urden  1598  Fabrikwohnhttttser  gezahk  und  konnte 

Fabrikinspektor  Dr.  Schuber  im  Jahre  1896  konstatieren,  dafi  eine  Er- 
hebung in  jenem  Jahr  nicht  nur  bedeutend  gröfsere,  sondern  wahr* 
scheinlich  auch  noch  um  etwas  günstigere  Ziffern  gebracht  hätte. 


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Die  Heimarbeit  in  der  österreichischen 
Konfektionsindustrie. 

Von 

Dr.  FRITZ  WINTER, 
in  Wien. 

Die  stetig  zunehmende  Ausbreitung  der  Heimarbeit,  die  (Gefahren, 
welche  sie  für  die  Diirchführunf^  der  sozialpolitischen  (icsctzo  mit  sich 
bringt,  indem  sie  den  Anreiz  ijifbt,  die  mit  Arbeiterscluitzbfstinunungcn 
belastete  Fabriksiudustrie  in  eine  Verlagsindustrie  zu  verwandeln,  die 
ungeheore  Verelendung  und  der  gesun^ieitliche,  moralische  Verfall,  dem 
aUe  jene  bfeiten  Schichten  der  Bevölkerung,  die  in  die  Sphäre  der 
Heimindustrie  gelangen,  ausgesetzt  sind,  alle  diese  mit  der  Heimarbeit 
notwendigerweise  verbundenen  Momente  haben  die  Aufmerksamkeit  der 
Wissenschaft  und  Gesetzge!)ung  auf  diese  Art  der  Produktion  gelenkt. 
Auch  Oesterreich  ist  in  die  Reihe  jener  Länder  getreten,  die  mit 
der  Sanierung  der  Verluiltnif^se  in  der  Heimarbeit  sie  h  l)cfassen.  IJis 
jetzt  sind  allerdin^^s  nur  ^'orarbeiten  «geschehen,  die  mehr  oder  minder 
wertvoll  sind.  Eine  Flut  von  (iutachtcn,  die  von  den  Handelskammern 
den  Genossenschaften ,  den  Clewerbeinspektoren  al)verlangt  wurden, 
suchten  dem  Problena  auf  bureaukratischem  Wege  beizukonunen.  Erst 
die  Schafiong  des  Arbeitsbeirates  im  Handelsministerium  im  Jahie  1898 
biadite  in  die  Sache  einen  modernen  Zug.  In  der  konstituierenden 
Sitsung  des  Arbeitsbeirats  wurde  ein  Antrag  auf  Erhebung  der  Verbältnisse 
in  der  Heimarbeit  eingebracht  und  etwas  modifitiert  angenommen.  Zu- 
nächst fand  eine  Enquete  über  die  Zustände  in  der  Konfektionsindustrie 
Statt,  die  in  einem  stattlichen  Band  ^)  der  Oeffentlichkeit  vorliegt.  Eine 


*)  Stcnognphiiches  Protokoll  der  im  K.  K.  arbeitsstatistisclicn  Amte  dnrch- 
gcfthitcn  Veraehmimg  v<»  AnskanltspenoBeii  Uber  die  Verfalltnisse  in  der  Kleider* 
imd  Wisehekoofektioii.   Wien  1899.  Alfied  Haider. 


726 


Misxelleti. 


Erhebung  der  Wohnungsverhältnisse  der  Zwischmmeister  ist  bereits  im 
Zuge.    Aiu  h  ihre  Resultate  sollen  veröflfeatlicht  werden.    Die  Enquete 

erstreckte  sich  über  die  drei  Hauptpruppcn  der  Herren-,  Damen-  und 
W "äschckonfc'ktion  cinschliefslich  der  Spezial/vvciee  (Heeres-,  Arbeiter- 
RiiRicr-Kra\  iitcnkonfektion)  unter  teilweiser  Einbeziehunp  des  Hilfs- 
gcwcrbcs  der  Wäscherei.  Es  wurden  Experten  aus  Wien  und  Profsnitz 
abtr  auch  aus  einer  Reilic  anderer  Industriezentren  vernonunen.  Es  ist 
so  nun  möglich,  einen  genaueren  Einblick  in  diesen  Zweig  der  Heim- 
arbeit zu  gewinnen  und  damit  ist  auch  ein  festerer  Boden  fiir  die  Ge- 
setzgebung vorhanden. 

T. 

Die  Grundbedingung  für  die  Schaffung  wirksamer  sozialpolitischer 
Mafsnahraen  ist  die  Kenntnis  der  Organisation,  des  Aufl)aucs  desjenigen 
Produktions/wei.:f^.  (Ics^eü  Arheitersrliaft  geschut/.t  werden  soll.  Aus 
der  Art  und  \\ei>c  der  l'iotlukiion,  aus  der  Al)han^ngkeit  der  einzelnen 
Faktoren  \oiieinander  erwachsen  die  Mifsstande  und  Schäden.  Ihre 
Beseiti^aing  wird  auch  nur  mit  ^iner  Veränderung  der  Produktions- 
bedingungen möglich  sein  und  die  Tragweite  der  einzdnen  Normen 
wesentlich  von  ihrer  Anpassung  an  die  realen  Verhältnisse  abhängen. 

Die  Organisation  der  einzelnen  Zweige  der  Konfektion  ist  dne  in 
wesentlichen  Punkten  verschiedene.  Nicht  überall  zeigt  sich  durchwegs 
Produktion  durch  Heimarbeit,  und  in  jedem  Produktionszweig  selbst  sind 
Unterschiede  in  der  Art  des  Absatzes  und  damit  der  Herstellung  zu 
bemerken. 

In  der  \'erl"eriii,nnig  von  .Mannerkleidern  dc<niiniert  die  Heimarbeit. 
„Jeder  Kundenschneider  in  Wien,  selbst  der  kleniste,  der  sich  keine 
Werkstätte  liallcn  könnte,  iiat  schon  seine  Stuckmeister."  '}  Doch  ist  die 
Arbeit  eine  wesentlich  verschiedene.  Es  ist  zwischen  Betrieben  sa 
unterscheiden,  die  fUr  Zwischenhändler  arbeiten  und  solchen,  die  direkt 
an  den  Konsumenten  ihre  Erzeugnisse  absetzen.  Die  Produktion  flir 
die  Klciderhändler  sind  naturgemäß  Grofsbetriebe.  Sie  haben  ihre 
Comptoirs  in  \\'icn,  ihre  Kr/eugungsorte  in  Profsnitz  und  in  Wien.  Den 
Mittelpunkt  der  Produktion  bildet  die  Zuschneidewerk.stätte,  die  mit  den 
\'errechnungs-  und  .\uszahlungsstellen  verl)unden  ist.  Hier  werden  die 
zugeschnittenen  StotTe  ausgegeben,  die  ani^efertigten  Kleider  empfangen. 
Hier  wäre  der  Ort,  wo  eine  Produktion  nui!\iduell  gleicher,  nur  in  der 
(irofse  verschiedener  Waren  hergestellt  werden  konnte.  Hier  müfste 
sich  eine  Produktion  von  Massenartikeln  entwickeln.  Allein  die  Ver- 
schärfung der  Konkurrenz  und  damit  die  Verwöhnung  der  Abnehmer  hat 


A.  a.  O.  S.  144. 


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Fritz  Winter,  Die  Heimarbeit  in  der  Österreich.  Konfektionsindustrie.  ^27 

«ine  Rückbildung  hervorgerufen,  sodafs  hier  die  Merkmale  der  fabriks» 
mttfsigen  Herstellung  mit  der  der  Kundenschneiderei  ▼erbunden  sind. 
».Während  wir  früher",  sagt  der  Vertreter  der  gröfsten  Profsnitzer 
Firma,*)  „auf  den  Besuch  der  Kunden  in  Wien  rechnen  konnten,  ist 
seit  1 5 — 20  Jahren  das  System  der  Reisenden,  die  wir  entsenden,  so  in 
Aufnahme  gekommen,  dafs  der  gröfste  Teil  unseres  Absatzes  damuf  be- 

nibt   Während    wir   früher  nur   mit   Musterstücken    zu  reisen 

brauchten  und  die  eingelaufenen  Ordris  aus  unseren  grofsen  La^^aTn  in 
Wien  imd  Profsnit/.  aus  freier  Hand  ettektuieren  konnten,  weil  ])ausrha- 
liter  bestellt  wurde,  l>estellt  jetzt  der  kleinste  Kunde  an  der  Hand  der 
Kollektion  zum  Beispiel  sechs  Anzüge  in  vier  Muslern.  Dadurch  wird  unser 
Betrieb  sehr  erschwert,  indem  die  Massenproduktion,  die  früher  möglich 
war,  eingeschränkt  wird.''  Die  Folgen  dieser  Absatzveränderungen  sind 
daher  Verschärfung  der  Saison  mit  allen  ihren  Folgetibefai  und  eine 
Veränderung  in  der  Technik.  Die  bereits  in  Betrieb  gewesenen  Zu* 
Schneidemaschinen  sind  ..obsolet  geworden". 

Neben  dieser  Produktion  für  den  Zwischenhändler  finden  wir 
Cirofsbetriebe  filr  die  Detailkundschaft.  Riesige  Warenhäuser,  Palaste, 
die  bis  in  den  vierten  Stock  hinauf  mit  Kleidersorten  gefüllt  sind  und 
direkt  an  den  Konsumenten  abscl/en.  Manchmal  nehmen  sie  den 
Charakter  von  Bazaren  an,  wo  nicht  nur  Kleider,  sondern  auch  Wäsche, 
Schuiie,  Kravalten,  kurz  alle  möglichen  Bekleidungsartikel  zu  haben 
sind.  Doch  ist  eine  derartige  Vereinigung  noch  siemlidi  selten.  Auch 
hier  zeigt  sich  die  Verwöhnung  der  Kundschaft,  die  Berücksichtigung 
individueller  Ansprüche.  „Wir  haben  ein  ausgebreitetes  Mafsgeschäft,  *) 
das  meiste  ist  fertige  Lagerware*'.  „Je  besser  die  Verhältnisse  werden, 
desto  mehr  nimmt  die  Mafsschnciderei  zu."*)  Hier  hat  der  Konfek- 
tionär eine  mehr  oder  minder  grofse  Reparaturwerkstätte  im  Hause, 
neben  der  Zuschnciderei.  .Aber  sonst  wird  die  Arbeit  durch  Zwischen- 
meister hergestellt.  Doch  ist  tler  Ciegensatz  zwischen  diesen  beiden 
Betriebskategorieen  kein  scharfer.  Diese  fabriksraäfsigen  Kunden- 
sclmeidereien  stellen  in  tler  loten  Saison  Lagerware  her,  für  die  Kund- 
schaft die  noch  keine  besonderen  Ansprüche  stellt,  und  verkauft  zu 
gleicher  Zeit  an  Zwischenhändler. 

Daneben  bestehen  in  Wien  noch  eine  Reihe  von  handwerksmälsigen 
Betrieben,  die  immer  mehr  der  Zwischenmeisterei  verfallen.  Nur  einige 
wenige ,  sogenannte  erstklassige  oder  Kavalicrsgeschäfte  haben  einen 
gröfseren  Umsatz,  aber  auch  sie  beschäftigen  bereits  Heimarbeiter.  In 
den  übrigen  Zentren  der  Industrie  aufserhalb  Wiens  stehen  die  Verhält- 


')  A.  a.  O.  S.  14. 
*)  A.  A.  O.  S.  139. 
^  A.  a.  O.  S.  146. 


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728 


nisse  flhnlidi.  Nur  in  Lemberg  hat  der  handwerksmlUs^e  Betrieb  einen 
gröfseren  Umfang,  die  Arbeitsbedingungen  sind  aber  die  denkbar 
tiefsten.   Man  findet  wahrhaft  grauenhafte  Zustände. 

Die  Konfektion  v  on  Damenkleidern  zeigt  einen  wesentlich 

anderen  Aufbau.  Die  Konfektionäre  haben  es  hiermit  einer  ganz  anders 
gearteten  KuiuIm  haft  /,u  thun.  Die  Mode  sj)ielt  eine  ^rüfseie  Rolle,  die 
individuellen  An>i»rut  he  an  die  Kleidung  siml  vcrft  int-rte.  tlcr  \\  e«  hsel 
der  I'ormcn  cm  \iel  lascherer.  Daher  bestellen  hier  beinahe  keine 
Untcrsi  hiedc  zwischen  der  Arbeit  auf  Lager  oder  nach  Mafs,  zwischen 
der  Arbeit  fUr  doi  Koiuntmenten  oder  den  Zwischenhändler.  Die  dnrch- 
gehendste  Betriebsform  ist  hier  Werkstättenbetrieb  mit  angegliederter 
Heimarbeit.  Nur  einer  der  vernommenen  Experten,  ein  Prager  Kon- 
fdctionär,  arbeitet  durch  iireg  mit  Heimarbeitern.  Es  ist  überhaupt  eine 
DifTerenzienmg  m  konstatieren,  womach  namentlich  die  At\fertigang 
von  Bloiisen,  rnterrix  ken,  IV'berhängen  'Capes)  in  die  Spliäre  der  Heim- 
arbeit geholt.  Die  Weikstatten  sind  manehnial  sehr  umfangreich.  Oft 
sind  nber  i  50  iV  rsonen  in  dem  Hause  des  Konfektionärs  vereinigt.  Die 
W  eikstatt  gliedert  sich  in  \ eist  hii  iiene  Abteihingen  je  nach  den 
ein/einen  Kleidungsstücken,  sie  wiril  \ereinij;l  in  der  gemeinsamen  Zu- 
schneiderei.  Auch  hier  dringt  die  Heimarbeit  bis  in  die  kleinsten  Ge- 
Schäfte,  „Modesalons",  vor. 

Die  besten  Bedingungen  zur  Massenproduktion  sind  in  der  Wäsche- 
konfektu>n  vorhanden.  Die  Ansprüche  der  Konsumenten  gehen 
hauptsächlich  auf  die  Qualität  des  Stoffes,  die  Form,  die  Arbeit  tritt 
weit  zurück,  spielt  höchstens  in  der  Herstellung  von  Manschetten  und 
Kragen  ein  gröfsere  Rolle.  Hier  gieht  es  Wäschefabriken  mit  Dampf- 
betrieb, nicht  nur  in  Wien,  sondern  auch  in  landlichen  (»egenden  in 
l{öhmen.  Die  h'abriken  haben  einen  Stock  von  Heimarbeitern  an- 
gegliedert. ()ft  werden  durch  die  Heimarbeit  nur  die  letzten  .\us- 
fertigungen  gemaclit.  in  andeien  Ik'trieben  ist  die  Produktionsweise  um- 
gekehrt, die  Hauptarl>eit  geschieht  aufserhalb  des  lietricbes,  die  Aus- 
fertigung in  der  Werkstätte  des  Unternehmers.  Daneben  bestehen 
Grofsbetriebe,  die  lediglich  auf  der  Heimarbeit  beruhen.  In  diesen 
wird  das  Material,  bald  zugeschnitten,  bald  zugemessen,  aufscr  Hause 
gegeben  und  die  vollständig  fertiggestellte  Arbeit  Uberaomroen.  Ueber- 
haupt  scheint  die  W.lschekonfektion  in  einer  rmwandlung  begrif^'en  zu 
sein,  woraus  sich  die  Mannigfaltigkeit  der  l'roduktionslormen  erklären 
würde.  „Wir  haben  ein  Beispiel  an  der  nicht  unbedeutenden  Wnsche- 
indiistrie,"  sagt  das  Kommission^-mitglied,  Herrenkonfekt ionar  .Siegmund 
Mayer,  ')  „die  Industriellen  hatten  vordem  die  Wa.scheer/eugung 
grofstenteils  nur  durch  Heimarbeit  anfertigen  lassen.  Jetzt  haben  die 


<  A.  a.  O.  S.  21, 


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Fritz  Winter,  Die  Heimarbeit  in  der  cMerreidi*  KoDfektiouiiidi^rie.  J29 

kapitallcräftigeD  ihre  Konfektion  in  eine  fabriksmäfsige  Industrie  um- 
gewandelt und  machen  ihre  ganze  Arbeit  im  Hause." 

Die  Heimarbeit  selbst  ist  sehr  mannigfaltig  gestaltet,  aber  in  den 
einzelnen  Zweipen  der  Konfektion  ziemlich  gleich.  In  der  Konfektion 
für  Männerkleider  finden  sich  nur  männliche  Meister  und  Arl^eiter, 
Mofs  in  den  Lcnibergcr  Werkstatten  werden  für  die  Hilfsarbciton  auch 
Frauen  verwendet.  Die  \'errerti<:ung  der  Damenkleider  liegt  schon  teil- 
weise in  den  Händen  von  1  laucn.  iJic  sogenannte  „englische  Arbeit", 
die  Herstellung  von  Jacken,  ist  durchwegs  Männerarbeit,  Btousen, 
Schttrseo,  Röcke  Frauenarbeit.  Die  Wäsche-  und  Kravattenkonfektion  ist 
die  Domäne  der  Frauenarbeit,  hier  sind  die  Zwi«u:henmeister,  wie  auch  die 
Arbeiter  durchaus  weiblich,  nur  hie  und  da  trifit  man  auch  einen  Mann. 

Eine  Mittelsperson  zwischen  dem  Verkäufer  und  dem  Arbeiter 
schiebt  sich  manchmal  ein.  Der  „Faktor"  findet  sich  in  Profsnitz  in 
der  Herrenkonfektion,  und  zwar  in  zweierlei  C'»estalt.  Kntweder  über- 
nimmt er  das  Material  zugeschnitten  vom  Konfektionär  imd  teilt  es  an 
die  eigentlichen  Erzeuger  aus  oder  er  ist  ,,I  .ohnkonfektionar".  Dieser 
bekommt  von  Klciderhändler  aus  den  \ erhchiedciistcn  (iegenden  des 
Reiches,  namentlich  aus  den  Alpenländern,  wo  es  keine  Heimarbeit 
giebt,  die  Stoffe,  läfst  sie  in  Profsnitz  zuschneiden  und  giebt  sie  zu  sehr 
geringen  Preisen  an  die  Schneider,  er  beschäftigt  einige  Zuschneider 
und  hat  oft  eben  fabriksmälsigen  Betrieb  angemeldet.  Diese  Zwischen« 
person  steht  dem  Konfektionär,  der  för  Kleiderhändler  liefert,  am 
nächsten.  Von  der  ersten  Art  sind  4,  von  der  zweiten  20 — 30  in 
Profsnitz.  Der  „Faktor",  der  in  der  \\ äschekonfektion  vorkommt,  ist 
seiner  Stellung  nach  dem  „Faktor"  der  Herrenkunfektion,  seiner  I  nnktion 
nach  dem  I.ohnkonfektionär  ähnlich.  Kr  vermittelt  für  die  Kontektionare 
das  Sticken  der  Wasche,  giebt  die  Arbeit  in  liolnnen  und  Mahren  an 
Bauernmädchen,  die  das  Sucken  als  Nebenerwerb  neben  ihrer  landwirt- 
schaftlichen Beschäftigung  betreiben.  Hier  finden  wir  den  einzigen 
Rest  einer  .Jlausindustrie",  wie  sie  die  dsterreicbische  Gewerbeordnung 
versteht  Die  Faktoren  ziehen  ihren  Gewinn  durch  den  Preisdruck  bei 
Vergebung  der  Arbeit.  Nur  ein  einziger  Fall')  ist  erwähnt,  wo  der 
Faktor  vom  Konfektionär  direkt  für  jedes  abgelieferte  Dutzend  Hemden 
eine  feste  Prämie  bekommt.  Diese  beträgt  5  Kr.  per  Dutzend  und 
soll  in  der  Woche  nach  den  Angaben  des  Unternehmers  1 5  Fl.  be- 
tragen. Eine  ähnliche  Mittelsperson  wie  den  Lohnkonfektionär"  hat 
die  Krawatlenkonfektion.  Ein  Zwischenmeister  kauft  den  Rohstoff  ein 
und  liefert  die  fertigen  Maschen  gemäfs  den  Bestellungen  der  Detail- 
händler an  diese  ab.  Auch  hier  haben  wir  es  schon  mehr  mit  einem 
selbständigen  Unternehmer  denn  einem  Zwisdienmeister  zu  thun.  Sonst 
verkehren  die  Konfektionäre  mit  den  Zwischenmeistem  direkt 

•)  A.  tu  O.  S.  59a. 


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« 

Die  Betriebe  der  Zwischemneister  sind  verschieden  grols.  In 
der  Herrenkonfektion  schwankt  die  Zahl  der  Gehilfen  von  2  bis 
gegen  7  und  8,  in  den  anderen  Konfektionsswetgen  kommen  auch  Betriebe 

mit  30  —  40  Personen  vor.  Die  Arbeitsteilung  ist  in  zweierlei  Richtung 
ausgebildet.  Jeder  Zwischcnim  ister  arbeitet  nur  einen  Spezialartikel  und 
überdies  arbeiten  sich  die  Arbeiter  in  den  Zwischenmeisterbetrieben  ,.in 
die  Hände".  Doch  i-^t  dieser  Grad  von  Arbeitsteilung  noch  nicht  uberall 
erreicht.  Der  Meister  selbst  ;ir]>eitet  beinahe  uberall  mit  und  selbst 
dort,  wo  er  nur  eine  Aulsichtsperson  ist,  besorgt  er  das  Zuscinieiden  des 
Futters.  Neben  den  Zwischenmeistem  kommen  dann  „Sitzgesellen"  in 
xwei^lei  Gestalt  vor.  Die  eine  Art  wird  von  den  Unternehmern  direkt 
beschäftigt  und  bildet  den  Beginn  eines  Zwischenmeisterbetriebes.  Die 
meisten  dieser  Sitzgcsellen  arbeiten  auch  nicht  das  ganze  Jahr  altein, 
sondern  nehmen  sich  manchmal  einen  Gehilfen.  Andrerseits  wieder 
piebt  es  Zwischenmeister,  die  in  der  stillen  Zeit  ohne  Gehilfen  arbeiten. 
So  fliefsen  die  beiden  für  die  Heimarbeit  so  tvjiischen  lietriebsformen 
ineinander.  Die  andere  Art  der  Sit/^esellen  sind  Arbeiter  der  Zwischen- 
meister, die  in  ihrer  eigenen  Wohnung  arbeiten.  tjewidinlich  werden 
sie  nur  für  kleine  Teilarlieiten,  wie  Knopflocher  nähen,  .Ausfertigen  der 
W  äsche  u.  s.  w.  beschatugl.  Hie  und  da  werden  sie  auch  zur  Herstellung 
des  ganzen  Stückes  verwendet.  Durchwegs  Sitzgesellen  sind  die  Sticke- 
rinnoi  in  der  Kravatten*  und  Wäschebranche. 

Die  gewerberechtliche  Stellung  der  Zwischenmeister  und  ihrer 
Arbeiter,  sowie  der  Sitzgesellen  ist  eine  schwankende  und  sehr  ver- 
schiedene. Die  Konfektionäre,  namentlich  der  Herrenkonfektioni 
haben  beinahe  ilur«  hwegs  behauptet,  dafs  sie  nur  „befugte**  Meister  be- 
schäftigen, d.  h.  Meister,  die  den  liefähigungsnachweis  erbracht,  und 
einen  Gewerbeschein  gelost  h;iben.  Die  Krgebtiisse  der  Kn<iuete  haben 
diese  Behauptung  als  unrichtig  erwiesen.  St  hon  die  lci(  hte  /uganglich- 
keit  zur  Arl)eit  —  jeder,  der  sich  um  .Xrbelt  an  den  Konfektionär 
wendet,  bekommt  soiciie  —  widerspricht  dieser  Aussage.  la  den 
übrigen  Zweigen  der  Konfektionsindustrie  wurde  dies  nicht  einmal  be- 
hauptet. Namentlich  dort,  wo  Frauenarbeit  inbetracht  kommt,  ist  von 
einem  Gewerbeschein  gar  keine  Rede.  Die  Gehilfen  erscheinen  beim 
befugten  Meister  in  der  rechtlichen  Stellung  der  Gehilfen.  Beim  un- 
befugten sintl  die  \'erhältnisse  ganz  ungeregelt.  Die  Sitzgesellen,  die 
vom  Konfektionär  direkt  l>es(  liaftigt  werden,  sind  manchmal,  wie  in 
Brünn,  als  .Arbeiter  des  Konfektionärs  angemeldet,  gewöhnlich  sind  sie 
ebenso  rechtlns,  wie  die  von  den  Zwischenineistern  aufser  Hause  be- 
schäftigten .\rl)citcr.    Die  Gesetzgebung  kümmert  sich  um  sie  nicht. 

Das  ist  die  Organisation,  die  wie  geschafl'en  ist,  alle  in  ihr 
Arbeitenden  der  gröfsten  Not,  dem  grofsten  Elend  zuzuführen.  Mit  ihr 
sind  unzertrennlich  verknüpft  kurze  Saisonen  mit  langer  Arbeitszeit  und 
Arbeitslosigkeit  durch  den  grdfsten  TeQ  des  Jahres;  Löhne,  die  tief 


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Fritx  Winter,  Die  iicimarbcil  in  der  Ü!>terreich.  Konfektionsindustrie.  y^i 


unter  das  Existeoanmimum  «nken  und  Anrcihtbarste  Ausnutzung  der 
Arbeitskiaft;  die  HersteUnng  der  Produkte  in  Werkstätten,  die  allen 
Anforderungen  der  Hygiene  Hohn  sprechen,  und  Wohnungen,  die  su- 
gleich  als  Aibeitsstfttten  benutzt  werden.  Sehen  wir  zu,  was  die  Enquete 
in  dieser  Richtung  ergeben  hat. 

U. 

Das  charaktfristische  Mt-rkinal  heinahe  aller  Zweige  der  Konfektions- 
industrie ist  die  Saisonarbeit.  Rcgehnäfsig  .steigt  die  Nachfrage ,  die 
Zwischenmeister  werden  mit  Arbeiten  überschwemmt  und  ebenso  regel- 
inäfsig  verschwindet  sie  wieder,  allerdings  ohne  etwas  anderes  zurück- 
zulassen als  Erschöpfung,  Not  und  Elend.  Dabei  ist  die  Zeit  der 
höchsten  Arbeit  furchtbar  kurz.  Sie  ist  in  den  einzelnen  Zweigen  ver- 
schieden  ausgedehnt.  In  der  Herrenkonfektion  sind  die  Arbeiter  nur 
in  der  Hälfte  des  Jahres  voll  beschäfti-t  und  diese  Saison  teilt  sich 
überdies  in  zwei  Teile,  in  Winter-  und  Sommersaison.  Die  grofsen 
Kundenschneidcrcicn  helfen  sich  über  die  tote  Zeit  dadurch  hinweg, 
dafs  sie,  wenn  die  Mafsarbcit  altniniint,  Lai;orarlicit  lior-^fclien  lassen 
und  so  doch  d.is  ganze  jähr  mit  Arbeit  au-ljUcn  ktHincn.  In  den 
anderen  Betrieben  der  llerrcnKunfektion  sieht  die  Arbeit  thatsachlich 
still,  die  Meister  und  Gehilfen  machen  dann  entweder  gar  nichts  oder 
sie  suchen  sich  Aushilfsarbeiten.  Der  eine  bessert  alte  Röcke  aus,  der 
andere  arbeitet  fUr  den  Trödler,  der  gröfste  Teil  hungert  sich  durch. 
Ungefähr  ebenso  lange  ist  die  Zeit  der  vollen  Beschäftigung  in  der 
Damen-  und  Wäschekonfektion.  Auch  hier  werden  die  .\rbeiter  entlassen, 
fahren  in  die  Kurorte,  um  dort  in  Werkstätten  Arbeit  zu  bekommen, 
oder  hungern  sich  durch. 

Die  Saison,  der  Wechsel  /wischen  ungeheuer  gesteigerter  und  voll- 
standig  \  ers(  iiwintlcnder  N'aciifiagc  ist  eine  der  Cirundiirsachen  dafür, 
dafh  die  Konfektionsindustrie  durch  Heimarbeit  produziert.  Nur  diese 
Ketriebsform  gestattet  dem  Unternehmer,  seinen  Betrieb  willkürlich  aus- 
zudehnen und  einzuschränken,  ohne  dafs  er  dabei  die  Kosten  dieser 
Reduktion  zu  tragen  hätte.  Allein  umgekehrt  wird  auch  die  Heimarbeit 
zum  Ansporn  für  die  Konfektionäre  in  Saisonen  zu  arbeiten  und  nicht 
die  Arbeit  auf  das  ganze  Jahr  gleichmäfsig  zu  verteilen.  So  sagt  ein 
Frofsnitzer  Zwis(  hcnmeister  *)  ganz  riditig:  „Frtther  wurde  mehr  auf 
Lager  gearbeitet,  als  in  neuerer  Zeit.  In  neuerer  Zeit  warten  die 
Konfektionäre  mit  der  Vergeltung  der  Arbeit,  bis  die  Reisenden  zurück- 
kehren und  die  Bestellungen  bringen.  Aber  es  giebt  jetzt  auch 
mehr  Schneider,  so  dafs  es  den  Unternehmern  leichter 


1)  A.  ».  O.  S.  98 


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732 


wird,  die  Arbeit  in  einer  kürzeren  Zeit  zu  bewältigen, 
weshalb  sie  sich  nicht  mehr  so  viel  darum  zu  bekümmern 
brauchen,  dafs  die  Arbeit  auf  das  ganze  Jahr  verteilt 
wird."    Gerade  die  industrielle  Herstellung  von  Kleidern  könnte  es  er- 

niüfjlichen,  die  Unregelniäfsigkeiten,  die  durch  die  Veränderungen  der 
Mode  in  die  Produktion  fj:cbracht  werden,  zu  vermindern.  IXidurcii  .iber, 
dafs  die  (irofsproduktion  durch  Heimarbeit  ceschieht.  werden  diese  l'n- 
regclmäfsigkeilen  nii  ht  nur  verscharrt,  sondern  ihre  uhlen  Folgen  von 
dein  wirtschaftlich  Stärkeren,  den  Konfektionären,  auf  die  Schwächeren, 
die  Zwischenmeister  und  Arbeiter  übertragen. 

Mit  dem  Vorhandensein  der  Saison  steht  übennäfsige  Ausnutzung 
der  Arbeitskraft  durch  die  Ausdehnung  des  Arbeitstages  bis  an  die 
Grenze  der  Möglichkeit  in  direktem  und  untrranbarem  Zusammen- 
hange.  Dazu  kommt  noch  die  Wirkung  der  niedrigen  I^Ähne,  die  bei- 
nahe  ausseid iefslich  und  für  den  Zwischenmeister  immer  Stücklöhne  sind. 
„Die  Stückmeister  trachten,  während  der  Saison,  solange  die  Ariieit 
dauert,  zu  verdienen,  was  nur  mö^^hch  ist."  ' )  Die  Arheits/eit  dauert 
um  so  länger,  je  weiter  »U-r  Arlieiter  \oiii  \'erkäufer  des  Produktes  ent- 
fernt ist.  \No  Arbeit  im  iJctiiebe  des  Kontektionärs  v(»rhanden  i>t.  wie 
in  der  Damen-  und  W  asrliekontektion,  linden  sich  Arbeit-stage  von  lo, 
11,  ja  sogar  9',,,  Stunden.  Sie  werden  freilich  iiauhg  dadurch  ver- 
längert, dafs  die  Arbeit,  wo  der  Produktionsprozefs  dies  zuläfst,  nach 
Hause  gegeben  wird.  Bei  den  Zwischenmeistem  sind  Arbeitstage  von 
14  Stunden  durchweg  die  Norm.  Bei  dem  Sitzgesellen  ist  eine  Ar- 
beitszeit von  i8f  19  Stunden  und  darüber  keine  Sehenheit.  Es  werden 
Fälle  erwähnt,  wo  die  Arbeiter  bei  48  Stunden  Arbeit  zwei  Stunden 
schlafen.  Sie  sinken  einfach  an  der  Stelle,  wo  sie  gcarl>citet  haben,  um; 
in  der  Werkstätte,  mitten  unter  dem  Materia!,  in  der  verdorbenen  Luft 
versuchen  sie  auszuruhen.  Nach  kurzer  Zeit  schon  ruft  sie  neuerdings 
die  .\rl)eit  zu  angespornter  Thätigkeit.  Der  „Durchmarsch",  das 
Arbeiten  von  Freitag  früh  l)is  Samstag  friih  oder  .Mittag  ist  eine  nur  allzu 
häufige  Erscheinung.  Stimulationsmittel,  wie  schwarzer  Kart'ee  und 
Branntwein,  erhalten  die  Lebengeister  wach.  In  mehreren  Fällen  kommt 
sogar  ein  Arbeitstag  von  21  Stunden  vor,  und  eine  Arbeiterin  aus 
Rozdol  in  Galizien,  eine  55jährige  Frau,  bemerkt  dazu  naiv:  „Wenn 
noch  mehr  zu  thun  wäre,  würde  ich  noch  mehr  arbeiten  l"  *)  Das 
Mafs  der  .Arbeitskraft,  das  in  diesen  schlecht  genährten  Leuten  steckt, 
ist  wirklich  st  annenerregend. 

Und  die  F'ntlohnung  dieser  ungeheuren  .Arbeitsleistung?  Diese  ist 
nach  zwei  Seiten  hin  zu  betrachten:  einmal  nach  dem  Verdienst  der 


')  A.  a.  O.  S.  9». 
«)  A.  Ä.  O.  S.  7ia 


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Vxitz  Winter,  Die  Heimarbeit  in  der  Österreich.  Konfektioosindustrie. 


Zwischenmeister  und  sodann  den  Löhnen  der  Aibeiter.  Ueber  den  Ge- 
wion der  Konfektionäre  wurden  naturgemäfs  keine  Angaben  gemadit 

Was  nun  den  Verdienst  der  Zwischenmeister  betrifft,  so  kann 
konstatiert  werden,  dafs  deren  grofse  Mehrzahl  in  den  dürftigsten 

Vcrli.iltni.s?;en  lebt,  manche  nicht  viel  besser,  nuinche  schlechter  ge- 
stellt sind  als  ihre  Arbeiter.  Der  Verdienst  wird  um  so  gröfser,  je  mehr 
der  Z\vis(  henineister  zu  einer  Mittelsperson  zwischen  Unternehmer  und 
Arlieiter  wird,  je  mehr  Gehilfen  er  heKchaftisjt.  Die  Betriebskosten,  be- 
sonders Miete.  BcleuchtunL.'  und  Beheizung  verteilen  sich  auf  mehr 
Arbeitskräfte  und  die  Lokaliiateti  können  mehr  ausgenutzt  werden.  Die 
Enquetekommission  hat  sich  bemüht,  Wochenbudgets  einzelner  Zwischen- 
meister  festzustellen.  Genaue  Angaben  sind  allerdings  wenige  zu  er- 
langen  gewesen,  weil  die  meisten  keine  Aufschreibungen  fiber  ihre  Aus- 
lagen führen  und  die  Naturallöhne  der  Arbeiter,  die  ziemlich  häufig  sich 
finden,  nicht  genau  in  Geld  veranschlagt  werden  konnten.  Immerhin 
mögen  die  relativ  besten  dieser  Aufstellungen  hier  Platz  finden. 

Kin  Giletschneider  in  Wien,  der  mit  4  Gehilfen  arbeitet  und  an 
der  Produktion  selb-t  teilnimmt,  stellt  80  Gilets  ;\  48  Kr.  her  und  verdient 
ilamit  38  Fl.  40  Kr.  in  der  W  oche.  Davon  entfallen  .'\u';gnben  auf  den 
Lohn  der  Gehilfen  26  Fl.  60  Kr.,  auf  Zubehör  2  Fl.,  auf  Zins  4  Fl. 
87  Kr.,  auf  Steuer  18  Kr.,  als  Knlgelt  für  selbstgemachte  Gilets  1  Fl. 
60  Kr.  Die  Ausgaben  betragen  somit  zusammen  35  FL  25  Kr.  Als 
Ueberschufs  über  seine  Einnahmen  bleiben  somit  3  Fl.  1 5  Kr.  für  die 
Woche.  Dazu  kommen  noch  2  Fl.  10  Kr.,  die  er  von  Aftermietem  er- 
hält. Rechnen  wir  noch  den  ^john  lUr  die  selbstgemachten  Gilets  dazu, 
so  ]\n  der  Zwischenmeister  am  Ende  der  Woche  6  Fl.  80  Kr.  in  der 
Hand,  womit  er  seine  eigenen  Bedurfnisse,  sowie  die  seiner  Frau  und 
Kinder  befriedigen  soll.  Seine  ^\'ohnunL;  besteht  aus  zwei  Zimmern 
samt  Küche.  In  diesen  Räumlichkeiten  schlafen  acht  Personen.  Natür- 
lich mufs  infolge  dieses  „Venlienstes'  die  Frau  als  Wäscherin  und 
Biiglerin  in  Hauser  gehen  und  verdient  unregehiiäfsig  5 — 6  Fl.  in  der 
Woche. 

Ein  Bild  aus  Frofsnitz.  Ein  Zwischenmeister,  der  mit  drei  Gehilfen 
und  drei  Lehrlingen  arbeitet  und  hie  und  da  auch  für  Frivatkundschaften 
liefert,  hat  eine  Wocheneinnahme  von  29  Fl.  40  Kr.    Davon  entfallen 

auf  Nahrung  für  die  ganze  Meisterfamilie  und  die  Gehilfen,  die  beim 
Meister  Frühstück  imd  Mittagessen  haben,  10  Fl.  50  Kr.,  für  Lohn 
8  Fl.,  für  Miete  2  Fl.  50  Kr.,  für  Beheizung  1  Fl.,  für  Beleuchtung 
23  Kr.,  für  Steuern  :;5  Kr.,  für  Zubehör  50  Kr.,  für  Krankcnkassen- 
beiirage  72  Kr.,  für  Katenzahlungen  an  den  Maschinenlieferanten  i  Fl. 
Die  Wochenausgaben  betragen  sohin  24  Fl.  70  Kr.,  j,o(ltN  sich  ein 
Ueberschufs  von  4  Fl.  70  Kr.  für  die  Deckung  aller  Bedürfnisse  aufser 
Wohnung  und  Kost  ergiebt 

Ein  Beispiel  eines  grofsen  Betriebes  aus  der  Wäschekonfektion: 


734 


Eine  Zwischenmeisterin  arbeitet  in  Wien  Manschetten  mit  24  Mädchen. 
Die  Wohnung  best^t  aus  awei  Zimmern,  Küche  und  Kabinet.  Die 
Zwiscbenmebterin  bekommt  ftir  das  Dutzend  Manschetten  28  Kr.  Davon 

hat  sie  für  Zubehör  2'  ^  Kr.,  für  Lohn  20  Kr.  wegzuzählen,  so  flafs  ihr 
per  Dutzend  5*/4  Kr.  bleiben.  75  Dutzend  werden  in  der  Woche  her- 
gestellt, das  ergiebt  für  sie  einen  Uebersrlr.ifs  Mm  25  Fl.  80  Kr.  per 
Woche;  da^■on  ist  iio«  h  der  Zin.s  von  5  Fl.  60  Kr.  ])€r  Woche  zu  be- 
zahlen. So  veibleihcn  20  V\.  20  Kr.  zur  Bestreitung  der  Helcurhtunc:, 
Beheizung,  der  Mascliincnko.slen  und  -Ropai.ituren,  sowie  zum  Unterhalt 
der  Meisterin.    Der  Mann  derselben  ist  Auslülfsdiener. 

Alle  diese  Budgets  geben  Wocheneinnahmen  bei  voller  Beschäitigung. 
Die  Einwirkung  der  Saison  auf  das  Jahreseinkommen  Hilst  sich  aus  der 
Enquete  nicht  konstatieren.  Nur  ein  Zwischenmeister  aus  der  Uniformierungs- 
branche  hat  eine  Jahresübersicht ';  liefern  können.  Der  Mann  arbeitet  inWien 
mit  einem  Arbeiter.  Seine  Jahreseinnahmen  betrugen  1 508  Fl.  50  Kr., 
seine  Ausgaben  für  Löhne  556  Fl.,  für  Zuf;ehör  44  FL.  für  Wcrkzeuff- 
und  M.isrhincnabnutzunfj  15  Fl.,  I'iir  rn-imniatcrial  83  Fl.  10  Ki..  für 
Miet/.ins  214  Fl.,  für  Krankcnvcrsichciung  26  Fl.  40  Kr.,  für  .Steuer 
3  Fl.  84  Kr.,  somit  im  ganzen  942  V\.  34  Kr.  Daher  verbleibt  ihm 
ein  Nettoverdienst  von  566  Fl.  j6  Kr.,  nur  um  ungefäJir  10  Fl.  mehr 
als  sein  Arbeiter  bekommen  hat  Stellen  wir  nun  den  Monat  mit  dem 
stärksten  und  dem  geringsten  Bruttoverdienst  einander  gegenüber,  so  er> 
giebt  sich  folgendes  Bild: 

Einnahmen  Au&g.iben  Uebcrscbafs 

Febnnr  67,50  Fl.  52,15  Fl.  >S»3SF1- 

September       330,—  „  109,35  „  110,65  „ 

Dabei  sind  die  Ausgaben  für  Steuer  und  Mietzins,  die  nicht  monatlich 
gezahlt  werden,  auf  das  ganze  Jahr  verteilt  und  den  monatlidien  Aus- 
gaben zugerechnet  Für  die  Wirkungen  der  stillen  Zeit  ergiebt  sich  nun 
die  Folgerung,  dafs  der  Zwischenmeister  in  dieser  Zeit  nicht  nur  weniger 
Einnahmen,  sondern  auch  relativ  mehr  Auslagen  hat.  Sie  betrugen  im 
Monat  September  nur  49,7  seines  l'ruttoverdienstes,  im  Monat  Februar 
hingegen  77,25  "/^  hiervon.  Der  Konfektionär  hat  durch  die  Produktion 
mit  Heimarbeitern  nicht  nur  die  Möglichkeit,  seinen  Üetricb  beliebij^ 
einzuschiankfii  und  auszudehnen  und  so  seine  Produktion  den  Bedürf- 
nissen des  .Marktes  anzui)assen,  sondern  er  überwälzt  auch  die  Kosleu 
dieser  Einschränkung  auf  seine  Arbeiter. 

Der  Sitzgeselle  hat  ein  doppeltes  Joch  zu  tragen,  er  ist  Arbeiter 
und  Zwischenrndster  zugleich.  Wir  geben  swei  Beispiele  eines  solchen 
Budgets,  das  einer  HemdennSherin  und  das  einer  Beamtenfrau,  die 
Mädchenkldder  näht    Die  Hemdennäherm  wohnt  bei  einer  Cousine^ 


1)  A.  a.  O.  Beilage  IX. 


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h'titz  Wiulcr,  Die  Heimarbeit  in  der  üstcrrcicb.  Konfektionsindustrie. 


die  ihr  gelegentlich  bei  der  Arbeit  hilft.  Sie  stellt  6  Dutzend  Hcnideu 
zu  I  Fl.  40  Kr.  in  der  Woche  her  und  bekommt  dafür  8  Fl.  40  Kr., 
durchschnittlich  verdient  sie  9 — 10  FL  in  der  Woche.  Von  diesen 
8  Fl.  40  Kr.  hat  sie  auszulegen  an  Zubehör  75  Kr.,  an  Entschädigung 
für  die  Mithilfe  ihrer  Cousine  i  Fi,  an  Essen  (Kosten  des  Mittags-  und 
Nachtmahls)  2  Fl.  10  Kr.,  an  Zins  i  Fl.  25  Kr.,  zusammen  5  Fl.  10  Kr  . 
so  dafs  ihr  von  ihrer  Bruttoeinnahme  3  Fl.  30  Kr.  zur  Bestreitung  aller 
ihrer  sonsti^^en  Bedürfnisse  bleiben.  Die  /wisrhenmeisterin  bekommt  für 
diese  Hctnikn  8,  q  um]  10  V\.  beim  Konfektionär  imd  läfst  zu  Hau>e 
nur  die  Knopfltx  her  lit-rstellen.  Die  Näherin  arbeitet  14  Stunden  t;iL,'lit-h 
und  da  .sie  zwei  halbe  Tage  in  der  Woche  mit  dem  Lielem  verliert, 
auch  Sonntag  vormittags.  Die  Beamtenfrau  näht  Kinderklcider  direkt 
fUr  den  Konfektionär.  Ihr  Mann  ist  Beamter  der  X.  Rangklasse.  Die 
Arbeitszeit  dauert  durchschnittlich  14—15  Stunden  täglich.  In  manchen 
Monaten  mufs  sie  auch  die  Sonntage  zu  Hilfe  nehmen.  Der  durch- 
schnittliche Wochenverdien.st  betrafst  15  Fl.,  er  steigt  bis  25  Fl.  und 
fallt  bis  auf  9  V\.  Sie  hat  Auslagen  für  Miete  7  Fl.  30  Kr.,  für  ein 
Dienstmädchen,  das  die  Wirtschaft  versieht,  2  Fl ,  als  .Amortisation  der 
Nähmaschine  20  Kr.  wöchentlich,  mithin  9  Fl.  50  Kr.,  so  dals  ihr  ein 
Ueberschufs  von  5  V\.  50  Kr.  bleibt,  von  dem  sie  aufsei  ilnem  Lebens- 
unterhalt no(  Ii  (las  Zubehör,  die  Beleuchtung  und  die  Beheizung  zu  l)C- 
streiten  hat,  die  leider  nicht  in  Zahlen  angegeben  sind. 

Die  Löhne  der  Arbeiter  zeigen  eine  scharfe  Scheidung  je  nachdem 
diese  bei  den  Unternehmern  in  der  Werkstätte  oder  Fabrik  oder  als 
Heimarbeiter  beschäftigt  sind.  Die  Löhne  der  letzteren  sind  durchweg 
niedrigere.  Ein  zweiter  Unterschied  besteht  in  der  Entlohnung  der 
Frauen  und  der  Männer.  „Die  Männer  werden  immer  besser  bezahlt 
als  die  Frauen,  weil  da.s  schon  eine  allseitig  eingehaltene  (»epflogenheit 
ist,  sogar  dann,  wenn  die  Arbeit  der  Frau  besser  ist."  '  -  Die  Lohnform 
ist  beinahe  durchwegs  der  Stücklohn,  nur  in  Brolsnit/  wird  hiiufig  NN'ochen« 
lohn  bezahlt.  Dabei  ist  es  dort  auch  üblif  h,  <lafs  die  (lehilfen  l)eim 
Meister  Frühstück,  Mittagessen  und  Wohnung  halK  is.  Dies  wird  manch- 
mal als  Teil  des  Lohnes  gegeben,  in  vielen  F'ällen  l;ifst  der  Meister  es 
sich  besonders  bezahlen,  so  dafs  dem  Gehilfen  ein  muamaler  Betrag  von 
ein  paar  Kreuzern  zur  Deckung  seiner  fibrigen  Bedürfnisse  verbleibt. 

Die  Löhne  selbst  sind  ganz  unglaubliche.  „Der  Lohn  ist  90 
niedrig,  da&  man  sich  schämt  .ihn  zu  bezahlen/'  sagt  ein  Konfektionär.*) 
Aber  man  bezahlt  ihn  doch.  In  der  Herrenkonfektion  werden  fUr 
männliche  Arbeiter  Wochenlöbne  von  5  und  6  Fl.,  höchstens  8  Fl.  in 
Wien  und  2—3  Fl.  samt  Naturallohn  in  Profsnitz  angegeben.  Das 


*)  A. «.  O.  S.  303. 
A.  a.  O.  S.  165. 


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736 


MiszcUen. 


Frühstück  und  Mittagessen  samt  der  Benutzung  der  Wohnung  wird  auf 
2  FL  veranschlagt  Die  Arbeiter  in  den  etwa  vorhandenen  Wericstätten 
kommen  im  Durchschnitt  auf  1 1  Fl.  in  der  Woche.  In  der  Damen- 
konfektion dagejjen,  die  eine  besonders  qualifizierte  Arbeit  erfordert, 
sinkt  der  Lolm  des  Werkstättenarbeiters  kaum  unter  15  Fl.,  beim 
Zwisrbenmeister  sind  keine  männlichen  Arliciter  beschäftigt.  Die  Löhne 
(Um  Arbeiterinnen  sind  norh  viel  niedriprer.  Mit  Ausnahme  einer 
einzij^en  Angabe  sind  Luhne  in  der  Werkstutte  nicht  über  9  FL, 
durchschnittlich  aber  6 — 7  Fl.  in  der  Damenkonfektion,  in  der  Wäsche- 
und  besonders  in  der  Krawaitenkonfektion  sind  L6hne  von  3— 3  Fl  die 
Woche  etwas  ganz  Gewöhnliches.  Eine  Arbeiterin,*)  die  4  Fl.  80  Kr. 
wöchentlich  erhält,  findet,  dafs  sie  „ziemlich  gut"  bezahlt  ist. 

Die  Folgen  dieser  Huhgerlöhne  bleiben  nicht  aus.  Bei  den  männ- 
li(  hei)  Arbeitern  bedeuten  sie,  dafs  die  Eltern  und  Verwandten  diese 
Bezahlung  aufbessern  müssen,  was  in  Profsnit/  fast  durchweg  der  Fall 
ist  ;  wenn  keine  Liiterstut/un^  vorhanden  ist,  müssen  die  Arbeiter  sich 
eben  mit  dem  niedrigen  Lolm  einrichten.  Bei  den  Mädchen  aber 
werden  diese  Lohne  durch  Prostitution  ergänzt.  In  der  Enquete  bat 
man  nicht  gewagt,  dies  auszusprechen,  aber  angedeutet  wurde  es  an 
verschiedenen  Stellen.  „Die  Mädchen,  die  keine  Eltern  haben,  sind  ge- 
zwungen, um  zu  leben,  sich  einen  Beruf  zu  wählen,  der  nicht  höchst  an- 
ständig ist  oder  sie  müssen  in  Dienst  geben."  ') 

%      Die   Lebenshaltung  und  Wohnung  dieser  ganzen  Schicht  von 

Arbeitern  ist  natürli<  h ,  dem  Einkoramen  entsprechend,  elend  und 
äufserst  ärmlich.  Die  Werkstätte  beim  Zwischenmeister  ist  zugleich  ge- 
wöhnlich Schlafraum  für  die  (ieliilfen  und  Lehrlinge.  In  den  grüfsercn 
Zwischenmeisterbetrieben  sind  die  Räume  mit  Leuten  vollgepfropft.  Ge- 
lüftet wud  ^elteIl  und  in  dieser  ^■cldo^^)enen  Luft  schläft  man  dann.  So 
er/ählt  ein  .Arbeiter  der  Unifonnierungsbranche, ")  dafs  in  onieui  em- 
fenstrigen  Kabinet  10  Personen  arbeiten.  Die  Gehilfen  schlafen  oft  zu- 
sammen in  einem  Bett.  Die  Reinlichkeit  der  Werkstätten  läfst  viel  zu 
wünschen  übrig.  In  dieser  Hinsicht  sind  geradezu  skandalöse  Zustände 
in  Galizien.  Dort  wird  in  manchen  Werkstätten  überhaupt  nicht 
gekehrt,  in  anderen  nur  der  Abfall  in  die  Winkel  der  Werkstatt  ge- 
scholten. In  vielen  fallen  während  der  Arbeit  die  Wanzd  von  der 
Decke  herunter.^  )  Alierauch  in  einer  Wiener Werkstätte  erinnert  sich 
der  Arbeiter  gar  nie! it.  dafs  der  Fufsboden  eimnal  gewaschen  worden 
wäre.    In  klemeren  Betrieben  wird  im  selben  Zinimer  nicht  nur  ge- 

*)  A.  a.  O.  S.  $40. 
•)  A.  a.  O.  S.  434- 
*)  A.  Ä.  O.  S.  375. 

.  *l  A.  a.  O.  S,  131. 
*j  A.  a.  O.  S.  4<»0. 


Frits  Winter,  Die  Heinurbeit  in  der  ofterreicb.  Konfektionsindustrie.  '^y^ 


arbeitet  und  gegessen,  sondern  aucK  gekocht  Wenn  in  der  Nacht  ge> 
arbeitet  wird,  so  schlafen  im  selben  Zimmer  die  Angehörigen  der 
Meister.  Ja  aus  Profsnitz  wird  sogar  erzählt,  dafs  die  Gehilfen  in 
Schichten  arbeiten  und  dafs,  wiihrend  die  einen  auf  den  Tischen 
arbeiten,  die  anderen  unter  diesen  schlafen."  ')  Dafs  sie  das  übcr- 
haui>t  können,  verdanken  sie  wohl  nur  der  Uebeitnudun<;,  in  der 
sie   in    den   Sciikif  sinken.  Arbeiter  klagen    über  Krankheiten, 

namentlich  der  Augen,  wegen  der  mangelhaften  Ik-lcuchlung.  Zwei 
E]q)erten  erzählen,  dals  sie  von  der  Ueberanstrengung,  besonders  der 
Nachtarbeit,  krank  wurden  und  wochenlang  arbeitsunfähig  waren.  Ueber- 
banpt  wird  mehrfach  konstatiert,  dals  mit  30  Jahren  die  volle  Leistungs* 
fthigkeit  des  Arbeiters  abzunehmen  beginnt.  Die  Nahrung  steht  im  Ein* 
klang  mit  der  Dürftigkeit  der  Löhne.  Am  elendesten  lebt  wohl  ein 
Sitzgesellc  ^  in  Batielau  bei  Iglau  in  Maliren ,  drr  seine  Mahlzeiten 
folgendermafsen  beschreibt:  „Zum  Frühstiitk  Karte tfelsuppe,  manchmal 
auch  KatTee,  mittags  Kinbien;is'.i|t|ic  mit  Kurtofleln.  abends  Kartoffel- 
suppe. Manche  trinken  auch  .Sclmajis."  Ihm  gleich  konnnt  eine  ver- 
heiratete Arbeiterin, die  bei  einem  Danjenschneider  beschäftigt  ist.  .Sie 
gdit  mittags  ins  Kaffeehaus  imd  trinkt  einen  Kaffee.  Erst  abends 
kommt  sie  nach  hause  und  kocht  „etwas"  für  sich  und  ihren  Mann. 

So  ist  die  Lage  dieser  Arbeiter  beschaffen.  Die  Enquete  hat  ge- 
ze%t,  dafs  auch  in  Oesterreich  genau  dieselben  Uebelstände  bestehen, 
die  in  anderen  Ländern  mit  der  Heimarbeit  verbunden  sind,  entspringen 
sie  dodi  überall  aus  derselben  Ursache,  aus  der  Organisation  der  Pro- 
duktion in  diesem  Gewerbe. 

m. 

Welche  Resultate  diese  Knquete  haben  wird,  die  nur  als  ein  Teil 
der  Erhebungen  über  die  Verhältnisse  in  der  Heimarbeit  gedacht  ist, 
ist  heute  noch  nicht  zu  übersehen.  Es  ist  noch  unklar,  oh  die  schreck- 
lichen Zustände,  die  da  aufgedeckt  wurden  und  die  Kundigen  ja  schon 
lange  bekannt  waren,  dazu  führen  werden,  dafs  man  eine  Abhilfe  durch 
die  Gesetzgebung  sucht,  oder  aber,  dafs  man  vor  der  fürchterlichen 
Wahrheit  zurfickschteckend,  die  Eiliebungen  überhaupt  einstellt  Eines 
steht  jedenfiiUs  fest.  Durch  die  Enquete  ist  klargestellt  worden,  dafs  der 
Weg,  die  Mifsstände  abzuschaffen,  vollständig  verfehlt  ist,  den  der  Erlafs 
des  Handelsministeriums,  der  vor  einigen  Jahren  herauskam,  vorschlug. 
Damit;  dafs  man  Meistern  das  Recht,  Lehrlinge  zu  halten,  entzieht  und 
die  gewerberechtliche  Stellung  des  „Sitzgesellen"  präzisiert,  ist  gewifs 


')  A.  a.  O.  S.  210. 
«)  A.  a.  O.  .S.  419. 
•)  A.  a.  O.  S.  435- 
Archiv  ftir  iOi.  (ieseugeliung  u.  StatisCiK.  XV. 


uiijui.iL.j  cy  Google 


^  ->  Q  Miizellen. 

keine  Hilfe  geschaffen   und   wird  'nichts  verändert,  weil  das  Wesen 
der  Sache  bleibt.    Man  nmfs  si(  h  vor  allem  klar  sein,  was  raan  mit 
einer   „Rcirelung   der  Heiniaii)i  ir'   will,  in   wcli  lu-r   Ric  litunt:  ircregelt 
werden  soll.    \'or  alletn  ist  festzustellen,  dai's  der  „/.wihclieiuucister"  gar 
kein  „Meister"  ist,  sondern  ein  Arbeiter,  der  mit  der  Regie  der  Werk- 
statt uiul  der  Veraniwortiie.hkeit  lür  die  Herstellung  des  Produktes  be- 
lastet wird,  dafs  es  deshalb  dem  Konfektionär  leicht  ist,  alle  die  Kosten» 
die  sonst  ein  Unternehmer  trägt,  auf  die  Arbeiter  zu  aberwälzen.  Dals 
die  Beschäftigung  der  Arbeiter  aufser  Hause  zu  einer  HerabdrQckung 
der  Löhne  fuhrt,  ist  eine  bekannte  Thatsache  und  dafs  sie  die  Zusammen* 
drangung  der  Arbeit  auf  einen  kleinen  Teil  des  Jahres  noch  verschärft, 
hat  die  Enquete  ergeben.    Wo  man  bisher  sich  mit  der  Regelung  der 
Heimarl)eit  hffafst  h:it,   ist  man  haui»tsä(  hlirli   \on   dem  (Jesichtspunkt 
ausgegangen,  die  Allgemeinheit  vor  den  üblen  l  olgen  7,11  schützen,  die 
die  Heimarbeit  aiirh  ftir  sie  mit  si(  h    bringt.     Es   mufs  aber  endlich 
daran  gegangen  werden,  die  Regelung  im  Interesse  der  in  der  Heim- 
arbeit beschäftigten  Personen  selbst  vorzunehmen.  Wenn  ein  verbissener 
Manchestermann')  in  der  Enquete  sagt:  „Wenn  das  Gewerbe  dafür 
reif  ist  und' die  Verhältnisse  es  verlangen,  so  macht  sich  die  Umwandlung 
der  Heimarbeit  in  Fabriksbetrieb  von  selbst/'  so  wird  er  mit  diesem 
Ausspruch  wohl  allein  1 1;  il  n     Die  „Verhältnfase"  verlangen  diese  Um- 
wandlung schon  sehr  lange  uiid  sie  ist  seif  »st  verständlich  dennoc  h  nicht 
ci:j;^'^etreten.    Wir  sehen  nur  einen  Weg  zur  lieseitigung  dieser  Mifsstande, 
d.ts  i>t  die  Beseitigung  der  Heimarbeit  selbst,  ihre  Umwamilnng  in  einen 
Werkstatt-  oder  Fabrikshetrieh,  in  welcher  Form  immer  dies  geschehen 
mag.     Die  Schwierigkeit  des  l'roblen)s  ist  nicht  zu  verkennen.  Be- 
schreitet doch  die  Sozialpolitik  damit  völlig  neue  Wege.     Sie  hat  sich 
bis  jetzt  gröfstenteils  bemühti  durch  bestimmte  Vorschriften  gewisse  Aus- 
wüchse im  Produktionsprozefs  selbst  zu  beseitigen,  ohne  ihn  zu  be- 
rühren.    Hier  aber  handelt  es  sich  um  eine  Umänderung  der  Art  der 
Produktion.    Welche  Folgen  dies  auf  den  Industriezweig  hätte,  läfst 
sich  schwer  beurteilen.    Dafs  die  Unternehmer  wirklich»  wie  gedroht 
wttrde,  ins  Ausland,  hauptsächlich  nach  Ungarn  gehen  würden,  ist  nicht 
wahrscheinlich.    Ist  doc  h  einer  der  Vorzüge,   die  ein  Konfektionär  der 
t)Sterreichischen   Konfektion  nachrühmt,  der  Geschmack    und  die  Aus- 
f'iiirung  der  Produkte,  unrl  das  ginge  bei  einer  ^'erl>f^anzung  sicher  ver- 
loren.    Die  vorrau.ssichtliche  Folge  würde  sein,  dafs  nur  ilie  kapital- 
kräftigsten   Unternehmer    eine    derartige    Produktionsweise  vertragen 
könnten,  dafs  alle  Übrigen  aus  dem  Gewerbe  geworfen  würden  und  sich 
anderen  Berufen  zuwenden  müfsten.    So  spitzt  sich  das  Problem  auf  die 
Frage  zu,  wer  erhalten  und  gekräftigt  werden  soll»  die  Tausende  der 

^)  A.  a.  O.  S.  ai. 


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Fritz  Winter,  Die  Heimarbeit  in  der  Österreich.  Konfektionsindustrie. 


Axbeher  und  Zwischenmeister  oder  ein  paar  Untemduner*  Vor  dieser 
Frage  steht  man  aber  bei  jeder  sozialpolitischen  Mafsiegel.  Die 
Devise  kann  daher  nicht  lauten,  wie  es  in  der  besprochenen  Enquete 
^S.  17)  helfet:  „In  erster  Linie  muls  die  Industrie  auf  dem  Platz  er* 

lialten  werden,  wo  sie  besteht,  dann  erst  kommen  die  sozialpolitischen 
Motive",  sondern  nur:  zuerst  die  Sozialpolitik,  und  dann  die  Interessen 
der  Industrie,  d.  h.  der  IndustrieUen. 


48» 


LITTERATUR. 


JCuUmanMf  fV^  Landgerichtsrat.  2>Af  GewirksehafUbewegung,  Dar* 
Stellung  der  gewerkschaftlichen  Organisation  der  Arbeiter 
und  der  Arbeitgeber  aller  linder.  Jena,  Verlag  von  Gustav 
Fischer.   XX  u.  730  S.  gr.  8« 

Das  vorlicgcmle  umfangreit  lic  Werk  kummt  einem  wuklu  'ien  I'.e- 
dürfnis  entgegen.    So  grofsc  Fortschritte  die  Erkenntnis  von  der  Be- 
rechtigung  und  Notwendigkeit  der  Gewerkschaftsbewegung   auch  im 
Laufe  der  letzten  Generation  gemacht  hat,  so  gehen  doch  die  Ansichten 
aber  ihre  zweckmäisigen  Formen  und  die  naturgemäfsen  Grenzen  ihres 
Wirkens  noch  in  allen  Lagern  weit  auseinander.    Die  Meinungsver- 
schiedenheitai  hierüber  sind  aber  nur  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
Produkte  von  Interessengegensätzen,  zu  einem  grofscn  Teil  wurzeln  sie 
vieiraehr  in  Folc'ernngen  aus  ungeniiijcndcm  Krkenntnisniaterial.  Solclie  ein- 
seitigen Folfjeruuf^en  lassen  sich  auf  rein  deduktivem  \^'el:o  nicht  wider- 
legen.   Je  gröfser  aber  die  Fülle  des  erfahrungsniafsig  l  estge->U  Ilten,  um 
so  Icicliter  hissen  sich  alle  Differenzen  ausgleichen,  die  nicht  die  not- 
wendigen Folgen  tiefgehender  Interessengegensätze  sind,  und  modifizierea 
sich  selbst  Theorien,  die  gegensätzlichen  Interessen  Ausdruck  geben. 
Wie  auf  andern  Gebieten»  wohnt  auch  auf  dem  der  Sozialpolitik  der 
Empirik,  der  sachgemälsen  Feststellung  der  Erfahrungsthatsachen,  die 
Eigenschaft  bei,  dem  trennenden  Einflufs  der  spekulativen  Deduktion  ein 
Gegengewicht  zu  bieten. 

Ueber  die  Gewerkschaftsbewegung  liegt  uns  heute  bereits  ein  ziem- 
lich umfangreiches  Thatsachenmaterial  vor,  und  es  fehlt  auch  nicht  an 
Monographien,  in  denen  solches  Material  systcniatisc  Ii  auf  seine  Ergeb- 
nisse Air  die  Theorie  imtersucht  wurde.  Indes  diesen  Untersuchungen 
haUci  bisher  noch  ein  Mangel  an^  sie  sind  nur  Spezialuntersuchungen 
—  sei  es,  dals  sie  bestimmte  Arten  von  Gewerkschaften,  sei  es 
dals  sie  bestimmte  Gewerkschaftsfragen,  sei  es  schlielslich,  dafs  sie 
nur  die  Gewerkschaften  bestimmter  Länder  behandeln.    Solche  Be> 


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KuLciuunu,  W.,  Die  Gcwcrkscliaflsbcwcgung. 

flchränkung  kann  flir  das  einzelne  Werk  nie  ein  Vorwurf  sein,  so- 
bald der  begrenste  Wert  ihrer  Ergebnisse  eingerttumt  wird.  Aber  um 
eine  wissenschaftliche  Theorie  der  Gewerkschaftsbewegung  herzustdlen, 
um  den  Aufbau  eines  umfassenden  Lelirgebäudes  zu  erm^ichen,  muls 
zu  ihnen  die  vergleichende  Durcharbeitung  des  ganzen  einschläpgen 
Materials  iiinzukommen,  die  Ziisammenfassun»,'  und  Analyse  der  in  allen 
Ländern  ermittelten  Thatsachea  und  der  auf  Grund  ihrer  gezogenen  be* 
weiskräftigen  Schlüsse. 

Zu  einer  solchen,  auf  Zusammenfassung  und  \'crgleichung  ])eru}K'n- 
den  Wissenschaft  der  Gewerkschaftsbewegung  der  gesamten  Kuliurwclt 
liefert  nun  das  Werk  Kulemanns  ein  bedeutendes  Stttck  grundlegenden 
Materials.  Es  ist  keine  vollkommene  Arbeit.  Der  Verfasser  räumt  selbst 
eine  Reihe  von  Mängeln  ein,  und  wer  den  Titel  des  Buches  streng 
nimmt,  wird  unschwer  noch  andre  finden.  Eine  in  allen  Punkten  dem 
Gegenstand  gerecht  werdende  Darstellung  der  Gewerkschaftsbewegung 
zu  liefern  ist  eine  Aufgabe,  welche  die  Kräfte  eines  Einzelnen  durchaus 
überschreitet.  So  etwas  konnte  nur  auf  dem  Woge  kooperativen  For- 
schens geleistet  werden,  nach  Art  der  kollektULii  Krhcl)ungcn,  denen  wir 
das  Boothsche  Werk  über  Leben  und  Arbeitsverliältnisse  der  ärmeren 
Klassen  Londons  verdanken.  \  ergegenwärtigen  wir  uns  dies  —  die  un- 
geheure Schwierigkeit  der  Aul'gabe,  und  dafs  es  ein  einzelner  Mann  war, 
der  sich  ihr  unterzog,  dann  werden  wir  uns  nicht  darüber  aufeuhalten 
haben,  dafs  sie  Lücken  und  Irrtümer  aufweist,  sondern  den  Fleifs  und 
die  Umsicht  umso  höher*schätzen,  die  es  möglich  machten,  dafs  das  Werk 
trotz  alledem  dem  gesteckten  Ziel  so  nahe  kommt. 

Ks  ist  ein  schönes  Stück  Pionierarl)cit,  für  Praktiker  wie  Theo- 
retiker der  Gewerkschaftsbewegung  und  der  So/ialixtlitik  im  weiteren 
Sinne  von  aufserordentlichem  Wert.  Zum  erstenmal  wird  uns  hier 
ein  Leberljlick  über  die  ( ic\verkschaftsbe\vcguiig  der  wichtigsten  Kultur- 
länder geboten,  nicht  nur  inbe/ug  auf  ihre  ziffernmäfsige  Stärke  und 
ihre  gröfsercn  Kämpfe  nach  aufsen,  sondern  auch  zu  einem  grofsen  Teil 
inbezug  auf  ihren  inneren  Werdegang,  die  Ausbildung  und  Natur  ihrer 
Vormen,  ihren  Zusammenhang  oder  ihre  Beziehungen  zur  allgemeinen 
(politischen  etc.)  Arbeiterbewegung  und  ihre  Leistungsfähigkeit.  Manches 
ist  da  freilich  nur  erst  angedeutet  oder  nicht  für  alle  eingehender  be* 
handelten  Länder  gl  i>  I  tnäfsig  ausgeführt,  und  verschiedentlich  kommt 
das  eine  Llemcnt  der  .Vrbeit  gegenüber  dem  andern  zu  kurz  (wie  etwa 
hier  und  da  das  Linordncn  des  Materials  gegenüber  lilofseni  \'ei  zeichnen 
von  solchem  oder  von  DelailschihlerungetiV  Aber  im  ganzen  erhalten  wir 
doch  eine  lebendige  .\nsch.\uung  von  iler  \  ielheit  der  Lormen,  dem 
Keichtum  der  (iliederung  und  der  Ausdehnung  des  liethätigungsgebiels 
der  Gewerksdiaftsbewegung  und  werden  in  den  Stand  gesetzt,  aus  der 
Vergleichung  des  Entwicklungsganges  der  Gewerkschaftsbewegung  in  den 
verschiedenen  Ländern  und  des  Zusammhanges  zwischen  ihren  Wirtschaft« 


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742. 


Litt«retiir. 


lidieiii  politischen  und  ethnologiBch^ethischen  Voraussetzungen  und  der 
Gestaltung  ihrer  Formen,  Arbeitsmethoden  und  \N'irkungskraft,  Urteile  zu 
gewinnen  hinsichtlic  h  dessen,  was  in  ihr  wesentlich  ist,  und  was  nur  zu- 
fällig  —  mit  andern  Worten,  das  in  ihr  oder  für  sie  allgemein  Geltende  von 
lokalen  Besonderheiten  zu  unterscheiden.  Von  welcher  Wicht iijkcit  dies 
ist,  wird  uns  sofort  klar,  u  enii  wir  nach  Lektüre  des  vorliegemlen  Buches 
an  Arbeiten  iiher  d;is  Cleweikschaftsw  cscn  herantreten,  welchen  nur  die 
Eifahrungcn  eines  einzelnen  Landes  zu  Grunde  liegen  oder  als  rnafs- 
gebende  Richtsdinur  dienen. 

Der  Verteer  hat  sich  in  dem  voriiegenden  Bande  in  der  Haupt» 
Sache  darauf  beachrSnkt,  die  Materialien  für  solche  Tergleichende  Ana- 
tomie und  Phydologie  des  Gcwerkschaftslebens  daimbieten.  Die  Publi> 
kation  der  theoretischen  oder  prinzipiellen  Ergebnisse  seiner  Unter- 
suchungen sind  dagegen  einem  zweiten  Buch  vorbehalten,  mit  dem 
das  untcrnonnnene  Werk  erst  seinen  Abschlufs  erhalten  soll.  Allerdings 
fehlt  es  aiH  h  in  dctn  Stück,  das  wir  jetzt  vor  uns  haben,  nicht  an 
krilis(  lu'ii  licmctkungen  und  A^al\  ^en,  so  dafs  es  einen  falschen  Kiudi  uck 
erwecken  lüefse,  wollten  wir  d;is  Buch  kurzweg  als  eine  Matciialicnsanini- 
lung  bezeichnen.  Aber  die  Analysen  gellen  hier  besonderen  Erscheinungen 
oder  einzehien  Seiten  der  Bewegung,  nicht  dem  sich  aus  ihrer  Zusammen- 
fiosung  ergebenden  BUde.  Oder  aber  der  Verfasser  giebt  uns  generelle 
Urteile  über  die  sozialpolitische  Bedeutung  der  Bewegung  als  Ganzes, 
die  aber  noch  der  näheren  Begründung  entbehren  und  in  ihrer  summa* 
rischen  Gestalt  vorlaufig  nur  als  Ansichten  gelten  können. 

Ein  solches  summarisches  Urteil  ist  der,  l)ereits  zu  einer  gewissen 
Berüluntheit  i^elangte,  in  andrer  Form  übri«;ens  schon  oft  geäufserte  Satz: 
„iJie  ( Icrterkschaftsbewegung  ist  der  'l'odtcind  der  Sozialdemokratie.'* 
iS.  208.1  Der  Verfasser  \  erspricht  ihm  im  zweiten  Bande  seine  Be- 
gründung zu  geben,  die  Kritik  hülle  also  nnt  ilncn»  Urleil  zu  warten, 
bis  dieser  Band  heraus  i^  Indes  ist  der  leitende  Gedanke  dieser  Be- 
gründung schon  in  dem  Satz  angezeigt,  den  der  Verfiuser  dem  zitierten 
Ausspruch  vorausschickt,  und  mit  ihm  auch  ihre  voraussichtlich  wunde 
Stdle.  „Zweifellos",  heilst  es  da,  „giebt  es  für  jene  staatsumstür- 
zende Richtung,  die  allein  auf  dem  Boden  der  Auflassung  erwachsen 
kann,  dafs  die  bestehende  Ordnung  in  ihrer  Gnmdlagc  verfehlt 
und  zu  irgend  welcher  Besserung  unfähig  sei,  keinen  gefalir- 
licheren  Feind,  als  Bestrebungen,  die  auf  dem  Boden  eben  dieser 
selben  ( )rdnung  eine  solche  Besserung  h  e  r  1)  e  i  z  u  fu  Ii  r  e  n  und  so 
den  schlagendsten  Beweis  für  die  Verkehrtheit  jenes  radikalen 
Ausgangspunktes  zu  liefern  suchen"  (a.a.O.). 

Wir  haben  hier  diejenigen  Stellen  des  Satzes,  die  (Ur  den  darin 
ausgedrückten  Gedankengang  wesentlich  sind,  im  Druck  ausgezeichnet 
Auf  den  ersten  Blick  sieht  man,  dafs  er  auf  zwei  ganz  bestimmten 
Pkjbnissen  aufgebaut  ist,  die  Todfeindschaft  zwischen  Sozialdemokratie 


Kulcmann,  \\'.,  Die  Gewerkschafisbcwe{;ung. 


745 


und  ( lewerkschaftsljeweguii};  von  hcsiiinmten  Eigens«  haftt-n  beider  abhan^'ig 
macht.  Entsprechen  sie  diesen  nicht,  so  würde  sich  auch  die  vermeint- 
liche Todfeindschaft  je  nachdem  in  ein  andres  Verhältnis  verwandeln. 
Nun  kann  man  das  von  den  Bestrebungen  der  Gewerkschaftsbewegung 
Gesagte  innerhalb  gewisser  Grenzen  gelten  lassen.  Wenn  aber  diese  Be- 
strebungen erfolglos  oder  ihre  Erfolge  in  dauerndem  Mifsverhältnis  zu 
den  auff^cwetidcten  Anstrengungen  bleiben,  so  würde  das  schliefsliche 
Ergebnis  der  Gewerkschaftsbewegung  —  und  grade  um  dieses  handelt 
es  sich  hier  —  offenbar  nichts  weniger  als  Todfeindschaft  gegenüber 
der  Sozialdemnkratie  und  iiiren  Bestrebungen  heifsen  köimen,  selbst  oder 
grade  wenn  diese  der  Kulemannschen  Definition  entsprachen.  Ist  dem 
jedoch  so?  Oder  trifft  ni«  ht  Kulemnnn  nur  gewisse  Auffassungen 
von  der  Sozialdemokratie,  die  /.war  an  besiinuuten  Pubhkatiouen  dieser 
eine  Art  Rückhalt  haben^  aber  mit  ihrem  faktischen  Verhalten  keines- 
wegs unabänderlich  übereinstimmen.  Die  Unverbesserlichkeit  der  be- 
stehenden Ordnung  war  prinzipiell  schon  mit  dem  Marxschen  Satz  über 
den  Haufen  geworfen,  dafs  „die  jetzige  (Gesellschaft  kein  fester  Kristall, 
sondern  ein  umwandlungsfähiger  und  beständig  im  Prozefs  der  Umwand- 
hing begriffener  Organismus"  ist.  Für  den  ("ies(  hi<  ht>-.<  hreiber  geht  es 
ni<;ht  an,  eine  so  grof'vc  Bewegung  wie  d\c  So/ialiKinnkratic  schlechtweg 
auf  (Irund  zeitweiliger  Programme  oder  l  ormcn  ihres  Auliretens  zu  be- 
urteilen. Er  tlarf  sie  nicht  nach  tlem  beurteilen,  fiir  was  sie  sich  /u 
irgend  einer  Zeit  selbst  hält  oder  ausgiebt.  Ihr  geschichliicher  Charakter 
wird  durch  das  Gesamtbild  ihres  faktischen  Wirkens  bestimmt,  und  das 
ist  in  diesem  Falle  nicht  der  „Umsturz"  des  Staates  und  der  gesellschaft- 
lichen Ordnung,  sondern  ihre  Umwandlung  durch  Demokratisierung,  ihrer 
Grundlagen.  Wie  die  Gewerkschaftsbewegung  selbst  durchaus  nicht  an 
starr  abgegrenzte  Ziele,  P'ormen  und  Methoden  des  Vorgehens  gelnmden 
ist,  sondern  in  allen  diesen  Punkten  bedeutsame  Entwicklungen  durth- 
gemacht  hat  und  noch  durrlnnacht,  so  auch  die  Sozialdemokratie.  (Greift 
man  aus  beiden  I^cwcgungen  {»estinnnte  Si^e/ialt)  pen  heraus,  so  kann  man 
allerdings  Gegens^U/e  feststellen,  wie  sie  schärfer  kaum  geilacht  werden 
köiuien.  Dann  hat  man  aber  nicht  Bewegung  gegen  Bewegung,  sondern 
nur  das  Verhältnis  von  Bruchstücken  l)eider  zu  einander,  aus  dem  sich 
kein  Schlufs  auf  die  dauernden  Beziehungen  ihrer  selbst  ziehen  läfst, 
denn  das  dnzelne  Stück  zeigt  noch  nicht  die  Richtungslinie  des  (ianzen. 
Ebenso  falsch  wäre  es  indes,  aus  homogenen  Manifestationen  beider  Be- 
wegungen kurzweg  auf  ihre  grundsäuliche  Gleichartigkeit  zu  schliefsen. 

Der  Unterschied  ihres  Arl)eitsfeldes  und  der  von  ihnen  zu  lösenden 
Aufgaben  bringt  es  mit  sich,  dafs  auf  allen  Stufen  der  Entwicklurg 
Gegensätze  zwischen  der  Sozialdemokratie,  als  der  politischen  Arbeiter- 
bewegung, und  der  ( Icwcrksc  liaftsbewegung  s])ielen  können:  sie  sind  im 
latenten  Zustande  immer  vorhanden.  .Aber  sie  sind  (icgensatze  von  Ab- 
teilungen eines  Lager.s,  nicht  gröfser  wie  etwa  die  verschiedener  Regie- 


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744 


LiUcratur. 


ningsämter  zu  einander.  In  der  Welt  der  abstrakten  Ideen  würden  sich 
solche  Gegensätze  stets  in  divergierenden  Lmien  darstellen  und  so  als  Tod- 
feindschaften zu  bezeichnen  sein.   Die  harte  Realität  aber  hebt  durch 

(iegendriuk  von  andrer  Seite  die  Divergenzen  immer  wieder  auf.  Kein 
Arbeiter  ist  nur  Gewerkschafter;  das  ( lewcrkscliaftsmit^lied  ist  immer 
noch  Staats])üri^er  mit  Interessen,  die  über  die  Sphäre  der  Gewerkschaft 
liinaiisreichen.  W  as  solhe  daher  den  <^c\verksc.hafih(  Ii  organisierten  Ar- 
l)eiter  zum  grundsat/.Urlu  ii  (ir^ncr  einer  politisclien  Arbeiterpartei  mai  hen? 
Nichts,  so  lange  er  tiberliauitt  nocli  Ursaclie  hat,  Reformen  zu  erstreben, 
denen  die  Gewerkschaft  niclii  gewachsen  ist.  So  stimmen  die  englischen 
Gewerkschaftler  seit  Dezennien  regelmäfsig  den  Anträgen  auf  Bildung 
einer  unabhängigen  politischen  Arbeiterpartei  zu.  Wenn  es  in  England 
trotzdem  noch  zu  keiner  solchen  Partei  im  groisen  Stil  gekommen  ist, 
so  ist  die  Haupt  Ursache  darin  zu  suchen,  dafs  der  politische  Druck  und 
das  Verhalten  der  andern  Parteien  bisher  niclit  der  Art  waren,  um  die 
Arl)eiter  zu  veranlassen,  sich  unbesehen  jeder  Organisation  zuzuwenden, 
(He  den  Namen  soziahstische  oder  Arbeiterpartei  trug,  und  weil  andrer- 
seits CS  noch  an  Vertrauen  in  die  politische  Kraft  und  umsich- 
tige Leitung  der  l)estelH-n(lcn  sozialistischen  Organisationen  fehlt.  Die 
Erfolge  der  englischen  Gewerkschaften  haben  mit  den  geringen  Erfolgen 
der  Sozialdemokiatie  in  England  sehr  wenig  zu  thun.  Der  gröfste  rela- 
tive Aufschwung  der  letzteren  fällt  in  eine  2^it  grofser  gewerkschaftlicher 
Erfolge.  Aeufserstenfalls  ist  die  Gewerkschaftsbewegung  insctfem  der 
politischen  Arbeiterbewegung  antagonistisch,  als  sie  ihr  ein  StUck  Arbeit 
abnimmt  und  damit  ihre  Funktion  etwas  verkürzt.  Aber  was  sie  ihr  da 
nimmt,  gicbt  sie  ihr  in  andrer  Hinsicht  doppelt  zurück. 

\\  ir  haben  bei  diesem  Punkt  so  lange  verweilt,  weil  die  betreffende 
Bemerkung  Kulemaims  sehr  geeignet  ist,  die  sachgeraäfsc  Erledigung  der 
in  der  so/ialistischen  .\rbeiterschaft  Deutschlands  zur  Zeit  siattfmdenden 
J^iskussionen  über  die  Gewerkschaftsfrage  zu  l)eintrachtigen.  Das  Wenige 
bedingter  Wahrheit,  das  ihr  innewohnt,  fällt  gegenüber  6ea  Irrtttmem, 
zu  denen  sie  Anlafs  giebt,  gar  nicht  ins  Gewicht  Bei  Kulemann  richtet 
der  Satz  seine  Spitze  gegen  die  Feinde  der  Gewerkschaftsbewegung  in 
den  Kreisen  der  herrschenden  Klassen.  Es  giebt  aber  schwerhch  in 
deren  Reihen  noch  viele  Eeute,  die  sich  einbilden,  durch  das  Mittel  der 
Gewerkschaften  der  Sozialdemokratie  an  den  Leib  zu  können.  Die  Aus- 
rottung der  Sozialdemokratie  ist  eine  aufserhalb  des  Gel)iets  der  Mög- 
lii  likeiten  liegende  Idee.  D  is  einzige,  was  die  Regierenden  können,  ist, 
auf  X  ermiinlcrnng  der  pe-isiinistisclieu  .Auffassungen  innerhalb  der  Sozial- 
demukraiie  hinzuwii ken.  Lud  dazu  gehört  unter  anderem  der  Ver- 
zicht auf  jede  Drangsalierung  und  jede  Verfälschung  der  Gewerkschafts- 
bcuegung.  — 

Bei  der  grofsen  Fülle  des  StofTes,  das  der  Verfasser  zu  bewältigen 
hatte,  war  es  fast  unvermeidlich,  dafs  sich  eine  ganze  Reihe  von  fak- 


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Kulemann,  W,,  Die  (jL-werkschattibcwt-gung. 


745 


tischen  Intüinern  in  seine  Darstellung  einschlichen.  Sind  die  wenigsten 
davon,  die  uns  aufttiefsen,  erheblicher  Natur,  so  ist  es  immeriun  wQnsch- 
bar,  dafs  sie,  ebenso  wie  eine  grofse  Anzahl  nicht  vorbesserter  Druide- 

fehler,  in  einer  späteren  Auflage  ausgemerzt  werden.  Zu  diesem  Bdiufe 

sei  hier  fol^jendcs  berichtigt 

S.  2  Note:  Der  1S91  —  von  Tom  Mann  —  in  London  heraus- 
gegebene Trade  l^nionist"  ist  nach  etwa  einem  Jahre  \vieiU-r  einge- 
gangen. S.  i5  16:  nie  iMirdcrcr  des  (.'nglisihen  Gewcrkschat'lswcsen.s, 
Ed.  S.  Becsly  und  Ferd.  Hanisun,  hind  iii<  ht  ChristUch-so/iale,  sundern 
Führer  der  enghschen  Positivistenbeue^uug.  S.  68:  Der  Hauptfiihrer 
der  Gewerkschaftsgruppe,  die  sich  1880  auf  dem  Kongrels  von  Hävre 
von  den  französischen  Sozialisten  trennte,  war  nicht  Clemenceau,  sondern 
ein  gewisser  Siebecker.  S.  71/72:  Dafs  es  die  französischen  Marxisten 
waren,  die  auf  den  Gewerkschaftskongressen  von  Bordeaux  (1888)  und 
Calais  (1890)  Beschlüsse  zu  Gunsten  des  Ceneralstrikes  durchsetzten,  be- 
darf mindestens  der  Nachprüfung.  Jene  Kongresse  waren  nur  insofern 
„marxistisch",  als  sie  nicln  der  ])ossibilistischen  Fülirung  folgten.  Dies 
ergiebt  sich  auch  daraus,  dafs,  walucnd  der  mar.xistische  Parteikongrefs 
von  1S02  ^Marseille)  den  Cieiietal^trike  verwarf,  der  gleichzeitig  in  der- 
selben Stadt  tagende  sog.  marxistische  (ieweikschafiskongrefs  sich  für 
ihn  erklärte.  S.  11 3/1 15:  Die  Darstellung  der  Vorgeschichte  des  Schweiz. 
Arbeiterbundes  bedarf,  wie  verschiedene  Wider^rUche  zeigen,  der  Nach- 
prüfung. S.  118:  der  „Schweizerische  Sozialdemokrat"  wurde  nicht  von 
Otto  Lang  in  Zürich,  sondern  von  Fr.  Steck  (nicht  „Stock")  in  Bern 
herausgegeben.  S.  141 :  Hier  verschwimmt  die  Nieuwenhuissche  Rich- 
tung der  holländischen  Sozialisten  in  konfuser  Weise  mit  der  sog.  par- 
lamentarischen Sozialdemokratie,  deren  Standpunkt  gegenüber  den  Cie- 
werkschaften  falsch  dargestellt  wird.  S.  178:  Der  Satz  ,,auch  hat  mau 
sich  —  in  Australien  —  im  Interesse  der  nati(Mialen  Arbeit  zu  hohen 
Schut/zi»llen  entschlossen'',  ist  nicht  nur  iheurelisch  anfechtbar,  sondern 
aucli  für  die  bevölkertste  und  wohliiabendste  der  australischen  Kolonien 
• —  New  South  Wales  —  faktisch  unrichtig.  S.  184:  Dafs  die  Briefe  des 
Dr.  Max  Hirsch  in  der  Berliner  „Volkszeitung*'  von  1868  über  die  eng- 
lischen Gewerkschaften  den  äuisem  Anstofe  zur  deutschen  Gewerkschafts* 
bewegung  gegeben  hätten,  ist  ein  Irrtum,  der  durch  verschiedene,  vom 
\'erfasser  selbst  mitgeteilte  Thatsachen  widerlegt  wird.  Quellen  über  die 
Vorgeschichte  sind  u.  a.  die  „Coburger  .Arbeiterzeitung"  und  das  „Demo« 
kratische  Wochenblatt*'.  S.  379:  Dafs  das  Organ  der  „evangelisch-so- 
zialen .Arbeitervereine  Sachsens"  „i>ächsische  Arbeiterzeitimg"  heiCst,  ist 
augenscheinlich  ein  Irrtum. 

Wir  sehen  davon  ab,  ein  Relcrat  über  den  sachliclien  bihait  des 
Kulemannschen  >\erkes  zu  geben.  Es  genüge  die  Bemerkung,  daf«  es 
für  Deutschland  auf  Uber  300  Seiten  in  systematischer  Gruppierung  die 
gewerkschaftlichen  oder  den  Gewerkschaften  in  wesentlichen  Punkten 


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746 


Littcratur. 


verwandten  Arbeitervereine  ausführlich  und  mit  Vorführung  vieler  statis- 
tischer  Daten  hinsichtlich  ihrer  Entstehung,  ihrer  Leistungen,  ihrer  inneren 
Wandlungen  und  ihrer  derzeitigen  Stärke  schildert.  Den  aufserdeutschen 

Gewerkschaften  konnte  nicht  der  jjleiche  Raum  grewidmet  werden,  doch 
'  werden  für  die  Hatiptländer  immerhin  recht  ausrührlichc  Abrisse  geboten. 
Eiii  \vcrtvr»lle>?.  sehr  instrukti\es  Ka])itel  ist  (kr  den  internationalen 
B  c  /  i  (•  h  u  11  u  c  u  der  Ccwcrksc  hatten  ge\vi<hiu'te.  hundert  Seitcii  aus- 
füllende Alis<  hnitt.  Hier  sehen  wir  ;nn  deutHchsten,  welch  unendliche*; 
Stiuk  Arbeit  die  Gewerkschaftsbewegung  noch  vor  sich  hat,  so  dafs  die 
meisten  der  auf  allgemeinen  internationalen  Rongresscn  hinsichtlich  dieses 
Gegenstandes  gefalsten  Beschlüsse  mit  Ausnahme  ganz  vereinzelter  Ge- 
werbe noch  nicht  viel  mehr  sind  als  abstrakte  Formeln,  und  dafs  vielfach 
zwischen  der  nationalen  und  der  im  vollen  Sinne  des  Wortes  intetnatio- 
nalen  Verbindung  der  Gewerkschaften  als  Zwischenstufe  ein  partieller 
Internationalismus  n<)tig  wird,  der  längere  Zeit  auf  eine  Anzahl 
benachbarter  oder  irgendwelche  Aehnlichkeiten  aufweisender  Länder 
bc'scluankt  bleibt,  '/ictnlich  viel  Raum  ist  ferner  den  Untcrnehmer- 
V  e  r  b  i  n  d  u  n  g  <•  1  LTi  vvichnct,  obwohl  es  hier  dem  \'erfasscr  besonders 
schwer  fiel,  ausicK  liendes  Material  aufzutreiben.  Sind  doch  ein  grol'ser 
Theil  grade  dieser  Vereine,  wie  Brentano  es  ausdrui  kt,  die  eigentlic  hen 
„geheimen  Verbindungen".  Dann  wieder  kombinieren  sich  bei  ihnen  ge- 
werkschaitliche,  auf  ihre  Beziehungen  zur  Arbeiterschaft  bezügliche  Zwecke 
mit  solchen,  die  sich  auf  weitere  Erwerbs-  oder  (leschäfbverhältnisse 
(Materialbezug,  Preisbildung,  Versicherung  u.  s.  w.)  l^eziehen.  Schliefslich 
werden  vom  Verfasser  noch  die  gemeinsamen  oder  vertragsmäfsig 
verbundenen  gewerkschaftliclien  Organisationen  von  l^nterneh» 
mern  und  Arbeitern  behandelt,  die  Tarifverbände  aller  Art,  sowie 
die  durch  Staatsgc^ct/  für  liestimmtc  gewerbliche  /wecke  geschaffenen, 
Arbeiter  und  Unternehmer  utnfnssenden  Herufsx  ereiiiigungen. 

Nachträge  zu  den  verschicdnen  Kapiteln,  die  das  dort  gebotene 
Material  vervollständigen,  bilden  den  Abschlufs  des  Werkes.  Wie  schon 
erwähnt  wurde,  ist  es  nicht  in  allen  Teilen  gleich  ausgeführt,  und  manche 
Punkte  von  Interesse  sind  kaum  gestreift.  So  erfahren  wir  so  gut  wie 
nichts  über  die  positiven  gewerkschaftlichen  Leistungen  der  internatto* 
nalen  Gewerkschaf^sverbindungen,  und  das  Wenige  meist  nicht  da,  wo 
wir  es  naturgemäfs  suchen.  Indes  wäre  es  unbillig,  auf  solche  Mängel, 
die  sich  dem  Verfasser  wahrscheinlich  bei  Veranstaltung  einer  ZH'eiten 
Auflage  selbst  aufdrängen  werden,  besonderes  (lewicht  zu  legen.  Das 
Buch  ist,  so  wie  es  ist,  eine  grofse  Bereicherung  der  sozial j)olitischen  Lit- 
teratur.  Dafs  es  teilweise  nur  I>aten  aus  zweiter  Hand  ;,Mebt,  hebt  der 
Verfasser  seil)st  hervor.  Ks  wäre  thorichte  F.itelkcit  gewesen,  erklärt  er, 
mit  den  vorhandenen  Werken  der  Spezialliueralur  in  Konkurrenz  zu 
treten,  und  Originalstudien  zu  tueten,  wo  bereits  Bearbeitungen  des  be> 
treffenden  Gebiets  vorlagen.  Zu  einem  Teil  ist  sein  Buch  daher  nur  Zusam- 


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Liebe nam,  \V.,  Städtcverwaltung  im  rdmiscben  Kaismeicbe. 


menfassung  uiul  Krgän/ung  von  schon  l>ekainiien  Spe/.ialuntersucluinucn. 
Was  es  aber  aotchen  verdankt,  giebt  es  jener  Litteratur  dadurch  zurück, 
dafs  es  selbst  wieder  zu  neuen  Spc/ialuntersuchungen  anreg;t,  zu  ver- 
gleichenden  Studien  über  bestimmte  Seiten  der  Gewerkschaftsbewegung 
in  den  verschiedenen  Ländern,  deren  mannigfaltige  Gestaltung  es  zum 
erstenmal  im  Zusammenhange  mr  Anscliauung  bringt. 

Wenn  der  eigne  Standpunkt  des  \'erfassers  wiedcrliolt  in  seinen 
kritischen  Bemerkungen  zum  Ausdnu  k  komtnt,  so  ist  doch  im  Ganzen 
seiner  Darstellung  gro(se  Sachlichkeit  und  Unparteiliclikett  nachzurühmen. 

London. 

ED.  BERNSTEIN. 


Liehenamf  IV. f  StädteverwaltMig  im  rfimisehen  Kaiserrtiehe,  Leipzig. 
Verlag  von  Duncker  und  Humblot,  190a 

In  seinen  Untersuchungen  luif  dem  Gebiete  der  Natn)nali)ki)iioi]iie 
des  klassischen  Altertums  (  Jahrb.  für  Xal.-Oek.  und  Statistik  1865, 
Bd.  IV  S.  342  ff.)  vergleicht  Rodbert us  das  Jahrtausend  von  Augustus 
bis  SU  den  sächsischen  Katsem  mit  einer  Sedimentärscbicbt,  die  zwischen 
den  Völker-  und  Staatenarten  der  alten  und  neuen  Zeit  lagert.  „Das 
sodale  Leben  hat  auch  in  dieser  Umbildungsperiode  seine  Kontinuität 
nicht  verloren."  Während  die  politischen  Organe,  so  führt  Rodbertus 
aus,  verkümmern  und  absterl»en,  >  glimmt  tmter  dieser  verwesenden 
Decke  die  eigentliche  soziale  Lebenskraft.  —  Um  die  Entwicklung  des 
so7ialen  Lebensbestandes  zu  zeigen,  bedürfte  es  einer  vollständigen  Sozial- 
geschirhte  dieses  Zeitraums,  einer  Geschichte,  deren  .'Vufg  ihe  nach  Rod- 
bertus nicht  sowohl  darin  besteht,  der  Menschheit  .,S(hnit/cl",  die 
Haupt-  und  Staatsaktionen  zu  scliildcrn,  als  die  „stille,  aber  unauthalt- 
same  Veränderung  in  Anschauungen,  Sitten  und  wirtschaftlichen  Verhält« 
nissen". 

Noch  ist  diese  Brücke,  die  von  alten  zu  neuen  wirtschaftlichen  An- 
schauungen führt,  nicht  voltendet  Um  so  dankbarer  ist  jeder  Ver- 
such zu  ihrem  Ausbau  zu  begrtifsen,  zumal  aus  den  ersten  \bschnitten 
der  erwähnten  Periode,  wo  der  Forscher  auf  S(  hritt  und  Tritt  mit  den 
Schwierigkeiten  der  Quellencrschliefsung  oder  mit  dem  Mangel  an  Quellen 
zu  kämpfen  hat.  Hierin  finden  alle  wirtsi  haftsgeschichtlichen  Arbeiten 
aus  dem  .\ltertum  ihre  ilegrenzung  und  Einschränkung.  Von  den  meisten 
wird  das  gelten,  was  Pohl  mann  seinem  bekannten  Werke  über  die 
UebervölkeruQg  der  antiken  Grofsstädte  vorausschickt :  „wie  bei  den  meisten 
wirtschafts*  und  sozialgeschichtUchen  Arbeiten  auf  dem  Gebiete  des  Alter- 


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748 


Litterahir. 


tums  wird  auch  hier  das  Ergebnis  selbst  der  mühseligsten  Sammlung 
und  umsichtigsten  Kombination  der  in  einer  kaum  übersehbaren  Litte* 
ratur  der  heterogensten  Art  zerstreuten  Angaben  mehr  oder  minder  nur 
Stuckwerk  sein  können". 

Dies  trifft  auch  nuf  das  vorliegende  Werk  zu.  So  wenig  man  dem 
Vcrla^scr  die  Anerkennung  für  die  überaus  mühsame  SamniluiiLr  und 
Siciuung  des  Materials,  für  die  sorgfältige  und  wohlerwogene  \  erw  ei  - 
tung  de^lben  versagen  kann,  so  wenig  wird  man  ach  darüber  täuschen, 
dafs  auch  hier  nur  ein  Stückwerk  vorliegt  und  vorliegen  mufs.  Dals 
sich  der  Verfasser  dieses  notwendigen  Uebels  wohl  bewufst  ist,  scheint 
selbstverständlich.  Da  aber  nicht  immer  das  Bewufstsein  des  unzuläng- 
liehen  I^faterials  vor  allzu  kühnen  Schlüssen  schützt,  so  sei  der  scheinbar 
negative  Vorzug  oft  grofser  Zurückhaltung  in  den  Urteilen  rühmend  her* 
vorgelioben.  Dies  gilt  vor  allem  da.  wo  noch  /.ifl'ernmäfsige  Ueher- 
lieteruivu'en  \<trlnL;cn  und  leicht  /.u  (>k' niotnischen  Folgerur)gen  \erleiten 
konntc-n.  Zumeist  ist  Liebenam  hier  dct  (lefahr  entgangen,  um  mit 
i'ohlmann  zu  reden,  „mit  denen  im  Dunkeln  zu  tappen,  die  nun  einmal 
nicht  darauf  verzichten  zu  können  glauben,  für  Thatsachen,  die  sich  bei 
der  Natur  der  Quellen  jeder  quantitativen  Bestimmung  entziehen,  einen 
zahlenmä(^igen  Ausdruck  zu  suchen". 

Die  Natur  des  Stoffes  mufste  der  Disposition  des  umfimgreichen 
Werkes  mancherlei  Schwierigkeiten  bringen,  umsomehr,  als  der  Verfasser, 
wie  er  sagt,  hier  allerhand  sachliche  Rücksichten  zu  nehmen  hatte.  Am 
meisten  wird  man  es  mit  dem  Verfasser  bedauern,  dafs  er  nach  den  — 
naturgemäfs  vielfach  lückenhaften  —  Kinzelaiisfuhrungen  von  dem  (le- 
s  a  m  t  b  i  1  d  des  Stndtevvescus  nur  eine  Skiz/e  geben  konnte.  Ebenso  ist  es 
/.u  beklagen,  dals  in  diesem  Werke,  das  uns  an  so  vielen  Stellen  den 
veriuüignisvuUen  Eiutlufs  der  Lage  der  Kurialen  aul  die  Städteverwal- 
tung  und  Bürgerschaft  zeigt,  einer  ausführlicheren  Betrachtung  der  Ktuie 
kein  Flau  eingeräumt  werden  konnte.  Dieser  Umstand  verbimden  dami^ 
dafs  die  Materialnachweise  oft,  wie  der  Autor  selbst  einräumen  muls,  in 
erdrückender  Fülle  auftreten,  giebt  einigen  Abschnitten  etwas  Unorga- 
nisches, dafs  noch  durch  einige  Mängel  der  stofflichen  Anordnung  sich 
besonders  fUblbar  macht.  Zu  diesen  Mängeln  gehört  es  auch,  wenn  der 
\'erfasser  den  an  sich  lobenswerten  Grundsat/,  von  anderen  geschildertes 
nicht  zu  'A  iederholcii,  allzu  strikt  durchfuhrt  und  dadurch  mitunter  Lücken 
in  '^ei^ler  1  Darstellung  sciiatit.  So  hatte  trotz  der  vorhandenen  vorzüg- 
liciien  Ausführungen  von  Pohl  mann  wenigstens  ein  kurzes  Resumc 
über  die  auch  im  Altertum  schon  sehr  bedeutsame  Wohnungsfrage 
nicht  fehlen  dürfen. 

Die  Stadt  Rom  scheidet  überhaupt  aus  den  Liebenamscben  Unter* 
suchungen  aus.  Gerade  die  römischen  Wohnungsverhättnisse  hat  ja  auch 
Pöhlmann  auf  das  eingehendste  geschildert  Für  die  kleineren  und  mitt- 
leren  Städte  begnügt  sich  Liebenam  mit  dem  Hinweise  darauf,  dafs  sich 


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Li  eben  am,  \V.,  StädtcvcrIt'aUung  im  römischen  Kaiserreiche. 


in  anderen  Gemeinden  die  Wohnungsnot  nicht  im  entferntesten  so  bitter  habe 
geltend  machen  können,  wie  in  Rom,  Konstantinopel,  Antiochia,  Alexandria 
und  ähnlichen  Weltplätzen,  eine  allsu  allgemeine  Vermutung,  für  die  ein 
näherer  Beweb  nicht  erbracht  wird.  Dals  es  prinzipiell  verkehrt  wäre,  das 
Vorhandensein  der  Wohnungsnot  auch  in  kleineren  Städten  zu  bestreiten, 
braucht  hier  nicht  weiter  bewiesen  zu  werden,  und  wenn  man  sich  mit 
Wahrscheinlichkeitsbehauptungen  begnügen  will,  so  trifft  vielleicht  auf 
manche  mittlere  römische  Stadt  des  Altertums  das  (icgenteil  der  Liebe- 
namsclien  Annafmir  /u.  Erwähnt  der  Verfasser  doch  scll)st  ein  [*augesetz 
Zenos  für  Konstantinnpci,  iil)cr  die  bei  Neubauten  zulassige  Hauseiht)lu\ 
das  infolge  habsu(  htiger  Spekulationssvut  erlassen  sei,  sowie  weitere  l>c- 
stimmungen  über  Strafsenbreite  und  zur  Verhütung  sanitärer  Mifiistände, 
indem  er  dabei  hinzufügt,  dafs  diese  Gesetze  zweifellos  auch  fUr  manche 
mittlere  Stadt  Geltung  gewonnen  hätten.  —  Umsomehr  ist  es  zu 
bedauern,  dals  der  Verfasser  diesen  Spuren  nicht  weiter  nachgegangen 
ist  und  uns  —  zweifellos  interessante  —  Ergänzungen  zu  dem  Pöhlmann- 
sehen  Werke  vorenthalten  hat. 

Einzelne  Mängel  der  Anordnung  zeigen  sich  auch  bei  der  allerdings 
sehr  schwierit;en  Einteihmg  und  Differenzierung  der  verschiedenen  Zweige 
der  VerniögeiisverwaUung.  So  ist  es  nicht  reclit  ersichtlich,  warum  die 
Getreideverteilungen  nicht  schon  unter  den  Ausgaben  für  Wohlthätigkeits- 
pflege  figurieren.  Bedenklicher  noch  ist  die  Einreihung  von  Beiträgen 
der  Städte  zu  den  von  den  Landtagen  bewilligten  Ausgaben  in  den  Ab« 
schnitt  über  Ausgaben  fUr  Ehrenerweisungen.  Nebenbei  bemerkt  hätten 
gerade  diese  Beiträge  der  Städte  etwas  ausführlicher  dargestellt  werden 
müssen.  Derartige  systematische  Mängel  stören  etwas  die  Lektüre  des 
Buches,  dessen  Uebersichtlicfalceit  ohnehin  durch  die  sehr  zahlreichen 
Materialnachweisungen  leidet. 

Dafs  im  übrigen  überhaupt  kein  ganz  folgerichtiges  System  für  die 
Darstellung  der  städtischen  Einnahmen  und  Ausgaben,  sfiwie  der  Ver- 
mögensverwaltung, der  Hauptabschnitte  des  Werkes,  innegehalten 
werden  konnte,  ist  nicht  die  Schuld  des  Verfassers  allein.  Die  Schwie- 
rigkeiten liegen  hier  zum  Teil  an  der  Art  der  Quellen,  zum  Teil  an  den 
Thatsachen. 

So  liegt  es,  wie  der  Verfasser  ausführt,  vor  allem  an  den  geringen 
Vorarbeiten  und  dem  Umstand,  dafs  grofse  Inschriftenschätze  noch  nicht 

der  Oeffentlichkeit  erschlossen  sind,  wenn  in  diesem  Werke  keine 
s)'stenuiti8che    Darstellung    der  Munizipalver fassung,    die  ein 

überaus  notwendiges  Fundament  gewesen  wäre,  gegeben  werden  konnte. 
An  den  Thatsachen  wiedeniin  mufste  die  systematische  Darstellung  der 
Finanzen  von  Kommunen  scheitern,  bei  denen  die  Gemeindesteuern  nicht 
streng  von  den  Staatssteuern  geschieden  waren,  und  bei  denen  es  keiti 
richtiges  Budget  im  heutigen  Sinne  gab.  Die  Kommunen  selbst  ent- 
sprechen  natürlich  auch  keineswegs  dem  modernen  Bikie.  —  So  erschweren- 


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750 


$choii  zum  Teil  mehr  formelle  und  systematische  Gründe  einen  Ver- 
gleich mit  modernen  Verhältnissen.  Ueber  die  Art,  wie  derartige  Ver- 
gleiche gemacht  werden  dürfen,  hat  sich  der  Verfasser  selbst  in  der  \'or« 
rede  zu  srint m  Werke  ausgesprochen.    Dafs  gerade  in  wirtüchaftlichea 

Fragen  die  liegründunfi  durch  Analo<,ne  nur  mit  grofser  Vorsicht  gc- 
handhabt  werden  darf,  darin  wird  man  dem  Verfasser  gewifs  bei- 
stiininen.  Ks  wird  auch  wohl  niemand  gerade  in  die  Verwaltung  der 
r»)iiiis(  hi-n  Städte  viel  Modernes  iiineingeheimnissen  uDÜen.  Dafs  manche 
.Symptome,  die  mau  oft  geneigt  war,  für  modern-grofssladtische  Krank- 
hettsbilder  zu  halten,  schon  im  dten  Rom  zu  finden  sind,  batPdhlmana 
schlagend  nachgewiesen.  Dort  wie  hier  die  Brennpunkte:  Wohnungs« 
not  und  städtische  Bodenpolitik.  Und,  wie  es  ganz  selbstverständlich 
erschdnt:  im  Altertum  noch  weniger  Mittel,  noch  viel  dürftigere  Versuche 
zur  Abhilfe. 

Mit  der  Berührung  derartiger  sozialer  Ersi  heinungen  mufs  natürlich 
auch  die  Frage  gestreift  werden,  in  wie  weit  den  wenigen,  wirklii  hea 
\V  o  h  1  f  a  h  r  t  s  e  i  n  r  i  c  h  t  u  n  g  e  n  ,  die  uns  das  Bild  des  rötnis<-hen  Städie- 
lebens  zeigt,  ein  sozialer  Sinn  /u  Cirunde  gelegen  habe.  Liebenam  bekämpft 
—  im  ganzen  mit  Keciit  —  die  1  h  c  r  i  n  g  s  c  h  e  Anschauung,  dafs  die  antike 
Freigebigkeit  das  Bestreben  zeige,  das  verletzte  Gefühl  der  unteren 
Stände  mit  einem  sozialen  Unrecht  zu  versöhnen.  Ebenso  treffend  ist 
Liebenams  Hinweis  darauf,  dafs  noch  heute  im  modernen  Leben  die 
Klärung  fehlt,  wann  und  wie  weit  den  Kommunalbehörden  oder  dem 
Staate  die  moralische  und  geseulichc  Pflicht  obliegt,  in  Fragen  der 
öffentlichen  Wohlthätigkeit  einzugreifen. 

Scheinbare  W  iders]  »rüche  vermögen  nicht  das  Bild  wesentlich  an- 
ders zu  gestalten  und  den  (llaulien  an  wirklii  Ii  tiefer  gehende  .soziale 
Ideen  in  dem  damaligen  St.idteleben  /u  erwecken.  Zu  den  wenigen 
derartigen  Zügen  gehören  einmal  die  bekannten  G  e  t  r  e  i  d  e  sp e  n  d  e  n. 
Gerade  hier  fehlt  es  aber,  wie  Liebenam  ausführt,  vielfach  au  dem  nö- 
tigen Material,  um  die  Art  der  Komspenden  in  den  Provinzstädten  zu 
beurteilen.  Erwähnt  sind  freilich  derartige  Spenden  für  einzelne  Städte. 
Ebenso  sind  Nachrichten  überUefert  über  Getreidehäuser  und  Kommaga- 
zine  an  einigen  Plätzen.  „Leider  fehlt  es,**  sagt  der  Verfasser,  „um 
diese  Verbältnisse  ausreichend  würdigen  zu  kömien,  so  gut  wie  völlig 
an  zahlenmäfsigen  Angaben  über  die  einzelneu  Bevölkcrungsklassen  in 
den  St.uitcn  :  wir  können  deshalb  nicht  beurteilen,  ob  das  verbunpte  auf 
Kornspenden  .iiigewiesene  l'rnlctariat  vergleichsweise  so  zahlreicl\  war, 
wie  in  der  Hauptstadt.  Man  wird  das  im  allgemeinen  bezweifela 
dürfen." 

Weitere  soziale  Bestrebungen  hat  man  in  der  Fürsorge  für 
K  r  a  n  k  e  zu  finden  geglaubt  Es  findet  sich  mehrfach  Erwähnung  städtischer 
besoldeter  Aerzte.  Liebenam  nimmt  an,  dafs  diese  Aerzte  bedürftige 
Kranke  unentgeltlich  zu  behandeln  hatten,  eine  Vermutung,  die  vor  allem 


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Liebenam,  W.,  Studlcvcrwultung  im  rüniLsdicn  Kaiäcrreiciic. 


iur  die  spätttt  Zeit  nicht  genügend  von  ihm  belegt  erscheint.  Bedeutend 
sicherer  ist  die  Ueberliefening  über  die  Öffentlichen  Bäder,  deren 

Bedeutung  im  Altertum,  und  deren  vor/.iio]ichc  Einrichtung  genügend 
belcannt  sind.  Mit  Recht  rühmt  der  X'ertasser  die  Grofsartigkeit  dieser 
Einrichtuiiij  gegenüber  den  vielfach  dürftigen  histituteii  und  der  geringen 
Auf.vcnduiig  für  diese  Zwecke  in  vielen  modernen  Siadtcii.  liier  haben 
die  röniischcu  Stiidte  unleugl)ar  Grofses  gethan.  Fa^l  durchweg  finden 
sich  grofsc  Ausgaben  für  Frrichtuiig  von  Bädern,  bauliche  Erhaltung 
der  Anstalten,  Heizung  und  Lieferuri!^  dc>  Üelbedarfs.  Eine  liestimmimg 
im  Codex  des  Jtistinian  weist  darauf  hin,  dafs  der  dritte  Teil  der  kommu* 
nalen  Einkünfte  zur  Reparatur  der  Stadtmauer  und  zur  Heizung  der 
Thermen  zu  v^wenden  sei.  Eine  Erleichterung  wurde  hier  den  Stadt- 
kassen einmal  dadurch  zu  teil,  dafs  die  Heizung  den  Bürgern  als  ma- 
nu s  personale  auferlegt  werden  konnte.  Ferner  griffen  hier  gerade 
vielfach  freiwillige  Spenden  von  Htirgern  ein ,  die  auf  die  ver- 
schiedenste Art  ihre  Fürsorge  an  diesen  Anstalteti  bethatigten: 
diirrh  Gewährung  von  Freibädern,  Lebernahnie  der  Waiiserzufuhr,  üel- 
spendt  n  u.  a. 

Ein  gründlicher  Wandel  m  der  Wo hlthätigkeits pflege  hat 
sich,  wie  der  Verfasser  ausführt,  erst  unter  dem  Emfiufs  der  christlichen 
Religion  vollzogen.  Gemeinde  und  Kirche  treten  für  derartige  Bestre- 
bungen ein.  Die  christlichen  Kaiser  proklamieren  sie  als  R^gentenpflicht 
Unter  ihnen  entstehen  Waisenhäuser,  Findelhäus»,  Spitäler  für  Greise, 
Krankenhäuser  u.  a.  Liebenam  deutet  diese  Entwicklimg  nur  an,  ohne  sie 
weiter  zu  verfolgen.  Dagegen  hat  er  einem  höchst  interessanten  Institute 
mehr  Beachtung  gesüiienkt,  tlas  freilich  niclit  eigentlich  städtisi  h  war,  sondern 
auf  kaiserlichen  Stiftungen  benihfc,  de  n  A  1  i  in  t- n  t  a  r  i  n  s  t  i  t  u  t  i  o  n  c  n  , 
tleren  Begründung  im  wesentlichen  vif  Trajan  zurück  zu  fuhren  ist.  Fiebe- 
n.un  verneint  die  Vernuuung,  dafs  uic  iiahschen  Gemeinden  zur  Teil- 
nahme an  diesen  Stiftungen  herangezogen  wurden,  hebt  aber  die  Be- 
teiligung städtischer  Beamten  an  ihrer  Verwaltung  hervor.  Die  Ali- 
.mentarinstituttonen,  aus  kaiserlichen  Fonds  und  Schenkungen  bestritten, 
dienen  zur  Erziehung  von  Kindern  bedürftiger  Eltern  oder  von  Waisen. 
Gewöhnlich  sind  diese  Stiftungen  in  der  Weise  sicher  gestellt,  dafs  das 
Kapital  auf  den  Gnmdbesitz  gegen  roäfsige  Zinsen  hypothekarisch  ein- 
.getragen  wird.  Aus  den  bei  Liebenam  erwähnten  Beispielen  sei  die 
Stiftung  von  Veleia  her\ orgchoben,  wo  im  ganzen  281  Kinder  mit  den 
Zinsen  von  1044000  ScNtcrtien  bedacht  sind.  Mehrfach  findet  das 
kaiserliche  ^>el■^piel  Nachahmung  durch  l'rivatc.  So  giebt  ein  kaiser- 
liciicr  Prokuralor  in  .Sicca  V  eneria  i  ^00000  S.  zu  diesem  Zwecke.  — • 
Die  Altersgrenze,  bis  zu  der  Erziehungsspenden  gewährt  werden,  wechselt 
Die  höchste  Grenze  ist  bei  Knaben  18,  bei  Mädchen  14  Jahre. 

"Eine  Betrachtung  der  weni|ren  Zöge  sozialer«  FUrtorge  luhit  zur  Er- 
örterung zweier  schon  erwähnter  wichtiger  Faktoren  des  Gemeindelebeos: 


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753S 


Litlcrutur. 


dex  munera  und  des  privaten  Eingreifens  der  Bürger.  Eine  Unter- 
suchung äber  diese  Faktoren  findet  dann  die  Grenzen  der  wirklich  so- 
zialen Thätigkeit  heraus,  sie  scheidet  vielerlei  aus,  und  fuhrt  oft  die  frei« 
willige  Th  rit  ijjkeit  auf  ein  recht  bescheidenes  Mafs  zurück,  Liebe» 
nam  hat  die  beiden  erwähnten  Erscheinungen  treffend  hervorgelioben 
und  geschildert, 

Crerade  das  System  der  munera,  der  freiwillifjen  oder  geMetzliciieii 
,\utlagen  hat  in  der  Kaiserzeit  von  Staats-  und  Gemeindewegen  eine 
sehr  grolse  Ausbildung  erlaliren  und  immer  wachsende  Anforde- 
rungen an  die  persönliche  und  pekuniäre  Letstungsfiihigkeit  der  Bürger 
gestdlt 

Das  System  ermöglichte  die  Verwaltung  des  kommunalen  Haushalts 
mit  relativ  geringen  Mitteln,  wobei  freilich  der  Wohlstand  der  bessersituter- 
ten  Kreise  ruiniert  wurde.  Von  einer  genauen  gesot/li(  hen  Ordnung  und 
Fixierung  der  munera  ist  nicht  die  Rede,  obschon  die  Heranziehunjr  zu 
den  munera  liberhaupt  nicht  willkürlich,  sondern  nach  Statut  erfolrrt. 
Ein  Privilegiensystem  gewahrt  einer  Reihe  von  Personen  Hefreiun^en, 
die  aber  zur  Zeit  der  Not  von  den  Kaisern  aufgehoben  werden  können. 
Vielfach  wurden  Versuche  gemacht,  sich  durch  VerraögensübertraLTun^ 
oder  Auswanderung  den  immer  drückenderen  Lasten  zu  entziehen. 
Versuche»  die  dann  wieder  erneute  Strenge  gegen  die  Säumigen  zei- 
tigten. — 

Das  Gesamtbild,  das  uns Liebenam  über  alle  die  Anforderungen 
von  Staat  und  Gemeinde  an  die  Unterthanen  entrollt,  ist  ein  recht  trau- 
riges.   Die  ursprünglich  antike  Anschauung,  dafs  der  Mensch  nur  des 

Staates  wegen  lebt  imd  schafft,  ist,  wie  der  Verfasser  sehr  rirhtis: 
ausführt,  im  römischen  Kaiserreiche  auf  <lie  Spitze  gelrieben  worden; 
das  Biir;4ertum  erlahmte  im  harten  Kauipte  und  wurde  aufgerieben. 

In\\ieucit  an  diesem  Niedergange  ein  Steuerdruck  Mitur>a<  iie 
war,  entzieht  sich  unserer  Betrachtung.  \'on  den  Steuern,  sowie  von 
den  sonstigen  Einnahmequellen  der  Gememden  ist  die  Ueberlieferun^ 
sehr  ungleichmälsig.  Sie  lälst  uns  oft  bei  wichtigen  Einkunftsaiten  im  Stieb» 
um  über  verhältnismälsig  unbedeutende  eingehend  zu  berichten.  Ueberdies 
ist»  wie  erwähnt,  keine  deutliche  At^^renzung  zwischen  Reichs-  und  Ge- 
meindesteuern zu  erkennen.  Liebenam  hält  Steuern  und  Zölle  für  in 
der  Kaiserzeit  nur  sehr  bescheidene  Finnahmequellen  der  Gemeinden. 
Mehr  und  mehr  nimmt  der  Staat  die  ertragsfahigsten  Steuerobjekte  zum 
eigenen  Nutzen  in  Beschlag.  So  kommt  es  auch  zu  keiner  reichägesetz- 
lichen  Regelung  des  Kommunalsteuerwesens. 

Von  direkten  Komraunalsteuern  sind  nach  Liebenam  sichere  Spuren 
überhaupt  nicht  zu  finden,  während  die  indirekten  vielfach  an  den  Staat 
übergegangen  sind.  Die  Zölle  waren  früher  eine  bedeutende  Einnahme- 
quelle der  Gemeinden.  Hie  und  da  ist  noch  in  der  Kaiseneit  eine 
Vermehrung  dieser  Einnahmequellen  zu  Gunsten  der  Kommunen  zu  kon> 


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Lieb« n am,  W.,  Städteverwaltuag  im  römischen  Kaiserreiche. 


>tatieren.  Es  entscheidet  bei  der  Gewährung  politische  Kiicksicht  oder 
kaiserliche  Gunstbezeugung. 

Quelleninäfsig  sind  vor  allem  Durchfuhrzölle  und  Hafen- 
zölle nachweisbar.  .Vusfuhrliche  Darstellung  findet  bei  Liebenara  der 
Zolharif  von  P  a  1  ra  y  r  a ,  das  sich  die  Hebung  von  Landzoll  und  die 
freie  Verfügung  darüber  trotz  Unterordnung  unter  Rom  gewahrt  hatte.  — 
Unsere  Vorstellung  des  städtischen  Finanzwesens  mati  naturgetnäfs  auch 
nach  der  tiberaus  sorgfältigen  Darstellung  der  einzelnen  Zweige,  wie  sie 
Liebenam  gtebt,  lückenhaft  bleiben.  Der  Verfasser  liefert  ein  kurzes 
Resume:  Es  fehlt  eine  zifienunäfsiges  Bild  des  Etats  der  Stadt- 
gemeinde. Wir  finden  nur  eine  generelle  Bezeichnung  der  Ausgaben 
und  Einnahmen  ohne  Bestimmung  des  Verhältnisses  beider  zu  einander. 
Ks  fehh  hier/.u  an  einem  Material,  wie  es  beispielsweise  Ikickh  in 
seinem  Werke  ulier  die  Stantshaushaltung  der  Athener  geboten  war. 
Im  aligemeinen  halt  Lieljcnani  die  Ausgaben  der  römischen  Städte 
für  geringer,  als  die  der  modernen.  Es  fehlen  eine  Reihe  Ausgabe* 
posten,  wie  Aufwendungen  für  Schule,  Wohlthätigkeit,  Polizei.  Nur  den 
niederen  Beamten  werden  Besoldungen  gewahrt.  Auf  der  anderen 
Seite  sind  auch  die  Einkünfte  geringer,  vor  allem  das  Einkommen  an 
Steuern. 

Einen  teilweisen  Ersatz  gewähren  dafür  die  munera  und  die  eben- 
falls  schon  erwähnte  private  Opferwilligkeit  der  Bürger,  die  «ch  in  zahl- 
reichen Stiftungen  bethat  lut. 

F>s  liefse  sich  auf  das  Liebenams(  he  /-iemlich  allgemein  gehaltene 
Kesume  allerlei  erwidern,  so  z.  B.,  dafs  doch  auch  in  dem  Budget  moderner 
Städte  eine  Reihe  der  Ausgabeposten  der  römischen  Städte  natürlich 
nicht  figurieren.  Aber  es  fehlt  zu  einer  fnu  hthaien  Diskussion  ebenso, 
wie  zu  einer  völlig  entsprechenden  \'ergleichuug  der  beiderseitigen  Fi- 
nanzen zu  sehr  an  dem  nötigen  Material. 

Nicht  allein  im  Finanzwesen  der  Städte  macht  sich  ein  immer 
weitergehender  Einflufs  des  Staates  geltend.  Dieser  greift  aUnlhlich 
in  die  ganze  Verwaltung  der  Städte  ein.  Auf  eme  Zeit  des  allzu  grofisen 
Uebergewichtes  Roms  war  eine  Periode  der  Selbstverwaltung  der  Städte 
gefolgt.  Die  Souveränität  der  Städte  wird  indessen  mit  der  Zeit  durch- 
kichert« Mit  dem  Schwinden  -der  Selbständigkeit  beginnt  noch  keines- 
wegs, wie  Liel)eiiam  ausführt,  der  Niedergang  der  Städte.  Schüdert 
doch  der  Verfasser  das  erste  Jahriuinderi  nach  Christus,  eine  Zeit,  in  der 
Senat  und  Kaisei  m  lion  dem  Selbstliestiinnmngsrecht  der  Gemeinden  gegen- 
über, eine  weitgehende  .Macht  ausübten,  als  eine  Blütezeit  des  Stadtewcscns, 
als  eine  Periode,  in  der  ein  frisches  Bürgertum  sich  Bahn  brechen  konnte. 
Diese  Thatsache  erscheint  ebenso  auffallend,  wie  die  Erscheinung,  daß 
noch  in  einer  Zeit  der  Ruhe  und  des  Friedens,  da,  wie  Liebenam  sagt, 
„eine  Fülle  von  günstigen  wirtschaftlichen  Bedingungen  gedeihlichen 

Archiv  für  •<».  GcMtsgebuag  v.  Statiitik.  XV.  49 


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754 


Litteratur. 


Fortschritt  zu  verbürgen  schien",  an  verschiedenen  Stellen  die  Symptome 
des  Niedergangs  der  Städte  zu  Tage  traten.  Dies  äufsert  sich  nach 
Liebenam  zunächst  in  der  sich  immer  schärfer  zeigenden  Abneigung, 
Beamter  oder  Ratsherr  zu  werden. 

Schon  von  jeher  unterhcaen  die  P.eaiiiten  einer]  sehr  weitgelien- 
deii  analoji  der  Haftung  des  Vorniuiules  aussei »ildi-ten  Verantuorllichkeit. 
Wie  allmähHch  mit  dem  wachsenden  P'-intUHs  des  Staates  auf' die  städtische 
Organisation  die  Beamten-  und  Ratsherrnstellcn  mehr  und  nieiir  \ün  den 
Trägern  als  drückende  Last  empfunden  wurden,  haben  viele  Schrift- 
steller geschildert  Guizot  spricht  von  Gesetzen,  „die  aus  der  Kurie 
ein  Gefängnis  machen,  in  dem  die  Dekurionen  und  ihre  Nachfolger  ein- 
gekerkert sind". 

Die  Wahrnehmung  der  städtischen  GeschäAe  ist  in  der  erwähnten  Epoche 
ausschliefslich  an  den  (icmeinderat  übergegantjeii,  der  bald  genug 
zum  willenlosen  Werkzeug  des  Staates  wird.  „I)ie  sta.itliclie  Omnipotenz,'* 
sagt  T.iebenam,  ..(ibcrwuc  hert  /um  schweren  S(  luulen  des  gemeinen  Wohls 
die  Inirgciht  lie  l-  reiheit ,  lahmt  mit  bleierner  Last  die  einst  vielver- 
sprechende Kntwicklung  und  erstickt  am  Ende  in  despotischer  Willkür 
jede  Regung  unabhängigen  Selbstbewufslseins."  —  Die  politische  Ent- 
mündigung der  Städte,  wie  Liebenam  es  nennt,  wird  dann  noch  vollen- 
det durch  die  Einsetzung  kaiserlicher  KontroUbeamten,  die  vor 
allem  das  städtische  Finanzwesen  tiberwachen.  —  Der  Rat  ist  dem 
Staate  unentbehrlich  geworden.  Das  begreift  sich  leicht  aus  der  Stellung 
der  Kurialen,  die  für  die  pünktliche  Zahlung  der  Steuern  haftbar  gemacht 
werden,  Fehlbeträge  aus  ihrem  eigenen  Vermögen  ersetzen  müssen  und 
sogar  die  .\bg.iben  von  verlnssenem,  unliebautem  Grundbesitz  zu  tragen 
haben.  Der  Staat  versieht  den  Kerker  der  Kurialen  mit  lesten  Schlös- 
sern und  Rieuchi.  Die  Hefreiungen  von  der  Kurie  werden  mehr  und 
mehr  beschrankt  und  autgchoben.  Die  letzten  Auswege  werden  versperrt 
durch  das  Verbot,  in  den  begünstigten  Staml '  der  Kleriker  einzutreten 
und  durch  Mafsregeln,  die  den  Kurialen  eine  Veränderung  ihres  liVohn- 
sitzes  unmöglich  machen.  Wie  dann  die  Kirche  die  Zersetzung  des  Bürgertums 
vollendet,  haben  aufser  Liebenam  noch  manche  andere  Autoren  geschildert. 
Nichts  thut  treffender  den  völligen  Niedergang  des  Gemeindelebens  und 
der  Selbstverwaltung  dar,  als  die  Uorte  Guizots:  „Ou  les  Ubertt^s  ne 
sont  pas  des  droits,  et  ou  les  droits  ne'  sont  pas  des  pouvoirs,  il  n'y 
a  ni  droits  ni  libertt^s." 

Mit  der  Schilderung  dieses  Niederganges  mufs  der  Verfasser  not- 
wendig die  Frage  berühren,  die  den  Schluissicin  seines  Werkes  bildet, 
die  Frage  nach  den  Ursachen  des  Unterganges  der  antiken  Welt. 
Der  Verfiuser  nimmt  hier  den  verschiedenen  Meinungen  gegenüber  einen 
reservierten  Standpunkt  ein.  Er  verwirft  dabei  die  bekannte  Geschichts- 
betrachtung, die  in  dem  Luxus  und  der  Sittenlosigkeit  der  oberen  Kiassen 
und  des  Hofe  die  Hauptursache  des  staatlichen  Zusammenbruchs  sieht. 


Illeben  am,  W.,  StHcltcvcrwultung  im  römischen  Kaiscrrciclic. 

eine  Anschauungsweise,  die  wohl  schon  län|^  als  obeiflächlich  gekenn* 
zeichnet  ist.  Auf  der  anderen  Seite  tritt  der  Verfasser  der  materialisti* 
sehen  Geschichtsbetrachtung  entfregen  und  i^Nricht  dabei  unter  andoem 

auch  von  den  „vagen  Ki  L:t  !)iiisseii  moderner  Soiiologie",  die  bei  dieser 
Geschichtsauffassung  als  vollwertige  r.ewcise  vorgebracht  werdei!  Deui 
gegenüber  sei  bemerkt,  dafs  bei  den  von  Liebenam  vorgebrachten  (iründen, 
soweit  sie  das  Kt">ultat  seiner  in  diesem  W  erke  niedergelegten  Forschungen 
sind,  immerliin  fiiii<4e  >o/in]e  Gründe  etwas  zu  wenig  liervortroten. 

Dafs  Liebenam  den  S  t  e  u  e  r  d  r  u  c  k  nicht  als  eine  bestimmte  l  r- 
sachc  des  Niederganges  betrat. iitet,  kann  nach  seinen  1  )arlegimgen,  nach 
dem  Hinweis  auf  mangelnde  ziflcinmalsige  Grundlagen,  nur  als  richtig  an- 
gesehen werden.  Ebenso  wird  man  seiner  —  von  anderen  Darstellungen 
nicht  wesentlich  abweichenden  Schilderung  der  agrarischen  Verhält- 
nisse und  des  Einflusses  derselben  auf  die  wirtschaftliche  Lage  des  Staates 
beistimmen  können.  Bei  dem  Ausblick  auf  das  Bfirgertum  dagegen 
genflgt  wohl  kaum  der  Hinweis  auf  des  Verfassers  früher  gcäufserte  Be« 
merkung,  dafs  es  an  ausreichenden  \'orkehrungen  fehlte,  die  soziale  Not 
in  weiten  Kreisen  zn  iimiei  n.  Denn  dort ,  wie  hier,  sind  die  Ausfüh- 
rungen des  \'erfassers  /u  s|Ȋrlii  li  in  Anbetracht  der  gewichtigen  Fragen. 
Es  .sei  hier  vor  allem  no(  hmals  auf  die  \\'ohnuiig>lrage  hmgewicsen,  in 
der  die  alten  Städte  /.weifellos  vielfach  Analogien  nnt  den  modernen 
bieten.  Sehr  zu  bedauern  ist  es,  dafs  der  \  erfasser  den  Anregungen 
Pöhlmanns:  „Es  wäre  eine  schöne  Aufgabe,  die  Erwirkung  der  grofs* 
städtischen  Wohnungsnot  auf  die  ethischen,  sozialen,  ökonomischen  Zu- 
stände der  Bevölkerung  näher  zu  verfolgen,"  nicht  genügende  Beachtung 
schenken  konnte.  Für  den  modernen  Nationalökonomen  ist  es  eine  un- 
erUUsliche  Forderung,  bei  Schilderung  einer  städtischen  Verwaltung  Bo- 
den- und  Wohnungsverhältnisse  eingehend  zu  erörtern. 

Trotz  die-;en  und  anileren  erwähnten  Mängeln  verdient  das  Liebe- 
nnmsche  Werk  ein  hohes  Lob.  .-Vus  einem  Chaos  von  Trümmern  mit 
sicherer  Hand  die  einzelnen  Teile  hervorgeholt,  sie  mit  einem  geistigen 
l-Jande  verknüi>ft  zu  haben,  dafür  gebührt  dem  Verfasser  ebenso  grofse 
.Anerkennung,  wie  für  die  Art  der  Darstellung,  die  fast  stets  auch 
trockenen  Stoti  zu  beleben  vermag  und  sich  an  manchen  Stellen  zu 
grofsem  Schwünge  erhebt. 

Das  Liebenam.sche  W  erk  wird  das  Fundament  sein,  auf  dem  weiter 
gebaut  werden  muls.  Wie  dies  zu  geschehen  hat,  darüber  kann  uns 
seine  Vorrede  Aufschlufs  geben.  Es  ist  hier  auch  auf  den  Beginn  mono- 
graphischer Darstellungen  der  Gemeindeentwicklung  in  den  einzelnen 
Landschaften  und  wichtigeren  Städten  hingewiesen.  Gerade  diese  Art 
der  Darstellung  wird  vielleicht  am  ersten  über  die  interessante  Frage 
der  1  ortbildung  und  .Ausgestaltung  der  römischen  MunizipaKerwaltung 
in  späterer  Zeit  Aufschlufs  geben  können.    So  können  auf  dem  noch 

49* 


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756 


Littcratur. 


wenig  bearbeiteten  Gebiete  bistorisch-kommunalpolitischer  Forschung  neue 

Wege  erschlossen  werden.    Mögen  darum  die  reichen  Anregungen,  difr 
das  Liebennins(  he  Werk  gewährt,  auf  fruchtbaren  Boden  fallen. 
München. 

KOBEK  l  HALLÜAR  TEN. 


LittSf  Ifermann^  Das  erste  Jahr  des  dattsehm  Ixmdersiehungs heims- 
kei  Usenburg  im  Han.   Ferd.  Dümmlers  Verlag,  Berlin  1S99. 

—  — ,  Das  zweite  Jahr  des  u.s.w.    Ebenso,  Berlin  1900. 

«Si,  en  arrivant  ...  on  est  fraiipe  du  beau  spectacle  qu'ofiie  le 
Systeme  de  res  nombreux  ctablis^ements,  crees  par  un  seul  panicuber . . . 
et  si  Ton  cprouvc  un<*  doiu  e  satisfaction  en  ronsiderant  le  tnhleau 
d'ordre,  d'artiviti-,  d'harmonie  ^ui  s'v  deploie  de  toutes  parts,  on  est  in- 
trodiiit  bientüt  aux  plus  hautes  meditations,  lorsiju'on  penctre  ii  saisit 
]a  pensce  (jui  a  dirigc  cette  grande  creation.  Ceite  pensce  en  effet  est 
puisie  tout  enti&re  dans  uns  ordre  de  consid^ratioos  gtfn^es  sur  IVtat 
pr^nt  de  la  soci^t^  en  Europe  et  sur  ses  besoins  Ics  plus  easentiels.. 
II  ne  Taut  donc  pas  se  boroer  ä  chercher  ...  un  Etablissement  local, 
un  Institut  ordinaire  d'^ducation,  une  ferme  expdrimentale:  il  faut  y  voir 
l*essai  d'une  gremae  amHioration  europienne^  un  exemple  tent^  et  dcmne- 
pour  prdi>arer  une  regcneration  morale  dans  notre  age.  So  urteilte  im 
Jahre  1830  ein  französisrher  PhiU)soph  (de  Gerando)  über  Hofwyl, 
die  Schöpfung  Feilenbt'rg>,  deren  staatspadairogische  Bedeutung  um  jene 
Zeit  ,,von  einer  bedeutenden  Anzahl  der  aii^gc/eichnetsten  Fürsten.  Staats- 
männer und  Staatsgelehrlen  anerkannl"  wurde.  ')  In  der  Thal  giebt  es 
viele  Zeugnisse  von  dem  ungemeinen  Aufsehen  und  Interesse,  das  jene 
Anstalten  erregt  haben,  von  den  grofsen  Hoffnungen,  die  sich  daraa 
knüpften.  Die  Idee  der  „S  o  s  i  a  1  p  ä  d  a  g  o  g  i  k",  die  erst  jüngst  erneuert 
wurde,  war  in  der  That  ein  Erbteil  des  ,,philosophischen  Jahrhunderts'V 
das  im  19.  Jahrhundert  eine  Weile  noch  mit  Zärtlichkeit  gehegt  und 
gepflegt  wurde,  um  dann  freilich  mit  so  vielen  „Schvvärratrcien"  jefie& 
Zeitalters  in  \'ergessenheit  unterzugehen.  Wird  auch  ihr  ein  neuer 
Morgen  mit  dem  Morgenrot  des  Jahrhunderts  dämmern  ?  —  Die  N'ainea 
Fellenberg  und  Pestalozzi  wurden  zu  jener  Zeit  oft  zusammengestellt; 
man  meinte,  die  beiden  zusammen  halten  unermerslirhe  Wirkungen  er- 
zielen müssen ;  man  sagte  wohl,  Pestalozzi  sei  der  Maim  des  Gemütes, 
Fellenberg  der  des  Verstandes  gewesen;  richtiger  dürfte  es  sein,  jenen 

1)  K.  H.  Schcidlcr  im  Staats.Lrxikon  (Rotteck  und  Wdcker)  1.  Aufl. 

S,  61. 


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Lictz,  Hermann,  Has  erste  Jalir  des  deutschen  I^nder/icliungslicims  etc.  757 

als  den  Denker,  ^esen  als  den  Künstler  der  Erziehung  lu  bezeichnen. 
FesUlocsis  Geist  wird  in  der  Soeialpttdagogik  wieder  lebendig:  Pestalozzi 

fiir  immer !  hören  wir  die  Lehrer  unser  Volksschule  rufen.  Vielleicht  ist 
auch  das  Andenken  Fellenbergs  nicht  für  immer  verloren  gewesen.  Wir 
wissen  nicht,  oh  zwischen  A  bb  o  t  s  h  o  1  in  e  ,  das  unserem  ..Deutschen 
I.anderzieiiungshcira  bei  Ilsenbur^^  am  Harz."  \'orl)ild  ^^owesen  ist,  und 
Hofwyl  irgend  ein  genetischer  /usammenhanj^,  wenn  auch  weit  veiinittelt, 
besteht;  eine  Verwandtschaft  der  in  diesen  AnstaUen  lebendigen 
Ideen  mit  Fellenbergs  grofscn  Plänen,  mit  der  edlen  Gesinnung,  der 
genialen  Energie,  die  ihnen  flir  mehr  als  ein  Mensdienalter  Gestalt  Ter- 
lieh,  ist  nicht  zu  verkennen. 

Freilich  haben  wir  hier  nur  hoffnungsvolle  Anfänge  vor  uns.  Was 
aber  ttber  die  Stiftung  des  Dr.  Hermann  Lietz  mitgeteilt  wird,  ist  wohl 
geeignet,  die  wärmste  Teilnahme  zu  erwecken.  In  kurzer  Zeit  ist  ein 
höchst  achtungswertes  Werk  geschaffen  worden.  Der  kühne  Gedanke, 
auf  der  Basis  eines  gemeinschaftlichen  Lebens  von  Lehrern  und 
S*  hulern  den  fjanzen  Unterricht  zu  gestalten,  in  einem  kleinen  r,cniein- 
wesen  produktive  Arbeit  und  möglichst  vielseitige  Ausbildung  des  Ver- 
standes organisch  zu  verbinden,  Emst  und  Spiel  in  freudigem  Wirken  zu 
vereinigen,  alles  scheint  sich  bisher  trefflich  bewährt  zu  haben.  Die  Er- 
ziehung soll  hier  ganz  und  gar  sein,  was  sie  ihrer  reinen  Idee  nach  ist: 
ethische  Erziehung  oder,  wie  Natorp  sagt,  Erziehung  des  Willens»  und 
wie  es  in  dem  ersten  Berichte  (S.  19)  selber  heisst,  „Erziehung  zum 
Idealismus,  zur  Liebe I"  —  Auf  die  schönen  und  dabei  schlichten  Worte, 
in  denen  dies  ausgeDihrt  wird,  sei  hier  als  auf  das  Programm  des  Er- 
ziehungsheims hinfrewiesen ;  wir  tinden  uns  eben  da  an  Fellenbergs  oft 
wiederholten,  in  Kousseaus  Sinne  ^a'haltenen  .\us.spruch  erinnert,  dafs  es 
gelte ,  „dem  Civilisationsvcrderben  ent^a  gen/uwirken".  —  Die  Hefte 
werden  auch  sonst  jedem,  der  sie  durchblättert,  Freude  machen.  Was 
über  die  Debattierabendc,  über  die  gemeinsamen  Lekttiren,  die  Reisen 
berichtet  wird,  dürfte  manchem  den  Wunsch  auf  die  Lippen  bringen: 
„hjtttest  du  es  auch  als  Junge  so  gut  gehabt".  Möge,  was  hier  unter 
schwierigen  Umständen  erwachsen  ist,  was  fortwährend  mit  Hemmungen 
wird  kämpfen  müssen,  trotz  allem  auch  femer  gedeihen  und  zur  Xach- 
eifening  anregen !  Mögen  auch  Politiker  und  Gesetzgeber  der  Erkenntnis, 
die  hier  offenbar  wird,  sich  nicht  verschlieisen! 

Altona. 

FERDINAND  TONNIES. 


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758 


l.ittL'ratur. 


KarptUSf  Benno y  Dr.  Die  mglisehen  Fabrikgesetu,  In  deutscher 
Ucbersetzung  herausgegeben.  Berlin,  1900,  Verlag  von 
Emil  Felben   482  S.  8« 

In  grofserer  Vollständigkeit  nls  selbst  die  korresjiondierenden  entf- 
lisclieii  \\'eike  l)ietet  diocs  Huci»  eine  /usaiimu-nstcUun};  der  Gesetze 
und  \'erordiiungcn ,  weiche  in  ihrer  Cicsanitlicit  und  goj^enseitigen  F.r- 
gan/UDg  den  vorbeugenden  Schutz  darstellen,  der  den  englischen  ^\r- 
beitem  im  Banfe  von  Staats  wegen  zu  teil  wird.  Oder,  wie  es  der 
Verfasser  im  Vorwort  bezeichnet,  „in  der  Hauptsache  jene  Gesetze,  zu 
deren  Durchführung  die  Fabrik-  oder  die  Bergwerksinspektoren  berufen 
and*'.  Durch  Nachträge  ist  die  Sammlung  bis  in  die  zweite  Hälfte  des 
Jahres  1899  hinein  ergänzt,  so  dafs  das  Buch  auch  darin  über  die  vor- 
handenen englischen  Ausgaben  hinausgeht.  Kommentlerende  Zusätze 
und  Noten  geben  über  Abändeniniren  und  Ergänzungen  der  verschiedenen 
(ic^et/e  durch  spätere  (lesetzc^hcstimmungen,  Wrordnungen  und  Gesetze 
allucuieineren  Charakters  Auskunft.  Hin  ausführliches  Register  ermög- 
liciit  eine  schnelle  Orientierung  ülier  alle  von  den  vorgefahrten  Ciesetzen, 
Gesetzesabteilungen  und  Vcrordnuugen  behandelten  Einzelheiten. 

Entspricht  so  die  Ausgabe  in  hohem  Grade  allen  Ansprüchen,  die 
man  inbezug  auf  die  Sammlung  und  Anordnung  des  Stoffes  an  sie  zu 
stellen  berechtigt  ist,  so  ist  über  das  Verdienst  ihrer  Veranstaltung  selbst 
gar  kein  Wort  zu  verlieren.  Der  Verfasser  giebt  in  ihr  ein  Hand- 
buch, das  allen  erwünscht  kommen  wird,  welche  sich  ernsthaft  mit  den 
Fragen  des  Arbeiterschutzes  ])eschaftigcn :  dem  der  dewerljehygienc  zu- 
gewandten Arzt  wie  dem  ( lewerksi  h:ift>!uhrer,  dem  'l'heoretiker  der  So- 
zialpolitik wie  dem  ( lesct/geber.  ist  Kngland  auch  nicht  mehr  in  allen 
ruiiklen  des  .Arlieiterschutzes  führendes  Land,  so  ist  es  doch  auf  sehr 
wichtigen  Gebieten  desselben  den  meisten  Ländern  noch  weit  voraus. 
So  u.  a.  was  die  Organisation  der  Gewerbeinspektion  anbetrifft,  und  so 
auch  in  vieler  Hinsicht  durch  die  Genauigkeit  seiner  Schutzvorschriften. 
Indem  der  Herausgeber  sie  in  dieser  schönen  Vollständigkeit  und  Ueber> 
sichtlichkeit  dem  deutschen  Leser  zugängig  macht,  hat  er  sich  Anspruch 
auf  grofsen  Dank  erworben. 

Was  die  Uebersetzung  der  oft  imgemein  schwerfällig  formulierten 
eiiL'li*' lien  Gesetze  anbetriflt,  so  ist  sie  im  allgemeinen  nur  zu  loben, 
weiumleich  sie  nicht  überall  gleich  frei  von  anglicistischen  \N*endungen 
ist.  Auch  manche  Ausdrücke  hätten  wir  etwas  andi-is  gewählt.  So  er- 
schenit  uns  z.  IJ.  der  Ausdruck  ,,Mielsfabriken"  iur  „  Teneincnt  factories" 
nicht  angemessen,  weil  es  sidi  bei  den  tenements  um  g^nz  bestimmte 
Arten  von  Mietsräumen  handelt,  nicht  um  fUr  Fabrikszwecke  gemietete 
Lokale  schlechtweg.  Das  „tenemenf*  ist  ein  kleinerer  Hausabteil,  tmd 
daher  wäre  „Fabriken  in  Hausabteilen"  vielleicht  zutreffender  gewesen. 


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Karpelcs,  Kenno,  Die  englischen  FabrilcßeM-tze. 


759 


Aehnlich  inbesug  auf  andere  Verdeutschungen.  Aber  das  sind  dem 
Ganzen  gegenüber  Kleinigkeiten,  die  nicht  ins  Gewicht  fallen,  zumal  der 

Sinn  der  Ausdrücke  meist  aus  dem  Zusammenhange  klar  hervorsteht  und 
der  Verfasser  da,  wo  die  deiitsrhc  Sprache  kein  den  Sinn  des  Eng- 
lischen völHg  treffendes  Wort  hat,  t^ewoliiilich  das  letztere  in  Klammem 
beigiebt.  Wer  da  weifs,  wcU  he  Schwierigkeiten  der  L'el)ersct/cr  /u 
überwinden  hatte,  kann  ihn  /.u  der  erfolgreichen  Bewältigung  derselben 
nur  beglückwünschen. 

Der  Verfasser  schickt  der  Sammlung  eine  Einlcittm^  voraus,  die 
einen  Abrißt  der  Geschichte,  bezw.  des  Entwicklungsganges  der  eng- 
lischen Fabrikgesetzgebung  darbietet.  Sie  ist,  soweit  sie  die  Prinzipien 
dieser  Gesetzgebung  und  die  auf  den  verschiedenen  Entwicklungsstufen 
ihr  zu  Grunde  liegenden  sozialpolitischen  Auffassungen  he- 
leuchtet,  ganz  vortrefflicli.  Die  Analyse  verrät  da  überall  den  scharf- 
sinnigen Sachkenner  und  bildet  eine  höchst  instruktive  Einführung  in 
den  (leist  ilor  englischen  labrikgcNCtze. 

Als  weniger  gelungen  müssen  wir  dagegen  diejenige  Seite  des  Ab- 
risses bezeichnen,  die  si(  h  mit  der  Ciiarakieristik  der  subjektiven  Motive 
der  Geset/geber  und  der  auf  sie  einwirkenden  Elemente  befafst.  Hier 
folgt  der  Verfasser  hinsichtlich  der  ersten  Phasen  der  Fabrikgesetz- 
gebung im  wesentlichen  Marx,  der  aber  gerade  mit  bezug  auf  den  vor- 
bezeichneten Punkt  Personen  wie  Parteien  nicht  immer  richtig  beurteilt, 
sie  viel  zu  sehr  im  Uchte  des  abgeleiteten  Begriffes  bestimmter  Klassen 
geschildert  hat. 

So  ist  es  z.  I?.  unrichtig,  die  Tories  und  die  Radikalen  des  zweiten 
Drittels  de-,  J.ihrliuiKlerts  in  der  Weise  als  Freunde,  bezw.  Feinde  der 
Fabrikgeset/i^ebung  gegenüheiziistellen,  wie  es  der  \'erfasser  auf  S.  XXI 
thut.  I  ielden,  der  unermiullic  he  Anwalt  des  Arhtstunden^t'setzes.  den 
er  unter  den  Toiies  aufführt,  die  die  „Vater  der  englischen  Fabrik- 
gesetzgebung" seien,  war  ein  entschiedener  Radikaler,  Oastier  und  Sadler, 
ja,  selbst  Lord  Shaftesbury  waren  „wilde"  Tories,  die  im  eigenen  Lager 
auf  mehr  Widerstand  stiefsen  als  bei  dem  linken  Flügel  der  Radikalen. 
Die  ZehnstundenbiU  Fieldens  wurde  (1847)  ^^^^  einem  Ministerium 
liberaler  W  higs  (John  Rüssel,  Palmerston.  Hobhouse,  Karl  Gre\ )  Gesetz, 
und  eine  der  berühmtesten  Tarlamcntsredcn  zu  ihren  Gunsten  hielt  der 
jenem  Ministerium  angehörende  „Whig"  Macaulay.  Allerdings  waren 
Cobden  und  Hrigiu  ( iegner  der  Rill ,  aber  sie  gehörten  darum  noch 
nicht  generell  zu  den  „erbittertsten"  Feinden  der  Fabrikgesetzgebung. 
Bright  hat  seinen  Fehler  spater  offen  eingestanden,  und  wenn  er  18S6 
wegen  der  Gladstoneschen  Homerulebill  aus  der  liberalen  P^tei  aus- 
schied, so  hatte  dieser  Schritt  mit  manchesterlichen  Grundsätzen  nicht 
das  mindeste  zu  thun.  Der  Verfasser  giebt  da  ein  durchaus  irriges  Bild 
von  diesem  streitbaren  ^Quäker.  Irrig  ist  es  femer,  wenn  er  auf  S.  XV 
schreibt,  da6  1874  das  Ministerium  Gladstone  durch  die  Stimmen  der 


76o 


Litteratur. 


Aibeitei  gestürzt  wurde,  weil  es  sich  geweigert  hatte,  für  die  gesetzliche 
Anerkennung  der  Gewerkschaften  einzutreten.  Faktisch  war  gerade  unter 
diesem  Ministerium  das  Gesetz  (34  und  35  Vid.  ch.  31)  geschaffen 
worden,  dafs  den  Gewerkschaften  einen  gesetzlichen  Status  verlieh.  Es 
waren  andere  Punkte,  welche  die  Arbeiter  gegen  Gladstone  und  seine 
Partei  erbitterten.  Ol)  aber  ihre  Stimmen  ausgereicht  haben,  die  liberale 
Partei  bei  der  Wahl  von  1S74  zu  stür/en,  mufs  als  ziemlich  zueifehaft 
bezeichnet  uerdon.  Sie  waren  nur  einer  der  Faktoren,  welche  jenes 
Resultat  hci  htiln  ii  ten.  Auf  Seite  XVII  w  ill  uns  die  Motivierung  des 
Kintreieni»  des  l  aluikanicn  lennant  für  die  Ausdehnung  der  schon  in 
der  TextUindttstrie  geltenden  Schutzbestimmungen  auf  andere  Industrieen, 
als  von  Konkurrenzrttcksichten  diktiert,  nicht  einleuchten.  Vom  Stand- 
punkt der  Konkurrenz  hat  der  Textilfabrikant  kein  Interesse  daran,  dals 
andere  Industrieen  denselben  Beschränkungen  unterworfen  werden  wie 
die  seine;  eher  umgekehrt. 

Derjenige  Teil  des  Abrisses,  der  sich  mit  der  Geschichte  der  Fab- 
rikpcsetzjjebunfj  im  letzten  Jahrzehnt  befafst,  i^t  von  solchen  V'ersfofsen 
wie  die  vorerwähnten  frei.  Die  Charakteristik  und  Kritik  der  Gesetzgeber  ist 
da  ebenso  sachlich  wie  die  di  r  deset/e  und  ( '»csetzesvorschläge.  Nur 
hätte  der  Verfasser  auch  S.  XXW'II  zu  der  Kapitulation  der  Asquith, 
Mundella,  Burt  in  der  Frage  des  Verbots  der  Nachtarbeit  der  Knaben 
erwähnen  dürfen,  dafs  es  Deputationen  von  organisierten  Arbeitern  ge- 
wesen waren,  die  sie  herbeiführten. 

Es  ßült  aufserhalb  des  Rahmens  dieser  Besprechung,  aus  den  höchst 
informierenden  Analysen  und  Zusammenstellungen  des  Verfassers  einzelne 
Stücke  herauszugreifen.     Ebenso  sei  darauf  verzichtet,   den  neuesten 
l'abrikgcsetzentwurf  des  Ministers  Mathew  White  Ridley,  der  die  Fabrik- 
pe-et/4;el)un;;  wiedrr  ein  Stück  vorwärts  bringen  sollte,  nher  \ve<:en  ver- 
schiedener Bestinuuunj(en  von  mindestens  zweifelluUter  icndenz  von  be- 
rufenen Vertretern  der  Arbeiter  scharfe  Verurteilung:  erfahren  hat,  an 
dieser  Stelle  m  resunueren.    Der  Entwurf,  dessen  Hauptfehler  in  den 
Augen  der  Arbeiter  und  vieler  sachkundiger  SozialiefcHrmer  darin  be- 
steht, dals  er  der  Verordnung  des  jeweiligen  Ministers  ttberUUst,  was 
Sache  genau  bestimmter  Gesetzesvorschrift  sein  sollte,  tmd  die  Gelegen- 
heiten zur  Ausdehnung  der  Ueberzeitarbeit  vermehrt  statt  vermindert, 
ist  soeben  von  der  Regierung  Tür  die  laufende  Parlamentssession  zurück- 
gezogen  worden,  so  dafs  ab^a'wartet  werden  mufs,  ob  er  in  nächster 
Session  in  gleicher  oder  modifi/ierter  Form  wieder  ans  Tageslicht  kommt. 
Fr   intliielt   unter   anderm    einen   Paragraphen,   nach    dem   nun  alle 
lieschafti^un^'   von    Knulern  unter    1 2  Jahren  in   Fabriken   und  ^^'erk- 
stättcn  endgültig  bedin;;un<,'slos  verboten  werden  sollte,    und  eine  Reihe 
nützlicher  Bestinitnungen  hinsichtlich  des  Verbots  gesundheitsschädlicher 
.Ubeitsprozesse,  zeichnete  sich  aber  im  ganzen  durch  seine  Zaghaftigkeit 
aus.    Der  Minister  hat  ihn  in  einem,  an  die  Gewerkschaftsvorstände  ver- 


Bericht  des  Vorstandes  der  Akticnbaugeselkchaft  fttr  kleine  Wohnungen  etc.  jr6x 

sandten  Rundschreiben  zu  vcHeidiL:cn  fjesiicJu,  ohne  dafs  es  ihm  indes 
gelungen  wäre,  sie  zum  Abstehen  von  ihrer  Opposition  zu  bewegen. 

London. 

ED.  BERNSTEIN. 


BerUhi  des  Vorstandes  der  Akticnbaugesiii>:hüft  für  kleine  Wohnungen 
in  Frankfurt  a.  über  die  l'hatigkeit  der  Gcseilscliaft  seit 
ihrer  Begründung  am  lo.  Januar  1H90,  sowie  über  das 
10.  Gcscliäftsjahr  \  oni  i.  Januar  l)is  31.  I  )e/.enil>er  1899. 
8  74  S.  nebst  5  tabellarischen  und  zeichnerischen  Anlagen. 
Frankfurt  a.  M.  I9CX>. 

Zu  den  Zeichen  der  Ausbreitung  und  Vertiefung  sozialer  Einsicht 

kann  man  die  nüchternere  imd  klarere  Abschätzung  so/.ialer  Mafsregeln 
rechnen,  die  gegenwärtig  platzgegrift'en  hat.  \N  as  in  einer  älteren  Gene- 
ration einem  so  bedeutenden,  volkswirtschaftHch  vielseitig  gebildeten 
Statistiker  wie  Ernst  Engel  i)assieren  konnte,  dafs  er  angesichts  eini-rcr 
Experimente  mit  der  Gewinnhi  t<-ilif^un£i  ausrief:  „So  ist  denn  die  soziale 
Frage  keine  Frage  mehr;  iliri'  i.osung  darf  als  erfolgt  angesehen 
werden  .  .  ."  (vgl.  Arbeilerfreund  V,  154J,  wäre  heute  eine  Unmüglich- 
keit  Dazu  hat  der  Sinn  fllr  Perspektive  tmd  Propfnrttonen  im  Beteidi  der 
gesdlschaftlichen  Probleme  sich  in  der  Zwischenzeit  denn  doch  zu  sehr 
entwickelt  Immerbin  fehlt  es  auch  jetzt  nicht  an  bedenklichen  Ueber* 
Schätzungen,  die  nicht  nur  das  Urteil  Über  die  einzelne  Erscheinung  ver- 
wirren, sondern  auch  zu  einem  HemmTiis  «!er  sozialpolitischen  Fortschritte 
überhaupt  werden  können.  Die  Anfänge  der  deutschen  Arbeiterversichenmg 
bieten  das  nächstliegende  Heisi)iel.  Getährlichem  Ueberschwang  ähnlirlier 
Art  entgegenzutreten,  ist  deshalb  immer  vertlienstlich,-  ninsomehr  wenn 
sich  das  mit  einer  Kritik  eigener  tüchtiger  Leistungen  verbindet.  Die 
hier  angezeigte  Schrift  verdient  unter  diesem  Gesichtspunkt  die  Aufmerk- 
samkeit der  Sozialpolitiker. 

Die  Frankfurter  Aktienbaugesellschaft  für  kleine  Wohnungen  bildet 
einen  gemeinnützigen  Bauverein,  der  den  Frivatvorteü  ausschliefst,  aber 
nicht  ein  sog.  Wohlthätigkeitsinstitut  sein  will.  Die  an  die  Aktionäre 
zu  gewährende  Rente  ist  statutarisch  auf  3*/^  Proz.  beschränkt.  Ins 
Leben  gerufen  wurde  die  Gesellschaft  unter  dem  Eindriu  k  der  am  Ende 
der  achtziger  Jahre  besonders  empfindlich  hervorgetretenen  Wohnungsnot 
in  Frankfurt  a.  M.  Aus  Anlafs  ihrer  jetzt  zehn  Jahre  dauernden  Wirksamkeit 
hat  sie  einen  Bericht  veröffentlicht,  der  im  Rah?iien  einer  ('»eschichte 
der  Vcreinsthäligkeit,  wenn  auch  nur  in  tiüchtigen  Andeutungen  die  ent- 


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762 


Lttteratur. 


scheidenden  Gesic  litsj »unkte  einer  riclitigen  Wuhnungspolitik  hervorhebt. 
Besonders  beachtcuswcrt  sind  die  Bemerkungen,  die  das  rrogranini  der 
Gesellschaft  enthalten  und  ndt  Ui^>aitetUdikeit,  von  jeder  Uebertreibcmg 
fern,  Leistungsfähigkeit  und  Wert  der  privaten  Thätigkeit  auf  dem  Ge* 
biet  der  Wohnungsfrage  abwägen.   „Unser  Ziel  ist  nicht  Beseitigung  der 

Wohnungsnot ;  ein  soziales  Uebel,  wie  es  die  Wohnungsnot  und 

die  Wohnun;;steuerinig  ist,  (kann)  stets  nur  durch  Mafsregeln  der  AUge- 
meinheity  nie  durch  die  Arbeit  einzelner  beseitigt  werden.  Was  der 
einzelne  und  was  ein  irenieinnützigor  Verein  schafTt,  hat  höchstens  die 
Bedeutung  einer  Hih'e  im  einzelnen,  im  besten  1  all  die  eines  Versuchs, 
einer  Probe  im  kleinen,  um  festzustellen,  ob  die^e  oder  jene  Mafsregel 
ausfuhrbar  ist  und  von  der  Geset/gebung  oder  der  öffentlichen  Ver- 
waltung aufgenommen  werden  kann,"  heifst  es  in  dem  Bericht  (S.  38  ff.). 
Noch  präziser  wird  die  Aufgabe  von  Gesetzgebung  imd  Verwaltung  in 
den  Worten  ausgesprochen :  „Wir  gehen  davon  aus,  dafs  die  Beseitigung 
der  Wohnungsnot  in  erster  Linie  Sache  der  gesetzgebenden  Gewalt  (Staat 
und  Reich),  die  i)lanmafsige  Linderung  in  erster  Linie  Sache  der  Ge- 
meinde ist  .  .  (S.  6l  Diese  prinzipielle  Klarheit  veranlafste  die 
llaugescllschaft.  daratif  hinzuwirken,  dafs  die  Gemeinde  ihren  Grund- 
besitz ]ilaniii;irsi'^'  erweitere,  und  gleichzeitig  die  Stadt  sowohl  wie  die 
öflentlii  heil  Stiftungen  'i  errams  zur  Herstellung  von  Wohnungen  für  die 
besitzlose  Klasse  hergeben,  ohne  ihnen  das  Eigentum  und  die  \'orteile 
der  Wertsteigerung  zu  entziehen.  Von  Anfang  an  bemühte  sie  sich,  die 
Öffentlichen  Verwaltungen  zur  Ueberlassung  von  Grundstücken  für  den 
Wohnungsbau  unter  Vorbehalt  des  Rückfalls  nach  Ablauf  einer  längeren 
Frist  zu  bewegen.  Mit  Benützung  der  Vorschriften  des  Büigeriichen 
Gesetzbuchs  über  das  Erbbaurecht  (§  xoiaC)  ist  es  endlich  gdungen, 
das  Kath.irinenstift  zur  Hergabe  eines  grüfseren  Terrains  für  die  Dauer 
von  So  Jahren  zu  veranlassen.  Der  hier  von  der  Gesellschaft  ziun  ersten 
mal  beschrittene  W  eg  ist  ein  vortreH  !ii  lier,  und  es  wäre  zu  wünschen, 
dafs  von  tlieser  .Methode  uberall  ein  nmuli«  li'.t  uiiit'.issender  Gebrauch 
gemacht  wcrile.  Xit:ht  ohne  lntcres^e  ist  es,  iu  ilem  Bericht  die  Schil- 
derung der  Kampfe  und  Scliwiengkeiten  zu  verfolgen,  die  zu  be- 
stehen waren.  Dank  der  veränderten  Zeitströmung  und  nicht  ohne  die 
Bemühungen  der  leitenden  Personen  der  Gesellschaft  hat  eine  Aenderung 
der  Anschauungen  Über  die  Pflichten  der  Gemeinde  sich  vollzogen,  und 
an  Stelle  aktiven  und  passiven  Widerstands  tritt  aUmählich  in  der  Frank* 
furter  Stadtverwaltung  eine  noch  freilich  in  sehr  mäfsigen  Grenzen  sich 
bewegende  l  orderung  der  Wohnungsj)olitik. 

Neben  ihrer  allgemeinen  Stellung  verdient  beachtet  zu  werden, 
wie  die  bantrcselNrhaft  im  einzelnen  ihre  Aufgaben  i  rfüUte.  Ks  handelt 
sich  um  Ihm  hallung  von  W  ohnungen  für  niedrig  gelohnte  .Arbeiter  und 
um  das  ri^blcm,  allen  wichtigen  Forderungen  der  Hygiene  zu  ent- 
sprechen und  doch  die  Mietspreise  im  Einklang  mit  dem  Einkommen 


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Bericht  des  Vorstandes  der  AktienbaugcseUschaft  für  kleine  Woluningen  etc. 


schlecht  bezalilter  Arbeiterkategorien  zu  halten.  Das  gelang  sehr  gut, 
und  die  Gesellschaft  konnte  in  ihren  l)isher  37  Häusern  mit  3S8 
Wohnungen  und  1909  Personen,  die  sie  Ende  1S99  zählte,  die  Miets- 
jjreise  niedriger  als  die  marktgängigen  stellen.  Der  Bericht  betont,  dafs 
dies  keineswegs  vuu  dein  Umstaud  abhing,  dafs  sie  als  genicinuützige 
■Organisation  einige  Privilegien  und  in  der  unentgeltlichen  Arbeit  des 
Aufsichtsrats  und  Vorstands  Vorteile  vor  privaten  Unternehmungen  ge- 
nors.  Ueberzeugend  wird  nachgewiesen,  dafs  der  private  Hausbesitzer, 
welcher  nicht  wie  eine  Aktiengesellschaft  zu  Amortisationen  und  Abschrd- 
bungen  genötigt  ist,  die  Wertsteigerung  des  Terrains  im  Unterschied  von 
einem  gemeinnützigen  Verein  auszunutzen  vermag,  sehr  wohl  ebenso 
billige  Mieten  festsetzen  und  dabei  auf  eine  Verzinsung  von  ca.  6  Prot, 
des  angelegten  Kapitals  rechnen  könnte. 

Ik'uierkeiisu  eil  sind  die  Einrichtungen,  die  die  (iesellschatt  get rotten 
hat,  um  iliren  Mietern  die  Häuslichkeit  zu  einer  mugliclist  lieha^lii  hen 
zu  gestalten  und  in  Verbindung  damit  ihnen  mancherlei  Vorteile  zu  ver- 
schaffen. Dahin  gehört  zunächst  das  Bestreben,  die  Mieter  in  gewissem 
Maß  zur  Verwaltung  der  Häuser  heranzuziehen.  In  jedem  Baublock 
wird  von  jedem  Haus  ein  Mieter  zum  Obmann  gewählt,  und  diese  Ob- 
männer  bilden  mit  dem  von  der  Gesellschaft  bestellten  Verw^ter  den 
Mieterausschufs.  Nach  deren  Wunsch  sollen  diese  Mielerausschüsse  zu  der- 
selben Stellung  gelangen,  wie  sie  der  \'orstand  einer  Arbeiterbaugenossen- 
Schaft  hat.  Ks  ist  kein  Zweifel,  da^^  diese  Institution,  die  sich  anfalle^- 
rade  für  die  .Mieter  so  wichtigen  internen  Angelegenheiten  der  Häuser  be- 
zieht, den  liewohnern  ein  (lefiihl  wohltluiender  Zusanmiengehorigkeit  und 
zugleich  eine  Sicherheit  und  Selbständigkeit  verleiht,  die  sie  in  anderen 
Mietshäusern  niemals  erlangen.  Neben  diesem  glücklichen  Gedanken  der 
Mieterausschüsse  wurde  der  Versuch  gemacht,  die  Bewohner  eines  Bau- 
blocks zur  gemeinsamen  Beschaffung  von  Lebensmitteln  zu  bestimmen. 
Um  das  durch  zinslose  Kredite  zu  erleichtem,  wurde  ein  sog.  Wohlfahrts- 
fonds  geschahen,  der  das  Grundkapital  für  eine  Art  Einkaufsge'nofisenschaft 
bilden  sollte.  Diese  .\l)sicht  verdiente,  weiter  verfolgt  ZU  werden,  wenn  auch 
die  genossenschaftliche  Thätigkeit  bisher  über  enge  Grenzen  nicht  hinaus- 
gelangt ist.  In  anderer  Richtung  hat  der  Verein  durch  Anlage  von  Bädern 
und  Was<  hkiiclien  in  jedem  Haus,  durch  Einrichtung  von  den  Mietern 
iiberlassenen  Nutz-  und  Ziergärten,  Rleichplätzen  u.  ilgl.  ni.  Niit/.liches 
geschahen.  Ganz  besonderes  Lob  verdient  es,  dafs  in  Verbindung  mit 
anderen  Vereinen  der  KimterfÜrsorgc  Förderung  zu  teil  wird,  indem  einem 
Knaben-  tmd  Mädchenhort  imd  einer  Kinderbewahranstait  in  den 
Häusern  der  Aktiengesellschaft  Unterkunft  gegeben  wurde.  In  einem 
Block  ist  in  dem  mit  ihm  verbimdenen  Vereinshaus  auch  eine  Volksküche^ 
ein  \  ersanmüungssaal  für  Vorlesungen  und  Konzerte,  sowie  eine  Volks- 
biblioihek  mit  einem  Lesezimmer  installiert  worden.  Daneben  ist  für 
jeden  Block  eine  kleine,  verständig  ausgewählte  Bibliothel^  die  alt  und 


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7^4 


LiUeratur. 


jung  7\\r  Verfiic^iing  steht,  voilianden,  und  für  die  neuen  Bauten  des 
Vereins  sind  alinlu  he  und  noch  erweiterte  Einriclitungen  geplant. 

So  vcrdicnstlicli  die  Frankfurter  Aklienbaugesellschaft  wirkt,  indem 
sie  für  Angehürige  der  ännsten  Schichten  gesunde  und  billige  Woh* 
nungen  enichtet  und  zugleich  sich  bemüht  zeigt,  den  Standard  of  life 
ihrer  Mieter  auf  eine  höhere  Stufe  zu  heben,  so  darf  man  sich  nicht 
täuschen,  dafs  der  eigentliche  Wert  ihrer  Thätigkeit,  gemessen  an  der 
enormen  Ausdehnung  der  Wolmmigsnot.  weniger  in  der  unmittelbaren, 
wenn  auch  an  sich  sehr  resi)ektal>len,  Leistung,  als  in  dem  vortrefi'lichen. 
von  ähnÜrhen  \'ereinen  sie  luitersi  heidenden  l»eis|)iel  liegt,  dns  sie  durrh 
die  un>:<'\vühnHche  Art  der  Inangrittnahnie  ihrer  Aufgal)e  und  den  ent- 
schiedenen Hinweis  auf  die  Unzulänglichkeit  lediglich  jirivatei  Mafsnahuien 
giebt.    Ihre  W  irksamkeit  erscheint  uns  gerade  darum  besonders  wertvoll. 

Die  Klage  des  Berichtes  über  die  ungenügende  Unterstützung  ge- 
meinnütziger Bauvereine  durch  die  Städte  (S.  39)  ist  durchaus  begründet 
Man  sollte  es  fUr  selbstverständlich  halten,  dals  Organisati<nien,  ähnlich 
der  hier  geschilderten,  durch  Befreiung  von  städtisdien  Steuern  und  Ge> 
bühren,  durch  Ueberlassung  von  städtischen  Terrains  u.  a.  m.  Hilfe  er- 
halten. Die  llcgünstigungen  von  seite  des  Staates  sind  geringfügig 
genug,  dafs  alx-r  die  Kommunen  noch  dahinter  zuriickhleiben,  ist  L^esien- 
über  den  dringenden  Tnteres.sen,  um  die  es  sich  handelt,  und  dem  Nut/eu 
derartiger  ("jcscllschaften  angesichts  der  Zusammensetzung  der  Gemeinde- 
vertretungen zwar  l)cgreiriich,  aber  zugleich  aufs  schärfste  zu  verurteilen. 
Man  kann  nur  wünschen,  dafs  diese  V  erhältnisse  sich  ändern ,  und  der 
lehnreiche  Bericht  fiber  die  Wirksamkeit  der  Frankfurter  Aktienbau- 
gesellschaft  zur  Ueberwindung  der  Widerstände  beitrage. 

Berlin. 

HEINRICH  BRAUN. 


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Lippm  ft  Co.  (6.  P«u*»ehe  Bocbdr.).  Naumburf  a,  8.  f, 

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