Die Zukunft
Maximilian Harden
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Die Bukunft=-
Berausgeber:
Maximilian Barden.
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Neununddreißigſter Band.
Berlin,
Derlag der Zukunft.
1902
Aararitaat j. Induſtrieſtaat.
Alfoholgährung j. Fermente.
Arbeiterkolonie, in der... . . 352
Armee, j. Wotizbud 249.
Ausweifung, meine ...... 398
Beichtgeheimniß . . ...... 20
Berliner Sezeffion ſ. Sez eſſion.
Bilderbüder . ...
Blumenträume . . —27
Börje und Prefle .......
Brandenburger Zeitung j. Notiz-
buch 248.
Bülow, Graf ſ. Notizbud
258, 440.
Buren, Die 2»: 22a. 413
Burghers, onze dappern 156, 403
j. a. Notizbud 251, 445.
Gentralfartell, da8 ....... 166
Chryjanders Händel⸗Ein⸗
richtungen......... 467
Coquelin ſ. Theaternotizen
171.
Darm-Üthen .-.....2... 195
Darınjtädter Kunftausitellung
j. Darm» Athen.
Denkmal, das, des alten Fritz für
Amerika j. Notizbud, 334,
313.
Derjelbe, Diejelbe, Dafjelbe . . 348
Dichter, der verehrte . . . . .. 279
Diktaturparagraph, der ſ. Notiz.
bud 329. i
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er
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Durand, ‚Fräulein j. Theater-
notizen 171, f. a. Notiz
bud 374.
England, j. Achtung.
Entwidelunasitufen . . .... 139
Erner und Geuofien . . . . . . 522
Grportwirtbihaft. ..... . . 244
Fermente und Alfoholgährung . 471
Finanzen, Rumänilde . . . . . 365
Fitger, Arthur j. Wotizbucd 46.
Frühlin
Gei enſpieler und Flötenbläſer
Generalverſammlungen
Be RE —
431
33
nr...
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Händel-Einrichtungen ſ. Chry—
ander,
Herzo
Ernſt Günther ſ.
umbug & Go.
Hymnus EEE
Juduſtrieſtaat oder Agrarjtaat? 375
‚sohanniterorden, der ſ. Notiz-
buch 450.
Katholizismus
u ee ee
ſ. Univerjität.
Ktatholizisinus, moderner . . . . 2:
| Kauffmann, Stadtrath ſ. Notiz-
Stinderarbeit . » 22 2 220.
Klingers Beethoven
487798
Kinderredie 2.2... j
Stolonialpolitit in den Oſtmarken
j. Notizbud 372.
König von Sadien |.
Saxe,
König, der, von Spanien. . . . 297
Krach, der, des Kunftgewerbes . 75
j. a. Notizbuch 489.
Kriegsrailot . 2» 2 2 2 202
Stultur, die, des weiblichen Körpers
j. Bilderbüder.
Kulturarbeiten ſ. Bilderbüder.
Kunſt, moderne. Notizbuch 331.
Runftausftellung, die große. . .
ſ. a. Notizbuch 372.
Ktunitgenuß j. Nervoſität.
Kunſtgewerbe ſ. Krach.
Landtag |. Notizbuch 440.
Legenden, zwei........ 122
Leo XIII. ſ. Zauberer.
ſ. a. Notizbuch 251
Lieber, Ernſt ſ. Notizbuch 45.
Marten und Hickel ſ. Notiz—
buch 246.
Vieux
342
Medizinifche Moden, j. Moden . 504
Meilterfpiele. . . 2222.20. 200
Mesmet. . 2 0 20er. 303
Milchkriie 181
Miranda, Dr., in Konitantinopel 70
Moden, medizimihe . 2.2... 504
Moritz und Rina....... 491
Murom, Ilja von ....... 133
Nervenheiljtätten ſ. Rotizbuch 446.
Nervoſität und Kunſtgenuß 102, 144.
Notizbuch 45, 216, 329, 369, 440,
486, 525.
Dieattruit. 325% aaa 200
SBUEMOBIE ur. 20 %
Bandynanmismuis. 2 2... 7, 57
Preſſe j. Börie.
Prinzeureiſe, Die 2 2 2 222. 82
Mangklaſſe, elle © 2.2000.“ 464
Renaiſſance,eine? ...... 45
Rhodes, Cecil John ſ. Dia—
mantenkönig.
Ma Mori 4.00.4008 491
Rothicild-Yombarden. . ... . 128
Rumäniſche Finanzen |.
Finanzen.
Rußland ſ. Murom.
Sanden und Genofien . x... 497
Sciedsgerichte, Kaufmänniſche 153,285
ſ. a. Notizbud 371.
Schmoller, Profeſſor Dr. Guftav
j. Notizbud 369.
Schweningers Jahresbericht .. 37
Selbſtanzeigen 42, 86, 126, 164, 207
240, 361, 395, 435, 480, 513.
Sezeljion, Berliner ...... 419
j. a. Wotizbud 331.
Sonnwendtag |. Theater-
notizen 169.
Tadelloſe, die... ..... . 320
Theater, Wiener . . 2.220. 112
Theaternotizen . 2.2... : 169
Trintgeldee 325
Univerſität und Katholizismus . 173
Bereeniging - - - 0.0. 335
Viesuxs Bax6 ae 451
Waldeck Houlicau . 2.2... 259
Waldgeſicht 00... 228
Weg, der, zum Licht |. Theater:
notizen 140,
Welt, die, als Zeit . 2.2... 265
j. a. Notizbud 441.
Wohlthätigfeit, moderne . 392
j. a. Notizbuch 48
Zauberer, der, von Kom . 47
Holltarifkommiſſion-Sommer—
diäten ſ. Notizbuch 257.
Zuckerkönvention ſ. Notizbuch
486.
Zulunft diieeee 220
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Berlin, den 5. April 1902.
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Der Diamantenfönig.
SI" eines Tages der große Kolportageroman des Transpaalfrieges
gejchrieben wird — und er muß, fchon weil ein Vermögen daran zu
verdienen ift, über kurz oder lang ja gefchrieben werden —, dann wird es
Cecil John Rhodes übel ergehen. Er ift für die Rolle des Ogers geichaffen,
derjeiner Habgier Hefatomben jchlachtet, unermeßliche Schätze häuft und, mit
einem Hohnlachen auf frecher Lippe, über Leichen hinwegichreitet. Ein Uns
geheuer wirdda der Erdfreis jehen, einen Menjchenfreijer, der ein ganzes Volk
frommer Bauern vernichten, Kinder megeln und Junfrauen ſchänden möchte,
um dieWurzeln des Widerjtandes gegen die Macht feiner goldenen Geißel aus⸗
zuroden. Und wie fein Leben, jowird aud) jein Tod die Köchinnen das Fürchten
lehren. Während das Volk, dem erden Untergang ſann, ſich tapfer noch wehrt
und auf den Trümmern feines jungen Staates neue Zuverjicht ſchöpft, vers
röchelt der Gewaltige einſam, nach langer Qual, und nicht für einer Stunde
Dauer kann ihm fein Reichthum das arme Yeben verlängern. Woraus ſich wies
der einmal die Lehre ergiebt, daß unrecht Gut nicht gedeiht, die Tugend ſchon hie—
nieden belohnt, das Laſter beſtraft wird. Der Romankann ſehr ſchön werden,
wenn ein geſchickter Mann die Lieferung übernimmt und Rhodes auf dem
Hintertreppenfries nicht gar zu klein, gar zu jämmerlich ausſieht. Er hat
ſich mit drei Freunden ins Lager der vom General Carrington beſiegten, aber
nicht entwaffneten Matabeles gewagt, die eben einen neuen Rachekrieg plarrs
ten, und Lo⸗Bengula nebft den anderen Häuptlingen durch feiner Rede Ge:
walt der britischen Herrjchaft gewonnen. Erift im Reiſeanzug vorden Deuts
1
=
ſchen Kaiſer hingetreten und hat ihn überredet, das vorher über den Jame—
fon-Raid gefällte Urtheil zurüdzunchmen. Die Matoppoberge und das ber-
liner Schloß verlieh er als Sieger. Und was heute nur die Phantafie heißer
Knaben träumt, was den wachen Sinn der Erwadjienen unmöglid) dünft,
hat er gethan: er hat ein eich gegründet und auf feinen Namen getauft.
Allein; ohne Heer; ein Bürgerlicher ; ein Eivilift. Ein Reich, deifen Flächen-
umfang ſechsmal größer it als der Großbritaniens. Selbjt in einem Kol-
portageroman darf der Mann, dem Solches gelang, nicht die Rolle eines ge-
wöhnlichen Spekulanten, eines Bontour, Beit oder Barnato jpielen.
Den Koloffus von Rhodefia und den Capnapoleon hat man ihn ge-
nannt und damit den Drang, der ihn ins Grenzenloſe trieb, richtig bezeichnet.
Hätte er fic zu beicheiden vermocht, jein Yeben wäre ruhig und friedlich ge-
weſen, fo friedlich, wie das Yeben eines Diamantengräbers und Börſenbe—
berrichers fein fann. Er ftammte von Yandpächtern aus Ejfer ab, wollte
Theologie ftudiren und juchte in Südafrika Heilung von einem Yurngenleiden.
Da regte ſich jein Kaufmannsgenie; er erwarb die beiten Claims, ließ ſich
von den Rothichilds, ohne ihr Dienftmannzumerden, mit der ganzen Haus
macht jtüten und entthronte nad) rajchem Erobererzug die Barnato und
Joel. Auf jo gebahntem Weg fonnte er gemächlich weiterichreiten, Schäge
jammeln und, wenn er genug hatte, in die Heimath zurücfehren und fein
Leben genießen. So hat es Mancher gemacht, der dann Yord oder Marquis
wurde und in der nobility als ein Zugehöriger verkehren durfte. Cecil
Rhodes wollte mehr. Der Reichtum genügte ihm nicht, war ihm immer
nur Mittel zum Zwed; große Ideen, jagte er früh ſchon zu Gordon, find kei—
nen Schuß Pulver werth, wenn das Geld zu ihrer Ausführung fehlt. Trieb
ihn Ehrgeiz oder die Yeidenschaft des Patrioten? Der Wille zur Macht oder
der Wunjch, den Volksgenoſſen zu zeigen, daß er nicht ein Millionär wie an—
dere Milfionäre war? Wahrjcheinlich wirkten viele Urjachen zufammen; und
Ichlieglic, Handelte er, wie er handeln mußte. Er ſchuf die Chartered Com—
pany, jette mehr als einmal fein ganzes Vermögen aufs Spiel, wurde, ohne
Auftrag noch Amt, ein Politiker, defien Diplomatie ich über die Grenzen
des Majchonalandes, des Betſchuanen- und Matabelegebietes hinaus er-
ftredte, und ſtarb im Kampf gegen die zähe Widerftandstraft der Holländer,
die ſich der britiichen Hoheit nicht unterwerfen wollten. Allred: Das war
fein Biel. Nur der Union Jad durfte über Afrifa wehen. Er glaubte nicht
an vıele Dogmen; an Großbritanien glaubte er. England, jagte er in einem
Geſpäch mit dem Burenfreund William T. Stead, ift von Gott, deffen Exi-
2 Die Zukunft.
4
Der Diamantenfönig. 3
ftenz mir zu fünfzig Prozent ficher jcheint, berufen, der Welt das Reich der
Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens zu bringen, und ich bin auser—
wählt, der britifchen Erpanfion in Afrika den Boden zubereiten. Herr Stead
hat ihm nicht ausgelacht. Vielleicht dachte er an Walter Raleigh, an Clive
und Warren Hajtings, fühlte, dat England ſolche Männer braucht, und
mußte fich, vor dem politischen Gegner, den er immer bewundert, nie vers
dammt hat, geftehen: Diejer ift größer als die Konquiftadoren, deren Name
von danfbarem Stolz durd) die Jahrhunderte getragen wird.
Er war größer als jie. Wäre er uns nicht jo nah und durch den vom
Haß gewebten Schleier doch unjerem Auge verhüllt, wir würden nicht zögern,
ihn einen großen Dann zu nennen. Wir werden uns jacht aber in den Ge—
danken gewöhnen müffen, daß jo die großen Männer in der Nähe ausjehen.
ALS fleckloſe Fichtgeftalten wandelten fie ftet8 nur durch die Märchen
welten der Kinder und Kindervolfheiten; und ein findijches Vergnügen wars
immer, der nach Moralitäten lüfternen Menge zu zeigen, wie jchlechte Kerle
die großen Männer des Handelns gewejen jind. Gerade die feinten Geiſter
haben ſich weistlich gehütet, die im Gewühl des politischen Kampfes Führen
den mit idealen Forderungen zu beläftigen. Kant: „Noch fein Philojoph
hat die Grundfäge der Staaten mit der Moral in Llebereinftimmung brin»
gen und doch aud) feine bejieren, die jich mit der menſchlichen Natur ver:
einigen ließen, vorjchlagen können.” Goethe: „Der Handelnde ift immer ges
wiſſenlos; e3 hat Niemand Gewiſſen als der Betrachtende.” Schiller:
„Wärme mir Einer das verdrofchene Märchen von Nedlichkeit auf, wenn
der Banferott eines Taugenichts und die Brunft eines Wollüftlings das
Glück eines Staates entfcheiden!“ Macaulay: „Die Artome der Politik
find jo beichaffen, daß der gemeinjte Räuber ſich jcheuen würde, fie feinem
Zuverläfjigften Spiehgejellen auch nur anzudeuten; fich jelbit jogar würde
er fie nur in fophiftifcher Verbrämung anzubieten wagen.” Wer, als ein
Betracdhtender, folche Willensmenschen verabjcheut, ift nicht zu tadeln.
Nur darf er dann nicht Politik treiben, die Frucht politifcher Arbeit genießen
wollen, ſondern muß fic) in einen janften Anarchismus bequemen. Die
Heilandgreiche find nicht von diejer Welt. Als Bonaparte aufbrüllte, die
Geſetze der Sitte und Sittlichfeit jeien nicht für ihn gemacht, ſprach er aus,
was mancher minder Hochgewachſene empfunden hat. Nicht jeder Staats»
mann ift aus Ajaccio, nicht jeder Yätitias Sohn; zur Fälſchung von Bank—
noten und zum Plan einer Hölfenmajchine, die das Bourbonenhaus in die
Luft iprengen follte, hätten fultivirtere Genies fich am Ende doc nicht Jo leich—
1*
4 Die Zukunft.
ten Herzens entſchloſſen. Aber aud) Bismard, der aus anderem Stoff war
als der Korje, hat als Politifer Mittel nicht verſchmäht, die er al$ Privat»
mann weit von ſich gewiejen hätte. Deshalb hat ihn Liebfnecht Jahrzehnte
langden Depefchenfälicher genannt. Deshalb fol jett, wie ein Schandfleckan
feinem Weſen, die Thatſache verborgen werden, daß er 1866 Herrn von
Bennigjen zum Yandesverrath dingen wollte. Denn wir möchten ung die
ehrwürdige Hhpofrifie bewahren, daß unfer Streben nad) dem Biel langt,
die Tugend zur Herrichaft zu bringen. Wir find Ehriften, find Altruiften.
Nietzſche jagt freilid): „Der ganze, Altruismus‘ergiebt ſich als Privatmanns
Klugheit; die Gefellichaften find nicht ‚altruiftisch‘ gegen einander. Das Ges
bot der Nächjtenliebe ift noch niemals zu einem Gebot der Nachbarliebe er«
weitertworden. Der Staat ift bie organifirte Unmoralität.“ Dod) wir fordern
Politiker von evangelischer Yauterfeit. Fordern wir ſie wirklich? Ya. Könnten
wir fie brauchen? Nein. Mit Tolftoi als Präjidenten oder Premierminifter
fönnte man feinen Staat machen; nicht einmal eine Sozialiftengejellichaft,
die doch auch Icben müßte und ſich fortpflanzen möchte. Wir brauchen Po—
Litifer, die den Muth zu unferen Begierden haben und bereit find, uns die
Verantwortung abzunehmen. Doch wehe ihnen, wenn jie ſich ertappen
laſſen, wenn man dahinterfommt, daß jie feine Säulenheiligen jind! Es ift
wie mit den Bankdireftoren. Die jollen auch in ſchlechten Jahren für fette
Dividenden jorgen: jonft find fie unfähig; aber nur ganz jaubere Gejchäfte
machen: ſonſt find jie Spigbuben. Und ein Staatsmann joll noch tugend-
famer fein als ein Bankdirektor und unferen empfindlichen Nafen Alles er»
ſparen, was nad) der Schwarzen Küche des Macchiavellismus ftinft.
Früher wars immerhin leichter, Herrn Hypokrit zu befriedigen. Noch
war den Menſchen nicht der Ergen der „Deffentlichkeit” geipendet; der
Volkschor wurde erft gerufen, wenn die Bühne abgefegt und blank geichenert
war; und heroiſche Verbrechen entbinden die einbildneriichen Kräfte und
ſtimmen aud) harte Herzen zu mitleidiger Furcht: fo großes Gefchehen könne
auch jie aus dem rechten Weg drängen. Ein Staatsmann, der mit Blut und
Eiſen arbeitet, an jein Unterfangen das Yeben fett und mit Helmbuſch oder
Degen die Kämpfenden zu fich winft, darf, ſelbſt wenn er bejiegt wird, auf
mildes Urtheil hoffen. Die napoleoniſchen Keldzüge haben vier Millionen
Dienjchen ums Yeben gebracht: fie waren dos ſchön, fie Icben im Heldenlied
und die Söhne de& vom Heinen Korporalentvölferten Yandes preiien ihn mit
Berangers geflügelten Worten. Graujamfeit fann großartig wirfen; jeder
heroiſch geführte Kampf wedt die Erinnerung an alte Urftände der Nas
Der Diantantenfönig. 5
tur, wo dem Einzelnen wie der Sefammtheit das Schwert die Entjcheidung
brachte. Aber ein Mackhiavellismus, der mit modernen Mitteln arbeitet!
Ein in eine belagerte Stadt eingefperrter Politiker, der ſich die londoner
Minenkurſe heliographiren läßt... Doc aud) in den Gedanfen müſſen wir
ung endlich ſchicken, daf die Tage der Ritterfitte vorüber find, vorüber, rief
Burke ſchon, die Zeiten keuſchen Ritterftolzes, der den Schimpf wie eine
Wunde empfand, das rohe Handwerk adelte und dem Verbrechen die Hälfte
feiner Schrednijfe nahm ; Sophiften, Oekonomen, Nechenmeifter herrjchen
heute, wo einst Helden fochten. Das wurde 1790 gejchrieben und ift nad)
hundertundzwölf Jahren noch nicht in das Bewußtſein der Bölfergedrungen.
Cecil Rhodes hat in der Rüftung gefämpft, die ihm die Diode und
das Bedürfniß des Krieges vorfchrieb. Perjönlicher Muth fehlte ihm nicht;
fonft wäre er nicht ins Matoppogebirge gegangen, nicht von Yondon nad)
Kimberley zurücgefehrt. Doc er konnte nicht als Ritter Fechten, mußte die
Mittel anwenden, die für feine Zeit und feinen Zweck paßten. Er fam aus
einem ganz auf den Export, auf die Ausbeutung noch unfultivirter Yänder
angewiejenen Händlerreich, das, wenn es ſich nicht im Süden wie im Nors
den Afrikas jtarfe Stützpunkte jchafft, in Indien bedroht ift. Afrika mußte
engliſch werden: Das war fein Ziel. Kein Schleichweg, der dahin führen
konnte, war ihm zu jchlecht, zu ſchmutzig, zu teil. Aus dem Gold und den
Diamanten, die er aus der Erde grub, jchuf er fich die werthvollſte Waffe.
Er hat die Breife beftochen, die Hilfe der Parnelliten, als er ihrer bedurfte,
mit baarem Gelde erfauft und nie gezaudert, eine Menjchheit zu forrums
piren, die forrumpirt fein wollte. Er wußte, welche Mächte im struggle
heute den Sieg fichern können. Als jteinreicher Mann ift er noch einmal
nach Orford gegangen, um feine humanijtiiche Bildung zu ergänzen umd
die Zufammenhänge der Technik beſſer erfennen zu lernen, Kapital, Preſſe
und Technif brauchte er; und da fein Schlachtfeld ein großer Zeil des bes
wohnten Erdfreifes war, mußte er viele Batterien haben und immer wiſſen,
wie an den Brennpunften feiner Welt in jeder Stunde die Stimmung war,
Die Matabeles hypnotijirte er mit dem Wort umd den Seiten eines zürnens
den Vaters; in Berlin ließ er die Hoffnung auf den Rieſengewinn einer eng»
liſch⸗ deutſchen Minengejellichaft aufleuchten; und zwiſchen zwei Schlachten
eilte er nad) Yondon, um mit Ingenieuren dem Bau von Eisenbahnen und
Telegraphenlinien zu berathen und alle Beete zu düngen, denen die Erz
füllung eines Wunſches entipriehen konnte. Zeine Mittel waren anders,
aber nicht unfittlicher als die von den großen und feinen Bonapartes
6 Die Zukunft.
aller Zeiten angewandten. Wie fie hat er — der pracdhtvolf freche Brief,
den er aus Kimberley an Lord Roberts jchrieb, beweiſt e8 — die Dutends
handwerkfer der Bureaufratie und die jchwerfälligen Troupiers veradhtet,
Wie fie hat er geirrt, hat der Ueberſchwang des Willens ihn ins Unheil
gerifien. Napoleon wollte bis zum Ganges vorjchreiten und mußte aus
Moskau heimmärts fliehen. Rhodes wollte die Buren, deren Eigenfinn
er nicht brechen fonnte, zerftampfen und ftarb, ehe ein entjcheidender Sieg
an Britaniens Fahne gefettet ward. Er war ein genialer Finanzſtratege,
Drganijator, Verwalter; aber er hatte die Menſchen jo Hein gejchen, daß
er an Örößenicht mehrglaubte und lachend gewettet hätte, die Buren würden
den Kampf wider Englands Uebermadjt niemals wagen. Als er am vor—
letsten Dezembertag des Jahres 1895 ruhelos durd) die Bibliothek feines
Landjiges jchritt und auf Nachricht von Jameſon harrte, hat er vielleicht
gefühlt, welchen Fehler er begangen hatte, da er den Witt billigte, dem Cronje
ein ruhmlofes Ende machte. Ein einziges Mal hatte er die Mittel der Raub»
ritterzeit anzumenden verjucht und fich die größte Niederlage feines Lebens
geholt. Wer hajtig aber mit dem Urtheil bei der Hand ift, Rhodes habe im
Zransvaalfrieg feinen und Englands ganzen Einjat verjpielt, Der jollte be—
denen, daß unjer größter Staatsmann gejagt hat: „Dem Auge des unzünf-
tigen Politifers erjcheint jeder Schachzug im Spiel wie das Ende der Bartie.“
An den Britenfrieg gegen die Buren heftet ſich der Haß, weil er der
erjte mit den Waffen des Großfapitalismus geführte, der erjte unromantische
Krieg iſt und die Händlervölfer erfennen lehrt, wohin fie gehen. Und Cecil
Rhodes wird geſchmäht und bejpien, weil die entjegt zufchauende Menfchheit
ſich nicht geftehen will, daß er der Erponent ihres Wünjchens war, ohne
wichtiges Amt, ohne hohen Titel der erjte Politiker, der das Arjenal des
Macchiavellismus nach dem Bedürfniß der Induſtriezeit umzugeſtalten wagte.
Wir werden noch oft Seinesgleichen erſehnen und froh ſein, wenn ſeine Wils
lensartvon jeiner Willensfraft bedientwird. DerZagmwirdfommen, wo man
die Handelnden, die ganze Bölfer von der Verantwortung entbürden und
den Diuth zu weltgejchichtlichen Vertragsbrüchen haben, nicht mehr nad) ihrer
moralijchen Beichaffenheit fragt, fondern nad) dem Nuten, den fie der Hei«
math gebracht haben. Dann werden die Kolportageromane vergefjen fein
und von dem Mann, den man jett, mit einem aus Neid und Verachtung
gemijchten Gefühl, den Diamantenfönig nennt, wird es heißen: Er hat ſich
nicht geicheut, unpopulär zu ſein, und, mit befledtem Gewand, durd) Blut
und Koth jenem Volk den aufwärts führenden Weg in die Zufunft gebahnt.
+
Pandynamismus, 7
Pandynamismus.
Sr giebt einen Typus mittelalterlichen Denkens, der den einzelnen, bisher
noch jehr wenig erforjchten Abwandlungen mittelalterlihen Denkens
überhaupt zu Grunde liegt und für die Auffafjung eben fo ſehr noch des
fünfzehnten wie fchon des zehnten Jahrhunderts bezeichnend it. Man fann
ihn al3 Typus des Analogiefchluffes bezeichnen. Zum genaueren Verſtändn
zwei Beijpiele. Ein Biſchof des zehnten Jahrhunderts in ſchon hohem
Lebensalter betritt, nach einer Gejchichtquelle diefer Zeit, um einem affetifchen
Bedürfniß zu genügen, abends in bloßen Füßen, nur mit einem härenen
Gewand angethan, feine Kathedrale und fchläft nachts auf den falten Steinen
des Bodens. Kurze Zeit darauf ftirbt er. Wir würden geneigt fein, feinen
Tod als Folge einer jchweren Erkältung zu betrachten. Das zehnte Jahr—
hundert jchlieft anders. Wie der Herr Mofe gejagt habe, als er ihm im
brennenden Dornbufh erichien: Ziehe Deine Schuhe aus von Deinen Füßen,
denn der Drt, den Du betreten wirft, ift heilig: jo habe der Biſchof im
prophetifcher VBorahnung des Tages, da er zu des Herrn Herrlichkeit eingehen
werde, jich barfuß in das Haus Gottes begeben, un darauf zu fterben.
Das andere Beifpiel aus dem fpäteren Mittelalter. Damals war es ge:
mwöhnlid, den Papſt mit der Sonne, den Staifer mit dem Mond zu vers
gleichen. Hieraus fchliefen die kanoniſchen Nechtslehrer der Zeit — und
noch der geiltig fo hoch ftehende Kardinal Nifolaus von Kues wiederholt
um 1430 diefen Schluß —, daß der Papſt genau um fo viel dem Kaifer
an Autorität überlegen ei, wie die Sonne den Mond an Größe übertreffe.
Mas ift das Gemeinjame beider mittelalterlichen Schlüſſe? Sie fchreiten
von der Parallelifirung zweier Verhältuiffe, die einander in gewilien Punkten
ähnlich oder auch gleich find, zu deren völliger Fdentifizirung in allen Punkten
fort und entnehmen diefem Verfahren für das eine der verglichenen Verhältniffe
gewifje, als völlig logiid betrachtete Folgerungen. Es ift eine Art deg
Schließens, wie jie auch heute noch bei Kindern und im täglichen Leben oft
genug vorkommt. Im Mittelalter aber gehört fie dem wiflenfchaftlichen und
überhaupt dem jtreng überlegten Denfen an: in unzähligen allgemeinen Zus
fammenhängen dieſes Denfens tritt fie zu Tage. So beruht die ganze Art
des Mittelalters, geijtreich zu fein, auf ihr. Gseiftreih waren im Mittel:
alter Räthſelreden; geiftreich war es zum Beifpiel, wenn Kaifer Konrad auf
bie Meldung des frühzeitigen Todes des Herzogs Eruft von Schwaben,
feines erbitterten Gegners, die Antwort gab: „ES fcheint, daß das Geſchlecht
bifjiger Hunde nicht alt werde.“ Hier wie in verwandten Räthſelreden iſt
es immer das Moment fcharfiinnigen und unerwarteten Analogiefchlufies,
das den mittelalterlichen Hörer entzüct. In diefem Zinne find daher auch
8 Die Zukunft.
bie Predigten angelegt: fie wimmeln von Analogien, die zu beflimmten
Schlüſſen benutzt werden. So hat noch Luther gepredigt; und noch heute ift
auf dieſem Gebiet der mittelalterliche Gebrauch des Analogiefchluffes nicht
völlig verfchwunden. Aber diefer Schluß reicht viel tiefer in die mittel:
alterliche Theologie hinein: Typus und Antitypus des Alten und Neuen
Teſtaments, die Gleichfegung etwa der Aufrichtung der ehernen Schlange in
der Wüfte mit der Kreuzigung Chriſti im vorbedeutenden Sinn und taufend
andere Sleichjegungen gehören ihm an. Wie er in das Staatsrecht eingriff,
bat ſchon vorhin ein Beifpiel gezeigt. Und auch in anderen Wiflenfchaften,
fo weit dieſe nicht auf der bloßen Ueberlieferung der Alten beruhten, zum
Beifpiel in dem Phyfiologus der Naturgefchichte, dem Lehren von den fonder:
baren Eigenjchaften der Thiere, herrfchte er im gleicher Weiſe: er war der
eigentlih charakteriftiihe Schluß des Mittelalters.
Auf welcher tieferen Grundlage beruht er nun? Er ift nah unferen
Begriffen voreilig, da er aus dem AZutreffen einiger Vergleichsmomente auf
das Zutreffen aud) der anderen ſchließt, under ift e8, weil er auf der Grund:
fage zu geringer Erfahrung gebildet wird. Geringe Erfahrung, enger Hori—
zont: Das ijt feine eigentliche Vorausfegung. Und von diefer Seite her
erflärt fih ohne Weiteres auch fein inniger, in dem erften der vorhin er—
zählten Beifpiele Har zu Tage tretender Zufammenhang mit dem das ganze
Mittelalter hindurch verbreiteten, wenn auch mit wachienden Jahrhunderten
abnehmenden Wunderglauben.
Dem Wunderglauben fteht gegenüber die Annahme, daß alle Dinge
in ihrem Verlauf durch einen unverbrücdlichen Zufammenhang von Urfache
und Wirkung verbunden feien. Wie gelangen wir zu diefer Annahme? Das
Bewußtſein und die Anwendung des Zufammenhanges von Urfache und
Wirkung ftellt jich bei uns dadurd) ein; daß wir beobachten, wie beftimmten
Vorgängen de3 Gefchehend immer wieder und ganz regelmäßig oder geſetz—
mäßig andere beftimmte Vorgänge folgen: eine ſolche regelmäßige Folge ers
Scheint uns unter dem Geſichtspunkt der Kaufalität, des Zufammenhanges
von Urfache und Wirkung. Unfer Kaufalitätbewuftfein it alfo gebunden
an die Erfahrung; mit erweiterter Erfahrung nimmt e$ zu, mit engerer Er=
fahrung nimmt es ab. Sit es fo weit durchgebildet, daß es weitaus die
meilten und vor Allem auch die wichtigsten aller Vorgänge ih in erfahrung:
mäßig Schon gegebenen Zufammenhängen vollziehen ſieht, jo zieht e8 daraus
den Schluß, daß auch für den Neft der Erfcheinungen ſolche Zufammenhänge,
Regelmäßigkeiten oder Gefegmärigfeiten des Aufeinanders vorhanden fein
werden: umd gelangt damit zur Annahme eines die Welt der Erjicheinungen
unverbrüchlich beherrichenden Zufammenhanges, der das Wunder ausfchliekt.
Tas abfolute Saufalitätbewuitfein ift mithin ein langfam gezeitigted Er—
"og
Pandyramismus,. 9
zeugniß ausgedehnter Erfahrung, das dem Bewußtſein des Wunders wider:
fpriht: und im diefem Sinn verftärft es fih im der europäifchen Völker—
gruppe noch heute von Tag zu Tag.
Im Mittelalter aber war ein folches Kauſalitätbewußtſein erſt in fehr
geringem Grade vorhanden. Der geiltige Horizont des Einzelnen war eng,
die Erfahrungen fchlofjen ſich auch bei den Höchititehenden erft felten zu einer
folchen Intenſität des Drudes auf das Denken zufammen, daß jie ein mög—
lichſt ſtarkes Kauſalitätbewußtſein vermittelten: ale Welt lebte daher noch
im Analogiefhluß und im Bewußtſein der Wunder.
Nun iſt gewiß auch heute der Wunderglaube noch keineswegs ausge—
ftorben. Gehen wir aber ins achtzehnte Jahrhundert zurüd, fo finden wir
ihr noch viel ausgefprochener vorhanden. Männer wie Wald und Wolff,
der Hiftorifer und der Philofoph, wie Eruiius und Baumgarten, der Piycholog
und der Aeſthetiker, haben nicht blos an die Nealität der Geſpenſter geglaubt,
fonbern find auch noch öffentlich für fie eingetreten; und ſelbſt Leſſing hat
noch über die Gejpenfterfeinde den Stab gebrochen. Aber freilich mußten ſich
im achtzehnten Jahrhundert die Gefpenfter fchon rar machen. Ganz anders
dagegen in den beiden vorhergehenden Jahrhunderten. Es iſt befannt, daß
diefe Jahrhunderte vornehmlich die Zeiten de3 Herenwahnes und der Magie
waren; und erit der Karteſianer und reformirte Pfarrer Balthafar Bekker, ein
Niederländer, ift in feiner „Bezauberten Welt“, die 1691 bis 1693 erfchien,
grundfäglich gegen den Herenglauben aufgetreten. Dafür ward er freilich
auch de3 Uebermuthes bejchuldigt und feines Amtes entſetzt. Und doc) ver—
neinte er feinesmwegs ſchon den Glauben an einen perfönlichen Teufel und
den Geijterglauben am jich, fondern behauptete nur, der Teufel jei nur noch
in der Hölle zu finden und führe, wie alle Geifter, ein von diefer Welt völlig
abgefchiedenes Leben. Gehen wir aber von Belfer nur einige Generationen
zurüd, jo ſtoßen wir auf den völlig befangenen Wunderglauben Melanch—
thons und die handfeiten Teufelsvoritellungen Luthers.
Die neuere Zeit ift aljo keineswegs durch ein abſolutes Aufhören des
Wunderglaubens und damit auch des unvollfommenen Analogieichlufies vom
Mittelalter getrennt: e8 handelt ſich nur um gradweiſe fühlbare Unterjchiede
und taufend Fäden verbinden das Denken von heute noch mit dem nicht nur
des Mittelalters, fondern fogar der Uxzeit.
Gleichwohl ging am Schluß des Mlittelalter8 und vornehmlich dann
im fechzehnten Jahrhundert eine Veränderung des Denkens vor fich, die von
größter Bedeutung it und unmittelbar hinüberführt in das Denken neuerer Zeiten.
Der Offenbarungsglaube des Chriſtenthums mit feinen Wundern hatte
bem mittelalterlichen Denken völlig entjprochen: und darum hatte er aud) eine
allgemeine und gänzlich unbezweifelte Anerlennung gefunden, mochte man auch
10 Die Zukunft.
die einfachen Erzählungen des Neuen Tejtamentes anfangs mehr im Ginne
der deutjchen Epen des fechsten bis neunten Jahrhunderts, fpäter in Hiftorifch
mehr geflärter Auffaffung verftanden haben. Dem entiprechend war denn
auch der Dberbau der chriftlichen Offenbarungtradition, das Syſtem der kirch—
lichen Dogmen, nicht nur im Sinne des Gehorfams gegen fie, fondern in
dem gläubiger Einfalt hingenommen worden. Und auch am Schluß des
Mittelalter8 war man noch weit davon entfernt, diefe geiftige Dispofition zu
verlafien. Allein trogdem ftrebte man doch allmählid nad) einem Verftändnik
der Erſcheinungwelt auch neben dem SKirchenglauben und außerhalb der in
aller Fülle nur wenigen Geiftern zugänglichen antifen Ueberlieferung: die erften
Triebe einer eigenen Gefammtauffafjung des ſinnlich wahrnehmbaren Ganzen
unferer Umgebung regten fi. Sie traten ein zu der Zeit, da zum eriten
Male die äfthetiiche Auffaflungsgabe in dem realiftifhen Kontur wie der
lokalen Farbengebung und Perſpeltive der Malerei des fünfzehnten und
fechzehnten Jahrhunderts der Außenwelt als eines dreidimenfionalen Ganzen
innegeworden war: war die äufere Anfchauung gewonnen, jo wurde nun
der Verfuch gemacht, auch ihre inneren Beziehungen zu beherrichen. Es find
die erften Anfänge wirklich felbjtändigen wiffenfchaftlichen Denkens in weiteren
Kreifen; und jie fnüpfen noch an die ausgebildeten Methoden des mittel=
alterlichen Denkens an.
Es ijt Har, welche allgemeine Auffaflung das Ergebnik fo zufanmen:
treffender Umſtände fein muhte. Indem man zu jedem Vorgang der ſinn—
lichen Erfcheinungwelt eine Analogie im Sinne einer ihn deutenden Thatſache
auffuchte und dabei durch faft feinerlei Erfahrung gebunten war, deren Aus-
dehnung fchon den Nachweis von Gefegmäßigfeiten erfordert hätte, gelangte
man zu der BVorftellung einer geiftigen Welt als einer Analogiewelt von
Kräften, die hinter der jihtbaren Welt ftehe und fie feite: ein grundfäglicher
Pandynamismus war die Folge. Sah man ji) aber veranlaft, nun diefen
Pandynamismus in ein Syſtem zu bringen, die Kräfte zu bemeffen und im
gegenfeitigen Zufammenhang zu verfegen, die hinter den Couliffen gleihfam
der Erjcheinungwelt diefe beherrichen jollten, fo waren in der Entwidelung
des jpäteren Mlittelalter8 eine Menge von Thatfachen gegeben, die diefen
Drang, abgejehen von den ihm jelbft innewohnenden fachlichen Geſichts—
punkten, in bejtimmte Bahnen leiten konnten.
Aus dem Eigenjten der deutichen Entwidelung fam hier vor Allen
die Myſtik in Betracht. War die enthufiaftifche Myſtik des vierzehnten Jahr⸗
hunderts zunächſt darauf ausgegangen, in intellektueller Verzückung wenigſtens
zeitweiſe eine Vereinigung der Seele mit Gott herbeizuführen, und ſah man
ſich faſt dazu gedrängt, hinter all den Kräften, die ſich in der Welt der Er—
ſcheinungen auswirkten, im tieſſten Grunde eine wieder die Kräfte umfaſſende
Pandynamismus, 11
und bewegende Urkraft anzunehmen, die da nur fein konnte Gott: fo Tiegt
auf der Hand, daß im der myſtiſchen Intuition recht eigentlich die willen:
ſchaftliche Methode diefes neuen Denkens gegeben war, daß allein durch eine
intellektuelle VBerzüdung, durch ein Aufgehen im die Urfraft und womöglich
deren Beherrſchen die Möglichkeit eines vollen Berftändniffes der Er-
ſcheinungwelt al3 gegeben erichien.
Wie aber dieſe Intuition, dieſe Bezwingung des Geifte8 und der
Kraft herbeiführen? Auch hier ftellte die Tradition, freilich eine foldhe vor=
nehmlich nicht heimischen, fondern jüdifch-arabifch-fpanisch:italienifchen Charak—
ter3, die Mittel zur Verfügung: Alchemie, Aftrologie und vor Allem Magie
fonnten hier helfen.
Die klaſſiſche Ueberlieferung aber fügte der Intuition, dem myſtiſchen
. Hebelpunft des Erfennens, und den Methoden, dieſer Intuition nahe zu treten,
für den pandynamijchen Drang der Zeit noch ein Weiteres hinzu: ein ganzes
Syſtem pandynamifcher Auffaflung: die Lehre der Neuplatonifer.
Plato Hatte, wie jest wohl mit ziemlicher Sicherheit feititeht, aus
feiner Lieblingswiffenichaft, der Mathematik, Heraus den Begriff der dee
entwidelt: die geometrifche Methode, der Beweis durch ein Schema hatte ihm den
Gegenſatz zwijchen Idee gleich Urbild und Ding gleich Abbild jenes Urbildes
bermittelt.*) Stand aber Hinter der Welt der Erfcheinungen eine Welt der,
UÜrbilder diejer, fo trat für diefe jenfeitige Welt al3bald das Problem auf,
wie jie denn entitanden ſei und wie jie auf die Welt der Erfceinungen
wirfe. Es ift eine Frage, die im Neuplatonismus gelöft worden war durch
den Aufbau einer geiftreichen Miythologie von Gott als der Urkraft von ihr
ausgehender Kräfte, die jich in die fichtbare Welt der Erfcheinungen hineinergießen.
Konnte irgend eine Lehre der Vergangenheit der geiitigen Dispofition
des fünfzehnten Jahrhunderts entiprechender erjcheinen als diefe? In Italien
zunächit ſtieg der Kult der platoniſchen Philofophie zu jo bedenklicher Höhe,
daß das Laterankonzil im Jahre 1512 gegen ihn — und bezeichnender Weife
nur verftedt — einfchritt; und bald folgte ihm das Studium der Neu—
platonifer; fhon Marjilius Ficinus (1433 bis 1499) hat nicht nur Plato,
fondern auch Plotin überfegt. Und von alien verbreiteten ſich Platonismus
und Neuplatonismus auch nadı Deutichland; überall in dem fortichreitenden
Denken des jechzehnten Jahrhunderts laſſen ih ihre Spuren erkennen.
Dennoch haben fie diefes Denken in Deutichland nicht beherricht: fie waren
nur ein überreifer und raffinirter Beitrag des Alterthumes zur diefem, das die
Probleme zunächſt viel jinnlicher und einfacher aufgriff und daher nicht fo
fehr einer pandynamifchen Metaphyif wie einer pandynamiſchen Natur—
wiſſenſchaft zujteuerte.
*) Cohen, Platons Ideenlehre und die Mathematik, S. 24.
Die Zufmft.
Freilich gefchah Das in enthuſiaſtiſchen Formen. Wie einft die Ritter-
ſchaft der Stauferzeit in poetifcher Begeifterung der neuen, gehobenen Bildung
ihres Standes froh geworden war und Vergangenheit wie Gegenwart fidh
nur in den Formen der Dichtung hatte nahe bringen wollen, von der Epif
von Veldeles und den Sagen des Artugfreifes an bis zum verfifizirten
Steinbuch und zur gereimten Tifchzucht, fo waren auch die Geijteshelden bes
neuen Denfend weit davon entfernt, die Löfung der erften großen Geheimnifje
der natürlichen Erfcheinungwelt mit Hebel und Schrauben erzwingen zu wollen.
Schauen vielmehr wollten jie, um mit dem goethifchen Fauft, diefem herr=
lihften und perfönlichiten Inbegriff ihrer Geiftesverfaffung, zu reden:
Wie Alles fih zum Ganzen webt,
Eins mit dem Andern wirft und lebt,
Wie Dimmelskräfte auf: und niederjteigen
Und fi) die goldnen Eimer reichen,
Mit jegenduftenden Schwingen
Bom Himmel durd die Erde dringen,
Harmoniſch all das All durchdringen,
So allen Hoffnungen einer verftandesmähigen Verzüdung lebend,
glaubten jie an Univerjalmittel der Erfenntnif, die den Menfchen über fich
hinaus zum Genoffen der fchaffenden Kräfte erheben könnten; und indem
fie alles Werden von geiitigen, durch fie beeinflußbaren Mächten durchmweht
dachten, ergaben fie ih im phantaftifchen Bewußtſein erfenntnißtheoretifcher
Forſchung den Künſten der Magie und der aftrologischen “Praxis.
Die Heimath einer auf folhe Grundlage geftellten Naturwiſſenſchaft
ift zunächſt Italien gewefen; und auf dem geiftigen Boden diefer Natur:
wiffenschaft find hier die großen naturphilofophifchen Syiteme eines Telejto,
Gampanella, Giordano Bruno, Syſteme einer vollen Metaphyſik, erwachien.
Denn den Anhängern diefer Wilfenfchaft erfchien in den Kräften der Natur
das geheimnifvolle Walten Gottes wahrnehmbar und als tiefſte Voraus:
fegung ihres Denkens ergab jich ihnen ein naturaliftifcher Pantheismus.
Von Italien her ward die Lehre dann auch in Deutichland aufge
nommen; eigenes Forfchen, Wirkungen des mittelalterlichen und des täufe
rifhen Myſtizismus, Einflüfe des Neuplatonismus und aud) der pytha=
goräifchen Zahlenmyſtik, Anſchauungen endlich der Kabbala verknüpften ſich
mit ihr in dem Denfen Reuchlins (1455 bis 1522) wie Agrippa® von
Nettesheim (1487 bis 1535). In eine klarere Form aber brachte diefe
gährende Maffe wohl erſt Melanchthon, diefer große kompilatoriſche Beherr:
fcher de8 Denkens jeiner Zeit. Sein Lefebuh der Phyſik, das ji im
Uebrigen an Ariftoteles anlehnt, fcheidet doch die fubjtantialen Formen des
Stagiriten aus und behält nur cin buntes Gewimmel von Kräften al8 Er—
Pandynamismus. 13
klärungsgrund der Welt der Erſcheinungen zurück: Gott; die Kräfte der
Geſtirne; die Gegenfäge, die im den Elementen wirken; die Materie, die
vegetativen, die animaliſchen, die vernünftigen Eeelenfräfte. Und indem e8
der Nothwendigfeit der Natur ein Reich der Freiheit in Gott und in allen
guten und böfen Geijtern, ſowie des Negellofen im Fluß der Materie ent-
gegenſetzt, läft e8 den Zufall unaufhörlic aus der Unruhe der Materie und
der Freiheit des Geiftes quillen und ich in taufend gefonderten Kräften ausftrahlen.
War es nun möglich, von ſolchen Prinzipien her die einzelnen Dis—
ziplinen der Naturwiſſenſchaften verftändig zu entwideln? Je einfachere
Grundlagen gefucht wurden, um fo mehr trat ihre Unwirflichfeit ans Tages:
fiht. Nur in einer Disziplin daher, die die Ergebniffe der Naturwiſſen—
fhaften jeweilig ind Ganze zufammenfaflend nußt, in der Medizin, wurde
dieſe pandynamifche Naturwiffenfchaft anwendbar und praftifh. Hier wurten
vor Allem die verworrenen, abenteuerlichen, mit einer Unfumme von Quaf:
falbereien durchjegten und dennoch eines großes Zuges nicht entbehrenden
Gedanfenreihen des Theophraftus Bombaftus Paracelfus von Einfluß, eines
unfteten Gejellen, der, 1493 zu Einjiedeln geboren, ein medizinischer Wanders—
mann und Allerweltmenjch, eine Zeit lang Profeffor der Chemie in Bafel,
1541 zu Salzburg geftorben ift. Theophraſtus erſchien das ganze Weltall
von einer göttlichen Weltfeele durchweht, dem Vulcanus; und die phantaftifch
gedachten Kräfte diefes Vulcanus durchdrangen dann das Univerfum wie das
Einzelne. Der Menſch aber war ihm der mifrofosmische Auszug und Ins
begriff diefes Univerfums; in ihm fpiegelten ſich und wirkten alle Kräfte des
Ganzen; nur trat zur ihnen, wie für jedes Einzelwefen, noch ein befonderes
Prinzip der Individuation, ein fpezieller und perjönlicher Geiſt, der Lebens—
geift, der Archeus. So war ihm die Welt, die Heimftätte des Univerſal—
geiftes, voll von einzelnen Lebensgeiftern, die einander fördern, anfechten, zu
vernichten drohen; und die Krankheiten waren Kämpfe folcher fremden Geifter
gegen den ſpezifiſchen Geift des einzelnen, perfönlichen Lıbens,
Was für eine kraus und abenteuerlih hypoſtaſirende Gedanfenwelt!
Und doc wiederum wie vol großer metaphyischer und erkenntnißtheoretiſcher
Ahnungen, wie angefüllt von aufYänmernden Problemen der Philofophie
Leibnizens und der Nıichfolger Kants! So begreift man, daß die Lehre des
Paracelius noch auf Generationen nachwirkte, ohne eigentlich fortgebildet zu
werden. Eine gewaltige Reihe von paraceliiichen Aerzten und Denfern auf
naturwiſſenſchaftlichem Gebiet füllt mit Bergen monotoner Schriften, immer
tiefer in Geheimnikfrämerei verlinfend, das fechzehnte und zum Theil noch
da3 fiebenzehnte Jahrhundert; aus ıhrer Mitte iſt die einflunreiche Roſen—
freuzergefellihaft hervorgegangen; und in ten Niederlanden, der Heimſtätte
bald der größten medizinischen Hortichritte, haben noch die beiden Helmont,
X
\
14 Die Zuhmft.
Bater und Sohn, auf der abgeflärteren Gedankenwelt des Paracelfus fortgebaut.
Für die empirische Entwidelung der reinen Naturwifjenfchaften freilich blieb
da3 Syftem de3 Paracelfus im Einzelnen eben fo unfruchtbar wie die pan=
dynamische Naturwiffenfchaft überhaupt. Sie war ein erfter Rauſch, der,
bervorgehend aus jugendlih emporquellender Ueberihägung der menfchlichen,
eben erſt zur Freiheit emporfteigenden Erkenntninfräfte, die neu gewonnene
Möglichkeit ungeftörten Naturerkennens begleitete: fie fonnte die nüchterne
Theorie allenfalls anregen helfen; fie zu begründen vermochte fie nicht.
Snzwifchen aber war über das bloße, von den allgemeinen Fragen
der Philofophie im diefem Falle Freilich befonders unklar und wirkunglos
geichiedene Reich des Naturerfennens fchon etwas Weiteres emporgewachſen:
Berfuche der Begründung einer allgemeinen Weltanfhauung auf Grund des
angeblich gewonnenen Willens. Es find Verfuche von befonderer Wichtiges
keit. Denn in ihnen zum erften Male zeigt ich, freilich in hartem Ringen
und felbft im beiten Falle ohne vollen Erfolg, das Beitreben, neben der chrift=
lichen Offenbarung, deren Weltanihauung die einzige des Mittelalter8 ges
wefen war, eine andere, von ihr unabhängige Philofophie und Metaphyfil
zu begründen: es find erfte, ftammelnde Bejtrebungen, die Sprache eines
eigenen Geiſtes der Zeit zu reden.
Gewiß verlaufen jie noch nicht im ausgefprochenen Gegenfag zum
Chriſtenthum. Anknüpfend vielmehr an die mittelalterlihe Myſtik und wie
diefe bis zu einem gewiffen Grade auferfirchlich, aber nicht auferchriftlich,
bleiben fie nur, je länger, je mehr, von den allgemein anerkannten Formus
lirungen der chriftlichen Lehre fern: was fie denn freilich, bei allem Feſthalten
an einzelnen chriftlichen Gedanfen und an einigen Hauptſtützpunkten der chrift=
lihen Dogmatik, fchlieklich zur Löfung von der Offenbarungtradition und
zum Auffuchen eines völlig eigenen Standpunftes hindrängt.
Es ift im diefer Hinficht bezeichnend, daß die Neihe der hier zu
nennenden Philofophen in der erjten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts
mit Nikolaus von Kues, einem Kardinal der heiligen römischen Kirche, be—
ginnt und mit dem gottjeligen proteftantiichen Echufter Jacob Boehme zu
Görlig im Anfang des fiebenzehnten Jahrhunderts abſchließt.
In Kues iſt, bei allen Verſuchen, im Neiche der Erfahrung aud
empirisch zu forſchen, ein fauftiicher Zug; mehr als Andere leitet er jene
Periode des Denkens mit ein, da in ungeftümen: Angriff und mit einem Zuge
erfannt werden fol, was die Welt im Innerſten zufammenhält. In diefem
Sinn fuht Kues, als Sohn der eriten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts
noch an den Gegenfag de8 Nominalismus und Realismus anfnüpfend, zus
nächſt eine höhere Verfühnung diejer Gegenfüge. Gewiß, meint er, habe die
empiriſche Forſchung vor Allen das Weſen der einzelnen Dinge feitzuftellen
— *9
Pandynamismus, 15
und damit die Erfahrung in unendlichem Fortgang zu bereichern. Aber
daneben ftehe doch zu gleichem Recht die Aufgabe, das Ganze zu erfennen
und die Gegenjäge der Welt dem harmonifchen Gedanken eines unendlichen
Univerfums unterzuordnen; mit etwas flareren Begriffen, als Kues fie hatte,
ausgedrüdt: die Induktion müſſe durch Deduftion ergänzt werden. Dies
fönne num freilih nur in dem Gewinn einer höheren erfenntnigtheoretifchen
Einheit erreicht werden. Wie aber diefe finden? Hier ift der Bunft, wo die
Lehren des Eufaner3 ind Myſtiſche umfchlagen. Nur in unmittelbarer
Anſchauung, nur in einer durd) höhere Vernunft beivirkten Intuition, in einer
comprehensio incomprehensibilis fünne Das gefchehen. Diefe aber fei
nur auf dem Boden der Kirche verbürgt. Und fo ift Schließlich eine freiere
myſtiſche Theologie zu leiften berufen, was der Verſtand der BVerftändigen
nicht vermag.
Bewegt fih Kues wie eine Heine Zahl umbedentenderer Nachfolger
während des fünfzehitten Jahrhunderts fcheinbar no ganz auf dem Boden
der Kirche und bildet er perfönlich im der vollen Ueberzeugung forrefter Kirch:
fichfeit nur die wyſtiſche Erfenntnißtheorie, nicht aber das myſtiſche Syſtem
genauer aus, fo werden die Naturphilofophen des jechzehnten, des Jahr:
hundert3 der reformatorifchen Löſung der Geilter, weit fühner. Und es ift
fein Wunder, daß wir fie vornehmlich im Lager des Protejtantismus und
noch mehr in dem des Wiedertäuferthumes und feiner Abzweigungen finden.
Hier entfalten fie num zunächſt die Vorausfegungen einer jpefulativen
panentheijtifchen Theologie. Sie betrachten die gefchichtlichen Heilsthatfachen
des Chriftenthumes wie die aus ihnen emtwidelte dogmatifche Begriffsmwelt
nicht mehr al3 nur einmal gefchehen und als auf finguläre hiftorifche That:
fachen aufgebaut, fondern fie nehmen an, daß in ihnen nur der geichichtlich
fymbolifirte Ausdrud eined allgemeinen, ſich ftetig im jedem Menfchen in
feinem Berhältnig zu Gott wiederholenden Zufammenhanges vorliege, der
zeitlo8 und dauernd in der Natur der Dienfchen, der Dinge und Gottes begründet
fei. Dabei iſt Chriſtus als der die Welt durchwaltende Logos die Grund
vorftelung und die Methode de3 Denkens ift die hergebrachte der Myſtik.
In der Nichtung diefer Vorjtellungen hat ſchon Caſpar Schwenckfeld
gedacht, ein anfangs Luther begeijtert anhängender, ſpäter von der protejtantifchen
Kirche verfolgter Theologe; mit befonderer Deutlichkeit aber traten fie zum
eriten Male in Sebaftian Frand, dem geiftreichen Hiftorifer und Pubfliziften,
hervor. Dem Denken Francks ijt Gott eine „Frei ausgegoſſene Güte, eine
wirkende Kraft, die in allen Sreaturen weſet“, und feine Offenbarung ges
ſchieht täglih und ftündlich in uns. In uns lebt Chrijtus und Adam, gutes
und böfes Prinzip; in ung wiederholt fih der Cündenfall; in uns wird die
Selbjterlöfung des Menfchen durch) den ihm eimwohnenden Chrijtus und
16 Die Zukunft.
die Gnadenwirkung Gottes zu einer ewig erneuten, gejegmäßigen, typifchen
Thatfache. So ift denn Frand die chriftliche Offenbarung als gejchichtliche
Thatjache nur Unterlage einer philofophifchen Symbolik; die Heilige Schrift
ift ihm eine ewige Allegorie und ihre Deutung in diefem Sinne wırd von
ihm nach myitischer Methode vom Standpunkte des panentheiftifchen Glaubens
an die Eriftenz allwirfender feelicher Kräfte durchgeführt.
Frand ift, wie faft alle Seinesgleichen, einfam und verlaſſen dahin-
gegangen, in tiefem, entfagungvollem Ringen, in äußerer Unraft und Flüchtig-
feit und in verzehrender Sehnſucht nad einem künftigen Zufammenfein mit
allen gottfrommen, gutherzigen Dienfchen: „in und bei diefer Kirche bin, zur
der ſehne ich mic; mit meinem Geiſt, wo fie zerftreut unter dem Heiden und
Unfraut umfähret.“
Die panentheiftifche Theologie Frands und verwandter Geifter vertrug
nur eine Fortbildung: fie mußte durch volle Einführung des pandynamiichen
Natuerkennens eines Paracelfus und feiner Nachfolger» zu einer allgemeinen
fei e8 pantheiftifchen, fei es panentheiftifchen Weltanjchauung erweitert werden.
In diefer Richtung brachte die Lehre Valentin Weigels, eines Sachſen,
der 1533 zu Großenhain geboren und 1588 als Pfarrer zu Zſchopau ges
ftorben ift, den erften wejentlicheren Fortſchritt. Vor Allem wird bei. ihm
deutlicher als bisher das myſtiſche Erfenntnißprinzip der Verzüdung durch
das klarere des jubjektiven Erfennens erſetzt: unzweideutig fpricht er es aus,
daß man willen und verftehen fünne nur Das, was man in ſich trage; daß
mithin die Welt uns Gegenftand der Erfenntniß nur fein könne, weil und
infofern wir Mifrofosmen find. In der Anwendung diefes erfenntniß-
theoretifchen Prinzips aber wandelt Weigel gänzlich die Bahnen des pan—
dynamischen Naturerfennens: wir erfennen die irdifche Welt, weil unfer Leib
die Quintefjenz aller weltlichen Subſtanzen ift; wir erfennen die Welt der
Geiſter und Engel, weil unfer Geift jiderifchen Urjprungs und ein Engel
it; wir erkennen Gott, weil unfere Seele vom göttlichen Weſen ausgeht und,
an Gott theilnehmend, göttliche Nahrung erhält in den Safranıenten. Iſt
in diefer Lehre die Ahnung einer künftigen fubjektivijtiichen Erkenntnißtheorie,
wie fie voll erſt Kant entwickelt hat, durch die Auffaffung der Saframente
al3 der Hilfsmittel verzüdıen Schauens noch mit der myftifchen Erkenntniß—
theorie verbunden, während die panentheiftiiche Theologie zu den Grundlagen
wenigitens einer allgemeinen panentheiftiichen Metaphyif erweitert ift, fo ſieht
man doc deutlich nocd die Altes und Neue unausgeglihen zufammen-
haltenden Nähte und die allgemeinen metaphyſiſchen Piinzipien find noch nicht
zu einem Syſtem erweitert. Diefe Mängel überwand und damit den Abſchluß
der ganzen theofophiichen Naturphilofophie des fechzehnten Jahrhundert brachte
Jakob Bochme. In ihm leben noch einmal alle die Tendenzen auf, die in
Pandynamismus. 17
der ſelbſtändigen Philoſophie des ſechzehnten Fahıhunderts zuſammenſtrömen,
und ſie finden in ihm ihren Hauptrichtungen nach auch einen harmoniſchen
Abſchluß. Von inniger kirchlicher Frömmigkeit, in der Zeit feiner Wanderungen
beim brennenden Holzipahn abendlicher Unterhaltungen noch in die legte
Refte mittelalterlicher Myftif und neueren Wiedertäuferthumes eingeweiht, wie
fie unter Handwerkern und Kleinbürgern da und dort fortglühten, voll regen
Wiffensdranges in jene Bücher des Paracelfus umd feiner Genofjen ein=
dringend, die ihm die fremden „Sngredienzien de3 pandynamifchen Natur:
erfennend jchon in verarbeiteter Form vermittelten, iſt Boehme, einem
genialen, ihn unabläſſig vorwärtstreibenden Schaffenstrieb folgend, zum legten
wahrhaft großen Theofophen unferer Nation geworden und damit zugleich
zum eriten neuhochdeutſchen Klafjifer der philofophiichen Sprache. Zwar
hält er ſich noch nicht in dem firengen Schranfen einer mit unverbrüchlicher
Zangmweiligkeit gebrauchten Terminologie; als ein Dichter und ein Prophet
wählt er vielmehr feine Worte, wie fie der Geift ihm eingiebt, oft mit
höchſtem Schwung der Phantafie, oft in fchwerem Ringen mit der ſprachhaft
zu geftaltenden dee: aber gerade diefem Ringen und diefem Schwung ver:
dankt unfere Sprache einen ungemeinen Reichtum neuer Wortbildungen, in-
fofern jie Werkzeug höheren Denkens werden follte.
Was Boehme fachlich zunächft bewegt, ift das für die ganze Epoche
jo überaus charafteriftiiche Bedürfniß nad Erlöſung. Von diefem perſön—
fihen Bedürfniß indefjen fpringt er al3bald über auf den großen Gegen:
iag von Böſe und Gut, und indem er diefen Gegenjag feiner Entftehung
nah bi8 zum Urfprung zurüd verfolgt, wird er der folgenfchweren Frage
zugeführt, wie das Zufammenfein von Böfe und Gut in Gott als dem
Schöpfer aller Dinge zu denfen jei. Und indem er dann weiter dieſes
Problem faum anders al3 in der Form evolutioniftiicher Anſchauung lösbar
erfennt, wird er aus den ethifchen Betrachtungen hinübergetragen in kosmo—
gonifche: und al3bald verknüpfen jich die Bedürfniffe feines empfindfamen
und gemarterten Herzens mit den theofophiichen Spekulationen der Naturaliften.
In Gott waren, wie Licht und Finfternig, die als Gegenfäge auf einander
angewieſen find und deren eines nicht gedacht werden kann ohne die Vor:
jtellung des anderen, jo auch Gut und Böfe uranfänglic) vorhanden: ja,
Gott iſt uranfänglich recht eigentlich die Ausgleihung der Gegenfäge, die
coincidentia oppositorum. Aber aus ihm, dem Alles und Nichts, dem
weder Licht noch Finjternig, dem weder Böſe noch Gut, haben fich diefe
Gegenfäge entwidelt. In welder Form, darüber erdichtet Boehme eine ganze
ſpekulative Mythologie, in der ſich chriftliche Anihauungen mit anderen Ele:
menten wunderſam verſchlingen. Das Ergebniß ift ſchließlich eine Welt,
die al3 Grenzjaum gleihjam eines Reiches der Liebe, des Himmelreiches, und
5)
— — — ⸗
18 Die Zutunft.
eines Reiches des Zornes, der Hölle, gedacht wird und in der wir leben,
in gleicher Weiſe theilnehmend an Liebe und Zorn, an Gut und Böfe.
Aber diefe Lage trägt in fich Feine Verheifung der Dauer. a, wir
felbft haben, wie das Bedürfniß, jo die Macht, ſie zu ändern, dem Himmel-
reich zum Siege zu verhelfen, indem wir das Böfe in und vernichten. Das
Böſe haflen und ertöten: Das ift darum Ziel menfchlidy=jittlichen Lebens.
Und dem Frommen gelingt e8. Es ift die Stelle, an der Boehme aus diefem
Jammerthal emporlieht zu den ewigen Sternen. Er weiß: die Zeit wird
nahen, da der Kampf der Guten diefe Welt überwindet, da fie nicht mehr
fein wird, da die Halbheit dem Ganzen gewichen fein wird, da wir eingehen
werden in das Richt der Berflärung, das Gottes Offenbarung verheigen hat.
Ein großartiges Bild frommer Gedankendichtung, kehrt Boehmes Philofophie,
nachdem fie in einer geijtreichen Kosmogonie die Weiten der pandynamifchen
Naturwiffenichaft durchmeſſen und mit den weſentlichſten Beitandtheilen der
hriftlichen Dffenbarunglehre durchflochten hat, zurüd zu dem einfachſten
fittlichen Bedürfnig der Menjchenbruft, wie es feine Zeit in dem Begriff der
Erlöfungjehnfucht zufammenfagte: ihm allein dient im Grunde feine Lehre.
Es ift die vollfommenfte Durchflechtung erkenntnißtheoretiſcher und ethifcher
Forderungen, die vom Standpunkte des Pandynamismus unter leifem Felt:
halten an den Grundlagen des Chriftenthumes noch erreichbar war.
So hätte man wohl glauben dürfen, die Philofophie Boehmes werde
weite Verbreitung finden. In der That machte jie auch anfangs viel Auf:
fehen. Allein eine große und dauernde Wirkung hat jie nicht gethan. Das
(ag nicht nur an der gelegentlich nicht leichten Sprache oder an dem Phan—
tasma ihrer kosmogoniſchen Partien. Der Grund ijt vielmehr, daß die ganze
gedanfliche Grundlage, auf der Boehme ftand, zur Zeit feiner Spekulationen
ſchon ſtark erjchüttert zu werden anfing. Boechme ift der legte myſtiſche
Philoſoph im inneren Deutichland auf lange Zeit gewefen; nur in den Nieder:
landen hat die miyftiiche Spekulation während des jiebenzehnten Jahrhunderts
noch fortgeblüht, um dann, unter wejentlich veränderten Umftänden, in Spinoza
eine Höhe von auferordentliher Bedeutung zu erreichen. Im Uebrigen aber
wich die Miyftif dem Empirismus, der Bandynamismus der Mechanik, das
verzüdte Naturerfennen dem Experiment und der mathematifchen Analyie.
Jene jpefulative Naturwiſſenſchaft, der die naturphilofophiichen Weltanfchaus
ungen des jechzchnten Jahrhunderts entfproffen waren, verwelfte; auf Kues
war Soppernifus gefolgt und auf Paracelſus folgten Stevinus und Oalilei.
Man begann, Natur und Welt von ganz anderer Seite her zu betrachten.
Leipzig. Profeſſor Dr. Karl Lamprecht.
an +
Hymmus. 19
Dymnus.
Sp mal im Jahr über dem ewigen Rom
In einer tiefdunflen Nacht über den Detersdom
Kommen die Kronen der Welt durch die Lüfte geraufct.
Dort, in der Kuppel verſteckt, hab’ ih ihr Kied erlaufct:
Mir find die Kronen der Welt,
Yralte und junge Berricherfronen,
Und jind die Kronen über Millionen.
Dor unferm Leuchten fällt
So Knecht wie Held
Dehmüthig nieder vor den Thronen,
Denn wir verdammen und belohnen.
Wir find die Kronen der Welt.
So flingen die Kronen der Welt in einer tiefdunflen acht über
dem Petersdom.
Dann aber fhwingen fie jich höher empor in die Luft, höher empor
über Rom
Und ihr höheres Kied brauft wie ein ferner Strom:
Dir find die Kronen der Welt
Und jind beftellt,
Don einem Haupte zum andern
In ewigem Wechſel zu wandern, zu wandern.
Auf taufend Häuptern zu Fluch und Segen
Sind wir gelegen
Und haben die Stirnen, die wir beglückt,
Hu Boden gedrüdt.
Wann aber, wann fommt der Held,
Der allen Kronen vermag zu entfag zen
Und alle zu tragen?
Wann fommt unfer Held?
Mir find die Kronen der Welt!
So Flingen die Kronen der Welt in einer tiefdunflen Macht über
dem ewigen Non,
Dann aber fhwingen fie ſich böber, noch böber empor
Und in den‘ Wolken verraufcht brauſend ihr mächtigjter Chor ..
Ye
—
20 Die Zutkunft.
Und die Wolfen ziehn
Und die Kronen erglühn,
Taufend Kronen fprübn,
Taufend Sterne erblühn auf den himmlischen Feld;
Und es jtrablen fern
Im Diademe des Herrn,
In der Krone des herrn
Mond und Stern.
Aber ſchon jchwindet die Nacht
Und die Sonne erwadt.
Wie ein fröhlicher Held
Tritt fie hervor aus den Selt.
Mond und Sterne verglühn
Und die Sonne, fie lacht über der ftrahlenden Welt.
Dras. Hugo Salus.
Beichtgeheimniß.
—— gaben zu Ehren des ſcheidenden Karnevals eine große Geſellſchaft:
zuerſt wurden den Gäſten heitere muſikaliſche Vorträge geboten, danach
folgte das Souper und den Schluß bildete der obligate Tanz für die junge
Welt. Man war glüdlic” beim Tanz angelangt. Hofraths jüngjte Tochter,
Fräulein Thekla, die Einzige, die noch zu haben war, wie der hübjche Ausdrud
lautet, tanzte nit. Sie habe ein Bischen Kopfweh, jagte fie; auch jchmerze
fie ihr linker Fuß. Die Wahrheit aber war, daß fie weder Kopfweh noch Fuß—
weh hatte, jondern daß der Tanz ihr fein Vergnügen bereitete. Sie ging auch
nicht defolletirt, wie die meijten ammwejenden Damen. Auch Das behagte ihr
nicht. Vielleicht nur, weil fie mager war. Offiziell behauptete fie, es fei ihr
genirli. Uebrigens war fie eine reizende Erjcheinung mit ihrem überſchlanken,
feingliedrigen Körper, ihrem pifanten dunklen Köpfchen und den verträumten
lichten Augen. Und da fie eine beträchtliche Mitgift zu erwarten hatte, fehlte
es ihr natürlid nit an Berehrern; und es waren ausnahınelos Herren „mit
ernjten Abfichten“: Das heißt ſolche, die fi) jogar vor der Ehe nicht ſcheuten.
Mehr kann man nicht verlangen. Doc Fräulein Thekla verlangte dennoch mehr.
Sie madte fih aus feinem ihrer Courfchneider Etwas und behandelte alle von
oben herab. Wach der Ehe trug fie fein Begehren.
Ihr Vetter Fritz, mit dem fie aufgewadjen war und der blos drei Jahre
mehr zählte als fie, leiftete ihr während des langen Kotillons Gejellichaft. Sie
jelbjt hatte ihn fich zum Partner erforen, um „vor den Anderen und der dummen
Hofmacherei Ruhe zu haben“, wie fie freimüthig zu ihm gejagt hatte. Er war
Beichtgeheimniß. 21
es zufrieden geweſen und bemühte ſich jetzt, ſie nach beſten Kräften zu unter—
halten. Das war nicht leicht. Fräulein Thella war ſchwer zu befriedigen und
entjeßlich jchnell gelangweilt. Er fannte fie genau.
Sie war feine Kinder- und Jugendliebe gewejen: bis vor drei Jahren.
Angebetet hatte er jeine Couſine. Dod „kühl bis ans Herz hinan“ hatte fie
vor ihm gejtanden, fich feine knabenhafte Anbetung gleichgiltig gefallen laſſen
und ihn wie einen grünen ‚ungen behandelt. Das iſt jehr unangenehm und
pflegt ſelbſt die heiefte Liebe zu löjchen. Cine Zeit lang mied und hajte er
Thekla. Dann genas er. Und jeit einem Jahr war er verheirathet und, wie es ſich
gehört oder doc jein jollte, bis über die Ohren verliebt in feine junge Frau.
Ad, jeine ſüße, Heine, faum zwanzigjährige Frau! Da ja fie, ihm
ichräg gegenüber, und jandte ihm hinter ihrem Pfauenfächer zärtliche Blide zu.
Wie hübſch fie heute wieder war: jo weich und rund wie eine Taube, das volle
Hälschen wie bei einer Taube nahezu verjtedt, die Schultern und Alles, was
ſonſt noch zu jehen, blendend wei und das Geſicht jo rund und rofig, das
Haar jo blond! Sie unterhielt ji immer mit ihm und er brauchte ſich dabei
nicht einmal anzujtrengen. Seine Kleine, ſüße Erny bewunderte ihn. Für fie
war cr das Höchſte und Beite auf der Welt. Und wie gefund und flug fie war!
Das gerade Gegentheil von jeiner Couſine Thekla. Dieje hatte etwas jo Krank—
und Räthjelhaftes in ihrem ganzen Weſen. War unbequem und verdreht. Ya,
jie war entichieden verdreht geworden, — wie alle Mädchen werden, wenn fie
nicht rechtzeitig heirathen. Das war cs.
Dennoch war er ihr gut geblieben und fie that ihm leid. Wie kann
man jich das Leben nur jo muthwillig verbauen! Sie hatte ja immer ihre
Duden und Yaunen gehabt, hatte jtets etwas Bejonderes haben wollen. Aber
daß fie ſeit fünf Jahren fromm geworden war, jegte doc allem Woraufge-
gangenen die Krone auf. Das war jchlimmer als alles Andere. Und dauerte
nun jchon jo lange. Nahm immer größere Dimenjionen an. Tanzen wollte
jie nicht und defolletiren wollte jie jich auch nicht; über die Männer rümpfte jie
die Naſe und jagte, daß ſie in ihren Augen nichts Befferes feien als... Nein!
Er wollte jich lieber gar nicht erinnern, was für ein Wort jie gebraucht, mit
welchem unſauberen Thier fie die Mänmerwelt verglichen hatte, Es war zu
beleidigend. Geradezu aufreizend war es. Nur eine Ausnahme Liej; jie gelten;
natürlid. Das verdroß ihn am Meijten. Die Prieſter waren anders. Nur
die Briefter. Und als Sonne umter ihnen leuchtete Theklas Beichtvater, der
unvergleichliche Pater Mar, für den übrigens eine aanze Neihe von Damen
ihwärmte. Fritz kannte diefen Vater Dar nicht, hatte ihn niemals geſehen.
Wollte ihn aucd nicht kennen lernen. Gin Bischen Eiferfudt war doc nod
lebendig in ihm, troß der erlojchenen alten und der heiten neuen Liebe. Es
war doch zu kränkend, wenn er ſich entjann, wie Thekla gegen ihn geweſen war,
und wenn er fi dann vorbielt, wie jie über diejen Pater Max jprad). Um
jie aus ihrer gelangweilten Yethargie aufzurütteln und jie, die immer Theil
nahmeloſe und Wortfarge, beredt zu machen, brauchte man blos an diejen Gegen:
jtand zu tippen: jofort war ſie Feuer und Flamme.
Er entihloß ſich denn auch jegt, während des Kotillons, zum Tippen.
Thekla jah bereits bedenklich abgeipannt aus. Da hieß es, ob wohl, ob übel,
zu dem fatalen Pater Mar jeine Zuflucht nehmen,
22 Die Zutunft.
„Na, was macht denn Dein Pater Max?“ fragte er mit einer leichten
Grimaſſe.
Thekla ſah ihn von der Seite an. „Er iſt nicht mein Pater Max. Er
gehört Allen und Keinem. Mir nicht mehr als jedem Anderen.“
„Schön. Alſo: was macht er?“
„Was er immer thut: Seelen leiten und Seelen retten. Ach, Fritz“ —
und fie richtete jich aus ihrer wie gefnicdten Haltung auf — „ic bin fo traurig!
Denke Dir: Pater Mar fährt zur Faſtenzeit nach Trieft, um dort die Faſten—
predigten zu halten.“
„Ra, gönne ihm die Abwedyelung“, meinte Fri.
„Ich gönne ihn den Trieftinern“, entgegnete fie, ihn zurechtweifend.
„Über ich werde ihn vermiflen. Er predigt fo wunderbar! Und gerade jeine
Faftenpredigten waren mir jtet3 die liebiten. Und wenn ich während dieſer
Wochen beichten will, ift er nicht da.“
„Beichte mir“, rieth ihr Vetter. „Einmal ijt feinmal,“
Thekla lächelte. Es war ein mitleidiges Lächeln. „Dir, mein lieber
Fritz, würde ich überhaupt nichts mehr anvertrauen. Niemals mehr.“
„Weshalb denn nicht?“ fragte er etwas geärgert.
„Weil Du verheirathet bijt und verheirathete Männer nicht ſchweigen
fönnen. Weil fie Alles ihren lieben frauen weiter erzählen. Danach gelüftet
es mich nicht. Deine ſüße Taube ift mir innerlich” fremd und ich habe fein
Bedürfniß, fie durch Did in meine Geheimniffe einmweihen zu laſſen.“
„Aber Thekla!“ Er ereiferte fih. „Halte mich doch nicht für jo albern!
Ich jelbjt habe zwar feine Geheimniffe vor meiner Frau. Doc wenn es fidh
um die Angelegenheiten einer Dritten handelte... .“ .
„sa, ja: jo reden Alle. Aber wenn fie mit der ſüßen Gattin allein
find und die jühe Gattin recht ſchön bittet...“
„Ich gebe Dir mein Wort, daß Du uns verfennit. Du machſt Dir
überhaupt eine ganz faljche Vorjtellung von uns. Die Männer find unendlich
viel bejjer und auch klüger, als Du Dir einbildejt.“
„Wahrhaftig?”" Gedankenvoll jah fie ihn an. „Und wenn id Dir nun
wirflid; ein Geheimniß anvertraute: würdeft Du jchweigen können?“ Sie war
jehr ernit geworden.
„Mein Wort darauf, Thekla.“ Er war ebenfalls ernit geworden. „Wir
find doc immer gute Kameraden gewejen. Ich fürchte, Dich quält Etwas.
Vertraue Did mir ohne Scheu an. Vielleicht kann ih Dir helfen.“
Sie jchüttelte den Kopf. „Delfen kann mir nur Gott. Was ich Dir zu
jagen habe, weiß nod Niemand. Nicht einmal dem Vater Mar habe ich8 gejagt.“
„Nicht einmal ihm?“ Fritz fühlte fich geichmeichelt. „Alfo, was ift
es denn?"
„sch tauge nicht für diefe Welt, Fritz. Und darum habe id den Ent-
ſchluß gefaßt, den Schleier zu nehmen und Nonne zu werden.“
Fritz ftarrte fie an. „Im Ernie?“
„Im vollen Ernſt. Und ich will mir den ftrengjten Orden ermwählen
und Sarmeliterin werden. Wenn man das Ordensfleid einer Karmeliterin ans
legt, ftirbt man für diefe Welt. Man ficht Niemanden mehr — aud Vater
Beichtgeheimnif. 23
und Mutter nicht —, jchreibt und empfängt Feine Briefe, ift und bleibt abge-
ichnitten von Allem“...
„Das ift ja ein ganz entjeglicher Orden, Thekla!“ Er war außer jid).
„Und dat jo Etwas im zwanzigiten Jahrhundert geduldet wird!‘
„In Deinem zwanzigjten Nahrhundert werden viel jchlimmere Dinge
geduldet: Unzucht, Trunkjucht, alle Yajter,” entgegnete jie kalt. Kümmere Did
lieber um dieſe Dinge. Die find gefährlidyer.‘‘ 5
„Mag jein. Na, ... und was thun fie denn, Deine Karmeliterinnen ?“
„Sie beten,“ jagte Thefla mit einem nur ihr eigenen unnachahmlichen
Augenaufihlag. „Beten Tag und Nadıt für die jündige Menjchheit.“
„Ra, ſchön müßteſt Du ausjehen im Schleier und Nonnenkleid,“ jagte
er mit einem bewundernden Blid auf ihr efitatijches Gejicht. „Aber muß es
denn gerade diefer Orden jein? Und kannt Du denn nicht aud zu Haufe für
die jündige Menjchheit beten? Die Wirkung würde fi ja wohl gleich bleiben.“
„Rein. Hier verjteht mich Niemand, fühlt Keiner wie ich. Unter Gleich—
gefinnten will ich jein. Ad, Fritz, aucd Du verftehit mich nicht!“
„Doc, doch,“ jagte er eifrig. „Sehr gut verjtehe ih Did. Aber warum
willit Du Dich lebendig begraben lafjen, um Gottes willen!?“
Sie beugte ji jeinem Ohr ganz nah. „Weil ich mid) vor mir jelbit
retten möchte, Fritz,“ ſprach fie murmelnd. |
„Wieſo denn?“ Er war ſchon ganz verwirrt. „Was ift denn (08, Thefla ?“
„sn meinem Herzen wohnt eine Liebe, die zu hegen eine Todjünde ift,“
fam es flüjternd über ihre Lippen.
„Nanu . ..!“ Er haſchte nad) ihrer Hand. „Das, hatte ich immer ge
fürchtet; und diefen Pater Mar“ ... J
Sie madte eine Schweigen heiſchende Gebärde. „Still. Solche Dinge
ſpricht man nicht jo Elipp und Elar aus. Ich gehe nad) Salzburg, wo ein Kar—
meliterinnenflofter ijt, mache dort mein Noviziat, nehme den Scleier und jterbe
für alle Menjchen. Auch für ihn. Und er für mid. Jetzt weißt Du Alles.“
„Jetzt weiß ich Alles," ſprach er wie betäubt nad).
„And Du wirft jchweigen?’ fragte jie jehr eindringlich und legte die
Dand auf jeinen Arm. „Noch muß mein Entjchluß Geheimniß bleiben. Du
wirjt jchweigen, Fri, nicht wahr? Du haft es mir verjprochen!“
„And ich verſpreche es Dir noch einmah,“ jagte er. „Aber was Du mir
da anvertraut haft, iſt ganz jchredlicdy!“
„Nur Eins ift ſchrecklich: die Sünde,“ erwiderte jie ernit.
Berwirrt jah er fie an. Arme, arme Thekla! ihre Beichte batte ihn
aufgeregt und er hatte jogar verjäumt, zärtliche Blide mit feiner jungen ‚rau zu
wecdjeln. Und jo bemerkte er auch jett nicht, das rau Erny in aejpannter
Lauſcherſtellung daſaß und jcharfe Blicke zu ihm und Thekla berüberjandte,
...Eine Stunde jpäter fuhr er mit jeiner Eleinen rau nach Hauſe. Als
fie ihr hübſches Heim erreicht hatten und im Schlafgemad die Oberkleider ab»
legten, fragte er jie, wie fie ſich amuſirt habe.
„Gar nicht,’ antwortete jie in flagendem Ton. „Und ich bin jo müde!“
Sie ſetzte fih auf die Chailelongue und hielt ihm die runden Händchen
hin. „Bitte, hilf mir die Handſchuhe ausziehen!“
FTTTTT
24 . Die Zutunft.
Wie ſüß fie Das fagte! Und immer war es jo, wenn jie von einer Ge—
ſellſchaft nach Haufe kamen: ſtets war fie jo müde, daß fie fich allein nicht aus-
zufleiden vermochte. Und da man das arme Dienftmädden nicht weden wollte,
mußte ihr natürlich der Gatte behilflich fein.
Er war ihr aud heute behilflich. Kniete vor ihr und knöpfte ihr die
Stiefelhen auf. Damit fing man jedesmal an.
Warum haſt Du Did) denn nicht amuſirt, mein Engelchen?“ fragte er,
zu ihr aufjehend.
Sie warf ſchmollend die Lippen auf. „Weil Du jo abjcheulich gegen mid
warjt! Mid gar nicht beachtet haft!‘ \
„Wieſo denn abjcheulich und nicht beachtet, Erny?“
„a, während des Kotillons. Du weißt Igon! Dieje Bohnenjtange von
einer Couſine liegt Dir eben noch immer im Sinn.”
„Warum nicht gar!“ Er war mit den Stiefeletten fertig geworben und
jtedte weiche Pantoffelchen an ihre ‚Füße. i
„Ja, ja. Ich weiß, was ich weiß. Und jo verblüht fie iſt — detolletirt
müßte fie übrigens nett ausjehen —, fie gefällt Dir no immer. Und wie ſie
mit Dir fofettirt hat! Es war geradezu unanjtändig.“
„Thekla Eofettirt überhaupt mit. Niemandem.‘
„So? Ach aber jage Dir, dal; jie eine Erzfofette iſt. Hak' mir doch die
Taille auf!“ rief fie ungeduldig und herriich. „ich bin ja jo ſchrecklich müde!“
Er bafte ihr mit einiger Mühe die enge Taille auf und zog fie ihr vom
Leibe. Ach, wie hübſch jie im mit Spißen bejegten, ſchwarzſeidenen Korſet
ausjah! Er wollte jie auf die Schulter küſſen. Doch Erny wid) ihm aus.
„Laß mi in Ruhe“, jagte fie. „sch bin böje auf Did.“
„ber weshalb denn, Maus?“
Sie legte die Hände an die drallen Hüften. „Weil Du treulos biſt und
ſchlecht. Alle Männer find jo. Mama jagt es auch. Und fie hat Recht. Und
ich möchte am Yiebiten fterben.“
Wahrhaftig: fie fing zu weinen an. Gr war jehr bejtürzt und zog fie
an ji. „Mein Gott, was haft Du denn?“
„Unglücklich bin ich!“ ſtieß jie heraus. „Das jchlechte Mädchen will Dich
mir nehmen! Früher hat jie nichts von Dir willen wollen. Aber heute reizeit
Du fie, weil Du verheirathet bift . . .“
„Hätte ich ihr nur nicht gejant, day Thekla meine Jugendliebe war!“
achte er. „Warımt fage ich ihr aber auch Alles, id Eſel!“
„Ich reize fie nicht im Mindeſten,“ antwortete er der erbojten Kleinen Frau.
„Nicht? Und was hatte jie Dir denn in Einem fort ins Chr zu flüftern?
Die Hand auf Deinen Arın zu legen? Sic mit dem ganzen Cherförper auf
Dih zu legen? Dart genug mag ihre VBerührung jein und id) beneide Dich
wahrlich nicht darum . . . Aber ihre Schlechtigfeit bleibt fich aleih. Wie fie
Dich nur angeſchmachtet hat! Es hat blos noch gefehlt, daß fie fi) Div an den
Hals warf... . Und viel hat nicht dazu gefehlt: fie war Dir nah genug!“
„Aber alles Das iſt blanker Unfinn, Ermy. Komm, ic will Dich vollends
austleiden; dann legit Du Did jchlafen.“
„Ich brauche Dich nicht dazu. So müde ich bin: ich werde mich allein
ausfleiden. Und fchlafen magit Du anderswo. Nicht hier, bei mir.“
2 on
Beichtgeheimniß. 25
Jetzt wurde er ärgerlich.
„Sei doch vernünftig, Ermy. Wenn Du wüßteſt, was wir zuſammen
geſprochen haben!’
„Ich weil; es aber nicht. Und Du wirft es mir nicht jagen. Du wirft
Did hüten!“
„Ich gebe Dir mein Wort, daß fie... . nicht an mich denft.“
„Ich glaube Dir nicht.” Sie drängte ji) an ihn und weinte aufs Neue,
Wie fann man nur jo graujam jein und jeine ‚frau jo quälen!“
Ihre Nähe machte ihm ganz warm und ihre Thränen marterten ihn.
„Sie liebt ja einen Anderen, Erny,“ entfuhr es ihm in jeiner Verliebt-
heit und Bedrängnih.
Erny horchte auf. „Wen denn?
„Ach, Einen, den fie nicht lieben darf . . . Es iſt eine unglückliche Geſchichte.“
„Und Du ſollſt wohl ihr Tröſter ſein?“ fragte ſie, wieder ſchärfer.
„Bewahre. Ins Kloſter will ſie, dieſer Geſchichte wegen. Karmeliterin
will ſie werden. Und davon haben wir geredet.“
„Davon!“ Site lachte. „Mag fie ins Kloſter gehen! Dorthin paßt ſie
mit ihrem Augenverdrehen. Und Der, den ſie liebt, iſt wohl der Pater Max?“
„Ja, es iſt der Pater Dar.“
Erny lachte noch einmal, fragte noch Allerhand und ließ ſich, während
er ihr willenlos Antwort gab, ohne Widerrede von ka entfleiden.
r
— — — — — — — — — — — — — —
Freilich: am Morgen war ihm katzenjämmerlich zu Muthe. Und noch
ſchlimmer wurde es, als ihm Erny eine Poſtkarte brachte. Die Karte war von
Thekla. Und darauf ſtand in großen, weithin leſerlichen Schriftzügen: „Haſt
Du geſchwiegen?“
Er ſchämte ſich gewaltig.
Und zwei Stunden ſpäter traf eine neue Poſtkarte ein. Wieder von Thekla.
„Es war nur eine Probe,” jchrieb fie ihm. „ich bin in den Pater Mar
nicht verliebt. Ich verehre ihn blos, — ohne Sünde. Ich will audı nicht ins
Klofter gehen. Nur. beweijen wollte ich Dir, dat ich Euch richtig beurtheile und
daß Ihr Ehemänner den Mund nicht halten fünnt. Und froh bin ich, daß die
Kirche, flug wie immer, den Cölibat über ihre Diener verhängt hat. Was würde
aus dem Beichtgeheimniß werden, wenn auch die Brieiter heirathen dürften!
Ihekla.
% ©. Lab Erny beide Karten leſen, wenn ſie es nicht bereits von
jelbjt gethan hat. Aber wie ich die Ehefrauen kenne, bat fie die Marten vor
Dir gelejen.‘
Sp war e3 aud. Erny wußztte die zwei Boftlarten ſchon auswendig.
Und jo ſchämte er ſich auch vor ihr, ſeines „Reinfalls“ wegen.
Doc die Kleine Fran tröftete ihn. „Laß fie ſchwatzen!“ ſagte ſie. „Wenn
jie einmal einen Dann hat — ich fürchte zwar jehr, daß ſie Meiner mehr nimmt - -,
wird fie es genau eben jo machen. Taranf faunjt Du Dich verlaiien
Wien. Emil Marriot.
>26 ‚Die Zulimft.
Rinderrechte.
5 mongolifche Kaifer Dicingis, der die Kindes: und Elternliebe der
Chinefen kannte, dedte, als er jie befriegte, feine Vorhut mit den
Kindern und Eltern feiner Feinde. So deden die Antifeminiften mit der
Mutterfchaft ihre Argumente, um die Invaſion des weiblichen Yeindes in
ihre Gebiete zu verhindern.
Trog der Heiligiprechung der Mutterjchaft ift das Kind in der Menſch—
heitgeichichte noch nie zu feinem Hecht gefommen. Die ungeheure Sterblid):
keit der Säuglinge legt Zeugniß davon ab. Und es ift das Recht des Kindes,
zu leben. Generationen von Kindern verrohen, entarten im Gifthauch einer
entjittlichten Umgebung. Schuß vor Förperlihen und geiftigen Mißhand—
lungen ift das Recht des Kindes.
Wer nicht fchaudernd, von grenzenlofem Erbarmen durchglüht, die
Berichte über das Sinderelend in den englifchen Fabriken gelefen hat, trägt
ein Herz von Stein in der Bruft.
Nur von dem Heinen Kinde will ich heute fprechen, von dem Baby,
für das Andere verantwortlich find.
Welche Andere?
Die Mutter?
Sa, wenn wir an die Mutter von Gottes Gnaden glauben. Die
Berheiligung der Murterfchaft gehört zu den konventionellen Berlogenheiten.
Wie? Dieſe Heinen Kinder, die liebende Mütter haben, auch die fänıen
nicht zu ihrem echt?
Auch fie — in der Mehrzahl — nid.
Die Gegner der modernen Frauenbewegung freili fehen in der Mütter
lichkeit des Weibes die Verbürgung der Rechte des Kindes. Daher ihre
feindliche Haltung gegen die umjtürzlerifchen- Weiber der Emanzipation, die,
wie es fcheint, nichts Geringeres planen als einen neuen bethlehemitischen
geiftigen Kindermord.
Daß alle feelifchen und phylischen Kräfte des Weibes nur der Mutter:
ihaft zu dienen haben, daß auf der Meütterlichkeit ihre Genialität beruhe,
wird neuerdings wieder mit den Zeusgebärden fouverainen Allwiffens der
Welt verfündet. Wie fih in Wirflichkeit daS Leben der Frau als Mutter
der Babies abfpielt, will ich zu ſchildern verjuchen.
Die Mutterliebe ift ein Naturtrieb.
So recht von Herzen fann ich nicht einmal an diefen faum je be=
zweifelten Naturinitinft glauben.
Lege ein fremdes Kind ftatt des eigenen der Mutter, die eben geboren
hat, in die Wiege und ſie wird das untergefchobene Geſchöpfchen — falls
Kinderrechte. 27
ſie von der Vertauſchung nichts weiß — in ihr Herz ſchließen, als wäre es
ihr leibliches Kind. Ich kenne Fälle, wo kinderloſe Frauen ein adoptirtes
Kind mit der denkbar inbrünſtigſten Mutterliebe umfaßten. Nicht der Natur—
inſtinkt ſcheint mir der Grundpfeiler der menſchlichen Mutterliebe; eher iſt
es das Schaffen und Wirken an dem Kinde. Die Mutter fühlt ſich als
das Schickſal des kleinen hilfloſen Geſchöpfes, das ihr anvertraut wurde,
wobei allerdings die Vorſtellung, daß es ihr eigenes Fleiſch und Blut iſt,
mitwirkt. Die Vorſtellung ſage ich, — nicht die Thatſache.
Ein Beiſpiel aus meinen eigenen Leben mag das Geſagte erläutern.
Aus irgend weldem Anlaß wohnte einmal eine Heine Nichte einige Monate
bei mir. In fkürzefter Zeit liebte ich das Kind, das ich vorher faum ge:
fannt hatte (die Eltern wohnten in einer anderen Stadt), wie nur eine
Mutter ihr Kind lieben kann. Seine Gegenliebe bereitete mir Entzüden,
es war mein Gejchöpfchen, das ich zu behüten, zu verforgen hatte, für das
id verantwortlid war. Als das Kind mir wieder genommen wurde, ent:
ihwand es allmählich aus meinem Gedächtniß und aus meinem Herzen.
Ein noch marfanteres Beifpiel, wober es fich freilich um einen Mann
handelt, einen älteren Herren und vielbefchäftigten Kaufmann. Diefer Mann
— ein naher Verwandter von mir. — hatte acht Kinder, denen er keinerlei
Intereſſe zumandte; höchitens zeigte er an ihren weltlihen Erfolgen einige
Antheilnahme. Die Kinder gehörten ganz der eifrigen, willensftarten Mutter.
Der harakterfchwache Bater war eine Null im Haufe. Einer feiner Söhne
ftarb mit der Bitte auf den Lippen, daß der Bater jich feines verlaflenen,
unehelichen Kleinen Mädchens annehmen möge. Und diefer trodene Geichäfts-
mann, der jich um feine eigenen Kinder nie gefümmert hatte, wurde diefem
Kind ein überzärtlicher Vater. Sein ganzes Gemüthsleben Fonzentrirte fich
auf die Kleine, die wahrſcheinlich ohne ihm geftorben oder verdorben wäre.
Es war rührend, zu beobachten, wie er heimlich, fait mit dem Gefühl einer
Schuld, Tag für Tag zu dem Kinde ſchlich und fih mit Geſchenken und
zarter Fürforge für die Enkelin nicht genug thun Fonnte. Und das Sind
gab ihm Liebe für Liebe. Daß es ja in der That aus feinem Blute ſtammte,
hatte mit feiner Liebe nichts zu thun.
Es ift eine oft gemachte Wahrnehmung, dar ein Vater feinem ehelichen
Kinde häufig erjt dann ein echter fürforgender Vater wird, wenn der Tod
ihm die Gattin, dem Kind die Mutter entriffen hat.
Zum Beitand der Mutterliebe gehört als wefentliches Clement die
Gegenliebe des Kindes. Denken wir uns diele Liebe ausgeichaltet, fo dürfte
die Mutterzärtlichkeit eine ſtarke Abkühlung erfahren. ch Fenne Fälle, wo
Mütter mit einer zahlreichen Kinderichaar diejenigen Kinder, die fie mit der
eigenen Milch genährt haben, leidenichaftlich liebten, den Ammenkindern aber,
28 Die Zukunft.
die, von der Mutter ſich wendend, nad) der Amme jchrien, abhold waren. Kluge
und gute Frauen freilich werden es verftehen, fich der Meinen Geſchöpfchen,
wenn die Amme entlaſſen iſt, zu bemächtigen.
Welches aber auch der Grund und Urgrund der Mutterliebe ſein mag:
ſie iſt da, fie wird immer da fein, ſelbſt wenn Titaniden der Emanzipation
den Himmel diefer Gemüthswelt zu jtürmen fi unterfangen wollten; eine
Liebe mit leichtem Anklingen an Myſtiſches, das das Kindchen in Zufammen-
bang bringt mit dem „Woher*? „Wohin“? aller Kreatur, und als ob in
der Maren Tiefe diefer Fragenden Kinderaugen noch ein Abglanz ruhte von
einer anderen Welt, aus der fie fommen, — Engelsbilder, die irgendwo
Flügel verloren.
Warum aber ſoll diefe Liebe eine jo überaus geniale, da8 Leben der
Frau erfchöpfende Leiftung fein? Schlechte und gute Frauen lieben in gleicher
Weiſe ihre Kinder; und fie lieben auch ihre ſeeliſch mißrathenen Spröflinge,
die vorausſichtlich der Menfchheit Unheil bringen. Und folcher Liebe ein
Heiligenichein? Wir bewundern doch aud den Künftler nicht, der fein miß—
lungenes Werk anbetet; eher lächeln wir darüber hinweg, mitleidig, geringichägig.
Die Zärtlichkeitbeweife, die Lieblofungen, die eine Begleiterfheinung
der Liebe für die Babies find, machen offenbar der Mutter mehr Vergnügen
als dem Kinde. Dieje Liebe, die ein jo Heines, hirn- und feelenlofes. Ges
Ihöpfchen brünftig umflanımert, e8 förmlich in fich ſaugt, in efitatifcher Wonne,
bezeichnet das ftarke finnliche Element in der Mutterlicbe. Die Kinder vor
Liebe aufeſſen, ijt eine oft angewandte Nedensart.
Diefe zärtlihen Muttergefühle immer auf dem Präfentirteller, als
piece de resistance in der Argumentation gegen die Frauenbewegung, ift
aufdringlich, abjtoßend. Wie man in feinem Kämmerlein betet, jo liebe man
daheim fein Kindchen. Aber ich ſehe feinen Grund, Gefühle, die einen fo
reichen Lohn ſchon im sich jelbft tragen, als ungeheure, Ehrfurcht gebietende
Qualitäten an die große Glode zu hängen, Heiligenjcheine dafür als Dutzend—
waare auf den Markt zu werfen, auc für Stirnen, hinter denen nie eines
Gedankens Gluth geftrahlt, nie ein Funke von Edeliinn auch nur geglimmt
hat. Mir ift diefes Progen mit der Mutterliebe — eine erweiterte Selbit-
liebe — widrig. Frauen fönnen ihren Kindern die zärtlichiten Gefühle weihen
und Sich anderen Kindern, ja, der ganzen übrigen Menfchheit gegenüber herz.
und gemüthlos erweifen. Das wäre die echte Mutter, die allen Kindern hold ift.
Viele Frauen haben vielleicht feine anderen Vorzüge, aber gar keine;
ie können vielieicht nicht einmal kochen: da bleibt ihnen dod immer noch
die Mutterliebe. Die foftet feine Arbeit, wird nicht erworben, ift von felbit
da, und je heftiger fie da ift, um jo mehr rückt fie die Mutter in eine ver—
flärende Beleuchtung.
Kinderrechte. 29
Die Mutterliebe entbehrt der Idealität, die man ihr zuſpricht, wenn
es mir auch fern liegt, zu leugnen, daß es eine Mutterliebe giebt, die rührend
und ergreifend iſt, eine Liebe, die immer troͤſtet, immer verzeiht, die immer
giebt und niemals nimmt, die ſelbſt an dem entgleiſten Kinde, das am
Pranger der Menſchheit ſteht, in unverbrüchlicher Treue feſthält. In Romanen
fommen dieſe Mütter noch häufiger vor als im Leben.
In dem Aufſatz eines geijtvollen Schriftftellers las ic) fürzlich, Nouffeau
habe für die gebildeten Europäer erit das Kind entdedt. „Seitdem wurde
es Mode, an dem Fleinen Ding Etwas zu finden. Bis dahin fand die
Mutter jelten den Weg in die Kinderftube. Der Mutter wurde es bequem
gemacht, nicht dem Kinde. Daher die Schaufelwiege, der Lutſchbeutel, das
Stedfifjen. Noch heute ijt e3 in der Normandie Braud, den Säugling in
der Küche an einen Nagel zu hängen. Die Wilden jind fchlechte Mütter.“
Die Gewähr für die Richtigkeit diefer Darftellung überlaffe ich dem Autor.
E3 jind die Heinen hilflojen Gefchöpfe, die Babies, denen die Mutter
die größte Zärtlichkeit widmet. Der Säugling in der That ift von der Natur
auf die Mutter angewiefen. Bei der heutigen Beichaffenheit der Frau kommt
das Säugeamt nur zu oft in Wegfall. Surrogate für die Muttermilch
mögen in vollflommener chemifcher Zufammenfegung nod nicht vorhanden fein.
Sie herzuftellen, bleibt der Zukunft vorbehalten.
Es ift vorauszufehen, daß die Mutter der Zukunft im Stande fein
wird, ihre Nährpflicht befjer zu erfüllen als die jegige Generation. Die
Erfahrung widerlegt die Anſicht, daß die Nährthätigkeit auf den geiftigen und
förperlichen Zuftand der Frau ungünftig einwirfe. Im Gegentheil: viele
Frauen fühlen fich in diefer Zeit befonders wohl.
Vorkehrungen zu treffen, daß die Mutter ihres Säugeamtes neben
einer Berufsthätigfeit walten kann, liegt im Bereich der Möglichkeit.
Eine ausgezeichnete Schriftftellerin weift auf „die ungeheure pfychologifche
Bedeutung hin, die die perfönliche Pflege des Kindes für die Mutter habe.“ Die
perjönliche Pflege und Fürforge ... . Hm! Die Mutter wäfcht, widelt, badet
Tag für Tag das Heine Kindchen, jie giebt ihm das Fläſchchen und kocht
ihm das Süppchen, füttert es, trägt oder führt es jpaziren, fingt es in den
Schlaf, näht und wäjcht feine Kleidchen und beforgt nachts, was zu beforgen iſt.
Thut fie Das?
Bewahre! Dazu ift ja die Kınderfrau da.
Ob eine Pflicht für die Fran beiteht, ihr ganzes Leben den Kindern
zu widmen, darüber mag man verfchiedener Meinung fein. Dat faum eine
Frau diefer Pflicht nachkommt, ift fiher; fie kann es auch nicht, ohme ihre
foziale Stellung, ihre gefellfchaftlihen Beziehungen, ihren Gatten an den
Kagel zu hängen (ich meine Das bildlich).
30 . Die Zukunft.
MWohlgemerkt: ich fpreche hier immer nur von der Mütterlichkeit mit
Ausschluß des Proletariates, bei dem die Nothlage die Kinderfürforge auf
ein Minimum herabdrüdt.
Das Warten der Fleinen Kinder ift außerordentlich angreifend. Eine
durch lange Uebung erworbene Geduld gehört dazu, Ruhe, ftarfe Arme und
fogar eine gewilie Freiheit von allzu heftigen Liebesaffeften. Siehe: Klein
Eyolf. Das Heine Kind bedarf der unausgefegten Beaufiihtigung.
Ih kenne eine wahniinnig zärtlihe Mutter, die als fie von einer felt:
famen Sranfheit hörte, die irgendwo unten im Süden ausgebrochen fein
follte, bei der Vorftellung, daß ihre Lieblinge davon ergriffen werden könnten,
in beige Thränen ausbrach. Die jelbe junge Frau aber verficherte, fie würde
lieber Holz haden, als ihre Kinder den ganzen Tag warten.
In Frankreih und Italien wurden und werden noc heute vielfach die
Heinen Kinder aufs Land gegeben, theil8 aus hygienischen Gründen, theils,
weil es eben Landesbraud war. Daß die Mutterliebe in diefen Ländern aus:
geitorben iſt, bezweifle ih. Die Tage, an denen die Kinder befucht werden,
find Fefttage für die Familie. In feinem Lande Europas giebt es zärt-
lichere Eltern als in Italien; ſogar der Vater nimmt dort im volliten Maße
daran feinen Theil. Und jind die Engländerinnen etwa Nabenmütter? Im
England it die Pflege der Heinen und Feineren Kinder völlig der nurse
überlaffen. Die nurse ift eine gründlich und treiflic für ihren Beruf ge:
fchulte Berfon, die ihre ganz beitimmten, weitgehenden Nechte hat, Nechte,
die felbft die Mutter nicht anzutaften wagt; und auch nicht anzutaften braucht.
Ja: eine englifche Mutter ſchickt ihre Kinder allein mit der nurse in be:
flimmte Seebäder und darf der Leberzeugung fein, daß fie felbit nicht beifer
für die Kinder dort forgen könnte, als die nurse es thut. Auch bei uns
in Dentichland find die Kinderfrauen Machthaberinnen; leider jind fie nicht
annähernd jo tüchtig und geichult wie die englifchen nurses. Ihre Unzu—
länglichfeit beruht aber doch nicht auf einer Naturnothiwendigfeit. Man wird
für Inſtitute zu jorgen haben, aus denen Kinderpflegerinnen hervorgehen,
die den englifchen ebenbürtig find.
Sch habe verkehrt und verfehre noch in einer großen Anzahl gebilbeter
und intelligenter Familien. Einige davon find reich, andere arm. In all
diefen Familien werden die Kinder zärtlich geliebt, oft über das vernünftige
Mar hinaus, und in al diefen Familien ift der Verkehr der Mütter mit
ihren Kindern völlig gleih. Die Mutter ijt den Tag über zwei, wenn es
hoch Fommt, drei Stunden mit ihren Kindern zuſammen. Die Kinderfrau
(Ipäter das Kinderfräulein) bringt morgens das Kindchen zum Morgengruf
ins Schlaf- oder Wohnzimmer der Mutter. Die koſt und fpielt ein halbes
Stündchen mit ihm. Dann zieht fich die Wärterin mit dem Kleinen wieder
Kinderrechte. 31
in die Kinderſtube zurück. Iſt das Kindchen noch ganz jung, ſo wird
Muttchen wohl zu ihrem Vergnügen als Zuſchauer zum Baden eingeladen.
Nach Tiſch zum Deſſert und nachmittags beim Kaffee präſentirt die Kinderfrau
abermals das Herzblättchen auf kurze Zeit. Und ab und zu im Laufe des
Tages steht Muttchen wohl noch flüchtig den Kopf ins Kinderzimmer, mit
dem Heinen Schag liebäugelnd oder ihn mit vielen, vielen Küffen erftidend.
"Und liegt Kindchen abends im Bett, fo ruft die Kinderfrau fie zum Gute:
nadhtjagen und zum Gebet, falld das Muttchen nicht gerade durch Theater,
Konzerte oder Gejelljchaften in Anjpruch genommen: ift.
Baby ift Muttchens Zeitvertreib und Spielen und Sofen fein Inhalt.
Den größten Theil des Tages gehören die Kinder der Sinderfrau
oder dem Fräulein. Die Mutter ftattet nur Befuche im Kinderzimmer ab,
das Kind nur Beſuche im Wohnzimmer. So ift 8. Wer aber meint,
daß hier Wandel gejchafft werden müſſe, damit der Mutter allein „der
ungeheure pſychologiſche Vortheil der perfönlichen Pflege des Kindes“ zufalle,
Der trete offen für die Abjchaffung der KHinderfrauen ein, ftatt — wie es
gewöhnlich geſchieht — diefe breiten Machthaberinnen in der Kinderſtube
völlig zu ignoriren.
Die Wärterin meiner Kinder befam Wuthanfälle, wenn ich einmal
mein Kind jelbit baden, wideln oder im Garten fpaziren fahren wollte. Das
jet ihre Sache. Sie empfand mein Eingreifen als eine Chrverlegung, eine
tötliche Kränfung. Und ih, — ich fuchte heimlich, Hinter ihrem Rüden,
meinem Kindchen beizufommen. Die Defpotin an die Luft zu fegen, wäre
natürlich vernünftiger gewejen.
Gewiß hat die Mutter immer und überall die Pflicht zur Oberaufjicht
über die Kinderwärterinnen. Die Wirkſamkeit der DOberaufjiht aber hängt
viel weniger von ihrer Liebe und der Zeitdauer ab, die fie diefer Thätigfeit
widmet, al3 von ihrer ntelligenz und ihrem Charafter.
Iſt die Mutter als Pflegerin und Erzieherin eine abfolute Noth—
wendigkeit für das Kind? ft die Umtrennbarfeit von Mutter und Kind ein
für alle Ewigfeit geltendes Prinzip? Zwei Gelichtspunfte fommen dabei in
Frage. Erſtens: die Freude und das Glück der Mutter am Sinde; und
zweitend: das Gedeihen und das Glück des Kindes.
Die Freude und das Glück der Mutter! Ja, wiſſen denn die Frauen
nicht felbft, wo ihr Glück, wo ihre Freuden blühen? it das Kind ihr
größtes Glüd, ihre intimfte Freude, jo werden fie es fich um feinen Preis
der Welt entreißen laffen, am Allerwenigften aber werden fie jich dieſes Glückes
freiwillig entäußern. Und es ift ein Luxus der Großherzigkeit, wenn die
Männer ſich jo feurig für das Glück ihrer Echweftern ereifern.
Und: die Wohlfahrt des Kindes. Wie? Iſt das Herz der Mutter
—
* per, — ⏑
32 Die Zukunft.
nicht ihr bejter Hort? Darauf antworte ih: Das Kind gedeiht da am Beiten,
wo eine erzieherifch begabte Perſönlichkeit von edler Geſinnung, von Intelligenz
und Herzensgüte über ihm wacht, e8 leitet umd führt. Beligt die Mutter
diefe Eigenfchaften: um fo beſſer. Beligt fie fie nicht, dann wird das Kind
in ihrer Sphäre das bejtmögliche Gedeihen nicht finden.
Und die heflfeheriiche Kraft des Mutterinjtinttes? Gehört fie doc
zu den auswendig gelernten ewigen Wahrheiten, die fi) von Geſchlecht zus
Gefchlecht vererben. Erſt fürzlic) las ich in der Schrift eines warmen Femi—
niften, daß „felbjtverjtändlich, wie bisher, fo auch in Zufunft die wunderbar
hellfeherifche Kraft des Liebevollen Mutterinftinktes das Beſte thun wird.“
So lange man jich von diefer alteingefejlener Wahnvorjtellung nicht frei macht,
wird der milden Engelmaderei der Juſtinktmütter Vorſchub geleiftet. Ich
glaube nit am die Wunderwirkung des Mutterinftinftes; eher fcheint mir
die Mutterliebe, die nur in Ausnahmefällen nicht blind ift, ein Hemmuiß
des fruchtbaren Wirkens am Kinde.
Und das Glück des Kindes? Braucht das Kind nicht Liebe? Gewiß.
Aber es gilt ihm gleich, von wen die Liebe fommt. Es kann die Mutter fein; fie
braucht es aber nicht zu fein. Die Liebe des Kindes zur Mutter ift ganz jicher Fein
Naturinſtinkt. Sein inftinktives Bedürfnik nad) Liebe und Anhänglichkeit fällt den
Perfonen zu, die ihm Luft bringen, fei e8 dur Nahrung, Spielzeug oder was
ihm fonft Behagen jchafft. Der Säugling von ſechs Monaten jauchzt der Amme,
nicht der Mutter entgegen. Bei diefer Kindesliebe ift eben auch die Gewohu—
heit dauernden Beifammenfeind und das Gefühl der Abhängigfeit von der
pflegenden Perfönlichkeit ein jtarf mitwirfendes Element. Darauf ift zum
Theil die merkwürdige Erjcheinung im Sindesleben zurüdzuführen, die mic
oft mit Staunen und Groll erfüllt hat: daß die Heinen Kinder ihren Wärter-
innen, auch wenn jie fchleht und ungerecht von ihmen behandelt —
leidenſchaftlich anhängen.
Ich betone hier ausdrücklich, daß nie und nimmer ein Gewaltakt das
Kind von der Mutter reißen ſoll. Was das Recht des Kindes erheiſcht,
wird ſich in langſamer, allmählicher Entwickelung zu höheren Kulturſtufen
von ſelbſt ergeben.
Wenn die Kindchen bei der Aufziehung durch ungeſchulte Kinderfrauen
und unreife Kindermädchen nicht zu ihrem Recht kommen: der Mutter iſt
kein Vorwurf zu machen. Sie iſt eben, wie ſie ſein kann. Die Babies
kommen nicht zu ihrem Recht, weil die Mütter ſelbſt nicht zu ihrem Recht
gekommen ſind. Das heißt, nicht zur Entwickelung der Intelligenz, die ihnen
das Verſtändniß für die Pſyche des Kindes erſchloſſen hätte, der Kenntniſſe,
von denen das leibliche Wohl des Kindes abhängt; wobei natürlich nicht aus—
geſchloſſen iſt, daß auch eine Frau, trotz aller Intelligenz und allem Wiſſen,
— a ER 4 ÖA
Generalverfanmlungen. 33
wenn ihr die erzieherifche Begabung abgeht oder fchlechte Charaktereigenfchaften
ihre Geiftesvorzüge neutraliliren, eine ungute Mutter fein wird.
Die Mutterfchaft fol mehr fein als eine auf felbftifhen Borftellungen
beruhende, undisziplinirte Gefühlsfchmwelgerei.
Bisher ift in dem Verhältnig von Mutter und Kind die Mutter mehr
zu ihrem Recht gefommen als das Sind. Sehr erflärlid. Die Mutter
redet, da3 Kind nicht.
Auch die Umwerthung der Mutterfchaft fteht auf dem Programm der
Beit. Daß jie eine unvergleichliche Vertiefung und Veredelung erfahren wird,
wenn die Frau erit zu Lebens: und Erkenntniß-Höhen geftiegen ift, die ihr
bis jegt nicht zugänglich waren, unterliegt für mich feinem Zweifel. Die
Mutter von heute und gejtern wird nicht mehr die Mutter der Zukunft fein.
Man vergleicht gern die junge Mutter mit dem Kind im Arm einem
Madonnenbild. Und Das wäre wohl die rechte Mutter, die, gleich der
Mutter Maria, mit ehrfürdhtiger Inbrunſt auf das Kind in ihrem Schoß
blidte, in der Erkenntniß, daß das Sind die Zufunft bedeutet. Das heikt:
einen Fortſchritt der Menfchheit. Zu ſolchen Müttern verhelfe die große
moderne Frauenrevolution dem Kinde!
Die Emanzipation de Weibes ift das Necht des Kindes.
Hedwig Dohm.
Generalverfammlungen.
Sen alter, erfahrener Börfenmann jagte mir einmal: „Lieber Freund, Sie
mögen gegen unjere Bank jcdhreiben, was Sie wollen; wenn die Kurſe
ſteigen, iſt doch Alles nicht wahr.“ Den Eindrud, daß Alles nicht wahr ift,
was früher behauptet und nicht widerlegt wurde, hat man bejonders, wenn man
die Generalverfammlungen der Banken beſucht. Namentlich bei der Frühjahrs—
parade der Nationalbank für Deutichland konnte man glauben, Alles, was im
Borjahr geihehen war, fei längjt aus der Grinnerung entſchwunden. Fünfzehn
Aktionäre waren anmwejend. Freilich waren noch; mehr Yeute im Saal; aber
der Eingeweihte erfannte darunter manchen Auch Journaliſten, der jtets, mit
einer Aktie bewafjnet, in die Verfammlungen zu gehen pflegt. Und unter den
fünfzehn „echten“ Aktionären, die wenig mehr als 4 Millionen Mark Kapital
vertraten, bejtand der größte Theil no aus den Angeftellten interejlirter Firmen.
Neben anderen jahen wir einen Bertreter der Firma Wiener, Levy & Go., deren
Mitinhaber im Auffichtrathe der Bank ſitzt. Da wird uns immer jehr feier-
3
>> Dr
34 Die Zuhmft.
lich verkündet, daß bei der Dechargirung Aufjichtrath und Direktion fid) der Ab—
ftimmung enthalten, wie es das Geſetz verlangt. Gewiß: Herr Levy ſtimmt
nicht mit; aber der Profurijt der Firma Levy & Co. darf ftimmen. Unſere
modernen Aktionärverfammlungen trifft mit bitterer Wahrheit das Wort jenes
Leiters einer franzöfiichen Generalverfammlung, der, als ein Aktionär ſich eine
Cigarre anzünden wollte, ihm zurief: Ne fumez pas, monsieur! Vous ne voyez
done pas tous ces hommes de paille? Ferner jaß unter den „echten“ Aktio-
nären ein Profurift der Firma Hardy & Eo., deren Inhaber, Herr Andreae,
neu für die Wahl zum Aufjichtrath vorgefchlagen war. Das Intereſſanteſte an
diejer Berjammlung war das Auftreten des Herrn Generalfonjuls Yandau, der
feierlich erklärte, zwiichen ihm und der Direktion habe es niemals irgend welde
Differenzen gegeben. Er habe jeine Stellung als Aufſichtrath der National*
bank für Deutjchland aufgegeben, als er merkte, daß ihm die Zeit zur Erlebi:
gung all jeiner Amtspflihten fehle; und niemals habe er gegen den Willen der
Direktion ein Geſchäft bei der Nationalbank durchgejegt. Das wurde vom Vor—
ftandstiich her bejtätigt und außerdem erflärt, niemals hätten ernjtere Meinung»
verjchiedenheiten, als fie unter Ktollegen unvermeidlich jeien, zwijchen den ver:
jdiedenen Mitgliedern der Direktion geherrſcht. Alles, was über ſolche Diffe-
renzen verbreitet worden jei, gehöre ins Neid) des Mythos. Befanntlid) waren aus
den Bureaux der Nationalbank Meldungen durcchgefidert, die ſich weniger friedlich
ausnahmen. Die Meinungverichiedenheiten zwiichen den lieben Kollegen Peter
und Stern follten nad) jenen „unmwahren Erzählungen” manchmal jo ernjt ge
wejen jein, daß aus den Tintenfäfjern der ſchwarze Saft erichredt emporſpritzte.
Herr Direktor Peter ging denn auch, wie es hieß, „aus Gejundheitrüdjichten“.
Daß die Demijjion wirklich Feinerlei andere Gründe hatte, wird, nad) den bün-
digen Erklärungen vom Borjtandstiih aus, jett Niemand mehr zu bezweifeln
wagen. Uber gegen andere Erklärungen regen fi doch Zweifel. Daß Herr
Landau gegen den Willen der Direktion Feine Gejchäfte gemacht hat, iſt klar.
Nur hatte er eben zwei Vertreter in der Direktion und auch die Mehrheit des
Auflihtrathes zeigte fih ihm jo gefügig, da es wahrſcheinlich feiner bejonderen
Energie bedurfte, um die Gejchäfte, die er machen wollte, durchzufegen. Iſt
etwa die Nationalbank nicht von ihm mit der Kleinbahngejellichaft hereingelegt
worden? Und ift das Kleinbahngejchäft nicht eins der ſtandaldſeſten Gejchäfte,
die in der vorläufig legten Gründungperiode überhaupt gemacht worden jind?
Auf diefe heifle Frage ging Herr Yandau nicht näher ein. Es war aud nicht
nöthig; denn was geſchehen iſt, tit geichehen. Und es joll hier immerhin noch als
ein achtbares Zeichen perjönlichen Muthes gerühmt werden, daß er überhaupt
in die Generalverfammlung kam, um den Aktionären Rede und Antwort zu
ſtehen. Doch hätte er bejjer gethan, diejen guten Eindrud nicht dadurch zu vers
wijchen, daß er fich plößlich jpreizte und Werth auf die Feſtſtellung legte, er
habe in den Zeiten der Hochkonjunktur nicht in 37, jondern nur in 31 Verwaltung:
räthen geſeſſen. Er hätte aud), wenn es ihm irgend möglich war, verhindern jollen,
daß einer der Aktionäre ein Yoblied auf ihn anftimmte und ihn beinahe flehentlid)
bat, doch wieder in den Aufiichtrath zurüdzufehren. Ich glaube, der Herr Ges
neralfonjul thäte gut, wenigitens erjt etwas Gras über die Dinge, die geſchehen
find, wachſen zu lajjen; und jeine intimften Freunde fonnten ihm feinen befjeren
Generalverfammlungen. 35
Rath geben als den: vorläufig lieber hinter den Eoulifjen Banken zu fufioniren,
als im Licht der Rampe ſchon wieder in Hauptrollen aufzutreten.
Die Nationalbank» Verfammlung war injofern eine Ausnahme von der
Regel, als fich ein paar neugierige Aktionäre fanden, die nad Diefem und Jenem
fragten und ſich jogar jehr jchwer zufrieden gaben, obwohl Herr Direktor Stern
auf jede Anfrage Etwas — wenn auch nicht gerade viel — zu erwidern wußte.
Drei Punkte interejjirten befonders. Natürlich) wurden die Beamtenentlaffungen
berührt. Herr Stern ging mit beneidenswerther Nondalance darüber hinweg;
nur jungen Leuten, die man nicht brauchen konnte, fei gekündigt worden. Die
Sade jei in der Oeffentlichfeit aufgebaufcht worden. Mehrere Beamte, die zum
eriten April feine Stellung befommen fonnten, habe man behalten. Ich habe
Gier früher über die Beamtenentlafjungen der Nationalbank genaue, mit Ziffern
belegte Angaben gemacht, die nicht widerlegt worden find. Danad hatte auch
die oft gejcholtene Deffentlichkeit alle Veranlafjung, ſich über die Entlaſſungen
aufzuregen. Sogar Leuten, die jeit elf Jahren in der Bank arbeiteten, war
gekündigt worden. Herr Stern jagte den Aktionären ferner, man werfe ihm
vor, Beamte entlafjen zu haben, und finde wiederum doch das Unkoſtenkonto
noch immer zu hoch. a, vergißt denn Herr Stern ganz, daß in dem Unkoſten—
fonto für das Jahr 1900 210000 Mark Direktorentantieme jteden? Solche
Bojten dürften wohl von den Aktionären bemängelt werden, nicht aber die Beamten
gehälter, die nach. meiner damaligen Aufjtellung recht Färglic waren. Dann
wurde das Banfgebäude monirt. Ein Aktionär meinte, ihm ſei erzählt worden,
einige Räume jeien jo luxuriös ausgejtattet, daß fein Beamter fie betreten dürfe.
Herr Stern gab zu, das Gebäude jei in der Zeit der Hochkonjunktur wohl etwas
luxuriöſer angelegt worden, als es in jchlechteren Zeiten geplant worden wäre;
troßdem jei es noch billig und man hätte es ſchon mit Nuten verlaufen können.
Endlich) wurde darauf hingewiejen, daß nocd immer fein dritter Direktor neben
Herrn Stern und Herm Magnus fungire. Man konnte den Aktionären, ange-
ſichts der Art, wie Herr Stern die an ihn gerichteten ragen beantwortete, nicht
verargen, daß fie Sehnſucht nad) einem dritten Direktor empfanden. Auffichtrath
und Direktion verfiherten, man juche jhon lange nach einem tüchtigen Wann,
es jei aber jehr jhmwer, einen zu finden, Mit Recht hob ein Aktionär hervor,
daß man genug tüchtige Leute finden könne, wenn man endlich der Unſitte ent»
fage, immer nach großen Namen Umſchau zu halten und die untüchtigiten Direktoren
nur wegen ihrer ſchön Elingenden Titel anzuftellen.
Die Nationalbank kann trotz Alledem den Ruhm für fi in Anſpruch
schmen, nod immer bie „natürlichjte” Generalverfammlung gehabt zu haben.
Wenigitens waren Opponenten da, die allerdings, wenn fie etwa den Ehrgeiz gehabt
hätten, Anträge zu jtellen, nichts auszurichten vermocdt hätten. Doc macht die
Anweſenheit ſolcher Aktionäre immerhin nach außen einen guten Eindruck.
Ganz anders ging es bei der Dresdener Bank zu. Tro Allem, was
bei diejem Inſtitut vorgekommen ift und was doch mindeftens zu Eritiichen An—
fragen reihlih Anlaß gegeben hätte, jprad) Niemand mit der Direktion ein
ernjtes Wörtchen. Bertreten war eine jo auffallend Eleine Aktienfumme, da
die übliche ntereffelofigkeit der Aktionäre zur Erklärung nicht ausreiht. Man
tujcelte, die Mehrzahl der Aktien ruhe nicht allzu fern von gewiljen Aufſicht—
g3*
36 Die Zukunft.
räthen als füße Anterventionlaft. Fehlten in Dresden die Opponenten, jo gab
es dafür begeifterte Lobredner: ein Herr aus Berlin, einer aus Dresden und
einer aus Münden. Den Dresdener und den Münchener kenne id) nicht, dafür
deſto befjfer den Berliner. Er iſt Direftor eines großen induftriellen Unter:
nehmens, bat mit gewiffen Kreijen unſerer Finanzwelt „Fühlung“ und hört ſich
jehr gern reden. Mit der Dresdener Bank jelbjt will er feine „Fühlung“ haben.
Diefe Ehrenretter fanden, als artige Aktionäre, nicht einmal nöthig, ſich zu er-
fundigen, wie es denn eigentlich der Hannoverſchen Straßenbahn und der Firma
Drenftein & Koppel gehe umd ob fid) die Firmen, die Dresdener Bank: Aftien
gekauft oder in Report genommen haben, aud) recht wohl dabei befinden. Solche
frititlofen Lobhudeleien ſchien die Direktion der Dresdener Bank als einen Er:
folg anzujehen. Iffenbar war ihr das „Forum“ einer jo injzenirten General-
verfammlung zum Beweis ihrer Tüchtigkeit recht willlommen; wie Herr Gut:
mann ja aud) jüngſt das Chrengericht der berliner Börje für das „geeignete
Forum“ hielt, um fich gegen angeblich unwahre Beihuldigungen zu wehren.
Einen Erfolg hatte allerdings die Dresdener Bank: der Geheime Finanz—
rath Sende, der am erjten Mai von Krupp jcheidet, und der frühere Minijterial-
direftor Mice, jebt Direftor der Großen Berliner Straßenbahn, find in ihren
Auffichtrath getreten. Ich habe der Dresdener Bank nicht zugetraut, daf jie in
diefer Zeit ſolche Helfer zu werben vermöge. Der Eintritt Jenckes joll haupt-
ſächlich eine Folge der intimen perjönlichen Freundſchaft mit dem Geheimen Ober-
finanzrath Müller, dem Direktor der Dresdener Bank, ſein.
Zur ſelben Zeit wählte die Deutſche Bank in ihren Aufſichtrath zwei
dresdener Herren: den mit Recht viel angegriffenen Reviſor der Dresdener Kre—
ditanſtalt, Herrn Kommerzienrath Theodor Menz, und den Direktor der Sächſiſchen
Bank, Herrn Kommerzienrath Mackowsky. Das iſt in ſeiner Art auch ein Erfolg
und nicht gerade ein Beweis ſehr freundlicher Geſinnung gegen die Dresdener Bank,
die ja eigentlich den erſten Anſpruch darauf haben ſollte, dresdener Bank⸗ und
Induſtriekreiſe an ſich zu feſſeln. Damit ſcheints aber einſtweilen, trotz allen Be—
mühungen, doch nichts zu ſein.
Wie weit die Generalverſammlungmache ſchon gediehen iſt, dafür bot ein
charakteriſtiſches Beiſpiel die Generalverſammlung der Deutſchen Genoſſenſchaft—
bank, wo die Aufgabe, das Lob der Direktion zu ſingen, Herrn Kommerzienrath
Hubert Claus zugefallen war. Herr Claus iſt Direktor des Eiſenhüttenwerks
Thale, einer Gründung der Genoſſenſchaftbank. Welchen Zweck hatte hier die
Mache? Der Direktion der ſich mühſam ernährenden Genoſſenſchaftbank will
und kann Niemand etwas Ernſtliches vorwerfen. Aber Direktionen, die noch
ohne Strohmänner auskommen, ſcheinen ſich jetzt ſchon nicht mehr für voll—
werthig zu halten. Sie handeln ungefähr jo wie kleine Knaben, die glauben,
um erwachſen zu jcheinen, müßten fie Cigaretten rauchen. Die Direktionen der
Kleinen, joliden Banken jollten ſich aber dieje Mätzchen jdhnell wieder abgewöhnen.
Anftändige rauen brauchen nicht den Ehrgeiz zu begen, ihrer auffallenden
Kleidung wegen auf der Straße für Cocotten gehalten zu werden,
Plutus.
“
— — —
Schweningers Jahresbericht. 37
Schweningers Jahresbericht.
Offener Brief an Herrn Profeſſor Dr. J. Schwalbe,
Redakteur der Deutſchen Mediziniſchen Wochenſchrift.
3— beſprachen in der Nummer 12 der Deutſchen Mediziniſchen Wochenſchrift
vom zwanzigſten März 1902 den vom Geheimrath Schweninger veröffent-
lihten Jahresbericht des Kreisfranfenhaujes zu Groß-Lichterfelde. Wenn heute
nun ich al3 Erſter von Schweningers Schülern es unternehme, auf Öffentliche
Herausforderungen öffentlich zu erwidern, fo ijt es wahrlich weder hr Titel nod)
die Stellung Ihres Blattes, die mich dazu reizen. Es gilt vielmehr, einen
allgemein beliebten Modus der Parteikritit zu beleuchten, der darin bejteht,
kühnlich Behauptungen aufzuftellen, zu denen der Muth aus befannten Berhältniffen
fließt. Ein Eritifirender Redakteur weiß mit einer gewijjen prozentualen Sider-
heit, daß feine Lejer in den jeltenjten Fällen aus der buchhändlerijchen Fuß—
note unter dem fritifchen Aufjag Konfequenzen ziehen, um den Gegenjtand der
Beipredung aus eigener Lecture kennen zu lernen. Zum größeren Theil be-
jcheidet der Lejer ji mit dem Arbitrium feines Leibredatteurs. Selbit jene Minder—
heit, die es wirklich noch für nöthig oder interejjant hält, das Beſprochene im
Original fennen zu lernen, lieft dann meift mit den Augen des Stritifers. So
ift einer beſchränkten Anzahl von Köpfen — ich jage nicht: einer Anzahl von
beſchränkten Köpfen — carte blanche ertheilt zum Anfertigen von Urtheils-
modellen, die bejtimmt find, öffentlich aufgeftellt und zum Privatgebraud) des
Einzelnen Eopirt zu werden. Nun jollte man meinen, dies Vertrauensvotum
veranlajje die damit Geehrten, bei Ausübung ihres Amtes bejonders vorfichtig
und gewiffenhaft zu verfahren. Leider its nicht immer fo. Gerade dieje Frei—
beit von faſt jeder Kontrole hat ein Gefühl der Selbjtherrlichkeit erzeugt. Wie
es jcheint, auch bei Ihnen, Herr PBrofejjor.
Sie jagen zwar, Sie wühten fich völlig frei von irgend welchen perjün-
lihen Motiven, ſowohl von der Animofität, die viele Aerzte gegenüber Herrn
Schweninger befigen jollen, als aud) von „dem pridelnden Neiz, eine Perſön—
lichleit, die — berechtigter oder unberechtigter Weife — im öffentlichen Yeben
eine Rolle jpielt, unter die Yupe zu nehmen und jie in ihre morphologiichen
Beitandtheile aufzulöjen“. Die Höflichkeit gebietet, dieje emphatiſche Berficherung
Ihnen aufs Wort zu glauben. Die Folgerungen, die jich aus Ihrer Kritik ergeben,
dürfen aljo nur gezogen werden im Hinblick auf Ihre Fähigkeiten und Ihre Eignung,
Gelejenes zu verjtehen und zu beurtheilen. Ich erlaube mir, aus einigen mir be:
merfenswerth jcheinenden Aeußerungen Ihres Aufjatzes diefe Folgerungen zu ziehen.
Sie ſprechen mit jtaunenswerther Sicherheit von Dingen, über die Sie
nad der Natur der Sachlage nichts wiljen fünnen. Sie meinen, Schweningers
Brogramm „wurde durch die Berufung eines jelbjtändig urtheilenden und danad)
auch handelnden Chirurgen erjchüttert.” Was wiſſen Sie, Herr Profeſſor, von
den Modalitäten, unter denen der Chirurg angejtellt — Sie jagen: „berufen“ —
wurde? Was willen Sie von diejes Chirurgen felbjtändiger Urtheilstraft und
Dandlungfähigkeit und was von Ericdjütterungen, die aus Stonflitten diefer Selb«
ftändigfeit mit Schweningers „Programm“ fich ergeben hätten? Was wiljen
Sie ferner von Schweningers Haltung im Prozeß gegen die Kurpfuſcherin Minna
38 Die Zukunft.
Kube? Nichts! Aus etlichen Berichterjtatterzeilen mögen Sie fid) zur Noth ein
Bild von dem äußeren Gange der mit Ausihluß der Deffentlichkeit geführten
Verhandlung machen. Ein Anterefjentenblätthen hat aus der Feder eines Arztes,
der ſich für objektiv genug hält, in einer Klagefahe Partei, Zeuge und Gut-
achter zugleich fein zu können, ein Referat gebracht, von defjen Objektivität und
Genauigkeit die wenigen Augen» und Ohrenzeugen nicht jonderlid viel Rühm—
liches zu jagen haben. Dazu wieder ein Bischen Kollegen- und Standesvereins-
Hatih. Das ift Alles. Wenn Ihnen jo dürftige Anhaltspunkte genügende
Grundlagen zu einer öffentlichen Kritik bieten, jo dürfen Sie es bejjer Unter-
richteten nicht verargen, wenn fie ihnen Leichtfertigkeit nachſagen.
Da aber, wo Sie „des Berichtes zweiten und Haupttheil“ jehr rudimentär
und mit jpärlichem Erfafjen citiren, giebt es der Entgleifungen noch mehr.
Ad I: Die Statiftil. Ich habe nichts dagegen einzuwenden, wenn Sie
erklären, daß alle verjtändigen Leute übereinjtimmend mit Schweningers cin»
leitenden Sätzen „je und je“ Statiſtik getrieben haben. Gegen die verjtändigen
Leute hat Schweninger nie Etwas gejagt. Die, denen jeine Zurückweiſung gilt,
find jene unverftändigen Leute, Herr Profeſſor, die fich über das Entjtehen und
über die Verjchiebungmöglichkeiten von Krankenhausſtatiſtiken im Unflaren zu
befinden jcheinen und Schweninger implieite des Mordes an unjchuldigen Kind»
lein bezichtigen. Sie nennen eine „jogenannte Binfenwahrheit”, was Schwe—
ninger von der Werthlofigfeit einer „tendenziöſen, unvorfichtigen, einfeitigen
oder optimiftiihen Statiftit ausführt”, Nun ift zwar in dem ganzen Bericht
nirgends der Anſpruch darauf erhoben, dag Schweninger jid für den Erfinder
oder Entdeder diefer Wahrheit halte. Sie meinen aber, wenn die zwiſchen den
von ihnen etwas abrupt angeführten Anfangs- und Schlußzeilen liegenden
Bemerkungen zutreffend wären, jo wäre der „Statijtif als Wiſſenſchaft und zu-
mal der Medizinalftatiftit überhaupt der Boden völlig entzogen‘. Sie hätten zu
beweijen gehabt, daß Schweningers Bemerkungen unzutreffend jeien. Das aber
haben Sie nicht nöthig, da für Sie „eine Statijtif die Wiſſenſchaft von den
großen Zahlen‘ bedeutet. Ueber dieje Spezialauffaflung ijt nichts zu jagen.
Ad U: Bemerkungen über Diphtherie und deren Differentialdiagnoje.
Unter welden Gefichtspunften Sie diefen Abſatz ‚wiederholt‘ durchgeleien und
für die Möglichteit Ihres Verſtändniſſes ſich zurechtgelegt haben, ift mir völlig
unklar. Nach einem Kleinen, ungemein geijtvollen Seitenhieb auf Schweningers
Selbſteinſchätzung als Diagnoitiler ertrahiren Sie aus fünf bedrudten Quart—
jeiten drei Sätschen, die ihnen Anhaltspunkte für irgend einen Gedankfengang
abgeben, deſſen Schlußfolgerung darin zu beftehen jcheint, dag Schweninger bes
jtimmte oder, wie Sie jagen „abjolut ſichere Merkmale“ für die Erkennung
der Diphtherie zu befiten glaubt, diefe jeine Kenntniß aber der Welt vorent-
halte. Wie müſſen Sie gelejen haben, Herr Profejior? Auf Seite 13 des
Berichtes jteht Klar und deutlich, daß Schweninger von je her nur den breton»
neaujchen kliniſchen Diphtheriebegriff für annehmbar hielt, zu dem heute bereits
eine Zahl jehr bemerfenswerther Männer wieder zurückkehrt, Allen voran Beh—
ring jelbjt. Das fteht da. Und Sie brauchten höchſtens in einem Lexikon den
Abſchnitt über Bretonneaus Auffaffungen nachzulejen, wenn Sie nicht vorzogen,
Sciweningers eigene, im Bericht erwähnte Arbeit zu jtubiren. Dann wäre
Echweningerd Yabresbericht. 39
Ihnen aber auch nicht gleich darauf das Unglüd paffirt — ich jete immer
ihre vollite bona fides voraus —, zu jagen: „Für Schweninger gilt im All
gemeinen eine Rachenaffektion als Diphtherie, wenn ihr Befiger ſtirbt“. Hätten
Sie nämlich aufmerkjam und richtig gelejen, jo hätten Cie auf eben jener
Seite 13 den Sab gefunden: „Es gab eine Zeit, wo die pathologiichen Ana»
tomen ſich gern der Anficht zuneigten, nur jene Fälle als einwandfreie Diph-
therie gelten zu lajjen, die mit dem Tode des Individuums enden‘; und weiter:
„Wenn wir auch nicht diefe Erfennungzeichen als die alleinigen gelten laſſen
wollen‘ u. j. w. In der Mitte dfejes zweiten Sabes beginnen Sie, wörtlich
zu citiren. Schade, daß Sie nicht etwas früher anfingen.
Ad III: Ciniges über Krebskranke und deren (operative) Behandlung.
Sie citiren wieder in einer zur Aufklärung jo wenig geeigneten Weife, daß
Denen, die ſich belehren wollen, nichts Underes übrig bleiben wird, als den
Bericht ſelbſt zu lejen. Soll ich noch ausdrücklich verfichern, daf „Schweninger, der
Feind aller Statijtiten‘, nicht „die abjolute Zahl der Krebsfälle“ mit der „re—
lativen Krebsmortalität'““ verwechſelt, da er einfach auf die in letter Zeit ganz
allgemein gewonnene Erfenntnig von der anjteigenden Zahl der Krebserkran—
tungen und auf die zahlenmäßige, nicht ftatijtiich berechnete Zunahme der an
Krebs Geftorbenen hinweiſt? (S. 20). Ich führe feine Literaturbelege an, da
ich mir ja nicht herausnchme, Sie, Derr Profeſſor, belehren zu wollen; ich will
Sie nur da auf den richtigen Weg leiten, wo Sie in handgreiflihdem Wider-
jpruch mit den Thatſachen jtehen.
Sie jagen: „Wenn man aljfo unferem großen Zweifler einen Mann vor-
führt, dein vor fünf Jahren ein Magenkarzinom durch Pylorusrejettion entfernt
ijt umd der ſich heute vollfommen gejund fühlt, deilen Karzinom von Yeyden
kliniſch diagnoftizirt, von Bergmann operirt und von Virchow anatomiſch unter:
jucht ijt, jo wird Schweninger bedauernd die Achjeln zuden und jagen: Weder
die anatomische noch die hiltologiiche Unterfuchung genügt mir für die Krebs—
diagnoje;*) und da der Kranke bisher fein lokales oder allgemeines Nezidiv
zeigt, auch einjtweilen nod nicht geitorben it, jo kann er von mir nicht mit
Sicherheit als Krebſiger angejehen werden.“ Sie jind höflichit eingeladen,
Herr Profeſſor, gütigft den bewuften Mann Schweninger vorzuführen und die
aus dem erzidirten Tumor von Virchow angefertigten Präparate vorzulegen.
Schweninger wird fich jehr freuen, wieder einmal eine jener intereflanten Rari—
täten, von denen bie und da berichtet wird, geſehen zu haben. Er wird
nicht anjtehen, Ihnen zu erklären, daß er, wie gewiß auc) die Herren von Yeyden
und von Bergmann, vor einem Dilemma gejtanden hätte, falls er vor fünf
Jahren zu dem Stranfen gerufen worden wäre, „Denn“ — würde er „ihnen
lagen — „zu den Pylorusrejektionen bei Magenkarzinom habe ich wegen der
ımgeheuren Sterblichfeit in Folge der bloßen Tperation und wegen der ver-
ſchwindend Eleinen Zahl der günftigen Erfolge nicht viel Vertrauen. Es mag
ja jein, daß bei dem Manne damals die allgemein Eonftitutionellen und lofalen
*) Das jagt er gar nicht, denn wenige Zeilen vorher citiren Sie felbit:
Weder die anatomiſchen noch die hijtolontichen Momente „können im Stande
fein, uns eine Strebsdiagnofe unter allen Umſtänden einwandfrei zu ermöglichen”,
40 Die Zukunft,
Berhältniffe am Tumor jo lagen, dat ich jchließlich doc zur Vornahme einer
Operation durch Herrn von Bergmann gerathen hätte; denn es iſt ein Irrthum,
Herr Kollege, wenn die Leute jagen, ich liche prinzipiell feinen Strebjigen operiren.
Leſen Sie, bitte, darüber in meinem Bericht auf Seite 19 nad). Aber, wie
gejagt, es ijt eine verdammt ſchwere Entichließung!“
Und nun zu IV: Die fogenannten jpezififhen Mittel. Sie jagen da
in einer Anmerfung zu einem Gitat über Schweningers Stellungnahme gegen
bie forcirte Temperaturherabſetzung beim Fieber, „er jtreite hier, wie an vielen
Stellen, wider Meinungen der Schulmedizin, die dieje jelbit bereits aus eigener
Kraft vor Jahr und Tag überwunden hat.“ Dazu ijt der Schulmedizin nur
zu gratuliren. Auf dem Standpunkte aber, zu dem bier die Schulmedizin fich
aus eigener Kraft vor Jahr und Tag durdhgerungen hat, jtand Schweninger
ihon vor etwa zwanzig Nahren und von diefem Standpunkt ift er nicht abge-
wichen, troß allen Antipyreticis und allen Schwankungen in der Auffaffung
vom Weſen des Fiebers. Sobald er aber vor Jahr und Tag, als die Schul»
medizin noch nichts im diefer Frage überwunden hatte, irgendwo feiner dis—
jentirenden Meinung Ausdrud gab, — wie, meinen Sie wohl, Herr Profeſſor,
find die Schwalbes von dazumal mit ihm umgejprungen? ch will es ihnen
verrathen: genau jo wie Sie in den Fragen, bei denen ſich die Schulmedizin
erjt nach „Jahr und Tag zu Schweningers Standpunkt durchringen wird.
Sie jagen, nad Schweninger „könne übrigens Chinin jchon aus logischen
Gründen nicht jpezifiih wirken.“ Auf Seite 26 -des Berichtes ſteht zu lefen,
daß nah Zuſammenfaſſen des eben Geſagten Alles uns bejtimmen muß, „aud)
für das Chinin die Frage nad der ihm zugefchriebenen jpezifiihen Wirkung
mit Nein zu beantworten. Webrigens veranlaßt uns dazu auch jchon der Ein-
ipruch der Logik.“ Der Einfpruch der Yogik veranlaßt uns, „Nein zu jagen“,
beeinflußt aber die Wirkung des Chinins natürlih nicht im Geringften. Wie
fonnten Sie da nod) eigens hinjchreiben: „So wörtlich zu leſen in dem ärzt—
lihen Berichte Schweningers?" Sie haben ja, abgejchen von dem verzeihlichen
Mißverſtändniß, einen ganzen wichtigen Sa, der den Einjprud der Yogif er-
läutert, aus ihrem Gitat weggelajien.
Und jebt das ſchreckliche Druedfilber! Sie werfen Schweninger mit den
Antimerkurialiiten zulammen und laffen ihn ex facultate in Gemeinjchaft mit
dem befannten Dr. Hermann abthun. Auf Zeite 52 des Berichtes ſteht im
dritten Abjak von oben: „Wir jind feine Antimerfurialiten im landläufigen
Sinne des unglüdjeligen Wortes’; und weiter: „Dem Queckſilber, was des
Duedjilbers iſt“; und weiter, immer auf der jelben Seite: „Wir erfennen des
Queckſilbers ausgeiprohene — wenn aud) unverftandene — Wirkung als inten-
jiven Reſorbens für alle entzündlichen, von ihm erreichbaren Gewebsveränderun—
gen au“; und weiter: „Derart belehrt, fteht es unſerem Ermeſſen frei, in uns
dringend oder ſonſtwie geeignet erjcheinenden Fällen bis zu einer uns richtig
dünfenden Grenze an das Sueckſilber zu rekurriren.“ Können Sie noch mehr
verlangen, Herr Profeſſor? Daß Schweninger glaubt, mit jeiner Meinung
über die Gefahren und die Ueberſchätzung der Queditlbermwirfung nicht hinter
dem Berge halten zu dürfen, dieſes Recht geitcehen Sie ihm gütigſt jelbjt zu,
wenn jie im weiteren Verlaufe Ihres Aufiages jagen: „Wir — Das find dod
——- — — —
Schweningers Jahresbericht. 41
Sie — „ſind gewiß die Letzten, die die Freiheit, ja, die Vorurtheilloſigkeit der
Wiſſenſchaft antaſten möchten.“ Dann aber glauben Sie, Schweningers perjön-
lie Anjchauung einfach von der Tafel alles Lebenden wegzumijchen, wenn Sie
ihm durd) Rudolf Virchow jelbjt antworten lafjen. Erſtens braudte Schwe-
ninger die Worte Virchows gar nicht auf ſich zu beziehen, denn fie galten, als
jie vor jehsunddreißig Jahren gejproden wurden, den Antimerkurialijten, zu
denen Schweninger nicht gehört. Zweitens aber glaube ich, es thut der ſchuldi—
gen Ehrfurdt vor dem Namen VBirhow feinen Abbruch, wenn man in aller
angemeſſenen Chrerbietung die Frage aufwirft, wie viele Hundert Syphilitifer
Virhow mit und wie viele ohne Duedjilber behandelt habe, um ſich ein ab-
ihliegendes Urtheil in der Lues-HG-Srage erlauben zu können. Und Das
war im Jahr 1859! Rudolf Birdow war damals adjtunddreißig Jahre alt
und hatte ſich ärztlich wohl nicht allzu viel praftiih bethätigt. Schweninger
ſteht heute jeit bald dreißig “Jahren in einer Praxis, deren großen Umfang
wohl jelbjt Sie nicht bejtreiten werden.
Wie wenig Geiſt nöthig ijt, um über ernithafte Dinge ſich luſtig zu
machen, beweijen Sie, Herr Profeflor, in reichlichſten Maße. Ich entzog mid)
daher der allzu leichten Aufgabe, Sie zu ironifiren, und habe das Schwerere
verſucht: Sie ernjt zu nehmen. Das war wirklich manchmal ungemein jchwer.
Ihrer Meinung nach dürfte die Unterrichtsverwaltung nicht dulden, daß in der
akademiſchen Jugend „Vorjtellungen und Meinungen gezüchtet werden, die die
wijjenichaftliche Musbildung und das daraus entipringende praktiſche Handeln
der Schüler verwirren und ſchwer beeinträchtigen können.“ Unter den berliner
jungen Medizinern jollte doc; ein forjcher Kerl zu finden fein, der die Kommi—
litonen zu einer Verfammlung einruft, um gegen die Auffaſſung zu protejtiren,
die Sie von den geiftigen Gaben der Studentenſchaft an den Tag legen. In fünfund-
zwanzig Dörjälen wird tagaus, tagein den jungen Leuten die jelbe „Wahrheit“
gepredigt. Und nun erfahren ein paar diejer jungen Yeute zwei- oder dreimal
wöchentlich in einem jehsundzwanzigiten Hörſaal, dat es neben der „fafulta-
tiven“ vielleicht auch noch eine andere Wahrheit geben fünne. Denn da wird
von Schwenniger nicht gelehrt: „Das ijt jo!” „Das muß jo gemadt werden!“
Nein: da heißt es immer: „Das kann aud fo jein“ und „Das kann auch
jo gemacht werden! Uber, meine Herren, denfen Sie reiflih nad) und werden
Sie aus eigener Ueberlegung jih ſchlüſſig, ob ic Ihnen da nicht vielleicht eine
autoritative Meinung aufdrängen will!" Sind die Studenten denn Papageien,
denen man den objekten Lehrſtoff jo lange vorleiert, bis jie ihn am Gramene-
tage tadellos Herplappern können? Bon jolchen Studenten hätte wohl weder die
Wiſſenſchaft nod die Praxis Etwas zu hoffen.
Daß für Sie, Herr Profejjor, Berichte von Patienten — die willen
ſchaftlichen Referate einer Zimmermannsfrau, eines Gärtners, eines Taglöhners,
eines Tiſchlers — ergänzende Beweije bilden für Ihre aus der Yecture des
Berichtes gewonnene Erkenntniß Dejjen, „was im Lichterfelder Krankenhaus tn
der Krankenbehandlung geleiftet wird”, wundert mich nicht mehr. Am Ende
aber wäre es doch beſſer geweſen, jih auf dieje Batientenaustünfte nicht zu vers
lajjen, jondern nach Lichterfelde zu fahren und ſich dort aus eigener Anſchauung
von den jchredlichen Zuftänden zu überzeugen. Dr. Emil Klein.
*
42 Die Zukunft.
Selbitanzeigen.
Laotoon. Kunfttheoretifche Efjays. Hermann Eeemann Nachfolger, Leipzig-
Meine Schrift zerfällt in drei Theile: Laofoon oder Gedanken zu einer
Lehre vom Kunftihaffen; Laokoon und die klaſſiſche Kunſt; Yaofoon und die
moderne Kunſt. Während die formale Aefthetif die Kunſtgeſetze begrifflich zu
entwideln juchte, wird hier von den Gejeßen der Anſchauung ausgegangen. Denn
da die Kunſt angeſchaut wird, muß fie den Gejegen unjerer Anſchauung unter:
worfen jein und die Grenzen unſerer Anſchauung müfjen zugleich auch Kunſt—
grenzen fein. Deshalb werden die Anſchauungformen und die Geſetze der An—
ſchauung entwidelt und von bier aus die Gejege für die künſtleriſche Darftellung
gefunden. Unſere Anjchauung vollzieht ji vermöge der Sinne. Für die fünft-
lerifche Darftellung kommen in Betracht der Gefihtsfinn und der Sehörsfinn. Man
kann alſo untericheiden zwiſchen den Künſten des Gefichtsfinnes (bildende Kunſt)
und denen des Gehörsſinnes (Dichtlunft und Muſik). Die Grenzen des Gefichts-
finnes gelten für die Grenzen der bildenden Künſte, die Grenzen des Gehörs—
jinnes für die der Dichtkunft und Muſik. In den Zeiten des Berfalles der Kunſt
wurden dieje Grenzen übergangen und Das, was in das Gebiet der einen Kunst
gehört, wurde in das der anderen bezogen. Ferner wird gemäß unjeren An—
Ihauungformen unterfchieden zwifchen Raumfünften und Zeitkünſten. Die Raum-
fünfte haben es mit Ruhe und, Zuftand zu thun, die Zeitlünfte mit Bewegung
und Veränderung. Das geeignetefte Beijpiel zur Erläuterung diejer Geſetze
bildet die Gruppe des Laokoon. Es handelt fi um die Frage, warıım Laofoon,
wie er in dem berühmten Kunstwerk dargeftellt ift, nicht jchreit. Zunächſt jei
furz bingewiefen auf den Stand der Frage. Norausjeßung für die Unterfuhung
des Grundes, warum Yaofoon nicht jchreit, ift der Umftand, daß ein Menſch,
der einen heftigen phyſiſchen Schmerz erleidet, zu jchreien pflegt. Laokoon wird
von der Schlange in die Seite gebijjen; trogdem aber jchreit er nicht. Windel»
mann gab als Grund dafür an: das Schreien ſei ein Ausdrud maßlojen Leidens,
mafjlojes Yeiden aber vertrage fich nicht mit der edlen Einfalt und jtillen Größe,
aljo mit dem Charakter der griechiſchen Kunſtwerke. Windelmann jest das
Schreien als Maflofigkeit dem maßvollen griechiichen Weſen gegenüber. Nun
ift offenbar, daß, obgleich das griechische Wejen zum güten Theil in der Mäßigung
liegt und die griehiichen Kunftwerfe im Allgemeinen die Mäßigung zum Aus—
drud bringen, diefe Mähigung das Schreien al$ einen vorübergehenden Zuſtand
nicht ausichließt und daß in der That andere Kunſtwerke des maßvollen griechiſchen
Geiſtes das Schreien dargejtellt haben. So jchreit Philoktet im ſophokleiſchen
Drama. Das aber it ein poetiſches, der Laokoon ein plaftiiches Kunstwerk.
Vielleicht wird aljo der Grund, warum Yaofoon nicht, Philoftet aber jchreit,
darin liegen, daß ſich das Schreien, der Ausdrud maßloſen Leidens, nicht mit
dem Charakter der plaftiichen Stunftwerfe, wohl aber mit dein der poetilchen
Kunſtwerke verträgt. Yeifing jagt: Das Schreien ift formlos; das Plajtijche
aber ſoll formenichön fein; deshalb ſchließt das Blaftifche das Schreien aus.
Diejer Grund trifft aber den Nagel noch nicht auf den Kopf. Denn aud das
poetiſche Kunſtwerk ſoll formjchön fein und doc findet man in Dramen und
Epen das Schreien. Meine Gintheilung der Künjte bringt uns dem Grunde
Selbftanzeigen. 43
näher. Die Plaſtik gehört zu den Künften des Gefichtsfinnes, die Poeſie zu
denen des Gehörsfinnes. Das Schreien kann nur Gegenjtand des Gehörsjinnes,
niemals aber des Gefichtsfinnes jein. Alfo kann das Schreien von einer Kunſt
des Gejichtsfinnes nicht zur Darftellung gebracht werden. Der Schrei wird ge—
hört, nicht geſehen, ein plaſtiſches Kunſtwerk wird gefehen, nicht gehört. Laokoon
hätte den Mund nod jo weit aufreißen mögen: man hätte ihn niemals jdjreien
gehört; denn das Wejen des Schreies liegt im Yaut, nicht im Mundaufiperren.
Der Laokoon hat den Zwed, angeſchaut zu werden; den Schrei aber kann man
nicht anfchauen; man fann wohl einen offenen Mund anſchauen; ein offener
Mund aber iſt fein Schrei, wohl aber etwas Häßliches. Aehnliches jagt Schopen—
bauer im dritten Bande feiner „Welt als Wille und Borftellung‘: „Man konnte
nicht aus Marmor einen jchreienden Laokoon hervorbringen, jondern nur einen
den Mund aufreigenden und zu jchreien ſich fruchtlos bemühenden, einen Laokoon,
dem die Stimme im Halſe jtedten geblieben: vox faueibus haesit. Das Wejen
und folglid auch die Wirkung des Schreiens auf den Zuſchauer liegt ganz allein
im Laut, nicht im Mundaufiperren.‘ Man kann im Allgemeinen jagen: Was
in das Gebiet des Geſichtsſinnes gehört, darf nicht Gegenjtand der Kunſt des
Gehörsjinnes, umd was in das Gebiet des Gchörsfinnes gehört, darf nicht Gegen-
jtand der Kunſt des Gejichtsfinnes werden. Der Yaofoon des Virgil, der den
Zwed bat, gehört zu werden, jchreit, der plaſtiſch dargejtellte Laokoon nicht.
Freilich Hatte mım der Künſtler der Yaofoongruppe noch die Aufgabe, dem Zu—
Schauer begreiflich zu machen, warum der Laokoon jelbit, aljo der von der Schlange
gebifjene Prieſter, den der Künſtler darjtellte, nicht jchreit. Denn der Laokoon
jelbjt in Perſon, als ihn die Schlange biß, wird doch nicht deshalb nicht ge—
fchrien haben, weil ſich das Schreien nicht mit der bildenden Kunſt verträgt.
Nehmen wir an, die Yaofoongruppe jtellte dar, wie die Schlange eben den Kopf
erhebt, um zu beißen. In diejen Fall wäre das Natürliche gewejen, daß der
Priejter in feiner Todesangſt geichrien hätte. Und wenn der bildende Künjtler
dargeftellt hätte, wie die Schlange eben beißen will, das Schreien des Prieſters
aber nicht dargejtellt hätte, jo wäre er unmwahr gewejen. Der Künftler mußte
vielmehr aus der Reihe von Momenten, während deren Yaofoon mit jeinen
Söhnen von den Schlangen erwürgt wurde, den wählen, während dejjen Laokoon
in Wirklichkeit nicht jchrie oder zu jchreien feine Urſache hatte oder nicht zu
jchreien vermodhte. Nun gab es in der That einen Augenblid, wo Laokoon
jelbjt nicht zu jchreien vermochte: nämlich den, two die Schlange ihn in die Seite
bi. Eine nothiwendige und unausbleibliche Folge des Biljes iſt, daß der Unter:
leib fich einzieht. Sobald aber der Unterleib ſich einzieht, iſt es unmöglich, zu
Ichreien, denn beim Screien wird der Unterleib herausgetrieben. in dem Augen—
blid des Biſſes aljo wurde der Schrei eritidt. Diejen Augenblid mußte alſo
der Künſtler wählen, wenn cs jeine Aufgabe war, den nicht jchreienden Laokoou
darzuftellen. Und dieſen Augenblick hat er aud) gewählt... Der zweite Iheil der
Schrift heißt: „Laokoon und die Kunſt der Nenaijjance”, Bier werden die im
erjten Theil gefundenen funfttheoretifchen Geſetze an Beijpielen weiter erläutert.
Das Selbe geihieht im dritten Theil „Laokdon und die moderne Nunft‘, So
wohl die bildenden Künjte als die Dichtkunft und Muſik werden zur Erörterung
herangezogen und mein Bejtreben war, nicht trodene logijch äjthetijhe Dogmen
44 Die Zuhmft.
aufzuftellen, jondern von der lebendigen Empfindung, die von ber finnlichen An—
ſchauung angeregt wird, auszugehen und die Kunſt jelbjt als Empfindung aufzufafien.
- Dr. Heinrih Pudor.
Philojophie der Kunft von Hippolyte Taine. Erſter Band. Erfte
deutiche Uebertragumg von Ernſt Hardt. Eugen Diederich8, Leipzig.
Die Kunftphilojophie Taines bedeutet den tiefjten Vorftoß und die größte
Eroberung, die bisher die Wiſſenſchaft im Gebiete der Kunft machen durfte.
Sein großer, vornehmer Geift, der durch feine jchöne Logik und reife Männlich-
feit ſelbſt äjthetiich berücend wirft wie ein Kunſtwerk, hat es vermocht, diejen
wifenjchaftlichen Feldzug in einer gedankflichen Klarheit und ſprachlichen Schlidt-
beit zu führen, die jeden Gebildeten zugänglich find. Die Ueberjegung it mit
allem Fleiß und aller Gewiſſenhaftigkeit, die der Ueberſetzer in ſich aufzubringen
vermochte, gearbeitet worden. Ihn leitete der Grundfaß, daß eine Ueberſetzung
die Aufgabe habe, innerhalb der guten Möglichkeiten ihrer Sprade Anhalt und
Form jo buchjtäblich genau wiederzugeben und nachzujchaffen, wie es nur denk
bar iſt. Für das Erſte fann er fid) verbürgen. Was das Zweite angeht, mödte
er hervorheben, dad, trogdem er ſich nicht ein einziges Mal geftattet hat, den
Fluß der Gedanken, der ja jeinen Ausdrud im Fluß der Sprache findet, durch
Satzverſchiebungen oder Satztrennungen umzuleiten oder zu unterbrechen, dennoch
die Veichtigkeit und Flüffigkeit der franzöjiihen Sprache die Vorftellung, daß
es fih um ein geiprocdhenes Bud) handelt, bejjer aufrecht zu erhalten vermag,
als es ihm in der deutichen Sprade gelingen Eonnte.
Athen. - Ernſt Dardt.
Kleines Gottfhed-Wörterbuch. Berlin 1902, Gottjched-Berlag, Linkſtraße 5.
Preis 5 Marf.
Das von den deutſchen Wortforjchern mit Spannung erwartete Büchlein
liegt jeßt, als Arbeitausbeute eincs „Jahres, in handlicher Gejtalt vor. Zu meiner
Freude darf ich jagen, daß es vor einigen Dauptvertretern der Fachwiſſenſchaft
die Probe gut bejtanden hat. Selbſt der zweifellos bedeutendfte Germanijt unferer
Tage, Profeſſor Dr. Friedrich Kluge, bezeugte mir, daß meine „mühfälige, aber
erfolgreiche Arbeit Vieles zur Aufhellung der neuhochdeutſchen Wortchronologie
leijtet”, daß ic das „bleibende Verdienſt“ für mid in Anfpruch nehmen dürfe,
„aus Gottſched eine ganze ‚zülle von Nachträgen zum grimmſchen Wörterbudje
zu Gunſten einer genaueren Altersbeftimmung geliefert zu Haben“. Neben feinem
fachwiſſenſchaftlichen Werth jcheint mir das Bud) aber auch nod) einen allge
meinen Werth dadurd zu beſitzen, daß durch die Unmaſſe von fchönen Gitaten,
zumal aus den Gedichten Gottſcheds, nicht nur die geiltige Perſönlichkeit des
einzigen Mannes jcharf gekennzeichnet, jondern auch ein klares Bild von dem
Reichthum der Kraft und Schönheit jeiner Sprache (in Poeſie und Profa) ge:
boten wird. Aus diefen Grunde darf es wohl aud für ein genufreiches Leſe—
buch gelten. Da die Kleine Auflage des Buches big auf etwa hundert Abdrüde
ſchon vergriffen iſt, Liefere ich das Bud, das feine zweite Auflage erleben jo,
nur noch auf unmittelbare Beltellung. Eugen Reidel.
»
Notizbuch. 45
Notizbuch.
Sen Lieber, der in den Zeitungen der ‚Führer des Centrums genannt wurde,
iſt gejtorben. Ob er wirklich, mit der Herrſchergewalt, die man ihm zujchrieb,
der Führer war? Die Zeit der parlamentarijchen Einzeltyrannis jcheint einjtweilen
dahin. Nicht nur, weil die jtarfen Perjönlichkeiten fehlen. Auch die Herren Richter
und Bebel können heute nicht mehr, wie früher, ihren Fraktionen mit Diktatorenmacht
denn Weg weijen. Die wirthichaftlichen Intereſſen jind jo jtarf geworden, haben in
jeden fraftionellen Verband jo breite Yöcher geriſſen, daß die Führer, die einit fait
unumſchränkt herrichten, jeßt die Elügite Kompromißkunft aufwenden müſſen, um
mwenigitens den Schein der Einheit zu wahren. Für die Erfüllung ſolcher Pflicht war
der Dr. jur. utr. Zieber geeignet. Eine Dußendintelligenz, die ſich ſelbſt ungemein
wichtig nahm. Ein langweilender Redner, deffen feierlich gefalbter Ton im eigenen
Lager oft die Lachluſt reizte. Yon Windthorjt hatte er nicht das Strategentalent, aber
die unendliche Trivialität geerbt, die Freude an allen Spazirgängen, die über Ges
meinplage führen. Das ift nicht zu unterihägen. Nur Männer von jolcher geiftigen
Dispofition können Jahtyehnte lang den Hundetrab unjeres Parlamentslebens mit-
maden, ohne vom Efel aus dem Schattenreich leerer Wortjchälle getrieben zu werden.
Lieber hat einunddreißig Jahre lang im Reichstag gejejlen und hätte jich da noch viel
länger ungemein wohl gefühlt. Warum nicht? Sein Ehrgeiz war kleinſten Stils;
er war zufrieden, wenn Minijter und Staatsjefretäre ihn mit ehrfürdtigem Eifer
grüßten, feinen Rath einholten und ihm die Wiöglichkeit gaben, vor verfammeltem
Kriegsvolf den primus inter pares zu mimen. Im Lauf der Jahre hatte er, der
als fleißiger Arbeiter galt, ſich eine taktiſche Gefchidlichkeit angeeignet, die vor großen
Aufgaben wahrjcheinlich verjagt hätte, immerhin aber ausreichte, um das Alltags-
handiverf des Parlamentarismus zu beherrichen. Daß „unter jeiner Führung“ das
Gentrum der Regirung näher rüdte und zu größerer Madıt fam als je vorher, war
nicht fein Verdienjt, jondern die Folge wirthichaftlicher Verfchiebungen und der be-
fannten Ereigniffe, mit denen die neowilhelminiiche Aera Europa überrajchte. Auch
in diejer veränderten Welt wäre Herrn Yieber die Verjtändigung mit überragenden
Staatsinännern ſchwer geworden — ſchon Miguel haßte er mit der ganzen Inbrunſt
eines engen Philiſterherzens —, doch auf dieje Probe wurde fein Parteiſinn in letter
Zeit ja nicht mehr geftellt. Sein Tod läßt feine Lüde. Graf Balleftrem oder,
wenns ein Bürgerlicher jein joll, Herr Borjch wird die Geſchäfte der Parlaments—
diplomatie mindeitens eben jo gut bejorgen wie der Mann der großen Tiraden, Und
je Eleiner die Schaar der ftreitbaren Protejtanten wird, die nod laut gegen Nom
protejtiren, dejto loderer wird auch das Band werden, das Agrarier, Induſtrie—
feudalijten und ndujtrieproletarier in der Centrumsgemeinſchaft zuſammenhält.
* *
Die trefflihen Männer, die in der Bolftariflommiffion des Neichstages ſchon
fo Rühmenswerthes geleijtet haben, jollen einen Theil des Sommers in Berlin vers
bringen, damit der Entwurf nicht gar zu jpät ins Plenum kommt, Das wollen
Viele von ihnen nicht umſonſt thun und haben den Bundesrath deshalb aufacfordert,
ihnen für die Zeit der Plenarferien Diäten zu gewähren. Zwar wäre es viel ver
jtändiger gewejen, den Tarif gleich im Plenum zu berathen. Zwar können die in
die Kommiſſion Gewählten, jo oft jiewollen, fich von Fraktiongenoſſenablöſen laſſen.
45 Die Zuhmft.
Thut nichts: fie fordern ihren Tagelohn und die Verbündeten Regirungen jollen
bereit jein, diefen Wunſch zu erfüllen. Boffentlich machen die Gegner des Tarifes
durch dieje Rechnung einen diden Strich. Ueber Diäten läßt ſich jtreiten. Nicht der
winzigite Grund aber jpricht dafür, prinzipiell dem Neichstag Diäten zu weigern
und die Kommiſſion, die Herr ihrer Entichlüjje tft, den Sommer lang durdhzufüttern.
Viel wird in der heißen Zeit doch nicht heraustommen. Und eine bezahlte Parla-
mentsbureaufratie hat uns gerade nod) gefehlt. Bejonders nett an der Sache ift,
daß der Antrag auf Diätenzahlung nicht etwa von Kleinbauern oder jozialdemofra-
tiichen Arbeitern ausging, jondern von dem Nittergutsbejiger Gamp, der bisher als
reicher Dann galt und in Berlin eine herrichaftlihe Wohnung bat.
* *
*
Als der Kaiſer neulich in Bremen war, begrüßte ihn Herr Arthur Fitger in
einem Gedicht, das den kaiſerlichen Feldzug gegen die moderne Kunſt als eine Helden—
that feierte. Auf den Wink Wilhelms des Zweiten ſeien die Fratzen ins Dunkel ge—
wichen. In allen Büchern der Geſchichte ſei zu leſen, „daß Kunſt im Streit mit
Kron' und Thron, mit Ring und Stab“ nicht gedeihen kann. Das Gedicht iſt jpott-
ſchlecht; und über die Behauptung, Kunſt bedürfe höfiſcher Gunſt, iſt heutzutage fein
Wort mehr zu verlieren. Herr Fitger hat als Maler und Dichterwenig Anerkennung
gefunden, ſein Drama, Von Gottes Gnaden“, das mit einem dem Kaiſer heiligen myſti—
ichen Begriff jehr unfanft umgeht, ift in Berlin ausgelacht worden und fein verftändiger
Menſch kann ſich darüber wundern, daß der bremer Künſtler die erften Keime neuer
Kunftkultur aus ärgerlihem Auge betrachtet. Ueber Fürſtengröße und Fürſten—
macht hat er früher andersgeurtheilt als jet. Damals „imponirte ihn fein Thron“,
waren ihm „die Gefrönten die Erjten, bie Natur in Feſſeln zu Schlagen“, wetterte er
gegen „das goldene Koch“, in dem der Mäcen den Genius hält und ihm Flügel, Fuß
und Herz bricht. Doc) darf ihm das Recht, feine Meinung zu ändern, nicht bejtritten
werden. Er darf aud) den Dichter der „Deutichen Mufe*, deſſen trijter Epigone er
dod) it, an der Greiſenſchwelle einen „ſophiſtiſchen Schwäßer“ fchelten und fic freuen,
wenn irgend ein Eberlein höher im höfifchen Marktwerth fteht als Klinger. Nur
brauchte er an Devotion doch nicht mit Ceremonienmeiftern zu wetteifern. „OHerr,
wirft dem Poeten Du verzeibn, wenn er fich vordrängt aus des Volkes Reihn, ſich
wagt an Deinen Thron und tief bewegt den Zoll des Dankes Dir zu Füßen legt”...
Das ijt ein Bischen viel für einen Stadtrepublifaner. Nicht ganz jo viel freilich
noch wie die Nednerleiftung des Freiherrn von Rheinbaben, der gejagt hat: „Die
Kunſt iſt die Darftellung des Schönen. Es iſt ein ermuthigender Gedanke, daß die
düfjeldorfer Kunſt jich genau in der Linie Deſſen bewegt, was Seine Mäjeftät der
Kaiſer von der Kunſt denkt und wünſcht. Wenn Düffeldorf eine ſolche ideale Kunſt
pflegt, dann zeigt es fich als treuen Diener feines Kaiſers.“ Schade. Herr von Rhein-
baben ijt ein guter Finanzminiſter und hat in feiner erſten Budgetrede bewieſen,
daß ihm die Kunft, das Gerüft eines Staatsetats aufzubauen, nicht nur „die Dar-
ftellung des Schönen“ ijt. Warum redet er über Dinge, die ihm offenbar ganz fremd
find? Der Kaiſer bedarf jeiner Hilfe nicht; er hat die Mehrheit für fi. Und wer
Kunft anders fühlt, von der Kunjt Anderes hofft, Der wird fich fein Gefühl nicht
durch den Einiprud) eines verärgerten Nomantifers undeines braven Finanzminiſters
verwirrenlajien, jondern die Nachprüfung biszudem Tage aufichieben, two eines Sad)-
verjtändigen Stimme dem Fehderuf des Deutſchen Kaiſers weitere Wirkung verſchafft.
Herausgeber und "verantwortlicher Nedatteur: M. Harden ın Berlin. — Verlag ber Zutunft in in Berlin.
Drud von Albert Damde in Berlin» Schönchirg.
— —
55
ar Dh
Berlin, den 12. April 1902.
——————————
Der Zauberer von Rom.
Main der Neunte lag auf dem Paradebett. In der Pracht feiner Cere—
N moniengewänder; die Mitra auf dem Haupt, das Kiffen aus Gold—
tuch ſtützten, mit rothen Handjchuhen und rothen Pantoffeln, die der Gläubi-
gen Inbrunſt zu füffen drängte. Gejchäftig waltete der Kardinal Pecci des
Kämmereramtes. Nie hatte man den Achtundjechzigjährigen fo unruhvoll,
den oft als mild Gerühmten fo ftreng gejehen. Nach Antonellis, feines
Teindes, Tod war er von Perugia nad) Rom berufen worden und hatte dort
ſtill für fich gelebt. Er wollte nicht auffallen. Schon war ihm geweisjagt
worden, er werde Pius auf dem Stuhl Petri folgen. Er war bereit, hatte
die Zeit der Verbannung nicht ungenügt gelafjen und bebte nun doch im
Innerſten, da die Entſcheidung nahte. Pius jelbft, deſſen ftarfe Herrennatur
jich gegen jede Erkenntniß Fränfender Wahrheit fträubte, hatte in feinen
letsten Xebenstagen einfehen gelernt, wie viel, wie Ungeheures dem Papjt:
thum verloren und wie nöthig es war, der Kirchenmacht neue, fejtere
Fundamente zu jchaffen. War jolche Aufgabe nicht am Ende zu jchwer für
einen hinfälligen Greis, der einmal nur, al3 Nuntius in Brüffel, in ein
Eckchen des Weltgetriebes geblickt und ſich ſtets mehr als Gelehrten denn
als ftreitbaren Kirchenfürften gefühlt hatte? Und dennoch: konnte nicht ge—
rade in dem jchwachen Leib des Carpineters der Herr das Wunder wirken,
das er dem robuften Siegerbemwußtjein des neunten Pius verfagt hatte? Der
Kämmerer harrte des Herrn. Ringsum wurde eifrig an dem Geſpinnſt ge—
4
48 Die Zukunft.
arbeitet, das ihn umgarnen, ihn von der Mehrheit im Heiligen Kollegium
abiperren jollte. Er jchien nichts zu merfen und erwiderte jtichelnde Anden:
tungen mit dem Hinweis auf feinen nahen Tod. Die Hand, die des toten
Papites Schläfe dreimal mit dem filbernen Hammer berührte, zitterte nicht
und feſt Hang die Stimme, die fragte: Schläfft Du, Johannes Maftai?
Dann aber erlahmte die Nervenkraft. Joachim Pecci wurde von einer Un—
ruhe ergriffen, die nie vorher an ihm geſehen ward. Erjchliefwenig, tauchte,
wo man ihn nicht erwartete, plöglich auf und hatte einen haftigen Befehls—
haberton, der feinem Wejen früher ganz fremd geweſen war. So auf:
fällig war die Veränderung, daß, als er vor dem Katafalk in der Sir:
tinijchen Kapelle nad) der Totenmeſſe die Abfolution ertheilte, der Kar:
dinal Dreglia dem Kardinal Guibert zutufchelte: „Der rührt die Werber-
trommel!“ .. Das war am fünfzchnten Februar 1878. Am nächiten
Tage wurde Pius eingefargt; Zannenholz, Blei, Ulmenholz umfingen
mit dreifacher Hülle den ruhenden Leib, jech$ Siegel verſchloſſen den Sarg,
der Fifcherring, den der Lebende jo lange getragen hatte, wurde zerbrochen
undjedes Stüd, als eine koſtbare Reliquie, einem Würdenträger anvertraut.
Wicder verfammelten fi), als die Rede Pro Pontifice eligendo ver:
Hungen war, die Kardinäle, wieder riefen fie zum Herrn und flehten, ihren
Sinn zu erleuchten ; dann ftand jeder, deſſen Name genannt war, auf, fchritt
zum Altar hin und legte jeinen Stimmzettel in einen Kelch. Acceptasne
electionem de te canonice factam inSummum Pontificem? Knieend
richtete ein Dechant die traditionelle Frage an den Kardinal Pecci. Er hatte
bes Herrn geharrt: er folgte dem Ruf des Herrn. Als man ihn wegführte,-
ſoll er einer Ohnmacht nah gewejen jein. Doch ehe er ruhen durfte, mußte
er den ganzen Pomp der Huldigungfeier hinnehmen. Die Diener Heideten
ihn in weiße Gewänder. Diafone warfen vor ihm Kerzen nieder, daß jie er-
lojchen, und riefen: Wie diejes Yicht, jo vergehe der weltliche Ruhm! Auf
Hände und Füße, auf den Saum feines Kleides preßten fich heiße Lippen.
Bon der Höhe einer Yoggia herab breitete er die Arme aus und fegnete die
Ewige Stadt, jegnete die Fatholiiche Chriftenheit. Und alsbald ward ver:
fündet, der neue Papſt werde fich Leo den Dreizehnten nennen, um fid) al3
einen Verehrer Leos des Zwölften zu zeigen, des ftrengen Herrn, der wider
Freimaurer und andere Ketergewüthet, im Jubeljahr 1524 eine Bannbulle
erlaffen und die Jeſuiten zu neuer Macht geführt hatte.
Das gab eine Ueberraſchung. Der Kardinal: Kämmerer hatte für
einen milden Mann gegolten und als ein liberaler Papſt, hieß es, würde er
Der Zauberer von Rom. 49
das Weihezeichen des Triregnum tragen, Zwar hatte er in heftigen Briefen
an Victor Emanuel gegen die Bejegung des Kirchenftaates, gegen dic Bes
läftigung der Kongregationen und gegen die Civilehe protejtirt, Priefter, die
vom Papſt den Verzicht auf die weltliche Macht zu fordern gewagt hatten,
mit der Suspenfion a divinis beftraft und Ratazzi hatte ihn einen big zur
Grauſamkeit unbeugfamen Geift genannt. Dod) das Alles war unter der
Herrichaft des unerbittlichen Pius gejchehen, in der erften Zeit leidenjchaft-
lichen Widerftandes gegen den Ufurpator, und andere Stimmen hatten ge-
jagt, diefer Kardinal, der ein Gelehrter und ein Dichter fein wolle, werde,
jobald erjelbjtändig handeln dürfe, fich von der natürlichen Sanftmuth feines
Weſens leitenlajjen. Und nun, wie um jede ſchüchternſte Hoffnung zu enttäu-
jchen,beider Namenswahlfchon die Erinnerunganden Dann, der die Gefäng—
niſſe der Inquiſition wieder geöffnet Hatte? ALS Crux de cruce hatte Pius der
Neunte auf der Kirche gelaftet und abertaujend unerfüllte Wünjche hatten
auf Peccis Wappenjpruch Lumen in coelo ſehnend geblidt. Sollte der
Strahl diejes Lichtes die zarten Keime jungen Hoffens wegjengen?... Die
Meinungen blieben getheilt und das Charafterbild des neuen Oberhirten
war, von der Parteien Haß und Gunjt verwirrt, lange nicht Har zu er-
fennen. Er wird uns mit Sforpionen peitjchen, jagten die Einen; die An»
deren: Auf Betri Stuhl fitt ein Jakobiner. In beiden Yagern juchte man
Zroft im Anblick jeiner Gebrechlichkeit. Das war nicht Pius, deſſen Geſtalt
bis ins Greifenalter jtraff geblieben war und defjen fleifchiger Herrſcherkopf
voninnerer Gluth geleuchtet hatte. Diefes längliche, knochige, bleiche Aſketen—
haupt mit den dünnen, blutlojen Yippen würde die Tiara gewiß nur furze
Beit tragen; diejen dürren, fajt diaphanen Yeib würden jie bald auf das
rothe Totentuch betten. Raum hielt er fich aufrecht. Und jchon am Tage der
Huldigung, als er, jelbjt weiß und jchlanf wie eine Wachsferze, ſchwankend
durch das Spalier der Kerzenträger jchritt, wurde in allen Winkeln des Va—
tifans geflüftert: Ein fterbender Bapft! Seine Heiligkeit wird nicht lange
unter ung wandeln. Ueber ein Kleines erliicht dieſes blafje Licht.
Non videbit annos Petri... Ein Vierteljahrhundert ift feitdem
vergangen; und noch immer hält der nun Zweiundneunzigjährige in ent-
fleifchten Händen den Hirtenftab, Noch immer jchiwebt er, wie ein weißer
Schatten, an hohen Feiertagen über den ftaunenden Häuptern der Gläubigen
dahin. Noch immer aud) rührt er mit unverminderter Kraft für feine Sache
die Werbertrommel. Eben erjt hat er in eindringlichen Worten der Ketserheit
gerathen, in den wärmenden Schoß der fatholijchen Kirche heimzufehren.
4*
50 Die Zukunft.
Denn nur da laſſe fich gut fein. Daß Vernunft Unſinn wird und eine mate-
rialiftiiche Weltauffaffung das Glüd der Menjchheit nicht mehrt, fei Längft
dod) offenbar geworden. Was habe die Freiheit genütt, die Forſchung, all
der ſchöne Wahn, der feit den Tagen der Reformation durch die Hirne jpuft?
Die Moral ift zerrüttet, die Grundmauern der Staaten wanfen: fo ftrafe,
fo räche der Herr den Abfall vom wahren Glauben. Leo der Dreizehnte hat
die Encyllifa, in die er jo hart rügende Sätze jchrieb, fein Teſtament ge-
nannt. Und der Greis, der an der Schwelle der Ewigfeit ſchwachen Menſchen
ſolchen Scheidegruß jendet, hieß ſeit elf Jahren der moderne Bapit.
Der Name gebührte ihm und wird ihm, trog dem Tejtament, bleiben.
" Als Antonelli geftorben und der Blick des Pontifex nicht mehr durch trügende
Schleier gehemmt war, hatte Pius gejeufzt: „Mein Nachfolger wird von
vorn anfangen und eine ganz andere Politik treiben müjjen als ih!" Das
hatte auch Zeo erfannt. Er fand das Papjtthum der weltlichen Herrichaft
beraubt und war zu Hug, um ſich der Hoffnung hinzugeben, diefen Verluſt
fönne die Zeit je wieder aus dem Bud) der Gejchichte tilgen. Und diefeinen
Nerven des Erben fühltennoc ſchlimmeren VBerluft. Die hierarchische Zucht
war ſtraffer als je; Pius hatte dafür gejorgt, daß der Riefenkörper der Kirche
dem leiſeſten Druck des Zügels gehorchte. Doch dieje Kirche war in der mo:
dernen Weltein Fremdling geworden ; nicht den Kegern nur, nein: auch vielen
Gläubigen. Ueberall mühte fie jich in fruchtlojer Willensanftrengung, Fal-
lendes zu ftüten, war alles Werdenden Feind und nirgends neuen Wün—
chen erreichbar. Eine ehrwürdige Ruin, die ſacht verwittert. Wohl galt
nod immer das ftolze Wort: Stat erux, dum volvitur orbis. Stand
aber das Pontififat fo feft wie das Heilandskreuz, konnte es ohne in:
nere Wefenswandlung allen fommenden Stürmen trogen? Yeo hat ſich
oft als Verehrer des Heiligen Thomas befannt und gewiß im Archiv des
Klofters auf Monte Caffino, wo das jcholaftiiche Genie des erwachſenden
Neapolitaners gebildet ward, einmal die weifen Worte gelejen, die Cremo-
nini, Galileis Freund, jchrieb: Mundus nunquam est; naseitur sem-
per et moritur. Niemals ift eine Welt; in jedem Augenblid wird fie und
ftirbt. Ein gutes Yeitwort für Einen, der die Menjchenwelt ewig welfender,
ewig erneuter Illuſionen beherrjchen will. Nicht an Bergehendes darf er fich
Hammern. So aber hatte Pius gethan. Der war zufrieden gewejen, wenn
fein higiges Temperament fich in prachtvollen Unwettern ausgetobt hatte.
Bon feinem Kompromif, feinem Pakt mit feindlichen Mächten mochte er
hören. Sein Fluch, darangabes für ihn feinen Zweifel, drang in den Himmel
—
Der Zauberer von Nom. 51
und riefGottes Strafgericht auf der Sünder unreine Seelen herab. Wie Vielen
hatte er geflucht, die ihrHaupt noch aufrecht trugen und ungebrochenen Muthes
vorwärts ſchritten! Von einer anderen Methode hoffte Leo Gewinn für die auf
allen Seiten bedrängte Papſtkirche. Keine fleiſchliche Wallung ſchien über
den hageren Greis Macht zu haben; nie ſah man ihn zornig, nie kam aus
ſeinem Munde ein ſchriller Ton. Er nahm das alte Programm der chriſt—
lichen Platoniker wieder auf und folgte den Spuren des Doctor Angelicus.
Wie die Kirchenväter ſich bemüht hatten, die Philojophie, die Kulturſchätze
der Hellenen dem neuen Bedürfniß der jungen Chriftenheit anzupajien, wie
Thomas von Aquino einen großen Theil feiner Kraft an die Aufgabe ge-
fett hatte, den ariftotelifchen Geift in das Bewußtſein der Katholiken Hin-
überzuretten, jo wollte Leo nun Kirche und Welt, Glauben und Wifjen ver-
jühnen. Allzu lange war die Kirche ein Hemmnig auf allen Wegen der Ci—
vilifation gewejen ; jie jollte ünftig, gerade fie, der Kultur den rechten Pfad
weiſen. Was halfen die Flüche gegen den neuen Geift? Man muß fid) mit
ihm einrichten, ihm Yuft und Licht gönnen und, während die Linke ihn jtrei-
chelt, mit der Nechten unter väterlichem Zuſpruch ihm die drohende Waffe
entwinden. Die Menjchheit muß wieder erkennen lernen, daß aud) die
Wiffenschaft hriftlichen Urfprunges ift und daß feine unüberbrüdbare luft
den Forjcher vom Gläubigen trennt. Das war das Ziel de8 neuen Papiteg,
mußte das Ziel eines Mannes fein, der den Mufen nicht minder eifrig als
feinem Gott diente, Dante zärtlid) liebte und die ciceronischen Perioden feiner
Hirtenbriefe jo jauber feilte, al$ lange er nad) dem Ruhm eines Yiteraten.
Der Kirchenjtaat war verloren, jeit am zwanzigiten September 1870
die italienischen Truppen durch die Porta Pia in Nom eingedrungen waren
und Victor Emanuel gejagt hatte: Ci siamo, ciresteremo. Noch war die
Wunde zu frifch, die Gewalt der Tradition zu groß, al$ dag der Nachfolger
des neunten Pius daran denfen fonnte, mit dem Minderer jeiner Macht
Frieden zu jchließen. Er blieb der im Vatikan Gefangene und proteftirte,
wann die Pflicht es gebot, pünktlich gegen den Naub. Doch in der Stille
mag Yeo ſich oft gejagt haben, daß diejer Raub ein Glück für die Kirche war.
Jede weltliche Herrichaft wet Haß; und ein leidender Papit ift jtärfer als
ein im Prunk eines Hofftaates thronender. Eine Kirche, die wirllid) eccle-
siarum omnium mater et caput jein will, braucht feine Hausmacht
und wird durd) allzu enge Verbindung mit einem bejtimmten Yande in
ihrer Propaganda eher gehemmt als gefördert. In einer Zeit, wo in den
Ranzleien aller Großmächte die Verträge ſich zu Heinen Gebirgen häufen,
52 Die Zukunft.
hat Leo fein Bündniß gefucht; ihm ift zuzutrauen, daß er jede Bundes-
genojjenschaft abgelehnt hätte, felbjt wenn ihm als Preis die Wiederher—
ftellung des Kirchenftaates verfprochen worden wäre. Wer fic) heute Einem
ganz hingiebt, hat morgen mindeftens einen Feind; und der Papft will fich
die Möglichkeit friedlicher Verftändigung mit allen modernen Mächten be-
wahren. Als am zwölften November 1890 der Kardinal Yavigerie in Al-
gier das franzöfifche Gefchwader in einem Trinkſpruch begrüßte, in dem ge—
jagt war, der Katholif könne fich mit jeder Staatsform abfinden, hielt man
das auf der Zunge eines Kirchenfürften revolutionär klingende Wort fürdas
Bufallsproduft einer Yaune. Dan jollte bald erfahren, daß e8 jehr ernit ge:
meint und mehr war als ein Belenntniß perfönlichen Glaubens. Leo hatte
fi) der Mahnung erinnert, die Toten ihre Toten begraben zu laſſen. Sein
Biel war nur zu erreichen, wenn die Katholifen unfruchtbarem Groll ent—
fagten und aufhörten, ſich al8 Gehilfen der Reaktion verhaft zu madyen.
Schon vor zwanzig Jahren jchrieb er an die ſpaniſchen Biſchöfe, die Behaup-
tung, die Religion fei an das Programm einer politijchen Partei gefnüpft,
müfje als Irrlehre befämpft werden. Das dünkt Manchen banale Weis-
heit; wer aber vergangener — nicht einmal allzu lange vergangener
— Tage gedenkt, wird fich hüten, jolches Urtheil zu fällen. Ueberall waren
die Katholiken die Träger oder doch die Schußtruppen der Reaktion. Gegen
das Schisma, die Reformation, die Revolution, den Kulturkampf baliten fie
die Fauſt und formten die Entwidelung doc) nicht aufhalten. Rußland war
dem römischen Priefterfönig nicht zurückzugewinnen; in Frankreich zog fein
neuer Roy von des Papſtes Gnaden ein ; und das pplitifche Werk Luthers und
Bismards jpottete ohnmächtigen Zornes. Ein Zuftand, der die Katholiken
zudumpfer Thatlofigkeit verdammte, durfte nicht dauern. Leo Tolftoi, der Hei-
land müder Artiften, fonnteden Bölfern predigen, hinterihnen liege das Heil,
undfiezur Umfehrermahnen. Ein Papſt, der wirken, Welt und Kirche verjöh:
nen will, darf nicht da8 Dysangelium verkünden lafjen, jeder vorwärts füh-
rende Schritt fei ein Verbrechen, eine Sünde wider den Heiligen Geiſt. In
den Köpfen, jelbft in denen oft, dieder Glaube noch nicht floh, wacht ein uraltes
Mißtrauen; immer regt fich, wenn von den Lebensrechten der Kirche gefprochen
wird, an deren Mauer die drei Worte universitas, antiquitas, unitas
lofen und jchreden, die Furcht, die Tage der Gregor und Innozenz könnten
wiederfehren und die lähmende Macht der Theofratie, die Gräuel der In⸗
quifittion zurückbringen. Diefe Geſpenſter hat der Entſchluß Leos des Drei-
zehnten verjcheucht. Er hat die Katholiken zu politischer Arbeit gerufen und
Der Zauberer von Rom. 53
von ihnen verlangt, fich in die Zeit zu ſchicken, jo ſchlimm fie ihnen auch
ſcheine. Er hat den Bund gebrochen, der die Schickſale von Thron und Altar
an einander fetten follte. Er hat offen und feierlich Frieden mit der Demo:
fratie gejchlojien, die fo lange von der Kirche befämpft worden war.
Der Erfolg hat fürihn entichieden. Als er an Rampolla, der damals
Nuntius in Madrid war, Ichrieb, die Biſchöfe jollten fich von der farlifti-
chen Agitation fern halten, als er Monſignore Czadi, den parifer Nuntius,
mit der Mifjion betraute, zwiichen der Nepublif und der Kurie einen
modus vivendi zu ſchaffen, jchüttelte mancher Kardinal das Haupt und
wijperte, das Jumen in coelo habe jich als ein Irrlicht erwiejen. Jetzt iſt
längjt jeder Zweifel verjtummt. In Aſien und Afrika jind die Quadern
des hierarchiſchen Gefüges feſter als je gefügt und in Europa iſt die
Macht des Papſtthums über alles Erwarten gewachſen; jogar mit Rußland
hat der Eluge Politiker auf Petri Stuhl ſich verftändigt. Im Karolinenftreit
hat Bismard ihn zum Schiedsrichter erfürt und Wilhelm der Zweite hat
jeinen Rath erbeten, als der Berfuch gemacht wurde, den Arbeiterfchuß durch
internationale Gejege zu regeln. So Großes, jo Ungeahntes wurde erreicht,
troßdem der Papſt offen erklärt hatte, die Kirche werde nicht unter allen
Umſtänden mehr den alten Dynajtien einen jtügenden Rückhalt bieıen.
Den Frieden mit der Demokratie hatten Männer wie Diontalembert
und Yacordaire längjt empfohlen und mit lauterer Stimme als fie hatte La—
mennais gejprodyen. Erjchufden Bund zur Vertheidigung derreligiöien Frei—
heit und bemühte jid), von dem ebbenden Strom der katholiſchen Inbrunſt
zu den modernen Yebensmächten einen Weg zu finden. Die Kirche, jo wollte
er, jollte im werdenden Bewußtſein des Jahrhunderts fefte Grundlagen fuchen
und ihre Diener follten jich ohne Vorbehalt auf den Boden der Charte jtellen;
vor allen Dingen aber ſollte die Kirche vom Staat, der Staat von der Kirche
frei fein. In allen Zungen Fangen jeine Paroles d’un eroyant über die
Erde hin und fündeten die Souverainetät der chriftlichen Völker. Der Bann—
ftrahl, den Gregor der Sechzehnte gegen den unbotmäßigen Briefter jchleu-
derte, traf fein Biel nicht; die Encyklika Mirari vos ift vergeiien und
Lamennais lebt in der Gejchichte de8 Katholizismus als einer der ſtärk—
ften Wirfer des neunzehnten Jahrhunderts. Bor ihm ſchon hatte Saint:
Simon den Papit als Retter aus jozialer Noth angerufen. Im Nouveau
Christianisme jtehen die Sätze: „Das wahre Chriſtenthum muß auch für
dasirdijche,nichtnur für das himmlische Glück der Menjchen forgen. Dem
Bapit ift die Aufgabe geftelit, die Gejellichaft nach den fittlichen Grundjägen
54 Die Zukunft.
des Heilands zu organifiren. Es genügt nicht, den Gläubigen die Gottes-
findfchaft der Armen zu predigen; die jtreitbare Kirche muß rückſichtlos alle
Macht und alleDMittel anwenden, um jchnell die moralijche und die phyſiſche
Lage der Klafje zu bejjern, der die größte Menjchenzahl angehört." Und ein
Schüler Saint-Simong, der jüdische Bankier Iſaac Pereire, wiederholte
den Auf des Meifters, als der Kardinal Pecci zum Papft gewählt war.
„Wie konnte“, rief er, ‚die Kirche bis heute verfennen, daß die Wand-
lung der Welt nicht ein ruchlofes, antichriftliches Werk ift, jondern von
der Vorſehung vollendet ward, um den tiefften Gedanfen des Chrijten-
thumes in feinem göttlichen Glanz zu enthüllen? Nie ward von der Kirche
die Erfüllung einer ſchöneren, ihres Stifter8 würdigeren Pflicht gefordert. Iſt
fie nicht zur Mutter derWaifen, zur Schügerin der Unterdrüdten beftimmt?
Sie hat die Sklaverei der Heidenzeit befeitigt und das Joch der Feudalherren
gebrochen: fie muß auch den modernen Arbeiter aus den Banden der Hörig-
feit erlöjen. Nur die ſtarke Organifation der katholiſchen Kirche fichert ein
foziales Wirken großen Stils. Soldye Wirkſamkeit wird erft möglich, wenn
über den Gejetgebern, den Gelehrten, den Fabrifanten Apoſtel ftehen, Miſſio—
nare, die bereit find, ihr Leben dem Heil der Menjchheit zu opfern, unabs
hängige Männer, die den Muth haben, Allen die Wahrheit zu jagen. Und
wo wären ſolche Männer zu finden, wenn nicht im Bereich der Kirche?“
Wir willen nicht, welche diefer Stimmen bis ans Ohr Leos des Dreizehnten
drang. Dod) was jie erjehnten, hat er vorzubereiten verſucht. Am fünfzehn—
ten Mai 1891 erging an die ehrwürdigen Brüder im fatholiichen Glauben
die Encyklifa De conditione opificum, die mit den Worten begann: Re-
rum novarum semel exeitata eupidine... Die Neuerungjudt, an der
feine Borgänger jid) geärgert hatten, war ein ;yaftor geworden, mit dem der
Papſt rechnete. Bis zu diefem Tag hatte in Rom nur alte Münze gegolten.
Dft ift jeitdem die joziale Aktion verhöhnt worden, die damals jo ge:
räujchvolf begann und jo jchnell wieder endete. Bon den überjchwänglichen
Hoffnungen, die ſich ans Yicht wagten, als der Papft den Pilgerzug der
franzöfiichen Arbeiter im Vatikan empfing, ward feine erfüllt, fonnte feine
erfüllt werden. Nur fromme Einfalt verjtieg fich bis zu dem Wahn, der
Heilige Vater vermöge mit einem Win feines Zauberftabes die Nöthe zu
lindern, unter deren wechjelnden Formen die Menjchheit ſeit Jahrtauſenden
ächzt. Dennod) follten die Spötter ihren Wit für beffere Gelegenheit jpa-
ren. Es war eine große Stunde, die in einem mit der Tiara geſchmückten
Haupt den Entſchluß gebar, „ins Volk zu gehen“ und die Dynajtien, den
Der Zauberer von Rom. 55
ganzen Heerbann der ſich allein legitim dünkenden Mächte ihrem Schidjal zu
überlajjen.Einft werden jpäteThomiften vielleicht dem aufhorchenden Erdfreis
fünden, daß in diefer Stunde die Renaifjance der katholischen Kirche begann.
Die Kirche kann warten; und kluge Päpſte waren immer geduldig:
patiens quia aeternus. Die Starrheit ift gewichen und in der Gemein
ſchaft der Gläubigen neues Leben erwacht. Schon wagt man, von Reformen
zu reden, werden die alten Mauern unterjucht und die Hand, die auf hohle
Stellen weift, braucht nicht zu zittern. Wer hat ſich früher um die Send»
ichreiben des römijchen Biſchofs gefümmert? Jetzt werden fie von allen
Gebildeten gelefen, von Gelehrten und Politikern kritifirt und in der afatho:
liſchen Preſſe beſprochen. Das Papſtthum iſt wieder eine geiftige Macht
geworden und mählich Löjen fich nun auch die Märchenjchleier, die dieje In—
ftitution dem Auge verhüllten. Niemand glaubt heute noch, daß alle Päpſte
ein orgiaſtiſches Schlemmerleben führen; die Borgia find auch im Vati-
fan eben jo jelten wie die Hildebrand. Als Gutzkow jeinen Rationaliiten=
roman gegen den römischen Zauberer jchrieb, ſah er den Papſt noch als eine
Rieſenſpinne, die Alles ausjaugt, was ihrflatternd naht, alle regfamen Kräfte
zu umjtriden ftrebt. Und viel jpäter noch, da längſt ichon der Ruhm des
ungen Deutjchland verblichen war, dachten wir, wenn vom Papit geſprochen
wurde, an Benedikt den Vierzehnten, der, während er von der Yoggia der
Betersfirche den Segen jpendete, fich jelbjt den größten Betrüger genannt
haben joll: „In der Menge da unten betrügt Einer den Anderen; und id)
betrüge jie Alle!’ Wir jind nüchterner geworden, jfeptiicher, doch auch ge—
rechter. Wir ftellen uns vor, daß es im Vatikan nicht anders zugeht als an
anderen Höfen; nur find die Höflinge, ift die Bureaufratie da flüger, nad)
vernünftigerer Ausleje aufdie Höhe gelangt. Und diejes Gewimmelbeherricht
nicht die Sucht, die Geifter zu knebeln, der armen Menjchheit ihr Bischen
Glück zu rauben und alles Licht, alle Yebensluft auszulöſchen. Es find
Menſchen, die ihre Heinen Gejchäfte machen und meift wohl überzeugt find,
daß ihr Wirken der großen Chriftengemeinde frommt. Der Greis, dem jie
gehorchen, wird von Zodfeinden des Katholizismus bewundert, aber faum
von Einem, der ihm nicht unterthan ijt, gefürchtet. Nom hat den ſchrecken—
den Nimbus verloren; und Yeo der Dreizchnte ift der moderne Papſt.
Gebührt ihn der Name wirklich, auch nad) der neuften Encyklifa?
Auch jie ift von einem gebildeten Manne verfaßt. Wie Yeo, jo haben größere
Pejiimiften über die „Errungenjchaften der Neuzeit“ geurtheilt; nur haben
fie den Enttäufchten dann nicht das ältefte Heilmittel angepriejen: die Reli—
RE ef Seren zur Fir Wei
56 Die Zukunft.
gion. Das aber muR jeder Papſt thun, wenn er fich jelbft nicht aufgeben .
will. Er kann nur gerade jo modern fein, wie e8 der Rang und der Pflichten»
freis, in den er gebannt ift, ihm erlaubt. Doch folche Grenzen find in der
Welt der Intereſſen und Leidenschaften nicht nur Päpften geſetzt.
Der Schüler des Heiligen Thomas jpricht heute nicht anders als
früher. Schon vor elf Jahren fchrieb er, die Fundamente der Gejellichaft
jeien erfchüttert, weil jie fic) vom rechten Glauben abgewandt habe. Die
alte Formel, die jetst nur überrajcht, weil man den Papſt mit moderneren
Dingen befchäftigt glaubte. An das Ohr des Zweiundneunzigjährigen dringt
von den wirren Geräuſchen der Welt längft wohl nur nod) ein fernes Braujen.
Er ahnt nicht, welcher Zwieſpalt fidy in den Gemüthern aufgethan hat;
und wüßte ers: er vermöchte die Kluft nicht zu ſchließen. Man könnte
einen Papit träumen, der Jeſu Lehre nachlebte, allem Glanz entjagte und
mit den Armen als Armer haufte. Erwäre eine interejjante Gejtalt,doch kein
Papſt mehr, nicht die weithin leuchtende Spike der Pyramide, die in langer
Säfulararbeit von den feinften, erfahrenften Geiftern aufgethürmt worden
ift. Ein Bapft mag modern fein, die Zeichen der Zeit erfennen und das Schiff:
lein Petri vom Ballaſt der Jahrhunderte entbürden: er bleibt der Hüter einer
Anftitution, die, um zu dauern, fein muß, wie jie ift, wie fieimmerwar. eo
der Dreizehnte hat durd) Eugen Takt, durch ftille Benutzung aller Konjunk—
turen erreicht, daß die Gebildeten jeiner Stimme wieder laufchen, ihn ohne
vorurtheilenden Haß hören lernten. Er hat die jtärkite Organijation, die je
erjonnen ward, dem Anspruch des neuen Tages angepakt. Seine politische
Technikwar ganzmodern, jomodern, daß jeder Staatsmann, jeder Großindns
ftrielle fie mit Nuten jtudiren wird. Da aber endet aud) des Mächtigſten
Macht. Das Lebenswerk eines ungewöhnlichen Menſchen reichte faum hin,
um das Daſeinsrecht der katholiſchen Kirche zu fichern, um zu zeigen, daß in
jedem Staat, mit jedem politischen Glauben ein Katholif dem Dogma treu
bleiben und jelig werden kann. Nun abernahtein anderer Kampf,dernicht Itom
allein, jondern die tiefjten Wurzeln der Chriftenlehre bedroht. Yangjam
dämmert der Menjchheit die Erfenntniß, daß fie wählen, neue Sittlichkeit
juchen, ich eine neue Geiftesheimath Schaffen muß. Das Gebet, das vonder
Lippe gelallt und vom Handeln auf Schritt und Tritt verleugnet wird, der
leere Kult kraftloſer Heuchelei hilft nicht weiter. Der Papft, der diefen Kampf
zu beftehen und aus den Ruinen die Herrichaft der Kirche ungemindert zu
retten vermag, wird das größte Wunder der Chriftengefchichte wirken.
#
Pandynamismus. 57
Dandynamismus.*)
—8 liegen in unſerem Weſen dauernde Vorausſetzungen einer pan—
— dynamiſtiſchen Betrachtung. Wie unſere Sinnlichkeit der Vereinigung
mit einer ergänzenden Natur zuftrebt, um in dieſer Vereinigung die Gattung
ſchöpferiſch fortzufegen, fo ftreden wir fehnfuchtvoll unfere Geiftesarme aus
nach den erhabenen Geheimniſſen des Himmels und einer jenfeitigen Welt; und
wo und das Willen bier nicht befriedigt, da möchten wir fo gern unter
Annahme übernatürlicher Thatſachen beweifen. Und es begreift fich, daß
Regungen in diefer Richtung vor Allem bei Anbruch neuer geiftigen Zeiten
hervortreten, da man ahnumgvoll ertrogen will, was an geiftigen Errungen—
ſchaften erjt einer reichen Abfolge von Gejchlechtern in harten Mühen zum
Theil zu erarbeiten vergönnt ijt. Und diefe Negungen waren im fechzehnten
Jahrhundert, einem Zeitalter diejer Art, doppelt erflärlich, da jie mit den
ungeahntejten Erweiterungen des geiltigen Horizontes der abendländifchen
Bölfer zufammenfielen, Erweiterungen, die dem verzüdten Blid als die Ents
ſchleierung jedes Geheimniſſes erjcheinen fonnten. Da ward zu der befannten
geihichtlihen Welt in der Antike eine neue entdedt. Da reihte jich ein
geographifcher und ethuographifcher Auffchluß an den anderen; umd die
Begrenztheit diejer irdifchen Welt und die Kugelgeftalt der Erde erfchienen
nicht mehr als Hypothefen, jondern als anfchaulic, gewordene Wahrheit.
Und all diefe Revolutionen, die einer noch niemals möglich gewefenen
Weitfichtigkeit de3 geiftigen Blides zudrängten, wurden fchlieglich an Wirk:
famfeit übertroffen durch die heliocentrifche Lehre des Koppernikus. Mer
hätte das ptolemätfche Weltiyitem in feiner finnlihen Anſchaulichkeit be=
zweifeln mögen, wie es von der unmittelbaren Realität der wahrgenommenen
kosmiſchen Bewegungen ausging, zumal alle dagegen möglichen Einwände durch
eine große Anzahl höchſt finnreicher Hilfshypothefen befeitigt fchienen? Und
num erſchien das Buch De revolutionibus orbium coelestium, das zwar
nicht auf Grund erafter Beobachtungen, wohl aber von der einfachen Forde—
rung her, daß die erhabenften Schöpfungen Gottes nur von einfachiter Sym-
metrie beherrjcht fein Fönnten, die ganze Syftem über den Haufen warf.
Nicht die Erde erjchien jest mehr als der Mittelpunft des Weltalls, fondern
die Sonne; ein dienendes, in Gemeinſchaft mit anderen Körpern in Doppel-
bewegung um die Sonne kreiſendes Glied des Ganzen nur war unſer Planet:
aufgegeben werden mußte das bisher faum je bezweifelte Borrecht einer Be-
trachtung der fernen Weltweiten von geocentrifhem Standpuntt. Wie Hein
war jegt diefe Erde geworden, — und wie klein gar der Menſch, daß man
feiner gedächte! „Was ging nicht Alles durch diefe Anerkennung in Dunft
+, S. „Zukunft“ vom 5. April 1902,
ö —r ———
. R @. v
58 Die Zukunft.
und Raud auf: ein zweites Paradies, eine Welt der Unſchuld, Dichtknuſt
und Frömmigkeit, das Zeugniß der Sinne, die Ueberzeugung eines politiſch-⸗ g
religiöfen Glaubens.“ *) Es war eine wiffenfchaftliche Erweiterung und zu:
gleich fittliche Begrenzung des menfhlichen Etandpunftes von folder Uner—
hörtheit, dar es verjtändlich ift, wenn jich die Welt nur langfam an ihn
gewöhnte. Auf die heliocentrifhe Hypotheſe des Soppernifus haben die
Forſchungen Keplers über die Entbehrlichfeit der ercentrifchen Kreiſe und
Epicyklen zu Gunſten der Annahme einer einfachen Kurve als Bahn der
planetarifhen Bewegung folgen müffen und auf diefe Galileis Forfchungen
über die Schwerkraft, che Newton zu jener Hypotheſe über die Bewegungen
der Himmelstörper gelangte, die, vornehmlich durch die unvergleichlich
popularilirende Wirkſamkeit Voltaires, der neuen Lehre zur Stellung eines
unveräußerlichen Beſtandtheils der europäifhen Bildung verhalf.
Indem aber diefe gewaltige Ausdehnung des menſchlichen Horizontes
eintrat, wirkte jie fchliehlich doc weniger auf die Erweiterung der Phantafie
al8 auf die Erweiterung der Erfahrung. Und jo fam das Ergebniß doc
am Ende nicht pandynamijtischen Anfchauungen zu Gute, wie fie im
Tiefiten noch auf der Zulaſſung des Begriffes des Wunders und damit
wieder auf dem Borherrfchen einer Denfmethode ungenügender Analogie
fchlüffe beruhten, jondern vielmehr einer ganz anderen Auffafiung der Welt.
Ge mehr jet, unter den verfchiedenartigiten Anregungen, die Erfahrung lich
verdichtete und zugleich befchied, um jo mehr erweiterte ſich das SKaufalität=
bewuntjein: nicht mehr nach nur zum Theil zutreffenden Analogien, Produften
oberflächlicher Beobachtung und unzureichender Erfahrung, fondern nad der
Kenntniß möglichit ausgedehnter regelmäßiger Zufammenhänge von Urſache
und Wirfung begann man, die Welt der Erfcheinungen zu ordnen. So
wurde das Zeitalter einer pandynamiftifchen Naturbetrachtung abgelöjt durch
ein Zeitalter, daS vermöge der Induktion und Abftraftion in den einfachſten
Naturvorgängen vor Allem einfachite Negelmäßigkeiten und Gefege aufzu:
fuchen bejtrebt war, in der Hoffnung, gerade in ihnen, gleichgiltig, welchen
tiefjten Hinter den Pforten der Natur ftehenden Wirkungen fie verdankt oder nicht
verdanft würden, den Schlüffel zum Verſtändniß auch der größten Er:
fcheinungen zu finden. Ein Saufalitätbewuftfein, das fein Wunder mehr
zulieg, begann, uranfänglich, unbeholfen noch und ahnungvoll, das Kleinſte
und Größte unmittelbar zu verbinden, und gab ſich der frohen, durch die
Thatſachen ſchließlich beitätigten Ueberzeugung hin, daß es, indem es den
Zuſammenhang eben des Gewöhnlichen erforfche, auch das bisher al3 unge—
wöhnlich Betrachtete zu erklären im Stande fein würde. Das Zeitalter
naturaliftiicher Naturforfhung 309 herauf.
*) Goethe, Zur Farbenlehre.
Pandynamismus, 59
Vorläufer diefes Zeitalter8 reichen allerdings bis ins breizehnte Jahr:
hundert zurüd. In diefer Zeit hat ſchon der große Scholaftifer Albertus
Magnus im Kloſter der fölner Dominikaner feine botanischen Verſuche
gemacht; und neben ihm bereit8 ijt der Engländer Roger Baco dem Gedanken
vorausſetzungloſer Naturwifjenfchaft nahe getreten. Bahnte dann Heinrich von
Langenjtein, ein Heſſe, der feit 1383 in Wien wirkte, durch Bekämpfung des aftro-
logischen Wunderglaubens den großen vorfoppernifanischen Aftronomen, einem
Peurbah und Regimontan, den Weg, fo hat der Kardinal von Kues, in
feinen eraften Forfchungen nicht minder bedeutend als in feinen myſtiſchen
Spekulationen, recht eigentlich eine Janusgeſtalt zwifchen Mittelalter und
Neuzeit, neben weſentlichen Berbefjerungen des Kalenders im Sinn der jpäteren
gregorianifchen Reform vor Allem ſchon unmittelbare Vorahnungen der foppers
nilaniſchen Hypotheje gehabt.
Allein diefe Männer ftanden doc; fehr vereinzelt; fie fchufen noch nicht
aus einem fih aufdrängenden Gefammtbewußtfein der Forſchung ihrer Zeit
heraus, wenn auch ſtärkere intellektualiftifche Neigungen des ſpäteren Mittel-
alter8 in feiner-Richtung des Geifteslebens zu verfennen find; und fo drängten
fie mit ihren meilt nur in unreifen VBermuthungen beftehenden Ergebniffen
doch nur gegen die Pforten eines Zeitalter8 an, das noch nicht eröffnet war.
Erft der Individualismus des jechzehnten Jahrhunderts, die Freiftelung des
Individuums gegenüber dem endlofen Detail de3 mittelalterlihen Dffens
barungsglaubens und der Unterwerfung, die der dogmatifchen Faſſung diefes
Glaubens gefchuldet ward, hat die neue Anfchauung völlig entbunden.
Aber in dem Charakter der neuen Zeit lag freilich zugleich auch der
Charakter des Berlaufes der neuen Studien befchloffen, wenigjtens fo weit
fie auf das philofophiiche Gebiet führten und von diefem aus in die wiſſen—
fchaftliche Praris hinein getrieben wurden. Die Perfönlichkeit des ſechzehnten
Jahrhunderts zeigte in den Zeiten ihrer vollen Duchbildung, vornehmlich feit
der Wende des jechzehnten Jahrhunderts, den Typ des Iſolirten, für ſich
Stehenden, in fih Genügfamen: jie war eine abgejchlofjene Welt im Steinen.
Es verfteht ji, daß diefe Auffaſſung ihres Weſens nun aud) an den Makro—
kosmos herangeholt wurde: ohne daß darüber weiter ein Wort verloren wurde,
erichien diefen Zeiten die große Welt als eine Einheit gejchloffenen Charakters,
als ein Kunſtwerk de8 Schöpfers. Das war die Vorausfesung der pandy-
namlſtiſchen Naturwiffenfchaft gewefen. Das blieb aud die Vorausjegung
des neuen Realismus.
Traf fie aber zu, fo mußte e3 auch nach der neuen naturalijtiichen
Auffaffung doch wieder eine Methode der Ableitung al ihrer Geheimnifje von
einem oberjten Prinzip, von einem PBunfte aus geben. Und nachdem eine
jolhe Ableitung aus der ftofflichen Hypotheſe eines allgemeinen Kräfte—
60 Die Zuhneft.
zufammenhanges im Pandynamismus gefcheitert war, fchien e8 auch nicht
mehr zweifelhaft fein zu fünnen, wo fie nun zu fuchen war. Wohin man
auch in den einzelnen Gebieten der Natur und der Gefchichte den Blid wandte,
da ergab ſich der Erfahrunginhalt in die Begriffe des Raumes und der Zeit
gebettet. Raum und Zeit alfo mußten vor Allem in ihren empirifchen Be-
ziehungen in ſich und unter einander begriffen werben, wie jie am Ende ſich
auf den noch einfacheren Oberbegriff der Größe reduziren ließen: erſt durch
dieſes Begreifen hindurch, auf einem folchen, rein formalen Wege glaubte man,
aus dem Ganzen der Erjcheinungen zum Berftändnig des Einzelnen ge=
langen zu fönnen.
Als Wiffenichaft der einfachen Größe aber, des Raumes und der Zeit,
erichien die Mathematif. Sie Fonftituirt, fo wurde der Zufammenhang an-
geliehen, über dem bunten Getriebe de3 Konkreten und Veränderlichen die
Lehre von Raum und Zeit al3 eine erafte und abjolute Wiffenfchaft, wie
fie in ihrem Fortfchritt der Berichtigung durd die Kontrole erneuter Wahr-
nehmungen der Erfcheinungwelt in feiner Weile mehr bedarf; jie enthält
damit die Prinzipien einer wahren deduftiven Methode, mit deren Hilfe es
gelingen muß, von ihrer volljtändigen Entfaltung aus auch das Reich des
ſinnlich Konkreten zu erklären. Mathematik alfo und durd fie hindurch Ver—
ſtändniß der Erfcheinungmwelt: Das wurde zunächſt die Loſung.
Uber auch diefer Gedankengang war im fechzehnten Jahrhundert nicht
völlig neu. Es iſt Schon an dem Beifpiel Platos zu erkennen, von welchen
Einfluß die Mathematik bereits auf die Philofophie der Alten geweſen
ift. Freilich blieben die Alten dabei in der Mathematif der Hauptjache
nad in das Neich der Dinglichkeit und Anfchaulichkeit gebannt: aus feiner
weiteren Durchdringung Prinzipien einer rein begrifflichen Lehre von Raum
und Zeit abzuleiten, lag nicht in der Nichtung ihres Denkens. Dafür war
dann aber das Mittelalter in der Entiinnlihung der Vorftellungen von Raum
und Zeit ziemlich weit über fie hinaus gegangen.
Das mittelalterliche Denken, fo weit e3 ſich auf höhere Probleme ein=
ließ, war eine Folgeerfcheinung Deffen, was man zu diefer Zeit wiſſenſchaft—
liche Theologie nannte: nicht eigentlich aus der nationalen Geiftesbewegung,
fondern aus der chriſtlichen Ueberlieferung der fpäten Griechen: und Römer:
zeit, unter Einſchluß gewiffer Einwirkungen der heidnifchen Philofophie der
Alten, erhielt eS feine Impulſe. Es war alfo eine Erſcheinung nicht jelbit-
gewachjener Kultur, fondern zeitlicher Rezeption aus weltgefchichtlicher Vers
gangenheit. Dem entjprechend, war es im höchſten Grade abgezogen, ohne
ftärfere Berührung mit den lebendigen Strömungen der Gegenwart; und
Dem entfprechend, bildete es mit Vorliebe virtuofe Methoden und gänzlich
abjtrafte, uniinnliche, gleichſam dünnfchliffige Begriffe aus. Und inden es
Pandynamismus. 61
wirklichkeitfremd nur in diefen Begriffen lebte, ſchrieb es der ſyllogiſtiſchen
Methode almählih Schöpferkraft. und den Begriffen an ſich Nothwendigkeit
des Seins zu. Die ontologifche Anfhauung, die Auffaflung, daß gedachte
Begriffe allein wegen der Thatfache, daß ſie gedacht werden, auch wirklich
feien, iſt das originellfte Erzeugniß, das von dem: jcholaftischen Denken in
der Geſchichte der Philofophie hervorgebracht worden iſt.
Eine geiftige Dispojition, wie die der Scholaftif, mußte nun ſchon dazu
führen, den Borjtellungen-von Raum und Zeit denjenigen begrifflichen Cha=
rafter zu verleihen, deſſen das fechzehnte bis achtzehnte Jahrhundert für die
Anwendung der Mathematit als Dentmethode der Philofophie und, wie es
anfangs jchien, auch der Naturwifienichaften bedurften. In der That findet
man bei den mittelalterlihen VBorläufern der realiftiichen Naturwiſſenſchaft des
fiebenzehnten Jahrhunderts ſchon die Verwendung der Mathematik, wein
auch noch nicht in der vollendeten Art eines Galilei oder Newton. Keiner
diefer Vorläufer ijt aber in diefer Hinficht wohl charakteriftifcher al3 Roger
Baco; und feiner ift in diefer Stellung wohl zutreffender gejchildert worden
als eben Baco von Goethe. *) Baco erfcheint die Mathematik in ihrer
reinen Form ſchon ausdrücklich als Hauptichlüffel aller wifjenichaftlichen Ver:
borgenheit, ja, auch aller metaphylischen Fragen: „ES giebt Mancherlei, das
wir geradehin und leicht erkennen; Anderes aber, das für uns verborgen iſt,
weiches jedoch von der Natur wohl gelaunt wird. Desgleichen jind alle höhere
Weſen, Gott und die Engel, als welche zu erkennen die gemeinen Sinnen
nicht hinreichen. Aber es findet ſich, daß wir auch einen Sinn haben, dur
den wir Das gleichfallß erkennen, was der Natur befannt ift, und diefer ijt
der mathematische: denn durch diejen erkennen wir aud die höheren Weſen,
al8 den Hinmel und die Sterne." Bon diefer Auffaffung ausgehend, wendet
Baco die Mathematif als eine der Logik weit überlegene Methode an, um
nicht blos die Naturerfcheinungen im engeren Sinn, nein, auch die pfycholos
giſchen Erſcheinungen deduftiv zu begreifen: jo wird ihm, zum Beifpiel, die
Grammatik zur Rhythmik, die Logik zur Muſik. Ya, damit nicht genug:
auch dem moralijchen und religiöfen Gebiete nähert er ſich auf mathematifche
Weiſe, indem er die Beziehungen diefer Gebiete mathematiichen Beziehungen
ſymboliſch gleichjegt.
Man ficht jogleih: Das find feiniinnige Betrachtungen, keine Schlüffe;
die Wirkung ift erbaulich, nicht überzeugend. Aber was Baco und jein
Nachfolger im Mittelalter ahnend verfucht haben: das Begreifen der Welt
vermöge — und freilich zum größten. Theil noch nach Analogie — der Methode
*) Zur Farbenlehre (Werke Weim. Ausg. II 3, ©. 151). Der hijtorijche
Theil der goethijchen Farbenlehre bietet noch heute die am Tiefiten durchdachte
Geſchichte der Naturwiljenjchaften bis ins achtzehnte Jahrhundert, die wir befiten,
62 Die Zukunft.
der Mathematit: Das unternahm das Zeitalter realiftifcher Naturwiſſenſchaft,
wie e8 dem Panpfyhismus folgte, in feinem allgemeinen Denken nun wirk—
lich ernithaft durchzuführen und zu vollenden.
War die Mathematif diefer Aufgabe gewachſen? Sie war es höchſtens
dann, wenn fie thatſächlich rein begrifflichen Charafters war und wenn, Dies
vorausgefegt, ihre fpeziele Ausbildung im fechzehnten und jiebenzehnten Fahr:
hundert auf der Höhe der Forderungen ftand, die man an fie ftellte.
Nun Hat die Entwidelung de8 Denkens im neunzehnten Jahrhundert
gezeigt, daß die Mathematik feineswegs die rein begriffliche Wiſſenſchaft ift,
als die fie eine frühere Zeit anſah, daß fie vielmehr in ihren Grundveſten
anfchaulich verankert ift. Die Mathematik konnte alfo die ihr im jiebenzehnten und
achtzehnten Jahrhundert zugerwiefene Aufgabe felbit dann nicht erfitllen,
wenn fie im Uebrigen, in ihren einzelnen Fortfchritten, den Anforderungen des
allgemeinen Denfens entfprechend entwidelt gewefen wäre. Aber wenn num
auch die Hauptabficht des fiebenzehiten und achtzehnten Jahrhunderts: die
volle deduftive Ableitung der Welt und zunächſt der Naturerfcheinungen in
mathematijcher Methode, nicht erreicht ward und nicht erreicht werden Fonnte,
fo war doch der in den eben befprochenen Zufammenhängen liegende Impuls
zum mathematischen Berftändnig der Welt fo überaus gewaltig, daß ihm
die größten Errungenschaften auf naturwiſſenſchaftlichem, philofopgifchen und
auch geifteswiffenfchaftlihem Gebiete zu verdanken find: die Mathematik hat
ſich thatſächlich als eins der ftärkiten, wenn nicht als das jtärfite Gährung—
element im Denken vor Allem des jiebenzehnten und achtzehnten Jahrhunderts
erwiefen. Darum bedarf e8 zum Verſtändniß des Geijteslebens diefer Zeit
überhaupt einer eingehenderen Betrachtung ihrer Entwidelung.
Die Mathematik war bei den Alten wohl, wie überall, aus praftijchen
Bedürfniffen entitanden. Jedes Volk, das voll ſeßhaft wird, bedarf für die
Auftheilung des Grundes und Bodens einer primitiven Feldmeßkunſt; Feine
Zeit der Naturalwirthichaft entbehrt fie: e8 find die Anfänge der Geometrie.
Ihnen aber fügen ſchon die erften entwidelten Zeiten der Tauſchwirthſchaft
die Arithmetif hinzu; denn wie könnte ſelbſt ein primitiver Handel, nament—
(ih fo weit er ſich fchon eines Geldes bedient, ohne die Negeldetri be=
trieben werden?
Waren fo die Anfänge der mathematifchen Wiffenjchaft bei den Alten
wohl durchaus praftifcher Natur, fo liegt es im Charakter der antiken Kultur,
daß auch ihrer vollendeteren Mathematik noch ein in hohem Grade anfchau:
licher Charakter geblieben if. Gewiß find die Beweife Euklids durdaus
deduftiv; jedes induktive Moment, das etwa gar auf die Entitehung des zu
beweifenden Satzes hinwiefe, ift unterdrüdt; aber doc) ift hier, wie ſonſt in
der Mathematik der Alten, die Abftraktion niemals jo weit getrieben, daR
Pandynamismus. 63
über den abftraften Raumformen die Körper, über den abitrakten Zahlformen
die Zahlen vergefjen worden wären, gejchweige denn, daß aus abjtraften Be—
griffen von beiderlei-Art bereit3 der allgemeine Größenbegriff entwidelt worden
wäre. Und ferner ijt bei den Alten für jederlei Größe, wie der Raunız,
jo der Zahlenwelt das Moment der Stetigkeit feitgehalten worden; — von
der Anſchauung, daß die mögliche Zahl der Brüche zwijchen zwei Zahlen
unendlih und mithin der Charakter jeder Zahl unjtetig fei, finden wir eben
jo wenig Gebrauch gemacht wie von der anderen, daß jeder Körper als
Träger von Raumformen in Bewegung begriffen und Ruhe nur eine ing
Gleichgewicht gefegte Summe von Kräften fei, die in Bewegungen zur Er—
icheinung gelangen. Als die Lehre von ftetigen Größen und al3 folche aller:
dings reich entfaltet, ging mithin die Mathematik der Alten an die abend:
ländifchen Nationen über.” Wie aber hätte jie hier, in deren Mittelalter,
mehr als allenfall3 begriffen, wie hätte fie erweitert werden follen? Wir fennen
für die deutjche Gefchichte die Entwidelung des äftheriichen Sinnes von der
Urzeit bis in die Jahrzehnte der Reformation: von der robuften, noch rein
ornamentalen Bewältigung de3 Umrifjes der Gegenjtände der Erſcheinung—
welt war man langjam bis zu defjen zutreffender Wiedergabe fortgefchritten.
Wie hätte eine Zeit, die auf äjthetifchem Gebiet noch um die Wiedergabe des
Umriffes rang, auf intelleftwellem Gebiet aus eigener nationaler Kraft durch
das Aeußere der Erjcheinungwelt zu dem Begriff der ihr zu Grunde liegenden
reinen Größe vordringen follen? Es war kaum denfbar, daß von diejem
Standpunft aus aud nur die Errungenihaften der Alten in genügender
Tradition fortgepflanzt wurden.
Aber wir haben ſchon gefehen: neben dein nationalen Denken ftand
die Denkkunft der Scholaftif; und die fcholaftijchen Streife haben die Mathe—
matik der Alten jeit vornehmlich dem dreizehnten Jahrhundert nicht nur bes
wahrt: jie haben auch die Vorſtellung der mathematifchen Größe al3 Ober—
begriff über Raums und Zahlengröße fchon leife durchzubilden verfucht. Ganz
gelungen ift dann diefe Durchbildung freilich erft im fechzehnten und fieben=
zehnten Jahrhundert.
Dagegen erfchien noch dem ganzen Mittelalter im Allgemeinen die
Größe als ftetig. Hier befonders, in diefem Punft, mußte daher die weitere
Entwidelung de3 individualiftiichen Zeitalterd einfegen; und in der That
verläuft jie von hier au hinein in die glänzenden Errungenschaften der Funk
tion= fowie der Differential: und Integralrechnung. Zu Örunde aber liegt diejer
Entwidelung zunähft im fechzehnten Jahrhundert noch die allgemeine Vor:
ftellung der pandynamiftiihen Naturanſchauung, die hinter jeder Erjcheinung
ein Spiel lebendiger Kräfte jah, alfo dem Begriff der Unitetigfeit der Größe
fehr leicht unmittelbar und intuitiv nahe treten fonnte; und im jiebenzehnten
>
64 Die Zutunft.
Jahrhundert wird für fie die Wechjelbezichung mit den Forſchungen auf dem
Gebiete der Mechanik wirkjam, die wiederum von der Statik, wie jie die Alten
faft allein gelehrt hatten, jehr früh zur Dynamik überging und damit den
Begriff der Bewegung in abgeflärterer Form zur Verfügung ftellte.
Den entfcheidenden Schritt zur Ausbildung der Funktionrechnung und
damit zur Löfung des Problems, das gegenfeitige Verhältnig von Größen
gleichmäßiger Unftetigfeit auf eine für jeden Moment diejer Unſtetigkeit zu=
trefiende Formel zu bringen, hat Descartes gethan. Er ging dabei von den
auch den Alten ſchon bekannten Gleihungen aus. Zunächſt war es hier
Har, daß die Unbekannte jeder Gleichung, da jie unbenannt ift, ſich eben fo
fehr al3 Raum: wie als Zahlengröße erweifen fonnte: in diefer Unbekannten
war alfo von vorn herein der Ausdrud der allgemeinen Größe gegeben.
Wie aber fonnte man nun darüber hinaus, unter der Annahme der gleiche
mäßigen Unftetigfeit der Größen, zu der Möglichkeit kommen, das Ber:
hältniß diefer Unftetigfeit der Gröhen zu einander einfach darzujtellen und
zu berechnen? Auch hier half die Gleichung.
In Betracht kommt hier der erfenntnißtheoretifche Charakter der Gleichung.
In der Gleihung wird von der Annahme ausgegangen, daß die zu findende
Unbefannte eigentlich, wenn aud) unter den Berhüllungen der Gleichung, befannt
fei; und der Beweis für die Richtigkeit diefer Annahme und damit auch für die
Nichtigkeit der Gefammtbehauptung wird dadurch geführt, dat in der Auflöfung
der Gleichung gezeigt wird, wie diefe Annahme in allen Folgerungen, die ſich
aus ihr ergeben, mit jonjt allgemein al3 wahr befannten Sägen übereinftimmt.
Die Beweisführung ift alfo indireft. Weil Das aber der Fall ift, weil das
in der Gleihung angewandte Beweisverfahren von der Folge auf den Grund
fchlient, fo läßt es, wie jeder Schluß von der Folge auf den Grund, eine
mehrdeutige Löfung zu. Diefe Eigenart der Gleichung, ſolche mehrdeutigen
Löfungen zu ergeben, ijt ja befannt genug. Diefe Ihatfache bringt es nun
aber mit ſich, daß nur außerhalb des Beweisverfahrens liegende Betrachtungen
ergeben fönnen, welche der denkbaren Löſungen die vorzuziehende iſt. Und
die Folge diejes Umſtandes wiederum ift es lange Zeit hindurch gewefen,
daß man allgemein gefahte, alſo willenfchaftlice Aufgaben einem jo mehr:
deutigen Beweisverfahren nicht hatte überlaffen fünnen. Und fo hatte die
Gleihung bisher auf dem Gebiet allgemeiner, namentlich auch naturwiljenichafte
licher Beweiſe feine große Nolle gefpielt.
Wie aber, wenn es nun gelang, den verfchiedenartigen Bedingungen
innerhalb der Aufgabe, deren Dafein die Mehrdeutigfeit der Löſung ergab,
für den Verlauf der Löjung der Aufgabe einen ſolchen Ausdruf zu vers
haften, dan die in ihnen beruhenden verjchiedenartigen Möglichkeiten der
Löfung im Schlufergebnig der Rechnung zu vollkommenem Ausdrud gelangten ?
Bandynamismus, 65
Dann war offenbar die wiffenfchaftliche Brauchbarkeit des Gleichungverfahrens
erreicht. Da war e8 nun Descarted, der den Weg zu diefem Ziele zeigte,
indem er die algebraifche Symbolik einführte: womit den verfchiedenartigen,
der Aufgabe einverleibten Bedingungurtheilen für den Verlauf des Beweifes
durh Buchſtabenſymbole ein allgemeiner Ausdrud verfchafft wurde, vermöge
deren die Bedingungurtheile wieder in Gleichungen umgewandelt wurden.
Damit fiel jede Mehrdeutigfeit der Ergebniffe: denn nun war durch die
allgemeine, den verfchiedenen denkbaren Bedingungen entiprechende Bedeutung
der Zeichen diefer Symbolif das generell Bedingte den Schlußfolgerungen
jelbft einverleibt, jo dar diefe eine an fich eindeutige Form erhielten. Was aber
bedeutete nun dies Alles für das Verftändnif der ftetig veränderlichen Größe?
Es war flar: mit diefem Ergebnig war ein bisher noch fehlendes Mittel
gewonnen, um Aufgaben zu löfen, in denen bejtimmten, in bejtimmter Weiſe
veränderlihen Faktoren beſtimmte, in entjprechender Weiſe veränderliche Er—
gebniffe entfprachen; oder mit anderen Worten: e8 war das Mittel gewonnen,
dem Begriff der ftetig veränderlichen Größe in ihrem Verhältnig zu anderen
ftetig veränderlichen Größen gerecht zu werden. Es war jetst möglich, jede
Mehrheit mathematischer Größen, vorausgejegt, daß deren Verhältniß fich
unter bejtimmten Bedingungen änderte, in der durch diefe Bedingungen auf
die einzelnen Größen ausgeübten Wirkung zu verfolgen und für die Durch:
führung diefes Verfahrens eine allgemeine Rehnungform — man nannte fie
eine Funktion — aufzuitellen.
Aber verwandelte ſich damit, daß Died möglich wurde, nicht das bis—
herige Beweisverfahren in eine Methode der Unterfuhung? Gewiß: eben
Das geſchah; und dar es geichah, war vielleicht das folgenreichite Ergebniß
der durchgeführten Neuerung. Denn jest war das neue Verfahren nicht
mehr blos ein Werkzeug des Beweifes, fondern es wurde zur Analyjis, zur
Forfchungmethode, die bei dem ihr innewohnenden Zuge vom Zuſammen—
gefegten zum Einfachen, vom Befonderen zum Allgemeinen eine Fülle von
Beobachtungen über das Verhalten mathematifcher Größen zu einander ver:
anlafjen mußte: womit der Anftoß gegeben wurde zur Aufitellung der
wichtigiten Gefege über das Verhalten von Größen überhaupt in Raum und
Zeit. Im diefem Sinne wurde die neue Mathematik jegt dem erweiterten
Kaufalitätstriebe, dem Grundzuge der neuen Zeit, für das Zufällige überhaupt
feinen Raum zu lafjen, jo weit gerecht, wie es fi um die Bearbeitung von
Grörenverhältniffen handelte: mit der Durchbildung der Funktionrechnung be=
gannen alle Größenbeziehungen, unferem Denfen in der felben Weiſe erichloffen
zu werden, wie das AU immer mehr dem Kauſalgeſetz als einer nun ſtets
weniger abweisbaren Forderung unſeres Denkens unterworfen erfchien. Doc)
bedurfte es zur vollen Verwendbarkeit der Funktionrechnung in dem foeben
5*
Del u 577 Ba a ar, u
66 - Die Zuhmft.
befchriebenen Sinne noch eine® weiteren Hilfsmitteld. Indem man nämlich
die Abhängigkeit einer Größe von einer anderen oder von einer Mehrheit
anderer Größen auf dem Wege der Funktion unterfuchte und zu dieſem
Zwede zunächſt eine oder mehrere diefer Größen beliebig veränderlih annahm,
fam man zu einem Begriff, der rechnerisch zunächſt faum fahbar erſchien,
zu dem der jtetigen Beränderlichkeit. Und doc kann, da die Dinge aufer
uns nicht minder wie unfere Vorftellungen in ftetigem Fluß von Veränderungen
begriffen jind, Feine größere Beftimmung gedacht werden, die fich diefem
objektiv wie fubjeftiv gleich zweifellofen Moment entzöge!
Die Mathematik fann feiner in der That nicht reſtlos Herr werden.
Aber jie kann es im ihre Unterfuhungen in den denkbar Heinften Fehlergrenzen
mit einbeziehen, indem jie fich die veränderliche Beziehung in Heinjte Elemente
zerlegt denkt, in denen diefe Veränderung aufgehoben erjcheint, und dieje
Elemente mit beachtet. Die Mittel hierzu lieferte in der zweiten Hälfte des
febenzehnten Jahrhunderts die Fnfinitefimalmethode (Differentialrehnung),
wie fie Newton in feiner Fluriontheorie, die in den Acta eruditorum de3
Jahres 1684 erfchien, vom Geſichtspunkte der Bewegung dieſer Heinften
Elemente, Leibniz von geometrifhen, Euler von arithmetifchen Betrachtungen
her entwidelt haben: bis Lagrange in feiner derivirten Funktion die vollen-
detjte der hierher gehörigen Methoden ſchuf. Nun war e3 in der That möglich,
die gegenfeitigen Beziehungen ftetig veränderlicher Größen in jeder Hinficht zu
verfolgen, wie aus der Kenntniß eines Theiles diefer Beziehungen oder auch
einer aus ihnen abgeleiteten Relation das ganze Verhältniß ihrer gegenfeitigen
Beziehungen durch Integration, Das heißt: durch eine Umkehrung des Differential-
verfahrens, herzuitellen; und damit war überhaupt das Geheimnig des Ver:
haltens der Größen, mithin auch der Körper zu einander enthüllt: grundfäglic)
hatte jet die Mathematik als die Wiffenfchaft der Größen alle Gebiete der
erfenntnißtheoretiichen Grundlage durchmeſſen und erobert.
Halten wir hier inne und fragen uns, was denn damit für die philo-
fophifchen und naturwilfenfchaftlihen Probleme erreicht war.
Die PhHilofophie mußte bei der ganzen Veranlagung des feeliichen
Lebens diefer Jahrhunderte fo viel wie möglich an der Deduftion fetzuhalten
ſuchen: das AU erjchien ihr als Eins, wie das Individuum; und als dies
Eine, in ſich Har Zufammenhängende, muRte‘e8 von einem Punfte aus ver:
möge einer einzigen Methode begriffen werden fünnen. War nun in der
Mathematik diefe Methode gefunden ?
Die Entwidelung der Mathematik hatte vom fechzehnten bis zum Ende
des jiebenzehnten Jahrhunderts aus den deduftiven Beweisformen Euklids
zur Analyis, zur reinen Induktion geführt; immer mehr hatte gerade biefe
Wiſſenſchaft von ihrem deduftiven Charakter verloren. So war an ihre
Pandynamismus. 67
Berwendung zur philoſophiſchen Deduktion der großen Probleme von Gott
und Welt je länger, um fo weniger zu denken. Aber doc; galt die mathe-
matifche Beweisform feit dem fechzehnten Jahrhundert, ja, zum Theil fchon aus
dem Mittelalter heraus al3 allen Syllogismen weit überlegen! Und ihr Ruf
al3 folche, auf ihre alten deduftiven Elemente begründet, erjtredte ſich noch
weit bi in das achtzehnte Jahrhundert. Die Folge war, daß die Philojophie
dieſes Zeitalter fie als Arbeitwerkzeug nicht aufgab, aber freilich je länger,
je mehr mit einem Inſtrument arbeitete, da8 bei ſtrenger Anwendung zer—
brach, — oder, anders ausgedrüdt, daß fie die mathematifche Beweismethode
in einem Sinne anwandte, die dem Charakter diefer Methode und der ihr
zu Grunde liegenden Wiffenjchaft je länger, je weniger entjprah. Schon
Roger Baco hatte ſich diefer Methode in einer für unfer Denken fonderbaren,
bei ihm fehr Mar zu Tage tretenden Weiſe bedient: nämlich nad der Art
des mittelalterlichen Analogiebeweifed. Er hatte, darin dem Pythagoras und
feinen Schülern ähnlich, gewiffe mathematifche Berhältniffe in gewiſſen meta-
phyſiſchen, pſychiſchen, ja auch phyſiſchen Berhältniffen im ſymboliſchen Spiegel-
bild wieder gefunden: und Das hatte ihm genügt, um diefe Berhältniffe
jo weit zu identifiziren, dat aus diefer Jdentififation heraus die Wirklichkeit
der metaphyſiſchen, pſychiſchen, phyſiſchen Verhältnifje behauptet werden konnte,
weil die Wirklichkeit der analogen mathematifchen Verhältniſſe feititehe.
Das war nun freilich ein Verfahren, das die Philofophie des Descartes,
wie fie zunädhft den pandynamifchen Syftemen des fechzehnten Jahrhunderts
folgte, in gleich jonderbarer Naivität des Analogiefchluffes nicht mehr ein—
flug. Aber gleihwohl gilt für ihr Verhältnig zur Mathematik noch etwas
Achnliches. Es ift faſt felbftverftändlich, daß der felbe große Geift, der der
Mathematik den Weg zur induktiven Analylis wies, fie nicht gleichzeitig als
tiefer fonftituirende methodologische Triebfraft einer deduftiven Philofophie
gebrauchen konnte. Galt dem Descartes wie feinem ganzen Zeitalter die
Mathematik gleihwohl al3 Hebamme jeder Metaphyſik, fo konnte ihre Hilfe
im Grunde doch nur nod äuferlih und formell beanfprucht werden:
nämlich fo, daß ihrer Methode die äufere Art der Beweisführung und ihren
Ergebniffen gewiſſe Analogien der philofophifchen Gedankenbildung entnommen
wurden. Und über Descartes hinaus ermöglichte diefer befondere Charafter
der philofophijchen Benugung der Mathematit es noch Spinoza, mit ans
geblicher Hilfe der Mathematik ein gewaltiges, im Grunde myſtiſches Lehr:
gebäude der Metaphyſik aufzuführen.
Im Grunde war aljo auch der Verſuch, nad) dem Scheitern des Pan—
dynamismus mit Hilfe der Mathematif als eines Univerſalſchlüſſels deduftiv
eine Kenntnig der Welt generell zu gewinnen, geicheitert. Die materielle
Borftellung von allgemein bewegenden Sträften und Größekomplexen hatte eben
fo verfagt wie die formal logifche Miethode der Mathematik.
68 Die Zukunft.
Kann man unter diefen Verhältniffen fagen, beide große Bewegungen,
Pandynamismus und Metaphyfif unter dem Einfluß der Mathematik, feien
vergebens gewefen? Wie fehr hieße Das Bedeutung und Einfluß großer geiftiger
Strömungen verkennen! Mit dem Pandynamismus war eine erfte, allgemeinfte
Hypotheſe des Naturzufammenhanges gewonnen, die in den Naturwifien-
ſchaften bis heute befruchtend gewirkt hat. Und die Mathematif gab eben,
indem fie fih aus einem Werkzeug der Deduktion in ein folches der Induktion
verwandelte — eine Umwandlung, die nur unter dem allgemeinen philo:
fophifchen Intereffe an ihr fo rafch und entjcheidend einfegte —, den Anlaß
zur Maren Entfaltung der Mechanik als der Wiffenfchaft von der thatjäch-
lichen Bewegung der Körper: und damit den Anſtoß zu der unabläfligen,
bis heute fortgefegten Entwidelung der pofitiven Naturwifienfchaften. Denn
indem die neue Mathematik daS allgemeine Verſtändniß ftetiger Bewegungen
an fi wie in bejtimmten Verhältniffen zu einander lehrte, war damit die
Möglichkeit gegeben, in die Bewegungen der Körperwelt und die ihnen zu
Grunde liegenden Gejege jorfchend einzudringen: in der Mechanik wurde durch
Stevin und Galilei neben der Statik der Alten jett die Dynamik entwidelt;
und Newton verwandte die Kenntnif der neu errungenen Geſetze diefer Dynamit
zur Erklärung der kosmiſchen Bewegungen. Und alsbald brachte die Kenntniß
biefer Geſetze auch ein neues Leben in die bis dahin willfürlichen Phantaſien
anheimgegebener Wiffenfchaften der Phyfif und Chemie, deren Aufblühen dann
fpäteren Zeiten die Möglichkeit gewährt hat, unter anderen Vorausfegungen
in die Erforfchung auch der biologifchen Geheimniffe der Natur einzutreten.
Die Mathematik aber hatte mit diefer außerordentlihen Befruchtung,
die von ihr auf die Behandlung der philofophifchen Probleme wie die natur:
wiffenfchaftliche Forfchung vornehmlich des fiebenzehnten und achtzehnten Jahr:
hundertS ausging, die ftolzeften Aufgaben allgemeiner Art, die ihr zufallen
konnten, erfüllt. Sie wurde feitdem langfam immer mehr zu einer Wiffen-
ſchaft neben den anderen Wiflenfchaften und fpielte daneben eine befondere
Nolle zunächft nur noch im dem Bereich der Naturwiffenfchaften. Es ge:
ſchah, inden fie ihre generellen ‘Probleme immer mehr denen der allgemeinen
Logik annäherte, ihre Grundlagen erfenntnißtheoretifcher und pfychologifcher
Bearbeitung unterwarf und fie in diefer jchlieflic al8 nicht in dem Sinne
abjolut erfannte, in dem fie die früheren Zeiten des —— als
abſolut betrachtet hatten.
Dieſe zweite Bewegung begann ſchon früh. Während nämlich die
ſpeziellen mathematiſchen Studien ganz in der zunächſt von der Arithmetik
her erfolgenden Ausbildung der Aualyſis aufgingen und darunter die Eut—
widelung der fonftruftiven Methoden der Geometrie vernachläfjigt wurde,
begannen die Philofophen allmählich eingehendere Unterfuchungen über ben
Pandynamismus. 69
Begriff des Raumes. Und hier hielt man nun anfangs allerdings im Ganzen
noch an jenen Vorſtellungen feit, aus denen heraus ji die Auffaflung ge:
bildet hatte, dar die Mathematif das Vorbild einer deduftiven Wiflenjchaft
fei, weil in ihr alle elementaren Vorausſetzungen abfolut gegeben feien: ſei
es num, daß diefe Elemente, wie Punft, Linie und begrenzter Raum, als
eingeborene, ja transizendente Bejtandtheile unferes Geiftes, als eine myſtiſche
Ideenwelt hinter der entfprechenden Welt der Erfcheinungen gedacht wurden,
fei e3, daß man fie als erfahrungmäßige, durch willfürliche Annahmen ent—
ftandene, doh nun fonjtant gewordene Abjtraktionen aus den Dingen der
finnlichen Welt entwidelt betrachtete. So hat Descartes auf diefem Gebiete
noch einen fait platonifchen Realismus gelehrt. So hat Hobbes noch ganz
an der Meinung von der willfürlichen Feititellung der Begriffe feitgehalten.
Allein darüber hinaus ging dann jhon Kant. Inden er die Zeit dadurd)
in den Bereich diefer Betrachtungen mit einbezog, daß er die Zeitanſchauung
durd ihre Verbindung mit der Kategorie der Quantität den reinen Begriff
der Zahl vermittelnd dachte, verjuchte er, daS angeborene Bejigthum des
Geiftes auf die reine Raum- und Zeitanfhauung zu befchränfen. Inner—
halb diefer Auffafiung waren ihm die mathematiichen Begriffe dann an ſich
Ergebniffe reiner Anfchauung, aber zur Evidenz gebracht doch erft durch die
Gelegenheiturfachen der äußeren Objekte: fo daß die Anihauung de3 geomes
teifchen Dreiecks, an ſich aprioriich, doch erit durch Anſchauung eines ſiunlich
gegebenen Dreieds in uns hervortreten kann.
Was bei Kant gegenüber früheren Theorien. gewonnen war, war die
Auffafjung, dar die mathematischen Grundvorftellungen nicht als begrifflich
im Sinne etwa von Descartes oder aucd Leibniz, jondern al3 anſchaulich
zu verjtehen jeien. reilih war diefe Anfhauung nad Sant aprioriic.
Aber die fpätere Zeit hat jehr bald auch diejen aprioriichen Charakter auf:
gelöft. Auf Grund der Lehren Humes, unter gelegentlichen Zurüdgreifen bis
auf Hobbe3, wurde der rein empirische Charakter der Anschauungen behauptet
in der Art, daß man fie als aus den ſinnlichen Dingen abjtrahirte Hypo—
thefen, nicht als Gewißheiten betrachtete. Und der Nachweis hierfür wurde auf
unmittelbar anjchaulihem Wege verfucht, inden man ſich zu zeigen bejtrebte,
wie im primitiven Bewußtſein durch gedachte Bewegungen eines Punktes,
einer Linie, einer Ebene zunächſt die geometriichen Gebilde, auf Grund anderer
Vorjtellungsgänge auch die Zahlenbegriffe als allgemein einleuchtende Hypo:
thejen entjtanden feien.
So erſchien denn der Charakter der Mathematif als einer abfoluten
Wiſſenſchaft gründlich zerjtört. Und gleichzeitig begann auch ihre Auffafjung
al3 einer beſonders ficheren, über die Logik hinaus abfoluten Methode dadurd
befeitigt zu werden, dag man fie immer mehr der Logik felbjt einverleibte.
70 Die Zuhmit.
Die Entwidelung vollzog ſich hier jehr einfach von dem Momente her, daß
die Geometrie und Arithmetif ſeit dem fechzehnten und jiebenzehnten Jahr-
hundert in die eine allgemeine Mathematif der Größen verwandelt worden
waren. Bon hierher war es leicht, falls die allgemeinen Borausjegungen
dazır fonft Schon im Denken der Zeit enthalten waren, aus der intimjten Ber-
ſchmelzung der Zahlen: und Ausdehnunglehre eine abjtrafte Mannichfaltig-
feitlehre oder Lehre von den Formen hervorgehen zu lafien. Es gefhah im
neunzehnten Jahrhundert, nachdem feit der verhältnigmärigen Vollendung der
Analyis im achtzehnten Jahrhundert und im Folge der Jmpulfe der philo:
fophifchen Studien über den Charakter des Raumes eine neue Blüthe der
Geometrie eingetreten war: fo daß Analyiis und Geometrie, nun etwa auf
gleicher Höhe der Entwidelung ftehend, ganz befonders wiederum zu einer
weiteren Jutegration der ihmen zu Grunde liegenden Begriffe aufforderten.
Indem aber, feit den vierziger Jahren etwa des neunzehnten Jahrhunderts,
dieje abjtrafte Mannichfaltigfeitlchre durchgebildet ward, erfchien der Ueber:
gang der mathematischen Wifjenfchaft in den formalen Theil der Logik vollzogen.
Leipzig. Profeſſor Dr. Karl Lamprecht.
—
Dr. Miranda in Konſtantinopel.
Ss)“ Sultan, Barend, ijt zweifellos der ärgjte aller Tyranıen. Berfuche
J nicht, ihn zu vertheidigen. Wenn Du erfahren haben wirſt, wie er mid)
verfannt und erniedrigt hat, wie er — Du magjt Did) darüber wundern, aber
ich ſchwöre Dir, daß es die Wahrheit ift — ſich geweigert hat, mir die dreitaujend
türkiſchen Pfund auszjuzahlen, die wir als Donorar vereinbart hatten, dann wirft
Du ſicherlich meine Verachtung theilen.
Es war im Jahr 18.., als mich die Hohe Pforte aufforderte, eine Woche
vor den großen ‚Falten nad Yildiz-Kiosk zu fommen, um mich dort mit dem
Peibarzt zu berathen. Ich hatte mich in Konftantinopel in dein europäiſchen
Riertel als Arzt niedergelafjen, aber ich kümmerte mich wenig um meine Praxis,
da ich es mir zur Aufgabe geftellt hatte, die Bunde zu jtudiren. Die Bunde
find dort die großen Stadtreiniger; allen Schmutz und allen Abfall, der auf
die Straße geworfen wird, jchlingen dieje Ihiere herunter; und ich beganıt nun,
zu unterfuchen, wie es kam, daß fie nicht frank wurden durch Stoffe, die, in den
menjchlidien Magen verpflanzt, unmittelbar tötlich wirken würden. Nach vielen
Experimenten entdedte ic, daß nicht der Magen, jondern die Yeber und namentlich
die größere Abicheidung der Galle bei den Hunden die Urſache Hiervon ift. Die
Galle ijt ein antijeptiiches Miittel, die Gallenblaje der große inwendige Des»
infeftion-Apparat in dem thieriichen Urganismus und nach meiner Erfahrung
Dr. Miranda in Konjtantinopel. 71
find die meiften Magenkrankheiten auf eine ſchlecht funktionirende Leber zurüd-
zuführen. Die offizielle Wiffenjhaft erkennt Das nidt an. Das ijt ja auch
nicht weiter wunderbar. Du verjtehft: wenn die Aerzte die Magenkrankheiten
in ein paar Wochen durch eine rationelle Leberbehandlung furiren könnten, fo
müßten jie auch ihre Liquidation entiprehend verringern; und Das kannjt Du
mir glauben, mein lieber Barend: die gewöhnlichen Aerzte find faum etwas
Befleres als Nezepthändler. Je mehr Die Einem anjchmieren fönnen und je
theurer, dejto bejjer. Mein großes Werk über die Galle wirft Du in meinen
Bapieren finden, wenn ih mich dem großen, jtillen Freunde Aeskulaps, dem
Bruder Tod, anvertraut haben werde, und ich denke ſchon jeßt mit Freude an
all die Kniffe, die der Verleger amvenden wird, um meinen Erben das Honorar
zu kürzen. Barend, Dir ertheile ich den Auftrag, einen Verleger ausfindig zu
machen, der jein Fach durch und durch verfteht. Welche erhabene Rache nehme
ih dann an meinen Erben, indem ich fie einem Verleger ausliefere! Sie jollen
wiffen, daß fie mid; Zeit meines Lebens verfannt haben all die lieben Nichten
und Neffen! Sie follen von meinent Ruhm hören und = nicht den geringiten
materiellen Bortheil daraus ziehen können.
Alſo ich ging nach Yildiz Kiosk und wurde vom Sultan i ir perjönlicher Audienz
empfangen. Der große Herr am Goldenen Horn hatte erfahren, mit wie leb—
haftem Intereſſe ich das Treiben der Hunde beobachtete, und darauf den Wunſch
geäußert, mit mir über den Gejundheitzuftand der Frauen feines Harems zu ſprechen.
Drei feiner Favoritinnen waren an den Boden erkrankt, und obgleich es jeinem
Leibarzt I Mahommed Gazan gelungen war, ihnen das Leben zu erhalten, waren
die drei Frauen doch podennarbig geblieben. Wie jehr der Sultan aud) die
Heilkunſt feines Leibarztes bewunderte: er wollte die drei Favoritinnen nicht
mehr im Harem dulden und hatte fie deshalb an feinen erjten Minifter, feinen
Staatsrath und feinen zweiten Schaßmeijter verheirathet. SI Mahommed Gazan,
ber neue Bodenfälle und bejonders auch neue Verheirathungen fürchtete, da er
jelbjt noch unverheirathet war, hatte dem Sultan von meinem großen Wiſſen ge-
ſprochen. Das hatte mir die Ehre der Audienz verichafft.
Ich ſchlug dem mächtigen Beherricher der Gläubigen vor, die ‚frauen in
jeinem Harem impfen zu lafjen. Diefer Borjchlag leuchtete | Mahommed Gazan
ein und der Sultan gab feine Zujtimmung. Bis jeßt hatte aber noch niemals
ein Giaur, ein verächtlicher Franke, die Schwelle des Harems überjchritten und
der Sultan wollte mir den Zutritt nur unter einer Bedingung gejtatten, die
ih nicht zu erfüllen wünjchte. Ich beitand darauf, zu den Frauen gelafjen zu
werden. Ich will es nur ehrlich gejtehen: meine Neugier trieb mich dazu, dieje
außergewöhnliche Gelegenheit nicht unbenußt vorübergehen zu lajfen. Langwierige
Unterhandlungen folgten. Die türkijche Diplomatie, die wegen ihres paljiven
MWiderftandes berüchtigt ift, wandte alle Mittel an, die ihr zu Gebote ftanden,
um mich zu bewegen, die Frauen zu impfen, ohne den Harem zu betreten.
Anfangs wünſchte man, ich jolle einen der Eunuchen das impfen lehren, ihm
die Lymphe verjchaffen und dann die Impfung überwachen. Ich antwortete, daß
ich mic) als Arzt weder für die Folgen noch für die güntige Wirkung der Impfung
verbürgen könne, wenn id) die Batientim nicht jelber jähe und unterſuchte. Darauf
theilte man mir mit, die Frauen würden verjcjleiert und mastirt, jede unter
72 Die Zukunft.
der Aufjicht von zwei Eunuchen, eine nad) der anderen zu mir fommen, um im
meinem Daufe geimpft zu werden. Den Frauen jollte bei Todesjtrafe verboten
fein, vor, während oder nad) der Operation ein Wort zu jprechen. Ich weigerte
mic abermals und betonte, daß ein Arzt, der feine Gelegenheit habe, ſich mit
feinem Batienten zu unterhalten und ihm Fragen zu ſtellen, auch nicht berechtigt
jei, irgend eine Verantwortlichkeit zu übernehmen.
Endlih wurde mir die Erlaubniß ertheilt, Fragen zu ftellen; aber die
rauen jollten verjchleiert bleiben. Ich antwortete höflich, aber beftimmt, daß
ich ihre Zungen jehen müſſe, um mich von ihrem allgemeinen Gejundheitzuftand
zu überzeugen und die Stärfe und die Quantität der Lymphe danach einzurichten.
Die Zunge wurde gejtattet. Man würde in den Schleier eine Heine
Oeffnung machen, durd die jie die Zunge jtreden könnten. Ich antivortete,
Das genüge mir nicht; ich müſſe den Puls fühlen und, falls es ſich als nöthig
erweije, die Patientin auch ausfultiren. Deshalb erbäte ich die Erlaubniß, die
Patientin jich jo weit entkleiden zu laffen, wie es mit den Forderungen der
Wiſſenſchaft, der ftrengen, ernften, heiligen Wiſſenſchaft, die nicht mit beſchränkten
Begriffen von Sitten und Sittlichfeit rechnen könne, in Einklang zu bringen
jet. Darauf wurden die Unterhandlungen abgebrochen. Aber nur jcheinbar.
Ich kannte die türkiiche Diplomatie, that, als müſſe id) auf meinen Forderungen
bejtehen, und fuhr fort, Dunde zu vivifeziren.
Da befam ich, nach Ablauf von zwei Monaten, den Beſuch des Groß-
vezierd, der mir hundert türkiſche Pfund bot, falls id die Unterhandlumgen
wieder aufnehmen wolle. Entrüſtet jchiete ich den Mann fort, nachdem ich ihm
mitgetheilt hatte, dai wir curopäifhen Aerzte zu hoch ftänden, um uns auf
„Bakſchiſch“ einzulaffen. Acht Tage darauf kam der erfte Schatzmeifter zu mir
und bot mir dreihundert türfiiche Pfund, falls ich mid) zu der Impfung ent-
ihlicßen wolle. Auch diejen Großwürdenträger ſetzte id) an die Yuft, — mo
er jeinen Bakſchiſchantrag noch auf fünfhundert Pfund erhöhte. ch wunderte
mic) nicht über dieje Freigebigkeit, da id) wußte, daß es einem türkiſchen Schatz—
meijter auf ein paar hundert Pfund mehr oder weniger nicht ankommt; er ftedt
feine Hände eben ein Bischen tiefer in die Tafchen der Steuerpflichtigen. Aber
Ihon am nächjten Tage erjchienen drei andere Großwürdenträger bei mir, der
Neis Effendi, der SKiafa Bey und der Terſom Emini, die mir Bakſchiſch an-
boten, wenn ich nur impfen wolle.
Bis jegt hatten fie mir Alle bei dem Barte des Propheten geichworen, fie
fämen aus eigener Initiative; doch der Bart des Propheten ijt lang und ftarf
und bei dem erjten Dteineid eines Gläubigen fällt ihm noch fein Haar aus. Ich
vermuthete, der große Padiſchah Habe feinen ganzen Divan beauftragt, mir einmal
tüchtig auf den Zahn zu fühlen. Dann, nad) drei Monaten, befam ich den Bejud
von Il Mahommed Gazan jelbjt und der würdige Gelehrte jagte mir, warum all
die hohen türkiſchen Autoritäten fih um ein jo verächtliches Wejen, wie ein
fränkiſcher Arzt es ift, jo eifrig bemüht hatten. Die Poden waren wieder im
Harem ausgebrochen. Il Mahommed Gazan hatte die Patientinnen geheilt, aber fie
waren podennarbig geblieben und wiederum hatte der Sultan fie an jeine Staats:
beamten verheirathet. Die aber waren von der hohen Ehre nur halb entzüdt.
Eine Schönheit aus dem Harem des Großherrn war ihnen in normalen Zeiten
ch an 4 - . !
Dr. Miranda in Konftantinoper. 73
höchſt willkommen; jegt aber ſchien cs fait, als jollten alle erjten Staatsbeaniten
mit einer blatternarbigen bejjeren Hälfte beglüdt werden. Die Beſuche dar Be»
jtecher waren die leßten Verſuche VBerzweifelnder gewejen, die der bedenflichen
Ehre, Gatte einer blatternarbigen Sultan-Favoritin zu werden, gern entachen
wollten. Jetzt würde Il Mahommed Sazan jelbjt an die Keihe kommen. Er
hatte den furdtbaren Augenblid jo lange wie möglich hinausgeſchoben, denn in
dem Neich des Bosporus weiß man nichts von platoniicher Philoſophie und der
Sultan verlangt, daß man durd eine große Nachkommenſchaft beweiſe, wie un—
gemein man die hohe Ehre jchäße, eine Frau zu befißen, die er einjt in Gnaden
auserkor. Il Mahommed Gazan, der rathlos war, hatte jchon jechs an den Poden
erfranfte Haremsfrauen, die, falls fie geheilt würden, ihm. als Gattin zugewieſen
werden jollten, dem großen jtummen Freund aller Aerzte als ewige Braut ge-
ſchenkt; jo aber ging es nicht weiter. Man ijt nämlich im Reich des Halb:
mondes praftifcher als in dem angeblich praktiijhen Abendlande. Für jeden
Patienten, der unter den Händen des Yeibarztes bleibt, wird ihm ein Theil
feines jährlichen Gehaltes abgezogen; und wenn in einem „Jahr fieben Patienten
jterben, verliert der Arzt feine Stellung und ihm wird verboten, fünftig über-
haupt noch zu praftiziren. Es wäre im Intereſſe des YUllgemeinwohles zu
wünſchen, daß dieje nüßgliche Einrichtung aud in Guropa Eingang fände. Der
Leibarzt fiel mir zu Füßen und flehte mid) an, id) möge doch nadgiebig fein
und ihm helfen. Als äußerſte Konzeſſion würde der Sultan mir die Erlaubnif
gewähren, die Operationen in.den Räumen des Darems zu vollzichen. Die rauen
würden hinter einem Vorhang ftehen und mir ihre Arme, Beine und was id)
jonjt noch zu jehen für nötig eradhtete, durd) eigens dazu angebrachte Oeffnungen
zeigen. Der Arzt folle meine Fragen und ihre Antworten übermitteln und mid)
über den Allgemeinzuftand der Batientinnen unterrichten.
‚Und wenn id) mich weigere?*
Der türkiſche Arzt jeufzte tief und jagte dann: ‚Nur eine rau ift noch
übrig, die ich zu behandeln habe; wenn ich troß allen Hilfsmitteln meiner.
Wiſſenſchaft aud) Dieje der graufamen Umarmung des Todes nicht zu entreigen
vermag, aljo auch nicht der hohen Ehre theilhaftig werden kann, fie zu um—
armen, die cinjt die Ehre hatte, vom Sultan mit Wohlgefallen angejhaut zu
werden, dann werde ich ſchmählich weggejagt und die erſte geheilte Pockenkranke
der neuen Siebenzahl wird meinem Nachfolger als Gattin zugewiejen. Und
ih fürchte ſehr, daß es mir nicht glücken wird, die ficbente Patientin zu heilen.“
Hier ftand aljo das Leben einer Frau auf dem Spiel. Ich habe, troß
meinem Beruf, wie jeltiam es Dir aud) erjcheinen mag, mir eine große Ehrfurdt
vor dem menſchlichen Yeben bewahrt und glaube, daß meine Kollegen mir gerade
deshalb immer einen Stein in den Weg gelegt und mic gejchmäht haben. Hier
galt es, ein Menjchenleben zu retten, — und jo gab ic) denn nad).
Wiederum arbeitete ich einen Bericht an den Sultan aus und erhielt
darauf die Erlaubniß, unter den Bedingungen, die II Mahommed Gazan mir
mitgetheilt hatte, die rauen im Harem zu impfen. Am feſtgeſetzten Tage er
ſchien ich in Yildiz Kiosk, wurde nach den Daremispaläften und dort in einen
Raum geführt, wo ein großer Teppich hing, der mit Löchern der verjchiedeniten
Größe verjehen war. Die erjte Frau ſteckte ihre Zunge durd eins der Heinjten
4 Die Zukunft.
Löcher. Es war eine große, ſchwarze, dide Zunge und ich empfand nicht die
geringjte Neigung, noch mehr von einer Frau zu jehen, die eine ſolche Zunge
hatte. Durch das jelbe Loch zeigte fie mir einen Kleinen Theil des Armes; ich
ſtach mit meiner Yancette die nöthige Anzahl Löcher hinein und impfte dann.
Die zweite Frauenzunge und der zweite Frauenarm waren nicht weniger häßlich.
Bei der dritten Frau wünſchte ich, einen Theil der Hüfte zu jchen. Bor einem
der größeren Löcher wurde ein kleiner Theil der Hüfte gezeigt, einer jehr plumpen
Hüfte; ich lernte die Berzweiflung der unverheiratheten Staatsbeamten all»
mählich begreifen. So häßliche, ungraziöfe Weiber, — und noch podennarbig
dazu: die Ehre einer ſolchen Verbindung ward wirklich gar zu theuer bezahlt.
So wurden mir zwölf Frauen gezeigt; richtiger: zwölf Zungen, zwölf
feine Theile des Oberarms oder der Schulter oder der Hüfte. II Mahommed
Gazan wandte den Blid nicht von mir. Er verfolgte alle meine Bewegungen;
und als ich jpäter heimfam, bemerkte ih, daß man mir vier mit Qymphe ge
füllte Glasröhren entwendet hatte.
Am nächſten Morgen theilte mir N Mahommed Gazan mit, daß meine
Dilfe nicht mehr verlangt werde, da er Fünftig die erforderlihen Operationen
felbft vornehmen werde. Der Schurke hatte mir die Handgriffe abgejehen und
meine Lymphe gejtohlen. Sofort eilte id) zum Sultan und bejchwerte mid.
‚Hm‘, fagte der Sultan; ‚glaubjt Du denn, daß Du mit Deinen Augen,
den Augen eines fittenlojfen Franken, jemals meine rauen anfehen durftejt?
Deine Blide würden fie entweihen.‘
‚Srofmächtiger Herr', antwortete ich, zich habe doch ſchon mehr von
ihnen geſehen als jemals ein Franke vor mir.‘
‚Du ierft! Du haft hinter den Deffnungen des Teppich nicht meine
rauen gejehen, nicht einmal ein Atom ihrer Schönen weißen Leiber. Hinter dem
Teppich ftanden meine Eunuchen. Du haft ihre Zungen gefehen, in ihre Hüften,
Arme, Schultern geſtochen . . . Und jest gehe hin, verlafje diefe Stadt binnen
des Etmals oder der neue Mond wird Did) jehen, wie Du Did) felbjt noch nie
gefehen haft: ohne Kopf. Du verdientejt eine harte Strafe, Unwiſſender Du,
der eine Männerzunge nicht von einer Frauenzunge zu unterjcheiden vermag. So
hat doc; endlich eine Frauenzunge etwas Gutes bewirkt, — freilid nur, weil jie
eben nicht da war: fie hat Deine Unwiſſenheit offenbart. Aus meinen Augen,
der Du glaubt, ein Sultan könne Frauen lieben mit Zungen, Armen, Schultern
. und Hüften, wie die find, die Du geimpft haft!“
Das ift der Grund, Barend, warum ich Konjtantinopel verlaffen mußte.
Wahrlich: die türfifche Diplomatie ijt durchtrieben; denn glaube mir, die eigent-
liche Urjadhe, warum der Sultan mid fortjagte, war nicht meine geringe Meinung
von jeinem Geſchmack im Punkte der Liebe, — nein: da er mich jo jchmählich
aus jeinem Neid) trieb, Eonnte er viertaufend Pfund Donorar in der Tajche be-
halten. Nicht bezahlen, was man jchuldig it: Das, mein junger Freund, ijt
im Grumde der Endzweck aller Diplomatie...“
An jenem Abend ſprachen wir nicht mehr viel, jondern leerten nur ſchweigend
unfere Gläjer, er, der große Verkannte, und ich, der große VBertraute,
Paris. Bernard Canter.
[>
Der Krach des Kunftgewerbes. 75
Der Krach des Runftgewerbes.
it harten und ehrlichen Worten fol eine Angelegenheit deuticher Kultur
bier angefaßt werden, die von der allergrößten Bedeutung für die Ent«
widelung unjerer Lebensformen ift: die Zukunft des deutichen Kunſtgewerbes.
Allzu lange haben id) die Kritifer begnügt, Ausjtellungen und den Darbietungen
einzelner Stünjtler gegenüber ihre Stimmungen jpielen zu lajjen, Agitatoren
eines neuen Stils zu fein, Propheten, die um der Zukunft willen die Gegen»
wart vergefjen. Nun hat ſich ein Schickſal erfüllt, das zwingt, die vagen For—
men de3 Wejthetifirens zu verlajjen und fi, auf die Gefahr, dem Einen oder
dem Anderen ein flüchtiges Unrecht zu thun, mit den unerhörten Schäden
der neuen Bewegung zu befaſſen. Denn nur jo jcheint es möglidh, den
großen Banferott der deutjchen deforativen Hunt, der in einigen Jahren nicht
mehr zu verhüten wäre, abzuwehren. Daß unfere neuen Lebensformen einen
neuen Rahmen brauchen, daß wir die hiftoriihen Masteraden unierer Woh-
nungen nit mehr ertragen können, daß die Errungenjchaften der Maler:
revolutionen in den legten Jahren aud im Dausgewerbe wirtjam, daß nad)
japanijhem Vorbilde die Gegenjtände täglichen Gebrauches von Kunſt durd)-
jest werden müfjen, daß es feine Kluft mehr zwijchen Kunſt und Yeben geben
darf: das Alles hat Jeder von uns umendlic oft gejagt. Schon ijt man vers
jucht, fi wieder auf den ariftofratifhen Charakter der Kunſt zu befinnen und,
wie ed ja aud) in England gefchieht, mit’einiger Geringſchätzung auf Nustins
Ideen von einer Beredlung des ganzen Lebens, des ganzen Volkes herabzujehen.
Es ift betrübend: nun, da aus dem großen Gelächter, das die herrichenden
Künftler dem neuen Kunſthandwerk noch vor einigen Jahren entgegengejcht
haben, nur eine große Mode geworden ijt, da der neue Stil, l’art nouveau,
new style, Sezejfion oder wie man das Ding beim faljchen Namen nennen
nennen will, „in den allerweitejten Streifen“ ſich durchgejett hat, — nun jind
wir glüdlid jo weit, daß die Beſten des Volkes, die Bejten der Künjtlerichaft
ih von dem Unfug zurüdzuziehen beginnen, den Snobs, der Mode das Feld
überlafjen; und in wenigen Jahren werden die grünen Möbel, die hellfarbigen
Stoffe, die neuen Metallgeräthe in den Winkeln der Namjchbazare ftehen.
Geht man heute durch die Yäden, die ji) mit dem neuen Gewerbe be»
faffen, jo friftallifirt fi bald aus dem eriten Eindruc einer überwältigenden
Hülle die Erfenntniß heraus, daß unter all den Schönen Dingen nichts Deutſches
ift. Ich weiß: ſolche Verallgemeinerung ist ungerecht. Ich weiß, dal; Männer wie
Dtto Eckmann, Hermann Obrift, Berlepſch, Pankok und Niemerichmied nicht ein—
mal die Einzigen find, mit denen man zu rechnen hätte. Aber ich weil; aud), daß
die Werfe diejer Männer im Betriebe nichts bedeuten gegen die Unmenge aus-
gezeichneter franzöfiicher, englijcher, amerikanischer und öjterreichiicher Objekte
und gegen den ungeheuerlichen Kram deuticher Ramſchwaare, imitirten und ge—
jtohlenen Zeugs, das die minder Bemittelten als ‚neue Kunſt“ kaufen Die
Dinge liegen heute jo, daß dem Bedürfniß des Publikums, jih mit Objekten,
die aus der neuen Bewegung hervorgegangen find, zu umgeben, eine ſtarke Zahl
von Künftlern entjpricht, daß eine Luſt am Neuen und, ſchätzt man nad) manchen
Anfängerarbeiten und dem Andrang zu den Gewerbeſchulen, auch eine pro
duktive Zeit für keimende Talente gefommen iſt; und dennod) der Zuſammenbruch.
76 Die Zukunft.
‚sch Ipreche hier namentlich von Berlin. In anderen Ländern und Städten
find die Entwidelungen langjam vor fid) gegangen. Die amerifanijche Betrieb—
ſamkeit der großen Stadt hat viel verjchlechtert; fie hat aber auch das Gute,
daß man mit flaren Mugen die Gefahren der Entwidelung vorausjchen kann.
Bor einigen Wochen hat ein flinfer münchener Journaliſt ein Bud über Münden
als Kunſtſtadt von den verichiedensten Berufenen und Unberufenen zufammene
interviewt und jich darüber Belchrung zu ſchaffen bemüht, ob denn Berlin num
wirklich näcdjtens den Nang Münchens einnehmen werde. Aus den verjiedenen,
mehr oder weniger unehrlichen Antworten jcheint mir nun das Eine herauszu—
fingen: es ijt unleugbar, daß Berlin eine Gentrale des Berfaufes und aljo des
Verkehres wird. Das darf man nicht unterjhägen. Die Vereinigten Werf-
ftätten in München, die bei allen Fehlern der Organijation und bei aller Aermlich—
feit und Einjeitigfeit mancher ihrer Bemühungen dennod) ern gutes Niveau halten
fonnten und vor Allem einem Künftler wie Hermann Obrift eine — wenn
auch beſchränkte — Scaffensiphäre gaben, find doch jchon dadurd) an einer
weiten Wirkſamkeit gehindert, daß gar fein Kaufbedürfni vorliegt, daß einer
Produktion von anjtändigem Nang ein lächerlich geringer Verbraud) gegenüber
fteht. In Berlin liegen die Dinge jetzt noch anders. Nod leben wir in der
Zeit, da die Nahmenmacher und Blumengeichäfte mühlame Modernität zur Schau
tragen und die Kaufhäuſer von Seller & Reiner und Dirichwald mit riefigen
Umſätzen arbeiten. Fragt man aber nad den Erzeugern der Waare, die da
verſchleißt wird, jo fehlen die Berliner. Niemand bemüht ſich um fie; die wenigen
guten Leute, die da find, befommen keine Aufträge und der vielgerühmte deutjche
Patriotismus drüdt ſich höchitens darin aus, daft; man das Fremde beidhimpft,
während im Yande jelbjt nichts gejchaffen wird.
Sieht man nun aber davon ab, daß in Berlin jelbjt wenig — jeit Eckmann
ſchwer darniederliegt, fait gar nichts — geleiftet wird, fchiebt man überhaupt
für einen Augenblid die ganze Frage des Urjprungs bei Seite und befümmert
ſich nur um den abjoluten Werth Deſſen, was in Berlin gefauft wird, fo faltet
man traurig die Hände. Ich fürchte, Alle, die jeit Jahren im Kampf um die
neue Kunjt jtanden, werden die Zeit noch erleben, da die Geichmadvollften ſich
wiederum italienische Nenaifjancezimmer nad) hiſtoriſchen Vorbildern getreu fopiren
lajjen werden, weil es unmöglich wird, ohne den ftärkiten Aufwand von eigener
Zeit und Straft ein anftändiges Stüd neuen Kunſthandwerkes zu erlangen. Eine
erichredende Armjäligkeit der Formen und Motive beginnt einzureißen. Jede
Linie wird totgeheßt, jedes Ornament, das aus dem Charakter der tertilen Kunft,
um ein Beijpiel zu nennen, herausgewachſen ift und da feinen Werth hat, wird
von plumpen Händen aufgegriffen, äußerlich als Ornament Erzeugnijjen fremder
Techniken aufgeklebt, — umd jo geht das Werthoollite an der ganzen neuen Kunft
allmählich, verloren: die Ehrlichkeit. Zählt man dann aber zufammen, was in
Europa und Amerika in den letzten Jahren geleijtet worden ift, fo fommt man
zu dem Ergebniß, es jei ungemein viel. ragt man im Bejonderen nad) der
Entwickelungfähigkeit, jo jcheint eine reiche Möglichkeit gegeben. Doch foricht
man in ji) nach den Hoffnungen, die, wird cs nicht anders, in Deutjchland für
den neuen Stil vorhanden find, jo wird man recht traurig.
Hier künnte man mir einen Widerfpruch vorwerfen; die Leute vom Fach
Der Krach des Kunſtgewerbes. e ii
fogar einen doppelten. Ste werden jagen: das Alles find’ ja nur die Ergebnijle
einer mangelnden Kraft, die Kampfzeit zu überjtchen, einer Unficherheit. AU
dieſe Schredinijfe gab es in jeder Zeit neuer Stilbildung. Und mit einem Yächeln
über den Thoren, der jo pejfimijtiiche Töne anjchlägt, werden fie mir entgegen»
halten, daß ich ſelbſt jehr oft in den vergangenen jahren von der fünftlerifchen
Kraft diejes oder jenes Menjchen geſprochen habe und daß ich aud zu Denen
gehöre, die immer wieder den neuen Stil propagiren. Der Schein des Wider:
ſpruches ift jchnell bejeitigt. Die Künjtler unterjchägen die Wichtigkeit ökonomischer
Fragen. So lange es galt, Forderungen zur allgemeinen Kenntniß zu bringen,
Borurtheile zu zerftören, konnte der Kritiker jeden Anja freudig begrüßen und
über Abweichungen vom Wege mit leijen Worten binweggehen, da ja das cerite
Ziel war: die Örundzüge der neuen Art zur Geltung zu bringen. Das ift nun
geichehen. Jetzt aber bedrängen uns neue Sorgen.
Es war von Anfang an ein Irrthum einiger Künftler, zu meinen, daß
man einen neuen Stil aus einer Erkenntniß des Intellektes, aus einer künſt—
leriihen Sehnſucht heraus mit Bewußtjein Schaffen könne. Ein Stil bildet
ſich: aus taujend Darbietungen, aus hunderttaujend Emanationen der künſtleriſchen
Kräfte einer Zeit bleiben die jtärkjten bejtchen, werden die fräftigiten in den
alten Formenſchatz einverleibt, jegen ſich durch. Was das Weſen eines Volkes
in einer bejtimmten Zeit am Klarſten ausdrüdt, Das gilt als der Stil diejer
Beit und herrſcht dann weit über dieje hinaus durch feine fünjtleriichen Potenzen.
Deshalb find die franzöfiihen Stile jo lange auch in anderen Yändern herrichend
geblieben. Richtig hatte man erfannt, es jei widerjinnig, ein Yeben von eleftriicher
Behendigkeit und moderner Nervojität in einem Zimmer zu verbringen, dejjen
Luft der Hauch vergangener Jahrhunderte ummwitterte. Das wußte Goethe jchon,
als er zu Edermann jagte, daß die Mummereien ſolcher archaifirenden Wohnungen
von der verderblichiten Wirkung jeien; denn da fi der Menſch an eine faljche
Umgebung gewöhnt, neigt er auch dazu, jeinem Charakter Masteraden zu ge-
ftatten. So war es fiherlid) gut, daß wir am Ende des neunzehnten Jahr—
hunderts jagen durften: Jedes Yand muß feinen Stil haben, jede Generation
ihren bejonderen Fünftleriichen Ausdrud, das Yeben jedes Standes jeine Räume
und jeder eigene Menſch fein eigenes Interieur, das fein Wefen, feine Stimmung,
jeine Bejchäftigung eben verlangt. Und zu diejer Forderung kam eine zweite:
der Anſpruch auf Ehrlichkeit des Kunjthandwerfes. Der Bau eines Geräthes
follte fichtbar, fein Material mehr verfäljcht werden, auch im Detail jollte nichts
Unehrliches mehr den Menjchen umgeben. So entjtand die Schönheit der Werkform;
und Künſtler, deren Wejen ſonſt den größten Gegenſatz bildeten, idealiftiiche
Engländer und jchwärmende Franzoſen, reichten dem fanatiichen Belgier Ban de
Belde die Hand. Die Entdefung der Farbe war das dritte Element der Frucht:
barkeit. Wir wagten, eine Volkskunſt zu fordern. Wir wollen fie nod) heute.
Bücher über die Nenaiffance unferer Zeit wurden gejchrieben; vage Brophezeiungen
ohne das leijejte Fragezeichen. Von Zeit zu Zeit ſieht man die Abbildungen
vortrefflicher Wohnräume von dem und jenem Architekten und Maler für einen
anderen Architekten und Maler oder einen Millionär angefertigt. Eine populäre
Kunjt aber giebt es nicht. Uber ſelbſt wenn man die nur allzu berechtigte
78 Die Zukunft.
Forderung nad einem Stil für den Arbeiter und den Fleinen Mann einen Augen
blick lang vergißt und nur fragt, ob wir denn auf dem Wege find, ein neues
Kunfthandwerk für den Bürgerftand zu befommen, jo fällt die Antwort ver:
neinend aus. Man gehe nur einmal in die Gejchäfte, die in Berlin moderne
Möbel ausitellen, und frage nach den Preifen. Man erfundige fi) bei irgend
einem Menjchen mittleren Vermögens nad) den Erfahrungen, die er gemacht hat,
als er ein modernes Zimmer haben wollte, Ungeheure Preije wurden ihm abver-
langt; und ſchließlich Hat er beim guten Fyabrifanten ein Kompromißzimmer beitellt.
Das Wejentlichjte an der ganzen neuen Bewegung war, daß aus billigem
Material durch füntleriihe Linien und Formen, durd) lichte Farben Gutes ge
ichaffen werden jollte. Die beiten Werfe diejer neuen Bewegung zeichnen fich
dadurd aus, daß fie einfach und fpottbillig herzuftellen find. Die neue Bau—
form hat in vielen Fällen die Kiftentifchlerei zum Worbild genommen. Man
arbeitet nicht mehr mit jchweren Füllungen, fondern mit leichten Wänden; bie
neue fonftruftive Technik hat nit nur grazidfe Linien gebracht, jondern aud
die Möglichkeit, der Berſchwendung des Materiald ein Ende zu maden. Und
bier fing die Unehrlichkeit an. Dieje mit den billigiten Mitteln herzu—
ſtellenden Objekte wurden künſtlich vertheuert. Die dünnen Seffel kofteten mehr
als die jchweren Renaiflance-Stühle, die leichten Papiertapeten, in unferer Zeit
des vervollkommneten Farbendruckes um ein paar Pfennige berzuftellen, wett—
eiferten im Preis mit den jchwerjten Erzeugnifjen der Nenaiffance. Die Folge
blieb nidyt aus. Die Händler ſelbſt, von der Unficherheit der Preije, die der
Erzeuger forderte, beirrt und verleitet, nannten ihren Kunden wieder Märchen.
preife. Das Bublitum verlor volljtändig die Schäßung, wußte nicht mehr, ob
es übervortheilt jei oder nicht, und kam jchlieglid — man kann es ihm nicht
verübeln — auf den Verdadt: Das Alles jei Spielerei, ein Luxus, nichts,
was wirklich mit der Gejtaltung unjeres Yebens zu thun hat.
Ich will die Schuld nicht den einzelnen Fabrifanten und Händlern zu—
jchreiben, troßdem die Meiften von ihnen jchlimm gefündigt haben. Die un-
folide Breisbildung ift nidt nur die Folge maßloſer Gewinngier, fondern aud)
einer thörichten Art, zu produziren und Gejchäfte zu machen. Die wichtigsten Grund—
jäge des modernen Kunfthandwerfes wurden mißverjtanden und mißbraudt. Die
Maſchine wurde veradhtet; und gerade fie follte doch dem neuen Stil den Gieg
erobern. Zu allen Zeiten gab es eine Amateurleidenichaft, die die pi&ce unique,
den nur in einem Eremplar vorhandenen Gegenftand, bejonders hoch ſchätzte.
Solde Schäßung eines Kunjtgegenjtandes, an dem noch die Hand des Meiſters
fichtbar Scheint, ift durchaus berechtigt. Es hatte jeinen guten Sinn, wenn man
einem Glas Tiffanys oder Gallés nahrühmte, Fein zweites habe die jelbe Form.
Denn damit war gejagt: nur durd eine bejondere Werbindung von Kunſtfertig—
feit und Zufall entjteht ein beſonderer Gegenſtand. Es iſt auch nicht unver-
nünftig, wenn Einer jagt: Ich mill nicht, daß meine Einridtung in einem
zweiten Exemplar angefertigt wird und irgend einem anderen Menſchen dient;
denn mein Zimmer ift ein jo getreuer Ausdrud meines Wejens, daß es einem
Anderen gar nicht dienen kann, daß es für ihn cben jo jehr Mummenſchanz und
Maskerade ift wie für unfere Zeit im Allgemeinen der Rokokoſtil. Eine Thor
heit aber ift es, diejes Prinzip aus Geſchäftsgründen, um die Preife zu fteigern,
Der Krach des Kunſtgewerbes. 9
nun auf jeden Gegenſtand anzumenden. Wenn es von einer Bronze, die nach
einem fertigen Modell gegojien und fat immer von fremder Hand cijelirt wird,
heißt, fie müfje mehr koften, denn fie jolle nur im zehn Eremplaren vorhanden
jein, jo wird die Unwiſſenheit des Käufers mißbraucht und nicht Kunſtgeſchmack,
ſondern Proßerei gezüchtet. Aber jeder Händler verfichert, er müfje, wenn zwei
oder drei Stüde verfauft find, ein neues Modell haben; und jo wird der Preis,
da ja die Herftellung des Objektes ſehr theuer ift, unfinnig hoch. Und eine
zweite Folge ergiebt jich fofort. Der Erfinder ift nicht reidy genug, um immer
Neues produziren zu fönnen. So wird ein Motiv unzählige Male verwerthet;
geringe Varianten werden gemacht, die Koſten zwar erhöht, das Ergebniß aber
nicht verbejlert und ftatt einer guten Form beherrichen den Markt zehn jchlechte.
Das iſt der Nachtheil für das Publitum; auch für den Künftler bleibt er nicht
aus. Der Fabrikant fommt allmählich zu der AUnficht, daß es mit der Phan—
tajie und den Einfällen der Künſtler nicht jo weit her ijt; er läßt ſich, mit der
eigenthümlichen Gefchäftsmoral, die wir troß Patenten und Mufterfchug noch
immer haben, von irgend einem Kleinen Zeichner jeine Borlagen und Modelle
rubig weiter variiren und entwöhnt ſich nad) und nad, ein Original zu bezahlen.
Er hält den Studio oder eine deutjche Kunftzeitichrift und fopirt nun Engliſches
oder Dejterreichiiches, wie er früher Nenaifjance, Barod und Empire aus den
Borlagebüchern abpaufen lieh. So werden die Preije, die man dem Künſtler
zahlt, immer geringer; jchlieglich ift gar fein Verhältniß mehr zwiſchen dem
Preis des Objektes und dem Werth des Entwurfes. Die jungen Künftler werden
jämmerlich bezahlt, gerathen allmählich entweder als Fabrikzeichner ins Kitjchen
oder wenden ſich von dem jchlecht lohnenden Kunſthandwerk ab. Die Welteren
helfen jih auf andere Weije. Da ein Architekt nicht darauf rechnen kann, jeinen
Entwurf mehr als einmal ausgeführt und bezahlt zu jehen, diejfer Entwurf troß-
dem aber ſehr oft benußt wird, jo fordert der Künſtler gleich für die erſte Skizze
jo viel, daß dur das Arditektenhonorar das Original zu eimem Kaufpreis
fommt, der weder dem Materialwerth noch dem Kunftwerth entipridht. Dicje
Behauptung wäre leih zu erweifen. Die Künſtler jpüren auch jchon die
Wirkung; fie find auf eine Eleine Käufergruppe angewiejen. Nicht Kunft fürs
Volk, jondern höchſtens Kunft für Millionäre. Und diejes Ergebniß tft tragi-
komiſch. Denn für jo reiche Yeute ijt noch heute die italieniiche Renaiſſance
oder einer der franzöſiſchen PBrunkitile ein eben jo paflender Ausdrud ihres
Wejens und Rahmen ihres Lebens wie manche Neuheit eines Architekten, der
fih nur mühjam in ſolche Sphäre hineinverjegen kann, da er von den Komfort«
anfprüchen dieſer Menjchen nur wenig weiß. So entwidelt ji der Stil der
Parvenus. Dazu aber brauchten wir wirklich feine Revolution.
Wie fieht es in Berlin aus? Ich habe feine Neigung, einen Rampfzug
gegen die Händler Keller & Reiner und das Hohenzollern-Kaufhaus von Dirich«
wald zu führen. Erſtens babe ich gegen den Großbetrich gar nichts und zweitens
ſcheint es mir immer unklug, von einem Geſchäftsmann zu verlangen, er jolle
die Kunst fördern. Er will natürlich Geld verdienen; mit Nunfelrüben oder
mit ſezeſſioniſtiſcher Ramſchwaare. Doch die beiden genannten Firmen beherrichen
den berliner Kunſtgewerbemarkt; und da ihr Einfluß mir höchſt ſchädlich jcheint,
fo überwinde ich den Widerwillen, in fremde Geichäfte hineinzureden. Die Herren
6
80 Die Zukunft.
ftellen aus, laden Sritifer zur Befichtigung und dürfen deshalb nicht Elagen,
wenn jie rückſichtlos Eritijirt werden. Sie find Zwijchenhändler; nicht mehr von
der guten alten Art der Kunſthändler, die kauften und verkauften, auch nicht
nad) dem Mufter des Parijers Bing, der mit jeinem Haufe L’art Nouveau
fi) ganz in den Dienft der neuen Bewegung ftellte, — nein: fie find Kom—
milfionäre. Was irgendwo geſchaffen, von irgend einem Nezenjenten beſprochen
wird, Das wird als Fracht- oder Eilgut in die Potsdamer» oder Yeipzigerftraße
geliefert, da — nad) mir umbefannten Methoden — mit irgend einem Preis ver-
fehen und wartet nun des Käufers, den die Mode treibt, die ganz imaginären
Kosten ſolchen Zwilchenhandels zu zahlen. Kommt diejer Käufer nicht, jo wird,
wem der Erzeuger nod ein Anfänger ift, es jich aljo gefallen laſſen muß, der
Gegenftand, nachdem er Monate lang herum gejtanden und allen Reiz der Neuheit
verloren bat, einfach zurüdgejchiet; it die Waare nit in Kommiſſion genom-
men, jondern fejt getauft, dann freilich muß man nod weiter warten. Vielleicht
bilfts, wenn man ben ‘Preis abermals erhöht und es mit dem Syſtem des Ter-
torifirens verfucht; in einer Großſtadt giebt es immer Leute, die faufen, weil
fie fürchten, für \dioten gehalten zu werden, jobald fie zeigen, daß ein fehr
theurer, ſehr moderner Gegenjtand ihnen nicht gefällt. Ich habe erlebt, daß
ber jelbe Gegenjtand bei Steller & Reiner jechs, bei Hirſchwald fünf — oder um—
gekehrt — und bei Wertheim nur vier Mark koſtete. Ich habe unfinnig theure
Bronzen gejchen, für die dem Erzeuger recht beſcheidene Summen gezahlt waren.
Bei Keller & Neiner wurden 250 Mark für eine wiener Bronze gefordert, die
in vielen Exemplaren bergejtellt wird und beim wiener Detailhändler, der ja
auch jchon feine Koſten deden und verdienen will, für 200 Dark zu haben war;
dem Künjtler jelbjt wurden für das fertige Exemplar fnapp hundert Mark be-
zahlt. Mit den Möbeln ijts nicht anders. Immer wieder die Einbildung,
glei das erjte Exemplar müſſe Auslagen und Verdienſt hereinbringen. Der
Einwand: Wir verkaufen eben nicht mehr als cin Gremplar, beweilt rein gar
nichts; denn man verkauft eben nicht mehr, weil die Preije zu hoch find. Das
Alles iſt nicht perſönliches Berjchulden der Händler, fondern Ergebniß ungefunder
Verhältniſſe. Wenn wir heute fein berliner Kunftgewerbe haben, jo liegt es
nicht daran, daß die Fähigkeiten fehlen, jondern daran, dat die Möglichkeit zur
Ausführung und zum Vertriebe nicht gegeben ift.
Dod ich wollte feinen Grabgejang anftimmen. Noch jcheint Hilfe mir
möglich; aber nur nah Ausichaltung des Zwijchenhandels. Die Schäßung der
piece unique foll bleiben, doc da nur, wo ſie am Plaß iſt. Bor allen Dingen
ift zu bedenfen, dat es ſich nicht darum handelt, einen Stil für die Wohnungen
der reichjten Leute zu finden. Wenn die dekorative Kunſt auf unfer Leben einen
beilfjamen Einfluß gewinnen joll, müſſen gute Gegenftände billig hergeſtellt
werden. Noch giebt es feine Kaffeetaſſe und Kein Meier, kein Tiſchtuch und
keinen Seffel neuen Stils zu mäßigem Preis; und dod) iſt modernes Geräth
viel billiger als altmodisches herzuftellen. Man muß die Mafchinentechnit be-
nugen umd eine neue Schönheit auch für die Möbel und Ziergeräthe finden
lernen, wie man ſie bei den Hochbahnbauten und eleftriichen Betrieben gefunden
hat. Dan darf auch Theorie und Praxis nicht länger trennen, nicht den Zeichner
zeichnen und den Fabrikanten ansführen laſſen. Trotz allen jhönen Worten
Der Krach des Kunſtgewerbes. sl
wird noch heute am Reißbrett gearbeitet und den Eingeweihten Elingt es oft
tomiſch, wenn er im illuftrirten Blatt lieft, daß nun der Künjtler dem Hand—
werfer verbündet jei. Wie häufig fieht der Architekt ſtaunend, was für ein jelt-
james Ding aus jeinem Entwurf geworden iſt! Gemeinfam muß gearbeitet.
gemeinjam muß verdient werden, nicht nur am Original, fondern an jeder Stopie.
Die Wirkung wird fein, daß nicht mehr ſtets das jelbe Thema rein äußerlich
variirt wird und daß die Liebe zum Objeft, die alle guten Kunſthandwerker ver-
gangener Zeiten auszeichnete, wieder erwadt.
Wer von individueller Auswahl jpricht, kann nicht meinen, der Stünftler
jolle ſich hinjegen, die Seele des Käufers ftudiren und ihm dann erjt einen
Raum bauen und ſchmücken. Die individuelle Prägung wird ja fchon dadurd)
Hejtimmt, daß Jeder ſich den Architekten und die Möbelform wählt, die jeinem
Weſen angemeſſen find, und daß er innerhalb des gegebenen Rahmens durch)
den Zuwachs, den jeder Tag bringt, feinem Zimmer den Duft des Lebens und
ſeines Schickſals mittheilt.
Mir ſcheint eine Organiſation auf neuer Wirthſchaftgrundlage nöthig.
Sch bin für den Großbetrieb, weil er allein die Möglichkeit zu Experimenten
bietet und es ohne Experimente nicht geht. Man könnte an eine Stooperativ-
genojjenihaft von Künjtlern und Kunftinduftriellen denken, die das ganze weite
Feld zu bebauen hätte. Nur fürdte ich, daß der heute, in der Kampfzeit, nod) .
Hgerrjchende Fanatismus ein gemeinjames Arbeiten ſchaffender Künſtler erſchweren,
wenn nicht unmöglich machen würde. Am Ende käme nichts heraus als eine
. Bereinigung von Künftlern und Gejchäftsleuten, die das mir vorſchwebende Ziel
mie erreichen könnte. Das Beilpiel der Münchener Werkjtätten ift ungemein lehr—
rei. Gelingt es aber, die Leiftungen der jüngeren Künſtler, die jet faft immer
weit vom Weg abirren, mit den Bedürfniffen des Publikums in Einklang zubringen,
dann werden wir eine jeßt noch ungeahnte Erneuerung der Formen erleben,
Der Plan der Organijation, die ich erjehne, könnte am Beten von einer
Zapitalijtiihen Genoſſenſchaft ausgeführt werden, die weitherzig alles künſtleriſch
Werthvolle aufnimmt, den Künftler anftändig honorirt und am Gewinn be-
theiligt und dem Publikum, ohne den falihen Nimbus eines ideal gedachten Unter-
nehmens, zu angemefjenem Preis Gutes liefert. Gerade jegt ift eine neue
Maſchine erfunden worden, die jolhes Planes Ausführung erleichtern kann.
Ich ſehe alle Einwände voraus, die man mir machen wird, Idealiſten und
Realiften werden um die Wette den Plan tadeln — die Idealiſten namentlich,
da er Kunſt und Geſchäft verquiden will — und Kunſtverſchleißer werden in
ihm nichts Anderes ſehen als ein Manöver mehr oder minder ſchmutziger Kon—
turrenz. Einerlei. Mir lag vor allen Dingen daran, einmal offen auszujprechen,
wie der Efel am „modernen“ Kunftgewerbe zu erklären ijt, der gerade die ge:
ſchmackvollſten Leute ergriffen hat; er hat nicht äjthetiiche, ſondern ökonomiſche
Urſachen und kann deshalb auch nur überwunden werden, wenn es gelingt, diejem
Gewerbe eine neue Wirthichaftbafis zu jchaffen, die dem Künſtler giebt, was des
Künſtlers, dem Käufer, was des Käufers ift. Wird der Verſuch nicht gemacht, dann,
fürchte ich, wird man bald allgemein von einem rad) des Kunſthandwerks reden. -
W. Fred.
S
FE —
82 Die Zukunft.
Die Prinzenreife*).
ES des jpanischen Krieges hatte Deutichland allein von allen Mächten
eine große Schladhtflotte nach den Philippinen gefandt. Admiral Diederichs
führte den Oberbefehl mit großer Schneidigfeit und nahm feine ſonderliche Nüd-
ficht auf amerikanische Hühneraugen. Dieje und andere Vorfälle erzeugten in
Amerifa Berjtimmung. Für die engliiche Diplomatie war Das eine pracht—
volle Gelegenheit, nach altbewährter Methode gegen den verhaßten Konkurrenten
Michel zu hegen. Der Erfolg war jo überrajchend, daß die englijche Diplomatie
ihren hetzeriſchen Wirkungsfreis über die ganze Welt ausdehnte, In Südamerika
und China malte fie dem leichtgläubigen und eitlen Onfel Sam den braven
Michel in jchwärzejten Farben als den Störenfried, deffen Hauptvergnügen darin
bejtehe, Onfel Sam fortgeießt Knüppel zwijchen die dünnen Beine zu werfen.
Auch damit hatte England Erfolg. Das Feuerchen, das man in Londoneifrig geſchürt
hatte, begann langjam, zu brennen, fladerte dann aber lujtig. In Waihington
faßen brave Dandlanger, die mit Inbrunſt Tel in das Teuer gofjen. Da war
zunächſt der treffliche Yord Pauncefote, der engliſche Geſandte. Um ihn fchaarten
fich dienfteifrig ſämmtliche Jingos und Deutjchenfeinde der republifaniichen Bartei,
Kriegsfefretär Root, Staatsjefretär Day, Senator Hanna, Senator Depew,
Senator Lodge und die jogenannte Marine-Coterie, die nad) neuem und ihrer
Meinung nad) eben jo wohlfeilen Yorber lechzte, wie ihn der Strieg gegen Spanien
gebracht hatte. ihnen gejellte ſich noch Mr. Choate, der amerifaniiche Gejandte
in London, ein erprobter Anglomane. Gegen dieje deutichfeindliche Koalition
hatte Herr von Holleben, der deutiche Gejandte in Waſhington, einen jchweren
Stand. Schon tauchte das unheimlihe Wort Krieg in den deutjchfeindlichen
amerilaniſchen Zeitungen auf. Da entſchloß man fich in Berlin zu den bekannten
Veröffentlichungen und Prinz Heinrich ging auf die Neije. Es follte ein politiſches
Ausjtattungitüd von blendender Pracht werden. In Deutſchland arbeitete die
*) Als der Herausgeber hier zuerst jagte, er glaube nicht, daß die Reiſe
des Prinzen Deinridy die Beziehungen zwiſchen Deutjchland und den Vereinigten
Staaten in irgend einem iwejentlichen Punkt ändern werde, da wurde ihm uns
heilbare Zweifeljucht vorgeworfen und er ein Schwarzieher geicholten, der die
erhabenen Intentionen deuticher Weltpolitif nun einmal nicht zu würdigen wiſſe.
Die bitterböjen Dinge, die gerade in den größten amerifanijhen Blättern,
beionders im Herald, über den politiidhen run gejagt wurden, lad man ent—
weder nicht oder ging mit etlichen Schimpfreden wider die Jingopreſſe darüber
hinweg. Und nun vergleiche man, was eigene Anſchauung Herrn Urban gelchrt
hat und was aud) in diefem Heft wieder Plutus über die amerifanijche Gefahr
jagt. Beide Herren befennen fi zu ganz anderen politiichen Anfichten als der
Herausgeber, denten aber nicht daran, der Reife eine irgendwie weiter reichende Be—
deutung zuzuschreiben. Auch die vor cin paar Wochen noch Beraujchten find allmählich
wieder nüchtern geworden, — bis zum nächſten Rauſch, in den fie das nächſte
Spektakelſtück ficher verjegen wird. Iſt es denn wirklich jo ſchwer, einzufehen, daß
„politiiche Beziehungen‘ durch wirthichaftliche Intereſſen, nicht durch perjönliche
Urtigkeiten noc durch allerlei liebensmwürdige Yaunen determinirt werden?
Die Prinzenreife. 83
offizielle Prefie mit löblichjtem Eifer. In Amerifa lag die Negie in den be-
währten Händen des Herrn von Dolleben. Ihn unterjtüßte begeijtert Profeſſor
Hugo Münjterberg von der Harvard-Univerſität, der jeit Jahren als offizidier
Sriedensengel zwiſchen Berlin und Wafhington ſchwebt und als politifcher Schrift-
fteller von anjehnlichem Talent die Freundſchaft zwijchen beiden Völkern zu fitten
fih bemüht. Die Staats- Zeitung war von vorn herein ficher; diejes wichtigjte
deutjchamerifanische Blatt gehört ja längft zu der Preſſe, die mit Dilfe ihrer
berliner Bertreter aus dem Auswärtigen Amt „Informationen bezieht. Die
übrigen großen Zeitungen, namentlid im Wejten, würden — Das wußte man —
wit Freude Heeresfolge leiften. Raſch wurden noch alle Skeptiker als unver:
befjerlihe Nörgler und alle Stenner des braven Onkels Sam als furzfichtige
oder böswillige Amerifafeinde angejhwärzt ; und num fonnte Brinz Deinrich fommen.
Sein Aufenthalt hat Mancherlei zu Tage gefördert, was nur in Aınerifa
möglich ilt. Für den Durchſchnittsamerikaner ift es von höchſter Wichtigkeit,
bei bejonderen zyeitlichfeiten immer zu willen, was jie gefojtet haben. Kaum
hatte Prinz Heinrich die erjten Feſte mitgemacht, jo hatte ein Blatt ſchon aus-
gerechnet, wie hoch fi) die Ausgaben beliefen. Die Galavorftellung im Opern-
Haus, der Pund mit den Dollarfönigen, das Diner mit den Seneralen der Rre fe,
das Bürgermeijter- Diner, der Fadelzug der Deutjchen, die Yacht-Taufe, die
Kavallerie: Eskorte, der Sonderzug der Pennſylvania-Eiſenbahn und allerlei
Dekorationen hatten zufammen ungefähr 109000 Dollars verfchlungen. Damit
ließ ih ſchoön proßen. Maurice Grau, der Direktor der Oper, geitand mit
fattem Lächeln, daß er mit feiner Galavorftellung über 40000 Dollars „an
Prinzen gemacht habe‘. Auch andere Yeute haben ‚an dem Prinzen Geld ge-
macht‘; und dafür waren fie ihm natürlich dankbar. Bob Evans, einer der
Sieger von Santiago, erklärte einem Reporter: „Der Prinz ijt ein urgemüthe
licher Menſch (a royal good fellow). Er ijt Amerifaner, jo weit ein Fremder
es überhaupt jein kann“. Das it nach der Anficht des richtigen Amerifaners, der
fich befanntlich für die Blüte der Menſchheit hält, das höchſte Yob. Und der ehren-
werthe Bürgermeifter von New-York, Seth Low, jagte zu feinen politifchen
Freunden: „Ich bin während der legten Tage jo viel in prinzlicher Sefellichaft
gewejen, daß es für mid ordentlich erfriichend ijt, wieder mal unter Vertretern
eines freien Bolfes zu jein. Und doch: hätte der Prinz das Glück gehabt, in
dieſem Yande geboren zu werden, jo würde er die Bezeidinung eines höchſt ge
müthlichen Menfchen (a jolly good fellow) verdienen.“ Dieſes höchſte Glück
blieb dem Brinzen nun leider verjagt; wenn der Menſch Beh haben fol...
Dem Gouverneur von Minnejota wird nachgejagt, er habe den Prinzen nach
der Boritellung auf den Rüden geklopft und ihm fordial zugerufen: „Es würde
mich freuen, wenn Sie mal nad) Minnejota fämen, Sie und Ihr Bruder!“
Der Privz ift, als star des Ausjtattungitüdes, enthuſiaſtiſch begrüßt
worden; bejonders im Weiten, wo das Deutſchthum dichter, ſtolzer und mäd)-
tiger ilt als in New-York. Die in Berlin „Maßgebenden“ jcheinen eine Heiden:
angſt vor einem allzu impojanten Dervortreten des deutſchen Elementes gehabt
zu haben. Das konnte die „reinen“ Yankees ja verihnupfen! Prinz Heinrich
Hat aber wohl gemerkt, daß die Deutichen in den Vereinigten Staaten feine
quantit& negligeable find, und darüber hoffentlich auch feinen Bruder aufgeklärt.
84 Die Zukunft.
Seine Mahnung, die Pflicht gegen die neue Deimath nicht zu vergejien, war
überflüjfig; oft wäre es leider nöthiger, an die Pflicht gegen die alte Deimath
zu erinnern. Jedenfalls: die Reife hat dazu beigetragen, die Machtſtellung der
bier lebenden Deutichen zu ftärfen. Und fie hat ferner gezeigt, dab Deutſchland
den bejten- Willen hat, mit Amerika in Freundichaft zu leben.
Mehr hat von der Reife Niemand erwartet, der den Amerikaner wirflidy
fennt. Nur fromme Kindergemüther und die im Solde der Erporteure ſtehenden
Durrajchreier befamen das Kunſtſtück fertig, al Dauprergebniß der Reiſe eine
die Freundichaft zwiſchen Sam und Michel zu prophezeien. Sie weilen immer
wieder auf die glänzende Aufnahme Hin, die der Prinz gefunden habe. Dem
Kenner von Land und Venten iſt damit gar nichts gejagt. Zunächſt ift der
AUmerifaner ungemein gajtfreundli und ſtets bereit, jein Haus auf den Kopf
zu ftellen, um einen Bejucher zu ehren. Wie begeijtert wurden 1893 die In—
fantin Eulalia von Spanien, die Tante Alfonjos des Dreizehnten, und ber
Herzog don Veragua, der Nachkomme des Columbus, aufgenommen! Dem
Herzog wollte man, vor Rührung darüber, daß jein Ahnherr jo freundlich ge-
wejen war, Amerifa zu entdeden, jogar die Schulden bezahlen. Und doch hegte
man jchon damals gegen Spanien unfreundliche Gefühle wegen der Mißwirth—
Ihaft auf Kuba. Nicht minder begeijtert wurde 1860 der Prinz von Wales,
jegt König Eduard VII. von England, aufgenoinmen. Nobert B. Roojevelt, ein
Verwandter des Präfidenten, jpäter amerifanifcher Gejandter im Daag, war
damals Mitglied des Empfangsausſchuſſes und hat neulich erft erzählt, die jungen
Amerifanerinnen jeien beim Anblid des Prinzen von Wales außer Rand und
Band gerathen; der Barbier, der ihm die Haare fchnitt, verkaufte ihnen die
Yoden des Prinzen für fchweres Geld; auch das Waſſer, in dem Albert Eruarb
fi) gewajchen hatte, wurde auf Flaſchen gezogen und an die Damen verkauft.
Alles war entzüdt von ihm, genau jo entzüdt wie jetzt vom Prinzen Deinrid-
Und doch blieb die Stimmung der Amerikaner gegenüber England feindfälig
bis zum Kriege gegen Spanien. Auch durch die Peiftungen amerifaniicher Nady-
tiichredner läßt fich der Kenner nicht täujchen. Die Yoblieder auf Alles, was
Amerika Deutichland schuldet, Haben wir oft genug lächelnd gehört: am Morgen
nad dem Feſtmahl find fie wieder vergeffen. Der Bejuch des Prinzen war für
die Menge eine offizielle Anerkennung Amerifas als jüngjter Großmacht und
wurde als Huldigung gern hingenommen. Und die hiejige Plutofratie jonnt
fi mit Vorliebe in königlicher Gunft und glaubt, durch den Verkehr mit Prinzen
zu Wirklichen Geheimen Ariftofraten werden zu fünnen. Den Zeitungen aber
war der Prinz in erjter Linie news, etwas Neues; die amerifanijhe Zeitung
heißt nicht umfonft newspaper. Er war ihnen Leſeſtoff, und zwar allerfeinjter,
für eine ganze Weile. Ein Sdiffbrud, ein Brand giebt höchſtens zwei oder
drei Extrablätter, allenfalls nod, einige Spalten in der Morgenausgabe; Prinz
Heinrih: Das reichte für zahllofe Ertrablätter. Das füllte ſelbſt an Sonn-
tagen die Spalten und bot Gelegenheit zu unzähligen Alluftrationen. Ein
glänzendes Geſchäft. So Etwas jtimmt aud das wildejte Jingo-Blatt mild
und faſt deutichfreundlih. Als das Geſchäft nachließ, hatte der Prinz feine
Arbeit getban und Fonnte gehen. Statt der „Wacht am Rhein“ übte man wieder
die deutſchfeindliche Jingo-Melodie The Dutehmen be damned! Der Prinz; war
Die Prinzenreife. 85
noch nicht in Plymouth angelfommen, da begann die fröhliche Deutichenhege von
Neuem. Herr von Holleben und Profejlor Minfterberg wurden vom „Herald“
ald Spione der deutichen Regirung gebrandmarkt und das „Journal“ hetzte
fleißig mit. Des Bringen Picbenswürdigkeit, hieß cs, jei nur Komoedie gewefen;
an Bord der „Deutichland“ ſei er- gleich wieder unnahbar geworden. In Deutſch—
land hat man auf dieſe neuen Ausbrüche des Hafjes nicht viel Gewicht gelegt,
Sehr mit Unrecht. Hier ift gerade der Einfluß der jchledhten, der „gelben“
Preſſe bejonders groß. Die Politif wird hier mehr als anderswo von der
großen Maſſe gemadt und die große Maſſe ſchöpft ihre weltpolitiiche Bildung
hauptſächlich aus den ſchlechten Zeitungen, die unter allen Umjtänden einer
europafeindlichen ingo-Bolitit das Wort reden. In den Times las man am
fiebenten März: „Als Nation haben wir den Prinzen gern; und wenn unjere
Gefühle einer Analyje unterzogen wiirden, jo ergäbe ſich die Thatſache, daß wir
ihr perjönlich höher jchägen als Das, was er repräjentirt.“ Das ift doc) deut-
lid) genug. Nicht weniger bezeichnend ift, was Poultney Bigelow am neune
zehnten März bei jeiner Rückkehr aus England fagte: „Amerika kann ſich auf
mande Unanuchmlichkeiten gefaßt machen. Der Beſuch des Prinzen Deinrid
ift ohne Bedeutung. Er wird in feiner Weiſe unfere Beziehungen zu Deutjchland
ändern und keinerlei Einfluß auf irgend eine Möglichkeit eines Krieges mit Deutjche
land haben." Dann wies er auf die Gefahren deutſcher Ktolonifirung in Süd—
amerifa hin umd betonte die Freundſchaft Amerikas mit England, deren inter
efjen eng mit einander verfnüpft feien. Und Herr Bigelow ijt ein befannter
PBublizift, der mit Wilhelm dem Zweiten in Bonn ftudirt hat und fich mit
Borliche den Freund des Kaiſers nennen läßt.
Seine Auffajjung wird hier allgemein getheilt. Des Prinzen Bejud) war
ein perjönlicher Erfolg; politiich hat er nicht das Geringfte geändert. Die Blos—
ftelung des geliebten Kohn Bull durch Dolleben und Bülow hat in Amerika
gar feinen Eindruck gemadt. Der Plan eines Angeljachien Truſts, der den
übrigen Völkern die Taſchen leert, verheißt große Profite; umd er müßte ſich
zuerst gegen Deutjchland richten, den unangenchmiten Konkurrenten beider Angels
jahjen, der den Engländer auf allen Märkten unterbietet und fich zugleich mit
der Frage bejchäftigt, wie er der amerifaniichen Gefahr durch Ginfuhrzölle die
Thür jperren kann. Man darf auch nicht vergeifen, da der Imperialismus
in Amerifa nicht nur bei den Nepublifanern, jondern beim ganzen Wolf populär
ift. Und diefer Imperialismus ift ausgeſprochen deutjchfeindlic), gerade wie
feine hervorragendjten Vertreter im Kongreß und im Kabinet. Ferner ift troß
allen amtlichen Erklärungen das Mihtranen gegen Deutichlands Abſicht, Süd—
amerifa zu kolonijiren, nicht gejchwunden. Nad langjährigen Erfahrungen wird
e3 mir überhaupt jchwer, an freundichaftliche Gefühle des „ſuperioren“ Angels
ſachſen, fei er cin Engländer oder Amerikaner, für den Deutjchen zu glauben,
Trotz der Verwandtichaft find der Angelſachſe und der Teutone von heute einander
innerlih fremd. Ein Franzoſe und ein Deutjcher befreunden ſich cher als ein
Angeljahje und ein Deutſcher. Nur Eins fünnte vielleicht etwas angenehmere
Beziehungen zwiſchen Amerika und Deutichland herbeiführen: der Sturz der
republifanifchen Partei, die von deutichfeindlichen Jingos beherricht wird.
New: Hort. Henry F. Urban.
>
86 Die Zuhmft.
| Selbitanzeigen.
Grundriß; des Feftungsfrieges. Sondershaufen. Verlag von Fr. Aug. Eupel.
Napoleon hat einmal gejagt: Je demanderai s’il est possible de com-
biner la guerre sans des ‚places fortes et je declare que non. Diejer Aus-
fpruch gilt heute in höchſten Maße. Der fteigende Neichtyum aller Länder
drängt troß der von einer Großmacht ſtets anzuftrebenden offenfiven Kriegführung
mehr als je darauf, feindliche Einfälle mit künſtlichen Mitteln zu erſchweren,
fi felbjt die eigenen Operationen zu erleichtern. Auch muß mit der Möglichkeit
taktiſcher Rückſchläge gerechnet werden, befonders im Kampfe gegen einen über:
legenen Gegner. Nichts erleichtert aber den Kampf einer Minderheit gegen eine
Mehrheit jo jehr wie zweckmäßig angelegte und verwendete jtändige Befeftigungen.
Was deren Anlage betrifft, jo wird fie, weil fich der Verlauf eines Krieges nicht
vorausjehen läßt, nicht auf einzelne Fälle zugejchnitten fein dürfen. Der Gegner
fönnte auch dann unſere Abjichten vorzeitig errathen und durchkreuzen. Viel—
mehr muß eine Yandesbefejtigung auf große, dauernde, mit der Grundlage des
Staates unmittelbar verbundene Berhältniffe aufgebaut werden. Schon um den
offenfiven Geift von Volk und Heer nicht zu lähmen und die Feldarmee zu
ſchwächen, werden wenige große Stüßpunkte, wenigstens in Deutjchland, zu ſuchen
fein, Aus den Veröffentlichungen Bismards, Blumenthals, Hohenlohes, Schlidtings
und Anderer weil; man heute, wie wenig gerüjtet wir 1870 zum Feſtungskrieg
waren. Eine Unterihäßung des Werthes der Feſtungen und ein erheblicher
Mangel an Verſtändniß für den Feſtungskrieg war an allen Stellen des Heeres
zu finden Ungenügend vorbereitende Strategie im Frieden war die Folge
folder Auffajjung, die fi dann rächte und nur danf unjeren — aber nicht immer
zu erwartenden Erfolgen — im freien „Felde feinen Schlimmer Ausgang nahm. Noch
heute find die Anſichten wenig geklärt, zumal erhebliche neuere Kriegserfahrungen
fehlen. Generaljtäbler, Artilleriften, Infanteriſten und Pioniere haben oft ihre
eigene Anſchauung, in der fie natürlich der Waffe, zu der fie gehören oder aus
der fie hervorgegangen find, den entjcheidenden Antheil meiſt einfeitig zumejlen.
Auch ein jo dringendes Broblem wie die Neuordnung des Ingenieur- und Pionier:
corps, deifen Yöjung Fehr weientlih von der Auffajlung des Feſtungskrieges ab-
hängt, wird durch jolchen Widerftreit der Meinungen ungünftig beeinflußt. Cine
„Vehre des Feſtungskrieges“, die durch Eritiiche olgerung aus den zuſammen—
hängenden Erfahrungen aller, namentlich der neueren Zeiten, allgemein giltige
Wahrheiten und Grundſätze für die Truppenführwig ableitet, um einen geeigneten
Anhalt, fein Schema, zum Handeln zugeben, darfdeshalb wohl auf Beachtung rechnen.
| W. Stavenhagen.
* —
Lenaus Frauengeſtalten. Verlag von Karl Krabbe in Stuttgart. 5 Mark.
Das Buch zeigt das Verhältniß Lenaus zum weiblichen Geſchlecht. Von
Frauen, die in des Dichters Werdegang bedeutſam eingegriffen haben, werden
gezeichnet: Lenaus Mutter, die umwürdige Bertha Dauer, Lenaus anmuthiges
Schilflottchen Votte Gimelin), fo genannt, weil der Dichter jeine „Scilflieder“
an fie richtete, die wadere Sophie Schwab (Gattin des Dichters Guſtav Schwab‘,
die treue Emilie Reinbeck, die leidenfchaftliche Sophie Löwenthal, die ſchau—
Seldftanzeigen. 87
ſpielernde Karoline Unger, die ſanſte Marie Behrends, Lenaus „ewige Braut“,
Der Leſer wird in dieſem Buch eine Reihe ungedruckter Lenau-Briefe und ein
reichhaltiges neues biographiſches Material über den Dichter und über die hier
geſchilderten Frauen finden. So werden manche neue Beziehungen aufgedeckt
und Perſonen, die bisher in den Yenau- Biographien nur im Dämmerlicht der
Epiſode auftraten, werden nun als bedeutfame Faktoren in den Leben und Dichten
Lenaus erfamnt. Nicht bei vielen Poeten jtanden Leben und Dichten in einem
fo innigen Wechſelverhältniß wie bei Yenan.
Damburg. Adolf Wilhelm Ernit.
®
Der wirthichaftlihe Ruin des Werzteftandes. Zweite Auflage. Verlag
von Dr. Eduard Schnapper, Frankfurt a. WM. 1902.
Die Inſzenirung von Lohnkämpfen, deren Schauplatz unfere Induſtrie—
und Berfehrscentren in den legten Jahren oft waren, legt dem abjeits jtehenden
Beobadhter die Frage nahe, welche vis a tergo hier elementariſch gewaltet hat,
ob rüdjichtlos auf materiellen Erwerb gerichtete Geldgier vder ein thatjächliches
wirthſchaftliches Elend den ärztlichen Berufsftand zur jozialen Selbfthilfe zwang.
Das erjte Motiv wird jelbjt der größte Skeptiker leugnen müſſen, wenn die
anıtlihen Steuerliften ihm das wirfliche Bild von den traurigen Einkommen:
verhältniffen des ärztlichen Praktikers entrollen. Bon 1747 im Jahre 1892
in der Reihshauptitadt thätigen Herzten hatten '%/,, ein Einfommen von nicht
über 3000 Mark; und in Charlottenburg erreichten im jahre 1900 von 307.
anjäjfigen Aerzten nur etwa 50 nad zehnjähriger, mühſäliger Praxis ein ſolches
von 5000 Mark. Wenn fi) unter diefen Umftänden ein Stand endlich auf ſich
ſelbſt befinnt und zeigt, daß er, geeint, eine rejpeftable, wirthichaftlihe Macht
darjtellt, dann wird es ihm Niemand verargen können. Aber woher jtammt
denn nun die offenbare materielle Nothlage? Indirekt aus der großen Zahl
der Werte, deren prozentuale Zunahme allerdings in gar feinem gefunden Ver—
hältniß zum Wacjen der Bevölkerung ſteht. Der wirkliche Grund aber für den
Rückgang liegt in der beijpiellofen Berfchlechterung der ärztlichen Erwerbsver—
bältnifje, wie ſie die Stantsgejeggebung der letzten ‚Jahrzehnte geichaffen hat.
Die Reicsgewerbeordnung vom Jahre 1869 mit der Novelle vom Jahre 1883
und das Stranfenverfiherungsgeieg vom jelben Jahre mit der Novelle vom
Jahre 1892 haben den faſt vollendeten wirthichaftlichen und drohenden ethiichen
Ruin des deutſchen Aerzteſtandes herbeigeführt. Das Kurpfuichereiverbot wurde
durd; vollitändige Freigabe des Heilgewerbes aufgehoben. Hierdurch erwuchs der
wiſſenſchaftlichen Medizin eine Konkurrenz, die gar feines Befähigungnachweiſes
bedarf und mit Mitteln arbeitet, die der ärztlichen Ethik zumiderlaufen. Die
gründliche Befeitigung diefes Auswuchſes wird aber zum fategoriichen Imperativ,
wenn man fi die Semeingrfährlichfeit der Kurpfufcher für die hygieniſch janis
tären Intereſſen der Allgemeinheit an der Dand gerichtsitatijtiicher Nachweiſe
vor Augen hält und außerdem bedenft, welche Lücken im Strafgeſetz ihre Ver—
gehen jtraffrei laffen. Der zweite Hauptfaktor für den finanziellen Ruin des
Aerzteftandes, das Krankenverſicherungsgeſetz, hat ihm bei mitunter marimalen
Leiftungen der Krankenkaſſen eine minimale Bezahlung eingebracht und jchuf
88 | Die Zuhmft.
außerdem durch die Zwangsarzt-Kaffenpojten ein Anftitut, das auch in ethijcher
Hinficht durch Erjchwerung der freien Konkurrenz höchſt verderblich werden jollte.
Wenn nun aud) als Radikalheilmittel nur gejeßgeberiiche Abänderungmaßregeln
in Frage fommen können, fo ift doc) vorher der einmüthige Zufammenihluß
aller ärztlichen Bereine zu einem großen Verbande behufs Wahrung der Standes»
interejfen anzujtreben. Bei der herrſchenden modernen Staatsdoftrin wird nur
eine „ärztliche Gewerkſchaft“ nachdrüdlich die berechtigten Wünjche eines Standes
zur Geltung bringen, der in Folge der heute giltigen Gejeßgebung von materieller
wie ideeller Prolctarifirumg bedroht ift.
Nebra a. U. Dr. Adolf Haejeler.
+
Jahrbuch der bildenden Kunft. Früher „Almanad) für bildende Kunſt
und Sunftgewerbe*. Verlag der deutichen Jahrbuch-Geſellſchaft m. b. 9.
Berlin S.W. 48. Gebunden, Kunftzeitichrifien: Format, 8 Mark.
Was id) im vorigen „Jahr zur Entichuldigung des „Almanachs für bildende
Kunft und Kunſtgewerbe“ hätte jagen follen: daß er nur erjt ein Anfang jein
fann zu einer Negijtratur des lebenden und toten nventars aller gegenwärtigen
bildenden Kunſt, von Vollkommenheit und Zuverläffigfeit, die nur durch Jahre
lange Mitarbeit aller Intereſſenten erreicht werden kann, noch jehr weit entfernt:
Das brauche ich in diefem Jahre von dem nicht nur zum „Jahrbuch“ umge
tauften, jondern auch wirklich umgewandelten Buch nicht zu verjchweigen. Bin
ich doch ſicher, daß die Yüdenhaftigkeit der Arbeit durch die Fülle des jonft Ge:
botenen reichlid) aufgewogen wird und daß in feiner neuen Form das Bud) die
Hoffnung rechtfertigt, durch feine kunfthiftoriiche Rückſchau auf das abgelaufene
Jahr, an der die beiten Kräfte unjerer Fachſchriftſteller ſich betheiligen, durch
die praftiihen Fragen gewidmeten Aufjäße, durch die Nefrologie und Biblio
graphie des Jahres und endlich durch jeine reichhaltigen Verzeichniffe und fein
Künjtlerleriton eine bleibende umd der Volljtändigkeit immer näher kommende
Einrichtung unjeres die bildenden Künfte umfaffenden öffentlihen Lebens werden
zu können. Dem nicht geringen Aufwand an theils erfreulicher, theils aber überaus
mühſäliger, trodener Arbeit gefellte fi) der andere: ohne Rückſicht auf materielle
Opfer dem Bud) einen reihen Schmud zu ſchaffen, jo daß es in feinen fünf
zehn Kunftbeilagen und in zahlreichen lluftrationen auch anfchaulich eine Fülle
hervorragender Werfe des legten jahres darbietet. Dabei ijt nicht nur auf das
künſtleriſch Wejentliche, fondern auch auf die verjchiedenen Arten der reprudu-
zirenden Technik Werth gelegt worden. Co dürfte das Buch jedem Freunde der
Kunjt, aber auch jedem Schaffenden auf einem ihrer Gebiete Das bieten, was
er jucht: die Erinnerung an die durchlaufene Zeititrede, die Anregung zu weiterer
Entfaltung und — als Handbuch — die auch jegt ſchon zuverläfjigen, von
Jahr zu Jahr durch Umfragen berichtigten Aufichlüffe über unfere der Kunft
dienenden Einrichtungen, über Künftler und Kunſtgewerbe aller Art. Herr Ge-
heimer Kegirungrath Dr. Woldemar von Seidlig in Dresden hat mir als künſt—
lerijcher Berather und Mitarbeiter die dankenswertheſte Unterjtügung bei dem
Bemühen geleitet, das Buch in feine jegige Geftalt umzuſchafſen.
Schmargendorf. Mar Marteriteig.
*
n| -
— —
Humbug & Co. 39
Humbug & Co.
5: Arten, fih ein Haus zu baun, find zwei. Man kanns auf Jlufion-
fredit hin wagen, auf Wechſel feljenfeiter Zuverfiht. Man kanns auf
ftimmungvolle Träume gründen, Luftipiegelungen und Sirenenjang. Dieſe
Worte, die Goldjtadt, der nüchterne Großkauſmann, in Ibſens „Komoedie der
Liebe“ jpricht, fielen mir oft ein, wenn ich während der legten Woden die
Börfenberichte las. Die Händler nehmen den Illuſionkredit wieder einmal ein
Bishen reichlich in Anſpruch. Dieſe Art, ji) Häufer aus Hoffnungen zu bauen,
erinnert recht unangenchm an Tage, die man nad der großen Kriſis für ent:
Ihwunden halten durfte. Beute giebt man fi) weder Mühe, die Fundamente
der deutſchen Wirthichaftlage gewiſſenhaft nachzuprüfen, noch verſucht man, die
Zukunftausſichten mit klarem Blick zu erforſchen. Man belügt jich jelbit.
Ueberall, nicht nur an der Börſe, hört man die Behauptung aufjtellen,
die Ärgiten Tage der Krifis jeien vorüber und die völlige Gefundung unferer
Berhältnijje jei Schon für die nächjte Zeit zu erwarten. Mit ſolchen Erzäh-
lungen aber find leider die Ihatjachen nicht zufammenzureimen. So hat eben
erſt das fiegerländer Roheifeniyndifat feine Produktion abermals um 20 Prozent
eingejchränft. Die Folge war denn aud) zunöchſt eine ziemliche Berblüffung.
An dem überrafhenden Eindrud diejfer Meldung kann auch der Umstand nichts
ändern, daß es fich nicht um eine neue Mafzregel handelt, jondern die ſchon lange
bejtchende Produktioneinſchränkung jet nur von der Kartellbehörde janktionirt
worden ift. Die Frage ift, ob man dieſe Einſchränkung vorher in weiteren Streifen
gefannt und in die Kalkulation der augenblicklichen Wirthichaftlage als cinen
wichtigen Faktor miteingejtellt hat. Ich glaube es nidt.
Selbjt von Leuten, die im Allgemeinen geneigt find, Warnungzeichen zu
beachten, ijt die große Bedeutung der für die fiegerländiichen Hochöfen beſchloſſenen
Produftioneinfchränfung nicht genügend gewürdigt worden ; die Wirkung erftredt
fih in diejem Fall ja nicht nur auf die Eifenwerke, fondern auch auf den Kohlen—
bergbau. Erft kurze Seit ift vergangen, jeit die Hedhendireftoren die inter
efienten mit der Hoffnung tröfteten, die Thätigleit der Hochöfen werde ſich wieder
beleben und natürlich auch den Kotsabjaß jteigern. Damit ift es jedenfalls vor:
läufig noch nichts. Und wie jchledt es auch jonjt gerade im Bergbau ausjchen
muß, merlt man aus gewijlen Anzeichen allgemeiner Natur. in Beijpiel: im
Rheinland ſcheint man die Arbeiterjchaft geradezu in den Ausjtand drängen zu
wollen. Fortwährende Entlafjungen und Herabjetungen der Yöhne, müſſen die
Yeute ja unzufrieden machen und aufreizen. Wenn man fich erinnert, mit welcher
jubtilen Rüdfiht die Arbeiter in der guten Zeit von den SKohlenbaronen be—
handelt wurden, jo fann man wirklid) auf die dee fommen, dab ein Strike
den wejtdeutichen Grubenbefitern jet jchr willlommen wäre. Solcher Strife
böte immerhin die Möglichkeit, die Preiſe hoch zu halten und die Schuld daran
und an ſchlechten Förderrejultaten auf andere Schultern abzumwälzen als auf die,
denen man ſonſt die Berantmwortung aufzubürden pflegt. Won den vielen Heinen
Chicanen, mit denen man die Arbeiter ärgert, dringt nur jelten Etwas in die
Teffentlichleit. So hat man in manchen Gruben — von Krupp wird es be=
ftimmt behauptet — den Abbau der alten ertragreichen Ildze vorläufig aufge
90 | Die Zutunft.
geben und ift dazu übergegangen, werthlojere anzujchlagen. Natürlich fördern
die Arbeiter, trogdem die Arbeitzeit nicht verringert ift, mun viel weniger als
früher, jo daß der Gedingelohn beträchtlich finft. Diefe Methode, am Lohn zu
fnaujern, bat fiir die Verwaltung dabei noch den Bortheil, daß man nach außen
hin die alten Lohnſätze aufrecht erhalten kann.
Wer alſo genau zuſieht, merkt ſchnell, daß die Verhältniſſe im rheiniſch—
weſtfäliſchen Kohlengebiet und in dem um dieſes Centrum gelagerten Eiſenbe—
trieben ungünſtiger ſind als jemals ſeit langen Jahren. Dagegen ſoll nicht
beſtritten werden, daß in einzelnen Bezirken der Textilbranche eine Heine Beſſerung
zu verzeichnen iſt. Es jcheint ich aber immer mehr heranszuftellen — icon
früher habe ich es hier einmal gegenüber den optimiftiihen Hoffnungen des
Reichsbankpräſidenten behauptet —, daß dieſe Befjerung einzig und allein auf
die geftiegene Ausfuhr nach Amerika zurüdzuführen ift. Auch über diefe That-
fache täujcht man fid) an den Börfen himveg. Und da man annimmt, daß die
Geſundung im eigenen Yande fortichreite, jo hält man natürlich auch nicht für
nöthig, die amerikaniſchen Verhältniſſe etwas jchärfer unter die Lupe zu nehmen.
Ich bin der Anficht, daß die Beobachtung der amerikanischen Berhältniffe heute
die allerwichtigjte Aufgabe der Börjenmetterwarte jein müßte, Doc jogar von
Leuten, die grundfäßlicd der felben Meinung find, hört man vielfach noch fehr
optimiftiiche Auffaſſungen, die das Nejultat folder Beobachtungen fein follen.
Einzelne geben zu, daß die Verhältniffe in Amerika nicht unbedenklich ausſehen,
hegent aber die Hoffnung, bis zum Ausbruch des Sturmes werde noch viel Zeit
vergehen. Die übliche Phrafe, die wir über deutiche Verhältniſſe vor der legten
Kriſis jo unendlih oft hören mußten, wird uns auch jetzt wieder aufgetijcht:
Alles ftroge dod; geradezu von Geſundheit; damals in Deutichland, jest im
Amerika. Und gewiß ficht es wie ein Symptom fejter Gefundheit aus, daf
Amerifa aus Deutſchland Roheiſen beziehen muß und daß der Direftor der
Kanadabahn zu Krupp fommt, um Schienen zu befichtigen. Aber haben wir
denn nicht vor dem Zuſammenbruch genau die felben Erſcheinungen aud im
deutichen Wirthichaftleben gehabt? Gab es damals Roheiſen genug? Es iſt
luſtig, zu beobadten, wie genau hüben und drüben die Symptome einander
gleichen. Viele erinnern ſich wohl noch, wie wejentlich, unmittelbar vor der ge»
woltjamen Löſung der deutjchen Ueberſpannung, zur Unterftüßung der Danffe-
orgie der Umſtand beitrug, daß altes Gifen zum Umſchmelzen benugt werden
mußte, weil die Eiienvorräthe jonft für die Fabrikation nicht ausgereicht hätten.
Die Preiſe von Alteifen erreichten damals befanntlid eine ungeahnte Höhe.
Genau das jelbe Schauspiel erleben wir jest in Amerifa. Beträdilihe Poften
alten Eijens find von ums über den Ozean verfradjtet worden.
Dod aus diejen rein wirthichaftlihen Momenten gewinnt man noch feine
richtige Vorjtellung von den amerifanischen Berhältniffen. Die Truftivorgänge
mu; man beachten, um Elar zu jehen. Der Nupfertruft, ſchon lange ein
Sdmerzenstind aller Dauffiers, hat wieder bedenklich zu Ipufen begonnen. Seine
Verluſte bei dem lebten Preisfturz des Kupfers werden auf etwa 10 Millionen
Dollars geihägt. Man war geipannt, zu hören, welche Dividende nach dieſem
herben Verluft ausgeichüttet werden würde. Aber jiche da: die Herren Direktoren
hatten für angebracht gehalten, die Situng vorläufig einmal zu vertagen. Daß
Humbug & Co. 91
ſolche Vertagung Fein Zeichen eines befonders guten Gewiſſens ijt, brauchte ich
faum erjt zu jagen. Noc viel ſchlimmer aber find die Verhältnifje beim Stahl-
truft. Man will die jiebenprozentigen Norzugsaftien in fünfprozentige Bonds
umwandeln und motivirt dieſen Plan mit der Zinserſparniß. Einen allzu
günftigen Eindrud kann aber der Verjud nicht machen, die fnapp zur Ruhe
gefommene Morganijation ſchon wieder zu beginnen. Merfwürdiger noch ift,
dag man unter der Hand jchnell 50 Millionen Mark Bonds mehr ausgiebt, als
Vorzugsaktien vorhanden waren. Woraus alfo zu jchließen ift, daß die Geſell—
ichaft neues Kapital braudt. Was müßt angejichts folcher Beklemmungen ein
herausgerechnieter Buchgewinn von 111 Millionen für das legte Jahr?
Dieje allgemeine Unficherheit der amerifanifchen ITruftpolitit läßt den
baldigen Eintritt einer Kataftrophe fürchten. Und dieje Unficherheit jcheint mir
um jo gefährlicher, als allerlei Vorgänge erjt eben wieder gezeigt haben, auf
wie brüdiger Bafis all diefe Truſts aufgebaut find. Ich jehe noch davon ab,
dat die Schaffung von 50 Millionen neuer Bonds beim Stahltruft, für die gar
fein Gegenwerth vorhanden ijt, eine Verwäſſerung des Kapitals bedeutet. Alle
Truſtkapitalien find jchon im Augenblid der Gründung außerordentlich ver-
wäfjert. Wie nah dieje Unfitte, das Kapital zu verdünnen, nad) unjeren Moral»
grundjägen ang Berbrecheriiche grenzt, beweiſt der Schadenserſatz, der jet von
einem der profejjionellen Gründer von feinem Kumpan Gates verlangt wird.
Aus den Zeugenausjagen diejes Prozeſſes geht hervor, daß bei der Gründung
des Stahl- und Drabttruftes das jelbe Werk dreimal in jeden der verfchiedenen
Berbände eingebradht worden ijt, und zwar jedesmal mit einem recht erheblichen
Nugen für den Vorbeſitzer. Daß ein auf folcher Grundlage ruhendes Kredit:
jyftem dem Zujammenbruch entgegentreiben muß, ift klar und fönnte auch den
deutſchen Börfenleuten nicht zweifelhaft fein, wenn fie ſich überhaupt einen richtigen
Blick für die Lage der Dinge bewahrt hätten. In Amerika jcheint man fic
übrigens auch ſchon auf den Krach vorzubereiten. Herr Schwab, der Stahltyrann,
bat in einer Unterredung mit dem Berichterftatter der Kölnischen Zeitung rund
heraus erklärt, es jei natürlich und ficher, daß auch jchlechte Zeiten fommen
mäjjen; in dieſen Zeiten geringeren Anlandsbedarfes werde der Stahltrujt feine
Ueberproduftion in den deutſchen Abjaggebieten unterzubringen verjuchen.*)
*) Die Unterredung, die Blutus hier jtreift, muß, nad) den Andeutungen,
die wir lajen, allerliebjt gewejen fein. Nicht nur, weil der nterviewer an den
rechten Dann fam, der alle unbequemen oder langweiligen Fragen ohne Zeitverluft
wegwijchte und ihn mit der ganzen Hoheit des Herrichers von Goldes Gnaden
behandelte. Auch die Thatjachen, die Herr Schwab reden ließ, waren ungemein
lehrreih. Unjer Gejammtfapital, aljo jprad) er, beträgt 1374 Millionen Dollars.
Wir brauden jährlid nur 70 Millionen zu verdienen, können aljo mit einem
Brofit von 6 Dollars auf die Tonne aut ausfommen; übrigens verdienen wir
ja nit nur am Stahl, fondern auch an der Kohle, dem Eiſen und an einem
ausgedehnten Dampferverfehr, der die Binnenjeen jchon beherricht und die Welt:
meere beherrichen ſoll. Worläufig ijt bei uns der Bedarf jo groß, daß wir nicht
auf Erport angewiejen find und jogar viel Nohmaterial aus Deutſchland bezogen
haben. Diejer Zuftand wird natürlich nicht dauern. Läßt der Inlandsbedarf
92 Die Zukunft.
Aber die Börje hat jegt viel wichtigere Dinge zu thun. Sie muß be=
wundern, wie fich die Plebs um den Zeichentijch der neuen Rufjenanleihen drängt.
Wirklich: viel Plebs war dabei. Die hundertfache Ueberzeichnung iſt nicht allzu
feierlich zu nehmen. So mander Schnorrer — verzeihen Die, lieber Lejer, das
harte Wort — hat ſich weit über feine VBerhältniffe hinaus betheiligt. Ich hörte,
wie Einer zum Anderen jagte: „Neich möcht’ ich fein, was ich gezeichnet hab'!“
ferner hält es die Börfe für nöthig, Kleine jpefulative Haufen in Szene
zu jeßen; vielleicht nur, um fich zu zeritreuen und auftauchende Sorgen zu ver-
geilen. Bejonders auffällig war die Kursfteigerung des Bergwerks „Nordjtern“,
von deſſen Aktien man zunächſt behauptete, fie würden in Baris eingeführt werden.
Dann, ald Das noch nicht genügte, verjtieg man fich jogar zu der immerhin
fühnen Behauptung, der Norddeutiche Yloyd gedenke, den „Nordſtern“ anzulaufen.
Aus einer Stelle des legten Gejchäftsberichtes könnte man allerdings jchließen,
daß der Lloyd nicht abgeneigt iſt, durch Ankauf einer Kohlengrube jih vom
Syndifat zu emanzipiren. Recht zweifelhaft jcheint aber, ob er zu dieſem Zweck
fi) gerade das Bergwerk „Nordſtern“ ausfuchen würde, das 20 Millionen Tonnen
jährlich fördert und etwa 35 Millionen Mark koftet. Denn wenn fich der Lloyd
auch vom Kohlenſyndikat emanzipiren will, jo will er ihm doch ficher Feine
Konkurrenz machen und fi als Kohlenhändler aufthun. Die phantaſtiſchen
Gerüchte erinnerten bedenklich an die vor furzer Zeit iiber Gelſenkirchen in die
Welt gejegten Lügenmären. Wahricheinlich handelt es fich wieder um ein Kleines
Spielchen, das am Ende gar in beiden Fällen von den jelben Leuten begonnen
war. Im Aufjichtrathsregiiter des Bergwerks Nordftern finden wir die Herren
Leo Hanau, Thyſſen und Kappel, Wie der Zufall ſpielt ..
An foldhe Scherze verjchwendet die Börje jegt ihre Zeit. Das ift der
Illuſionkredit, von dent fie zehrt und Luftichlöffer baut. „Wie nennt man doch
Geſchäfte jo betrieben? Man nennt jie Dumbug, Dumbug, meine Lieben.“
Plutus.
bei uns nach, dann werden wir den Ueberſchuß unſerer Produktion auf die fremden
Märkte bringen. Wir ſind entſchloſſen, jedes mögliche Mittel anzuwenden, um
dieſes Ziel zu erreichen. Und wir werden es erreichen, weil kein anderes Land
ſo billig zu liefern vermag wie wir. Nach Rußland wollen wir hinein; und
wenn Sie in Deutſchland uns durch hohe Zollmauern den Weg ſperren, dann
werden wir „Ihnen mindejtens die Gifenausfuhr abjchneiden, zunächſt nach Oftafien
und bald hoffentlich auch nad) anderen Richtungen. So ungefähr ließ die ftählerne
Majeftät ji) vernehmen. Die immer lächelnde Exeellenz aber, die Deutichlands
Politik leitet, hat neulich erft dem Erdfreis verkündet, nirgends fei ein Punkt
zu finden, wo in abjehbarer Zeit die deutjche und die amerikaniſche Politik feind-
jälig zufammenftogen könnten. Das fonnte nur ein Diplomat alter Schule be-
haupten, der die Bedeutung wirthichaftlicher Kräfte und Zuſammenhänge nicht
ahnt umd zufrieden ijt, wenn er von der Dand in den Mund leben und alle paar
Wochen fein Appläuschen einheimjen fann. Die Worte des Herrn Schwab müßten
verltändigen Zeitungjchreibern für Monate Stoff bieten; fie zeigen, welches Un—
gewitter heraufzicht, und jollten erfennen lehren, daß es zwiſchen den Vereinigten
Staaten und dem Deutjchen Neid) wichtigere Dinge zu erörtern giebt als die Frage,
ob cin Prinz drüben mit der nöthigen Begeijterung aufgenommen worden iſt.
Herausgeber und derantwortli ner Nedatteur: m, derden ın Berlin, — Verlag dei 3utunft ın Berlin.
Drud von Albert Damde in Berlin» Schöneberg.
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Berlin, den 19. April 1902.
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Dalinodie.
WW Friedrich Lehmann wurde wüthend, wenn man ihn einen Achtund—
vierziger nannte. Er war im rothen Yenz geboren worden, am Abend
des Tages, wo Friedrich Wilhelm vor der Yeichenparade den Hut ziehen
mußte. Deshalb aber ift man noch fein Achtundvierziger. Das Hingt heute jo
höhniſch, fo nad) einer Ehrfurcht, die mühſam das Yadyen verhält. Man denkt
an einen zottigen Öraubart, an Schaftftiefel, Havelod, Schlapphut, an vers
witterte Ideale. Und Friedrich Lehmann hielt ſich für höchſt modern. Seit
er inEngland geweſen war, ging er nie ohne Eylinderhut aus, trug Schnür—
ftiefel und Kleider nad) modijchem Schnitt, den Bart, der erſt ſacht ergraute,
aſſyriſch, ganz kurz gefchnitten. Eineleganter Herr in den beiten Jahren. Auch
ſchalt er die neue Zeit nicht. Manches war freilich anders gekommen, als cr
gewünscht hatte, und mit den Bismärdern fonnte er ſich nie befreunden; zu
wenig Ethos; fein Gefühl für die Bedeutung fittlicher Mächte im Völker—
leben. Damit wars nun ja aber aus und nad) langer Noth der Geilt der
Nation der Lehre ewiger Wahrheiten wieder offen. Die Zeit des Yiberalis-
mus nahte und Herr Friedrich Lehmann erbat vom Schiejal nur das
eine Gejchent: diefe Morgenröthe ihn noch jehen zu laſſen. Auf jedes
Symptom achtete er und fam in Wallung, wenn irgendwo in der xBelt ein
Kampf für die Freiheit verfündet wurde. Dabei warer einguter Kaufmann;
Politik und Geſchäft aber waren für ihm getrennte Gebiete, deren Grenzen
ein Ehrenmann rejpeftiren müſſe. Nichts founte ihn jo ärgern wie die Nei—
-
‘
94 Die Zukunft.
gung jüngerer Leute, bei der Politik ans Gejchäft, beim Gejchäft ar die Po-
litik zu denfen, Da war jein Neffe Ernſt Meyer. Ein gejcheiter Menſch, ders
in der Grofinduftrie früh zu einem Direftorpoften gebracht hatte und mit
dem fid) angenehm plaudern ließ. Wenn er nur nicht gar jo nüchtern wäre,
fo unfähig jeder Begeifterung! Immer die jelbe Stepfis, die jelbe fühle Ab—
lehnung aller Emphaſe. Ein Junggeſelle, der ſchon ein Hübjches Vermögen
eripart hat und doch für Öffentliche Angelegenheiten nicht mobil zu machen
ift, trogdem er am eigenen Yeibe die Wirkung unjerer Rüdjtändigkeit jpüren
mußte. Nicht einmalftejerveoffizier war er, als $udenjohn, geworden; und
hatte jich im Dienft doch redlic geplagt. Wenn in Geſellſchaft die Rede auf
Militärverhältniffe und Uebungen kam, wurde er verlegen und juchte dem
Geſpräch eine andere Wendung zu geben. Für den nothwendigen Kampf
gegen die Neaktion aber war er nicht zu haben. Politik ift Rokoko, ſagte er
und war jtolz darauf, dager jeit zehn Jahren feinen Parlamentsbericht mehr
gelefen habe. Ihre Plauderjtunden endeten faft jedesmal mit einer Disſo—
nanz. Doc) der Onfel mochte diefe Seele nicht aufgeben. Nad) der erjten
Flaſche Perrier-Jouet ging es gewöhnlich los. Und heute konnte Herr
_ Friedrich Lehmann jo lange nicht warten. Sein Herz war zu voll, die Ge-
legenheit zu günstig, einem Verirrten endlich den richtigen Weg zu weijen.
„Na? Wie denken wir denn über Belgien? Dein Yieblingjag war
je immer: Induſtrie tft Freiheit. Damit bohrtejt Du ſämmtliche Fracht:
dampfer meiner Hoffnungen in den Grund. Induſtrie ift Kultur. Nur
feine politijche Aufregung; Alles fommt von felbjt. Enrichissez-vous!
Die Neichiten find die Stärfften. Eine neue Mafchine ift wichtiger als ein
Dutzend Geſetze. Und jo weiter. Ich könnte das ganze Penjum herunter-
leiern. Fürchte aber, daß die reifere Jugend nicht Recht behält; oder hoffe
vielmehr, denn ich möchte in Deiner Buſineßwelt nicht leben. Induſtrie giebts
in Belgien doch genug. Aud) an Geld fehlt es nicht; die StaatSeinnahmen
haben jid) in den legten zwölf Jahren verdoppelt. Von Freiheit aber merfe
ic) nicht viel. Wer Augen hat, muß diesmal jchen. Nicht für höheren Yohn
fämpfen dieYeute. Sie legen die Arbeit nieder, hungern mit Weib und Kind,
jetsen jich auf der Straße den Uebergriffen der bewaffneten Macht aus, weil
fie nicht länger in Unfreiheit leben wollen. Sie fordern ihren Theil an der
Regirung. Und trog allem Gerede von Klaſſenkämpfen marjchiren Bürger
und Arbeiter hier vereint. Der Drudder Herifalen Derrichaft Laftet jo ſchwer
auf dem Yande, daß der Wunsch, von ihm befreit zu fein, alle Barteiunter-
ſchiede verwiſcht. Lange genug hat man diejen armen Menſchen den Himmel
Valinobdie. 95
mit Kutten verhängt. Jetzt wollen fie endlich wieder die Sonne fehen, frei
denfen und die idealen Güter, für die einft die Väter ihr Blut vergofjen,
wenigfteng den Kindern fichern. Noch ift nicht vorauszufagen, was jie er-
reichen werden und ob aus den Putjchen eine Revolution wird. Die Führer
predigen ja Mäfigung. Aber e8 ift ein großes Beifpiel und der beſte Beweis,
dag die Intereſſenpolitik nod nicht unumfchränkt die Köpfe beherricht.“
„Ja ... Die Gejchichte hat ung auch beichäftigt. Zuerſt zogen Kohlen
an und man glaubte, Friedländer und Arnhold gratuliren zu fönnen. Wenn
im Borinage acht oder vierzehn Tage nichts gefördert wurde, mußten die
Preije ordentlich Elettern. Mir ſchien die Rechnung gleich falſch. General:
jtrife hin oder her: der Ausftand fonntenicht aufdie Kohlengruben beſchränkt
bleiben. Und jobald er andere Induſtrien ergriff, war wieder feine Kohlen:
noth zu erwarten. Das hatdie Börje aud) bald eingefehen und den Hauſſiers
die Mahlzeit verdorben. Immerhin warens eklige Tage. Der Gedanke,
Belgien könne Wochen lang feiern und ein Bischen Germinal fpielen, ift
nicht leicht auszudenfen. Gerade vor den franzöfiichen Wahlen. Ein Funke,
der über die Grenze fliegt, würde den ſchönſten Brand anfachen. Natürlich
hatte die Sache aud) ihre guten Seiten. In Gejchäften gilt ja faft immer
das martialiiheWort:Sunt mala, sunt quaedam bona, sunt mediocria
plura. Je fauler e8 den Belgiern geht, die als Konkurrenten mit allen Hun-
den gehett find, um jo bejjer für uns. Heutzutage aber fürchtet man jede
Ueberrafchung und iſt ſchon zufrieden, wenn Alles ruhig bleibt. Wir jchlep-
pen noch zu viele Leichen mit, um Sprünge wagen zu fönnen. Namentlich)
jest, wo Seder nur nad) London und Pretoria horcht und die Entjcheidung
über den Krieg und die jüdafrifanische Zukunft fallen muß, brauchten Cleo-
pold3 Unterthanen uns nicht noch nervöfer zu machen.“
„Und fonft hat Dich an der Sache nichtS interejfiert ?*
„Do. Zum Beifpiel der amufante Unfug, der mit der Forderung
des Frauenſtimmrechtes getrieben wurde. Stoff füreinepolitijche Komoedie.
ALS ich nod) öfter nad) Belgien kam, hörte ich immter, die Arbeiter verlang—
ten das Wahlrecht, jogar das paſſive, auch für die Frauen, die in Flandern,
befonders in Gent, in den Gewerfichaften vertreten find, überhaupt in der
jozialdemofratifchen Organifation eine Rolle jpielen. Le suffrage uni-
versel sans distincetion du sexe: wie oft bin id) damit gelangweilt wor:
den! Nun find die Konfervativen — Du kannſt jie, wenns Dir Vergnügen
macht, auch Klerifale nennen — da drüben nicht auf den Kopf gefallen.
Nachdem jie den erſten Schred überwunden hatten, jahen jie jid) den radi—
7*
—
96 Die Zukunft.
falen Vorfchlag genauer an; und die Herren Colaert und Woefte fanden, er
fei nicht zu verachten. Schließlich find die organifirten Genoſſinnen doc)
nur eine Kleine Minderheit und die anderen Wahlweiber, die ‚bürgerlichen‘,
gehören der Partei, die über die Beichtväter verfügt. Vorläufig wenig:
jtens. Dürfen die Frauen erjt wählen, dann wird man fie natürlich
dem Prieftereinfluß zu entziehen und unter die Herrichaft modernerer
Parteibonzen zu bringen juchen. Das dauert aber eine hübjche Weile und
inzwiſchen fit jich8 vor vollen Schüfjeln ganz bequem. Weißt Du, was die
Theaterleute eine Verwandlung bei offener Szene nennen? So wars in
Belgien. Die Sozialdemokraten haben die Forderung des Frauenjtimm:
rechtes bis auf Weiteres vertagt und die drohenden Buchſtaben S. U. be-
deuten ihnen nur nod) das suffrage universel des hommes. Grund:
wenn die Frauen mitwählen, bleiben die Konjervativen am Steuerruder,
Deine ehrenwerthen Barteigenofjen, die weder die Proletarierinnen noch die
frommen Beidhtfinder für fich hätten, haben erjt recht Feine Luft, den. Frauen
politische Nechte zu geben. So treten denn nur die ‚Reaktionäre‘ für die
holde Weiblichkeit ein. Bleibts bei der Broportionalwahl mit Pluralvoten:
ihön; wird aber das allgemeine und gleiche Stimmrecht durchgejegt, dann
werden die Konjervativen ſich alle Mühe geben, es auch den Frauen zur
fihern. Das haben jie offen erklärt. Famos, nicht wahr?“
„HM... Die Macht der Verhältniſſe kann auch den Liberalften zwin-
gen, eins jeiner Ideale zurüczuftellen. Darin ſehe ich nichts, was Tadel
oder gar Spott verdiente. Das Frauenſtimmrecht iſt nicht jo wichtig wie
die Befreiung vom Pfaffenregiment. Deine Gloſſen treffen die Hauptjache
nicht. Dem großartigen Schaujpiel, dag ein für Freiheit und Recht fech-
tendes Volk bietet, kann ich mid nicht entziehen. Das aber haben wir hier
vor ung. Es handelt fic um den Kampf zweier Weltanjchauungen .. .*
„Gewiß. Das jagen jeit zwanzig Jahren und länger die beiden Par—
teien, die um den Futtertrog ftreiten. Wenn die Liberalen herrjchen, iſt der
Bäterehrwürdiger&laube in Gefahr ; und wenn, wie jett jeit achtzehn SKahren,
die Frommen regiren, wird fchon in der Schule des Volkes geiftige Freiheit
vernichtet. Mit diefen Späßen haben die verjchiedenen Gruppen der Bour—
geoijie überall der Maſſe lange die Zeit vertrieben. Das zieht nun nicht mehr.
Hungernde werden von den wundervolliten Ideologien nicht jatt, Onkel Frig.
Sieh Dir mal Meuniers Bilder und Bronzen aus dem Schwarzen Yande an
und frage Did) dann, ob dieſe Schlecht gefütterten Puddler, diefe in härtejter
Männerarbeitfaftaller Gejchlechtsreizeberaubten Frauen Luft haben werden,
Palinodie. 97
für den Hofuspofus Eurer Ideale ihr armes Leben aufs Spiel zu jegen.
Ihre Yage bleibt unverändert, ob Klerikale, ob Liberale die Staatspfründen
an fich reißen. Sie fönnen nur jelbjt fich helfen. Das haben fie erfannt und
ſich deshalb organifirt. An politifcher Freiheit ift in Belgien fein Mangel. Du
fannft da ungefährdet Reden halten und Artikel jchreiben, für die Du bei ung
verdonnert würdeſt, daß e8 nur fo frachte. Doch was nügen alfe Freiheiten,
wenn man ſich faum alle acht Tage ein Stüd Fleiſch leiften fann? Wer in
ſolcher Noth figt, giebt die Ideale unter dem Selbftfoftenpreis hin. Die
um die Beute raufenden Parteien müfjen thun, als handle ſichs um die be-
rühmten heiligften Güter. Wenn wir irgend einen Magiftrat beftochen und
der Konkurrenz einen Auftrag weggeſchnappt haben, jagen wir auch der
Generalverfammlung, daß wir ftolz darauf find, der nationalen Arbeit
neuen Boden erobert zu haben. Ohne Phrafenfchleier mag Keiner in die
Sonne gehen... In Jedem von ung tet ein Snob; und ic) leugne gar
nicht, daß die Hoffnung, eine richtige Revolution erleben zu können, mich
angenehm figelte. So was aber machen höchftens noch die Franzofen; Wal-
lonen und Vlamen find, glaube ich, dafür nicht zu haben. Der belgijche Ar-
beiter fordert das Wahlrecht, weiler eingeſehen hat, daß nur politische Macht
ihm zu befjeren Arbeitbedingungen helfen kann. Strifesfind zu ofterfolglos
geblieben. Eine Partei, mit der die Negirung rechnen muß, kann Alferlei
durchiegen. Und über furz oder lang werden die Yeute ihr Ziel erreichen!”
„Das aljo giebjt Du wenigſtens zu?“
„Nicht erjt jeit geitern. Wenn ic) das Geheul über die Yalten der
Arbeiterverficherung, über den wachſenden Anfpruch auf Yohn und Gejund-
heitichuß hörte, Habe ich immer gejagt: Abwarten ; fommt überall. Ich bin
vom Segen der Demokratie nicht allzu feſt überzeugt ; aber auf perjönlichen
Geſchmack fommt e3 ja nicht an. Die Entwidelung ift nicht aufzuhalten.
Daher der Sat, den Du mir vorwirfft: Induſtrie ift Freiheit. Allerdings
erſt nach einer Epoche der Sklaverei. Ich fönnte auch jagen: Induſtrie ift
Revolution. Die auf der Straße errungenen Siege können unbelohnt, die
ſchönſten Geſetze auf dem Papier bleiben: der dicht zufammengepferchten, mit
dem für ihre Arbeit nöthigen Bildungminimum ausgejtatteten Dienge kann
feine Macht der Erde auf die Dauer ihr Necht vorenthalten. Das tröjtet
mid; manchmal, wenn ſich die Scham meldet. Sie vos non vobis nidifi-
catis aves. Eines Tages werden wirja doc) entthront. (Hoffentlich dauerts
nod) ein Weilchen, denn mein Altruismus ift an gute Nahrung gewöhnt.)
Ein Staat von der ausſchließlich industriellen Kultur Belgiens kann nicht
98 Die Zukunft.
lange oligarchifc regirt werden. Ich fehe nur zwei Möglichkeiten.
Entweder wird die Verfajfung geändert und das allgemeine Stimmredt
gewährt: dann giebt es ſtatt der einunddreißig bald ſechzig Sozialdemokraten
in der Kammer, der Lohn fteigt, die Arbeitzeit wird verkürzt und wir jind
eine Konkurrenz los, die uns oft genug unterbot. Dder die herrjchenden
Kapitaliften, fromme und gottlofe, find blind und fträuben fich, bis es zu
jpät ift: dann fommt e8 zur Revolution und die Koburger fönnen die Koffer
paden. In feinem Fall ſieht die Zukunft heiter aus. Ueberalf verringert ficdh
die Zahl der Auszubeutenden. Weite Abjaggebiete, deren Bewohner wir die
Maſchinentechnik gelehrt haben, verjchließen ſich unſeren Produkten und der
Arbeiter erhebt den unerhörten Anjpruch, wie ein Menſch zu leben. Neue
Märkte? Profit Mahlzeit! Diefe Wonnen jpüren wir ſchon in den Gliedern.
Das wird ein Haufirgeichäftichlimmifter Sorte,bei dem Europa nicht auf die
Kosten kommen wird... Und da wunderft Du Did) und zürnft, weil id) für
Eure Politik nicht zu haben bin. Ich könnte mir eine Politik denken, derih
meine Bequemlichkeit opfern würde. Weltbund gegen Nordamerika, das
uns ſonſt auffrißt. Rußland muß mit der Furcht vor der ajiatischen Kons
kurrenz für die Sache gewonnen werden. Frankreich kann über die Pyrenäen
gehen. Da ift gloire und revanche zu finden. Es ift doch zu dumm, daß
auf dem kleinen europätjchen Fejtland der verfaulende Staat der Spanier
geduldet wird. Die würden fid) irgend einen Youbet mindeftens eben jo gern
gefallen laſſen wie einen Alfonjo oder Don Karl, wenn nur Geld ins Yand
fäme; zu ernſthaftem Widerjtand reicht ihre Kraft auch nicht. Und die
Franzoſen wären für hundert Jahre bejchäftigt und fönnten die guten Bilder,
die jetst in Madrid vergraben find, mit nad) Paris nehmen. Und dann. .*
„Dann jchicden wir die verbündeten Flotten nach New-York, bom=
bardiren und verwüjten, was zu erreichen ift, und laſſen ung jo ungefähr
fünfzig bis jiebenzig Milliarden als Kriegsentichädigung zahlen. Das würde
jelbft die Yankees für ein Menjchenalter unjchädlid machen. Nicht wahr:
jo etwa denkjt Du Dir die Politik, die Did) reizen fönnte? Daß Du Ideale
haft, ijt danach jedenfalls unbeftreitbar. Nur find fie ein Bischen..... ein
Bischen urwüchſig, mein Junge. Das Heine Wörtchen ‚Recht‘ fehlt in
Deinem Katehismus. Macht! Macht! Ob die einfachſten Pflichten der Hu—
manität verlett, die Rechte Fremder Völker gebrochen werden, ift gleichgiltig;
der Zweck heiligt die Diittel. In meinem ganzen Leben bin ich mir nicht jo
rüdftändig vorgefommen. Alfo Straßenräuberpolitif. Sid zujammen-
rotten und Jedem, der vorüberfommt, die Werthjachen abnehmen. Das ift
Palinodie. 99
die neue Schule. Meinetwegen. Dann aber weiß ich wirflid) nicht, was
wir den Engländern vorwerfen. Auc Herr Chamberlain hat dann Recht.“
„Natürlich, wenn er die Macht hat, ſich jein Necht zu prägen. Damit
haperte es aber bis jetzt. Dur thuft, als gäbe ic) mid) für den Erfinder einer
neuen Methode oder Schule aus. Keine Spur. So ift immer Politik ge:
trieben worden. Zuerjt für Fürſten, für eine Heine Schaar Privilegirter,
dann für ganze Nationen. Das ijt doch ein Fyortichritt. Zeige mir einen
Staat, der unter Wahrung erworbener Nechte entjtanden ift. Das Recht
hat jich nachher gefunden. Selbjt Deine geliebten Buren haben den Kaffern
erſt ihr Yand geraubt und die Heimathlojen dann zu ihren Sklaven ge:
macht. Mit dem Recht der höheren Kultur? Darauf berufen ſich auch die
Engländer. Ohne Lügen gehts in großen Geſchäften nun einmal nicht. Der
alteSalisbury hat feierlich erklärt, Großbritanien wolle in Südafrika weder
Gold noch Land erobern. Die Buren haben hundertmal gejagt, jie würden
bis zum legten Dann fürihre Unabhängigfeit fechten. Das erjchwert jetst den
Friedensſchluß. Die Briten wollen Yand und Gold, die Buren haben den
begreiflihen Wunſch, die Refte ihrer Freiheit möglichft theuer zu verkaufen;
fie werden nicht tot de bitter end fümpfen, fondern zufrieden fein, wenn fie
für ihre Farmen und Biehverlufte reichliche Entſchädigung bekommen. Beide
Völker möchten ‚das Geficht wahren‘, wie die Eugen Chinejen jagen, und
deshalb ziehen die Verhandlungen fi hin. Wenn fie beendet find, fönnen
wir die Bilanzen prüfen. Vielleicht Schlieken die Engländer jchlecht ab; dann
dürfen fie fid) bei ihrem Eduard bedanken, der nichts im Kopf hat als jeinen
Ceremonienkram und als Friedensfürjt gekrönt fein will.“
„Dir jcheint der Schlechte Abſchluß ſchon heute nicht zweifelhaft. Von
den moralijchen Einbußen will ich gar nicht reden ; ſonſt würdeft Du mic)
am Ende wieder einen Acdhtundvierziger jchelten. Aber jieh Dir die Ziffern
der Kriegskoftenrechnung an. Schon war das Parlament gezwungen, einen
Zoll auf Korn und Mehl zu bewilligen. Schußzoll in England! Wer diejes
Hägliche Ende der Politif Peelsvorausgejagt hätte, wäre noch vor drei Jahren
ind Narrenhaus gewiejen worden. Aber Neaktion und Schutzoll gehören
nun einmal zufammen. Das weiß der jchlaue Chamberlain; deshalb war
er für eine größere Anleihe und gab erſt nad, als er fühlte, daß Hicks
Bead) die Mehrheit der Regirungpartei Hinter fich hatte.“
„So jtands in der Zeitung. Aber wir find doc) Kaufleute und können
rechnen. Erreicht England jein Ziel, dann fommt ein boom, wie wir Beide
noch feinen jahen; alle Börjen des Kontinentes freuen ſich feit zwei Jahren
100 Die Zukunft.
darauf und die hohe Minenfteuer, die Rhodes jetzt nicht mehr hindern kann,
wird den Rauſch Faum ftören. Damit aber ift die Sache nicht abgethan.
Wenndiebeiden Holländerrepublifen engliſche Kronkolonien werden — einer-
kei, welchen Namen man dem Kinde giebt —, jo ijt Afrika engliih. Das
will Etwas jagen. Was bedeutet dancben das Bischen Finanzzoll, das im
nächiten oder übernächiten Budget wieder bejeitigt werden fann? Ich will
uns mitdem Beweis, daß politiſche Freiheit und Freihandelnurden Namens-
Hang gemeinfam haben, nicht den Abend verderben; Franzoſen und Yankees
find, trog den Schußzöllen, ja wohl nicht gefnechtet. Warum aber braudyen
wir überhaupt jo große Worte? Perlund Cobden fönnten wir ruhen laſſen.
Feder Engländer wußte, daß der Krieg theuer wird. Das Yand ijt reich
genug, um ihn zu bezahlen, und die überwiegende Mehrheit würde aud)
doppelt jo hohe Koften ohne Murren tragen. Chamberlain, ein Yiberaler,
dem ohnehin ſchon die Berleugnung der wichtigſten Parteigrundfäte vorge-
worfen worden ift, jcheute natürlich) das onus, den Yebensmittelzoll vorzu—
ichlagen. Das paßt beſſer für die alten Tories. Wenn Joe ſich Rojebery,
dem Kandidaten des Königs, verbündet, kann ihm Kleiner nachſagen, erhabe,
als demofratijcher Staatsjozialift, da8 Brot des armen Mannes vertheuert.
Das ift der Zweck der Uebung. Er ift überftimmt worden. So machen wirs
dod) auch; nur ift für uns, da wir Alles dem Auffichtrath zujchicben können,
die Sache noch viel bequemer... Siehit Du: diefe Umjtändlichkeiten verlei-
den mir die Politik. ch will mich wahrhaftig nicht aufipielen. Wer Jahre
lang gereift ift, um Aufträge zu befommen, und mit Stalienern verhandelt
hat, ftolpert nicht über eine Yüge. Aber das dumme Yügen, das Kleinen täufcht,
diefe gräßliche, finnloje Wortmacherei: da kann ich nicht mit.“
„Und unter diefem Vorwand entzichit Du Did) der Staatsbürger-
pflicht und läßt die Dinge gehen. Bis Dein Kricgsplan gegen Amerifa-aus-
geführt wird, wirft Du nod) ein paar Tage warten müſſen. Giebt e8 in-
zwiichen nicht zu Haufe Einiges zu thun? Du merfjt doch jelbft, wie die
Reaktion ung bedroht. Deutjchland jteht vor einer Krijis, die zur Vernich—
tung jeines Wohljtandes führen fann. Siegen die Junfer diesmal, dann
werden fie jid) an die Macht flammern, mit ihrer befannten brutalen Rück—
fichtlofigkeit den Erfolg ausnügen, dem gefejielten Bürgertum den Fuß auf
den Naden jegen und uns den Reftvon Freiheit nehmen, der uns noch blieb.“
„Aber fie fiegen ja nicht. Ste jind ja ſchon bejicgt. Du denkſt an den
Holltarif. Ich muß geftehen, daß die Sache mid) nicht jehr interefjirt. Seit
einem Jahr mindeitens wiſſen wir, daß der Export nad) manchen Yändern
Palinodie. 101
erjchwert wird. Das ift unangenehm, aber nicht jo ſchlimm wie andere wirth—
Schaftliche Vorgänge, gegen die wir auch nicht8 machen fünnen. Wir haben
uns, wie die ganze Induſtrie, darauf eingerichtet, und warten num ab, wie
die neuen Handel3verträge ausjehen werden. Bei Euch dauert Alles fo
furdtbar lange. Ein Sieg der Leute, die Du Junker nennt, ift ganz aus-
geſchloſſen. Das willen fie jelbft. Dan will ihnen nur den Uebergang er-
leihtern. Reichthümer werden fie auch unter dem neuen Tarif nicht ſam—
meln. Was joll ich num thun? In Bezirksvereinen gegen den Brotwucher
reden, die Vortheile des jchlecht reftaurirten Dreibundes preijen oder zu er»
rathen juchen, warum der eine Minifter dahin, der andere dorthin gereift ift?
Den Buren ein langjames Berbluten wünjchen, trogdem jede Verlänge-
rung des Krieges uns Schaden bringt? Bon jolcher Thätigfeit fann ich
mir feinen Nugen verjprechen. Ihr wollt den Adel aus jeinen Privilegien
jagen und jucdht ihm deshalb die Yebensmöglichkeit zu ſchmälern. Das ift
nicht unſer Ziel. Wir wollen die Anderen nicht ärmer machen, fondern
uns bereihern. Schon der guten Raſſe wegen möchte ich die Junker nicht
entbehren. Du haft nun mal die Antipathie. Achtundv... Pardon! Schließ—
lich mußt Du Dich aber doch fragen, was Ihr bisher erreicht habt. Nichts,
jcheint mir. An Euren Reden liegt e8 nicht, daß die Bourgeoijie ſtark ge-
worden ift. Das iſt die Folge der großfapitaliftiichen, großinduftriellen Ent-
wicelung, die heute längft viel zu weit gediehen ift, als daß irgend eine Partei
oder Gruppe fie dauernd hemmen fünnte. Siehe Nordfeefahrt. Schwanf-
ungen find möglich; einen Stilfftand kann es auf dem Wege nicht geben, der
nad) England oder — wahrjcheinlicher — nad) Belgien führt. Nehmen wir
an, wir wären jchon am Ende. Belgien zwiſchen Dder und Elbe, mit
Iharfer Konkurrenz, ungeheurem nduftrieproletariat und dem berüchtigten
‚„plutofratiichen Wahlſyſtem‘“ Würdeft Du Did) dann für das allgemeine
Stimmrecht begeiftern? Ich nicht; und Deine Parteigenojjen thun es da,
wo jie nicht zu gewinnen, nur zu verlieren haben, auch nicht. Wir Alle halten
eben nur die Güter für heilig, deren Genuß uns sicher ift. Als ich nicht Lieute—
nant wurde, habe ic) mich ſchmählich geärgert und aufdie Reaktion geſchimpft,
day Du Deine Freude dran hattejt. Doch man wird älter; und wenn man
die Maſſen nicht Hinter, ſondern gegen fich hat, muß man eine bejondere Taftif
eriinnen. Wir find Fleiſch von Eurem Fleiſch und haben die gute Sadıe
nicht ſchnöde verrathen. Aber wirhaben von einem Sänger gehört, der, weil
er eine Schöne Königstochter beleidigt hatte, mit Blindheit bejtraft ward und
das Augenlicht erjt wieder erhielt, als er in einem neuen das alte Yied wider-
rief. Wir jummen nur und haben Eure Sünde dennoch jchon geſühnt.“
=
102 Die Zukunft.
Nervoſität und Runftgenuß. *)
Ss: Werthung de3 Kunſtgenuſſes pendelt feit einiger Zeit zwifchen zwei
deutlichen Ertremen. Auf der einen Seite ijt, wie Kurt Breyfig
gelegentlich mit Recht bemerkt, der ſozialpädagogiſche Charakter der Kunft
felten fo ſtark betont worden wie in unferen Tagen. Die Nutzkunſt nimmt
immer breiteren Raum für fi in Anſpruch. Man will dad Leben, auch
das der Einfachen, ftilifiven; und beim Kinde fol angefangen werden. Was
das Kind heute umgiebt, fo hörte ich einft den Darmftädter Georg Fuchs
empört rufen, iſt Häßlich, nur häklich, und wir wollen, daß unfere Kinder
in Schönheit aufwachſen. Die erſten Künftler dichten und malen Bilder-
bücher, in Hamburg werden Kinder in Galerien und Theater geführt und
man entwirft ftilvolle Kinderſtuben. Berlin folgt darin nad. Auf der
anderen Seite aber wird lauter und nachdrücklicher als je auf die Gefahren
einer Aeſthetiſtrung der Erziehung und Lebensführung hingewiefen. Wir
denken dabei nicht an das Urtheil des PHilifterd, der nad) der offiziellen
Galerienjagd in feinen brummenden Schädel den Schluß zieht, die Kunſt
mache doc auf die Dauer die Nerven faput; wohl aber ift es ein bedeut=
fame3 Symptom, wenn Nervenärzte vom Range eine® Dppenheim, eines
Binswanger dringend ihre Stimme erheben und die Nervojität der Zeit in
nahe Beziehung zum äfthetiichen Genuß ſetzen.
Man darf ja das Urtheil diefer Männer nicht al8 unbedingt unan—
taftbar hinftellen. Seit Dubois-Reymond Goethe und Bödlin vernichtete,
wird man im Gegentheil dem Gutachten medizinischer Autoritäten über Kunft
recht jfeptifch gegemüberftehen dürfen. Es kann Einer ein hochbedeutender
Neurologe fein, ohne ein inneres Verhältniß zur Kunft zu haben; wer Das
aber nicht hat, wird über Kunſtdinge ftetS jchief und ungerecht urtheilen.
Aber freilich: nicht Jeder gefteht Das jo freimüthig ein wie Bismard; ein
Bishen Familienanſchluß an die Kunſt will Steiner fo leicht miſſen. Ob
ihr Verhältnig zur Kunſt aber enger oder lojer ſei: Männer von folder
Bedeutung und folder geiftigen Macht über ihre Sphäre, wie die genannten
Nervenärzte e8 find, wollen und müſſen gehört werden. Nichts hindert ung,
ihre Ansicht, thuts Noth, Scharf abzulchnen, Alles aber, fie zu ignoriren.
Sic mit ihr zu befchäftigen, ift ſchon darum bejonders interefjant,
weil die beiden Warner auf ganz verichiedenartige Wirkungen des Kunſt-—
genuffes abzielen. Oppenheim hat vornehmlich das ſinnliche Subftrat der
*) Der BVerfaſſer hat bisher jeine literarifchen Arbeiten unter dem Pſeudonym
Ernſt Eyſtrow veröffentlicht; er wird ſie fortan mit jeinem bürgerliden Namen
zeichnen und legt Werth darauf, die Identität beider Namen fejtzuftellen.
Nervofität und Kunftgenuf. 103
äftgetifchen Genüffe im Auge: die Töne, die Farben, die Formen auch, fo
weit jie elementar jinnlich, etwa jeruell aufreizend wirken. Wir Alle wilfen,
daß jede intenfive und lange dauernde, dazu häufig wiederholte Inanſpruch—
nahme des gleichen Sinnesorgans zunächit diefes und jefundär unferen ganzen
Drganismus in den Zujtand der Ermüdung verfegt. An und für ich fommt
aljo diefe Wirkung aud jedem Kunſtwerk zu, wenn es eben zu lange, zu
ſtark und zu oft genofjen wird, welcher Gattung und Zeit e8 auch ange:
hören mag. Und nur der Beweis, daß die moderne Kunſt mit befonders
ftarfen und zeitlih ausgedehnten finnlichen Mitteln arbeite, dag fie unfere
Sinnesorgane lebhafter und länger befchäftige, könnte den Vorwurf recht—
fertigen, daß fie mehr als die Kunſt vergangener Zeiten unfer Nervenſyſtem
zu ermüden geeignet fei. Dann würde auch zu folgern fein, daß jie neu—
ropathijc wirfe. Denn, ob es nun theoretifch richtig oder philijtvös oder
fonft was ift, praftifch fuchen wir unleugbar Alle — mit Ausnahme der
Künstler und der Rezenjenten von Beruf — in der Kunſt ein Gegengewicht
zur AlltagSarbeit. Dieſe aber hat für weite Sreife heute einen Charafter
angenommen, der das Nervenfyftem ftärfer denn jemals beeinflußt, abnust
und fchädigt; beſonders durch die unendlichen Berfeinerungen und Verwide-
lungen, die die perfönliche Verantwortlichkeit in der Fapitaliftichen Geſell—
Ihaftform erfahren mußte Füllt alfo, nach jolcher Berufsarbeit, unfere
Erholungftunden ein Kunſtgenuß aus, der ermeislic die Abnugung der
nervöſen Kräfte fortfegt, ftatt Tie zu paralyiiren, jo fann er von fchweriter
Mitfhuld an der Nervoiität unferer Zeit nicht freigefprochen werden, zumal
er, im Gegenſatze zum Beruf, der vermeidliche Faktor in der Urfachengruppe
diefer Nervoſität ift.
Ganz andere Seiten des äfthetifchen Genufjes aber will Binswanger
mit feiner Anklage treffen. Er nimmt die moderne Kunſt im Bejonderen
aufs Korn. Nicht ihre finnlichen Ausdrudsmittel, jondern ihr intelleftueller
Gehalt erregt jeine Beſorgniß. Ihre Sudt, das Krankhafte zum Problem
zu nehmen, der Seele bis in die perverfeften Verirrungen nachzugehen, das
Jämmerliche interellant und heldenhaft zu machen, endlich, den fchlichten
Löfungen im komiſchen oder tragischen Sinne auszumeichen, um jtatt Defien
ihre Schöpfungen in dumpfe Schwüle oder im fchrille Mißtöne ausklingen
zu laſſen. Auch Hier fegt alſo die Hunt im bedauerlicher Weife Alles fort,
was das moderne Leben im Beruf als fchwerite und bedenflichite Schäden
uns zufügt; das Schwanfen aller Normen, der bodenloje Nelativismus,
der das Widrigſte erlärlih, entichuldbar, ſchließlich berechtigt finden will,
alles Das quält und zernagt unfere Hirmzellen nun auch noch in den Stunden,
die dem Ausgleich diejer Schädigungen, der Erholung von den Berufs:
attaden, der Herftellung des jeelifchen Gleichgewichtes dienen follten. Wie
104 Die Zuhunft.
es begreiflich ift, fefielt Binswanger, den Pfychiater, mehr die rein pfychifche
Seite des äfthetifchen Genufjes; während Oppenheim, dem Neurologen, das
Nervenigitem in feiner phyſiologiſchen Widerſtandskraft bedroht fcheint.
Oppenheim bezieht jich bei feiner Beweisführung vor Allem auf das
moderne Mufikdrama. Ihm ift eine Oper von Wagner Zweierlei: zuerft
wohl ein äfthetiicher und intelleftueller Genuß, dann aber die Quelle einer
tiefen Erichlaffung des Nervenfyftemes. Was aus einer folhen Auffaffung,
die wohl ziemlich Jeder theilt, folgt, ift an ich Mar. Kein Kunſtbedürftiger
wird wegen der Ermüdung auf den Genuß Verzicht leiiten wollen; wer fich
zu ſolchem Verzicht entjchlöffe, hätte eben fein zwingendes Kunjtbedürfnif.
Aber Feder wird ſich jagen, daß es eine Grenze giebt, wo die Ermüdung
den Genuß vernichtet, und daß es diefe zu refpeftiren gilt. Zunächſt follte
man hier immer ganz friih an den Genuß herantreten fünnen. Das ift
ganz im Geifte Wagners, der feine Mujifdramen als Feftipiele dachte. Einen
Feiertag, an dem Leib und Seele geruht haben, follen diefe Schöpfungen
frönen, nicht aber einen Werktag abjchliefen, wo man abgehett und müde
von Arbeitzinnmer ins Theater rennt. Zweitens muß der Genuß felten fein.
Die Nerven und Sinneswerkzeuge bedürfen immer einiger Zeit, um aus der
Ermüdung zur vollen Empfänglichfeit zurüdzufehren. ch entiinne mid,
daß ich in Leipzig als älterer Student einmal eine Konzertwoche „ausgekoftet“
habe. Am zehnten Tage überfam mid ein wahrer phyſiſcher Efel vor der
Muſik; ich war unfähig, Nicofais „Luftige Weiber“ mit anzuhören; ihre
von mir über Alles geliebte Duverture, meifterhaft gefpielt, trieb mich aus
dem Theater. ch war vernünftig genug, mir eine völlige Abjtinenz von
vier Wochen aufzuerlegen. Da erfaßte mich von felbit wieder das Bedürf-
niß nah Muſik und mit frischer Kraft genoß ich den „Eulenfpiegel“ von
Strauß, der doc dem Ohr ſchon manderlei Zumuthungen ftellt. Aber ein
vernünftiges Haushalten im äfthetifchen Dingen, wie ich es ſeitdem ftreng
geübt habe, wird bei uns in hohem Make erjchwert durch die Abonnements
auf Theater und Konzerte. Selbſt wo e3 ſich, wie ja meift, nur um Theil:
karten handelt, bleibt doch der Uebelſtand, daß man ji den Tag des Hunft:
genuffes nicht frei wählt, ſondern an die regelmäßige Abfolge gebunden ift.
Und diefe freie Wahl gerade erjcheint mir fo bedeutjam, daß ich am Liebiten
fogar den Vorverkauf der Billet3 abgejchafft fehen würde. Es ſoll eben ein
leichter, harmonischer Tag fein, den der Genuß eines Kunſtwerkes abſchließt:
ob er Das fein wird, vermag ich nach einem alten Sprihwort am Morgen
noch nicht zu beurtheilen. Höchitens, wenn id; meinem alltäglichen Milieu
entrüdt bin: in Bayreuth etwa. Aber ein Alltag im Haufe fichert ung, er
mag noch fo vergnügt ſich anlafjen, für den Abend noch feine Feſtſtimmung.
Einer unbejchäftigten jungen Bourgeoistochter vielleicht ; dem modernen Kauf:
Nervofität umd Kunſtgenuß. 105
mann, Arzt, Politiker nicht; cher noch dem Beamten. Wer jeden Tag um
die felbe Stunde eine beftimmte Zeit in der Galerie zubrächte, Defien Ver—
bältniß zur Kunft würde man wohl als jehr offiziell beargwöhnen; beim
Theater gehört das Selbe, namentlich in den Mittelftädten, in den Refidenzen
befonders, zum guten Ton. Und nun als Legtes: die Ermüdung darf nicht
risfirt werden, wo wir des Genufjes nicht Sicher jind, und vor Allem nicht
da, wo jicher fein Genuß fie ausgleicht: beim Kinde. Aejthetiiche Ueber: -
anjtrengung it Mord am findlichen Nervenſyſtem, alfo an der Kindesfeele.
Denn mehr, viel mehr als beim Erwachſenen ift die Pſyche beim Kinde ein
Spielball nervöfer Einflüffe. Noch fehlen die reich entwidelten Hemmungen,
durch die wir unſerer Nerven oft Herr werden, noch fehlen die konftanten
Willensrihtungen, wie Wundt es nennt, noch giebt ji der Organismus
jedem ſinnlichen Eindrud ohne Widerftand und ohne Schmälerung hin. Aber
nun fpigt fih unfer Thema eben zur entfcheidenden Frage zu: Mas iſt
äfthetifche Ueberanftrengung fürs Kind? Was dürfen wir ihm an unit:
genuß zummthen? Welche äfthetiichen Dofen fönnen, jollen wir ihm viels
feiht gar verabreihen? Oppenheim hat die Frage radikal beantwortet;
überhaupt feine. Das Kind bleibe der Kunſt fern. Es ift unempfänglic
für ihre äſthetiſchen und intellektuellen Schönheiten, empfänglic nur für ihre
Schäden. Er fagt Das nicht ganz jo unverblümt, aber er meint es fo;
Das fühlt man. Theater, Galerie, Konzertfaal: fie feien dem Kinde eben
jo verfchloffen wie Kneipe, Tingeltangel und Ball.
Damit wäre alfo einer altmodiſchen, kleinbürgerlich-kleinſtädtiſchen An:
fücht die Approbation einer vornehmen Autorität der Nervenheiltunde ge-
wonnen. Die Erziehung der Kinder zur Kunſt wäre offiziell verurtheilt:
al3 im beiten Fall zwecklos, als meijtens ſchädlich. So hat man im guten,
mittleren Bürgerfreifen bis heute auch gedacht; und ich meine, nicht ohne
einigen Grund. Es fteht doch wohl auferhalb jeder, Debatte, daß man ein
Kind nicht vor Probleme ftellen wird, die e3 einfach noch nicht fallen kann.
Probleme aber find fo ziemlich alle Juhalte der großen fünftlerifchen Schöpf—
ungen. Denn jelbft wo die Liebe, die ſonſt dominirende, eine nebenfächliche
Rolle fpielt, wie bei Schiller, der doch vor Allen die großen fozialen erden:
haften in Handlung treten läßt, jelbit da vermag das Sind vielleicht
an der Darftellung diefer Leidenschaften ſich zu beraufchen, für ihre innere
Größe oder Niedrigkeit aber fehlt ihm noch jeder Maßſtab. Der eigentliche
intelleftuelle Gehalt diefer Werke wird ſpurlos am kindlichen Verſtändniß
vorübergehen und nur ihre ſinnlichen Bejtandtheile werden zu Ausichlag
gebender Wirkung gelangen.
Die Berechtigung der Antwort Oppenheims aber liegt in der That:
fache, daß die Entfaltung des äfthetifchen Sinnes im Menſchen durchfchnittlich
106 Die Zukunft.
mit der der gefchlechtlichen Reife Schritt hält. Durchſchnittlich: es giebt Aus-
nahmen; befonder8 die Muſik hat feit je her Wunderlinder geliefert; aber
was bedeuten fie gegen die Maſſe! In der Regel ift das Sind vor der
Pubertät äfthetifch gleichgiltig. Nur Grelles und Lautes, Glänzendes und
Raufchendes vermag feine Indifferenz zu ftören. Cine Militärfapelle, ein
brennender Kronleuchter, ein buntes Bühnenbild erregen vielleicht fein Ent—
züden; Kammermufif, Gemälde, ein Wallenftein-Monolog verurfadhen ihm
Langeweile. Aefthetiih, — wohlveritanden; daß es vielleiht an allerhand
Nebenumftänden Intereſſe finden fann, ift davon zu trennen. Erft mit dem
anmwefenden Gefühl fürs andere Geſchlecht erwacht auch da8 eigentliche äfthetifche
Empfinden, beginnt die Entfaltung der dauernden Affelte und Willens-
äufßerungen. Alles, was voranging, war proviforifch; wie oft wandeln ſich
mun ftille, verfchüchterte Kinder in aufgewedte, ſelbſtbewußte, wie oft werden
laute, ungezogene ſcheu und in jich gekehrt. Vor. der Pubertät läßt Feine
Individualität fih mit Sicherheit prophezeien. Auch nad) der Seite der
intelleftuellen Begabung hin nicht. Jeder Lehrer weiß, welche überrafchenden
Wendungen in diefer Zeit ſich oft vollziehen; und die moderne Pſychiatrie
zeigt und in dem trüben Stranfheitbilde der Fugendverblödung, der dementia
praecox, wie die heidelberger Schule fie nennt, eine nur allzu häufige Erz
fcheinung, bei der die Wirkungen der gejchlechtlichen Entwidelung hoffnung:
vollfte geiftige Anlagen dem langjamen, aber rettunglofen Verfall preisgeben.
Vor diefer entfcheidenden Wende dem Kinde mit Gewalt äjthetifchen
Sinn einpflanzen zu wollen, wäre grenzenlofe Thorheit. Diefes Frühbeet
würde, grob gejagt, ein Miftbeet werden. Man müßte zur Entfaltung des
äfthetiichen Empfindens das geichlechtliche vorzeitig aufrütteln und ich beneide
Keinen, der vor diefem Unterfangen nicht zujchredt. Ueber die Fälle des
aufergewöhnlicd früh erwachten Gefchlechtstriebes öffnet der Nervenarzt feine
Journale nicht gern. Auch des normalen Seruallebens Vorboten, wie fie
vereinzelt vom elften Jahre an aufzutreten pflegen, find, ftreng genommen,
Perverſitäten, Regungen maſochiſtiſcher, fetiſchiſtiſcher, ſadiſtiſcher Nuance;
ſo weit ſie in der Geſundheitbreite liegen, pflegen ſie mit dem eigentlichen
Beginn der Pubertät, alſo zur Zeit der Bildung und Ausſtoßung der
Geſchlechtsprodukte, zu verſchwinden und der natürlichen, auf den Verkehr
mit dem anderen Geſchlecht gerichteten Sinnlichkeit zu weichen. Wer aber
dieſen dunklen Gefühlsbewegungen ſyſtematiſch Vorſtellungskreiſe ſchaffen
wollte, an die ſie ſich heften, an denen fie ſich ausleben fönnten, Der würde
jeine Schrecken erleben und gar bald cerfennen, daß er die Welt um eine
Anzahl der ohnehin ſchon Zahlreichen vermehrt hat, die den 8 175 ff. des
Neichsitrafgeiegbuches zu fürchten haben. Das wäre die fichere Frucht einer
in diefem Sinne geübten Kumnftpädagogif.
Nervojität und Kunſtgenuß. 107
Aber die Sache läßt doch aud eine andere Betrachtung zu. Jeder
Kunſtgenuß ſetzt ſich, auch rein ſinnlich betrachtet, wieder noch aus zwei
Komponenten zufammen. Von denen ift die eine angeboren, die inftinktive
äfthetifche nämlich, und ihre Grenzen vermag unſer Zuthun überhaupt nur
jehr wenig zu verrüden; von den drei hier vorliegenden Möglichkeiten wird
am Eheften noc die zutrefien, dat der Geſchmack verdorben wird. Weniger
ſchon ijt feine VBerfümmerung zu fürchten und faum fann er überhaupt ges
fteigert werden. Die andere Komponente aber will erlernt fein, jie verlangt
Schulung; es ift die technische Ausbildung unferer Sinne. Das Vermögen,
zu hören, zu fchauen. Und diefe Schulung follte wohl die eigentliche kunſt—
pädagogiiche Aufgabe fein; Kinder follen leſen, betrachten, hören lernen.
Für diefe Aufgabe fcheinen mir unübertroffen und unübertrefflich die
programmatifchen Leitfäge jich zu eignen, die Mar Liebermann in jeine
Anſprache bei der Eröffnung einer berliner Sezeflionausitellung eingeftreut
hat: „Kunst ift, was die großen SKünftler gemacht haben.“ Ein Sag, den
Liebermann dem Heiligen Auguftin entlehnte, kunftgefchichtlih und kunſt—
pſychologiſch ſo anfechtbar wie nur möglich, leicht aus allen Perioden der
Sunftentwidelung heraus. zu widerlegen; pädagogiſch aber und agitatorijch
von emimenter Treffiicherheit und dauerndem Werth. Durch ihn feheidet fich
die neue Kunſtpädagogik verföhnlich von der alten. Unfere Schulen haben
als Kunſt bisher weſentlich nur Kunſtgeſchichte getrieben. Kunſt war für
fie: wann die Künſtler — große, mittlere, Kleinere und ganz fleine — ges
boren und gejtorben, vermählt und preisgefrönt oder verhungert waren; war
ein Haufe von technifchen Bezeichnungen für jogenannte Stile; war — am
Allerſchlimmſten! — oft nur ein Lobpreifen der Füriten, unter denen die
Kunſt gefördert oder doch wenigſtens — was auch ſchon Etwas ift — ges
duldet wurde. Das Alles hat gewiß auch fein Feffelndes, aber es fommt
doc zulegt in Betradht; und wenn die Kinder nicht gerade Kunithiftorifer
werden jollen, ijt e3 gut, wenn lie es, Gott ſei Dank, bald wieder vergejien.
Dafür fordern wir, daß die Schule von heute dem Kinde vor Allem die
noihdürftigiten techniſchen Fertigkeiten beibringe, ohne die auch der ſtärkſte
äfthetifche Inftinkt jedem Kunſtwerk gegenüber hilflos bleibt. Nur dann wird
ihm fpäter aufgehen fünnen, „was die großen Künstler gemacht haben.“ Auf
dem „gemacht“ Liege der Ton. Denn auf die Rolle, etwa über die Künſtler—
größe zu entjcheiden, wollen wir die Kinder lieber nicht vorbereiten.
Jedes gefunde Kind hat an der einfachen Farbe ſchlechthin ein ſolches
Wohlgefallen, dag man ihm gar nichts Schöneres bereiten kann, als es mit
diefem Subſtrat der Malerei zu bejchäftigen. Seine Empfindlichkeit für
Unterfchiede muß geſchärft, ſein Kontraſt- und Komplenentärgefühl geftärkt
werden. Und vor Allem jenes höchſte Problen, das exit von den Pleingiriſten
7
„rl *
108 Die Zukunft.
uns deutlich zum Bewußtſein gebracht worden ift: das Verhältniß zwiſchen
Farbe und Form, zwifchen Farbengrenze und Kontur, die Wirklichkeit oder
Unmirflichfeit der Linie. Ich vermag nur anzubeuten, denn nicht über die
technische Ausgeftaltung, fondern über den neurologifhen Werth diefes Unter-
richtes will ich Einiges beibringen. Und da denke ich befonderd an Eins:
laßt die Kinder das Alles dort nachentdeden, wo die Meifter aller Zeiten es
entdedt haben. Plein air! Hinaus ins Freie!
Tafeln zur Erziehung des Farbenfinnes, Stidwolle, Spektraltafeln:
Das find gewiß fchöne und gutgemeinte Sachen. Aber die Beichäftigung
mit ihnen hält einen der grimmigften Feinde unferer Nervengefundheit in
beitändiger Thätigfeit: die Altomodation des Auges. Sehen wir bier ganz
von der anderen Folge diefer Anftrengung, der zunehmenden Kurzſichtigkeit,
ab, jo giebt es doc faum noch eine Art der Ermüdung, die jo unerquidlic,
jo mißbehaglich wäre wie die durch fortwährendes Nahfehen erzeugte. Draußen
im Freien aber ruht das Auge: und gerade wo es die köſtlichſten Farben—
wunder jtudiren kann, in den entfernteren Streden der Landſchaft, am Horizont,
da hat es die jicherfte Ruhe. Es fei denn, daß Gligern oder allzu jtarfes
Sonnenliht im Spiele wären; ſonſt ruht e8 im fattejten Grün, im tiefften
Dlau, im glühendften Roth. Ein Nervenleidender erzählte mir einft, im
Stodsburg fei er gejund geworden: das Blau des dänischen Sunds habe
feine Nerven geheilt. Und warum follten wir zu kläglichen Surrogaten von
Menjchenhand greifen, die nicht entfernt den Nuancenreichthum auch der
ſchlichteſten Wiefen- oder Haidelandfchaft erreichen? Die Maler haben auf
die Akademien gepfiffen, Barbizon und Worpswede find zwei große Stationen
auf dem Wege zur Entdefung der Natur; follten wir unfere Kinder in der
Stube zum Farbenfehen erziehen? Und mit den Formen ift e8 nicht anders.
An einer einzigen märkiſchen Kiefer ift mehr Stil und Linie zu fehen als
an hundert Ornamenten. Von der Fichte, der Birke gilt das Selbe. Da
draußen werden die Kinder fpielend lernen; in der Schulftube widermillig.
Und wenn fie alle Farben zufammengepantfcht haben und alle Stapitelle,
Sanellivungen und Bogenformen auswendig fünnen: dann werden fie noch
etwas mehr faput, noch etwas jtärfer überbürdet, noch etwas voller mit
Halbbildung geitopft fein als heute; durch die Natur werden fie blind wandern
und vor Dem, was die großen Künftler gemacht haben, werden fie hochmüthig
jpötteln: „So was giebtS nicht“; und dem blöden Schlagwort, da8 gerade
Mode ift, rettunglos verfallen. Und fehr viel Nervofität, jehr wenig Kunit=
genug würde jolcher äfthetifchen Stubenerziehung Folge fein.
Unfer Klima bannt uns fchon lange genug ind Zimmer, Wie fol
nun bier fortgejegt werden, was draußen begonnen wurde, wie jollen die
Gegenstände unferer Umgebung dem bewußten Schauen unterworfen werden?
Nervofität und Kunſtgenuß. 109
Die wichtige Frage, wie die Nutzkunſt zum Kinde ſich ſtellen müſſe, rollt
ih auf. Seit Darmſtadt iſt die Frage jo brennend, daß Keiner mehr um
ſie herumfommt. Die Arbeit der Ban de Velde, Ehriftianfen, Olbrich, Edmann :
unfere Wohnung der Geſchmackloſigkeit zu entreigen, ift gewiß eine große und
verdienftliche. Aber es ift doch nicht zu verfennen, daß diefe „Heimkünftler“
weit übers Ziel hinausſchießen. Ich laſſe alles Wefthetifche bei Seite und
rede immer nur vom Gejundheitlichen. Dat Palaftfenfter und Flügelthür
in unferen Zonen unhygieniſch jind, daß das einthürige Zimmer mit dem
breiten, dreigliedrigen Fenfter das Natürlichere und Gefündere ift, verfteht
ich. Auch gegen Olbrichs ſchmale Treppen wird ſich nicht? Exrnftliches jagen -
laffen. Mit der förperlichen Gefundheitpflege lebt die moderne Zimmer:
funft in gutem Einvernehmen. Aber auch mit der nervös-feelifhen? Wir
. haben Stuben, um in ihnen zu jchlafen, zu efjen, zu arbeiten. Fürs Schlaf:
und Efzimmer fei immerhin Stilfchönheit geftattet. Aber das Arbeit:, das
Wohn, das Kinderzimmer? Ich denke, die follten möglichſt indifferent fein.
Nicht jo geſchmackwidrig wie bisher, aber auch möglichſt ohne abfichtliche
Stimmung. Denn diefe ewige Stimmung fällt fchwer auf die Nerven.
Ja, in unferer Zeit kann ich mir gar fein bedenflicheres Unternehmen denken
als das, dem Menfchen nocd während feiner Arbeit mit Stimmung zu
fommen. Entweder wird vollends damit fein Gehirn ruinirt oder man löft
die zunächſt gejunde, aber für die Kunſt fehr folgenfchwere Reaktion aus:
er wird ärgerlich und gegen Alles, was an Stimmung erinnert, gleichgiltig.
Unfer Leben ift doch zu zwei Dritteln ehrliche Profa, aus der feine Macht
der Welt je Poeſie machen wird. Nehmt der Kunſt ihre außergewöhnliche,
ihre Stontraftjtelung, — und Ihr nehmt fie uns bald ganz. Das gilt aber
vom Kinde doppelt und dreifach, denn das Kind lebt-in und von Stontraiten.
Alles, was es dauernd bejigt, wird ihm langweilig, gleichgiltig. Und wenn
wir Das erjt erreicht haben, fünnen wir die äfthetiiche Kultur, von der wir
fo viel reden, ganz und gar zu Grabe tragen. Es iſt mindeſtens nuglos,
die Kinderſtube zu äſthetiſiren. Und es könnte wirklich auch recht ſchädlich
werden. Suggeftiblen Kindern fünnte das Schöne, auf das ſie ohne Unterlaß
geftogen werden, zur firen dee ſich auswachſen. Denn bei der bloßen
Technik des Sehens kann man es im Zimmer nicht bewenden lajien. Im
Freien feſſelt das Kind fo ziemlich Alles, in feiner Stube jo gut wie nichts.
E53 würde doch nur auf Tafeln zur Erziehung des Sinns für Farben und
Mufter, kurz, auf Drill ftatt auf Freude hinauslaufen. Wer es wagt, dem
Kinde damit die Spielftunden zu verfünmern, mag die Verantwortung für
das junge Nervenjyitem mit auf jich nehmen. Zweierlei wird er erreichen
können: er verleidet dem Kinde das Betrachten, weil er es zwingt, Gleich—
giltiges zu muftern; oder er fonzentrirt den Eindlichen Sinn auf eine einzige
5
110 Die Zukunft.
Neigung und fchädigt damit Nerven und Eeele, die Zerjtreuung brauchen
Denn Flatterhaftigkeit, Unachtſamkeit find jichere Eymptome des gefunden
findlichen Organismus.
Dagegen plaidire id mit Wärme für die Galerie. Nur jcheint mir,
daß dieſer Fortjegung des in der Natur Begonnenen verhältnißmäßig wenig
praftijche Bedeutung zufomnt. Es find ja nur ein paar Grofftädte, die da
mitzählen. Denn Reproduftionen, Kupferftiche, Holzfchnitte oder Fhotographien,
bereiten in ihrer Farblojigfeit doc ganz andere Schwierigfeiten als Driginal-
gemälde. Aber Schwierigkeiten find Angelegenheit des Xehrers, nicht des
Nervenarzted. Das Anſchauen der graphiichen Kunſtwerke zu lehren, ift
wohl de3 Schweißes der Edlen werth. Und wir Deutjchen find fo glüdfich,
Meifter der graphiichen Künfte zu beligen, die jedem Etwas zu fagen haben,
die nicht blos dem raffinirten Feinſchmederthum entgegenfommen. Bon
Dürer bis Klinger. Neurologifch ift bei ſolchem Unterricht wenig zu ris-
firen. Iſt der Lehrer ungeeignet, fo werden die Kinder fchlafen. Das ift
ja ihr ‚göttliches Vorrecht. Ganz anders freilih in der Galerie. Hier ilt
die Auswahl der Gemälde von entfcheidender Bedeutung. Und die Urt des
Lehrerd dazu. Denn verfteht Der feine Sache nicht, nämlich, die Kinder
ans Bild zu fejleln, fo werden fie die Zeit benugen, um andere Gemälde
anzufehen: Verhängen kann man doch nicht alle. Aber Oppenheim denkt
ja an einen ganz anderen Galeriebeſuch: die Kinder mit den Eltern, auf
der Reife etwa. Neifen ift füc die kindliche Piyche an fih Gift. Die taufend
rafch vorbeieilenden Eindrüde machen das Kind oberflächlich, die Gefpräche
und Urtheile im Eifenbahnwagen geben den Reft dazu. Uber die Jagd durch
die Galerien grenzt an Mord. Totmüde und in den geheimften, verbotenen
Winkeln der Seele gefigelt, fommen die Aermiten heraus. Ich ſah in
Dresden Eltern ihren elfjährigen Knaben in der Galerie fuchen; er hatte
fich von ihnen verloren. Kurz danach fanden fie ihn vor Makarts „Sommer“.
Eine fchöne, ftille Ede befanntlih. Seit einer halben Stunde war er dort...
Sol ein vorzeitiger Eindrud ift oft genug für die Wendung der eben ſich
regenden Geichlechtsahnungen zum Allerſchlimmſten entjcheidend geworden.
Und laßt felbjt die Nerven eine folche Klippe glücklich pafiiren: die Seele
trägt immer Schaden daran. Um fo ficherer, je aufgewedter das Kind ift.
Dann merkt es ſich allerhand Namen und Eindrüde, redet Schon über Alles
klug, kennt Alles, — kurz, ift blafirt. Kein Blaſirter aber heutzutage, der nicht
der Neurafthenie verfallen wäre. Da kann man mit Oppenheim nur radikal
fein: fort aus der Galerie. Ich wage, die Polizei anzurufen: Verbietet den
Kındern die Galerien. In unferer fozialen Zeit follte Keiner ſich einbilden,
ein Recht auf Krankheit zu haben.
Bisher war nur immer vom Schauen die Nede; und in der That, vom
Nervofität und Kunftgenuf. 111
Hören ift viel weniger zu fagen, denn das Ohr ift minder bildungfähig als
das Auge. ch Halte den Gefangsunterricht von heute im Allgemeinen für
ausreichend und eine allzu fubtile Erziehung zur Muſik für gefährlich. Als
Damm dagegen möchte ich dem Lehrer ein Recht gegeben fehen: den häus—
lichen Muſikunterricht allen muſikaliſch nicht befonders Begabten zu unter-
jagen. Die Eltern find leider in dem Punkt die unvernünftigften Quäler
der Kinder und die thörichten Plünderer des eigenen Geldbeutels. Wie
viele gute Holzfchnitte gäbe es für diefe unnügen Mufikftundengelder! Wie
viele gute Bücher, — Freunde fürd Leben! Um den Preis für einen Flügel
hätte man faft eined jungen Malers Driginal! Und gefunde Kinder. Denn
die Klavierſeuche fchädigt die Nervenfyiteme unheilbar.
Das Prinzip bleibt hier wie da: nicht zu äfthetijiren, nicht das Kind
gewaltfam zum Gefühl für Schönheit aufzurütteln, jondern die Sinne zu
entwideln, möglichft. unter dem Lachen der naiven, kindlichen Fröhlichkeit.
Das äfthetifhe Erwachen muR, wenn e8 kommt, Etwas vorfinden, an das
fich die neu hervorbrechenden Gefühle fofort Hammern fünnen. Sonft fehren
ſie jih unfehlbar nad innen. Nun wollte ich nicht etwa einer Moderichtung
das Wort reden, die dem Knaben insbefondere gefchledhtliche Kämpfe mit
fich felbjt bi8 zur Zerquälung zumuthet, um „rein“ zu bleiben — nebenbei
gefagt: das gejunde Weib hält nicht einmal viel von folcher Neinheit des
Mannes —, auch nicht einer anderen, die ohne Kampf dem erwachenden
Trieb fofort Befriedigung ſichern möchte: in geſchlechtlichen Kämp en erwächſt
ein gutes Stück fräftiger Perjönlichkeit. Aber fie müſſen auf Dinge der
Welt gerichtet fein und nicht im ftillen Zimmer nur auf das eigene ch.
Sie fo zu dirigiren, fol die Erziehung zum Schauen, die ich jchilderte, mit—
helfen. Sie foll, wenn man es jo nennen darf, das Nervenfyiten trainiren
für diefe fchweren Fahren der Pubertät. Wie Viele dann der Kunſt treu
bleiben, it eine andere Frage. Uns ift e8 genug, wenn die Getreuen auch
gefund dabei bleiben. Ob der alte Fontane Recht hat, wenn er meinte: die
Kunft fei für die Wenigjten und es würden ihrer immer weniger, oder jene
Dptimiften, die von äfthetifcher Erziehung der Millionen träumen, von der
großen äfthetijchen Kultur: Das ift nicht die Frage, die ung fümmert; deito
mehr die andere, ob wir eine äjthetifche Kultur mi der fozialen Gefundheit
zu erfaufen genöthigt und berechtigt find.
Was an neuropathiichen Wirkungen der rein finnlichen Subftrate der
Kunft denkbar it, wirkt durchs feruelle Medium der Pubertät hindurd).
Taufend Rathichläge werden täglich ertheilt, wie die Findliche Seele durd) die
Klippen diefer Jahre zu fteuern fei; man redet da der rüdjichtlofen Ente
fchleierung aller gefchlechtlichen Dinge eben fo oft das Wort wie der ftrengiten
Verhüllung. Mir fcheint aber durch alle Serualpädagogif doc ein rother
8*
112 Die Zukunft.
Faden fich zu winden: das Streben, den Gefchlechtsgenuß im weiteiten Sinn
nicht gefhmadlos und nicht gedanlenlos werden zu laſſen. Im diefer Rich—
tung bewegt fi) Alles, was auf diefem Boden überhaupt diskutabel ift.
Denn e8 wird faft noch mehr Undisfutables geſchwatzt. Und ich meine, dar
hier Gedanfen- und Gefchmadlofigfeit gar eng zufammenhängen. Man wird
die eine nicht ohme die andere, die fchlimmen Folgen der einen nicht ohne
die der anderen erörtern Fönnen. Sie fliegen vor Allem auch in einander
inn Genuß der Kunſtgattung, deren Subftrat das Glück oder Unglüd hat,
von vorn herein auch immer einen Gedanken auszudrüden: der Dichtung.
Bei ihr wird das finnliche Problem des Kunftgenuffes vom intellektuelle
untrennbar. Und davon wäre alſo noch beſonders zu reden.
Heidelberg. Dr. ®illy Hellpad.
Fr
Wiener Theater.
a.
Sr ift noch gar nicht lange ber, da war der Glaube verbreitet, die your:
naliſtik bedürfe feiner Vorbildung. Wenn Einer mit fi nichts Rechtes
anzufangen wußte, aber zu Allem Talent zu haben glaubte, ging er zur „Zeitung“.
Diefe Bohemesfournaliften fterben aus. Heute ift man längft zu der Erkennt:
niß gefommen, daß man eine bejondere Schulung und Kenntniſſe aller Art
braucht, um ein brauchbarer Journaliſt zu werden. An den Hochſchulen werden
Kollegien über Journaliſtik und Kritik gehalten” und da und dort find auch jchon
die Verfuche gemacht worden, eigene Journaliſtenſchulen zu gründen. Es find
allerdings nur Verſuche, aber fie gehen von der richtigen Annahme aus, daß
man Journaliſt nur dann werden ſoll, wenn man es fann, nicht nur, wenn
man es will. Mit den Theaterdireftoren geht es uns aber heute nod jo wie
der früheren Generation mit den Journaliſten. Wer mit dem Theater zu thun
gehabt hat, ſei es nun als Schaufpieler oder als Stritifer, glaubt ſich zum
Theaterlenfer berufen. Gewiß kommt es vor, daß Einer, der fich berufen fühlt,
auch wirklich berufen ijt; aber in den meiſten Fällen war der Glaube an ſich
jelbjt ein böjer Jrrthum. Zur Theaterdireftion gehören alle möglichen Eigen-
ſchaften: ein unbeirrbares Urtheil, Negietalent, tüchtige faufmännijche Bildung,
Energie, Phantajie, Rückſichtloſigkeit, diplomatiſche Kunſt, ſchauſpieleriſche Fähig—
keiten und noch vieles Andere mehr. Nur die richtige Miſchung giebt den rich—
tigen Mann. Dieſer richtige Mann wird die wundervolle Gabe haben, kraft
ſeiner Phantaſie ein Stück beim Leſen jo zu beurtheilen, als ſähe er es von
ſeinen Schauſpielern, auf jeiner Bühne, vor feinem Publikum geſpielt. Er wird
diejes Stüd auch jelbjt injzeniren oder mindeitens die Anfzenirungarbeit des
Wiener Theater. 113
Regiſſeurs beurtheilen fönnen. Er wird im Stande jein, einem Scaujpieler,
der Etwas jchlecht macht, zu jagen, warum es ſchlecht ift, und er wird ihm eine
Andeutung davon geben, wie er, der Direktor, die Sache meint und anfgefaßt
wiſſen will. Er wird mit dem Dichter Aenderungen und Kürzungen vornehmen
und durch jeine dramaturgiihe Thätigkeit gefährdete Stüde retten. Daß er
die Energie haben muß, jeine Kunftanfchauung durdzufeßen, verjteht ſich von
jelbft. Beim Theater giebt es nur eine Regirungform: die Tyrammis.
Warum ich das Alles einem wiener Theaterbrief vorausihide? Weil
der Mangel an guten Direktoren in feiner Theateritadt jo fühlbar ift wie in
Wien. Fraft überall figen Dilettanten auf den Thronen, Leute, die ihre Bühnen
gehen lafjen, wie alle möglichen Winde es eben wollen, und denen der Zufall,
nicht ihre Einficht die Erfolge beſchert. Sie haben Glück oder Unglüd; aber
die Kraft, das Glück zu zwingen, haben jie nicht. Und dieje Kraft ift beim
Theater nidyt nur möglich, jondern nothwendig. Ein gut gezugenes und erjogenes
Bublitum, das der Direktor feit in der Hand hat, wird ihn aud einen Durch—
fall oder ein mageres Novitätenjahr nicht entgelten lajjen. Ein Publikum, mit
dem der Direktor nicht in feſter Fühlung fteht, mit dem ihn feine geiftigen
Bande verknüpfen, tit unverläßlich und treulos. Dat ein Direktor genug gute
Eigenſchaften, jo ſchaden ihm aud) ein paar jchlechte nicht. Die beiten Direktoren
der deutihen Bühne hatten recht jchlimme Eigenjchaften. Wenn man willen
will, wie ein wirklicher Direktor ausficht, braucht man nur die Thätigkeit Mahlers
bei der wiener Dofoper zu verfolgen. Auch an Mahler ift Manches auszuſetzen;
aber er hat verjtanden, die Oper in den Mittelpunft des fünftleriichen Intereſſes
zu rüden, jeine Perjönlichkeit fenntlich zu machen, das Publifum energijch bei
der Hand zu fallen.
Seit ih Ihnen zulegt einen wiener Theaterbrief jchrieb, haben jich die
Dinge bei uns gründlich geäudert. Das Burgtheater macht glänzende Seichäfte,
das Volkstheater ijt längjt von der Höhe jeines Glückes herabgeglitten. Herr
Dr. Schlenther hat in den „Jahren jeiner Direktion, nachdem er Fehler über
Fehler, Unfinn über Unſinn gemacht, nachdem er unmögliche Schaufpieler engagirt,
bei der Annahme und Ablehnung von Stüden die unjiherite Hand bewieien
hat, offenbar eingejehen, daß er nicht die Fähigkeit bejist, ein jelbjtändiger, eigen-
artiger Direktor zu jein. Uber er iſt Elug; namentlich ſchlau. Gr wagt ſich
nicht mehr ins offene Meer hinaus, jondern lavirt geſchickt an wohlbefannten
Küften entlang. Gr hört auf verjtändige Männer und läßt ſich fihere Sadıen,
die „draußen im Reich” ihre Schuldigkeit gethan haben, micht entgehen; von
allen direftorialen Künjten hat er die Diplomatentunft am Schnelliten erlernt.
Mit der „Zwillingsſchweſter“, „see Kaprice*, „Es lebe das Yeben!“ füllte er
die Häufer und die „Rothe Robe“ that auch in dieſem ‚Jahr noch ihre Schuldig
feit. Aber auch Neues bradte vr, Funkelnagelnenes: drei Stüde von höchſt
verjhiedenem Werth: den „Schatten“ von Marie Delle Grazie, den „Apoſtel“
von Bahr und Shafejpeares „Iroilus und Creſſida“ in Gelbers Bearbeitung.
Die Aufführung von „Iroilus und Creſſida““ war jeit vielen, vielen
Jahren die erjte wirkliche Ihat des WBurgtheaters. Ein Stück Shaleipeares
ift der Bühne wiedergewonnen, nein: neu gewonnen worden. Es hat die wider:
iprechendften und wunderlichiten Beurteilungen und Deutungen erfahren. Die
Einen hielten und halten es für eine Parodie, für einen grotesten Scherz, für eine
114 Die Zukunft.
Berhöhnung der trojanijchen Helden, fajt für eine Vorahnung Offenbachs. Die
Anderen jehen darin ein gemwaltiges Trauerjpiel voll heiligen Ernftes. Yu diejen
Auslegern gehört aud; Adolf Gelber, der mit höchſter Begeifterung, mit einem
wahren literariſchen Furor ſeit Jahr und Tag für die Aufführung dieſes Dramas
[hwärmt und fämpft. Man kann nicht jcharffinniger, aber auch nicht jpißfindiger
feine Anfichten — oft gegen den Dichter ſelbſt — vertheidigen und durchzuſetzen
fuchen, als es Gelber that. Er hat gefürzt und zufammengezogen, einen neuen
Schluß gedichtet (er läßt Troilus fterben), er hat die Stellen, die feinem Bilde
von den Helden nicht entipradhen, gejtrihen, — Alles nur, um Harmonie in
das Ganze zu bringen. Aber ein harmoniſches Stüd -zu jchreiben, lag in diejem
Fall durhaus nicht in Shakeſpeares Abjicht, der die Menſchen und die Welt,
die Liebe und den Ruhm nie jo verachtet hat wie in der Zeit, da er „Troilus
und Creſſida“ jchrieb. Um eines Weibes willen kämpfen und bluten zwei Bölfer
Jahre lang. Was aber ift ein Weib werth? An der Parallelhandlung Erejjida
wird es gezeigt. Schwachheit: Dein Name ift Weib! Aber Schwacdheit iſt
nur eine freundliche Umjchreibung für ITreulofigkeit. Mit grimmigerem Hohn
ward nie über das Weib der Stab gebroden. Und die großen griechijchen
Helden, die hochberühmten! Wenn man fie näher betrachtet: wel ein elendes
Pal! Bon fern gefehen, mag der Krieg etwas Heroiſches an fich haben. In
der Nähe jieht man die Betrügereien, die Roheit, den Meucelmord, die Gemein:
beit am Werl. Wer das Leben aus der Nähe betrachtet, ficht das Grotesfe
und das Traurige, die Komik und die Tragif hart an einander grenzen und der
wahre Realiſt wird das Leben nur tragifomiich jchildern können. Shakeſpeare
ſchrieb ein realiſtiſches Stüd und nahm fid einen Stoff, den wir gewohnt find,
idealiftiich verflärt zu fehen. Daher unſer Befremden. Troilus ijt ein Stüd
voll Disjonanzen, voll der widerſprechendſten Stimmungen und gerade in feiner
Disharmonie liegt feine Lebenswahrheit und feine Stärfe. Es iſt nicht bloßer
Zufall, daß gerade jegt diejes Stüd auf die Bühne ftrebt. Wir find in der
Muſik und in anderen Künſten für die Mefthetif der Disharmonie reif geworden
und fangen an, zu begreifen, daß die Tragifomoedie das Stüd der Zukunft ift.
Unfere Dichter ſuchen die neue Form. Und da kommt nun Shafejpeares Stüd
zur rechten Zeit als leuchtendes Beiſpiel. Es wird Einfluß üben, vielleicht unjerer
dramatiichen Kunſt, die zu ftagniren droht, neues Gefälle bereiten. So iſt die
Aufführung von „Troilus und Grejjida‘ am Burgtheater fein bloßes lofales
Ereigniß, fordern eine That von literarhiftorifcher Bedeutung. Bei der Auf-
führung wurde Gelbers Bearbeitung zu Gunften Shafejpeares ftarf modifizirt.
Schlenther hat viele Striche wieder aufgemacht und ein Fluges Kompromiß zwilchen
der Urform und der Bearbeitung bergeftellt, jo daß der tragikomiſche Charakter
zur Geltung kam, ohne unfer Gefühl durch allzu heftige Sprünge zu beleidigen.
Der Erfolg der vier eriten Akte war außerordentlid. Der leßte wirkte aller-
dings nicht. Aber ich bin überzeugt dat auch er feine Schuldigfeit thun würde,
wenn man, ftatt fommentatorijch zu ftreichen oder hinzuzufügen, einfach bie
Urform wiederherftellt und dem Baar Pandarus-Troilus die das Stüd beginnen,
auch die Schlußworte läßt.
Im Vorwort zu jeiner Bearbeitung ſpricht Gelber jehr kluge Worte über
die Mafien auf der Bühne. Weit mehr Mafjenftüd als „Troilus und Erejfida‘‘
war aber Hermann Bahrs „Apoſtel“, mit dem Schlenthers alter Eritiicher Feind
Wiener Theater. 115
feinen Einzug ins Burgtheater hielt. Es war durchaus nicht der Einzug eines
Siegerd. Bahr wollte für einen Schaujpieler — für den von ihm glühend ver-
ehrten Novelli — eine Bombenrolle jchreiben; jo entjtand fein Stüd. Es war
als Tragifomoedie gedacht, denn der Dichter Hatte die Abficht, den Helden, den
Apoſtel, den jhwärmerijchen Verkünder und Verfechter der dunfeljten politijchen
Phrajen, den wohlgemuth auf allen Gemeinplägen der Menjchenliebe und Brüder-
licheit grajenden Staatshengjt jatiriich zu beleuchten, mit überlegenen Humor
dem Gelächter preiszugeben. Nie aber ijt eine Abficht ſchmählicher mißlungen.
Man nahm den Upoftel leider ernft, — und lachte ihn aus. Und als dann
jpäter Bahr verficherte und durch Geſpräche mit Freunden, die es bezeugten,
erhärtete, das Ganze fei nur jatirich gemeint gewejen, fonnte, wer das Stüd
nachprüfte, beim beften Willen nur darüber ftaunen, daß ein Dichter fich über
feine Fähigkeiten jo täuſchen kann. Weder die gänzlich mißlungene Figur des
Apoſtels noch) die fadenjcheinige Handlung, eineungejchicdte Bariation über das Nora—
Motiv, nod) der haftige, unintereffante, faloppe Dialog vermochten zu fnterejjiren.
Wohl aber interejfirte der zweite Akt, der ein Parlament in voller Thätigfeit
zeigt. Diefer Alt bot der Regiekunſt Ihimigs Gelegenheit, alle Regiſter zu
ziehen, und war ein Meifterftücd der Mafjenbewegung. Um diejes Aktes willen
ging man ins Theater. Schade, daß Bahr mit diefem lächerlichen und elenden
Stüd und nit mit feinem „Krampus‘ im Burgtheater zu Worte fam. Wie
ich den „Apoftel‘’ für das jchlechtefte Stück Bahrs halte, jo den Krampus“
für fein bejtes. Ueber Mangel an Handlung, über Kurzathmigkeit des Stoffes
bei aller Breite der Ausführung hilft die Liebenswürdigfeit hinweg, mit der
Menihen, Zeit und Milieu gejchildert find. Das ift das echte Burgtheaterjtüd,
das vielleicht nur auf dem Burgtheater Erfolg haben könnte. Mußte Schlenther
aber juſt Bahrs jchlimmftes Produkt zur Aufführung annehmen?
Auch Marie Eugenie Delle Grazie wollte mehr und Anderes in ihrem
„Schatten“ geben, als ihr zu verförpern gelang. Wie ein Schatten huſchte das
Drama über die Bühne und man erweift der Dichterin, Oeſterreichs größter
Epikerin, feinen Gefallen, wenn man auf das dunkle, unklare, im Gedanfen-
chaos jteden gebliebene Stüd noch zurüdfommt. Wie ein unangenehmer Traum
lajtet es in der Erinnerung. Stein Bernünftiger wird Sclenther einen Vor:
wurf daraus machen, daß er diejes Stüd, dejjen geringe "Bühnenlebensfähig-
feit jelbjt ihm von vorn herein klar jein mußte, aufführte. Es war einfad)
jeine Pflicht, denn Fyräulein Delle Grazie hat unter allen Umſtänden das Necht,
gehört zu werden. Uber man fragt fich verwundert, warum Schlenther diejes
Recht ihr zugeiteht und Schnigler entzieht. So gut wie den „Schatten“ hätte
er aud den „Schleier der Beatrice” aufführen können, aufführen müſſen.
Das Deutſche Volkstheater ift in fchwieriger Lage. Sein Etat ijt außer-
ordentlich hoch, und da es ein Privattheater it, muß es an Verdienſt denfen.
Darin liegt gewiß fein Vorwurf. WBormwerfen könnte man der Bühne nur die
furchtbaren Laſten, die fie fich aufgeladen hat und die fie num zwingen, den Er:
folgen um jeden Preis nachzujagen. Das Repertoire ift jo buntjichedig wie
möglid. Nun ift gar der verjchämte Verjuch gemacht worden (mit Buchbinder-
Weinbergers „Spaß ‘), der Operette Zutritt zu gönnen. Aber diejes Kofettiren
mit allen Stilen und Gattungen verdirbt Schaufpieler und Publitum. Dabei
haben die Berather des Direktors Bukovies eine merkwürdig unglüdliche Hand.
116 Die Zukunft.
Vor zwei Jahren wurde der „Brobefandidat” zurüdgewiejen und in diefem Jahr
ließ man fich das „Große Licht“ entgehen. Fern fei es von mir, für den Probe-
fandidaten oder gar für das „Große Yicht“ eine Lanze einzulegen. Aber bier handelt
es ſich um ein Gejchäftstheater, das ſolche Kaſſenſtücke im eigenjten Intereſſe
nicht zurüdweifen darf. Yiterariiche Bedenken können nicht in Betracht gefommen
jein, da das Volkstheater Stüde, die noch tief unter dem Niveau des Herrn
Philippi jtehen, wie „Das Ewig-Weibliche* des Herrn Mich, unbedenklich und
mit größtem Vergnügen annimmt und fpielt. Einzelne intereffante Stüde,
Saltens „Der Gemeine‘, Kranewitters „Andre Dofer“, Ludafjys „Goldener
Boden‘, wurden dem Theater von der Cenſur verboten. So bleibt denn von
Stüden, die den Berlinern unbekannt find, nichts übrig als der „Neue Simon“
von Karlweis. Ueber diefen Dichter werden wir — id) meine Wien und Berlin —
uns faum verftändigen. Seine liebenswürdige Satire, jein gutmüthiger Spott,
die herzliche Vertraulichkeit, mit der er zu jeinem Publikum ſprach, kurz, Alles,
was ihm in Wien Freundichaft und Yicbe eintrug, verjagt in Berlin. Ein
wigiger deutjcher Theatermann jagte einjt, Karlweis' dramatiſche Laufbahn ende
bei Bodenbach. Wien aber trauerte ehrlich am Grab dieſes Dichters.
Beſonders jchlimm tft, dab im Wolkstheater die nervöſe Unruhe des Re—
pertoires das Enjemble lodert und das Publikum verdirbt. ch bin nämlich
überzeugt davon, dab ein Direktor mit ausgeprägter Phyſiognomie, mit be-
ſtimmtem Geſchmack und mit der nöthigen Willenskraft, diefen Geſchmack in
TIhaten umzufegen, fein ungeberdiges und unverläßliches Publikum in jeinem
Daufe hätte. Dem Direktor gehts jchließlich wie einem Dichter. Er arbeitet
für das Bublitum, aber er verliert jofort Halt und Richtung, wenn er, auf die
wirren Aeußerungen von da draußen hinhorchend, ein treuer Diener diejes lau«
niſchen Herrn fein will. Das Publikum lädt ſich gern führen, wenn eine Per—
jönlichteit da ift, die zu ihm ſpricht. Wielleicht wäre Herr Narno an einem
großen Theater ein joldyer Direktor. Im Theater in der „\ojefitadt fann er jeine
Fähigkeiten nur von Zeit zu Zeit, wenn er jih den Yurus eines literariichen
Abends gejtattet, entfalten. An diefen literarischen Abenden bringt er inter:
eflante Werke ganz mujtergiltig heraus. Das werthvollite diefer Werke war
diesmal ein Volksſtück, „Franzla““ von Otto Fuchs-Talab, das in der Milien-
Ichilderung und Sharafteriftif, in jeinem £räftigen dramatiſchen Yeben von ſtarker
Begabung zeugte. Ein gewiller Hang des Verfaifers zu melodramatifchen Wirt-
ungen und die Leberfättigung des Publitums mit Elendftüden beeinträchtigten
den Erfolg. Jedenfalls aber zeigte Fuchs fih darin als einen Mann, mit dem
unfere Bühnen rechnen dürfen. Im Joſefſtädter Theater jahen wir aud) die
Matineen des Akademiſch-Dramatiſchen Vereines: Kleifts „Guiskard“, Werners
„Vierundzwaänzigſter Februar“, Goethes „Satyros“ und den „Herakles“ des
Euripides. Der Erfolg überftieg alle Erwartungen. Es ijt jehr Elug von den
Veranſtaltern, daß fie fich bei ihren Darbietungen auf Werfe beichränfen, die
jenfeits der QTagesfritif jtehen. Cine freie Bühne, die moderne Stüde auf-
führen wollte, wird in Wien durch die Genfur unmöglich gemacht. Leber unſere
Zuſtände und Verhältniiie, über Alles, was uns am Nächſten angeht, was uns
ins Fleiſch jchneidet, darf man auf unferen Bühnen weder lachen noch weinen.
Wien. Dr. Rudolf Lothar.
*
Der Fall Grimm. 117
Der Fall Grimm.
Poch immer bejchäftigt fich die Prefle, befonders die des Auslandes, mit
4 der fogenannten Landesverrathsaffaire des Oberftlieutenants® Grimm
und ſucht unter Enthüllung fenfationeller Einzelheiten das Laienpublitum
über daS Ilngeheuerliche des begangenen Verbrechens und über eine Reihe
wichtiger militärischer Maßnahmen aufzuklären und zu belehren. Das Merk—
würdigfte an diefen Veröffentlichungen iſt, daß fie felbft bei verftändigen Leuten
vollen Glauben finden, während doch auf der Hand liegt, daß über den wahren
Thatbeitand al diefer Dinge nur ein fehr enger Kreis von Eingemweihten
genau informirt und im der Lage fein fann, zuverläfjige Angaben zu machen.
Ich will den Kreis Derer, die in das Dunfel des begangenen Verrath3 ein-
zudringen verjuchen, nicht durch ein vergebliches Forſchen nach vermeintlicher
Wahrheit vergrößern, fondern mich darauf befchränfen, mit objeftiver Prüfung
an die bekannt gewordenen Ereignifje heranzutreten und namentlich den Werth
der „Feldzugspläne* fetzuftellen, die im Zuſammenhang mit der vorliegenden
Affaire auf Grund unzuverläffigen Material® über die Verwendung der
enfjtschen Armee im Falle eines Krieges gegen Dentichland und Dejterreich
in der deutfchen und franzöfichen Preſſe verbreitet worden jind.
Was Grimm thatjächlich verrathen und an wen er im Einzelnen feine
Dofumente weitergegeben und verkauft hat: darüber dürften authentifche Mit-
theilungen wohl ſchwerlich je in die Deffentlichfeit dringen. Aber die Schluß—
folgerung fcheint doc) berechtigt, nachdem die Verordnung des ruſſiſchen Kaiſers
über die Außerdienftitelung de3 Angellagten „unter Belaffung in den Liſten
der Linieninfanterie“ befannt geworden iſt, daß es fich bei jenem Verrath
nicht um jo ungeheuerliche Geheimniſſe gehandelt haben kann, wie ein Theil
der Preſſe ihre Lefer glauben machen will. So gewinnen denn aud) die
Auslafiungen des Generals Puzyrewski, der Grimms direlter Vorgefegter
und Generalftabschef des warjchauer Militärbezirfes war, mehr und mehr
an Wahrjcheinlichkeit. Diefer ansgezeichnete Generalftabsoffizier fagt, daß
Grimm bei der Art feiner Funktionen gar nicht in der Lage geweien fei,
die Mobilmachungpläne der Armeecorps des warfchauer Militärbezirfes oder
Dokumente über den ftrategijchen Aufmarſch der ruſſiſchen Armee an der
deutfch-öfterreichifchen Grenze zu fennen, gejchweige denn, Nie an eine fremde
Macht auszuliefern. Zugegeben wird nur, day dein Angeklagten in Folge
der Berichte, die er alljährlich über die materielle Lage der im warſchauer
Bezirk disfozirten Truppen auszuarbeiten hatte und die, weil jie dem Kaiſer
vorgelegt wurden, einer befonderen Sorgfalt und eingehender Sachkenntniß
bedurften, eine Reihe wichtiger Schriftitüde zur Verfügung geltanden haben,
aus denen Maßnahmen der Vertheidigung und fefrete Anordnungen inner—
118 Die Zukunft,
halb einzelner großer Grenzbefeftigungen für den Fall eines Eindringens
ein‘r deutſchen und öjterreichifchen Armee in Polen erfichtlih waren. Wenn
nun namentlich die polnische Preffe in Defterreich jih der ganzen Ungelegen-
heit noch heute befonder8 warm annimmt und faft täglich ihre Spalten der
nahgerade lächerlihen Mär öffnet, e8 ſei erwiefen, daß nur Deutjchland in
den Beiig der Geheimpapiere gefommen fei und daß die an der deutfchen
Grenze gegen Rußland getroffenen militärifchen Mafnahmen den rufjischen
Generalftab zuerft auf die Spur des Verräthers gebracht hätten, jo muß,
ohne auf Detail einzugehen, doch feitgeftellt werden, daß zuverläfiige Nach—
richten darüber vorliegen, der rufiische Militärbevollmächtigte in Wien, Oberft
Moronin, fei ed gewefen, der auf Grund auffälliger und wiederholter Truppen:
verfchiebungen im frafauer Militärbezirk zuerft Verdacht auf Preisgabe mili-
tärifcher Geheimniffe geſchöpft und feine Wahrnehmungen der vorgefegten
Behörde mitgetheilt habe. Die polnifche Preffe ift bei ihrem lauten Gefchrei
augenscheinlich berühmten Muftern gefolgt und hat verjucht, dad im Jahr
1894 in einem ähnlihen Fall verlorene Spiel wiederzugewinnen;. denn als
in jenem Jahre der in Kiſchenew garnifonirende Dberftlieutenant Gregoriew
Detail8 über den Aufmarfch rufjifcher Truppen an der Grenze der Bukowina
und an Galizien Grenze für 20000 Gulden an Vefterreich verrieth, ver-
ſuchte die felbe Preffe, von der hier die Rede ift, wenn auch vergeblich, die
Schuld auf Deutſchland abzuwälzen und es fogar verantwortlid zu machen
für die Störung gut nachbarlicher Beziehungen zwiſchen dem öſterreichiſch⸗
ungariſchen und dem ruſſiſchen Reich.
Hätte nun aber der Oberſtlieutenant Grimm wirklich Mobilmahung-
und Feltungpläne an eine fremde Macht auszuliefern vermocht: wäre damit
vom rein mititäriichen Standpunkt aus Rußland ein ſchwer wieder gut zu
machender Schade zugefügt und dem Staat, der die Papiere erhielt, ein
außergewöhnlicher Vortheil gefichert worden? Ich glaube, diefe Frage ver—
neinen zu müfjen, felbft auf die Gefahr Hin, mich mit vielen „Strategen“
in Widerfprucd zu fegen, die meinen, daß der Gewinn auf der Hand liege,
da „die Grundlinien des ftrategifchen Aufmarfches der ruſſiſchen Heerestheile
nicht mehr verſchoben werden könnten, jelbit wenn man die Mobilmadung-
pläne jest nach Aufdelung de8 Berrathes verändern wollte; denn Bahn:
linien, Feſtungen und Diglofation der Truppen ließen fih nicht unichtbar
- machen und müßten für alle Zeiten eine feititehende Baſis für die Operation:
pläne bilden“. Zunächſt kann ich diefen Sag, lediglich auf die ruſſiſchen
Verhältnifje angewandt, nur jür die Feitungen unterfchreiben. Der Verrath
von Feitungplänen ſchädigt in jedem Fall die Landesvertheidigung, da ſich
diefe Pläne nicht mit einem Federftrih, oft überhaupt nicht wefentlich
ändern laſſen. Erwähnen möchte ich dabei, daß, trogdem alfo der Macht,
Der Fall Grimm. 119
die die Pläne der großen Grenzfeftungen von Grimm erhielt, ein werth-
voller Dienft erwiefen worden ift, nicht nur neue und unbelannte Daten
verrathen wurden; denn viele wichtige Details waren ja längit befannt
und haben einer feindlichen Heeresleitung die Möglichkeit gegeben, ihre
Dispojitionen danach zu treffen. Um nur ein Beifpiel herauszugreifen: von
der Stärke der die Baſis der ruſſiſchen Landesvertheidigung bildenden
befeftigten Rinie Nowogeorgiewsk-Warſchau mit Segrſh-Iwangorod konnte
man ſich auch bisher ſchon eine ungefähre Vorſtellung machen, denn man
weiß, daß die äußerſte Grenze der Vertheidigung Warfchaus eine Ausdehnung
von 55 Kilometern hat, daß 5 Fort und 3 Zwifchenwerfe in einer Ent:
fernung von 21/, Kilometer von der Stadt deren Ummallung bilden und
dat dann auf weitere 5 Kilometer hinaus fih ein Gürtel von 16 Forts
und 5 Zwiſchenwerken um die Gentrale der ruſſiſchen Defenfivpofitionen
legt. Auch Nowogeorgiewsk, das, am Zufammenfluß von Bug-Narew und
Weichjel gelegen, für den Uferwechſel von der allergrößten Bedeutung ift
und deshalb auf dem rechten MWeichjelufer 3, auf dem linken 4 Fort3 vor:
geihoben hat, erreicht in feiner vorderjten Vertheidigunglinie einen Umfang
von annähernd 33 Kilometern. Iwangorod iſt die kleinſte Feſtung der er:
wähnten Vertheidigungbaiis; aber wenn auch der Fortsgürtel nur eine Aus:
dehnung von 19 Kilometern hat und im Ganzen nur 7 Forts zu beiden
Seiten der Weichſel den Schuß dieſes Plates bilden, fo ift doch feine Ber:
theidigung außerordentlich ftarf zu nennen, weil, namentlich auf der Weftfront,
ungangbares Gelände die Feftung umgiebt. Auch über Breſt-Litowsk, Bjeloftof
und Kowno, das, am Niemen gelegen, einen der ftärkjten und modernften
Stüßpunfte de3 nordweſtlichen Rußlands bildet, fehlt es nicht an Details
und felbft über das gegen Defterreich gerichtete Feſtungdreieck Ludsk-Dubno—
Rowno find mehrfach zutreffende Angaben in die Deffentlichfeit gedrungen.
Ganz ander8 liegen die Verhältniffe bei den ruſſiſchen Eifenbahnen,
die für den vorliegenden Fall zunächſt in Betracht fommen, und, im Zufammen-
bang damit, auch bei der Vertheilung der Truppen, auf die im SKriegsfall
für eine Mobilmahung und den Aufmarfch in erfter Linie zu rechnen ift.
Kein europäifcher Grofftaat ift zur Zeit mehr damit befchäftigt, fein Eifen-
bahnneg, bejonders für militärische Zwede, auszudehnen, als Rußland; und
wenn in der Preffe verbreitet wird, Deutfchland fei für einen Aufmarſch an
der rufliich-polnifchen Grenze mit 9 Haupteifenbahnlinien und zahlreichen
Duerbahnen den 3 bis 4 großen Bahnen Ruflands, die nach der Grenze
führen, erheblich überlegen und die ruffische Armeeleitung fei für lange Zeit
durch die geringe Zahl diefer Bahnen an die urfprünglichen Grundfäge ihres
ſtrategiſchen Aufmarſches gebunden, jo beweien die Mitarbeiter diefer Blätter
eine gefährliche Unfenntniß der thatjächlihen Verhältniffe und ein völliges
120 Die Zukunft.
Verfeniien der Gejammtjituation. Das Zarenreich verfügt zur Zeit über
fünf große, aus dem nern Rußlands kommende und die Truppen nad
Warſchau führende Bahnlinien, die mit ihren jechs Abzweigungen und Neben
gleifen unftreitig ein ganz bedeutendes Verkehrsnetz für militärifche Zwede
bilden und die ruſſiſche oberite Heeresleitung in die Lage verfegen werben,
weit fchneller mit größeren Maffen an den Grenzen zu erjcheinen, als es
in früheren Feldzügen möglid war. Dazu werden aud) die an die öfterreich-
galizifche Grenze durchgehenden drei Linien beitragen, die mit ihren weiten
Verzweigungen ein jorgfältig angelegtes Bahnſyſtem bilden. Nun begnügt
ſich aber, wie ich zuverläfiig weiß, die ruſſiſche Regirung nicht etwa mit den
vorgenannten Eifenbahnen, fondern baut im Gegentheil mit unermüdlichen
Eifer weiter, fo daß, mit Ausfchluß zweiter Gleife auf ſchon vorhandenen
Bahnen, zur Zeit die ungeheure Strede von 11000 Kilometern im Bau ilt.
Unter diefen Linien, die für unfere Betrachtungen von Werth find, ift vor
allen Dingen die von Warſchau über Lowitſch-Lodz nad Kaliſch Führende
Dahn zu nennen, die eine direkte Verbindung zwifchen der preußischen Grenze
und Warfchau heritellt und mit ſolchem Eifer gefördert wird, daß ihre Voll-
endung noch vor dem kontraktmäßigen Termin des Jahres 1903 zu erwarten
iſt. Welche militärische Wichtigkeit diefer Bahn auch in Rußland zu:
geichrieben wird, lehrt der Umftand, dak man ich entjchloffen hat, fie, im
Hinblick auf die Möglichkeit eines für Deutfchland erfolgreichen Krieges, mit
ruſſiſcher Spurweite zu bauen, trogdem die Warfchau: Wiener Bahn nebft
ihren beiden Zweiglinien Skherniewice » Alerandrowo und Koluszkis Lodz die
einzigen ruſſiſchen Bahnen mit wefteuropäifcher Spurweite find.
Von grofer Bedeutung für die Konzentration rufjischer Truppen an
der öfterreichifchen Grenze ift die 440 Kilometer lange Staatsbahn Kijew—
Soweit, die jchon zu Beginn des nächſten Jahres fertig fein fol und die
beſonders den nördlich des Azowſchen Meeres dislozirten Heerestheilen nügen
wird. Diefe Bahnlinie führt durch ſchwach bevölferte Gegenden, fo daß von
ihr für Handel und Verkehr wenig Vortheile zu erwarten find und der
jtrategifche Ziwed immer im Bordergrund bleiben wird.
Das legte Glied in den militäriichen Bahnprojeften Rußlands bildet
die in jüngiter Zeit vielgenannte Strede Bologoje-Siedlce. Es heißt, daß
diefe 1100 Kilometer lange Eiſenbahn, die eine Fortfegung der bereits vor:
handenen Linie Koſtroma-Rybinsk-Bologoje fein und zur Entlaftung der
beiden großen Bahnen Petersburg: Warfchau und Moskau: Warfchau dienen
joll, nicht nur mit franzöſiſchem Gelde, jondern angeblich auch auf dringendes
Betreiben des franzöſiſchen Generalſtabes gebaut wird.
Schon dieje Betrahtungen zeigen, daß Rußland mit feinem ftetig ſich
erweiternden Eiſenbahnnetz nicht nur leicht Truppenverfchtebungen innerhalb
Der Fall Grimm. F 121
wie außerhalb ſeiner Grenzgebiete vornehmen, ſondern auch Mobilmachung,
Aufmarſch und Verwendung der Armee nach ganz anderen Erwägungen als
bisher anordnen laſſen kann. Damit aber wäre den von Grimm etwa aus—
gelieferten Papieren diefer Art jeder Werth genommen.
In der Erörterung rufji; her Operationpläne wurde auch gejagt, die
jtrategifhe Geſammtlage weife die rufjischen Armeen bei Ausbrucd eines
Krieges Deutfchland gegenüber zunächſt auf die Defenfive an der ftarken
Weichfelbarriere und auf die Bertheidigung des polnischen Feftungfünfeds
Nowo-Georgiewsk-Warſchau-Iwangorod-Breſt-Litowsk. Diefe Vorausficht
jcheint mir, in Verbindung damit, dag Oberftlieutenant Grimm, wenn er
überhaupt wichtige Aftenjtüde ausgeliefert hat, im Wefentlichen nur folche
über einzelne Orenzbefeftigungen im warfchauer Militärbezirf verrathen konnte,
fo bemerfenswerth, daß ich auf Grund zuverläfligen Materials, ohne auf
das Gebiet der Strategie vom grünen Tiſch aus überzugehen, noch ein paar
Worte darüber jagen möchte. Dat Ruflands Eifenbahnneg heute noch nicht
fo leiftungfähig ift wie unſeres und daß deshalb die Mobilmachung des
ruffifchen Heeres nicht fo glatt verlaufen wird, wie wir es bei ung erwarten,
dürfte jih auch aus meinen Betrachtungen ergeben haben. Immerhin ftcht
e3 jedoch mit der Schnelligkeit des Aufmarfches der rufjiihen Armee nicht
fo fchledht, wie man vielfad) anzunehmen geneigt ift, denn ein mit ben
Berhältniffen -de8 verbündeten Zarenreiches vertrauter höherer franzöjiicher
Dffizier hat ausgerechnet, eim ruſſiſches Armeecorps brauche mit allen
Train vierzehn Tage zu feiner Beförderung auf eine Entfernung von
1000 Werft und es fei anzunehmen, daß drei Fünftel der europätjchen Streit:
fräfte des ruffifchen Heeres im achtzehn bis zwanzig Tagen mobil gemacht
und dem Kriegsplan gemäß fonzentrirt werden könnten. Nun aber hat
außerdem die rufiifche oberfte Heeresleitung, in richtiger Erkenntniß ihrer
heute noch nicht hinreichend entwidelten Eifenbahnen, um diefen Nachtheil
auszugleichen und um Bahntransporte größerer mobiler Truppenmaffen im
letzten Augenblid möglichit zu vermeiden, mehr al3 zwei Drittel des Friedens-
ftandes der Armee längs der Wejtgrenze dislozirt und dadurch erreicht, dat
H1/g Armeecorps mit allem Zubehör an Stavallerie und Artillerie, 2 Schügen-
brigaden nebſt 2 Kavalleriecorps in centraler Stellung im Militärbezirf
Warſchau bereit ftehen und nur auf die Marfchordre warten. Ferner ſtehen
dann je 5 Armeecorps in den benachbarten Militärbezirken Wilna und Kijew
längs der preußifchen und öfterreichifchen Grenze; und an den äuferiten
Flügeln diefer Aufitelung find im Militärbezirf Petersburg 3, im Militär:
bezirt Odeſſa 2 Armeecorps nebſt Refervetruppen zum Eingreifen verfügbar.
Die weiter öftlich liegenden Militärbezirfe Mosfau — mit 3 Armeecorps —
und Kaſan haben dabei zur Aufitellung der Nejervearmee und als Hauvt:
u Ed Dr
122 Die Zuhmft.
baſis für den Nachſchub zu dienen. Auf diefe Weile find die an den Meit-
grenzen untergebracdhten Truppen in der age, felbit in nicht vollftändig
mobilem Zuftande dem Gegner in fürzefter Zeit nicht nur defenfiv, fondern
auch offenjiv entgegenzutreten. Und gerade diefe zweite Möglichkeit möchte
ich, im Gegenfag zu dem vorhin bezeichneten Gedanfengang, in den Vorder:
grund ftellen. Nach meiner Anficht fpricht die Wahrjcheinlichfeit dafür, daß
die auf jo verhältnißmäßig engem Raum fonzentrirten Maffen der ruſſiſchen
Armee ſich bei Ausbruch eines Krieges durch eine Dffeniive Luft zu machen
fuchen werden, um dadurch die feindliche Mobilmahung nad Möglichkeit zu
ftören und jich den Unterhalt für ihren ungeheuren Bedarf in Feindes Land
zu beichaffen. Unterftügt würde ein folcher Angriff durch die auch als Depot-
pläge eingerichteten großen Weichielfeitungen und durch die ſumpfige Flußlinie
des Bobr-Narew mit feinen von Oſſowjetz bis Pultusk reichenden Befeftigungen.
Ganz befonder8 aber fcheint mir für die Nothwendigkeit ruſſiſcher Offenſiv—
bewegungen das mit Frankreich gefchloffene Bündniß zu ſprechen. In welcher
Weiſe ſich diefes Bündniß militäriſch im Einzelnen bethätigen wird, entzicht
fi unferer Kenntniß. Sicher müßte aber Franfreih im Fall eines Krieges
wünfchen, daß Rußland möglichit viele Kräfte des deutfchen Heeres auf ſich
zu ziehen verſucht. Das kann nur durch eine thatkräftige und rücjichtlofe
Dffenfive der ruffischen Armee und nicht durch defenfives Verhalten an der
Weichfellinie gefchehen.
Dem Fall Grimm wird wohl allzu große Bedeutung beigelegt. Unfere
Heeresleitung — Das mögen auch unfere Feinde jich merken — bedarf nicht
geftohlener Papiere, um Wacht an unferen Grenzen halten zu fönnen.
Köln. Erik von Witzleben.
ii 2
Hwei Legenden.
Die Helferin.
9* Pforte des Paradieſes fiel dröhnend zu. Der Engel mit dem feurigen
Schwert trat vor fie hin; von der brennenden Wehr fprangen noch ein
paar gliternde Lichter in den himmliſchen Garten, der fih langjam in abend-
lie Schatten hüllte. Adam lag, vom Schmerz Hingeworfen, zu den Füßen
des Engels. Stirn und Hände grub er in die Erde, krampfte ſich ſchluchzend
an die Schwelle jeiner verlorenen Seligkeit. Eva ftand abjeits, da, wo niedrig
gewachſene Heden einen legten Abjdhiedsblid auf die entihwundene Seligfeit
veripraden. Sie hob ſich auf die Zchenfpigen, um nod einmal ihren ſüßen
Garten zu ſehen, aber die Heden hatten fie nur gehöhnt und waren dem Gebote
Gottes gehorjam.
Zwei Legenden, 123
Reinend wollte fie zu ihrem Manne treten, al3 es in den Hecken rajdelte . .
fnifterte . . Sie erſchrak. Sie wuhte, wer da rajchelte und Fnifterte. Sie wollte
fliehen. Sie wollte, — aber fie blieb.
Es war die Schlange.
Mühſam war fie durch Büſche und Geftrüpp gefrochen, heimlich, damit
die anderen Paradiejesthicre ihrer Schande nicht fpotten jollten. Nun richtete
fie fi empor, hing ihren ſchimmernden Leib über die Heden herab, wiegte ihn
in den abendlihen Schatten. Mit ihrem falten, Elugen Blid jah jie auf die
mweinende Menjchenmutter.
„Eva!“
Eva jchrie auf.
„Verführerin, weiche von mir! Hätteſt nicht Du mich bethört, nimmer
hätt’ ich den Apfel gegeſſen. Weiche von mir, Verfluchte, weiche von mir!“
Die Schlange wand ſich noch näher zu ihr heran. Ihre Stimme flang
leife und lodend, wie der AUbendwind, der über das paradiefiiche Gefild ſtrich.
„Eva, Keiner hört Dih! Bier braucht Du nicht zu lügen! Hätteft Du
ohne mid den Apfel nicht gegeſſen?“
Schweigen.
„Bar Dein Sinn nicht jo trädhtig von diefer Begier, daß jie auch ohne
mich ans Licht geiprungen wäre?“
Eva trat einen Schritt zu der Schlange hin. Sich jcheu nad allen
Seiten umjchend, flüfterte jie mit heißen Augen und Wangen: „Sch wäre an
ihr gejtorben, hätte ich fie noc, länger tragen müfjen, hätteft nicht Du das
Wort gejproden . .* _
Wieder Schweigen.
„Du gehit in die Weite, Eva! Du follft draußen Menjchen gebären . .“
Ein ſüßes Lächeln huſchte über das verweinte Geſicht der erſten Mutter.
„Auch draußen werden verbotene Früchte wachjen ... Ob Deine Menſchen—
finder niemals Begier nad) ihnen jpüren?“
Eva rang die Hände. In mweinender Selbjtihmähung:
„Es find ja meine Kinder!“
„Werden fie jo jtarf fein, daß ihre Begier zum Lichte drängt oder wird
fie ihnen ungeboren im ſchwachen Schoß verfümmern?“
„Es jind ja meine Kinder!”
Adam erhob fi von der Erde und rief jeinem Weide. Einen Athen:
zug lang bejann fih Eva, dann flüfterte fie in die Deden: „Komm!“
Sie lüpfte ein Wenig ihr Blättergewand, das die Yenden deckte. Yaut-
los glitt die Schlange hinein, legte ſich um ihren Yeib wie ein vierfacher Gürtel.
. +» Das Menjchenpaar zicht in die Nacht hinaus. Düfter jchreitet Adam,
in verzweifelter Liebe die Hand jeines Weibes haltend. Sein Sinn denft an
Verlorenes nnd an den heißen Arbeitstog, für den feine Fauſt erjt die Waffe
Ihaffen muß. Roſig, lächelnd geht die junge Menfchenmutter. In ihrem Schoß,
unter dem dunkel geringelten Ewigkeitbilde, wädlt er, dem die Welt gehören
foll, mit all feiner Kraft und jeiner Schwäche, mit feinen Drängen umd feinen Ent
fagungen. Seinen erſten Derzichlag fühlt die Schlange, die Verführerin-Erlöjerin,
die jegenreiche, verfluchte Wehmutter aller Sehnjüchte und aller Erfenntnifje . . .
124 Die Zukunft.
Die Eiferne Maske.
Der Dauphin hatte Gejchichtitunde. Ein junger Brälat, mit ernjtem,
blaffem Geficht ertgeilte fie. Er ftand am Fenſter, bog den Kopf ein Wenig
zurüd, als ob er hinter den grauen Wolfen draußen die Sonne fudhte Er
diftirte; und der Dauphin jchrieb gehorjam:
Romulus 753 bis 716,
Numa Bompilius 715 bis 672,
Tullus Hoftilius 672 bis 640,
Aneus ...
Der Dauphin legte plößlich den Kiel weg und fragte ganz unvermittelt:
„Herr A666, wer war die Eiferne Maste?“
„Ich weiß es nicht, Monfeigneur.“
„Do! Sie willen es!“
„Wie jollte ih, Monfeigneur? Weiß es dod) Keiner!“
Der Dauphin beharrte: „Sie willen cs doch! Ich habe jeden meiner
früheren Lehrer danach gefragt und jeder iſt roth geworden, hat jo verworren ge-
redet, daß ich genau merkte, er wijje es wirklich nicht. Site aber find nicht roth
geworden. Nicht einmal gezuckt haben Sie. Sie lädeln nur, lächeln gerade
jo wie Tante Mtontpenjier, wenn ich fie frage, ob jie mir Bonbons mitgebracht
hat, und fie dann jagt: Ich weiß; nicht . .“
„Sie jind ſehr Scharfjichtig, Monſeigneur.“
„Herr Abbe, laſſen Sie mid nur zehn Minuten lang mit den römijchen
Königen zufrieden und erzählen Sie mir fchnell, wer die Eiferne Maske war...“
„Ich weiß es nicht, Monſeigneur. Ich wage aud), zu bezweifeln, da
Seine Majejtät jehr entzüdt wäre, wenn er den Geſprächsſtoff Fennte, den
Monjeigneur jocben wählten.“
Seine Majejtät hört uns ja nicht,“ " fagte der Dauphin und frigelte
etliche zujammenhangloje Schnörfel unter die Könige Noms. „Es muß eine
ſehr mächtige Perſon gewejen jein, diefe Eiſerne Maske”, ſprach er aus feinen
Gedanken weiter. „Sonſt wäre nicht ſolches Geheimnig um ihn gewejen und
man redete nicht noch jo lange nach jeinem Tode von ihm.“
Er ſchien Antwort zu erwarten; aber der Prälat ſchwieg. Er jah immer
noch in die Wolken hinein, hinter denen die Sonne ohnmächtig kämpfte.
„Denken Sie, Herr Abbe, der König jelbft, mein verjtorbener Großvater,
ift einmal bei Nacht heimlich in der Baftille gewejen, um den Gefangenen mit
der Eifernen Maske zu jehen.‘
„Monjeigneur, ich bin entjeßt, daß ſolcher Yakaienklatich den Weg zu
sonen fand!‘
„Das ijt fein Lakaienklatſch, ſondern Wahrheit. Der König, mein ver«
ftorbener Großvater, wollte eben einmal das Gejicht des räthjelvollen Mannes
jchen, der jchon in Sainte-Marguerite gefangen jaß, ald mein Großvater nod)
ein Kind war. Tb er jein Geſicht dann wirklich gejehen hat, weiß ich nicht.
Aber man durfte den Gefangenen niemals wieder vor ihm erwähnen.“ Der
Dauphin ſenkte die Stimme und jah fich fcheu nad allen Seiten um. „Er
"ürchtete ihn vielleicht ... Denfen Sie nur: mein tapferer Großvater fürchtete ſich
diefem Gefangenen!‘
Zwei Legenden. 125
Die Sonne kämpfte ſich eben durch die Wolfen und warf zwei leuchtende
Funken in die Augen des Prälaten.
„Wiſſen Sie, Herr Abbe, was ich nicht begreife? Daß man wirklich nie,
nie jein Geficht gejehen haben joll. Man konnte ihn doch im Schlaf belaujchen.“
„Er trug die Maske auch im Schlaf.“
„Der König hätte fie ihm abreigen können.“
„Rein, aud der König war dazu nicht im Stande.“
„War fie denn feſtgeſchmiedet?“
„sa. Nur Einer konnte fie löjen. Er felbt.“
„Er wollte fein Geficht nicht jehen laſſen?“
„. . Hören Sie mid) an, Monjeigneur: Ich habe den Mann mit dem
Eifernen Antliß gejchen; denn was die Anderen Maske nannten, war fein
Geſicht .. Er wollte nicht, daß die Menſchen ihn erfennen, fein Weſen fafjen
und mit Namen nennen jollten, wie aud er ihnen nicht nachfragte und feine
Gemeinjhaft mit ihnen begehrte. Darum hatte er Unbemweglichkeit über feine
Züge gebreitet, gleich einer Yarve, und Schweigen umfing ihn, wie ein fugel-
fiherer Banzer. Sie denken nun vielleicht, Monfeigneur, daß er ftumm war
oder irren Geijtes; aber in jeinen Augen lebte Alles, was jein Mund und fein
Antlig verſchwiegen. Ein jeltjam drangvolles, forfchendes Leben, das mit den
Gejtirnen des Tages und der Nadıt Zwieipradhe hielt. Was fie ihm fündeten,
was er ihnen vertraute: Keiner hat es je gewußt. Einſam, von den Anderen
durh Maske und Banzer getrennt, lebte er die Jahre dahin. Was fie zu
ihm herſpülten, was er ihnen mitgab: Steiner hat es je erfahren. In Panzer
und Maske iſt er dann auch gejtorben und mit ihm fein Geheimniß. Wie glänzend
oder wie blutig es war: Steiner wird es je fünden.
. Er hat Söhne hinterlafjen, weit draußen, in der Welt verjtreut, ein
ftolzes, finjteres Gejchleht, das die Maske im Wappen und vor dem Geficht
trägt und mit den Geſtirnen Zwieſprache hält. Ohne Freunde, ohne Befenner
ziehen ſie fchweigend ihre einfame Straße. Aber wo ihr gepanzerter Fuß auf,
fliret, gafft die Menge. . flüftert . . ſchickt ihnen Fiebermärchen nad. Und die
Könige bliden unruhig...
Denn gefährlicher als feindliche Deere find die großen Einfamen. Sie
hüten ihr Geheimniß zu gut. Man weiß nie: find es Fürſten, die zur Richtitatt
gehen, oder Verbrecher, die zum Throne jchreiten . .*
Die Sonne jchien jeßt hell ins Gemach; fie legte ihren Glanz wie eine
Ktönigsbinde um die Stirn des jungen PBrälaten. Der Dauphin ftarrte ihn an
und fchrie auf: „Sie. . Sie jelbit find der Mann mit der Gijernen Masfe!“
Der Abbe regte ſich nicht. Er legte die Hand an die Stirn, als wolle
er die Königsbinde bergen. Und mit ruhiger, kalter Stimme jprad) er: „Mon—
jeigneur, Sie fiebern! Sie jehen, wie Hecht ich hatte, als id) nicht mit Ahnen
von folhen Dingen jprechen wollte. ihre lebhafte Phantaſie verträgt es nicht.
Ich muß Sie bitten, zu fich zu fommen; oder wir jchliegen die Stunde und
ih rufe den Leibarzt Seiner Majejtät.“
Der Dauphin beſann ſich, rieb fich die Augen, jah feinen Lehrer an, lachte
ein verlegenes Stinderlachen, — und das Diktat wurde bei Ancus Mareius fortgeſetzt.
Münden. Carry Bradvogel.
%
126 Die Zulunft.
Selbftanzeigen.
Aufgaben der Gemeindepolitif. (Vom Gemeindefozialismus), Vierte
Auflage. Jena, Verlag von Guſtav Fifcher. 220 Seiten, Preis 1,50 Marf.
Miguel hat in einem feiner legten Briefe darauf hingemiejen, daß die
Gemeinde viel mehr als bisher zur Trägerin einer vernünftigen Sozialpolitik
werden müßte. Und der vielerfahrene Dann hat damit einem Gedanken Aus—
drud gegeben, defjen Bedeutung in immer weiteren Kreiſen erfannt wird. Aller:
dings: die billige großtönende Phraſe, das bequeme Schlagwort find in der
Gemeindepolitif nicht jo leicht mobil zu machen wie in der Neichspolitit. Hier
ſtoßen hart im engen Raum fich die Sachen.
In dem bier angezeigten Bud), dejjen frühere Auflagen in der Preſſe
aller Richtungen, vom „NReichsanzeiger” bis zu den „Sozialiftiihen Monats»
heften“, freundliche Anerkennung gefunden haben, ift nun verſucht worden, alle
Fragen, die heute innerhalb der deutſchen Gemeindepolitif ein Gegenftand des
Streites find, kurz darzuftellen und, darauf ift der Hauptwerth gelegt, durch
Wiedergabe praktifcher Verſuche zu erläutern. So find behandelt: die Bildung-
fragen, Arbeiterfragen, Mitteljtandsfragen, Steuerfragen und Gemeindebetriebe.
Eine bejondere Bedeutung aber meſſe ich der Behandlung des Bodenproblems
innerhalb der Gemeinde zu, die in den Kapiteln: „Die Zuwachsrente”, „Bon
Gemeindegrundeigenthum“, „Zur Wohnungfrage” gegeben ijt. Auch hier ijt Feine
Forderung erhoben, die nicht an irgend einer Stelle ſchon in deutſcher Praxis
durchgeführt it, feine Forderung alſo, die leichthin als „graue Theorie” abzu-
weijen wäre. Es ijt meine Abjicht, die ich gern offen zugebe, durch diefes Buch
wie durch meine gefammte Thätigkeit als Borfigender des Bundes der Deutjchen
Bodenreformer in unferen 'nbduftrieftädten den Kampf um die „Zuwachsrente“
zu entfachen. In ihm liegt ein Stüd Entſcheidung über alle anderen Probleme
des wirthichaftlichen Lebens. Gelingt es, die ungeheuren Werthe, die alle Tage
in unferen aufblühenden Gemeinden durch die Kulturarbeit der Geſammtheit er»
zeugt, aber heute faft überall nod von Terrainjpefulanten ohne jede Arbeit-
leiftung für fi beichlagnahmt werden, für die Gejfammtheit zurüdzugewinnen,
jo tft Steuerdrud, Bodemwucher und Wohnungnoth befeitigt und der Weg zu
jeder durdjgreifenden Neform geöffnet. Ob das Ziel erreicht werden wird? Ob
jich genug ernſte Menſchen finden, die die fittliche Neife haben, für ernfte Fragen
ein ehrliches Intereſſe auch wirklich zu bethätigen? Ich will nur eine einzige
Zahl aus dem Bud; wiedergeben: Am zweiten Dezember 1895, als von einer
akuten Wohnungnoth nod gar nicht die Rede war, wurden in Berlin gezählt:
4718 Wohnungen ohne jeden heizbaren Raum, 27160 Wohnungen mit nur
einem einzigen heizbaren Raum, die von jehs und mehr als jchs Perſonen
dauernd bewohnt werden. Mehr als 200000 Menſchen haufen aljo allein in
unferer glänzenden Neichshauptitadt in WVerhältnifjen, in denen ein gejunbes
‚samilienleben faft unmöglich erjcheint. In anderen deutjchen Gemeinden jteht
es noch Schlimmer als in Berlin; und Feine Yohnerhöhung, die die Arbeiter jich
oft mit ſchweren Opfern erfämpfen, vermag ihre Lebenshaltung wirklich zu ver»
beifern, jo lange die Mtiethiteigerungen die Yohnerhöhungen anfzehren. Wenn
Selbftanzeigen. _ 127
es doc erſt ala jelbitverftändliche Pflicht für \\eden, der von der Gejellichaft
als gebildet anerfannt werden will, gälte, wenigitens ſolche Clementarzahlen
der deutſchen Volkswirthihaft zu willen! Dann würden wohl nur noch wenige
Menſchen fi der allerdings bequemen Täuſchung hingeben können, mit Ber-
einen zum AUlmofengeben, zur Hebung der Ethik, zur Förderung der Kunſt unter
dem Volk, zur Belämpfung des Alkoholismus u. ſ. w. ihrer fozialen Pflicht
völlig zu genügen. Das Wohnungproblem, dem allein durch verftändige Gemeinde-
politit begegnet werden kann, führt wirklich bis zum Grunde des jozialen
Problems hinab. Mögen meine „Aufgaben der Gemeindepolitif” helfen, hier
Wege zur Befferung zu zeigen. Der Verleger, der ja auf nationalöfonomijchem
Gebiet zu den Kundigften in Deutſchland gehört, muß wohl gutes Yutrauen
haben, jonjt hätte er nicht den Preis des Werkes auf anderthalb Mark feitgeiebt,
aljo auf etwa ein Drittel des Preifes, der jonft für ein nationalöfonomifches Werk
gleihen Umfanges üblich ijt. Adolf Damajdfe.
*
Die Thüren des Lebens. Prag. Verlag Sympoſion.
Dieſes Buch erzählt die Geſchichte der Veronika Selig. Wie ihr das
Leben die Marter bringt, für die ihr Herz zu eng und zu gütig iſt. Wie ſie
ſich verkriecht vor dem Leben und dennoch den Ton ſeiner Schritte immer wieder
hört, wenn es an ihren Fenſtern vorübergeht. Und wie ſie am Ende ſich nicht
mehr helfen kann und ihre ungebändigte Liebe, ihre erſtarrten Wünſche und ihre
verlorenen Tage noch einmal zu einem Abenteuer ſich zuſammenfinden, das ſie
doch nun zum Schluß wieder heimkehren läßt in das verrufene Haus, in dem
das Leben und das Schickſal geſtorben ſind. Es iſt der Roman der paſſiven
Menſchen. Es iſt ein Gleichniß und die Legende von der Wiederkehr: die Sage
von den Thüren des Lebens, hinter denen die Schauer und das Wunder wohnen
und hundert Dinge, die auf uns laſten, die Träume und die Traurigkeit, der
Hohn und die Gebete eines hyſteriſchen Herzens.
Prag. Paul Leppin.
Verſäumter Frühling. Hugo Steinitz, Berlin 1902.
Web, daß ich meinen jungen Lenz verträumt,
In Labyrinthen pfadlos mid) verjäumt,
Indeß der Frühling blühte ...
„Und daß ich meinen Sommer nicht genoſſen
Und thöricht meine Sinne hielt verſchloſſen,
Indeß die Noje glühte . .
In Spät entfacdhter, bunter Herbitespracht
Iſt meine arme Seele aufgewadt,
Nun, da die Nebel wallen . ..
Was joll mir jet das goldne Purpurlaub!
Den Farbengluthen fehlt der Blüthenftaub —
Die Blätter fallen... .
Jenny Schnabl.
v
9%
128 Die Zukunft.
Rothichild:Sombarden.
I: den legten Wochen ift wieder viel Druderfhwärze für Meldungen über
die Defterreichifche Sübbahngejellichaft verbraucht worden. Zwei Millionen
Kronen Betriebsverluft, Dedung der Obligationenzinjen aus der ohnehin ſchon
geringen Obligationenrejerve, Ernennung eines Kurators für alle vorhandenen
Prioritäten, Vorfchläge zur Hinausfchiebung der Tilgung: Das ungefähr war
ber Anhalt der Nadrichten, die aus Wien hier eintrafen. Daß die Obligationen-
befiger darüber nicht gerade jehr erfreut waren, iſt begreiflih; no näher an
die Haut ging die Sade aber den Aktionären. Die Ausſicht auf eine lange
dividendenlofe Zeit ift keinem Aktionär angenehm; ganz bejonders ärgerlich
mußte fie aber den Südbahnaktionären fein, die die Entwidelung fommen jahen
und jeit Jahren in allen Generalverfammlungen das Bejchreiten neuer Wege
empfahlen, um dem drohenden Unheil zu entgehen. Jetzt endlich hat die Ver—
waltung fi zur Annahme eines Theiles diefer Vorſchläge bequemt.
Wenn Aktionäre gegen Obligationenbefiger fämpfen, jo wendet bie
Sympathie gemüthvoller Menjchen fich meijt den Obligationären zu. Der
Aktionär it Iheilhaber des Unternehmens. In den fetten Jahren fieht er mit
Beratung auf die dummen joliden Yeute herab, die fich begnügen, gegen lumpige
Sinsverjpredungen ihm die Gelder zu leihen, die nöthig find, um das Unter—
nehmen zur Blüthe zu bringen. In ſchlechten Jahren ift ber Aktionär ver»
pflichtet, den Obligationenbefißern Tribut zu zahlen, denn fie find feine Gläu—
biger, vor denen er, wenn er fie braucht, höflich den Hut ziehen muß. Aber
wer denkt in den “Jahren des Glüdes und Glanzes an das traurige Ende?
Kommt dann die fchlechte Zeit, muß Jahr vor Jahr der Aktionär zufehen, wie
jeine Gläubiger, behaglich ſchmunzelnd, die Zinſen in die Tajchen jteden, jo iſt
er nur allzu leicht geneigt, jet plöglid mit Anſprüchen an die Obligationen«
bejiger heranzutreten und von ihnen zu fordern, fie möchten, damit er Dividende
bekommt, auf einen Theil ihrer Nechte verzichten. Diefe Neigung ijt menjchlich,
allzu menſchlich. Unſere Sympathie aber gehört den Leuten, die fih in den
glänzenden Jahren mit dem niedrigen Zinsfuß abfinden ließen, um fi dafür
das Recht der Gläubiger zu jihern. Nur find ſolche Sympathien an gewifje
Borausjeßungen gebunden. Dem Juriſten ift jeder Vertrag heilig. Fiat justitia,
pereat mundus. Dod der Yaie denkt nicht in jo ftarren Süßen. Er fragt aud)
nad dem „Inhalt und der Geneſis der Verträge. Der Obligationär hat mühjam
eriparte taujend Mark der Sejellichaft geborgt. Diejer Betrag, jo ward verſprochen,
joll ihm verzinft und nah Ablauf einer bejtimmten Zeit zurüdbezahlt werben,
Plöglid) bietet man ihm nur die Hälfte, vielleicht gar noch einen niedrigeren
Zinsfuß. Das empört uns. So etwa lagen die Dinge bei der Neorganifation
der Hypothefenbanfen. Da war das Vertrauen der Eleinften Sparer mißbraucht
worden. Deshalb ftellt das Volksbewußtſein die Sanirung der Hypothefen-
banken in eine Neihe mit anderen groben Vertragsbrücen der Finanzgeſchichte.
Der Kampf zwiichen Obligationären und Aktionären der Südbahn be-
ruht auf einer ganz anderen Vorausſetzung. Die Bahngejellihaft ift von den
Rothſchilds ausgewuchert worden. Das Obligationengejcäft gilt jonft mit Recht
als jolid; dody bei der lombardijchen Bahn wurde dieje Solidität immer nur
Rothſchild ⸗ Lombarden. 129
vorgetäuſcht. Charakteriſtiſch iſt ſchon der Spitzname der Bahn; ihre Aktien
ſind unter dem Namen Lombarden ein allen Börſen Europas wohlbekanntes
Spielpapier. Lombarden: ſo nannte man, ihrer Herkunft nach, im Mittelalter
die Wechsler, die auf den Meſſen umherzogen. Von den einfachen Holzbänken,
auf denen fie jaßen, war ein weiter Weg zu durchmeſſen, bis der Kunſtbau des
modernen Banfgejchäftes erreicht wurde. Dieſe Lombarden, die auf ihre Weije
der Kultur dienten, waren Leute, die das Vertrauen ihrer Kunden jelten mit
nüglicher Leiſtung redhtfertigten. DerName Lombardifche Bahn ſtammt von Linien
ber, die der Südbahn ſchon lange nicht mehr gehören. Als Oeſterreich noch
über die Yombardei herrichte, war das lombardifche Schienenneß der Südbahn
auch ein Wahrzeihen von Dejterreihs Oberhoheit. Als dann aber die italte-
niſche die öſterreichiſche Herrſchaft ablöſte, wurden die lombardiſchen Streden
an die italieniſche Regirung verkauft. Es iſt wohl nur ein Zufall, daß gerade
in dieſen Jahren, von 1875 bis 1880, die Aktien zum erſten Mal keine Dividende
brachten. Bis dahin waren ganz anſehnliche Dividenden vertheilt worden. Schon
vorher aber war das Unheil geſät, das ſeitdem die Aktionäre ſo oft ſchmerzlich
ſpüren ſollten. Es gab 160 Millionen Gulden Aktien. Das weiter nothwen—
dige Kapital wurde nah und nach durch Ausgabe von dreipronzentigen Obli—
gationen beſchafft. Ich weiß nicht, ob die Aktionäre in dieſem niedrigen Zinsfuß
einen Vortheil ſahen. Das würde der ländläufigen Anſicht entſprechen. Selbſt
Miquel war ja ſtolz darauf, daß er in den finanziell ſchwierigſten Zeiten drei—
prozentige Anleihen aufzunehmen vermochte. Gerade das Beiſpiel der lombar—
diſchen Bahn lehrt aber, daß billig verzinſte Anleihen mit ihrem niedrigen Aus—
gabekurs einer Geſellſchaft verhängnißvoll werden können und nur den Kapitaliſten
nützen, die den Kursgewinn einſtreichen. Die lombardiſche Bahn häufte im Lauf
der Jahre eine Obligationenſchuld von über 900 Millionen Gulden, für die
ſie in Wirklichkeit knapp 450 Millionen Gulden erhielt, weil im Durchſchnitt
der Uebernahmekurs auf etwa 48 ſtand. So mußte eine drückende Laſt ent—
ſtehen. Ein Kapital von mehr als einer Milliarde Gulden war, dem Nennwerth
nach, in der Bahn inveſtirt. Die Zinſen aber mußten von dem relativ kleinen
Aktienkapital — 150 Millionen — aufgebracht werden. Es war alſo nöthig,
für rund 450 Millionen Gulden eine ſechsprozentige Verzinſung zu ſchaffen.
Gewiß giebt es Bahnen, die das Anlagefapital viel höher verzinfen, namentlich
folche, deren Linien durch reiche nduftriegebiete gehen. Aber im Allgemeinen
ift bei Bahnen eine jechsprozentige Berzinjung nicht zu erreihen; am Wenigiten
bei der Südbahn, deren weites Schienenneß viele unrentable Streden umfaßt.
Noch jchwerer al3 die Berzinfung war in diefem Fall der Tilgungmodus zu
ertragen. Das Berfpreden, einen Betrag, der höher als der empfangene ift,
zu verzinjen, kann ohne allzır große Bejchwerde erfüllt werden, — wenn aud) mit
der Höhe der Schuldjumme natürlich die Laſt wählt. Ganz anders liegen die
Dinge aber, wenn man verpflichtet ijt, mehr, als man erhalten hat, zurückzu—
zahlen. Solde Bürde fann jelbjt der rentabeljte Betrieb faum tragen. Der
Staat, der jid aus irgend einem Grunde genöthigt glaubt, billig verzinite An—
leihen zu niedrigem Kurs auszugeben, kann den Ausiveg der ewigen Renten:
ihuld wählen; dann ift er von der Nüdzahlungpflicht befreit. Wer aber die
Ausgabe einer Bahnobligationenshuld vermittelt, muß willen, daß dic lombar«
130 Die Zukunft.
diiche Methode die Gejellichaft ins Verderben führt. Das war die Schuld der
Rothſchilds, deren MWucherjoc die Aktionäre abzuſchütteln juchen.
Als diefer Verſuch, zuerft von den deutſchen Aktionären, unternommen
wurde, empfing ihn in Defterreich höhnifches Gelächter. Die Herren der Süd-
bahnverwaltung waren wohl nur an die jchlaffe Oppofitton ihrer weihmüthigen
‚Landsleute gewöhnt und rechneten nicht mit norddeuticher Zähigfeit. In Dam-
burg entjtand ein Aktionärausſchuß, der unter der Führung des Nechtsanwaltes
Dr. ©. Heymann fräftig zu agitiren begann. Und nun wiederholte ſich all-
jährlih in den Maiverfammlungen der Südbahn das jelbe Schaufpicl. Die
deutichen Aktionäre trugen ihre Pläne vor, begründeten fie ausführlid, — und
die Südbahnherren wielen alle Vorſchläge ab und beriefen ſich emphatiich auf
Recht und Billigkeit. Sind denn aber die Forderungen der Altonäre fo ungehener-
ih? Das von ihnen herbeigeichaffte Gutachten eines öfterreichifchen Auwaltes
beweift haarjcharf, daß von der Berwaltung den Obligationären freiwillig manche
Konzeffionen gemadt wurden, auf die fie feinen unbedingten Anſpruch hatten,
deren Rechtsgrundlage vielmehr höchſt zweifelhaft ijt; ich will zunädft nur von
denen reden, die fi auf Tilgung und Verzinfung beziehen. Die dreiprozentige
Obligationenfchuld der Bahn war in Silber bezahlt worden, die Bahn aber
zahlte auch in letzter Zeit, troß den veränderten Werthverhältniffen, die Zinjen
in Gold. Aud bei der Auslojung wurde der Gegenwerth der ganzen Stüde
in Gold bezahlt. Das Gutachten des Advofaten Dr. Weißhut läßt gewichtige
Zweifel darüber bejtehen, ob die Geſellſchaft verpflichtet war, in Gold zu zahlen.
Die Sidbahndirektion hat fich entichieden geweigert, den Auszahlungmodus zu ändern;
die Aenderung, hieß es, könne den Kredit der Geſellſchaft gefährden. Diefem Argu-
ment haben ſich die Aktionäre gefügt. Sie wollen nur noch die drüdende Tilgung:
pflicht erleichtern. Aber auch hier dachten die deutſchen Aktionäre nicht an einen
Rechtsbruch. Weißhuts Gutachten zeigt, daß für eine ganze Reihe von Serien der
dreiprozentigen Obligationen die Verpflichtung der Auslofung zum Nenntverth
nach einem feiten Plan gar nicht bejteht. Die Konzeffion der Südbahn Läuft
1968 ab. Bis dahin müſſen alle jeßt umlaufenden Obligationen in Höhe von
1,91 Milliarden Franes getilgt jein. Doc) ift nicht etwa für die Tilgung der ganzen
Summe ein einziger Schlußtermin vorgejehen. 82 Millionen müfjen bis 1949,
eine Milliarde bis 1954, etiva 800 Millionen bis 1968 getilgt fein. Natürlich
wäre ſchon viel gewonnen, wenn die Endfrift der Tilgung für die ganze Summe
bis 1968 hinausgeichoben werden könnte. Das verlangen die Aktionäre. Und
fie berufen fich darauf, daß ein Schade dadurch nicht entjtehen fünnte, weil an
der Börfe die zu verichiedener Zeit rüczahlbaren Serien die jelbe Kursnotiz
haben. Das beweijt, wie wenig Werth das Kapitaliſtenpublikum der früheren
oder jpäteren Rückzahlung beimißt. „Ferner fordern die deutjhen Aktionäre,
der Geſellſchaft folle erlaubt werden, einen Theil ihrer Obligationen durch Rück
fauf zum Qagesfurs zu tilgen. Dadurch wäre die Gejellichaft beträchtlich ent-
lajtet, denn die dreiprogentigen Obligationen jtehen jegt etwas unter 70. Für
jede einzelne Chligation würde der börjenmäßige Nüdfauf alfo ein Erträgnif
von rund 150 Franes — gegenüber der Auslofung zum Nennwerth — liefern.
Auch hier ſoll Niemand geichädigt, fein Hecht verlegt werden; dieweninen Börjenleute,
die ihre Obligationen theurergefauft hatten, waren ja nicht zum Verkauf gezwungen.
Rothſchild⸗Lombarden. 131
Wer den Pariwerth erhalten will, muß eben bis zum Verloſungtermin warten. Auf
Obligationäre, die zu niedrigemKturs gekauft hatten, war feinefücficht zunehmen ; und
erjt recht nicht auf die erſten Befiger, die ihre zum wucheriſchen Uebernahmepreis er»
worbenen Obligationen nod) liegen hatten. Allen Bernunftgründen wurde in
den Generalverjammlungen jtets mit nichtsjfagenden Ausflüchten begegnet und
allen Warnungen zum Troß blieb die Verwaltung bei ihrem rudlojen Opti-
mismus. Jetzt plöglich it fie zu Vorſchlägen genöthigt, die den früher abge:
lehnten jehr ähnlich jind. Mit einigen Abweichungen im Detail werden die
‚sorderungen der deutjchen Aktionäre nun aud) von der Verwaltung aufgenommen.
Sie verjagte ihnen die Anerkennung, jo lange es fich nur um das Intereſſe der
Altionäre handelte, und fügte fich erjt, als die Obligationäre vor der Gefahr
des Zinsverlujtes ftanden. Wäre die Südbahnverwaltung nicht jo Eurzfichtig
gervejen, hätte fie ji jchon vor fünf Jahren zu Reformen entjchloffen, dann
hätten die Aktionäre allerdings vielleicht eine un 1 oder 2 Prozent höhere Dir
vidende befommen, die Beunruhigung der Obligationäre wäre aber vermieden
worden, die den Kredit der Gejellichaft mehr gejchädigt hat, als irgend eine re-
formirende Maßregel vermöcdte. In den Bublifationen der Südbahn werden fait
wörtlich die Gründe der Oppofition nad Weißhuts Gutachten angeführt. Haben
die weijen Herren wirklich erſt jetst eingejehen, daß diefe Gründe ftichhaltig find?
Der lange Widerjtand der Direktion ift — darüber täufcht fich wohl
Niemand — darauf zurüdzuführen, da die Rothſchilds in Wien, Paris, Yon-
don nicht Yuft Hatten, die Sünden ihrer Väter an der Zombardenbahn gutzu=
maden; ſie wollten die alte Beutepolitif weitertreiben. Aus diejem Lager
ſtammt auch fiher der Sat, den ich in einem berliner Börjenblatt fand: „In
den Verhandlungen, die im verfloffenen Herbit zwilchen dem wiener Werwaltung-
rath der Südbahn und den Mitgliedern des parifer Kommitees in Paris ge-
prlogen wurden, ijt die Vereinbarung getroffen worden, eine von den deutichen
Aktionären jchon lange betriebene Nuseinanderjegung mit den Prioritätenbejigern
erſt dann anzubahnen, wenn die ziffernmäßigen Erträgnifje der Bilanz für das
abgelaufene Gejchäftsjahr vorliegen und aus diejer Bilanz die unabweisliche
Nothwendigkeit folder Schritte fich ergiebt.* Das heißt: wir haben beichlojjen,
bis zur allerlegten Stunde, jo lange, wie es irgend möglich ift, die Kräfte der
Geſellſchaft für die Obligationenbejiger auszunuben, mag dabei aucd) die Gejell-
ihaft zu Grunde gehen. So lange nur die leijeite Hoffnung auf vollen Zins—
genuß der Obligationäre blieb, jträubte man jich mit Händen und Füßen gegen jede Re—
form. In dem Bericht des erwähnten Börjenblattes, das ein vielleicht ahmunglojer
Schmock von Wienaus bedient, jtehtabernod Schöneres. Zunächſt wird verſichert, die
Transaktionjeinatürlich im volliten Einverjtändniß mitden wiener und parijer Häu—
jern Rothſchild erfolgt. Darın aber heißtes: „Doch mag bei dieſem Anlaß denwider-
finnigen Unterjtellungen entgegentreten werden, daß das Haus Rothſchild wegen
feines Prioritätenbefiges die Intereſſen der Mftionäre denen der Prioritätenbe=
bejiger hintanjeßt. In diefer Beziehurg ift Ihr Korreipondent von maßgeben—
der Stelle autorifiert, mitzutheilen, daß jeit Jahren der Beſitz der beiden Häuſer
Rothſchild an Obligationen der Südbahn ein ganz geringer ijt, während die
beiden Welthäufer allerdings einen jehr bedeutenden Aktienbeſitz in ſich ver
einigen, durch den ji faum wieder einbringliche Verluſte von vielen Millionen
132 Die Zuhumtt.
ergeben.” Ich kann natürlich keine pofitiven Angaben über den Prioritätenbefig
der Herren Rothſchild machen, da ich leider zu ihnen gar feine perjönlichen Be-
ziehungen habe. Ich kann auch nicht für die Michtigfeit der Darftellung bürgen,
die ein freundlicher Zufall mir zugetragen hat. Danach hat das Geſchick der
dreiprozentigen Südbahnobligationen den inhalt einer Tragifomoebie im Haufe
Rothſchild geliefert. Zur Ausftener einiger Töchter aus diefem Haus hatten
itarfe Posten öfterreichifcher Südbahnobligationen gehört und jede Zinsverfürzung
könnte recht böjen Familienzwiſt herbeiführen. Das mag eine der vielen Le—
genden jein, die wiener Phantafie erjonnen hat, meinetwegen auch ein ſchlechter
Wit. Die Methode aber, die von den Rothſchilds und ihrer Prefle angewandt
wird, verdient Beachtung. Der Aktienbejig der Familie Rothſchild fol Millionen
betragen. Das glaube ih; aud, daß auf diefen Aktien vielleicht Verlufte ruhen,
deren Höhe minder bemittelte Leute in den Konkurs treiben könnte. Die Frage
ift nur, ob es fich hier nicht am Ende um Berlufte Handelt, die man durch Ge—
winne auf der anderen Seite, namentlich. bei der Berzinjung und Tilgung der
Obligationen, wieder einzubringen hofft. So oder ähnlich muß es fein; jonft
wäre der Verlauf der bisherigen Generalverfammlungen, bie ganz unter Roth:
ihilds Einfluß ftehen, überhaupt nicht zu begreifen. Man braudt übrigens
nur einen Blid auf die Statuten ber Südbahn zu werfen, um das Streben zu
merfen, den Aktionären alle Rechte zu verfümmern. Erſt der Befiß von vierzig
Aktien gewährt das Recht auf eine Stimme. Niemand darf mehr als höchſtens
zehn Stimmen für fih und zehn Stimmen mit Nollmadt vertreten. Nur
Aktionäre dürfen die Vertretung fremder Aktien übernehmen. Dieje Beſtim—
mungen haben das Gros der Aktionäre völlig ausgeichloffen und den Rothſchilds
und deren Strohmännern alle Macht geſichert. Thatſächlich iſt man von je her
übel mit den Aktionären umgegangen. Wegen einer geringfügigen Konzeſſion—
verlängerung hat man die fünfprozentige Dividendengarantie in die Garantie
eines Bruttoerträgniffes umgewandelt. Und 1899 hat die Generalverfammlung
beichlojjen, die bis dahin beitchende Pariauslofung für die Aktien zu juspen-
diren; dieſer Beihluß bradte die Aktien um ihre letzten Chancen. Wer joll
denn glauben, eine unbeeinflußte Generalverfammlung, die wirklich nur Aftionär-
interejjen vertritt, könne ſolche Beſchlüſſe faſſen? Nein: im Berwaltungrath
figen Yeute, die Rothſchild am Draht lenkt, und die Generalverfammlungen
find von Rothſchild infzenirte Komoedien. Der Betriebsleiter, Herr Eger in
Wien, trägt zwar den Titel eines Generaldireftors, hat aber nad) dem Statut gar
nichts zu jagen. DerBerwaltungrath herrfcht und der Berwaltungrath ift Rothſchild.
Auch im Gejchäftsleben ift Macht des Nechtes Schöpferin. Wenn alfo
die Rothſchilds eine durch ihre Finanzpolitif an den Rand des Abgrundes ge-
bradte Geſellſchaft noch weiter ausbeuten wollen, ſo wird jchmwerlid; Jemand fie
hindern fünnen. ur jollen fie uns dann wenigftens mit ihren ethijchen Redens—
arten verjhonen und uns nicht vorjammern, wie viel fie an den Lombarden
altien verloren haben. Der Egoijt, der den Muth jeiner Skrupellofigkeit hat, iſt
zu ertragen; jentimentale Wucherer aber find kaum noch in Melodramen möglich.
Plutus.
Herausgeber und verantwortlicher Redaf:cur ; M. Harden in Berlin. — Berlag ber Zukunft in Berlin,
Drud von Albert Damde in Berlin- Schöneberg.
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Berlin, den 26. April 1902.
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Ilja von Murom.
urch die Bylinen, die Volksepen der Moskowiter, ſchreitet mit ſchwerem
Tritt ein frommer Held, dem im Niejenförper das Herz eines Kindes
jchlägt: Ilja aus Murom, eines Bauern Sohn. Dreißig Jahre lang faherger
lähmt aufeinem Fled und die Eltern fürchteten ſchon, ihr großer, ungeſchlachter
unge werde Arme und Beine nie mehr rühren lernen. Eines Tages aber,
da er allein in der Hütte war, klopften zween Pilger, baten um Einlaß und
riethen ihm, der jich auf die Yähmung der Hände und Füße berief, ruhigen
Muthesnuraufzuftehen und ihnen das Thürchen zu öffnen. Er thuts, wird
von den Pilgern mit Wein gelabt und ift von diejer Stunde an der ftarfe
Dann, dem die Gemwaltigiten nicht widerjtehen fönnen. Selbjt ſchmiedet er
ſich die Waffen, badet nächtens jein plumpes Bauernfüllen im Thau, daß es
eines Rıtters würdiges Streitroß werde, und zieht, mit der Eltern Segen, der
Häuſer bauet, dann hinaus in die weite Welt. Des Yandes Bedränger
wirft er in den Staub, Räuber und böje Niejen, jchlägt ein Tatarenheer
in die Flucht und wird der Schüger der Schwachen. Sironen und Schäbe
und Schöner Frauen Gunſt verjchmäht er, der nicht Macht noch Genuß
jucht, jondern im Dienst des gequälten Bolfes hriftlic) Handelt und wandelt.
So ofter die Erde berührt, wächſt feine Kraft; und faſt vierhundert Jahre
währt jcyon jein Leben, als Engel ihn vom Roß heben und nad) Kiew ins
Höhlenklofter tragen, auf daß er an Heiliger Stätte ſterbe. Yange wurde den
Reiſenden dort jein Örab gezeigt. Im Lied aber lebt nod) heute der nationale
10
134 Die Zukunft.
Held, den nicht Hang zu Abenteuern, nicht Rachjucht noch Diachtbegier aus
der Enge trieb. Alte und neue Dichter Haben ihn als den Mythengeniusdes
ruſſiſchen Volkes verherrlicht, das nicht zu bejiegen fei, wenn es zur rechten
Stunde widerdie Herrſchaftder Bosheit aufjteheund dem Gebot desChrijten-
gottes gehorche. Und immer, wenn im finjteren Ruſſenreich der Drud uner-
träglich wurde und gebundene Kräfte die Eifenketten zu jprengen drohten,
hujchte ein Flüſtern über die ſchwarze Erde, ein angjtvolles Hoffen: Sit
Ilja, der Muromer, von der Yähmung erlöft und wird er die ungelenten
Riejenglieder endlich nun, endlich zur Befreierthat regen ?
Wieder geht, feitaus den Hauptjtädten jchlimme Kunde in die Dörfer
drang, die alte, oft in jternloje Nächtegejeufzte Frage durch dasYand. Oben,
in der dünnen Schicht der Gebildeten, gährt es; und die afademijche Jugend
iheint zum äußerjten Wagniß entſchloſſen. Bor einem Jahr wurde der Chef
der Unterrichtsverwaltung von einem Studenten getötet; und jett iſt Sſip—
jagin, der Minifter des Inneren, von einem Studenten ermordet worden.
Zwiſchen den beiden Thaten liegen Studentenfrawalle und Straßenfämpfe.
Dan hat die jungen Yeute niedergeichoffen, nad) Sibirien verdickt, ausge-
peitfcht und unter die Soldaten geftedt: nichtS hat geholfen. Schon wird
in Europa von dem nahen Ausbruch einer ruſſiſchen Revolution geiprochen
und der Weihe Zar beſchworen, ehe es zu fpät wird, fein Selbftherricher-
recht zu opfern; er jet jung, offenbarguten Willens und könne die Nothwen—
digkeit liberaler Reformen nicht länger verfennen. Was er thun joll, ward
ihm bisher nicht gejagt. Einem Bolfvon Hundert Millionen Analphabeten, das
auf einem Gebiet von mindejteng zweiundzwanzig Deillionen Quadratfilo-
metern lebt, eine Berfajfung nad) europäiſchem Muſter geben? Zwei Jahr:
zehnte find vergangen, jeit Nikolais Großvater auf dem Wege zu diefem Ziel
den eriten Schritt that. Am dreizehnten März 1851 — alten Stils —
hatte Alexander der Zweite, bevor er zur Parade fuhr, dem von ihm zum
Miniſter des Innern ernannten General Yoris Melikow befohlen, im Re—
girungboten am nächiten Morgen den Ukas zu veröffentlichen, der die Ver—
treter der Provinzialitände und der Stadtgemeinden zu einer Nepräfentan-
tenverjammlung in die Dauptitadt rief. Während der Erlaf, der zwar feine
Berfoffung, doch den Beginn eines politischen Yebens brachte, in der Reichs—
druderei gejett wurde, warfen Kibaltſchiſch und Sofie Perowskij am Katha-
rinenfanal ihre Bomben und der Zar wurde jterbend ins Winterpalais ge-
bracht. Yoris Melifowlieh nachmittags deutrauernden Sohn des Gemorde:
ten fragen, ob der Ukas erfcheinen ſolle; gewiß, war die Antwort: gleich morgen
Fıja von Murom. 135
ſoll das Bolfdas Teftament meines Vaters lefen. Mitten in der Nacht fam der
Gegenbefehl: die Veröffentlichung ſei aufzufchieben. Ein paar Tage jpäter
war Katkow in Petersburg und Alerander der Dritte erklärte in feinem erften
Erlaß, er werde die Autofratie, der Rußlands Größe zu danken ſei, unge-
ſchmälert aud) ferner wahren. Dieſes Gelübde des Vaters hat der Sohn er-
neut. Er könnte, nad) der Ermordung Carnots, Umbertos, Mac Kinleys,
fragen, ob der Modeparlamentarismus denn ein fpezififches Mittel gegen
Attentate jei, und die aufdringlichen Mahner an Gocthe weijen, der gejagt
hat: „Für eine Nation ift nur Das gut, was aus ihrem eigenen Kern und
ihrem eigenen allgemeinen Bedürfnig hervorgegangen ift, ohne Nachäffung
einer anderen. Denn was dem einen VBolf aufeiner gewiſſen Altersftufe eine
mwohlthätige Nahrung fein kann, erweift fich für ein anderes vielleicht als ein
Gift.” Eine Konjtitution ift in Rußland nicht nur unmöglich: fie wird von
der Mafje der Muſhils aud) gar nicht erjehnt. Heute noch find die Worte
aus der Denkſchrift Karamſins wahr, die der Ausgangspunft der jlavo:
philen Bewegung wurde, und jeder gewijjenhafte Würdenträger im Zaren-
reich muß !die Warnung beberzigen, Fünftlich im Yande des Palaeologen-
adlers Bedürfnifie zu Schaffen, die der befte Wille nicht beiriedigen fann.
Die Gebildeten, die Europas Kultur beleckt hat, haben dieſer Mah—
nung nie gelaujcht. Auf dem Thron der alten Shane vertrat fie der erjte
Alerander, der befanntefte Typus des gebildeten Ruſſen: weich und dennoch
brutal, eifrig im Erfinnen ausgreifender Pläne und jchlaff in der Ausfüh
rung, eigenfinnig und doch leicht bejtimmbar, wie alle Menichen, die ihres
Wollens Ziel niemals Har vor jid) jahen. Wer weit, was aus Rußland ge-
worden wäre, wenn Speranstijs genialischer Sprudelgeift längerden ſchwan—
fenden Sinn des Kaiſers gelenkt hätte, der Yaharpes Schüler bleiben und der
Frau von Krüdener doch die Treue halten wollte? Ohne Karamſins rauhen
Eingriff, der neue gefährliche Proben hinderte, hätten die Defabrijten viel-
leicht mehr Anhang gefunden. Yange blicb auf der Oberfläche dann Alles
ruhig. Nikolaus herrjchte, ein Ruſſe vom alten Schlag, ein Mann ohne
Nerven, ohne flatternde Phantafie, doc) unbeugiamen Willens, der nie weit
vorausichaute, das nächte Ziel aber deutlich erkannte. Schon regte jichs
überall in Europa ; Rußland nur ſchien noch zu jchlafen. Wie in den nor-
dischen Flüſſen unter der dicken Eisfrufte aber daS Yeben aud) im tiefſten
Winter forttrömt, jo zudtees unter der nifolattischen Uniform auch durch die
Glieder des Niefenreiches. Sacht wurden neue Gedanken, neue Zwangsvor—
ftellungen im Dunkel über die Grenze geſchmuggelt. Das war die Zeit, wo
10*
136 Die Zukunft.
der Student ins politijche Yeben trat. Puſchkin hat Einen aus diefer Schaar
geichildert: Wladimir Penstkij, Onjegins Freund, den jchönen Jüngling mit
den langen Poden und der Göttingerfeele, der im deutſchen Nebellande die
Freiheit lieben und Kant bewundern gelernt hat. Diefer Yenskij ift noch un:
gefährlich; ein Enthufiaft, der fi) an Schillers Dichtung beraufchte und
den Ehrgeiz des Poeten heimmwärts trägt. Nach ihm aber fommen Andere,
deren Leidenschaft fich nicht in Gedichte Löft. DieWerfe von Hegel und Feuer:
bad, Proudhon, Fourier, Saint-Simon werden eingejchleppt, die jungen
Leute fangen an, die Nationalöfonomie des Weftens zu jtudiren, das Ge—
Ichlecht reift, da8 Turgenjews Novellen die Helden gab. Bazarom jieht
anders aus als Lenskij. Er liebt nicht, ſchwärmt und bewundert nicht; Feiner
Autorität beugt er fich, fein Dogma, fein Sittengefeg ift ihm Heilig. Staat,
Volk, Religion? Nitshewo. Alles Unfinn. Alles muß anders werden.
Das neue Evangelium hatte gewirkt. Der demofratiiche Sozialismus wurde
bier, wo er einem Herzensbedürfniß und dem Trieb der Raſſe entiprach, mit
heißerer Inbrunſt aufgenommen als in Europa. Bjelinsfij wurde zum un—
erbittlichen Kritiker des hiftorisch gewordenen Rechtszuftandes, Herzens
„Glocke“ läutete mit weithin jchwingendem Ton durd) das Yand, Bakunin
predigte die Propaganda der That und pries, als commis voyageur der
Revolution, die Zerjtörerwuth als eine Schöpfermadht. Die ganze gebildete
Jugend war mit den Empörern. Natürlich: fie jah ein geiftig hilflofes, in
wirthichaftlicher Noth verfümmerndes Volk, fühlte den furdtbaren Druck
einer unbarmherzigen Theofratie auf fich laften und wähnte, nur der Re—
girenden böfer Wille halte das Neich in den lähmenden Banden der Knecht—
Ichaft zurüd... Dem verhaften Zarismus wurde damals der nahe Zu:
ſammenbruch prophezeit. Aber der Rieſe aus Murom rührte ſich nicht.
Wie oft hat fich im Yauf der ruſſiſchen Gejchichte dieſes Schaufpiel
wiederholt! Das Yand, das drei Jahrhunderte lang das Tatarenjoch trug
und deſſen Mittelalter noch fortwährte, als in Preußen das Frigenregiment
zu Ende ging, follte mehr als einmal jchon von einem zum anderen Tage
mit Europäertünche geftrichen werden. Die ſchlimmſten Folgen hatte Peters
hajtiger Verſuch, mit afiatiichen Mitteln — nad) Koftomaromws den Kern
treffendem Wort — fein Reich zu europätfiren. Diefem Selbjtherricher, den
man nicht unter die großen Negenten rechnen ſollte, fehlte jedes intime Ver-
ftändniß für die Yebensbedingungen ſeines Volkes; er glaubte, die Moderni—
jirung werde vollendet fein, wenn er das halb priefterlidye Gewand feiner
Ahnen mit einem bunten Militärrod und den biblifchen Zarentitel mit dem
Yıja von Muront. 137
Namen eines Kaijers vertaufche, den Männern den Kaftan, den frauen
den Schleier verbiete und dem Yand eine neue Hauptitadt aus den Süm—
pfen zaubere. Von tatariichen und byzantinifchen Traditionen hat er das
Reich befreit, doc es im Innerſten geichwächt und den Keim des gefähr-
lichſten Dualismus in die ruhig hindämmernde flavische Seele geſenkt. Jo—
jeph de Maiſtre hat diefen verhängnißvollen Fehler richtig erfannt, als er
an einen rufjischen Freund fehrieb: Pierre vous a mis avec l’Etranger
dans une fausse position. Nec tecum possum vivere nee sine te:
c’est votre devise. Noch heute ift die Nachwirkung diejes glänzenden Irr—
thums zu fpüren. Dem gebildeten Rufen bringt jeder Tag unbequeme Be-
läftigung. Die Zeitungen werden gejchwärzt, verdächtige Bücher von will—
fürlich jchaltenden Eenjoren dem Käufer vorenthalten. Jedes unbedachte
Wort, jede Denunziation eines Feindes fann zu adminiftrativer Maßregel-
ung führen. Und nirgends, jo weit man das Auge jchiekt, das Frühroth
hellerer Zeit. SelbftdieSapadniti, die Bewunderer weitlichen Weſens, wiſſen
feine ausreichende Antwort auf die Frage, was denn gejchehen folle. Sie
ichämen fi) vor Europas jpöttifchem Blick, — aber das Yand ift zu groß,
die Bedürfniffe der Maſſe find von denen der ſchmalen Oberjchicht zu ver:
ichieden, als daß man hoffen dürfte, eine Allen genügende Wandlung zu er:
leben. Der Zuftand wäre unerträglich, wenn das nationale Temperament ihn
nicht ertragen hülfe. Der Ruſſe ift reich an Ideen undeinbildnerischer Kraft,
aber jein müder Wille rüftet jich jelten zur That; er nimmt fich viel vor
und führt wenig aus, taumelt von tieffter Melancholie in dionyſiſche Luſt
und vergißt morgen, was er heute fein Yebensziel nennt. Er jchätt den
Werth des Dafeins fo gering, ift jo gewöhnt, im Rauſch der Sinne oder
des Intellektes um Kopf und Kragen zu jpielen, daß der Gedanke an den
Tod ihn kaum noch ſchreckt. Kein Anderer, jagt Anatole Leroy-Beaulieu
in jeinem Buch über das Zarenreich, weiß zu leiden und zu jterben mie
der Nufje; dans son tranquille eourage «devant la souffrance et
la mort il y a de la resignation de l’animal blesse ou de Indien
captif, mais relevee par une sereine convietion religieuse.
Daher die Fülle der jungen Menjchen, denen die Wimper nicht zudt,
während jie dem Henker entgegenichreiten. Rußland iſt Falter Orient.
Das Gehirn diefer Menichen arbeitet nicht fo ruhig und pünktlich wie das
mohltemperirter Europäer. Ein Fünkchen, ein über Nacht hereinbrechender
rujfiicher Frühling, der den eben noch jtarren Boden mit Blumen beitidt:
und Jünglinge und Mädchen werfen Alles weg, was ihnen das Yeben bisher
138 Die Zukunft.
ſchmückte, rennen ins Klofter oder ins Lazareth, ſchneiden jich die Pulsadern
auf oder morden einen Minijter, werden Bauern oder Straßenfänger, Sama-
riterinnen oder Proftituirte. Warum? Aus Verzweiflung, aus Alltagsefel,
in elſtatiſcher Sehnsucht nad) unbelannten Wonnen, und wären es die ſchmäh—
lichjter Erntedrigung . . . Nietiches Piychologengenie hat in Doftojewstijs
Werk die Achnlichkeit mit der Tabilen Welt der Evangelien gefühlt.
Der Herr allerReußen mag oft jetst des Wortes denken, das Puſchkin
den Ujurpator Boris Godunom Sprechen lieh: Schwer drückt die Krone des
Monomadjos! Nikolai Alerandrowitic) ift vor die Aufgabe geſtellt, ein
Millionenvolf zu Selbftändigfeit und geiftiger Meife zu erziehen. Er möchte
helfen und muß auf Schritt und Tritt doch die Ohnmacht des Autofraten
empfinden. Ein Jahr ift vergangen, feit er den alten General Wannowskij
zum UnterrichtSminifter ernannte und ihm auftrug, das ganze Schulwejen
im Sinn liebevoller Fürſorge zu reformiren. Die Jugend hat jic der guten
Abſicht nicht dankbar gezeigt; zu hart ift der Drud der Ketten, zu eindring-
lich mahnt der in die Ferne jchweifende Blid, den Kampf für die Befreiung
der Öeifter zu wagen. Die revolutionäre Ruth der Akademiker wird, wie jo oft
ſchon, nach kurzem Auffladern wieder verglimmen. Unten aber hungert das
Volk, hungert und ftöhnt und kann die Öliedernichtregen. Das ift die Gefahr.
Der Europäerhochmuth, der feinen engen Berhältnijien die Norm für fremde
Kulturen entlehnt, vergikt immer wieder, dat Rußland ein von der Wurzel
unlösbarer Iſlam it, der jeine Zukunft in Aion zu fuchen hatund dem der
modijche Firniß nicht nützen kann. Die winzige Deinderheit, die nad) poli-
tiicher Freiheit langt, ift heute nod) leicht zu bändigen und gegen fie würden,
auf Batjuſhkas Ruf, die Bauern in Schaaren aufjtchen. Doch dieſe aſiatiſche
Großmacht braucht Geld, braucht, um endlich die ungeheuren Bodenſchätze
zu heben, eine Induſtrie, der die Technik Entbinderdienjt leiften muß. Dieje
Nevolution ift zu fürchten, fie ganz allein. Wenn die Wilfenfchaft fich dem
von der Scholle gerificnen, in Stadthöhlen gepferchten Muſhik verbimdet,
ihm von Menichenrechten fpricht und die fommuniftischen Inſtinkte der Raſſe
aufitachelt, kann der Balacologenthron leicht ins Wanfen gerathen. Nod)
fitst, ob e8 im Dachgebälk auch ſchon Fniftert, Jlja aus Murom regunglos
auf feinem Plat, ein gelähmter, zum Kampfunfähiger Rieſe. Nicht der Pilger
Witte wird ihn diesmal erlöjen ; aber die Stunde wird fommen, mo die Noth
ihn aus der morjchen Hütte in die Fabrik treibt. Und dann wird der täppiiche
Held ichnell das Gehen und des Waffenichnieds Handwerk lernen.
*
Entwidelungitujen. 139
Entwicelungjtufen.
5) arf ich den im vorlegten Heft abgeſchloſſenen hiftorischen Ausführungen noch
einige methodologijche Worte hinzufügen? ch glaube, daß ich meine er—
fenntnißtheoretifche Mauferungzeit hinter mir habe, — wenn ſolche Zeiten nicht
etwa den Charakter der Periodizität aufweilen. Wie Dem nun aud) fei: mein
Freund Breyſig ift jest augenscheinlich in einem Entwidelungmoment begriffen,
in dem er das lebhafte Bedürfnig der Erörterung geſchichtlich-methodologiſcher
Kontroverjen hat und auch öffentlich zur Geltung bringt. Das ift fein
gutes Recht und ich bin der Legte, es nicht anzuerkennen; folgen aber möchte
ih ihm auf feine wiederholt gegebene Anregung hin doch nur bis zur der
Grenze, daß ich feinen Ausführungen in diefer Zeitfchrift gegenüber hier
einige Säge zufammenitelle, die mir das Ergebnik langer Erfahrung find.
Das Beftreben, geſchichtliche Thatſachen und TIhatjachenreihen zu ver:
gleichen, ift jo alt wie daS Beftreben, den geichichtlichen Verlauf überhaupt
wiffenichaftlich zu erfaflen: beide Verſuche find im Grunde identisch und
reichen bis in die erfte Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts zurüd. Seitdem
beginnt ein neues Zeitalter oder vielmehr das Zeitalter der Geſchichtforſchung;
und die Unterfchiede find biß auf den heutigen Tage nur gradmäßig, fo fehr
je, von dem Standpunkte eines engeren Zeitabichnittes aus betrachtet, als
abjolut empfunden werden mögen.
Im Berlauf diefer vergleichenden Beitrebungen tritt nun der Gedante,
die Entwidelungsgänge der einzelnen Bölfer an ſich, alfo abgejehen von ihrer
Stellung in dem Beitablauf der abſoluten Chronologie, in ihren gegenfeitigen
Verlaufäftufen zu parallelijiven, jchon früh auf. Der Moment diejer Auf:
faſſung ijt gegeben, ſobald die Verſuche der Pdentitätphilofophie aufhören,
den Gang der menſchlichen Geſchicke als einen im fich ftetig Fortentwidelten,
ohne Unterbrehung höhere Stufen erreichenden zu begreifen. Wer dann
zum erjten Mal ein griechifches Mittelalter mit einem germanifch-romanifchen,
eine Neuzeit des römiſchen Kaiſerthumes mit der Neuzeit der modernen
Jahrhunderte verglichen hat: ich weit es nicht. Perfönlich ift mir erinnerlich,
dar ſich Rofcher diefer Vergleiche in feinen Vorlefungen der zweiten Hälfte
der fiebenziger Fahre als eines gewöhnlichen Darſtellungmittels bediente.
Handelt e3 jich Hier um die Vergleihung von Zeitaltern als Ganzes,
jo ijt die im engeren Sinn fo genammte vergleichende Geſchichte andere Wege
gezogen. Bekanntlich wird jeit Beginn des neunzehnten Jahrhunderts die
Aufarbeitung des ungeheuren Stoffes der geichichtlichen Ucberlieferung immer
mehr getheilt: an die damal3 vorhandenen praftifchen geiſteswiſſenſchaftlichen
Disziplinen der Theologie und Jurisprudenz hatten fih Schon längſt Kirchen—
geſchichte und Rechts- und Verfaſſungsgeſchichte angeichloffen; darauf kamen
140 Die Zukunft.
in buntem Reigen Literatur: und Kunftgefchichte, Wirthſchaft- und Literatur:
geichichte u. f. w. Diefe Entwidelung hat ihre großen Bortheile gehabt und
hat fie noch; daR fie volle Erfolge nur erreichen kann, wenn die Theilung
durch eine rationelle Arbeitvereinigung ergänzt wird, ſieht heute erjt eine
Minderzahl der Forfcher ein. Einftweilen alfo beftand und blühte die Theil:
forfchung. Und in ihrem Bereicd wurde man nun vergleichend: es entitand eine
vergleichende Berfaflung: und Rechtsgeſchichte, eine vergleichende Religion-
geichichte, eine vergleichende Literaturgefchichte u. ſ. w.
Die Frage ift, was damit gewonnen war.
Dit Nugen vergleihen fann man nur einfache Erfcheinungen; bei
fompleren Erfcheinungen ftehen die identischen Momente neben nicht identi-
ſchen; und fo liefert die Vergleichung wohl vage Analogien, aber feine wiljen-
ſchaftlich Klaren und brauchbaren Ergebnifje. Fit die Bergleihung ein Moment
des induktiven Schluffes, jo muR zu der Induktion die Abitraktion, die
Iſolirung kommen, fol fie wirklich fördern. Ein Beifpiel; und eins der
einfchneidenditen. Im fechzehnten Jahrhundert, als Neigungen wirklich eigenen
wiljenschaftlihen Denkens, nicht nur das gelehrte Beftreben, die antife Tra—
dition weiter zu überliefern, bei den europäischen Völfern erwachten, trat jofort
das Bedürfnig auf, die natürliche Welt der Erfahrungen einheitlich zu ver—
jtehen. Wie fahte man die Aufgabe an? Man fuchte das Jdentifche in der
Summe der Einzelerfcheinungen und man fand die Kraft. Gewiß ein jchon
vecht hochitehendes VBergleihungrefultat. Aber half es wifjenfchaftlich weiter?
Die Ergebnifje waren, wie ich zeigte, die naturphilofophiichen Pantheismen
eine3 Telefto und Giordano Bruno, eines Weigelt und Bochme und die natur=
willenichaftliche Methode eines Theophraitus Bombaftus Baracelfus. Geblieben
ift und aus der ganzen Bewegung als dauerndfter Niederichlag bis heute
nur das Wort Bombaft. Aber auf die Alles auf einmal umarmenden Enthu=
taten folgten Stevinus und Galilei: fie gingen auf die Elemente, die
den komplexen Naturerfcheinungen zu Grunde lagen, und die Lehre von der
ichiefen Ebene und die Fallgefege forcirten den Eingang zur modernen Medanif,
Phyſik, Naturwiſſenſchaft überhaupt.
Das Beiſpiel giebt gegenüber den Alles vergleichenden einzelnen Geſchicht—
disziplinen zu denken. Wie ſollen bei der Bergleihung fo komplexer Erſcheinungen,
wie es jede Neligion, auch die niedrigfte, und jeder Staat, aud) der elendefte,
find, einfache Ergebnifje herausipringen? Nur vage, oft gewiß fehr geiſt—
reiche Analogien werden zu Tage gefördert. Und das Selbe gilt von ver—
gleichender Literaturgefchichte und einigen verwandten Disziplinen: der Kultur:
ausichnitt, den fie als Objekt haben, ift in feinen VBerurfachungen und
Miotivirungen viel zu verwidelt, als daß ein Vergleich vom Ganzen her
wirklih genügende Ergebniſſe liefern könnte.
—
Entwickelungſtufen.
Den Elementen muß ſich die vergleichende Geſchichtwiſſenſchaft zuwenden,
will fie Erfolge ſehen. Den Elementen, wie fie in den einfachſten pſycho—
logiſch- geſchichtlichen Thatſachen, der Anſchauung, dem Begriff, dem Trieb
zur Erhaltung und der Förderung der Lebensluſt u. ſ. w. gegeben ſind.
Auf der Unterſuchung der geſchichtlichen Entwickelung dieſer Elemente
iſt meine Deutſche Geſchichte von Anbeginn — Das heißt: ſeit den aus—
gehenden ſiebenziger Jahren — aufgebaut worden. Der Frage zugewandt, in—
wiefern ſich die Entwidelung der angegebenen Elemente induftiv werde auf:
finden laffen, begriff ich jehr bald, Das werde nur in der Durcharbeitung
der hijtorifchen Ueberlieferung einer ganzen Nationalgefhichte möglich jein
und hierfür biete die deutſche Gefchichte bei ihrer überaus weit zurüdreichenden
Meberlieferung befonders günftige Ausfichten. Und ſchon früh habe ich auch
induftiv die Stufen diefer elementaren ſozialpſychiſchen Entwidelungen ge:
funden: bereit3 der erſte Band meiner Deutfchen Gejchichte (1891) fpricht
völlig Ear und unzweideutig von einem fymbolifchen, typifchen, fonventionellen,
indivibualiftifchen und fubjektiviftiichen Zeitalter und theilt nach ihnen den
ganzen Berlauf der Entwidelung ein.
Man jieht aus dem bisher Erzählten, daß es in der ganzen Intention
diefer Vorgänge von vorn herein befchloffen war, Entwidelungftufen des
Seelenlebens aufzufinden, die jeder großen menjchlihen Gemeinfchaft, jeder
Nation gemeinfam waren. Ganz etwas Anderes aber war die Frage, wann
es möglich fein wirde, für dieſes Problem den induktiven Nachweis einer
günftigen, bejahenden Löjung zu führen. ch jedenfalls habe die für die Ge-
ſchichte des deutſchen Seelenlebens gefundenen Entwidelungitufen nicht als
allgemeine hinftellen wollen, ehe ich dafür nicht den abjolut ficheren Beweis
in der Hand hatte: und fo verhielt ich mich zu dem ‘Problem, immwiefern
etwa die in der deutichen Gefchichte gefundenen piychiichen Entwidelungftufen
allgemein giltig jeten, nach außen hin im der Hauptjache indifferent.
Aber innerlich und in zunächit privaten Studien Hat es mich fortwährend
beihäftigt. Und da ergaben fic für die Löfung Schwierigkeiten, die in der
Hauptfache denn doch nicht blos im der richtigen Stollenführung hinein in
die enormen Stoffmaffen der geichichtlichen Ueberlieferung begründet lagen.
Enthielt denn die deutſche Geſchichte alle Entwidelungitufen? Bekanntlich
bricht fie, wenn fie auch in hohes Alterthum hinaufführt, doch fchon in den
Zeiten der relativ weit entwidelten Kultur der caejarifchen und taciteifchen
Periode ab. Was lag vor ihr? Die Antwort auf diefe Frage fonnte in der
Geſchichte feines anderen fogenannten Kulturvolfes gefunden, fie mußte vielmehr
völferfundlich gefucht werden. So fam es darauf au, den ungeheuren Stoff
der Ethnographie in Berioden relativer Chronologie, in Stufenfolgen feelifcher
Lebensäußerungen zu zerlegen. Lid wenn Das gelang: Wie weit führte wieder
11
142 Die Zufunft.
die Völferfunde? Bis zum „Anfang“? Dan kennt die Kontroverſen zwifchen
Baitian und Nagel und das Problem primitiver Verfallsfulturen: war hier
zu einem Ende zu gelangen? Nur die Kinderpfychologie fchien die Möglich:
feit einer ungefähren und hypothetifchen Entjcheidung zu bieten.
So waren es mannichfache Studien, die hier allein fördern konnten.
Ic habe jie, in einigen entfcheidenden Zügen, aber keineswegs vollendet,
hinter mir; und e3 wird noch Fahre dauern, ehe ich mit ihnen an die Deffent:
[ichkeit treten kann. So viel aber erlauben fie mir doch ſchon mit Sicherheit
zu jagen: die gefundenen Zeitalter feelifcher Entwidelung find nad vorn nur
noch durch eim einziges neues — ich hatte viel mehr erwartet — zu ergänzen,
das ich das phantaitifche nennen möchte; und ihr Verlauf wiederholt ſich
ausnahmelos in den großen menſchlichen Gemeinschaften der Geſchichte. Dies
aber auszusprechen, lag mir bei der Ausgabe einer neuen Auflage meiner
Deutichen Gefchichte deshalb am Herzen, weil mir erjt von diefem Stand-
punkte aus die Nennung der jozialpfochiichen Zeitalter auf dem Xitelblatt
der neuen Auflage und damit die unmittelbarjte Einführung der denfenden
Zeitgenofjen in die neue Eintheilung gerechtfertigt erjchien. |
Wie ftellt fih nun zu Alledem Breyſigs Syftem? Ich denke, es läßt
fich, wenn auch mit unvermeidlicher VBerfchärfung und Vergröberung der
Hauptlinien, mit wenigen Worten jagen. Denn wiederholte, höchſt Lehr:
reiche Aufſätze Breyſigs haben die Lefer gerade diefer Zeitfchrift ſchon nicht
wenig in das Verſtändniß der Ideenwelt Breyſigs eingeführt. Breyſig wendet
die vergleichende Methode nicht auf die elementaren, fondern auf die fompleren
Erfcheinungen der gejhichtlichen Entwidelung — nocd neuerdings fogar auf
die fomplerefte von allen, die politiichde — an. Er thut Das mit Scharfiinn
und Geijt und die Ergebniffe find nicht gering. Uber es läßt fich nicht
leugnen: bei dem einmal gewählten methodologifchen Standpunkt bleiben diefe
Ergebniffe im Ungefähren, nicht völlig Umfchriebenen teen: fie liefern nur
Näherungwerthe. Und noch mehr. Wer bis in die Erforfhung der Ent:
wickelung der elementaren pſychiſchen Werthe vorgedrungen ift, überzeugt ſich
bald, daß es auf ſeeliſchem Gebiete Zweierlei giebt, nämlich erſtens Gejege
einer pſychiſchen Mechanik, die zu allen Zeiten gelten, wie das Geſetz des
Stontraftes, wonad Luft und Unluft, Freude und Leid, Enthuiiasmus und
Niedergefchlagenheit jtändig in uns wechſeln, und zweitens Entwidelungs=
geiege, wie das Gejeg der Entwidelung der Anſchauung aus ornamentaler
Wiedergabe der Erſcheinungwelt zu deren typischen, fonventionellem, indi-
vidualiſtiſchem, ſubjektiviſtiſchem Erſaſſen. Es ift genau wie in der Biologie
überhaupt: neben den Entwidelungsgefegen des pflanzlichen oder animalifchen
Lebens ftehen, ste bedingend, aber nicht beherrichend, die Geſetze der ich in
diefen abjpielenden phyſikaliſchen und chemischen Prozeffe. Und wer Das
Entwidelungftufen. 143
findet, Der wird ſich auch alsbald Har: nicht die Gefetge der pſychiſchen Mechanik,
wie das Kontraftgefeg, find die eigentlichen Erponenten des hiltorifchen Lebens,
fondern die Gefege der Aufhauung:, Begriffs: und Triebsentwidelung u. f. w.
Wie ftellt jih num Breyiig zu diefen Dingen? In der Durddringung
der fompleren Erfcheinungen ift ihm der Unterfchied der pſychiſch-mechaniſchen
und pſychiſch-biologiſchen Geſetze nicht Far geworden; und er wendet die
pſychiſch⸗ mechaniſchen Gefese, vor Allem das Geſetz des SKontraftes, zur
Beriodenbildung an: durch eine bald mehr individualiftiiche, bald mehr
fozialiftifche Haltung foll der Wechſel der einzelnen Zeitalter gefennzeichnet
werden. ES ift die Stelle, wo nach meiner bejcheidenen Auffaflung Breyſig
ſterblich ift: hier liegt ein fchwerer logischer und alſo methodiicher Fehler
vor. Denn fo richtig e3 ift, daß der Uebergang von einer Entwidelungitufe
zur anderen ji ganz — aber feinesmegs immer — unter den Erjcheinungen
des pſychiſchen Kohtraftes vollzieht — man wird des alten Zuftandes müde und
ſtürzt jich umter deutlicher Abweiſung des alten in ein neues Seelenleben —, jo
wenig wird durch diefe Begleiterfcheinung der biologische Fortichritt an ſich
erfiärt oder motivirt oder im irgend einer Weife dem Berjtändnig näher ge-
bradt. Es ift, als wollte man auf naturgefchichtlihem Gebiete die Wachs—
thumserfcheinungen rein nur aus Gejegen der Phyſik und Chemie erklären.
Man fieht hier, was Breyfig und mich trennt: Differenzen der Methode.
Diefe Differenzen aber bleiben nicht ohne ſchwere Folgen, fobald das metho:
diſche Werkzeug zu arbeiten beginnt. Die Ergebnifje find ſchließlich außer—
ordentlich verichieden; und ſchon aus diefem Grunde kann von einem prius
oder posterius unferer Ergebniffe nicht wohl die Nede fein: fie jind an ſich
infommenfurabel.
Wer von uns Beiden „Recht“ hat? Nicht wir haben es zu enticheiden,
fondern der fpätere Verlauf der Forfhung. Wir tragen unfer Tröpflein in
das große Meer der wiffenfchaftlichen Entwidelung: «8 vereinigt ſich mit ihren
Wäſſern; und wer weiß, an welchem Orte, unter welchen Bedingungen es
wieder auftauchen und wirkſam werden wird? Es fteht nicht in unferer Hand:
in der fteht nur, ehrlich und wahrhaftig zu arbeiten: Caetera deus pro-
videbit. Das aber mag, namentlich für ferner Stehende, betont fein: im
diefer Weife wahrhaftig zu arbeiten, iſt nicht jo ganz leicht; deun über Dinge,
wie die hier vorgetragenen, nachdenken und urtheilen, heißt an ſich jchon,
viel angeftrengter arbeiten, al3 der gewöhnliche hijtorifche Studienbetrieb es
verlangt; und Die fich auf diefes Gebiet wagen, find vorläufig noc Kämpfer
ohne Ruhe und Raft; fie ftehen jeden Morgen von Neuem auf dem Schlacht—
felde; und für fie giebt e8 feine Manövertage, jondern nur den unabläffigen
Ernſt des Kampfes.
Leipzig. Profeſſor Dr. Karl Lampredt.
Er 11*
—
144 Die Zukunft.
VNervoſität und Runjtgenuß*).
Ayreietuet Inhalte find der urfprünglichiten Kunftentwidelung fremd.
Didtung und Muſik gingen hervor aus dem Arbeitgefang, den die
rhythmiſchen Bewegungen der arbeitenden Glieder und der daraus folgende
Rhythmus der Arbeitgeräufche weten. Bis zu Sophofles fteht der Rhythmus
im Bordergrunde der Poeſie. Längft zwar find nun Gefühle und Leiden:
haften Gegenftand ihrer Schilderung geworden; aber der befondere Gedante,
die grübelnde Frage, da8 Problem fett eigentlich erſt mit der Auflöfung
der „klaſſiſchen“ Tradition, mit Enripides, ein. Der Träger des Rhythmus,
der Chor, tritt zurüd und fpäter finden wir als feinen Erben eine andere
Macht, die Mufit. Sie ift die Negation des Gedankens in der Kunit.
Mit einem Zufammenflang oder einer Abfolge von Tönen verbindet
ſich zunächſt niemals etwas Intellektuelles. Was jene hervorzurufen ver:
mögen, find Gefühle, Stimmungen. Alles Weitere iſt ſekundär. Indem
die Gefühle eingegliedert ſind ins Temperament und dieſes eine gewiſſe kon—
ſtante Richtung unſerer Affekte bedeutet, indem die Affekte wiederum Kom—
plexe aus Gefühlen und Vorſtellungen ſind, leitet jede Stimmung ſchließlich
zu gewiſſen Aſſoziationketten hinüber. Aber zu welchen? Das hängt, um
mich eines Wortes von Wundt zu bedienen, von der geſammten Bewußtſeins—
lage ab, die für jeden Einzelnen eine befondere it. Daher fommt c8, daß
ZTolftoi vor dem Unberechenbaren der Muſikwirkung graut und Hanslid gegen-
über der Veredlung durch die Tonkunſt auf deren „weites Gewiſſen“ hinweift.
Die neuropathifche Wirkung der Muſik fönnte alfo — fofern wir von
der rein finnlichen Zerrüttung abjehen — nur darin liegen, daß bei Dem
oder Jenem durch fie Stimmungen erzeugt werden, die immer wieder auf:
regende Problemitellungen, Gedankenreihen nad vich ziehen. Ic kann mir
vorstellen, daß die Eroifa einen grübelnden Geift ins Nachdenken über den
Kontraft und Konflikt elementarer Größe mit leichter Alltäglichkeit förmlich
hineinzwängt; und ich kann mir nicht mur vorftellen, fondern es ift einjach
Thatſache, daß Einer mit folhem Grübeln jeine Nerven ruiniren kann.
Aber an Alledem ift die Eroifa, it überhaupt jede Muſik unfchuldig. In
Hunderten wird diefe Symphonie ganz andere Gedankenreihen auslöfen; und
der heute noch unentjchiedene, eben nothwendig unentfchiedene Streit über den
Sinn des unſterblichen Scherzo beweilt, wie verfchieden auch die Kunſt—
empfänglichiten hier reagiren. Auch die Tannhäufer-Ouverture, der Liebes—
tod, der Zarathuftra vermögen nichts darüber hinaus. Die zu ihnen ge-
hörigen nterpretationen, Texte, Programmbücher wohl; nicht aber fie feibit.
x Pe}
) S. „ntunft“ vom 19, April 1902,
Nervofität und Kunſtgenuß. 145
Es giebt feine intelleftuellen Reihen, die unbedingt am ihren Genuß ji
fnüpften; und die ganze Muſik, von den hebräifchen Eymbeln und griechifchen
Flöten über Paleftrina und Beethoven und Wagner bis zu den Jüngften
und Problematifcheften herab, ift an jich neuropathifch völlig indifferent, wird
es fir ewige Zeiten fein.
Dagegen ift die Poeſie feit ihrer Löfung aus dem Rahmen des
religiöjen Tanzes die eigentliche Trägerin der Gedanken geworden; und die
germanischen Völker haben ihr, nicht feit Shafeipeare erſt, fondern jeit
Wolfram von Ejchenbach mindeſtens, die emdgiltige Richtung aufs Grübelnde,
Problematifche, auf3 im tiefiten Sinn Intelleftuelle gegeben. Nicht, als ob
alle Dichtungen der lateinischen Stämme in graziöfer Epif ihr Höchftes ge-
leistet hätten; Ausnahmen find überall zu finden; aber wenn es wahr bleiben
jollte, was die neufte Forſchung nahelegt, daß Dante einer ziemlich raſſe—
reinen langobardiichen Familie entjtammt, jo wäre eine der größten Aus-
nahmen jchon befeitigt. Für die Germanen hat ein ſchöner Zufall es gefügt, dat
von ihren drei großen Stanmeseinheiten jede einen umwälzenden Dichtergeift
hervorbringen durfte. Die Angelfachien gaben Shakeſpeare; aus dem deutfchen
Volk jtieg Goethe empor; vom ffandinaviichen Norden aber rüttelte dag
träge gewordene Jahrhundert Ibſen.
Und Ibſen, der unergründliche Näthjeliteller, ift immer wieder als die
vollfommenjte Verkörperung Deſſen angegriffen worden, was in der modernen
Dichtung ungeſund, verwirrend, neuropathiich fein fol. Bon Nerven-
ärzten iſt am fchärfiten Möbius, auch wieder einer unferer Allererjten, gegen
ihn aufgetreten. Einmal ſpricht er von „gräulicher Problemfchriftitellerei“ ;
an einer anderen Stelle apojtrophirt er den Norweger als „Apothefer-Dichter“,
bei dem man nie wille, was er wolle; und gar bis zu der Bitte verfteigt
er jich, ein gütige8 Gejhid möge uns von der „nordiichen Lazarethpoejie“
erlöfen. Das find feine Originalitäten; wir haben Dies und Achnliches
taufendmal unterm Strich kunftfonfervativer Zeitungen und Journale gelefen;
bezeichnend ift nur, daß ein Nervenarzt von Möbius’ Range, der oft genug
bizarr wird, nur um nicht die ausgetretenen Wege, fondern feine eigenen
zu gehen, dieje Bejhuldigungen einfach wiederholt. Daß er es nicht gedanken
[08 thut, fondern nach guter leberlegung, jegt wohl ein Jeder vom Berfajier
des „Pathologifchen bei Goethe“ voraus.
Ibſens Lebenswerk it die Darjtellung jener fchrillen Disharmonie,
die im Menfchen umferer Zeit durch die Zerftörung der alten Welt» und
Lebensanfchauung erzeugt wird. Einft hatten wir Normen; mit denen ift
e3 nun aus, Der Traum vom Ewige Menjchlichen ift vorüber. In ung,
um uns, vor und; Alles iſt relativ; und an die Stelle des frommen
Abhängigkeitgefühles tritt das kritiſche, ins Einzelne jpürende Abhängigkeit
146 Die Zuhmft.
wiſſen. Die „Rerhältniffe“ werden zu einem erbarmunglofen Ungeheuer,
das Alles erdrüdt. Wir vermeinten, die ftärkften Naturkräfte gebändigt zu
haben; aber indem wir fie beherrfchen lernten, verſtlavten wir uns täglich
mehr den wirthichaftlihen Kräften, die aus ihnen hervorwuchſen und deren
Leitung und immer vafcher entgleitet. Diefe Erfüllung des trübften Goethes
worte8, daß wir „jcheinfrei denn, nach manchen Jahren, nur enger dran,
als wir am Anfang waren“, find, fie it des großen Riſſes Urfache, der
durch unfer Empfinden geht.
Dazu kann die Dichtung in zweierlei Weife Stellung nehmen. Sie
fann fich flüchten in vergangene Zeiten oder in eine Welt des fchönen Scheines,
der jchmeichelnden Gefälligfeit; romantisch lann fie fein oder afademifch-
äjthetifch. Sie kann fid) aber auch mit beiden Füren in die Zeit hineintellen,
den Kampf fchüren, den wir im Leben kämpfen, all dies Zweifeln und Ringen
fich zu eigen machen. Wie wirft Jenes, wie Diefes auf, unfere Nerven?
Der Angelpunft unferer Nervofität ift das durch die Fapitaliftiiche
Wirthſchaftordnung unermeßlich verfchärfte Gefühl der Verantwortung; oder
noch richtiger: der Kontraſt zwiichen dem Gefühl, daß man als ver-
antwortlih gilt, und dem Gefühl, daß man gar micht verantwortlich
fein kann, weil die „Verhältniſſe“ herrichen. Die Zunft feflelte, aber fie
ihügte auch. Heute fpült mich vielleicht die Welle mit fort, die irgend
ein geringfügige Ereigniß in einem entfernten Erdtheile wirft. Mit
jolchen Gedanken den Kampf ums Dafein zu führen: Das reibt auf.
Und darum find aud Alle, denen dies Loos gefallen ift, die typiſchen
Neurafthenifer unferer Zeit. Nicht etwa, wie der Laie oft glaubt, die
Seiftesarbeiter im engeren Sinn, die Gelehrten. Uebermäßige Gedanken—
arbeit führt zu pfychiatrifchen Bildern, die von der Nervofität ſich fcharf unter:
ſcheiden. Die Erfchöpfungpfychofen, war Allem das Kollapsdelirium, jind
die Folge ſolcher Ueberanftrengung; fie laffen ſich experimentell durch
Uebermüdung — fortgefettes Addiren einen Tag und eine Naht lang —
leicht nachahmen. Wo Gelehrte eigentlich nervös werden, da find, jieht man
‚genauer zu, faft immer gemüthliche Aufregungen mit ihrer Arbeit verknüpft:
übermäßiger Ehrgeiz, Enttäufchungen, Zurüdjegungen, folgenjchwere Irrthümer.
Sobald jedoch die Verantwortung, vor Allem im der Geftalt jener befchrie-
benen zwiefpältigen Negungen, in den Vordergrund tritt, da heftet jich die
Nervofität an ihre Ferfen. Der Arzt, der Richter ift feit je her leicht nervös
geworden. Aber erjt die befonderen Formen de3 modernen wirthichaftlichen
Kampfes mit ihren befonderen Variationen der Verantwortung haben die
eigentlich moderne Nervofität geichaffen. Und die iſt eben darum auch in
den Ständen am Gröften und am Meiften verbreitet, in deren Händen die
wirthichaftlichen Funktionen, Produktion und Austanfch, liegen.
Nervofität und Kunftgenuf. 147
Wer von quälenden Kämpfen jpricht, wird vielleicht als Antwort
hören, dar die weitaus meiften Mitglieder dieſer Klaſſen ſich des tieferen
geiftigen Inhaltes ihrer wirthichaftlichen Rolle kaum bewußt jind. Sie wollen
Geld verdienen, um gut zu leben. Das Legte trifft aber gar nicht zu; am
Wenigften auf die Großunternehmer. Solide Lebensbehaglichkeit war das
deal des alten, heute fait ausgeftorbenen Patrizierd: T. D. Schröter in
Freytags Kaufmannsroman. Lurus, Komfort ift dem modernen Unternehmer
längjt eine Selbitverftändlichfeit, auf die er faum je achtet. Was ihn zu
einer Arbeit von ſolcher Intenſität, dan fein Gelehrter und fein Proletarier
fie ihm abnehmen würde, anjpannt, ijt ein Kompfer ganz verworrener, halb-
dunkler Gefühle; vor Allem die hinter ihm lauernde Unficherheit, der er ich
nur durch fortgefegte Steigerung feines Betriebes entwinden zu können meint.
Wie weit alles Das unter den philofophifchen Begriff des Nelativismus fällt,
darüber ftellt er natürlich Feine Betrachtungen an. Aber num fommt er ins
Theater; und wie ein Funfe ind Pulverfaß fchlägt da in fein Gefühlsdunfel
ein, was die moderne Dichtung ihm fagt. Bon ganz anderen Dingen
zwar ift dort die Rede; aber die Gefühlstöne, die fie begleiten, treffen un—
mittelbar mit denen zufammen, die fein Sorgen und Haften fennzeichnen.
Es jind im Grunde die ſelben Konflifte; nur werden jie hier rückſichtlos
ausgefprochen, fonfequent abgewidelt.
Und Das fol den Nerven den Reſt geben. Wirklih? Wenn der jelbe
Mann nicht Ibſen, fondern Fulda hört; wenn in graziöfen Verſen ein leicht:
geichürztes Getändel ihm zwei Stunden lang gezeigt wird, — mein Gott
ja, es werden vielleicht zwei Stunden der Erholung, des Vergeflens für ihn
fein. Vielleicht, wenn wohlflingende Grazie die Gefühle einzufchläfern ver—
mag, die einen ganzen Tag, vielleicht auch fchon eine Nacht und einen Tag
lang das Gehirn zerarbeitet haben. Hoffen wir, daß fie e8 vermag. Aber
bei der Heimkehr? Glaubt Jemand an Nahwirfungen? Dem Zubettgehenden
ſtellt ſich Schon wieder der näcdjite Tag vors Auge. Um zu vergefien, brauchte
er feine Kunſt, wenigitens feine, die ernithaft genommen fein will. Vor—
ſtadttheater, Wintergarten, Weinftube, Cafe, ein üppiger Frauenleib: Das
ift Vergeffen. Man fagt: Ganz richtig; aber das Alles geht noch viel mehr
auf die Nerven. Gut denn; jo fann der nervenheilende Werth der ſchönen
Scheindichtung mit ihren vergangenen oder erfundenen Leidenschaften, Stolli:
fionen und Löfungen über Null doch nie hinausfommen. Dieje Kunſt it
neuropathiſch indifferent.
Die andere aber ift der Weg von der Dunfelheit zur Slarheit. Cine
Alltagsweisheit jagt, nichts fei aufreibender als die Ungewißheit. Nichts tft
quälender als das Erleben von halblichten Gefühlen, über deren Urjprung
und Grundlage wir ung eigentlich feine Nechenichaft zu geben vermögen.
14R Die Zukuuft.
Ich habe einmal bei verfchiedenen Menſchen, die fonzentrirte geiltige Arbeit
feiiten, gefragt, welche Störung ihres Schaffens fie am Meiften fürchten.
Und bei Allen Fam es auf das Selbe hinaus: jene Verftimmungen, die ung
plöglich befallen, ohne daß wir zunächſt ihre intelleftuelle Grundlage feftitellen
fönnen. Sie lähmen fchlechthin, sie koſten Tage und Nächte, fie zerrütten,
wenn fie von langer Dauer oder häufig find. Und darım kann ich mir
für den modernen Menfchen gar nichts Heilfameres denken, als ihn heraus:
zureißen aus dem Dunkel disfonirender Gefühle ins Flare, wenn auch falte
Licht der Erkenntniß. Daß er als lieder in Zufammenhängen erblickt,
was er für unberechenbare Launen hielt, ift der erfte Schritt, ihm zu einer
MWeltanfhauung zu verhelfen. Und wer die erſt bejist, braucht die Nervo=
fität nur noch halb zu fürchten.
Diefe Aufgabe aber Löft gerade Ibſen durch jenen Charakter feiner
Kunft, den man ihm als „ſymboliſtiſch“ bald vorgeworfen, bald gepriefen
hat. In feinen Menſchen leben und wirken Mächte, die Mächte unferer Zeit,
leben und wirken in ihrer ganzen Größe. Oder erhebt ſich nicht in John
Gabriel Borkman der Kapitalismus zu hinreifender Gewalt? Wo wäre die
Brutalität des Induftrieherren je jo erhaben geadelt worden wie hier? Um:
fließt ihm nicht die Glorie des Tragifchen? In all dem Ningen und
Unterliegen, das uns fo Hein und peinlich dünft, die große .Tragif auf:
zuzeigen, es damit aus dem Zeitlichen ins Ewige zu heben: Das ijt die
Grofthat der modernen Dramatif, der nordifchen in erfter Linie. Den, der
in den „Geſpenſtern“ nur die paralytifche Demenz ficht, mag Lazarethluft
daraus anwehen; aber ift nicht das Stüd, im Ganzen genommen, ein furdht-
bares Mene Tefel von der erbarmunglojen Tendenz zur Gejundheit, die in
der Raſſe lebt und alles Angefaulte auszujäten drängt?
Freilich: um Das zu fühlen, mug man Dichtungen hören gelernt
haben; ſonſt werden jich leicht die dunfelfarbigen Einzelheiten, aus dem
großen Ganzen herausgelöft, bedrüdend aufs Gemüth legen. Und hier ift
eben der Angelpunft unferer ganzen Frage. Wenn auf viele Menfchen die
moderne Dichtung neuropathiich wirkt, jo liegt ed meift an ihnen, — oder.
beſſer: an ihren Erziehern, die nicht verftanden haben, ihren Geift auf folche
Kunſt hinzulenken. Es ijt der ganze unfinnige Klafiikerfultus unferer höheren
Schulen mit feinem bodenlos verlogenen Pſeudo-Idealismus, wie er im
Gejchicht: und im Deutfchelinterricht feine famofejten Blüthen treibt, der der
nervöſen Zerrüttung unferer beften Perfönlichkeiten die Wege ebnet. Bon
Darwin und Taine darf auch in Oberprima noch nicht geſprochen werden,
wohl aber von Scherer und Ranke, deren Auffafjungen als die giltigen feſt—
gelegt find. Und es fteht zu befürchten, daR die Sache noch ſchlimmer wird.
Noch mehr als bisher follen in Gefchichte und Deutſch Kirchlichkeit und
Nervofität und Kunſtgenuß. 149
Dynaſtizismus, Jambenbegeiſterung und Vergangenheitkult gepflegt werden.
Tote Welt- und Lebensanſchauungen ſind es, die den ideellen Gehalt einer
ſo verbildeten Jünglingsſeele ausmachen; woher ſoll da die Möglichleit
kommen, die harte Lebenswirklichkeit ideell zu begreifen? Mit der Bibel und
dem Lied von der Glode läßt jich unfere Zeit nicht mehr faffen, fo wenig
wie unfere Kunſt mit dem Laofoon und der Hamburgifchen Dramaturgie.
Das Einzige, was der ind Leben Tretende mit diefem geijtigen Belig an:
fangen fann, ift, ihn möglichit bald zu vergeffen, fanımt den ſchwülen Sonn=
tagsabenden, an denen er Auffäge darüber fchreiben mußte. Aber gelingt
dies Vergeſſen auch noch fo raſch, fo ift Eins vorher ficher erreicht: der Weg
zum Berſtändniß des modernen Lebens ijt verfperrt.
Wie wenig aber diefe faufale Verkettung erkannt ift, zeigen die End—
forderungen einer an ſich höchſt verdienfilichen Bewegung, die wir in jüngfter
Zeit erlebt haben. Die geiftige Nahrung, vor Allem die literarifche, unferer
Jugend ward umterfucht und ein vernichtendes Urtheil über die verflachende
und verjimpelnde „Sugendichriftitellerei* der Hoffmann, Nierit, Karl May
und Genofjen gefällt. Ihre Machwerfe follten jeden höheren geiftigen Flug
von vorn herein lähmen. Zwiichen gehaltlofen, unwahren Rührfäligkeiten,
mit fyrupdider Moral verfüht, und den rohen Schaudergeicjichten der ameri=
fanifchen Prairie pendle hin und her, was unferen heranwachſenden Kindern
geboten, von der Schulbibliothek eingehändigt, von den Eltern auf ten
Weihnahtstifch gelegt werde. Bis dahin war die Sache fehr beachtenswerth.
Aber nun kam die Kehrſeite. Man verlangte die Abſchaffung der befonderen
Jugendlecture überhaupt. Für das Sind ſei das Beſte gerade gut genug
und ihm dürfe nichts Anderes gereicht werden als die Perlen der Dichtung;
freilich nicht alle, fondern eine „Auswahl“.
Ih geftehe, daß ich nicht recht weih, wer durch diefe Forderung mehr
verhöhnt wird: die Jugend oder die Hafjifche Dichtung. So lange wir es
nicht fertig Friegen, gejchlechtsreife Kinder auf die Welt zu bringen, wird
auch nicht3 daran zu ändern jein, daß exit die Pubertät der Schlüflel zu
den höchſten affeftiven und intelleftuellen Erlebniſſen der Menfchenfecle iſt,
wie doch unfere weimariſche Dichtung gerade jie zum Gegenitande hat. Ich
bin wirklich fein Optimift in der Beurtheilung unferer Schulen, aber die
Leſebücher für die unteren Klaſſen, auch noch für die mittleren, fcheinen mir
kaum einer Verbeſſerung bedürftig. Der unhcilvolle Abrutſch zum Klaſſiker—
monopol vollzieht fich erft oben in Sefunda und Prima. Und Nierig, May
und Genofjen in allen Unehren: aber ich gedenfe hier eines Knabenjahr—
Buches, deſſen Anregungen mid bis heute begleiten; Franz Hofimanns „Neuer
Deutfcher Fugendfreund* ift es, in dem freilich auch manches Werthlofe jteht,
aus den ich aber geradezu Perlen einer für die Jugend geeigneten Dichtung
150 Die Zukunft.
hervorfuchen könnte. Die fosmopolitifche Abgeflärtheit der weimarifchen Zeit
ift für einen Knaben einfah unfaßbar und darum langweilig bis zur Qual;
tauſend Refonanzen aber finden wir in der jungen Seele für die Romantik
deutfcher Vergangenheit; und diefe Nefonanzen zu weden, halte ich gerade
gegenüber dem umerquidlichen neupreufifchen Sedandauvinismus für cine
erzieheriiche Pflicht erften Ranges. Denn find erft diefe Töne angefchlagen,
dann können wir dem Yünfzehnjährigen die Akkorde der Freytag und Fontane
bieten und dem Primaner werden Kleiſt und Hebbel fchon genug zu fagen
haben; und da jind wir ja im Vorzimmer der modernen Dichtung, einen
Schritt vor Ibſen. Wer verläßt denn heute die Schule mit Liebe im Herzen
für die Klaſſiker? Daran ift aber nicht die vielgefcholtene Methode jchuld,
fondern die klaſſiſche Dichtung am ſich, eben weil fie niemals eine deutiche
achtzehnjährige Seele ausfüllen fann. Aber theilt jie fich in den Plag mit
Kleift, Freytag, Hebbel, Fontane, dann wird auch die Liebe nicht ausbleiben,
und ift. dem Füngling eine Ahnung aufgedämmert von der wundervollen
Linie, die von Gellert und Claudius über Goethe bis zu Hebbel und zur
Gegenwart führt, dann wird er den Faden nicht fo leicht verlieren, der ihn
auch im Leben an die Kunſt fnüpft. Dazu gehört noch ein Geihichtunterricht,
der nicht dynaftifche Jahreszahlen, fondern Kulturquerfchnitte giebt, der die
Zufammenhänge zwifchen den wirthichaftlichen Grundlagen und den feinften
Geiftesblüthen einer Zeit aufzeigt. Dann wird der Drang, auch die Lebens-
wirflichkeiten, die man am eigenen Leibe verfpürt, ideell zu erfallen, eine
Weltanfdauung zu finden, in der fie Platz haben, ummwiderftehlich werden.
Natürlich nicht bei Allen, aber doch bei viel mehr Menſchen als heutzutage.
Dann fehnt fi wohl auch Der, den die Wirbel des modernen jozialen
Lebens den Tag über gefaßt und gerüttelt haben, gerade nad) einer Stätte,
wo er diefe Erlebnifje nicht vergißt, fondern ihren tieferen Sinn erfennen
lernt, fie eingliedert in die Nothmwendigfeit des Seins und des Werdens.
Und ob er dann die grandiofe Epik Zolas, die gütige Nejignation Fontanes
oder die tiefgründige Symbolik Ibſens auf ſich wirken läßt: immer wird ihm
ein Weg ſich zeigen, der ihn hineinführt in die größeren Verkettungen umd
damit hinauf vom Endlihen ins Unendliche. Stets bleibt aber eine der
größten Wahrheiten das Wort Schleiermachers: Neligion fei Sinn und
Geſchmack fürs Unendliche; und wenn von Theologen heute mit Eifer die
Neligiojität al3 das jicherjte Heilmittel gegen die Nervojität gepriefen wird,
fo weifen, unbewunt freilic, die DOrthodoren dem denfenden. Menjchen den
Weg von ihnen fort zu den Verfuchen moderner Weltanfhauung Kunſt
it nicht Religion und fann fie nie erſetzen. Das fol fcharf betont und
der gedanfenlofen Umbdeutung eines mihverftandenen Goethewortes entgegenz
getreten jein; aber wenn eine Macht die neue Religion, nach der unfer
Nervofität und Kunſtgenuß. 151
Sehnen geht, vorbereiten half, jo iſt es unſere Kunſt, befonderd unfere
Dichtung geweſen. Sie ift die wahre Trägerin des Einnes und Geſchmackes
fürs Unendlihe; und damit fchleift fie uns, weit entfernt, neuropathifch zu
wirken, im Gegentheil die beſte Waffe gegen die Neurafthenie.
BVielleiht hält man mir hier voll JIronie die ſichtbaren Thatſachen
entgegen und weilt auf das "Premierenpublifum unferer Theater und die
Stammkundſchaft unferer Leihbiblinthefen als wahre Blüthelejen entnervter,
neurafthenifcher Gefchöpfe. Nun gehören aber neun Zehntel des Keihbibliothefen-
beftandes zum literarischen Schund, mit dem ji vornehmlich unfere Töchter
und Frauen in ihrem meift völlıg verdborbenen oder auch embryonal gebliebenen
fünftlerifchen Geſchmack füttern, um die reichliche Mufezeit ihres arbeit-
und gedanfenlojen Dafeins auszufüllen. Faſt alle Männer empfinden vor
der äußenen Beichaffenheit diefer Bücher einen gewiſſen Efel — die Ekel—
gefühle pflegen bei Frauen überhaupt fchwächer zu fein — und die faljche
Sparſamkeit des Deutfchen, der Sich eben nur ſchwer entſchließt, ein Buch
zu kaufen, thut ihr Uebriges. Die ITheaterpremiere aber it durch unfere
literariſche Reklame, durch die Zuſtände unſerer Zeitungskritik und den ganzen
verdorbenen Geiſt unſerer ſogenannten vornehmen Theater einfach zu einer
pikanten Senſation geworden, die über den inneren Werth oder Unwerth
einer dramatiſchen Schöpfung längſt nicht mehr entſcheidet. Auch fällt die
Nervoſität dieſer Theaterbeſucher meiſt unter ein anderes Kapitel. Im
Deutſchen Theater herrſcht die weſtberliniſche Hochfinanz jüdiſchen Blutes;
und über deren Nervoſität hat einer ihrer beiten Stammesgenoſſen, hat gerade
Dppenheim jich unzweideutig geäußert. Sie ift die natürliche Kranfheit eines
durch Inzucht geihwächten Volkes, defien unfinnig verkehrte Jurgenderzichung
alles noch Geſunde in phyſiſcher und feelifcher Beziehung zu eritiden anges
than ift: phyſiſch durch eine umglücliche Verzärtelung und Gewöhnung an
rafjinirte Behaglichfeiten, piychiich durch Erweckung eines krankhaften Chr:
geizes und Eigendünfels und durch Eintrichterung einer rein äufßerlichen,
renommiftifchen Bildung. Daß eine fo tief wurzelnde Nervofität durd) die
denfende Einfiht in die Zufammenhänge der Welt und des fozialen Lebens
mit unferem ch verhütet werden könnte, wird natürlich fein noch jo großer
Dptimift erwarten.
Wenn die moderne Dichtung unausgejest der Gegenftand von Ans
griffen ift, fo theilt fie zunächit damit nur das Geſchick aller früheren Poeſien.
Selbfl in den großen äjthetifchen Zeitaltern, im athenifchen und florentiniichen,
im verfaillifchen und weimariſchen iſt es nicht ander3 gewejen. Die Nüd:
wärtSfchauenden, denen die Gegenwart Heiner ſcheint als die Vergangenheit,
werden auch unter den Denkenden nie ausiterben. Ihre Anichauung er=
wächit auf einer befonderen Hirnzellenbejchaffeuheit, deren Geheimniß wir
152 Die Zukunft.
noch nicht gelüftet haben. Unbeirrt durch fie aber geht die Kunft ihren Weg;
und was Großes an ihr ift, ringt fi zu bleibender Bedeutung dur. Der
modernen Dichtung alſo fchaden auch die Nervenärzte nicht, die fie verfolgen.
Wohl aber Denen, in deren Intereſſe fie zu ſprechen meinen: den Nervöjen.
Denn fie treiben fie nur in äußerliche Genüffe, in gehaltlofes Getändel hin—
ein, das dem Leiden feine Beſſerung fchafft, weil es mit deſſen Urſachen
gar feine Berührung hat. Zehn Stunden aufreibenden Kampfes laſſen fich
nicht durch zwei Stunden graziöjen Geplauderd da8 Gleichgewicht halten.
Das Wort: Similia similibus eurantur, duch die Homöopathie etwas
disfreditirt, ift, in tieferem Zinn verftanden, doc jchlieglih der Schlüffel zu
aller erfolgreichen piychifchen Behandlung. Und faltes Wafler allein thuts
eben nicht, Sondern die Piychotherapie iſt das Hauptitüd alles nervenärztlichen
Hei.vermögend. Hier aber jollte die Hilfe nicht zurüdgewiefen werden, die
dem Arzte die Kunſt, insbefondere die Dichtung, zu leiten vermag.
Zwar gehöre ich nicht zu den Schwärmern, die von äfthetifcher Kultur,
Erziehung der Maffen zur Kunſt und ähnlichen Utopien träumen. Die
großen äfthetifchen Kulturen find nie gemacht worden, fondern über die Völker
gekommen, man weiß oft nicht, wie. ch fühle mich weit entfernt davon,
die Nolle der Kunſt im Leben des Einzelnen wie der Gefammtheit zu über=
ſchätzen. Ich glaube, dan es ſehr gefunde, fehr tüchtige, ja, wirklich große
Perfönlichkeiten geben kann, denen alle Kunſt völlig gleichgiltig ift, und halte
die erzwungene Aejtheiifirung eines Volkes für ein im beiten Fall nuglofes,
vielleicht aber bedenkliches Beginnen. Die. beim Nervenarzt Rath fuchen
gegen Neurafthenie, find nicht immer, aber doc) zum größeren Theile intelligente,
oft außergewöhnlich befähigte Menfchen, um jo häufiger, je mehr wir
uns der Grenze zur hyſteriſchen Veranlagung nähern. Bei ihnen muß
fi die Suggeftion, die fie felbft fuchen, der feineren geiftigen Mittel be-
dienen. Eich zu amufiren, um ihre Leiden zu vergefien, kann jedes alte
Weib ihnen anrathen. Es gilt eben, gerade an Das zu Enüpfen, was geiftig
den Haupteinfchlag im Gewebe ihrer Sorgen bildet. Die Entſcheidung, ob
die Kunſt dazu den geeigneten Faden abgeben fann, muß vom Nervenarzt
erwartet werden; aber wo er davon überzeugt ift, kann es jich beim modernen
„Nervöfen“ nur um die moderne Kunſt handeln.
Wirkſamer als alle Therapie iſt freilich die Prophylaris, hier die Art
der geiltigen Erziehung. An deren Neform haben, wenn e8 wirklich ſchon
ein Wenig beſſer geworden iſt, die Aerzte leider ſehr geringen Theil; und
fie Scheinen ihn eimjtweilen auch nicht vergrößern zu wollen. Binswanger
bezeichnet e8 einmal al8 eine der wichtigiten öffentlichen Aufgaben des Arztes,
den meuropathifchen Einfluß der modernen Dichtung lahmlegen zu helfen.
Heute ftehen die meilten Aerzte ſolchen feingeiftigen Fragen theilnahmelos gegen-
Kaufmännifche Schiedögerichte. 153
über. Das ift gewiß fein rühmlicher Zuftand; aber fajt möchte man fein
Fortdauern wünfchen gegenüber der Möglichkeit, daß insbefondere die Nerven—
ärzte mit ihrer großen geiftigen Macht über Hunderte von Gebildeten jener
Loſung folgten. Man könnte nur wehmüthig jagen: Sie wiffen nicht, was
ſie thun. Das aber ift ein ſchwacher Troft; denn die richtende Geſchichte,
auch wir Aerzte follten e8 nicht vergeflen, hat das milde Wort vom Kreuz
noh nie al8 Entlaftung der Schuldigen gelten laffen.
Heidelberg. Dr. Willy Hellpad.
—
Raufmännifche Schiedsgerichte.*)
De durch das Reichsgeſetz vom neunundzwanzigiten Juli 1890 für die
SV gewerblichen Arbeiter bejondere Gerichte zur Enticheidung der aus dem
Arbeitverhältnii entipringenden Nechtsftreitigfeiten (die Gewerbegerichte) geichaffen
worden waren, regte fich bei den Dandlungsgehilfen mädtig der Wunjch nad
ähnlichen Einrichtungen. Sämmtliche Gehilfenverbände nahmen die Forderung
faufmännijcher Schiedsgerichte in ihr Programm auf und immer lauter ertönten
die Rufe nach Sondergerichten zur Enticheidung der Prozeſſe aus dem kauf—
männiſchen Dienjtvertrag.
Gegenüber dem Drängen von taufend und abertaufend ſtimmberechtigten
Bürgern konnten die politiihen Parteien nicht gleichgiltig bleiben. Ohne Aus»
nahme fuchten fie fi den Wünſchen der unabläfjig petitionirenden und raijo-
nirenden Handlungsgehilfen gefällig zu zeigen und Centrum jo gut wie Sozial»
demofraten, Nationalliberale wie Antifemiten brachten beim Neichstage Initiativ—
anträge ein, in denen die Errichtung kaufmämniſcher Schiedsgerichte begehrt
wurde. Auch die Stonferpativen und die Freiſinnigen wollten natürlich in dieſem
Wettlauf um die Gunst der Wähler nicht zurücdbleiben; und jo erklärten fie
denn bei jeder Gelegenheit, fie brächten den Beitrebungen der Dandlungsgehilfen
das größte Tnterejje entgegen und würden gern einem Schiedsgerichtsgeſetz ihre
Stimme leihen. Nur Einer unter den 397 Erkürten lieh ſich durd die un—
gejtümen Bitten nicht beirren: Karl Ferdinand Freiherr von Stumm war jelb:
jtändig oder ftarrfüpfig genug, ſich jehr entichieden gegen die geplante Neuerung
auszufprehen. Ein Erbe ift dem Gewaltigen nicht geboren. Als in den legten
Tagen des Januar der Reichstag abermals die frage disfutirte, wurde ein
Widerſpruch von feiner Seite vernommen. Auch die Negirung, die der Cache
in früheren Jahren jtets eine dilatorijche Behandlung angedeiben lich, it jetzt
nachgiebig geworden. Jüngſt haben Graf Poſadowsky und fein Wertreter die
*) Nachdem ich meine Auffaſſung des Planes, kaufmänniſche Schieds—
gerichte zu ſchaffen, in einer jurijtiichen Fachzeitſchrift « „Archiv für bürgerliches
Recht“, Band 20, Heft 8) erörtert habe, jei es mir gejtattet, fie nun aud) vor
einem größeren Leſerkreiſe kurz darzulegen.
154 Die Zukunft.
feierlihe Erklärung abgegeben, das Hohe Haus werde in naher Zukunft den
gewünjchten Gejegentwurf erhalten. Un der Einführung faufmännischer Scieds-
gerichte ijt danach nicht mehr zu zweifeln.
Welde Organijation den neuen Gerichten gegeben werden joll, iſt noch
nicht befannt. In der Dauptjache find zwei Vorſchläge aufgetaucht, die in Frage
fommen fönnen. Von ihnen empfiehlt der eine eine Angliederung an die Amts—
gerichte, während der andere die Schaffung bejonderer Kammern an den Gewerbe:
gerichten oder bejonderer Gerichte nach Art der Gewerbegerichte fordert. Jenem
begegnen wir im Antrage Bafjermann, diejer ift im Antrag Raab enthalten.
Welchem der beiden Borjchläge die Negirung den Vorzug giebt, hat man bisher
nicht gehört. Auch über die Fragen der Bejegung der Gerichte (mit zwei oder vier
Beiligern?), der Normirung der Berufungsgrenze (HZuläffigfeit bei einem Streit»
gegenjtand von 100, 300 oder 500 Mark?) und der Gejtaltung der Berufung»
inftanz herrjchen unter den Freunden der faufmännifchen Schiedsgerichte Meinung-
verjchiedenheiten; einig dagegen find alle Anhänger in der Forderung, daß die
Richter, die als Beifiger mitwirken jollen, aus freien, von den Geſchäftsinhabern
und den Angejtellten getrennt vorzunehmenden Wahlen hervorgehen müßten.
ragt man nad den Gründen, die für den Aniprud auf Einführung
faufmännifcher Sciedsgerichte beitehen, jo pflegt in erjter Linie der Umftand
genannt zu werden, daß der zur Entjcheidung der Streitigkeiten zwiſchen Prinzipalen
und Dandlungsgehilfen jegt offenjtehende ordentliche Brozefjweg zu lang und zu
koftjpielig jei. Nun haften die Mängel der Yangmwierigfeit und Koftipieligkeit
unjerem heutigen Gerichtsverfahren ganz unzweifelhaft an. Aber da man dod)
nicht jagen kann, daß hierunter allein oder auch nur hauptjächlic die im Handel
Angejtellten zu leiden haben, jo fehlt diefem Grunde die Beweiskraft. Jene
Mängel können wohl das Verlangen nad) einer Beſchleunigung und Verbilliging
der Prozeßführung überhaupt begründen; zur Rechtfertigung gerade kaufmänniſcher
Sondergerichte vermögen ſie nicht zu dienen.
Sondergerichte werden nothwendig, wenn der Richter zur Beurtheilung
der Mehrzahl der Streitfälle beſondere Fachkenntniſſe beſitzen muß, wenn feine
juriftiiche Vorbildung bei der Nechtsfindung regelmäßig nicht ausreiht. Im
Ernſt läßt fi) aber doch num nicht behaupten, daß zur Entfcheidung der Prozeſſe,
die die Handlungsgehilfen und Lehrlinge mit ihren Brinzipalen auszutragen haben,
faufmänniiche Fachkenntniſſe erforderlich jeien. Dieſe Streitigkeiten drehen fich
um den Antritt, die Fortſetzung oder die Auflöſung des Dienjtverhältniifes;
um die Ausjtellung oder den Inhalt eines Zeugniſſes; um die Leiftungen und
Entjhädigunganjprüce aus dem Arbeitverhältnig; weiter um die Rüdgabe von
Zeugniſſen, Yegitimationpapieren und Stautionen, die aus Anlaß des Dienſt—
verhältniffes übergeben worden find; endlid um Anſprüche auf Zahlung einer
Vertragsitrafe wegen Nichterfüllung oder nicht gehöriger Erfüllung der ein-
gegangenen Verpflichtungen. Ueberall find es Nechtsfragen, Fragen der Auslegung
von Geſetzes- und Bertragsbeftimmungen, die der Entjcheidung harren, und äußerſt
jelten nur wird der Nichter Gelegenheit finden, ſpezifiſch kaufmänniſche Kenntniſſe
zu verwerthen. Mit der Unfähigkeit der ordentlichen Richter zur Beurtheilung
der einichlägigen Verhältniſſe wird man aljo nicht operiren dürfen.
Eben jo wenig nber erjcheint die Forderung nad kaufmänniſchen Fach—
ci rk rn Y 1?
Kaufmänniſche Schiedsgerichte. 155
gerichten wirthichaftlich gerechtfertigt. Die Zahl der Streitigkeiten zwiſchen
Geihäfteinhabern und ihren Angeſtellten ift nämlich nur jehr gering. In ganz
großen Städten fommen ſolche Prozeſſe ja nicht jelten vor; in mittleren und
kleinen Städten jedoch begegnet man ihnen nur jo vereinzelt, daß hier für kauf—
männijche Schiedsgerichte fein Raum ift. Nun behaupten die Freunde der
Schiedsgerichte allerdings, an der Seltenheit der Rechtsftreitigfeiten trügen die
Mängel des gegemvärtigen Berfahrens die Schuld; die Angeftellten nähmen aus
Scheu vor der Umjtändlichkeit und Stojtjpieligfeit der Nechtspflege lieber viele
thatfädhliche oder vermeintliche Unbilden ruhig hin, als daß fie fi) an die ordent-
lien Gerichte wendeten. In einzelnen Fällen mag Dergleihen ſchon vorge:
fommen fein. Das ftumme Dulden bildet aber gerade in unjerer Zeit ganz
jiher nicht die Regel.
Wäre das Bedürfnis nad kaufmänniſchen Schiedsgerihten wirklich jo
dringend, wie ihre Anhänger behaupten, jo würden doch wahrjcheinlich die in
Deutjchland bejtehenden fafultativen kaufmännischen Sciedsgerichte ftarf in
Anſpruch genommen. Das ift aber durchaus wicht der Fall. So wurden bei
dem in Dannover bejtehenden Fachgericht im Jahre 1900 nur achtzehn Prozeſſe
anhängig gemacht. Das Schiedsgericht in Braunfchweig konnte im Anfang
feines Bejtchens manchmal als Bermittelungamt in Thätigkeit treten, wurde in
der legten Zeit aber gar nicht mehr angerufen. Beim kaufmänniſchen Schieds-
gerit in Osnabrüd wurde im Verlauf eines jahres ein einziger Streitfall
angemeldet; und das Schiedsgericht in Stolp, das mit Beginn des Jahres 1900
ins Yeben trat, ijt bisher überhaupt noch nicht angegangen worden. Kann man
es, angeſichts diejer Erfahrungen, der augsburger Handelskammer verdenfen,
wenn fie den ganzen Lärm um die faufinännifchen Sciedsgerihte für „eine
reine Modeſache“ erklärt? |
Zu Gunjten der kaufmänniſchen Schiedsgerichte wird endlich noch ange-
führt, ihre Einrichtung werde in jozialer Beziehung erfreulich wirken; die gemein:
ſame Thätigfeit von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, bei der beide Theile gleich—
beredtigt einander gegenüberjtänden, werde dazu Führen, die. gegenfeitige Werth:
ſchätzung zu erhöhen. Allein auch diejer Hoffnung wird die Erfüllung verjagt
bleiben. Im Gegentheil ift zu befürchten, daß die Einführung der Scieds-
gerichte — von der man jich ja eine Vermehrung der Prozeſſe verjpricht und
die den Kampf eum die Wahl der Beijiger heraufbeſchwört — nicht zur Ver
föhnung beitrag n, jondern erjt recht Zwieſpalt jchaffen und vergrößern werde.
Bezweifeln wird man aud müjjen, daß kaufmänniſche Schiedsgerichte, deren»
Beijiger durd Wahlen bejtimmt werden, die nöthige Gewähr für eine unpar—
teiiiche Rechtſprechung bieten. Gin Beiliger, der aus ſtürmiſchen Wahlen her-
vorgegangen ilt, leidet an Boreingenommenheit und Befangenheit. Er wird nicht
das Recht zu finden, jondern die Sonderinterejjen jeiner Standesgenojfen zu
fördern verjuchen und darum niemals ein quter, ein gerechter Nichter jein können.
Bedenkt man endlich, dat durch die Schaffung kaufmänniſcher Scieds-
gerichte der Grundſatz der ordentlichen Serichtsbarteit abermals durchbrochen wird,
fo wird man fid), troß dem Neichstag, für die Neuerung ſchwerlich begeiftern fünnen.
Ghemniß. Landricter a. D. Ernit Mumm.
——
156 Die Zutunft.
Onze dappern burghers*).
Greift an das Werk mit Fäuften!
Das Rechten Hilft nicht mehr;
Ihr Beiten, ihr Getreuften,
Zur That, zur Gegenwehr!
18 die beiden Eleinen Burenrepublifen dem gewaltigen Albion den Fehde—
handſchuh hinwarfen, „entichlojien, für ihre ‚Freiheit und ihr Necht zu
fänpfen bis zum legten Mann‘, „tot de bitter end“, da fannte die Begeifterung
in Deutfchland feine Grenzen. Die alten Märchen von der zähen Tapferkeit
der Buren, ihrem glühenden Freiheitdrang, ihrer heißen Baterlandliebe, ihrer
tiefen Gottesfurdht und vorbildlichen Neinheit der Sitten wurden wieder auf:
gefriicht. Kein Wunder, daß viele Hunderttaufende „Yu den Waffen!“ riefen
und daß einige Hundert ihr Wort in die That umjegten und über das Meer
eilten, um mit den bedrängten „Itammverwandten Brüdern“**) Schulter an
Schulter gegen die Mordbanden der Chamberlain und Eecil Rhodes zu kämpfen
und zu bluten. Haben doc die Deutſchen zu allen Heiten zahlreihe Refruten
für die Deere um ihre ‚Freiheit fämpfender Bölfer gejtellt. In den deutjchen
Offiziercorps war die Striegsluft jo groß, dal eine „Allerhöchſte Kabinetsordre“
nöthig ſchien, die allen Offizieren die Theilnahme am Kriege unterfagte. Troß-
dem umd troß den offiziellen Dementirungen haben viele aktive Offiziere unter
diejer oder jener Begründung ihren Abjchied erbeten und in den Neihen der
Buren mitgefämpft; der größere Theil der im Burenheer fämpfenden deutjchen
Offiziere war freilich fchon früher ans dem Armeeverband gejchieden.
Die Transvaalregirung hatte öffentlich erklärt, day fie feine Werbungen
beabjichtige, dal; ihr aber freiwillige Mitkämpfer willlommen jeien, Wie jehr
es ihr damit ernjt war, geht daraus hervor, daß allen Ausländern ohne Unter-
ichied, die die Waffen für die Nepublif aufnahmen, das volle Bürgerreht ge—
währt wurde. Leyds ſchrieb aus Brüſſel an deutiche und öſterreichiſche Offiziere,
die ihm um nähere Auskunft über ihre Ausfichten in der Transvaalarmee baten,
ſehr diplomatijch: daß er zwar feine bejtimmten Zufagen in irgend einer Hinficht
machen könne, daß jie aber der Transvaalregirung in jedem Falle jehr willfommen
jeien und in entiprechenden Stellungen in der Burenarmee Berwendung finden
würden. Dieſe entiprechende Verwendung bejtand darin, daß man ihnen, vom
altgedienten Obersten und ‚Führer eines deutichen Neiterregimentes bi8 zum jungen
Lieutenant, ein Gewehr und einen Gürtel mit jehzig Patronen umhängte und
ihnen fagte: „Loop, schiet*! Das heit: Du darfſt mitſchießen, haft im Uebrigen
aber bier nichts zu jagen und Did; in unsere Angelegenheiten nicht einzumiichen.
Wenn von den unglaublichen Zuftänden in der Burenarmee und der unwürdigen
*) Eins mans red iſt eine halb red; man joll die teyl verhören bed: nach
dem guten altdeutjchen Spruch wird auch dieje zunächſt befremdende Darftellung
ſüdafrikaniſcher Kriegszuſtände jelbitändig denfenden Leſern willfonunen jein.
**) Einige der weiteſtverzweigten Burenfamtilien find; die Joubert, Du Toit,
Du Blefiis, De la Rey, De Wet, Theron, Malherbe, Dlivier, Marais, DePilliers,
Rouſſeau, Fourie, Malan, Fouche, Ye Roux, De la Groir u. ſ. w.
Onze dappern burghers. 157
Behandlung der freiwillig mitfämpfenden Ausländer jo wenig in Deutjchland
bekannt geworden ift, fo liegt der Hauptgrund wohl darin, daß es nur wenige
deutijche Zeitungen gab, die den Muth achabt hätten, ihren Pejern cine wahr-
baftige Schilderung der Zujtände zu geben, auf die Gefahr hin, neun Zehntel
ihrer Abonnenten zu verlieren. Ueber die Stimmung der aus allen Erdtheilen
herbeigeeilten Freiwilligen ift in Deutjchland jehr wenig befannt geworden. In
ssohannesburg erjchien während des Feldzuges eine internationale Anfichtpoitkarte,
die die Wappen jämmtlicher in den Freiwilligencorps vertretenen Nationen trug
und unter jedem Wappen einen entiprehenden Kernjprud. Der für die allge
meine Stimmung jehr bezeichnende Spruch der Deutjchen lautete:
„Uns bat ja nicht die Yicbe (zu den Buren),
Uns bat der Haß vereint“ (gegen die Engländer).
Die Begeifterung war bei Denen, die ihre Sympathien für das Burenvolf nicht
nur durch Abfingen der Volkshymne und durch Maffenverfammlungen befundeten,
jondern mit den Waffen in der Hand dem bedrängten Volk zu Hilfe geeilt
waren, jehr bald erlojchen. Nach den offiziellen Lijten ftanden etwa 6000 Deutſche
im Burenheer; etwa 1500 davon waren aus Deutjchland, Oeſterreich, der Schweiz,
Rußland, Amerika herbeigeeilt.
Ich hatte, als ich meinen Abſchied nahm, „um als Kriegsberichterjtatter
der Täglihen Rundſchau nad) Südafrifa zu gehen”, meine Erwartungen jehr
niedrig geſchraubt; trogdem jollten mir große Enttäujchungen nicht erjpart bleiben.
Wir deutjchen, Öfterreihijchen und jchweizer Offiziere auf dem Dampfer „Bundes.
rath“ waren gleich. begeijtert für das tapfere Wolf der Buren, deſſen Heldenthaten
nad) allen Berichten die eincs Leonidas in den Schatten ftellten. In Deutid-Oft-
afrika, an deſſen Küfte der ‚„‚Bundesrath‘‘ einige Tage verweilte, erhielten wir
unjere erjte Abkühlung. In Dar-csjalaam leben viele Deutiche, die ji im
Transvaal aufgehalten haben. Sie Alle hatten für die Buren wenig übrig
und machten uns gegenüber daraus fein Hehl. In Durban, wohin ung die
Engländer unt®r dem Verdacht jchleppten, da der „Bundesrath“ Kriegscontre—
bande an Bord babe, hatten wir zum eriten Mal Gelegenheit, die „gänzlich
verwahrlojten, aus den niedrigften Bolksichichten refrutirten und von Sportsmen
und anderen Civiliften in Uniform geführten engliihen Truppen’ aus nädjiter
Nähe kennen zu lernen. E3 waren die VBerjtärkungen, die für Buller zum Entjaß
von Ladyjmith angelommen waren und in aller Eile auf der Bahn nach dem
Kriegsidauplag entjandt wurden. Es waren meijt aftive Negimenter und ich
fann ihnen nur das Zeugniß ausjtellen, daß ich feinen Unterjchied zwiſchen einer
Eijenbahnverladung deutjcher Truppen während der Herbjtnanöver und diejer
zur. Front abgehenden Truppen bemerkt habe, — ausgenommen vielleicht den,
daß Alles mit geringerer Anjtrengung der Stimmbänder vor fich ging, als wir
es in Deutichland gewohnt find. Eine jonderbare Fügung wollte, daß id} dieſen
felben Truppen wenige Wochen jpäter im heftigen Feuer auf dem Blatcau des
Spionfops mit dein Gewehr in der Hand gegenüberliegen jollte. Der in Durban
gewonnene gute Eindrud verwandelte ſich in Hochachtung, als id am Morgen
nach der Schlacht die engliihen Scüßengräben aufjuchte, in denen nad) Fort—
Schaffung der Verwundeten noh Mann bei Dann lag, jo daß fajt auf jeden
Meter Graben ein Toter fam. Dieje Truppen waren nicht verwahrloft, trogden
fie ſich aus den „niedrigſten“ (joll wohl heißen: ärmſten) Volksklaſſen refrutiren.
2 «
158 Die Zukunft.
Nah elftägigem unfreiwilligen Aufenthalt in Durban gelang es mir
endlich, die Erlaubnig zur Rüdreife nad) Delagoa-Bai zu erhalten; ich war
genöthigt, ein engliiches Schiff, den „Umtali”, zu bemugen. Man munfelte
damals — und die Cap- und Natal- Zeitungen beftätigten es — viel von Deutjchen,
die als Burenjpione auf englifhen Schiffen verhaftet worden feien, und ich war
deshalb bei meiner Einjchiffung nicht ficher, ob ich nun ohne weiteren Zwiſchenfall
zur Burenarmee gelangen würde. Ich reifte mit einem jchweizer Dragoneroffizier,
der jeinen Schnurrbart abrajirt hatte und dauernd aus einer kurzen englijchen Pfeife
ranchte, um für einen Engländer gehalten zu werden, jo dat ihm ſchließlich ganz
ſchlechtwurde. Da wirvom Englijchen beide nicht viel verſtanden, ſprachen wir fran=
zöſiſch mit einander, um ung nicht einem zufällig ammwejenden Detektiv als Deutiche
zu verrathen. Ich muß geftehen, daß ich damals von dem „Schuß des Deutichen
Reiches“, unter dem ich angeblich jtand, einen eigenen Begriff befonmen habe. Wir
gelangten ohne weiteren Zwifchenfall nad) Delagoa-Bai. Nach vielen Scwierig-
keiten erhielten wir hier endlich für viel Geld und viele gute Worte portugiefiiche
Päſſe, für noch mehr Geld und unter noch mehr Schwierigkeiten die ebenfalls
nothwendigen Päſſe von dem englifch geſiunten Konſul der Transvaalregirung,
Herrn Pott, und jahen im Zuge nad Pretoria, neugierig, wie man uns bei
den Buren aufnehmen werde. Wir hatten inzwiſchen ſchon Vieles gehört, was
jehr, jehr wenig ermuthigend Klang; ein Herr, mit dem wir im Zuge befannt
wurden, jagte, man werde uns behandeln „wie einen Hund in der Stegelbahn.‘ In
Komati Poort, an der Transvaalgrenze, wo wir uns als Freiwillige für die Buren-
arınce zu erkennen gaben, wurden wir von dem Kommandanten, der einen deutichen
Namen führte und zum Ueberfluß nod eine goldene Brille trug, aber nur hol—
ländiſch Sprach, herzli empfangen. Er fuhr eine Strede mit und ftellte in
diejer Zeit jehr viele Fragen an uns. Leber die Art, wie wir in der Buren-
armee verwendet werden würden, hatten wir jchon merkwürdige Dinge gehört;
unfer Begleiter jagte, wir würden dem Stabe eines Burengenerals zugetbeilt
werden. Den Bohn, der darin lag, jollte ich erjt jpäter begreifen lernen. Als
er uns endlich verließ, gab er uns einen jungen Buren mit, der uns bei Allem
behilflich fein jollte, da wir als Fremde uns wohl jchwer allein zuredtfinden
würden. Diejer junge Mann nahm fi ſehr freundlich unfer an. Er war jtets
wm uns bemüht, folgte uns auf Schritt und Tritt, — und entpuppte fih jchlich-
lid) als einen Scheimpolizijten der Transvaalregirumng.
In Pretoria ſuchte ich, nad) einem Bejucd beim deutichen Konjul, den
Staatsjefretär Neiß auf. Der oberfte Staatsbeamte der Nepublit — und wie
zu jeiner Ehre gejagt jet, and) der ärmite Beamte der Nepublif und der einzige,
der nicht geitohlen oder betrogen hat — empfing mic äußerſt liebenswürdig.
Er jprad) ziemlich fließend deutjch, bat mid) jedoch, ihm meine Empfehlung-
ichreiben jelbjt vorzulejen, da ihm das Leſen des Deutſchen Schwierigkeiten
mache. Auf meine Frage, wie id) in der Armee verwendet werden jolle — daß
es Schalt, Löhnung, Kriegsjold, oder wie man es nennen will, nicht gab und
man gefülligit aus feinem eigenen Geldbeutel zu leben hatte und da diefer
recht inhaltreich jein mußte, wem man nur einigermaßen anftändig durchkommen
wollte, hatte ich auch ſchon vorher erfahren —, erwiderte er etwas verlegen,
darüber habe der „Kommandant Generaal“ allein zu beftimmen, in deſſen Be:
= — uns BEER
Onze dappern burghers. 159
fugnifje einzugreifen er nicht berechtigt jei. Uebrigens jei es allen Ausländern
freigeſtellt, welchem Kommando fie fi) anſchließen wollten. Er gab mir jedoch
ein Schreiben mit, in dem er mich Joubert warın empfahl. Warum ich diejen
Empfeblungbrief niemals an Joubert abgegeben, jondern mir als Kurioſum auf-
gehoben habe, wird Jeder verjtehen, der die Verhältuiffe und den alten Noubert
fannte. In den folgenden Tagen, in denen ich, um ein Pferd, Musrüftung und
Maffen zu erhalten, Stunden lang mit einem Stüd Bapier in Bretoria herum:
laufen mußte, nachdem ich, um diejes Bapier zu erhalten, Stunden lang vor
den Bureaux untergeordneter Beamter hatte antichambriven müflen, wurde ich
von Stameraden, die ſich die „Schweinerei“, wie fie es ſehr bezeichnend nannten,
jhon einige Zeit angejehen hatten, jchonend auch noch des leuten Neftes meiner
Illuſionen entfleidet. „Sie wollen uns gar nicht haben; fie betrachten uns als
das fünfte Nad am Wagen und gejtatten uns gnädigſt, mitzulanfen, da fie es
Anitands halber nicht gut verhindern können.‘
Eben hatte der Januar begonnen. Die fiegreihen Buren jtanden in
Natal und der Capkolonie. Ladyſmith, Mafeking und Kimberleg waren von
ihren Heeren eingejchloffen, die Engländer überall aus dem Felde geichlagen.
Der Hochmuth gegen die Ausländer kannte feine Grenzen. „Da ſeht hr, was
Eure europäiſche Kriegskunſt werth iſt“, hieß es; man lachte uns ins Geſicht.
„Ihr könnt bei uns viel, jehr viel lernen.“ Ein holländijcher Arzt, alſo dod)
ein gebildeter Mann, verficherte allen Ernſtes, man werde über furz oder lang
aud in den europäilden Armeen die veraltete Gefechtsweile fallen laffen und
zu der der Buren übergehen müſſen. Da er ein würdiger alter Herr war, jo
widerſprach ich ihm nicht. Wohl aber habe ich oft Buren, die mir mit dem
felben Unfinn kamen, gefragt, worin denn nad) ihrer Meinung die großen Vor—
züge ihrer Kampfesweiſe bejtänden. Sie nannten meift die einfachiten Lehrſätze
unjerer europätjchen (deutjchen, ruſſiſchen, franzöjiichen) Felddienſtordnungen, die
zu Dauje jedem Nefruten geläufig jind. Wenn ich dann erwiderte, daß man
Das in allen niodernen Armeen — zu denen man bei uns die enaliiche aller-
dings nicht rechne — genau jo mache, oder gar fragte, aus welder Kenntniß
europäifher Armeen denn die Derren ihr weqwerfendes Urtheil über alle europäi:
ſchen Heeresverhältnijje herleiteten, jo gingen fie gewöhnlich fort, um das jelbe
Thema mit irgend einem Deutich- Afrikaner zu verhandeln, der vielleiht im
jeinem Leben nie einen deutſchen Soldaten geichen hatte,
„Welchem Kommando werden Sie fid anſchließen?“ fragte ich in den
erften Tagen nach meiner Ankunft in Pretoria einen mir befannten Ulanen:
offizier, den ich mit geichultertem Gewehr in Khaki auf der Straße traf. Er
nannte den Namen eines Burengenerals und fügte hinzu: „Der joll nämlich
von Allen noch am Wenigjten deutichfeindlich gefinnt jein.“ Der größte Deutichen:
Hajjer im ganzen Transvaal war der alte ehrliche Joubert. Er haßte die „Lit:
landers“, vor Allem aber die Deutjchen, die jeine verrätheriichen Abjichten mehr
als einmal durchkreuzt hatten, *) von ganzem Derzen und behandelte bejonders
*) Koubert war ein Gegner des Krieges und verjuchte mit allen Mitteln,
zu denen aud) die verrätheriiche Aufgabe der Belagerung von Ladyſmith gehörte,
in biefem Sinn auf den Bräfideuten Krüger und den Nollsraad einzuwirken.
12"
160 Die Zukunft.
die deutſchen Offiziere ſchlecht. Dem in Geylon gefangen gehaltenen Oberſten
von Braun, der als einer der erften deutichen Offiziere bei Ausbruch des Krieges
nad) Transvaal ging und fi bei Joubert meldete, jtellte der alte Herr die
wenig fchmeichelhafte Frage, was er eigentlich wolle; und als Braun enviderte,
er fei gefommen, um in der Burenarmee gegen die Engländer zu fechten, cr-
widerte ihm Joubert paßig: Dan fat een roor en loop schiet (Dann nimm
ein Gewehr und geh ſchießen). Die deutſchen Berichterjtatter meldeten damals
gewifjenhaft an ihre Heitungen: „Oberft von Braun ijt den Stabe des Ober—
fommandirenden zugetheilt worden.“ Joubert mußte dafür aber auch manche
iharfe Erwiderung auf jeine deutjchfeindlichen Aeußerungen einjteden. Jeder
Bürger hatte bekanntlich nad dem Striegsgejeh, wenn er eine Anzahl Wocden
im Felde geitanden hatte, das Hecht, vier Wochen auf Urlaub zu gehen; da die
meijten Urlauber e3 aber mit dem Wicderfommen nicht ſehr eilig hatten, be—
gannen ji die Kommandos bei Ladyſmith jo bedenklich zu lichten, dab die Be-
urlaubungen eingejchränft werden mußten. Damit waren aber die burghers,
denen der Krieg jchon langweilig wurde, nicht zufrieden und Manche von ihnen
famen auf den Gedanken, ſich ſelbſt leichte Berwundungen beizubringen, um auf
diefe Weije nah Haufe oder wenigſtens ins Hoſpital zu kommen, wo fie fich
aud ganz wohl fühlten. Solde Fälle famen damals in allen Yagern vor. Als
eines Tages ein Deuticher fich bei Joubert meldete, um für zwei am QTugela
verwundete Landsleute die üblichen Pälle zu erhalten, meinte Joubert verächt-
lich, die Beiden hätten fi) wohl auch jelbjt verwundet, um Urlaub zu befommen;
worauf er die prompte Antwort erhielt: „Nein, General, es find feine Buren.“
Trotzdem ich von Jouberts ſchlechter Behandlung der deutichen Offiziere
ihon gehört hatte, wollte id) die Betätigung dod) licher aus eigener Anſchau-
ung haben und meldete mid im Dauptlager von Padyjmith bei dem Oberfom-
mandirenden. Als ich auf die Frage» Wat will Gij? ermwiderte, ic) jei deutfcher
Offizier und wolle in der Burenarmee gegen die Engländer kämpfen, verzog
fich fein von einem ftruppigen grauen Bart umrahmtes Geficht zu einem fröß:
lihen Grinjen und fein zum Frühſtück (oder Kriegsraad — genau wars nicht
zu unterfcheiden —) verfammelter, aus einem Kreiſe wohlgenährter, langbärtiger
Buren bejtchender Stab brach in ein höhniſches Gelächter aus, während Einer
von ihnen ſelbſtbewußt jagte: „Unſere Sriegführung muß doch ſehr gut jein,
daß jo vicle deutihe Offiziere hierherfonmen, um von uns zu lernen!“ Ich
hatte achört, was id) hören wollte, bejtieg meinen Gaul wieder und trabte in
der Nichtung auf das Yager des deutichen Corps weiter. Während des einſamen
Nittes auf der jtaubigen, von der glühenden Januarſonne ausgedörrten Straße
hatte id Zeit, darüber nachzudenken, was ih nad dem bisher Erlebten und
Gejchenen noch in der Burenarmce wolle. Durchgeritten, müde, hungrig und
verjtimmt langte ich genen Abend im Lager des deutjchen Corps an. Auch bier
war Manches anders, als es fein jollte, und Alles anders, al$ man es in den
deutjchen Zeitungen leſen konnte. In dem befannten Kampf um den Spion-
fop am Tugela erhielt ich meine Feuertaufe und zugleich Gelegenheit, die kriege-
rijche Tiüchtigfeit der Buren aus nächſter Nähe zu bewundern. Wie alle zur
Gernirungarmee vor Ladyſmith gehörenden Langer hatte aud das deutiche
Corps einen Theil feiner Mannſchaft zum Schuße der Tugelalinie gegen die
Onze dapperun burghers. 161
Entſatzverſuche Buller3 abgegeben. Am dreiundzmwanzigften Januar lief abends
iin Lager vor Ladyjmith die Botichaft ein, ein Angriff der Engländer jtche am
Tugela bevor. Ich ritt am nächſten Morgen früh los und langte gegen Mittag
am GSpionfop an. Unterwegs hatte id von einigen Buren, die nad) ihrem
Lager zurüdritten, gehört, daß die Engländer in der Nacht den Spionkop
geitürmt hätten und daß „Alles verloren“ je. Bon Weitem jchon hörte ich
SKanonendonner und heftiges Gewehrfeuer, untermijcht mit dem furzen, ſcharfen
Knall der Marim-Gejhüge. Als ich, über die von zu hod) gehenden englijchen
Scdiffsgranaten bejtrente Ebene galoppirend, mich den Höhen näherte, auf denen
gelämpft wurde, bot fich mir ein Anblid, den ich nie vergejien werde. Aengitlich
zulammengedrängt, einzeln und in £leineren und größeren Klumpen unter dem
Schuß des Bergabhanges-fich verfriehend, hodten Hunderte und Aberhunderte
von Buren, während oben am Nande des Plateaus eine jehr dünne Buren-
linie, in der recht viele Ausländer waren, auf dreihundert Meter den englijchen
Schützengräben gegenüberliegend, ein heißes Feuergefecht führte. Sein Yureden
und fein Drohen, fein Appelliren an ihr Ehrgefühl vermochte die im jicheren
Verſteck Sitenden in die Feuerlinie zu treiben. Eine grimmige Freude bereitete
es mir jpäter im Verlauf des Gefechtes, als einige der für uns beftimmten
engliihen Granaten, mit denen wir oben auf dem Plateau reichlid bedacht
wurden, in einen ſolchen Haufen von „Drüdebergern“ am Bergabhange ein-
jhlugen. So jchnell habe ich die Buren im Yauf des ganzen Krieges nicht
wicder laufen fehen, troßdem fie auch jpäter darin Ziemliches leijteten.
Am Abend räumten die Engländer den Spionfop. Sie hatten furdt-
bare Berlufte erlitten. Der Ruhm des Tages gebührt in erjter Linie der Buren-
Artillerie, diejer vorzüglichen, von deutichen und franzöjischen Offizieren gefchaffenen
und nad) der veradhteten europäiichen Methode einererzirten und bisziplinirten
Truppe. Als die Engländer über den Tugela zurüdgegangen und abgezogen
waren, ohne daß die Buren, ihren Sieg ausnügend, fie verfolgten — denn in
der Bibel, die ihre Felddienſtordnung ift, Steht: „Einem flichenden Feinde joll
man goldene Brüden bauen‘ und Joubert hatte verboten, „von hinten“ auf die
Engländer zu Schießen, weil es unchriſtlich ſei —, da war die Freude groß. Onze
dappern burghers fonnten einander nicht laut genug zu ihrer Tapferkeit beglüd-
wünjhen. Wohl hörte man auch hier und da ein anerkennendes Wort über die
Deutichen, die einen hervorragenden Ylntheil am Kampf genommen und ver-
hältnigmähig große Verluſte gehabt hatten; viel häufiger aber konnte man
Aeußerungen hören über die „ Dummheit‘ der Deutjchen, die nicht zu „Fechten“
veritänden und deshalb jo große Verlufte im Vergleich zu den Burenfommandos
gehabt hätten. Zwei Buren jtritten nad der Schlacht über die Frage, wie viele
von „unjeren Leuten‘ an einer Stelle der Gefechtslinie gefallen jeien. Der Eine
behauptete: Bier. ‚Nein, jagte der Andere: ‚Drei; der Eine war nur (‚net‘)
ein Deutſcher.“ Ich jelbit hörte einen alten Buren vergnügt über den gewonnenen
Sieg ausrufen: „Erit jagen wir die Engländer aus dem Lande, und wenn wir
damit fertig find, dann ſchmeißen wir alle Ausländer raus.” Gin Bur, den
ich fragte, warum er nicht mit ins Gefecht gegangen fei, meinte treuherzig:
„Mensch hat doch zijn leven lief*. (Man bat doch jein Leben lieb.) Den Meijten
fehlte jedes Verſtändniß für ihr Flägliches Benehmen vor dem Feinde und des-
halb hatten fie auch für die Tapferkeit der Ausländer keine Anerkennung.
162 Die Zukmft.
Als id am Morgen nad der Scladht mit einem anderen Dentichen
wieder auf das Plateau des Spionkops ftieg, um den am Tage vorher gefallenen
Lieutenant von Brüſewitz zu begraben, fand ich jeine Leiche volljtändia aus—
geraubt und mit nad außen gekehrten Nod- und Hofentajchen; er war eben „nur
ein Deutjcher‘‘. Die dappern burghers aber waren auch eifrig bei der Arbeit,
die engliichen Toten auszuplündern. Da ihnen das Umdrehen der Tajchen zu
umjtändlid und bei den meiſt ſtark mit Blut bejudelten Yeichen auch zu unſauber
war, jchnitten fie gemwöhnlidy nur die Tafchen von außen auf und entlcerten jie
jo ihres inhaltes.*) Es war ein widerlicher, efelhafter, empörender Anblid.
Ich habe dann cine Woche darauf in dem viertägigen Kampf bei Pot—
gietersdrift am QTugela und ſpäter in Bothas Armee im Oranje- Freiftaat in
vielen Gefechten mitgefämpft. Ueberall aber war es das jelbe Bild.
Die Volksstem, das offizielle Organ der Transvaalregirung, das mit
größter Gewiljenbaftigkeit jede Deldenthat ihrer „tapferen Bürger‘ unter großem
Aufwand der abgedroſcheuſten Phraſen über Heldenmuth, Freiheitliebe und Gottes»
furcht verzeichnete, erwähnte mit feiner Silbe die zahlreichen Fälle, wo ſich die
Ausländer-Eorps ausgezeichnet hatten. Stets hie es: Onze dappern burghers...
Wenn fie dagegen den Hat gegen alles Nichtholländiiche jchüren fonnte, that
fie es gar zu gern. Als die deutiche Abtheilung von dem vereinigten Ausländer-
corps des franzöfiichen Oberſten de Billcbois nach allen Negeln des Kriegsrechtes
Pebensmittel auf einer Farm requiriren mußte, da fie trog wiederholtem An—
juchen von der Negirung nichts erhielt, berichtete die Volksstem entrüjtet über
die „Blünderung einer Bırenfarm dur die Deutſchen“. Diejes Blatt hatte
die Unverichämtheit, dem deutſchen ‚sreicorps unter Oberſt Schiel die Schuld
an der Niederlage bei Clandslaagte in die Schuhe zu jchieben, unter Hinweis
auf die veraltete, den Anforderungen des jebigen Krieges nicht gewachſene Fecht—
weile der Deutjchen, die den ungünjtigen Ausgang verjchuldet habe. Thatſächlich
wurden die 85 — fünfundachtzig! — Deutjchen, die nach einem jcharfen Ritt
am jpäten Nachmittag auf dem Schlachtfelde erjchienen und tapfer in das bereits
verlorene Gefecht eingriffen, von den Buren ſchmählich im Stich gelajfen. Leider
hat die von der Volksstem verbreitete Yesart nicht nur in allen Burenlagern
Gehör gefunden, ſondern ift aud in viele deutjche Zeitungen übergegangen.
Der Rückzug der Buren durch den FFreiftaat und über den Vaalfluß war
eine einzige Alucht. Brachten die tundichafter die Meldung: „De Engelsche
kommen“, dann gab es fein Halten mehr. In fünf Minuten war das Yager
abgebrochen und von der ganzen Burenarmee auch nicht ein Pferdeſchwanz mehr
zu jehen. Das deutiche Korps ”*) bildete während des ganzen Nüdzuges durch
den Freiſtaat die unfremvillige Arrieregarde von Bothas Armee, da es, auf
ſchlechten Pferden beritten gemadt und häufig Scharmüßel mit den engliichen
*) Es giebt zwei photographiiche Aufnahmen vom Scladtfeld auf dem
Spionkop, die auch im deutichen illujtrirten Zeitſchriften erjchienen und auf denen
man deutlich an den Uniformen der gefallenen Engländer die Spuren des Leichen-
raubes erfennen fa.
**) (Ss,gab drei deutiche Korps: eins in Natal, eins im Oranjefreiltaat
und eins im internationalen Korps Billebois.
Onze dappern burghers. 163
Avantgardentruppen liefernd, jtets einige Tagemärſche hinter den Burenkom—
mandos zurüd war. Hatten dieje dann auf der großen Netirade wieder einmal
Halt gemacht und wir famen auf unjeren ausgehungerten Pferden und ſelbſt oft
Mangel leidend im Laager an, dann hatten fie die inzwilchen angefommenen
Proviantvorräthe gewöhnlich brüderlich unter fich getheilt und für uns war nichts
übrig geblieben. Den anderen Ausländercorps, jo weit ſie noch exijtirten, ging
es nicht bejjer. Im Gefecht, wo man fie nicht entbehren fonnte, jtellte man jie
vornan; im Uebrigen aber behandelte man jie als die „dummen llitlanders.“
Es ijt daher fein Wunder, da anf dem weiteren Nüdzuge fi in Johqnnes—
burg das deutſche Korps auflöjte und ein großer Theil der zerjtreut unter den
Burenfommandos fechtenden Ausländer in Johannesburg und Pretoria zurück—
blich. Zu Dunderten waren während des Rückzuges die Buren auf ihren ‚Jarmen
zurüdgeblieben und übergaben jich den Engländern, jo dat Botha von den zehn—
taujend Mann, die er am Sand-River nocd unter jeinem Kommando vereinigte,
beim Durchmarſch durch Bretoria feine Tauſend mehr hatte, — Mebellen aus
der Capfolonie und Natal, Ausländer und Buren aus dem von den Engländern
noch nicht otfupirten nördlichen QIransvaal. Als am fünften Juni 1900 die
Engländer in ‘Pretoria einrücdten und den wüften Plünderumgizenen, die ſich in
den lebten Tagen vor der Einnahme der Stadt dort abjpielten, ein Ende machten,
da wollte das Öurragejchrei der Bevölterung fein Ende nehmen; von der eiligen
Ruhe, mit der die Eimwohner die einziehenden Truppen empfangen haben jollen,
war nichts zu merten. Als die Engländer jpäter ein weitverzweigtes Spionage—
ſyſtem einrichteten, ijt ınehr als ein Ausländer, der gegen die Engländer im
Felde geftanden hatte, von Buren denunzirt worden, die ſich damit einen Neben:
verdienjt madıten, Die zahlreichen Deutichen, die in Pretoria von den Engländern
ins Gefängniß geiperrt wurden, hatten unter der jchlechten Behandlung viel zu
leiden ; die Gefängnifjwärter, geborene TIransvaaler, die der Queen den Treu:
eid geleiftet hatten, juchten ihre nun plötzlich „loyale* Geſinnung durch ruppige
Behandlung der gefangenen Ausländer zu beweijen. Als eines Tages — id
theilte mit einem anderen deutichen Offizier eine Zelle auf dem Hof zum
Antreten und zur Arbeitvertheilung gerufen wurde, blieben wir ruhig in unſerer
‚Zelle, jicher, daß unſere Abweſenheit bei der großen Zahl der Gefangenen nicht
bemerkt wurde. Ein junger Bur, der aud) Kriegsgefangener war, ging an unſerer
Thür vorbei und rief uns zu, wir mühten hinausgehen. Wir erwiderten, er
möge fid nur um jeine eigenen Angelegenheiten kümmern. Wenige Minuten
Ipäter fehrte er mit einem Gefängnißbeamten zurücd, dem er uns angezeigt hatte.
Inzwiſchen hat fich Vieles geändert. Der zähe Widerjtand, den die leiten
Hejte der noch fämpfenden Buren leiften — und dem Niemand die Anerkennung
verjagen fann —, hat die eine Weile wohl etwas abgefühlte Burenbegeifterung in
Deutjchland wieder angefacht. Der Abſchluß des ſüdafrikaniſchen Trauerſpiels
aber — denn ein joldhes iſt es für beide Larteien — jollte uns Dentichen gleich—
giltiger jein. Die Engländer verdienen gewil; nicht, dal fie die Früchte ihrer
Raubpolitif ungeftraft genießen. Den Buren aber jollten wir nicht vergellen,
daB fie die Opfer an Leben und Freiheit, die jo viele deutiche Männer ihren
brachten, hier in Afrika nur mit Spott und Verachtung belohnt haben.
Keetmanshoop. Lieutenant a. D. Gentz.
-
164 Die Zukmft.
Selbftanzeigen.
Sommernäcdte. Berlag von Ludolf Beuft. Straßburg 1902.
Erſt hatte ich die Abjicht, meinem Iyrifchen Erjtling eine Vorrede vor«
auszujchiden. Dann wollte ich einige Stritifen abwarten, um meine Anfichten
und Abſichten ſich klären zu laſſen. Bor Allen würde es fih um die Form
gehandelt haben. Was ijt denn im legten Grunde die Form einer Dichtung?
Das, was für den Muſiker der „Takt“ ijt; und auch Wagner kennt den Takt,
obwohl jeine Melodien über alles Konventionelle hinwegbraujen. „Melodie“
im Sinne der alten Oper iſt nicht überhaupt die Muſik. So iſt auch ein Unter-
fchied zwijchen „Lied“ und „Gedicht. Die Stimmungen der „Sommernädte‘‘
fonnten gar nicht in Liedform gebradht werden; fie brauchen nur den Rhythmus,
den jie felbjt bedingen; und wie die Form des Liedes eine mufifalifche „Ein—
theilung“ it, jo mußte es mir darauf ankommen, eine der Stimmung ent«
Iprechende Kadenzirung zu finden: das Gewand mußte fi) ganz eng anjchmiegen,
das Gewand mußte jchon in jeinen Linien Muſik, Harmonie fein. Die Holzianer,
die ja auch die Neimdufelei verwerfen, kennen nur eine „Form“ für den Berftand
und das Auge; das Gedicht joll aber innerlich Plaſtik jein, Elingende Plaſtik,
der jede Äußere Schönheit geopfert werden muß. Eben fo verfehlt tft der achadte
Tonfall, dem wir heute häufig begegnen. Wir dürfen nicht vergejfen, daß das
(geichriebene) Gedicht aus der mufifaliihen Stimmung geboren wurde, aus dem
Bedürfniß, das Unbeftimmte in Worte zu drängen. Bittert aber fein Ton in
den Worten, jo haben wir Proja oder Rhetorik. Ich wollte feine Theorie auf-
jtellen, jondern einige Anregungen geben. Nicht eine Schalmei träumt mehr
in unjerem Lied: ein Orcheſter umraufcht uns mit ſchwerem Flügelſchlag. Nicht
das grüne Thal durchzieht der fröhlich wandernde Burſch in unferen Gedichten:
der Geiſt fliegt durch den Weltenhimmel. Der Kosmos ijt „Heimath“ geworden.
Wir fühlen uns als Pflanzen, die leben, aus Sommernädten der Sammlung
der Sonne zujtreben, der höchſten Entfaltung ihrer Gluth und Pradt. Das ift
unfere einzige, unfere gewaltige Miſſion. Und fie ift nicht Yaft: wir find ja
eins mit der ungeheuren Welt der Sterne, in allen Adern brennt die Sonne,
fie iſt Gott, ſchöpferiſcher Geiſt. Unſere Kultur, Fabriken und Maſchinen find
auch nur „Natur“, Ausflug und Stonzentration, potenzirte Aeußerung der Natur.
Auch ihr Lied dröhnt in dem großen Hymnus der Kraft, der Sonne. Und Alles
wird zur Symphonie. Unjer Ohr bat fid) an die Disfonanz gemöhnt. Sie
„beleidigt* nicht mehr. Wenn in nocd jo geringem Maße: die Ahnung diejer
Weltenſymphonie jhwingt in unferem Dichten in blendenden Sonnenfarben. So
gehen wir dem Reiche des Lichtes entgegen. In ihm werden wir endlich unjere
„Beſtimmung“ finden und verjtehen lernen. „Nichts ift herrlicher als die Sonne!..“
Straßburg. Rene Scdidele.
*
Wanderungen. Kommiſſionverlag J. Littauer, München. Preis 3 Mark.
Das Buch iſt mit der bekannten holtenſchen Type ſehr ſchön auf echtem
Van Geldern gedruckt und wirkt auf jedem Büchertiſch vornehm; namentlich,
wenn man es nicht aufſchneidet. Sogenannter Buchſchmuck fehlt. Der Schmuck
Seldftanzeigen. 165
meines Buches iſt die Drudanordnung. Es enthält dreiundzwanzig Gedichte,
darunter zwei längere epiſche. Bon ihnen ericheinen mir heute drei Iyriiche Ge—
dichte gut, das eine epiiche interejiant; von den übrigen ſechs als gute Mittel:
waare, dreizehn als mißlungen. Einzelne meiner Freunde urtheilen anders. Wer
willen will, weſſen Urtheil richtig ift, muß das Bud nicht nur faufen, jondern
auch aufichneiden. Ich gebe hier nur noch ein Citat:
Mas iſt es, das uns in der Sceideftunde
An dieſen Blit auf Strom und Hügel bannt?
Was, das aus diefer Thäler erniter Munde
Im Schweigen uns den Arm entgegenjpannt ?
Die Sonne fintt, die Wolfen jtehn in Flammen,
Aus grünen Tiefen eine Stimme raunt:
„Was zögert Ihr? Im Meer der Zeit entihtwammen
Die Stimden längjt, die Ihr noch müd bejtaunt.
Seht hin, jhon ſenken ſich die Nebeljchatten,
Seht hin, Schon ſchwindet all die bunte Pracht,
Seht, wie fih Licht und Finſterniß begatten,
Sie zeugen die geheimnißtrunfne Nacht.
Seht chweigend, geht! Was joll das matte Yaudern?
Ihr ſchwindet auch, wie diejer Tag entſchwand“ ...
Wir ftchn noch immer, ‚stehn im großen Scaubdern,
Ich fühl’ in meiner Deine falte Hand.
Münden. Felix Paul Greve.
+
Die wiffenihaftlihen Grundlagen der Graphologie. Mit 31 Tafeln.
Verlag von Guſtav Fifcher, Jena 1901.
Bum erften Mal werden hier in ftreng willenfchaftliher Weije die Be-
ziehungen zwiſchen Handſchrift und Charakter auseinandergejett. Die Schreib-
bewegung wird al3 eine Stombination von willlürlicen und unmwillfürlichen Be—
wegungen dargeftellt. Wie in jeder Dantirung, jo kommt auch in ihr zunächſt
die individuelle Bewegungphyſiognomik zur Geltung: Ausgiebigkeit, Geſchwindig—
feit, Nahdrud, Gleihmäpigkeit der Bewegung, Grad des Spannunazujtandes
der Muskulatur, Neigung zur Stredung oder Beugung, Borwiegen mehr ediger
oder mehr abgerundeter Bewegungformen u. j. w. Indem ich nun zeige, wie
dieſe phyfiognomifchen Eigenarten in der Handſchrift zur Fixation gelangen, und
den Zujammenhang zwiſchen ihnen und bejtimmten Charaktereigenichaften auf
dede, gelingt es mir, damit eine wichtige Brüde zwiichen Handſchrift und Cha-
rakter herzuftellen. Zur Veranſchaulichung diefer Ableitungen und zur Sicherung
der Beweisführung werden Schriften Geijtesfranfer aus gejunder und franfer
Beit mit einander vergliden. Auch die mehr willfürlihen Faktoren, die die
Form der Scriftzüge beeinfluffen, find bejtimmten Sejegen unterworfen. Dieſe
— beſonders die von den Pſychologen gewonnenen Ergebniſſe über die Ab—
bängigfeit des individuellen Formengeijhmades von beftimmten Charaktereigen-
ſchaften — und eine Neihe jonjtiger Erwägungen dienen dazu, weitere hand-
166 Die Zukunft.
Schriftliche Eigenarten dem wilfenfchaftlichen Verſtändniß näher zu bringen. Bon
unbegründbaren Spekulationen und von der in der Graphologie bisher herrichenden
Pjeudoempirie habe ich mich ganz ferngehalten. Die Sprade ift allen gebil-
deten Yaien verſtändlich. Dr. Georg Mener.
*
's Re'ment. Verlag von Heinrich Minden, Dresden.
Wenn die Falten des Lachens und Weinens ſich feſter ins Antlitz des
Menſchen einzugraben beginnen, erſcheint ihm die Jugend wie ein goldener
Traum, von dem er gar gern nur eine kurze Spanne wieder ſein eigen nenuen
möchte, — je nachdem: um jie noch einmal zu durchfojten, oder, um fie bejler
aussunugen. Die jugend denkt leichter über Das, was fie hat, ſie giebt ihre
Zeit mit vollen Händen aus, ohne an Sparen zu denfen, und vielleicht gerade
deshalb ijt die jugend jo ſchön. Sie hat ja jo endlos viel Zeit; das ganze
Leben mit all jeinen Bergen, Thälern und weiten Ebenen liegt ja noch vor ihr!
So denken auch die jungen Yieutenants in meinem Roman, die Kameraden des
„Re'ments“. Bon ihrem Jugendübermuth, ihren tollen Streichen handelt er.
Aber auch von ihrem treuen Zuſammenhalten, von ‚sreundjchaft bis zum Tode,
von Heiliger und unbeiliger Yiebe, von Genießen und Entjagen, von Sünde und
Ueberwinden. Mir Schienen dieje kraftvolle Skrupellofigkeit und diefer Humor,
dem nichts heilig ift, doch auch dieje einzigartige Kameradichaft und diejer heilige
Ernſt, diefe rüdfichtlofe Genußſucht neben findlichem Frohſinn der Schilderung
werth. Und zwar einer Schilderung ohne Vorurtheil, einer künſtleriſchen Ge—
jtaltung „mit dem Anjchein äußerſter Naturwahrheit“, wie es einmal in dem
Buche heit. Ein Bilderbud) des Yebens in bunten Farben, lichten und düjteren, —
allerdings nur für Große.
Schlendorf, Felix Freiherr von Stenglim,
*
&
Das Eentralfartell.
—8 artelle aller Branchen, vereinigt Euch!“ Dieſe Variante des weltberühmten
"DIL Yeitjages, den Marx der internationalen Arbeiterorganijation auf den
Weg gab, konnte an den Wänden des berliner Saales prangen, in den neulich
die Bertreter aller Umternehmerverbände Deutjchlands berufen waren. Die jelben
Lente, die jonjt nicht laut genug gegen jede von Proletariern geichaffene, beſſere
Arbeitbedingungen anjtrebende Wereinigung wettern fonnten, bemübten ſich bier,
eine Koalition der Umternehmerverbände ins Yeben zu rufen. Den Vorjik führte
Herr ‚sende, der einſt im jächjtichen Miniſterium Geheimer Finanzrath war und
am erjten Mai nun aus der Yeitung der Firma Krupp jcheiden wird. Das
Dauptreferat war Herrn Bueck anvertraut, dem Generalſekretär des Kentral«
verbandes Deutjcher nduftrieller, den die Arbeiterprejje mit dem jelben Recht
den bezahlten „Hetzer und Agitator” der Unternehmer nennt, mit dem Ddiejer
Vorwurf von ihm und jeinen Yenten den Führern der Arbeiter entgegengejchleudert
wird. Es war eine richtige Gewerkichaftverfammlung; nur tagte fie nicht am Engel—
Das Centralfartell. 167
ufer oder in der Prenzlauer Allee, jondern am Wilheimsplag im Hotel Kaiſer—
hof. Und dem feinen Nahmen entiprady die bejondere Art diefer Gewerkſchaft—
mitglieder. Jeder Zoll ein Millionär.
Im New-HYork Herald wurden nad) der Verſammlung der Kartellver:
treter weitausſchauende Betrachtungen über den, 3weck der Uebung angeitellt.
Diejer Zwed, hieß es da, jei ein gemeinjames Vorgehen aller Kartelle gegen die
Auslandsfonkurrenz. Der Verfaſſer diefes viel bemerften Artikels wandelt in
Morgans Spuren; er ficht vor feines Geijtes Auge ein Gentralkartell, das weniger
die nationale Produktion als vielmehr den gejanımten nationalen Erport leiten joll.
Kein Wunder, daß im Kopf eines amerikanischen Journaliſten, der von einer Zus
jammenfunft der Bertreter aller deutjchen Kartelle hört, der Gedanke an jo groß—
artige Pläne auftauchte. Aber diejer ipefulative Amerifaner überjchäßt die Kraft
unjerer Wiillionäre, die vorläufig jolche Niejentransaltionen, wie fie einem Morgan
möglich find, mit der Ausſicht auf Erfolg noch nicht wagen dürfen. Den Aus:
länder mag in dem Einladungjchreiben ein Sag, deſſen Grundgedanke in Buecks
Reden mehrfach wiederfehrte, zu jeinem Irrglauben verführt haben. Da wurde
nämlich gejagt: die geplante Vereinigung aller Syndikate jolle die gemeinjamen
Intereſſen aller Kartelle wahren. Nun fordert ohne Zweifel ein großes, allen
Startellen gemeinjames Intereſſe, das Ventil des Erportes offen zu halten. Nur
haben die Kartellherren bisher jich noch nie über die Mittel zu einigen vermocht,
mit denen diejes Ziel ihrer Schnfucht erreicht werden könnte. In Aufſchwungs—
zeiten iſt allenfalls nod) eine Einigung möglich. Als aber die eriten Symptome
des Niederganges fihtbar wurden, brach — die Erinnerung daran iſt noch friſch —
zwilhen den Zymdifaten der einander ergänzenden Branchen Noble und Eiſen
lofort ein Streit über die Gewährung von Erportprämien und ähnlichen Vor—
theilen aus. Die Megiffeure der Berfammlung meinten mit den „allgemeinen Inter—
ejlen der Syndikate“ denn auch ganz andere Dinge. Der wirkliche Zweck der
faijerhöfiihen Beranftaltung giebt uns das Recht, fie einen Sewertichaftfongrei
der Unternehmer zu nennen. Nicht einem ausländiichen Feind galt der Kampf;
eher fah es aus, als folle die Demonstration auf die eigene Negirung wirken.
Die Furcht vor dem Kartellgeſetz hatte die Unternehmer nad Berlin getrieben.
Den mädtigen Derren jcheint nad) und nad die Ueberzeugung zu dämmern, daß
die gejegliche Regelung und Ueberwachung der Kartelle jih zwar noch eine Weile
binausjchieben, auf die Dauer aber nicht hindern läßt. Diele Gewißheit it in
erjter Reihe wohl durch die Zuckerkonferenz aejcdhaffen worden. Deutſchland hat
in Brüfjel Vorſchlägen zugejtimmt, die, wenn jie vom Neichstag angenommen
werden, den Zuſammenbruch des Zuckerkartelles herbeiführen müſſen. Dan weiß
ja bei unjerer Negirung nic, woran man iſt; alle paar Wochen mwechjelt der
Kurs und in wirthichaftlichen Dingen jind von Tag zu Tag die mierbwürdigiten
Wandlungen zu erwarten. Wiclleicht ſitzen in der Regirung — der vperantwort—
lichen, meine ih — Yeute, die mit der ganzen Jubrunſt ihres ſchutzzöllneriſchen
Herzens beten, der Reichstag möge die brüsjeler Beſchlüſſe ablehnen. Vielleicht
aber wird gerade jetzt, da der Jude Ballin mit hohen Orden deforirt wird und
der Staifer die Händler Löwe, Arnbold und Bleichröder zu einer Nordjeefahrt
eingeladen bat, mehr, als man glaubt, auf einen neuen Neichstag gerechnet, der
die Handelsverträge annehmen und dem Inckerkartell das Lebenslicht ausblaſen
168 Die Zulunft.
joll. Jedenfalls jchwebt das Kartell in Gefahr. Und dieje Gefahr muß alle
Kartelle jchreden, weil jie zeigt, daß jelbjt in einem perjönlich regirten Staat
wie Preußen die Klagen über eine rüdjichtlos ausbeutende Kartellpolitif bis an
die höchſte Stelle gelangen können.
Der Gentralverband Deutjcher Induſtrieller Scheint das Fürchten gelernt
zu haben, troßdem alles bisher Geichehene dazu feinen Anlaß bietet. Graf
Pojadowsty hat Erhebungen über die Kartelle in Ausjicht geitellt und das
Reichsamt des Innern hat auch wirklich die Bundesregirungen aufgefordert, jich
über die Entwidelung des Kartellwejens in ihren Neichsgebieten zu äußern.
In allen Ländern, wo man die Löjung wirthichaftlicher Probleme ernjthaft ver-
fucht, in England und jelbjt in Amerika pflegt man in ſolchen Fällen Eontra-
diftoriiche Enqueten zu veranftalten. Die Ginberufung des Wirthſchaftlichen
Ausſchuſſes Hat, bei den Vorarbeiten zum HBolltarif, gezeigt, daß aud bei uns
diejes Verfahren gewählt wird, wenn man den Schein gründlichſter Sadlidh:
feit wahren will. Ich weil; nicht, wie die vom Neichsamt des Innern gejtellte
Frage in den anderen Bundesitaaten behandelt worden ilt. In Preußen trat der
Handelsminifter und Unternehmer Möller in Aktion. Denn da das Reichsamt
des Innern dem preußiichen Minijterium nichts vorzufchreiben hat, muß man wohl
annchmen, daß die gewählte Mtethodedem „hellen Kopf“ des Herren Möller entftamınt.
Der Minijter veranftaltete nicht etwa eine Enquete; er wandte fi aud nicht
an die Vertreter der Unternchmerkartelle, der Dandelsforporationen und Gewerk—
ihaften, fondern an die Regirungpräfidenten, im Grunde aljo an die Polizei,
die man in Preußen für wirthſchaftliche und fozialpolitiiche Erhebungen ja be-
ſonders gern in Anſpruch zu nehmen pflegt. Ich bin neugierig, das auf diejem
Wege gejammelte jhäßbare Material feımen zu lernen. Den Sartellen wird
es jedenfalls nicht gefährlic) werden; fie haben in der Negirung noch immer
gute, zuverläfjige Freunde und Herr Möller it Fzleifch von ihrem Fleiſch, Um
jo merfwürdiger ift die Kaiſerhof-Verſammlung. Muß man daraus nicht folgern,
daß im der Negirung zwei Anſchauungen um die Herrfchaft ringen und daß die
Ktartellfreunde gethan haben, was man in der Verbrecherſprache „pfeifen“ nennt?
Dieſe Freunde, die „Schmiere ſtanden“, fönnten ja gepfiffen haben: „Gefahr im
Verzug!" Das wäre wenigjtens eine Erklärung der überrajhenden Demonftration,
Intereſſant ift die Art, wie fich die Herren den Widerjtand gegen die
Staatsgewalt — ad nein: das Kartellgeſetz — denken. Kann das Geſetz nun
einmal nicht verhindert werden, jo will man wenigjtens für eine möglichſt milde
Form jorgen, will man, wie in der Berfammlung ſo ſchön gejagt wurde, ver-
juchen, „es mit den Intereſſen der Startelle in Einklang zu bringen.” Der
Rede Sinn it nicht ſchwer zu verjtehen. Noch ijt ja unvergeſſen, daß einjt das
Reichsamt des Innern zur Agitation für das Zuchthausgejeg zwölftaujend Mark
vom Gentralverband Deuticher Induſtrieller erbat. Der Centralverband felbjt
hat jeine Agitation bisher aus eigenen Mitteln betritten. Sollten die für jolche
Zwecke nöthigen Ausgaben jeßt jo groß geworden fein, daß fie nur noch durch
die vereinigten Millionen ſämmtlicher deutichen Kartelle gededt werden können?
Schon die erjten Schritte auf dieſem abſchüſſigen Weg verdienen Beachtung.
Plutus.
>
Theaternotizen. 169
Theaternotizen.
SR ine „Tragoedie braverYeute“ hat Herr Karl Schönherr jein einaftiges Drama
I „Die Bildjchniger“ genannt. Auch auf fein neues, größer gedachtes Wert
würde die Bezeichnung paffen. In den fünf Akten des „Sonnwendtag“ lernen wir
feinen fchlechtensterl kennen; lauter bravePeute. Wir find wieder im öfterreichiichen
Tirol, in der Heimath des jungen Dichters. Da lebt, in einem Wallfahridorf, der
Rofnerbauer mit Frau und Mutter. Denen ifts jhlecht gegangen. Um Lichtmeß
hat eine Echneelawine ihr Häuschen nebjt Stall und Vich in den Abgrund gerifjen
und den Bater, der im Altentheil ſaß, getötet. Doc) das tapfere Paar lieh fich vom
Schidjal nit umwerfen. Der Bauer hat jein letztes Stüd Wald der Gemeinde
verfauft und will von dem Erlös die Baukosten der neuen Hütte zahlen. Er und jein
Weib arbeiten von früh bis jpät und dürfen hoffen, dem Kind, das fie erwarten, ein
ſchmales Behagen zu Schaffen. Härter hats die Mutter getroffen. Ihr Troft ift der
zweite Junge, der Hans. Dem hat der alte Dorfpfarrer ein Gemeindeftipendium
ausgemwirkt. Und jest hat der Hans in der Stadt das Abiturienteneramen löblid) be-
ftanden und joll ins Priejterfeminar; jo Gott will, wird die Mutter ihn noch
als Geiftlihen jehen. An diefe Hoffnung klammert ſich das fromme Weiblein,
das fich auf der Kommode ein Hausaltärchen aus Pappe und Goldpapier errichtet
bat, und ahnt nicht, daß der Hans in der Stadt dem Kinderglauben entfremdetwarbd.
Wilde Neden hat er gehört, ſchlimme Mären von Pfaffengräueln; und die Luft am
geiftlichen Weſen haben Hunger und Schuljchinderei ihm ausgetrieben. Noch wagt
er das jchwere Bekenntniß nicht, will der Mutter, die jo viel durchgemacht hat, nicht des
legten Wunſches Erfüllung rauben; im Innerſten aber ijt er entjchloffen ‚nicht
Priefter zu werden. Nun fügt fihs, da am felben Sonnwendtag, der ihn zu furzer
Ferienraft in die Deimath führt, Pfaffenfeinde ins Dorf kommen, Radikale, die durch
das Land ziehen, um die Unzufriedenen aus träger Ruhe zu jcheuchen und eine neue
Zeit vorzubereiten. Den Führer des Nugendfähnleins, den Jungreithmair, kennt
Hans aus der Stadt. Ein ftarfer, harter Gejelle, der Weib und Kind daheim
betteln läßt und ſich als Apojtel fühlt, als Diener gottlojer Wahrhaftigkeit, die
den zagen Menſchen das Heil bringen joll. Die eigen und Pauen will er rütteln,
bis ihnen der Muth wächſt, und das Sonnmwendfeuer joll das leuchtende Zeichen
fein, das die Schwachen aus frummen Gäfchen und niedrer Gewöhnung auf die
Höhe ruft. Doc die Fromme Gemeinde wehrt ſich gegen den Feind ihres Glau—
bens; kein F5ledchen giebt der Gemeinderath für das Sonmvendfeuer frei und feinen
Mann, jo ſchwört der Dorftyrann, darfder Aufiviegler uns verführen. Zwiſchen den
beiden Fanatismen fteht ſchwankend Dans Rofner. Er hat die Fremden auf feine
Bergwieſe geführt und schleppt zu ihrem Sonnwendfeuer jelbjt Reifig herbei. Da fällt
ihn der Bruder mit Bitten an. Wenn Hans nicht Prieſter wird, muß die Familie
das Stipendium zurüdzahlen und das Kind des Nofnerbauern wird heimlos ge:
boren werden. Daran joll Hans denfen; aud) an die Mutter, die der Schlag tüten
kann, und an Alles, was das gequälte Kaar ſchon gelitten hat. Din und her wird
der arıne Junge gezerrt. Mit den Freig möchte er gehen, den rüftigen Befreiern, die
zum Kampf gegen Pfaffendrud und Hörigfeit rufen, und feinen Leuten doc, die
fo viel für ihn ıhaten, das Schwerſte eriparen. Als Jungreithmair ihn einen
Feigting nennt, der einer großen Sache nichts opfern wolle, wallt des Knaben Blut
170 Die Zufunft.
auf: er iſt nicht fein, er wird bleiben, — mögen die Seinen zu Grunde gehen. zn
finnlojer Wuth erichlägt ihn der Bruder. Die Nofnerin hält fich aufrecht; fie wird ihr
Kind aufziehen und warten, bis der Mann die Strafe abgebüßt hat. Die Mutter
jteht thränenlos an der Bahre des Jungen, den der Meltere ihr gemordet hat, und
merkt kaum, dab die Gendarmen den Mörder fortführen. Nicht mit Menjchen hadert
fie: nur mit Gott; mit ihrem Gott, dem jie ein Leben lang treu gedient und der ihr
Vertrauen jo getäufcht hat. Den Mann zuerft und num beide Kinder nahm er ihr.
Langſam räumt fie, auf wantenden Beinen, den ganzen Altarfchmud ab: den friſchen
Rosmarinſtrauß, die fünftlihen Blumenftöde, die Mejlingleuchter mit den Wachs—
ferzen, das Spigentud, das den Bappaltar deckte. Dann löſcht fie das Oellichtlein
im vothen Ampelglas, „jet fi nah dem geplünderten Altärchen auf einen
Stuhl, jtüßt die zittrigen Hände auf den Krüdjtod und ftarrt mit weit offenen,
grauen Augen jtumpf vor ſich hin.“ Das iſt das Ende... Lauter brave Leute ſahen
wir, Leute, die jich im Nedht wähnten und um ihren Glauben rangen. Das kleine
Bild eines eng begrenzten Stulturfampfes hat Perſpektive; e8 ift das Werk eines
ftarfen, männlichen Talentes. Im wiener Burgtheater, wo es zum eriten Mal auf-
geführt wurde, foll der Direktor, Herr Schlenther, den Dichter gezwungen haben,
auf den fromme Gemüter ärgernden Schluß zu verzichten. Das wäre ein echtes
Schlentherſtückchen, würdig eines Deren, der, um verjorgt zu fein und ein ruhiges
Yeben zu haben, die früher jo laut befannten Slaubensjäge in die Rumpelkammer
verpadt hat. Mit dem Schluß verliert das Drama feinen tiefjten Sinn ; denn es ift
die Tragoedie eines greifen Menjchentindes, das die abjterbenden Wurzeln ftöhnend
vom alten Glauben löjt. Dan joll den Namen Anzengrubers nit unnüglich im
Munde führen, Deren Schönherr nicht heute ſchon dem einzigen großen Dramatiker
vergleichen, der jeit Debbels Tode im deutichen Spradhgebiet lebte. Noch fehlt dem
jungen Tiroler die Größe und ‚sreiheit der Weltauffaffung, noch ſieht man jeinen
Menſchen nicht jo tief ins Herz wie denen des Meifters Yudrwig und feinem Pathos
hat der Humor ſich noch nicht gejellt. Aber er kann viel, er fühlt, wo in der Heuchel-
kultur unſerer Tage die ſchmerzlichſten Konflikte zu finden find, und geftaltet fie mit
dem Temperament eines in feiner Schule verfümmerten Dramatifers. Er ijt eine
Hoffnung; und felix Austria mag fich freuen, da ihr nad) dem feinen Stadtherrn
Arthur Scnitler nun diejer kräftige Bauerndichter geboren ward.
* *
*
Im Deutſchen Theater iſt „Der Weg zum Licht“ aufgeführt worden; ein
Märchendrama, das Herr Georg Hirſchfeld zu ſchreiben für nöthig hielt. Zum Licht
führt der Weg Den, der ſündigen Trieben entſagt hat. Der Sündenbegriff iſt hier
nicht zu entbehren; denn wir find in der Couliſſenwelt judendpriftlicher Borftellungen.
Dahngikl, ein ſchwarzelbiſcher Zwerg, der im Allgemeinen jalzburgiichen Dialekt, im
geſteigerter Stimmung aber hochdeutſche Verſe jpricht, iſt ein weithin geſchätzter
Juwelier. Er macht köſtliche Geſchmeide und bat einen Geheimfonds aufgeſpeichert,
der ihm die hübſchen Weiber kirren ſoll. Aber die Wildfrauenwollen von ihm nichts
wiſſen, trotz den Ketten und Ringen und Armbändern aus Gold und Edelgeſtein;
er iſt gar zu häßlich. In dieſem Wodansreich muß es ganz anders ausſehen als in
der Menichemvelt; für ein paar Brillanten kann bei uns der garſtigſte Kommerzien—
rat) appetitliches Fraueufleiſch kaufen, und wenn er ohne Knauſerei ins Zeug
geht, ſchwören ihm jchöne Iheatermädchen vom erjten Fach, daß fie den Mann
Theaternotizen. 171
in ihm lieben. Herr Hahngikl hat es jchlechter und jehnt jich mit allen Sinnen
doch nad) brünjtiger Wonne. Mama hat Mitleid mit ihm. Hier, jagt fie, iſt ein
Tränflein, das Du der wunderjchönen fiechen Tochter des Vfalzgrafen bei Rhein
eingeben follft, wenn fie vorher gelobt, den Heilfünjtler bräutlich zu umfangen. Der
Zwerg madt ſich aufden Weg. Die Grafentochter wird gefund, doch der Ritter, dem
fie fich zum Weib gab, überredet Hahngikl zur Nazarenerentfagung. Das geht jehr
ſchnell. Aus dem Schwarzelb wird ein Lichtelb, aus dem verfrüppelten Zwerg ein
ſchlanker Jüngling im weißen Engelhemdcen, den die Wildfrauen gern auf ihr
Lager lodten. Jetzt aber, wo er die Liebe umſonſt haben könnte, ijt er gegen Anfech—
tung gefeit... Das Stück ift fchnell entſchwunden; day es aufgeführt und zu Ende
geipielt werden konnte, muß man im Gedächtniß bewahren. Nie ijt ein talentlojeres
Machwerk auf eine große Bühne gefommen. Der Grundgedante eine läppiſche Tri-
vialität; feine Spur einer Märdenftimmung; Feine auch nur in flaren Konturen
gezeichnete Geftalt; nicht einmal ein Theatereffeft. Und die Berfe! Herr Hirſchfeld
fühlt das Bedürfniß, ein Baterumfer zu dichten, und läßt fein Bfalzgrafenpaar ee.
Unjer Bater Du im Himmel,
‚sa, Dein Name jei gepriefen.
Daß Dein Wille ſich auf Erden
Wie im Himmel groß erwiejen.
Daß Dein Neid) im Herzen währet,
Sieb uns Brot, das ewig nähret!
Sieb uns Gnade vor Gericht
Und verjuch uns, Water, nicht!
Ein begabter Quartaner würde es bejjer madıen. Es ift Schade um Herrn Dirichfeld.
Jahr vor Jahr zeigt er, daß er nichts kann, nichts zu jagen hat und nur die eigene
Familienmiſere mit leidlihem Gelingen zu jchildern vermochte. Nachgerade muß er
jelbjt doc empfinden, daß es jo nicht weiter geht. Wielleicht dämmert ihm nad) der
neuſten Niederlage im Schmeichlerkreis jegt die Erfenntnig. Der erjte Saß jeines
Märhens war ein Zmwergenjeufzer: „Wer mühte ſich nicht umſunſt in feiner lieben
Kunſt?“ Herr Dirichfeld jollte jic wirklich nicht länger umſunſt bemühen.
* *
*
Vor ein paar Monaten, als Herr Coquelin zum erſten Mal nach Berlin kam
und ein Fräulein Durand de la Comédie Frangaise mitbrachte, hieß es: Das alſo
jind die Sterne der berühmten Comedie? Die glänzen ja nicht jo hell wie unjere
Eouliffengeftirne. Fräulein Durand ift eine alternde Dame, die in Hauſe Molicres
nie einen Rang hatte und jeit Jahren mit der Dilfe eines ihr befreundeten Millionärs
die Frrauenzeitung La Fronde herausgiebt. Sie it weder als Spielerin noch als
Journaliſtin der Rede werth: und daß jie hier in Rollen der Bartet aufzutreten wagte,
beweiſt nur, wie gering der berliniſche Theatergeſchmackin Baris eingeichäßt wird. Die
erfahrene Dame hatte, bevor fie ſich auf der Bühne zeigte, der Breije ein Champagner-
frühſtück angerichtet und man muß es als eine rühmliche Leiſtung verzeichnen, daß ſie
trogdem fänftiglich getadeltwurde. Immerhin wurde ihr dreiſter Verſuch nicht jo ſchroff
abgelehnt, wie die Selbſtachtung einer Großſtadt es gefordert hätte. Jetzt ſpielen die
Franzoſen im Neuen Theater Poſſen und wieder heit es: So gut können wirs and.
Madame Cheirel vom Palais Noyal ſteht an der Spitze der Truppe, Eine routinirte
Spielerin von robufter Yuftigkeit. Nein Menſch hält jie in Paris für einen star:
172 Die Zukunft.
und fie jpielt den Berlinernnod) dazu Rollen vor, die ſie in Barisniegefpielt hat. Bon
den guten parijer Komikern iſt fein einziger mitgefonmmen. Wozu aljo der Jubel
darüber, da unjere Mimen nicht noch Schlechteres leiften? Die Aufführungen, die
Coquelin und Frau Cheirel uns boten, wären an der Scine nicht möglid. Da
wird wirklich jehr gut geipielt, bei Antoine jogar befjer als inirgend einem Schauipiel«
haus mit modernem Repertoire. Die Inſzenirungen find Torgfältiger und mit
ſichererem Geſchmack vorbereitet, als wirs je gewöhnt waren. Paris ijt nod) immer
die Stadt der feinjten Theaterkunſt. Was wir zu fehen befonmen, ijt jchlechte
qualit& d’exportation, find zufammengewürfelte Truppen brotlojer Dijtrionen.
Im Hoftheater treibt eine franzöfiiche Operngejellichaft ihr Unwejen. Die löb—
lihe Generalintendanz fordert für diefe Aufführungen, die nad) allgemeinem
Urtheil erbärmlic find, erhöhte Eintrittspreife und die Kritifer rufen wieder: Diefe
Boritellungen find mit denen unſeres Opernhaujes nicht zu vergleichen. Ein Ver—
gleich würde doch erſt möglich, wenn die Große oder die Komische Oper mit ihrem
Enjemble aus Paris zu ung kämen. Wer die Meifterjinger, Sarmen mit der Calvé
oder Charpentiers Louise — die der Herr Graf von Hochberg no immer nicht auf-
geführt hat — drüben hörte und jah, weiß, daß dieje VBorftellungen die Konkurrenz
von Barvenupolis nicht zu ſcheuen haben. Uns aber jervirt man die Rejte. Sogar
Herr Paulus, dejfen Glanz in Paris längjt verblichen iſt, darf hier als roi des
chansonniers vorgeführt werden und die Berliner halten den alten Tingeltangler
am Ende wirklid) dafür. DerWerth einer Volkheit und einer Bolkskultur wird nicht
durch ihre Theaterleiſtungen beftimmt und es ift feine Schande für Deutſchland,
wenn gejagt wird, daß die Franzoſen befjere Komoedianten haben. Statt aber nad)
unzulänglichen Broben über den Rhein zu brüllen, daß wir auch in diejer Induſtrie
heute den Wettbewerb wagen können, follten die Wortführer deuticher Kultur die
Nachbarn lieber daran erinnern, dag Mimen, die in Bordeaux und Marjeille nur
eben geduldet würden, für Berlin denn doch nicht gut genug find. Auch die franzöfiichen
Stüde werden häufig ganz faljch beurtheilt, weil man nicht nad) ihrer Herkunft fragt.
In den Folies Dramatiques, einem Vorjtadttheater, das der ?zremde faum fennen
lernt, wird von galliihen Spaßmachern die Poſſe Le billet de logement aufgeführt.
Der Direktor Yautenburg läßt fie Schlecht und recht überjegen, die Cenſur tilgt die
ſaftigſten Zoten, und als der entftellte ME unter dem Titel „Einquartirung” auf
der Bühne des Nefidenztheaters erjcheint, runzeln weile Männer ob der Entartung
des Vaudeville die Denkerſtirn. Dem einjt jo luftigen Genre geht es jeßt wirklid)
Ihleht; immerhin follte man nicht vergeffen, dai die meijten Exemplare, die uns -
gezeigt werden, von ganz fleinen Bühnen ftammen, von Bühnen im Nang unjeres
Thalia», Metropol= und Herenfeld- Theaters. Der Amport joldier Waare ijt über-
flüffig; jo werthvoll wie der Kleine Kohn und der Fall Blumentopf find aber jelbjt
die Ichlechtejten parifer Schwänfe. Was würden wir jagen, wenn die Römer das
ihnen zugedachte Werk des Herrn Eberlein als Beweis für den Tiefjtand deuticher
Plaſtikerkunſt nähmen und dem Yande, dem Klinger lebt, höhniſch zuriefen: Das
fönnen wir bejier? Genau jo ungerecht aber urtheilen wir, wenn wir uns höherer
Bühnenkunſtkultur rühmen, weil uns fajt immer nur die albernjten Stüde und die
ausgedienten Bretterhelden Yutetias vorgeführt werden.
Herausgeber uad oerantmortlicer Nedal.cıı: M. Hardın ın Beriin, — Verlag der Zulunft in Berlın,
Drud von Albert Dauce in Berlin⸗Schöneberg.
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Berlin, den 5. Mai 1902.
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Univerfität und Ratholizismus.
EA ein philofophifch und hiftorifch gebildeter proteftantifcher Theologe
wie Lisfo die Gründung des römischen Papftthumes bedauert, fo De:
deutet Das einen Rüdjchritt, den ich bedaure.. Daß auf dem Boden der
alten Kirche die Ueberwindung der auguftinifchen Auffaſſung der Weltgeichichte
sicht möglich war, gehört zu den Dingen, die den großen Abfall nothwendig
gemacht haben, der den Namen einer Kirchenreform nur in fehr beichränftem
Sinne verdient, und es ijt ein unjterblicher Nuhmestitel der proteitantifchen
Wiſſenſchaft, daß fie das Verſtändniß der Weltgefchichte erſchloſſen hat; ein
Ruhmestitel der proteftantiichen Wifjenichaft, nicht etwa der Reformation,
die nur Chriſtus und Belial ein chasse-croise vollziehen lieh. Nachdem
Leſſing und Herder die lebendigen Kräfte der hiltoriichen Entwidelung aufs
gededt hatten, haben Geichichtichreiber wie Johannes von Müller, Friedrich
von Raumer, Heinrich Leo, die beiden Menzel, Gieiebrecht (auch Ranke darf
man wegen der Einleitung zu feiner Deutjchen Geſchichte im Zeitalter der
Neformation hierher rechnen) dem Mittelalter und dem Papſtthum gerecht
zu werden und Beide als hijtorifche Nothwendigkeiten begreiflich zu machen
verftanden; fogar die proteitantiiche Kirchengefchichtichreibung hat Das, wie
Karl Hafe beweift, vermoct. Und populäre allgemeine Welrgeihichten haben,
von der Beders bis zu der meuften von Spamer, die verminftige Auffaſſung
zum Gemeingut der Gebildeten gemacht. Dürfte man die Rücklehr Yiskos
auf den Standpunkt der Genturiatoren als die perfönliche Verirrung eines
einzelnen, im Uebrigen verdienten Gelehrten anfehen, fo wäre darüber weiter
kein Wort zu verlieren. Leider aber fcheint fie Symptom einer Maſſen—
13
174 Die Zutunft.
bewegung zu jein. Bon anderen Eymptomen, die ich feit Jahren beobachtet
habe, nenne ich nur zwei. Zunächſt, daß ein Philofoph von der Bedeutung
Paulfens das werthlofe Buch von Hoensbroech, das die Skandalchronik des Papit=
thumes für deffen Gefchichte ausgiebt, in der wiener „Zeit“ empfichlt. Und ein
zreites, viel wichtigere Symptom war die von Mommfen in Fluß gebrachte
Profefforenbewegung. Die hat ja nun der Herausgeber der „Zukunft“ ganz
in meinem Sinne behandelt. Höchſtens würde ich nod) daran erinnert haben,
daß kein proteftantifcher Profeflor an der ftatutenmäfigen Sonfefltonalität der
Univerfitäten Noftod, Halle und Königsberg Anſtoß zu nehmen fcheint, und
einige weitere Proben von VBorausjegungloligfeit beigefügt haben, zum Bei—
fpiel die folgende. Die peſſimiſtiſche Weltauffaffung ift zweifellos wiſſen—
Ihaftlich berechtigt. Sie wird manchem „VBorausfegunglofen“ durch die Er:
fahrung aufgedrängt. Nun kann nicht Jeder gleich Schopenhauer die bittere
Pille des Peſſimismus dadurch geniehbarer machen, daß er fie, in ein gutes
Diner gehüllt, Hinunterfchludt; und die Umftülpung des eudämoniftifchen
Peſſimismus in den evolutioniftifchen Optimismus bei Hartmann ift weiter
nicht8 als eine verblümte Verleugnung des Peſſimismus, alſo für den echten
Peſſimiſten gar nicht vorhanden. Die unabweisbare Konfequenz des Peſſi—
mismus hat jüngft ein Mann gezogen (ihn nennen, hieße, eine Denunziation
verüben), der lehrt: fittlich böfe ijt jede Zeugung und jede Handlung, die
zur Zeugung führt, fittlich gut ift Alles, was der Zeugung vorbeugt, Alles,
was Leben vernichtet und die Entftchung neuen Lebens verhindert. Wenn
diefer Mann fih habilitiren will und die Negirung ihm felbjtverjtändlich den
Zutritt zum Lehrftuhl verfchlieft: werden da die Profejjoren entrüftet pro—
teftiren? Harden erwähnt in feinen Professores Julius Wolf und Rein—
ho!d im Gegenfag zu Sombart, Schmoller und Wagner. Das follte Einen,
der das Material beifammen hätte, zu einer umfaflenden hijtorifchen Arbeit
veranlaften. Seit beinahe zchn Jahren wird von fehr einflußreihen Leuten
im Reichs- und Yandtag und im der Preffe gegen die „SKathederjozialiften“
gehegt. Zwar ift ſchon der Name eine Lüge, denn Seiner der Männer, die
man meint, it Sozialiſt; und Brentano, Echulze-Gaevernig, Wagner,
Schmoller, Sombart vertreten fo verfchiedene Nichtungen, daß es einfach
Unſinn ift, fie mit einer gemeinfamen Bezeihnung zufammenzufoppeln; aber
Jeder von ihnen hat irgend einmal irgend Etwas gefagt, was irgend einem
Unternehmer nicht paßte, und die Regirung ift feit Jahren Öffentlich gedrängt
worden, die fogenannten Stathederfozialiften durch Männer zu erjegen, die
jich bereit finden würden, eine dem augenblidlihen Intereſſe einer kleinen
Unterncehmergruppe dienende Nationalöfonomie und Sozialwiſſenſchaft vorzu—
tragen. Haben Das die Profefforen nicht als einen Angriff auf die Freiheit
der Wiljenfchaft empfunden? Es fcheint nicht; in der Deffentlichkeit wenigftens
hat man nichts davon gefpürt. -
Univerfität und Katholizismus. 175
Das Klüngelwejen der Univerfitäten ijt feit Jahren jo oft von un-
glüdlichen Privatdozenten bejammert und in der Deffentlyhkeit verfpottet
worden, daß die Herren Ordinarii eigentlich einen Ausbruch allgemeiner, Heiter:
feit befürchten mußten, wenn fie als die Nitter der Vorausfegunglofigkeit in
die Arena herabjtiegen. Aber freilih: in dieſem Fall waren fie ziemlich
fiher vor Spott; wenn die Freiheit der Wiffenfchaft fo viel bedeutet wie den
Ausschluß der Katholifen von akademischen Aemtern, dann jubelt die liberale
Prefie Jedem zu, der fie auf feine Fahne jchreibt, und auch die konſer—
vative legt vorfichtig ein gutes Wort für die Freiheit ein. Am Liebſten
möchte man die Katholiken nicht blo8 von den Univerfitäten, fondern aus
der ganzen Gelchrtenrepublif ausſchließen. Als ich vor einem Vierteljahr:
hundert einmal im altfatholifchen Deutjchen Merkur fagte, katholiſche Ge:
fehrte fänden nur, fo weit und fo lange jie jih al3 Sturmböde gegen Rom
gebrauchen ließen, bei der proteftantifchen Gelehrtenwelt Anerkennung, ihre
pofitiven Zeiftungen aber ignorire man, da rief mein Freund Mar Loßen, der
das gelehrte Zunftwefen genauer fannte als ich: Das war gut! Das mußte
endlich einmal gejagt werden! Der Rüdfall der proteitantischen Gelehrten-
welt in die Parteilichfeit, die mit Hilfe der Philofophie und des hiſtoriſchen
Duellenftudiums3 fchon überwunden war, hat mancherlei Urſachen, von denen
nur drei angedeutet werden follen. Segel hat die Objektivität zwar gefördert,
aber ihr eine Falle geftellt, indem er jede große hiſtoriſche Erjcheinung nur
für einen beftimmten Zeitabſchnitt vernünftig fein läßt, dann aber fordert,
daß fie in ihrer Nachfolgerin aufgehoben werde. In Wirklichkeit verläuft die
Entwidelung weder in der Natur noch in der Gefchichte jo, daß immer Eins
das Andere verdrängte, fondern das Neue ftellt ſich neben das fortbeitchende
Alte, aus dem es geboren ift, und gerade in der wachjenden Mannichfaltigs
feit und Fülle, die fo entjteht, hat man den Fortfchritt zu Juchen, wenn es
denn durchaus einen geben fol. Aber die hegeliich gerichteten Geiſter er:
warteten, dat das Mittelalter, dem man fein Necht gegönnt hatte, ſich nun
begraben laſſen werde, und wurden tief verftimmt durd feine Auferjtehung
in der Romantit. Und die Auferftandenen beeilten fich, den proteitantijchen
Unwillen zu rechtfertigen, indem fie beim vernünftigen Statholizismus der
Sailer, Hirfcher und Möhler nicht ftchen blieben, fondern zur Vigotterie,
zum graffeften Aberglauben, zum Fanatismus, zur mittelalterlichen Philo—
fophie fort oder vielmehr zurüdjchritten und die Stataftrophe von 1870 her—
beiführten, die dem vernünftigen Katholizismus in Deutſchland vorläufig
mundtot machte. Diefe verderbliche Rıchtung des Neufatholizismus zu bes
fämpfen, war die proteftantifche Gelchrtenwelt fogar verpflichtet; aber für
einen Siegespreis von zweifelhaften Werth ihre koſtbarſte Errungenjcait,
die objektive Auffaffung der Weltgefchichte, preiszugeben: Das war nicht Flug.
13*
176 Die Zukunft.
Damit taufchte man für den zweifelhaften Sieg einen unzweifelhaften Ver:
luſt ein, denn jene Auffaffung der Weltgefchichte preisgeben, heit, die fchon
geichlagene Brüde zur BVerftändigung zwifchen den Konfeſſionen abbrechen,
die das Element der Schwächung Deutfchlands in ein Element der Krait
verwandeln würde; eine Vielheit der Konfeflionen ift an fih ja geiftiger
Reichthum und daher eine Sraftquelle. Und indem man die Katholiken von
den Univerfitäten ausfchlieft, verfperrt man ihmen die einzigen Orte, an
denen ich die Verftändigung vollziehen kann und an denen jie ſich vor fünfzig
Jahren ſchon bis zu einem gewiflen Grade vollzogen hatte.
Dei diefer Ausfhliefnng wirkt nun freilich ein ſehr ſtarker Beweg—
grund mit, der aus einer dem wifjenfchaftlichen Intereſſe ganz fern liegenden
Gegend ftammt. In meinen Lebenserinnerungen habe ich berichtet, wie
unbequem den Proteftanten vor fünfzig Jahren die damals entftehende
Emanzipation der Katholifen geworben ift; denn als folche darf man bie
Bewegung bezeichnen, die gegen den grundjäglichen und thatfächlichen Aus:
ihluß der SKatholifen von Staats: und Gemeindeämtern gerichtet war.
„Selbitverftändlih“, fage ich dort, „waren die Proteftanten von biefer neuen
Erfheinung nicht weniger al3 erbaut. Aucd bei ihnen handelte es fich
feineswegs blos um das lautere Evangelium oder auch nur um die Auf:
Märung, fondern um die Behauptung der errungenen geiftigen und fozialen
Uebermadht und um das Aemtermonopol. Gewiß hat ji) Das feine der
beiden Parteien eingejtanden (Das wäre mit Beziehung auf die heutige
Univerlitätfrage ins Präfens zu überjegen); fie lämpften aufrichtig eine jede
für Das, was fie die Wahrheit nannte, aber unbewußt wirken jene ſozialen,
politiichen und materiellen Nüdjichten fehr kräftig mit in den Kämpfen um
religiöfe wie um weltliche Grundfäge und Ideen. Ueber ein paar Somvertiten
freut ſich natürlich jede Kirchengemeinſchaft; aber wenn ſich eines fchönen
Tages ſämmtliche deutichen Katholiken zum Eintritt in die evangelische
Landeskirche Preußens meldeten, jo würden ſich die Proteftanten nicht weniger
unangenehm überrafcht fühlen als etwa die franzölifchen Republikaner durch
die Bekehrung ſämmtlicher Monarchiſten zum Republifanismus, die fie zwingen
würde, mit der allen Franzoſen offen ftehenden Republik (fo lautete vor ſechs
Jahren die herrfchende Phraſe) Ernſt zu machen, indem fie ihnen den haupt:
jählichiten Vorwand zur Beichränfung der Konkurrenz um die höheren
Staatsämter raubte.“
Die grundjäglichen Bedenken gegen die Zulaffung von Katholiten zu
den afademischen Lehritühlen hat Harden jchlagend widerlegt. Weil aber
diefe Bedenken, namentlich ſeit 1870, nicht ganz unbegründet find, iſt es
nothiwendig, genau anzugeben, wie weit in diefem Gebiete die Gleichberechtigung
der Katholiken geht und wie weit ihre wiffenichaftliche Freiheit wirklich durch
Univerfität und Katholizismus. 177
ihren Glauben eingefchränft wird. In den Naturmwiffenfchaften find Kollifionen
zwifhen Glauben und Wiſſenſchaft gar nicht möglich. Die Verfolgung
Galileis ift von den Vertretern der aritotelifchen Philoſophie ausgegangen
und diefe kann nicht mehr lebendig werden, aljo auch die Kirche nicht mehr
beherrfchen. In dem Kampf zwifchen den gläubigen Chriften und einigen
Bertretern der Naturwiflenfchaften handelt e8 ſich nicht um Phyſik, Chemie,
Phyiiologie, Aftronomie oder irgend eine erafte Willenfchaft, fondern um
Hppothejen, und zwar um folche zweiter und dritter Ordnung. Die Atom—
lehre nenne ich eine Hypotheſe erfter Ordnung, weil fie unentbehrlich und
ihre Zuverläffigfeit durd das Ergeriment erwiefen if. Und nur fo weit,
wie das Erperiment reicht, reicht die erafte Wiffenfchaft; die Atomlehre bleibt
Hypotheſe und fann niemals felbft exakte Wiffenfchaft werden. Vom erfenntnif=
theoretifchen Standpunft aus gehört das Atom in die felbe Kategorie der
unwahrnehmbaren, unvorftellbaren und unerfennbaren Dinge, der auch Gott
angehört. Die biologifchen Hypothefen aber find Hypothefen zweiter Ordnung,
weil ihre Verwendbarkeit zur Erklärung der Erfcheinungen noch nicht durch
das Erperiment nachgewiefen if. Sie in ihrer jegigen Form anzunehmen,
verbietet die erafte Wiſſenſchaft, denn auf Grund von Thatſachen haben viele
religiöß gar nicht voreingenommene Forfcher gegen fie proteftirt, von Karl
Ernjt von Baer, dem Begründer der Embryologie, anzufangen bis auf die
Zoologen und Botaniker Eimer, Driefh und Reinke. Nur gegen die Geftalt
haben jie proteftirt, die Darwin, Hacdel und Weismann der -Entwidelung:
Lehre gegeben haben; dieſe jelbit ift fo alt wie die Philoſophie und als den
Regulator de3 Entwidelungprozefles haben ſchon Empedofles und Epikur
die Auslefe durch das Ueberleben des am Beiten Augepaßten erfannt. Noch
weiter von der exakten Wiflenfchaft entfernt und daher als Hypotheſe dritter
Ordnung zu bezeichnen ift die Anjicht, daß der Prozeß ohne eine leitende
Intelligenz verlaufe. Dieſe Anjicht hat Niemand entichtedener zurückgewieſen
al3 Hartmannn, der jcharfjinnigfte aller Denker, die nach Kant gelebt haben.
Wenn alfo die fatholifchen Gelehrten diefe Hypotheſen ablchnen, fo ift Das
fein Grund, fie von den Lehrjtühlen der Biologie auszuſchließen. Ob jie
fie aus religiöfen Gründen ablehnen? Danach zu fragen, hat man fein
Recht, weil die wiflenfchaftlihen Gegengründe zur Ablehnung hinreichen.
Wie der Kirchenglaube das Studium der Philologie beeinträchtigen fol, ift
nicht einzufehen. Das Selbe gilt von allen Staatswiſſenſchaften; wie follte
die Finanzwiſſenſchaft, die Statiftif, die Nationalöfononte mit einem Dogma
follidiren können? Wenn ein gläubiger Chriſt aus Religioſität fich weigert,
die Selbſtſucht als die einzige wirthichaftliche Tugend, das Hecht des Stärkeren
und die Berechtigung der Staatsallmacht anzuerkennen, jo ijt er theoretiſch
nicht zu widerlegen und dient praftijch dev Freiheit. Dan unjere Rechts—
178 Die Zuhmft.
pflege von ihrer Schönheit Etwas einbüßen könnte, wenn fi Katholiken in
ftärferenı Maße an der Rechtswiſſenſchaft beteiligten, glaubt doch wohl Niemand.
Mas die Philofophie betrifft, fo läßt man ja wohl jeden Kandidaten durch—
fallen, ber die vorhandenen Syfteme nicht richtig darzuftellen vermag; ein
eigene Syſtem zu erfinden, ift zum Glüd fein Ordinarius verpflichtet,
und daß der katholiſche Philofoph alle Syfteme widerlegt, kann darum nicht
ſchaden, weil ohnehin jeder Philofoph alle feine Vorgänger widerlegt. Die
Logik ift der einzige exakte Theil der Philofophie, — und die ift gerade bie
ftarfe Seite der jcholaftifchen und der jefuitifchen Philofophie. In der
Piyhologie freilicd, ift vom Erbfündendogma ein ungünftiger Einfluß zu
befürchten, aber Das gilt den Lutheranern gegenüber erft recht; fogar Sant
hat ein radifal Böſes angenommen.
Ernftlihe Schwierigkeiten ergeben fih nur auf zwei Gebieten. Eine
Brofeffur der neueren deutichen Literatur follte man einem Satholifen nicht
einräumen, denn der Gefahr darf man deutjche Fünglinge nicht ausfegen,
daß ihnen von unferen Großen Zerrbilder gezeigt werden, wie fie der Pater
Baumgarten 8. J. gemalt hat. Und die Univerfalgefchicdhte vorzutragen,
ift ein gläubiger Katholif nicht fähig; er fann aus dem Rahmen der Civitas
Dei und der Civitas diaboli, in den Auguftinus den Weltlauf eingefperrt
hat, nicht heraus. Dagegen find katholische Dozenten der Partikulargeſchichten
zur Ergänzung und Berichtigung einfeitig proteftantifcher Darjtellungen nicht
allein für die Fatholifchen Studenten, jondern auch für die proteltantischen
geradezu nothwendig. Es ift eben nicht wahr, dar die reine unbefangene
Wahrheitliebe (Vorausjegunglofigfeit iſt Unſinn) in der proteftantijchen Ge—
ſchichtwiſſenſchaft allgemein herrfche; e8 giebt, um nur Eins anzuführen und
von der gefährlichen Neformationgefchichte ganz zu ſchweigen, Eleindeutjche
Geſchichtbaumeiſter und Hofhiftoriographen. Daß Solden, zu denen übrigens
fomifcher Weife auch Spahn zu gehören jcheint, Katholische Hiftorifer groß—
deuticher Richtung an die Seite treten, muß im ntereffe der unparteiifchen
Wiſſenſchaft dringend gewünfcht werden. Hier wird der Konfeſſionalismus
und Antiborufiianismus Pflicht, denn die zwei einfeitigen Bilder, die von
den beiden Parteien gemalt werden, geben erſt zufammen das richtige Bild.
Und wenn die Negirung den Klüngel, der feine Katholiken hineinläßt, durch—
bricht, jo erfüllt fie nicht allein die Pflicht der Gerechtigkeit gegen ihre
fatholischen Unterthanen, fondern dient auch der Freiheit der Wiflenjchaft.
Wie in der Politik, fo wird aud in der Wiſſenſchaft die Freiheit niemals
verbürgt durch die Parteien, die den fchönen Namen des Himmelsbildes zu
ihrem PBarteinamen wählen, fondern nur dur eine Vielheit der Parteien,
die es jeder einzelnen unmöglich macht, die übrigen zu unterdrüden. Wenn
in Straßburg unter fiebenzig Profefforen nur vier Fatholifche find, ſo kann
Univerfität und Katholizismus 179
Das nicht von der katholifchen Inferiorität kommen; fo arg ift die wirklich
nicht. In Breslau find eine geraume Zeit hindurch Jahr für Jahr die
Preisaufgaben der evangelischen theologischen Fakultät von katholifchen Theologen
gelöft und die Bearbeiter des Preifes würdig gefunden worden. Sofern die
Inferiorität in dem geringeren Prozentfag der Studirenden befteht, rührt fie
daher, daß die Katholiken durchſchnittlich ärmer find als die Proteftanten
(während die Juden reicher und daher an den höheren Lehranitalten mit dem
höchſten Prozentſatz vertreten find); daneben aber ift gerade die geringe Ausficht,
die fie im Staatsdienft hatten — jetzt fcheint es ja damit befjer zu werden —,
daran ſchuld. Wenn wenige Juden Philologie ftudiren, fo beweiſt Das doch
nicht, daß die Juden Fein Talent für Sprachen hätten, fondern ift nur Folge
de3 Umftandes, dar fie feine Ausficht haben, an Gymnaſien angeftellt zu
werden. Damit will ich nicht leugnen, daß die zur Herrichaft gelangte
ultramontane Richtung und die wachjende geiftige Abjperrung den deutjchen
Katholiten eine Menge Bildungquellen verfchlofjen, ihren Geſichtskreis verengt
und dadurch wirllich eine gewiſſe Inferiorität verfchuldet haben.
Im „Vorwärt3* wurde vor ein paar Monaten gegen ben Inder ges
wüthet und dabei gefagt: „In einer Zeit, da man im Volke der Dichter
und Denker jich anfchiet, dem Centrum, der vegirenden Partei, zu Liebe die
Univerjitäten zu Elerifalifiren, ift e8 ganz nüglih, daran zu erinnern, wie
die fatholifche Kirche das Necht der Geiitesfreiheit handhabt.“ Die Klerilali—
firung der Univerfitäten ift ein Unſinn, über den man achjelzudend hinweg:
fieht. Was jedoch das Inſtitut des Inder anbetrifft, jo find ja die römiſchen
Monfignori zur Beurtheilung deutfcher Geiftesprodufte ungefähr fo befähigt
wie berliner Schugmänner zur Cenſur von Werfen der bildenden und der
redenden Sünfte; aber gegen das Inſtitut felbft ift nichts einzuwenden. Es
geht aus dem Triebe der Selbiterhaltung hervor, der jedem Gejellichaft:
organismus innewohnt. Evangelifche Pfarrer pflegen ihren Konfirmanden
nicht die Lecture von Möhlers Symbolik oder Döllinger8 Reformationgefchichte
zu empfehlen und die Sozialdemokraten legen in ihren Bereinshäufern wahr:
fcheinlich weder die Kölnische Volkszeitung noch den Neichsboten aus. Die
päpftliche Inderfongregation thut ganz das Selbe, was der preußiſche Staat
thut, wenn er den deutichen Boccaccio verbietet und alle Schriften, die geeignet
find, in der Maſſe Zweifel an der Vortrefflichkeit der preußischen Negirung
und der preufijchen Staat3einrihtungen zu erregen. Nur ein Unterfchied
beiteht: der preußifche Staat kann feine Verbote in einem gewiſſen Maße
durchführen; er vernichtet alle verbotenen Drudichriften, deren er habhaft
wird, und hält von feinen Kaſernen jogar viele nicht verbotene fern; die
Inderkongregation dagegen hat feine Exefutivgewalt. Eben deshalb kann jie
fi) das Vergnügen geftatten, Alles und Jedes auf den under zu fegen, weil
180 Die Zuhinft.
ſie weiß, daß ihr Verbot praftifch werthlos und ein rein akademifcher Akt
ift, dejlen beliebige Ausdehnung ihr nicht fchadet. Die Cenfur des Staates
dagegen ift wirkſam und daher muß fe fi innerhalb der Grenzen halten,
in denen fie durchgefegt werden kann. Die Regirung würde fehr gern die
Hälfte aller modernen Romane, alle jozialdemofratifchen und etliche Fatholijche
Zeitungen nebft vielen jozialiftifchen Büchern verbieten, einfchlieklich derer
von Fichte, für den der Herr Reichsfanzler ohne jegliche Gefahr öffentlich
Ihwärmen darf, weil er weiß, daß fein Menſch mehr den alten Johann
Gottlieb lieſt. Aber ſolche Herzenswünſche müffen unbefriedigt bleiben, weil
die Regirung zu einer jo durchgreifenden Reinigung der Vorrathslammern
de3 Nutrimentum spiritus die Macht nicht hat, jo dat fie jich durch einen
Inder vom Umfange des römifchen blamiren würde. Wenn man fagt, dem
Papft erjegten Kanzel und Beichtituhl die Erekutivgewalt, fo fennt man bie
wirklichen Zuftände nicht. Die Geiftlichen donnern wohl zumeilen gegen
die Schlechte Preffe und warnen davor; aber daß ein Beichtvater fragte, ob
der Pönitent Kant oder Hegel oder Rouſſeau gelefen habe, dürfte ſchwerlich
vorfommen. Mic hat nie ein Beichtvater danad gefragt und ich habe nie
an einen Pönitenten ſolche Fragen gerichtet. Gleich nachdem ich meine erite
Kaplanſtelle bezogen hatte, habe ich um Dispens vom Inderverbot gebeten,
fie umgehend in einem freundlichen Brivatichreiben des bifchöflichen Offizials
erhalten und von diefer Stunde an Alles gelefen, was ich zu lefen Luft hatte.
Das Fatholifche Volk würde vom Juder gar nichts willen ohne die proteſtan—
tiſche und altfatholifche Polemik dagegen. Für den Univerfitätlehrer verficht
jich) der Dispens von jelbit; das Inderverbot eriftirt gar nicht für ihn. Er
belommt den Inder nicht offiziell zugeſchickt und ift gar nicht verpflichtet, zu
willen, welche Bücher darin stehen. Erfährt er es zufällig, fo fann er ja
in einen Gewiſſenskonflikt gerathen, — wenn er nämlich die Anfichten eines ver-
pönten Autors theilt. Sichtbar werden wird der Konflikt nur in den aller-
jelteniten Fällen, denn dazu gehören zwei Bedingungen: der Manı muß die
verpönte Anficht öffentlich vertreten haben und er muß Priefter fein, was
außerhalb der theologischen Fakultät fait niemals der Fall ift. Ein Gewifjens:
konflift ift ja nun freilich ſchlimm genug, — für Den, der hineingeräth; aber
für die Freiheit der Wiſſenſchaft ind die Gewiſſenskonflikte weit verhängnif-
voller, in die eine der Staatsregirung mißfällige Ueberzeugung verwidelt.
Was der Leberzengungtreue in einem folchen Falle zu thun hat, ift klar
und Harden hat es am Schluß feines Artifel3 ausgefprocen; die Freiheit
it eben eine Göttin, die gleich den Göttern Epifurs in feinem Kosmos,
fondern nur in den Intermundien Raum findet; ins Praftifche überfegt:
wer frei fein will, muß auf jedes Amt, auf jedes fichere Brot verzichten.
Neiſſe. Karl Jentſch.
Milchkrieg. 181
Milchkrieg.
I" Jahrzehnt 1870 bis 1880 betrug der den märfifchen Milchproduzenten
vom berliner Mithhandel gezahlte Preis fünfzehn bis fechzehn Pfennige
für das Liter frei Berlin. Mit diefem Preis konnte der Produzent gut aus-
fommen, fo gut, daß noch fein ernftlicher Widerjtand erwuchs, al3 die ver:
bündeten Händler begannen, den Preis um einen Pfennig, dann um zwei
Pfennige herabzudrüden. Aber der Handel blieb dabei nicht ftehen, fondern
ermäßigte, je nad den Konjunfturen und YFutterernten mehr oder weniger
gierig, bei neuen Abjchlüffen den Preis immer wieder um einen Viertel-,
halben oder ganzen Pfennig, bis fo im Jahre 1899 der Tiefitand von elf
Pfennigen frei Berlin erreicht war. Daß inzwifchen die Koften der Milche
produftion durch Steigerung der Futtermittelpreife und der Löhne jich erheb-
lich erhöht Hatten, ift befannt. Zum Vergleich fei hier nur bemerft, daß die
Produzenten, um einen ähnlichen Bortheil zu haben, wie ihn der Preis von
fünfzehn Pfennigen vor zwanzig Jahren übrig lie, heute etwa fiebenzehn
Piennige dafür einnehmen müßten.
Der berliner Konfument hat aus der vom Händlertfum bewirkten
Preisfenfung einen Vortheil nicht gezogen. Zum Beweis dafür fann an die
Wiſſenſchaft der berliner Hausfrauen appellirt werden: fie haben in den legten
Jahren genau fo, je nad) der Stadtgegend, 18 bis 20 Pfennige für das Liter
Milch bezahlt wie vor zwanzig Jahren ſchon. Aber fie jind bei dieſem gleich
hohen Preije vielfach noch infofern übervoriheilt worden, als ein großer Theil
der Milhhändfer zulegt nicht mehr Vollmilch, fondern nur Halbnıild) lieferte,
Das heißt: Milch, die dur Zuſatz entiprechender Diengen entrahmter Milch
(Magermilch) jo weit „verlängert“ worden war, daß der Feltgehalt, der bei
unverfäljchter Milch zwifchen 2,7 und etwa 3,5 ſchwankt, bis auf 2 Pro—
zent herabgedrüdt war. So fonnte ein Händler, der Bollmild mit 3,5 Fett
für elf Pfennige vom Bauern faufte, durch Zufag eines Drittel Magermild,-
die fünf Pfennige koftet, jich eine Milch herſtellen, die noch reichlich 2 Prozent.
Bett hatte, aljo als Vollmilch für 18 bis 20 Pfennige untergefchoben werden.
fonnte, ihn aber im Folge jener Manipulation nur etwa neun Pfennige
foftete. Die Milcheentrale hat im vorigen Sommer in 1800 berliner Milch:
geihäften 3660 Milchproben angelauft, von denen ſich bei der Unterfuchung
duch die gerichtlichen Sachverſtändigen 2912 Proben als in der eben ge
ihilderten Weife verfäljcht erwieſen haben. Tie Händler haben, als die
Milchcentrale diefe Thatſache veröffentlichte, furchtbar gelärmt und gedroht,
den Leiter der Eentrale ob folder Verleumdung vor den Etaatsanwalt zu
bringen. Aber obwohl die Voſſiſche Zeitung inzwischen fehr oft an diefe
Strafanträge fogar unter der Androhung erinnert hat, fie werde, wenn fie
14
182 Die Zuhmft,
aun nicht bald geftellt würden, fchlierlich felbjt an die Wahrheit der Gejchichte
glauben, ift Herrn Ring: Düppel bisher leider die Gelegenheit noch nicht ge=
boten worden, dent Kadi fein Entlajtungmaterial unterbreiten zu dürfen.
Der im Jahr 1899 erreichte Preistiefitand veranlafte endlich die
märfifchen Milhbauern, unter der Führung des Herrn Wing (der in feiner
Wirthſchaft feine Milch produziert) zu der „Milchcentrafe“ zufammenzus
treten, einer Genoſſenſchaft mit befchränfter Haftpflicht, deren alleiniger Zwed
ift, den märkiſchen Milchproduzenten für unverfälichte VBollmilh von num
an einen Preis von 131/, Pfennigen frei Berlin zu ſichern. Diefer Preis
bringt feinen Gewinn, fondern dedt nur gerade die Selbitfoften. Ich fünnte
mich für diefe Behauptung auf detaillirte Nachmweife berufen, die der Pro:
feffior Howard aus den genau geführten Büchern von 63 Gütern hierüber
veröffentlicht hat, Aber ich muß gewärtigen, daß ein „agrariſcher“ Profeflor
bei einigen Leſern ſelbſt der „Zukunft“ als nicht ganz vollgiltiger Zeuge
angefehen werden möchte. Darum lieber drei aud für folhe Richter gewiß
einwandfreie Zeugen: Magiftrat und Stadtverordniete hieliger Föniglichen
Haupt: und Reiidenzitadt, den verftorbenen Bankdireftor von Siemens umd
die Nationalzeitung.
1. Magiftrat und Stadtverordnete von Berlin beichloffen vor fünf
Zahren: AngejichtS der ungeheuren, auf Hunderttaufende ſich belaufenden
Berlufte, die bei den in Berlin geltenden Milchpreifen in der Milchwirth-
ſchaft der ſtädtiſchen Riefelgüter trog rationellſtem Moltereibetrieb unver-
meidbar entjtehen, wird der Betrieb der Milhwirthichaft gänzlich eingeftellt.
In Parenthefe: die Milhhändler haben jih, um den „Mildring* zu
brechen, neufih an die Stadtverwaltung mit der Bitte gewandt, auf den
berliner Riefelgütern die Milchwirthichaft wieder einzuführen. Zur diefer
Petition jagt die Voſſiſche Zeitung: „In der Stadtverordnnetenverfammlung
wird diefe Eingabe die wärmfte Befürwortung finden. Es ift ja aud ein
Unding fchier fondergleihen, daß die Verwaltung der Stadt Berlin durch
den Verkauf des Riefelgrafes der Milcheentrale die Mittel zu dem Verſuch
bietet, da8 Volk Berlins in der Mildfrage auf die Knie zu bringen. Die
Milchwirthſchaft mag rechnerisch der Stadtverwaltung nicht zufagen, allein
fie hat zu bedenken, daß die Verfechtung prinzipieller Punkte feine kauf:
männiſchen Betrachtungen zuläßt.“ Iſt Das nicht allerliebſt? Die Ver:
waltung der vor den Thoren Berlins gelegenen ftädtifchen Güter kann bei
den beitehenden Milchpreifen ohne große Verluſte nicht produziren, obgleich
gerade diefe Güter wegen ihrer Rage dicht neben dem Hauptmarft und wegen
ihres Futterreichthumes für die Milhwirthichaft prädeftinirt find. Die Stadt
foll aber aus ihrem großen Steucrfad einen Verluſt von Hunderttaufenden
bezahlen, nur, um die Bauern zu zwingen, eine notoriſch- Verluſt bringente
Produktion zu Gunſten der berliner Händler aufrecht zu erhalten.
Milchkrieg. 1383
2. Herr Dr. Georg von Siemens veröffentlichte bei Beginn des
„Milchkrieges“ die Erklärung: die Buchführung ſeiner märkiſchen Wirth—
ſchaften beweiſe, daß man bei beſteingerichtetem Betriebe nicht im Stande
ſei, die Milch billiger als für 131/, Pfennige nad) Berlin zu liefern. Jeder
geringere Preis bringe Verluſt. Die von der Milcheentrale beanfpruchte
Theilung: zwei Drittel (131/, Pfennig) dem Bauern, ein Drittel (61/,
Pfennig) dem Händler jei eine „faire Iheilung“.
3. Eine inhaltlich gleiche Erklärung veröffentlichte zur felben Zeit der
befannte, gut liberale Baurath Böckmann in der Nationalzeitung. Er wies
aus den Büchern feiner eigenen Wirthichaften und aus denen befreundeter
Landwirthe nach, daß die Differenz zwifchen dem befiehenden berliner Milchpreis
von elf Piennigen und der nun von den Bauern erhobenen Forderung von
131/, Pfennig genau dem Berlujtbetrage entipreche, der auf den erwähnten
Gütern bei der Milchproduftion entitanden ift.
Sch glaube, dieſe Zeugniffe für das gute Recht der märfifchen Bauern
werden auch liberalen Leſern genügen. Vielleicht ftimmen fie fogar darin
mit mir überein, daß es kaum al3 „fair“ zu betrachten ift, wenn der Händler
ein volles Drittel für eire Mühewaltung einftreichen fol, die ſich darauf
bejchränkt, morgens die Milch am Bahnhof in Empfang zu nehmen und
fie innerhalb einiger Stunden an die Konſumenten zu vertheilen, während
der Produzent ein volles Jahr brauchte, um den mit der erſten Pflugfurche
und der Düngerfuhre fürs Zutterland beginnenden Produftionprozeh zu
Ende zu führen.
Die märfifchen Bauern hatten von Anfang an nicht und haben aud)
heute noch nicht die Ablicht, den berliner Milchhandel überhaupt auszuschalten.
Die anders lautende Darftellung der Händler iſt bewußte Ummwahrheit. Die
Händler hatten ihre Jahre lang fortgefegte Preisdrüderei ftetS mit der „Milch:
ſchwemme“ begründet. Im Frühjahr, wenn die Kalbezeit vorüber und das
erſte kräftige Grünfutter da iſt, fteigt die Milchproduktion — vorübergehend —
erheblich über den normalen Frifchmilhverbraudh Berlins. Die Kontrafte
lauteten dahin: daR die Händler auch diefe überjchüfjige Produktion abzu—
nehmen haben, die jie natürlich nur unter Berluft (durch VBerbuttern u. ſ. w.)
unterbringen fonnten. Hierauf fußend, drüdten fie den gefanımten Jahres—
durchſchnittspreis in der gejchilderten Weife herab. Bei Sachfennern beftand
fein Zweifel darüber, dag diefer Verluſt, für den ganzen Jahresdurchſchnitt
berechnet, nur Bruchtheile eines Pfennigs betragen könne, nicht aber fo viele
ganze Pfennige, wie die Händler mit Berufung darauf im Laufe der Jahre
vom reife abgebrödelt hatten. Der einzelne Produzent war aber gegen-
über dieſem Gebahren machtlos; er kann nicht die zeitweiligen Produftions
überjchüffe zurüdbehalten und zu Haufe verwerthen. Das erjte und zunädjt
14*
un
154 Die Zukunft.
einzige Ziel der im der Centrale geichaffenen Organiſation der Produ—
zenten war: ben berliner Händlern anzubieten, die Milchſchwemme dadurd
außer Wirkung zu fegen, daß die Centrale jich verpflichtet, fämmtliche im
Friſchmilchkonſum nicht verbrauchte Milch wieder von den Händlern zurück—
zunehmen und für gemeinschaftliche Rechnung der Bauern in einer berliner
Meierei zu verbuttern. So war den Händlern der einzige Grund genommen,
den jie bisher mit einigem Anfchein von Recht für ihre Preisdrüderei geltend
machen Fonnten; fo ergab fich aber auch, dar dieſes Motiv nur vorgeipiegelt
worden war: die Händler erklärten plößlich, die Miſchſchwemme fei der Uebel
größtes nicht und ſie wollen überhaupt nichts mit der Gentrale zu thun haben.
Ihre Zuverſicht war: einige Bauern giebts nirgends, am Wenigſten
auf märkiſchem Sande; wo ihrer zwei beifammen find, werden gewiß drei
Meinungen vertreten. Wielleiht wäre diefe Händlerfpefulation richtig ge-
wefen; aber die Leiter der Gentrale haben auch nicht Stroh im Kopf. Feder
Möglichkeit, Uneinigkeit und Fahnenfluht in der Gentrale anzuftiften, war
dadurd vorgebeugt, daß nicht ein Lofer Verein oder Verband, dem Jeder
nah Belieben wieder den Rüden kehren konnte, fondern eine Genoſſenſchaft
mit Haftpflicht gegründet worden war. Das hatten die Milhhändler über-
jehen; umfonft zogen fie nun als Nattenfänger mit fabelhaft hohen Preis-
angeboten durch die märkifchen Lande. Erſt weit über die märkifchen Grenzen
hinaus, in Oſt- und Weſtpreußen, Polen, Medienburg, Pommern, Hannover
fanden jie Zulauf. Und die felben berliner Milhhändler, die ich weigerten,
mehr al3 elf Pfennige für die märfifche Milch zu bezahlen, haben feit dem
eriten Dftober bis heute fortgelegt fechzehn, jiebenzchn, achtzehn Pfennige für
den Milchbezug aus anderen Provinzen gegeben. Das war bitter, um fo
bitterer, al3 e8 unnüg verlorenes Vermögen ift, denn da3 Biel, dei märki—
ſchen Bauern niederzuringen und dann die Berlufte wieder aus ihm heraus-
zuquetfchen, ijt nicht erreicht worden. Fett fteht der Sommer vor der Thür
und die fommenden Wärmegrade werden gerade die theuerite, am Weiteften
hergeholte Mil zur ſauerſten mahen. Dies Geihäft muß alfo bald auf:
hören; und damit wird der „Milchkrieg“ zu Ende fein. Ich meine: auch
für die öffentliche Disfuflion. Denn in Wirklichfeit haben drei Viertel der
Händler ihren Separatfrieden mit der Centrale längit geichloffen: ihr Corps—
geift langt nur dazu noch aus, die öffentlichen Kriegstänze mitzumachen.
Biele von ihnen hatten überhaupt nicht geftrifet, fondern ſchon feit Beginn
des Krieges, ſeit dem erjten Dftober, ihre Milhmunition vom Milchringe
bezogen; te haben cin ſchönes Stüd Geld dadurch geipart. Andere wurden
erjt ipäter Flug; al3 vorläufig Legter hat num aud) Herr Bolle den Friedens:
vertrag unterzeichnet, genau nad dem Schema der Eentrale; die Anderen
werden nadyjolgen — oder jterben.
— |
Milchkrieg. 185
Der normale Milchverbranc Berlins betrug beim Erlaß der „Sriegs-
erklärung“ durdjichnittlich täglich 550 000 Liter. Hiervon waren vier Fünftel
in der Hand der Centrale. Das Kriegsgeſchrei der Händler und ihr that:
fähliher Mangel an Munition bewirkte einen Rüdgang des Verbrauches
um etwa 100000 Liter. Die Centrale fette von ihren 400 bi3 450000
Kitern anfangs die Hälfte, fpäter zwei Drittel direft und durch ftille Ver—
mittlung der offiziell gegen fie jtreitenden Händler in den Trinkkonſum ab;
der Reſt wurde verbuttert. Heute iſt der direfte Verbrauch bereit8 auf drei
Viertel des Geſammtquantums geftiegen; das Sommermwetter wird durch
Abdrängung der weiten Zufuhr auch dem letzten Viertel den Abfag eröffnen.
Dann iſt das Ziel der Bauern erreicht: 131/, Pfennige dem Produzenten,
der Reft, wenns wirklich 61/, Vfennige fein müfjen, dem Händler. Damit
der Händlerantheil aber nicht zu Ungunften des Konſumenten nod höher
werde, wird die Gentrale auch nach offizieller Beendigung des „Krieges“
ihre berliner Einrichtungen nicht aufheben, fondern auch künftig hier Voll:
mild für achtzehn Pfennige im Laden und zwanzig Pfennige frei Haus an-
bieten. Sonjt würden die Händler für den dem Produzenten nothgedrungen
gewährten Preisauffchlag ſich fehr bald beim Publikum ſchadlos halten und
man würde dann in allen Zeitungen leſen können: O dieſe habgierigen Agrarier!
Ein Wort noch über die neue Polizei-Verordnung, die, ſo las mans
in der Boſſiſchen Zeitung, die Agrarier „über Berge von Kinderleichen“ zum
Siege führen folle.
Bisher durften nach der alten Polizeiverordnung über den berliner
Milhhandel verkauft werden: Vollmilch mit wenigftens 2,7 Fett, Halbmild
mit wenigſtens 1,5 Fett und Magermilch mit beliebig niedrigem Fettgehalt.
Die neue Verordnung befeitigt num den Handel mit Halbmilch und jchafft
neben der Vollmilch noch den Begriff „Marktmilch“, die einen Mindeitfett
gehalt von 2,7 haben muß. Ueber die Wohlthat der Befeitigung der Halb:
milch ijt fein Wort zu verlieren. Gerade diefe bisherige Zulaffung öffnete
dem Betrug im Milchhandel Thor und Thür. Die vorhin erwähnten
2912 Betrugsfälle jind ausnahmelos ſolche, in denen den Käufern, die aus-
drücklich Vollmilch verlangt und dafür 18 bis 20 Pfennige bezahlt hatten,
Halbmilch mit weniger al3 2,7 Prozent Fett verabfolgt worden war. Diefem
Unfug ift durch daS. jegt erfolgte generelle Verbot, ſolche Milch überhaupt
feil zu halten, der Boden entzogen; denn nun fann jtrafrechtlich eingefchritten
werden, wann und wo die fontrolirende Polizei folche Milch bei einem
Händler vorfindet. Ein Bedürfnin für die Feilhaltung folder Mifchungen
ift offenbar nicht vorhanden; jede Hausfrau fann, wenn fie Halbmild haben
will, diefe Mifchung Sich felbft herſtellen.
Anders ftehe ich zu der Einführung der Bezeichnung und des damit
186 Die Zutumft.
verfnüpften Begriffes Marktmilh. Vollmilch ift, vulgär, eine „Mil, wie
fie von der Kuh fommt“, alfo Milch, der nichts zugefegt und von der nichts
abgenommen iſt. Marftmilc dagegen im Sinn der neuen Polizeiverorb:
nung iſt eine Milch, der ein höherer Fettgehalt fortgenommen oder Mager—
milch zugelegt fein darf, wenn fie nur immer noch 2,7 Fett (den Mindeſt—
fettgehalt unverfälichter Kuhmilch) behalten hat. Hiernach darf alfo Jemand,
der Milch von dem hohen Fettgehalt von 3,5 produzirt oder als Händler
gelauft hat, entweder 0,8 Fett (zur Verbutterung) abrahmen oder zwanzig
Prozent Magermilch zugießen und die fo erhaltene Milch als „Marktmilch“
teil halten. Daraus jieht man, daß mit der Befeitigung der Halb:
milch doch das Prinzip nicht völlig befeitigt ift; man hat nur den Mindeſt—
gehalt von 1,5 auf 2,7 erhöht, ohne die Möglichkeit gänzlich zu bejeitigen,
dar immerhin Mifchmilch verkauft wird. Ich halte Tas grundfäglih für
unzuläfiig und füge, da ich „Agrarier* bin, für Skeptiker noch gleich Hinzu:
Diefe Vorſchrift fchädigt auch die Landwirthe. Die einzige Möglichkeit für
die Händler, aud im Sommer jich aus fernen Gegenden Milch zu beichaffen,
ift durch die Eismilc gegeben. Haltbare und im Geſchmack nicht leidende
Eismilch läßt ſich aber nur herjtellen, wenn der ſtark gefühlten Vollmilch
noch extra Milcheis (au gefrorener Magermilch beſtehend) zugeſebt wird.
Dieſer Milcheiszuſatz iſt aber nach der vorhin gegebenen Definition nicht bei
Vollmilch, ſondern nur bei Marktmilch geſtattet.
Die Händlerpreſſe hatte die unwahre Mittheilung verbreitet: die, Markt—
milch“ ſei auf Betreiben der Milchcentrale in die Berordnung aufgenommen
worden. Der Vorjtand der Centrale hat hierauf das Protofol der Sitzung
veröffentlicht, in der die Gentrale zu dem ihr vorgelegten Entwurf der Ber:
ordnung ſich gutachtlicy zu äußern hatte. Der einftimmig gefaßte Beihluf
lautet: „Die Erlaubnif zur Feilhaltung von ‚Marktmilch‘ iſt abzulehnen.
Die Staatöregirung ift zu bitten, daß der bisherige Begriff der Vollmilch
aufrecht erhalten bleibe, der Berfauf nur unverfälichter Kuhmilch geftattet,
der Halbmilchverfauf gänzlich unterfagt werde." Warum nun — abgefehen
von der Rüge, die Centrale habe die Einführung der Marktmilch verſchuldet —
überhaupt das Gefchrei der Händler gegen diefe neue Verordnung, die, wie
das Gefagte beweiit, unter Umftänden — wegen der Eismildlieferung —
den Landwirthen direft fchaden kann, in feinem Fall aber ihnen, die ja fon:
traftlich zur Lieferung von Vollmilch verpflichtet find, irgendwie nüglich ift?
Ich habe dafür nur die eine Erklärung: auf die Marktmilh jchlägt
man und den VBerluft der Halbmildy meint man. Es iſt wirklich ein Schau—
jpiel für Götter: der jelbe Handel, dem nachgewiefen ijt, daß er in drei
Vierteln aller Fälle Halbmild von weniger als 2,7 Prozent Fett für Vollmilch
ausgab, diefer felbe Handel entrüftet fih nun darüber, daß die Polizei die
Frübfing. 187
Mindeftgrenze für die neue Art Halbmilch wenigftens von 1,5 auf 2,7 hinauf
gerückt hat. est ruft man alle Mütter auf die Schanzen zur Bertheidigung
von Leib und Leben ihrer Kinder gegen diefe verruchte Marktmilch, die doc),
fo viel ich auch felbit an ihr auszufegen habe, immerhin genau doppelt fo
gut ift wie die von diefen Händlern jo lange vertriebene Halbmild.
Einem Unfug hat die Polizei zum Glück ſehr ſchnell das Ende be
reitet. Die Händler hatten ſich nicht genirt, die Lüge unter daS Publifum
zu werfen: die neue Polizeiverordnung verbiete überhaupt den Berfauf une
verfälichter Vollmilch und zwinge jeden Händler, die von ihm gepachtete bejfere
Milch beim Wiederverfauf bis auf den Fettgehalt von 2,7 zu verfchneiden.
Es fand fi fogar ein bei dem berliner Gerichten zugelaffener Anwalt, der
in öffentlicher Berfammlung erklärte: eine ſolche Verordnung fei einfach
ungefeglich; feinem Menichen dürfe verboten werden, gute, unverfäljchte
Waare feilzubieten, und man werde daher bei der eriten Kontravention das
gute Recht ehrlicher Milhhändler bis zur legten Gerichtsinftang verfolgen.
Der Tropf wurde am nächſten Tage fchon von feinem verdienten Scidjal
ereilt. In der jelben Zeitungnummer, die den Bericht über feine Rede brachte,
(a8 man die leider unangebracht höfliche Erklärung de3 Polizeipräſidiums,
die diefem Treiben entgegen trat.
Warum bie Polizei nicht ganze Arbeit gemacht, jondern neben der
Vollmilch nun noch diefe Marltmilch zugelaffen hat, dafür Habe id) feine
Erklärung. Jmmerhin ift e8 ein erheblicher Fortfchritt, daß wenigjtens die
bisherige thatjächliche „Marktmilch“, diefes Halbgemifch von 1,5 bis 2 Pro—
zent Fett, befeitigt ift. Ganz fo hoch wie bisher werden alfo fünftig die
Kinderleichenberge in Berlin fich nicht häufen. Edmund Hlapper.
*
Frühling.
8 eißt Du:
ich glaub', es geht mit Allem ſo!
Man wartet und man freut ſich wie ein Kind
den ganzen endlos langen Winter,
und wenn es friert oder regnet und ſchneit
und mitten am Tage trüb wird und Naächt..
man mummelt fih in den Mantel und ladıt:
je tiefer die Wege draußen verfchnein,
um fo früber muß es vorüber fein!
188
Die Zukunft.
Und wenn es dann ganz leife kommt,
"ganz leife mit wieder hellerem Schein ..
wie will man ſich darüber freun!
wie will man auf der Kauer ftehn,
um ja das erfte Keimchen zu fehn,
das irgendwo ſich regt, zu jprießen,
und jauchzend jedes Deilchen grüßen
und felber o! ganz Frühling fein!
Und dann...
dann kommt der große Regen,
der immer fommt, vor jeder Erfüllung...
der Regen, von dem man fagt: o ja!
doch jobald er vorüber, ift es da!
Und jo wirds März und wirds April...
wie fputet man fich, aufzuräumen
in jedem Winkel, um in Ordnung zu fein
und wenn es dann da ift, um Seit zu haben:
fih zu freun!
Und eines Morgens wachſt Du auf
und ſtehſt und ftaunit
und trauft den eigenen Augen faum:
als ob ein Wunder wär gefchehn,
ift Alles o fo grün, fo grün
und ringsumbher
ein Sprojjen und ein Blühn und Glühn,
als ob es fchon feit Wochen,
feit Wochen Frühling wär!
Und jenes erfte heimliche Werden,
das Du fo köſtlich Dir geträumt...
Du bajts nun dodh..
verſäumt!
Ich glaube freilich, Das iſt immer fo...
bei jeder Erfüllung, auf die man fich freut!
Caeſar Flaiſchlen.
+
Achtung vor England. 1849
Achtung vor England.
V⸗e Deutſche iſt ein lenzesfroher Geſell und es zieht ihm mach" dem
fonnigen Süden. In das gefchäftige Niflheim jenfeitS des Kanals,
wo angeblich überall der naffe Ruß an den Wänden niederfidert, wandert
der Commis und der Kellner, der Gebildete aber fpart feine Groſchen für
die große Reife feines Lebens nah Ftalien auf. Aucd Sole, die e8 „dazu
haben“, englifche Hoteliers zu bezahlen, gehen nicht über® Waller. Die
wiener und berliner Bantiersfrauen jpülen ihre Winterfünden in Blanfenberghe
ab; in Brighton hört man kaum ein deutſches Wort. So kommt es, daß
der Deutjche nur feinem Leibblatt die Kenntniß englifchen Weſens entnimmt.
So fommt es, dar der Engländer fih in unferer öffentlichen Meinung wie
in einem Zerrſpiegel erblidt. Entweder trifft er auf einen lärmenden
Chamberlain-Spudnapf: Beiiger, der von der politiichen Perſönlichkeit des
Kolonialjefretärs vor 1899 nicht die leifejte Ahnung hat, oder aber auf einen
mweltfremden alten Doktrinarius, der den liberalen engliichen cant in kritik:
lofer Begeifterung für höchſte Offenbarung nimmt. Der Eine fchimpft, der
Andere ſchwärmt. Irgendwo aber bei jtillen Leuten, die England fennen
und feine Gefchichte, hauft die Wahrheit. Nur rührt fie ſich nicht. Sie
fönnte Sich erfälten.
Die Engländer waren Menfchenalter lang durch den Anblid verwöhnt,
den unfere Preſſe in der Poſe des ſchmachtenden Jünglings bot. est
aber will auf einmal faum ein Echriftiteller mehr die Brüden fehen, die
hinüber und herüber führen. Und es find deren doch fo viele; Gutes und
Sclimmes geht über den Kanal ein und aus; der Zufammenhänge giebt
es unzählige.
Daß auf deutjchen Bühnen Ehafejpeare häufiger zu Wort fommıt als
Schiller und Goethe zufammen, belegt mit untrüglichen Zahlen die Repertoire—
ftatiftif; fein Fremder hat deutjches Weſen jemals fo in feinen Tiefen erfaßt
wie Garfyle, der Herold de3 urdeutfchen Gedanfens der Organifation; unfer
modernes Kunſthandwerk hat feine erjte Anregung von England empfangen,
wo eine reiche Nitterichaft den Stil vornehmer Lebensführung prägt; umge:
fehrt hat Jan Hagels Matrofengejchmad bei ung die Olympia: Scentel: Paraden
im Tricot aus den music halls von drüben bezogen; der größte Abnehmer
und beite Zahler für unfere Exrportinduftrie iſt Großbritanien mit feinen
Kolonien; an Drummonds Traftaten verwällern unfere Stillen im Lande ihr
handfeites Lutherthum und immer noch iſt auf dem Erdenrund England die
Vormacht des Protejtantismus, im Gegenfaß zu den Patres aus den Yande
der reges christianissimi.
E3 giebt alfo doc noch einen gemeinfamen Pulsſchlag. Nur ſuche
190 - Die Zuhmit.
man ihn nicht in der Politik. Das ift der Fehler Derer, die uns von drüben
wieder die Hand reihen möchten.
Einft wurden bei uns die liberalen Reize Britanias gepriefen. Mit
ängstlich erfrorenem Lächeln erinnert fie darum heute wieder den ungetreuen
Liebhaber an ihre „Freiheitlichen Inftitutionen“, nach denen die unferen ge:
ichaffen feien. Aber zu ihrer Beſtürzung muß fie hören, daß wir dieſem
Märchen längft nicht mehr glauben. Die Freiheit ift nicht durch englijches
Beifpiel, fondern durch die franzölische Revolution dem Kontinent begehrens-
werth geworden; fie ift uns auch nicht gejchenkt, jondern von uns erfämpft;
das allgemeine Wahlreht in Deutichland iſt eine Folgerung aus der allge
meinen Wehrpfliht. Das haben die Engländer in unferen „führenden“
liberalen Blättern freilich nicht gelefen. Laut Moffe und Leſſings unfäglichen
Erben jeufzen wir unter dem Militarismus, fehnen wir. und nad lauter
Kommerzienräthen auf der Minifterbank, werden von ein paar Agrariern
bi8 aufs Blut gepeinigt und entrüften ung bei jedem Pitolenfuall und noch
einmal ertra vor dem Quartalwechſel über den Duellzwang, den allein das
glüdlihe England in feiner ungemeinen Sittfanfeit nicht fenne. _ Und fo
glaubt der Better ſchließlich, Deutichlands Herzenswunſch müffe fein, eine
englifche Provinz zu werden. Um fo unbegreiflicher ift ihm feit zwei Jahren
die plößliche Anglophobie; dahinter, denkt er, kann nur der Doltor Leyds
mit feinen Beitehungsgeldern fteden.
Aus der Heinftaatlichen Geneſis unferes Liberalismus ift e3 erflärlich,
daß der Spiebürger früher über die „Soldatesfa* zu fuurren für freiheitlich
hielt. In dem jegigen gejchäftsfrohen Zeitalter machen aber überaus frei-
finnige Leute den Imperialismus mit allem Drum und Dran freudig mit.
Wenn die Weltgefhichte zum Kampf um die Futterpläge wird, dann brauchen
die Völfer Hauer und Klauen. Ohne Kanonen feine „Konzeflionen*. Wenn
der große Magen des Weltmarktes ſich zu fträuben beginnt, dann foll die
Armee mit ihren ſtarken Fäuften das Nudeln übernehmen. England ging
nach Transvaal nicht, um, wie der Stammtifchphilijter jteif und feft glaubt,
dem Ohm Paul feine Goldminen zu nehmen — denn die find Privat-
eigenthum der Shareholder der ganzen Welt —, fondern, weil Südafrika,
diefer riefigite Imduftriemagen der Zukunft, den drohenden Unterkonium
englifher Waaren ausgleichen fol. Genau die jelben Gedanfengänge birgt
das Hirn unferer von Tag zu Tag loyaleren Händler. Das Gros diejes
Liberalismus hat mit dem Militarismus längst feinen Frieden gemacht.
Das Geſchäft geht fo befler. Der Umſchwung liegt ſchon Fahre lang zurüd:
an der Wende ließ Rickert fih von Caprivi auf die Schulter Hopfen. Mit
dem Eingjang gegen den Militarismus erwerben ji die Engländer alfo
feine Freunde mehr bei uns. Bei den Preußen von altem Schrot und Korn
Achtung vor England. 191
natürlich erſt redjt nicht. Denen ift das Heer nit eine Schußtruppe der
Erporteure, jondern die geordnete phyfiihe Kraft der Nation, auf der im
letzten Grunde alles Dafeinsrecht des Volfes beruht.
Auch die Duellreinlichkeit Albions zieht nicht. Die deutfchen Duell-
gegner willen wohl, dat in England auf ritterlichen Zweifampf die felbe
Strafe fteht wie auf gewöhnlichen Totſchlag. Aber ganz gewiß ift nicht
eine abjonderlich zarte Moral in Bezug auf das fünfte Gebot daran Schuld.
Bornehme Hubs drüben erfreuen fich noch immer an dem bezahlten Gladiatoren=
jpiel des profefjionellen Boxens; und ein Totjchlag dabei wird nur mit milder
Haft beitraft, wie auch bei uns der „kommentwäßige“ Waffengang. ch
zweifle, ob dabei für die Engländer ein erhebliches moraliſches Plus bleibt.
Schon unfer Begriff vom Staat umterfcheidet ſich grundjäglicd von
dem engliichen. Die englische Berfaffung, die der jeweilig herrichenden Partei
die Rojinen aus dem Suchen zumeilt und dem König nur die Nolle des
deforativen Thürftehers beim Schmaus, befäme uns übel. Der Staat iſt
uns mehr als eine bloße Erwerbsgenoflenfchaft der Privilegirten; er ift ung
eine ſittliche Inſtanz, nach Fichte der Erzieher der Menichheit. Dar feine
Lenker „Lönigliche* Beamte find und „interefielo8*, ohne Anfehen der Partei,
wirfen follen, ift unjer Stolz. Der Brite dagegen hat in jeiner Beamten
hierarchie offiziell einen patronage secretary, der die Memterchen an die
Freunde der Partei vertheilt, und findet an geſchickten gefchäftlichen Speku—
lationen feiner Minifter fein Arg; ja, Addiſon beiingt ſogar begeiltert das
ethifche Prinzip der Vetternwirthichaft, während wir an dem Echwiegervater
des Herrn von Boetticher nie fonderliches Wohlgefallen empfanden. Jeder
bejigende Unterthan fol drüben Theilhaber der Firma Staat werden und
die Einrichtung der Pfundaktien ermöglicht dem kleinſten Sparer das Mit:
ihwimmen im großen Strom des Geſchäftes. Wie im Defterreich jeder
Hausfnecht Lotto fpielt, hat in England jeder Hausfncht Shares. Wer auf
Ehamberlain baut, hat Meinung für Dynamitakıien, und wenn ihretwegen
den regirenden Bäuerlein in Pretoria der Spieß auf die Bruft gejegt mird,
fo freuen jih baß Hunderttauſende. Daher ijt es ja auch ein thörid) er
Schnickſchnack, wenn bei uns behauptet wird, nur Chamberlain, Rhodes,
Milner und Genofjen trügen die Verantwortung für den Krieg; die Verant—
wortung trägt daS ganze Voll. Das haben die legten Wahlen mit ihrer
riefigen imperialiftiichen Mehrheit gezeigt. Das zeigt Chamberlains Bolts-
thümlichfeit, zeigt der Sturm gegen Pro:Buren: Berfammlungen, zeigt die bes
herrſchende Stellung der Jingo-Preſſe. Unter den Blättern mit befannten
Namen rudern nur noch „Morning Leader”, „Daily News’, „Mancheſter
Guardian“ dem Strome der öffentlichen Meinung entgegen. Wer fchliehlich
noch an die Stellungnahme der Geiſtlichen der High Church denkt, fann jich
nicht mehr verhehlen: der Krieg it Herzensfache der ganzen Nation.
192 . Die Zukunft.
Wir Deutjchen verftchen feinen Spa, wenn uns gegenüber an Dinge
getaftet wird, die wir wirflih „mit ganzem Gemüth“ betreiben. Und um—
gekehrt find wir Fremden gegenüber darin ſtets erſt recht taftvoll gewejen.
Warum nun der Ingrimm über den Burenfrieg? Um diefe Kernfrage fommen
wir nicht herum. Ihre Beantwortung foll den Engländern zeigen, welches
der einzige Weg ift, auf dem fie die Hochſchätzung ihrer Vettern wieder er:
werben können.
Der tiefite Grund der allgemeinen Britenverdammung in Deutſchlaud
liegt nicht etwa in der Graujamfeit der Sriegführung. Der Deutiche it als
Soldat — und welcher Deutiche wäre Dad nicht? — praftifcher Erfolgs
anbeter, jo jeher er ſonſt auch zum Doftrinarismus neigt. Er jagt fi
mit Recht, daß es im Krieg nicht jo ſehr darauf ankommt, ob man mild
oder hart handelt, fondern darauf, ob man zweckmäßig oder unzwedmäkig
verfährt. Durch Härte einen Krieg beenden, ift milder, als durch Milde ihn
hinziehen. - Hätte jchneller Erfolg die Art britiſchen Kriegsbetriebes gerecht:
fertigt, fo wären bis auf feine Fdeologenfreie die Ankläger verftummt. Als
nad) der Einnahme von Bloemfontein die Freiltaater, auf Roberts’ Brofla-
mationen hin, in Maffen die Waffen niederlegten, da wid, das Intereſſe an
den Buren überrafchend fchnell Fühler Nüchternheit. Den Zeitungen, die von
vorn herein, ohne in Anglophobie zu machen, doch auf Grund ihrer Kenntniß
englifchen Heerweſens prophezeit hatten, die Buren würden nicht überwältigt
werden, wurde es im Sommer 1900 unendlich ſchwer, ihre Leſer bei der
Stange zu halten; ich fpreche da aus eigener Erfahrung. Exit die erneuten
Bureniiege im Dezember 1900 ließen die Begeifterung für die Buren und
den Zorn gegen die britifche „Sraufamfeit* wieder aufflammen. Nur in
rein militärischen Sreifen, auch wo von einem Einfluß englifher Gattinnen
nicht die Nede fein fan, gab man vielfach nach wie vor auf die englifchen
atrocities fehr wenig; um jo jchirfer aber wurde die Kritik der englifchen
Erfolglojigfeit. Dieſe Mißachtung der englifchen Armee wird durch die Er—
zählungen der aus China heimgefehrten deutichen Soldaten nur noch ver:
ftärft. Beim Zuge des Bataillons Förfter gegen Tfefingkuan ift nicht ums
fonft das ſchnell geprägte Berschen zum geflügelten Worte geworden: „Meldung
von den Shiks: Bom Feinde willen wir nir!“
Wenn es aber auch die Graufamkeit nicht ift: wo liegen dann die
Wurzeln der Anglophobie? Wie kann man fie wieder bejeitigen ?
Nicht einmal die Erklärung it ftihhaltig, daft es die Sympathie für
den Kleinen fei, dem von der Uebermacht Gewalt angethan werde. Der Deutfche
würde jich feinen Wugenblid beinnen, wenn es das Lebensintereſſe des
Neiches erheijchte, eine winzige Nation zu züchtigen. Die Zauberformel, die
Altes erhellt, Liegt vielmehr in dem einen Worte: der Söldner. Ueberall
— ——
Achtung vor England. 193
regt fich wilder Grimm gegen die „bezahlten Kerle“ der englischen Armee.
Das ift e8, mas feine apologetiihe Brodure von Conan Doyle dem
Deutſchen verreden fann.
Wenn einit die Bauern unferer Altmark bei der Schwedenwadht auf
den Elbdeichen ihre Fahne mit der unbeholfen rührenden Inſchrift entrollten:
„Bir find Bauren von geringem Gut und dienen unjerem gnädigiten Kur—
fürjten und Herrn mit Gut und Blut!“, jo ſprach ji darin fchon die ur-
deutfche Auffaffung aus, dar man für feine Herzensjache nicht nur mit feinem
Gelde, fondern auch mit feiner Perfon einzutreten habe. Das hat jich bei
uns feit 1814 erft recht eingegraben. Und Das ift e8 aud, was uns fo
befonnen madt. Ein Bolf der allgemeinen Wehrpflicht ftürzt ſich in un:
bändiger elementarer Kraft auf den Feind. Uber ehe es ſich dazu entichlicht,
muß e3 in feinen tieljten Tiefen empört fein. Sabinetöfriege find da nicht
möglih. Kapitaliftiiche Cliquenkriege eben jo wenig. Wir waren einft das
fampffuftigite Volt der Erde, find im Kriegshandwerk die Lehrer aller Nationen
geweſen und find es noch ji; deutiche Schwerter klirren durch alle Jahr—
hunderte und durch alle Länder, unter den Mauern von Athen und auf den
Hügeln Roms, in der Gluthjonne Spaniens und im Nebel der Erinsinfel,
ja, fie fchlagen die Schlachten der Engländer jenſeits des großen Waſſers.
Aber heute, nach fnapp Hundert Fahren der allgemeinen Wehrpflicht, find
wir das eigentliche Friedensvolf Europas, das während der einunddreifig
Fahre feiner geballten Kraft noch niemals freventlich gegen fremde Ehre aus:
gefallen ift. Erſt in dem jiebenziger Jahren folgten Frankreich und Rußland
unferem Beijpiel, nad) ihnen andere Völfer; erſt im vorigen Jahr hat
Holland den Heeresdienſt obligatoriich gemacht und bald wird der ganze
Kontinent unfer Syſtem durchgeführt haben. Das ijt eine weit größere
Friedensgarantie als eine noch jo weltbürgerliche Verfaflung. Einft glaubte
man, die Republik fei der Friede. Heute trauen nur noch die freiiinnig Vers
michelten dem Nattenfängerlicd von dem Fortichritt der Menichheit zum
Taujendjährigen Friedensreih aus eigener Vervollkommnung. Kriege wird
es immer geben. Aber wie auf dem wirthichaftlichen Kriegsſchauplatz meijt
die unorganiliıten Arbeiter und nicht die Gewerkichaften die wildeiten Strikes
beginnen, jo jind auch im Völferleben die Milizheere und Eöldnerarmeen
ber Republifen und Parlamentsftaaten eine weit größere Gefahr als das
Bolksheer einer Monarchie. Eine Regirung, die nicht mit Miethlingen arbeitet,
fondern das ganze Volk zur Schlachtbank führen muß, eine Regirung, die
weiß, dag im Moment der Mobilmachung eine Schwere warth haftliche Krife
hereinbricht, weil Ader und Werkſtatt und Kontor veröden, eine ſolche Re—
girung Ihredt vor der Verantwortung zurüd, die eine Kriegserklärung ihr
aufbürdet; e8 müßte denn fein, daß es ſich wirklich um die heiligiten Güter
=
TR -
®
194 Die Zukunft.
der Nation oder um die Grundlagen ihres. materiellen Dafeins handelt. Wenn
in Grofbritanien jeder Mann im Alter von zwanzig bis zu vierzig Jahren
unter die Fahnen müßte, ob er auch Vetter eines Miniſters, Befiger eines
Majorates, Großaktionär, Gelehrter, Schiffsrheder, Künstler, Landrichter oder
Zeitungfchreiber fei, wenn fo die ganze Nation ihre Haut zu Markte trüge,
ftatt nur einen Haufen von Prügeljungen (abgejehen von den Volunteers)
auszufenden, dann müßten wir, auch wenn wir hundertmal den Krieg für
ungerecht hielten, vor diefer überzeugenden Wucht nationaler VBollfraft ritter-
(ih den Hut lüften.
Haß oder Liebe kann dem Briten gleichgiltig fein. „Dor lach if öwer!“
Über die Achtung unter den Völkern darf eine Nation nicht verlieren, muß
fie wiedergewinnen, wenn jie ſie verloren hat. Wollte Gott, daß die angel:
ſächſiſchen Vettern ich auf ihr deutjches Blut befännen, in germanifcher
Wehrhaftigkeit ihr Heil fähen, dem Schwerte ſich wieder vermählten, der
Knechtſchaft des Coupons entrännen! Dann erſt fönnte man als treu Ges
fippter wieder fein befünmert gejenftes Haupt erheben. Dann würde England
nicht nur als Kriegsmacht, jondern auch fittlich weit höher gewerthet werden
und al3 Freund jo willfommen wie als Feind gefürchtet erfcheinen. Wenn
es aber aus feinem fchleichenden Afrifafieber nicht diefe Lehre entnimmt,
dann redet Chamberlain feine pangermanifchen Gedanken in den Wind. Der
Mann ijt wirklich Deutjchenfreund; er jchägt die deutſche Zuverläſſigkeit fo
hoch, daß er ſich fogar in feinem eigenen Haushalt mit deutfcher Dienerfchaft
umgiebt. Aber ihm fehlt jeder Begriff für den tiefem jittlichen Unterſchied
zwifchen Wehrmann und Söldner.
Schon werden Stimmen laut, die die Briten ik ein niedergehendes
Volk erklären, obgleich es noch gar nicht fo lange her ift, daß Graf Gobineau
fie die Blüthe ariſchen Menſchenthumes nannte; fchon fagt man, es fehle nur
noch der Zufammenftoß mit einem Rom, um diefes Karthago der Händler
vollends zu entwurzeln. Wohlan: wir erwarten den Gegenbeweis. Das
Paradigma in der Weltgeihichte dafür it vorhanden. In der Nacht zum
fünfzehnten Dftober 1806, in der Nacht nach Jena, wurde dem erft ſieben—
undzwanzigjährigen Friedrich Ludwig Jahn das Haar eisgrau; die felbe feelifche
Erjchütterung rüttelte das ganze Volf wach und die Antwort war die allgemeine
Wehrpfliht. Fit der Weg von Colenfo bis Tweeboſch nicht die eine Nacht
werth? Bielleiht hat England jest die legte Gelegenheit, diefen Weg der
nationalen Renaiffance zu bejchreiten, den die Kontinentalmächte längit vor
ihm eingefchlagen haben. Ehe es zu ſpät ift. Ehe die zwölfte Stunde
ſchlägt, wo die „hölzernen Mauern“ Englands verfagen, weil das Waſſer
aud für die Feitlandsvölfer jegt Balken hat.
Frankfurt a. M. Adolf Stein.
>
— — —
Darm⸗Athen. 195
Darm-⸗Athen.
— „Dokument deutſcher Kunſt“ wie die darmſtädter Künſtler ihre Aus—
ſtellung genannt haben, erweiſt ſich beim Schluß der Vorſtellung, die
einige Monate die Augen der Kulturbedüftigen auf ſich zog, als eine un—
bezahlte Rechnung, deren Koſten, wie es ſcheint, die Künſtler zu tragen haben.
Das iſt der bittere Humor von der an Ueberraſchungen reichen Geſchichte;
der Humor aller verſtedten, aber deshalb nur um ſo tieferen Konſequenzen.
Denn wie Alles außer der erſten Veranlaſſung in Darmſtadt modern war,
ſo iſt auch dieſer Schluß von zeitgemäßem Gepräge; es war ein ſchöner,
altmodiſcher Traum, der die Sache ind Scheinleben rief, und es iſt ein nadter,
vernünftiger Realismus, der fie zu Ende führt.
Wer hätte gezögert, dem Ruf des Fürften zu folgen, der im groß—
müthiger Gebelaune beſchloß, feine Reiidenz zu einem Darm: Athen zu
machen? Ich möchte willen, wer eigentlich die erfte dee fuggerirte. Sicher
fam fie nicht vom Fürften felbit; er ijt dafür zu großmüthig. ch vermuthe,
es war ein Konſortium von Leuten älterer Kunftrichtung, die ganz richtig
fpefulirten, da auf diefem ungewöhnlichen Weg eine Anzahl bedenklich moderner
Künftler mit Sicherheit Falt zur ſtellen ſei. Merfwürdig, daß man nicht
radifuler vorging und nicht noch viel mehr moderne Künſtler beftimmte,
ihre Penaten nah Darmitadt zu tragen; man fonnte fo ganz Deutichland
entmoderniliren. Die legten offiziellen Dekrete in Kunftfachen laffen meitere,
tiefere Zufammenhänge ahnen. Warum ſollte der Bundesrath in diefem
einen PBunft uneinig fein? Jedenfalls: es it erreicht.
Ich ſehe Peter Behrens heute noch vor mir, wie er in dem Fleinen
Schweizer Hotelfaal, wo wir uns trafen, dröhnenden Schritte® auf und ab
wandelte und von neuem Mäcenatenthum ſprach. Fürftenfultur, das Heil
im Scönheitfiegerfranz . . . Du ahnt es nicht... . Und ich fam mir, wie
gewöhnlich, niedrig und gemein vor.
Ich hatte aber doch eine Ahnung; freilich ging fie nicht fo weit wie
heute die Wirklichkeit. ch zweifelte an den fachlichen Faktoren, an der prak—
tischen Möglichkeit, aus einem Städtchen ohme Induſtrie und Handel mit
geringen Mitteln eine Stätte gewerblicher Bedeutung zu machen. Denn heut:
zutage muß jo Etwas jehr fchnell gehen oder es geht gar nicht. Von all
den glüdlihen Mmftänden, die früher, als man zu folchen Entwidelungen
noch Zeit hatte, mitwirkten, fchien diesmal einer außer Frage: der gute
Wille des Füriten; man hatte feit hundert Jahren wieder einmal einen
Mäcen. Das war viel. Ich geftehe, dan ich gern dabei gewejen wäre. So
peſſimiſtiſch verfuöchert ift Keiner, der ein Bischen KHünitlerblut in den Adern
hat, dag er nicht an gewiſſe Hoffnungen glaubte, die durch jo perjönliche
196 Die Zututft.
Momente gefeftigt find; fie gehören zu den Epefulationen der Seele, bei
denen man verfucht it, jedes andere Erfahrungmah außer Beachtung zu lafien;
man weiß nicht, warum; wohl, weil die Gründe, die ſolche Hoffnungen zu
UÜtopien machen, ferner liegen und nicht mit jener Schärfe entjcheiden, die
anderen Gejegen der Logik eigenthümlich find. Santos: Dumont ift Fein ſtarler,
wiffenichaftlicher Geift, fondern Etwas wie ein Mar Nordau der Techuil,
jonft würde er nicht mit feinen Mitteln, die prinzipiell verkehrt find, die
Löjung des Problems der Ballonlenkbarfeit verfuhen. Seine Erfolge ver:
hüllen nicht die Thatfache, dan er auf falfchem Wege ift. Das find Trug:
ſchluſſe von materieller Art; vor ihnen fann man ſich ſchützen. Das äjthe-
tiiche Gebiet enthält viel gleinendere Verſuchungen und die logifche Vorher:
beſtimmung ift ſchwer, weil hier inmmer taufend Jmponderabilien mitjpielen.
Mit abfolutefter Eicherheit war voraus zu berechnen, dan die Ahnenallee im
Thiergarten ſehr häflich fein würde; e3 war mathematifch nicht anders
möglich, aucd wenn andere Kräfte, auch wenn die allerbeiten mitgethan hätten,
weil unfere Kunſt für folche Wirkungen nicht geihaffen if, — wenn über:
haupt je eine fünftlerifche Realiſirung folcher Pläne gedacht werden fann.
Hier war es ein ähnlicher, faſt mathematifcher Irrthum mie bei Santos:
Dumont; und die Eıfolge, die der Patriotismus dabei errungen hat, dürfen
nicht über die äfthetifche Thatſache wegtäuſchen.
In Darm=Athen lag die Sache komplizierter. Warum follte heute
fein Mäcen im Sinn des guten Behrens möglicd fein? Gerade weil man
fo viel Häßliches durch fürftlichen Eigenwillen entftchen ficht, liegt der Schluß
nah, auch Werthvolles könne einmal aus folhem Wollen hervorgehen. Aber
es iſt Schließlich immer nur wieder der felbe Mangel an logijcher Schärte,
der jo denkt; ganz wie bei Santos: Dumont.
Nein: es kann heute feine guten Mäcene mehr geben, wie e8 feine guten
Feen mehr giebt. Umd es ift gut fo. Die felbe Entwidelung, die uns der
fünftleriichen Wohlthaten eines Medicäerthumes beraubt hat, hat uns von
fehr viel unangenehmeren Dingen der felben Quelle befreit, deren peinliche
Wichtigkeit heute ganz anders empfunden würde als damals, wo ſich ihre
Alluren des künftlerifchen Faltenwurfs bedienten. Und das Merfwürdige an
diefen vergangenen Mäcenen war nicht die Seltenheit ihres künftlerifchen Ge:
ſchmacks; jie ftanden im äjthetifcher Hinſicht ſchwerlich höher über dem Durch—
ſchnitt als heute unfere heutigen. Sie konnten, wie jener fchnurrige Ungar
beim Flohfang, nicht daneben greifen, fie fanden immer, weil jie nicht zu
ſuchen brauchten. Es hilft num einmal nichts: die beſſere fünftlerifche Leiſtung
ift heute nicht nur ihrem Grade, fondern ihrer ganzen Art nah Ausnahme
und entjpringt periönlichen Jmpulfen, die durchaus nicht in der Maffe wurzeln,
ja, von den Inſtinkten der Maſſe als entgegengejegt und — faſt muß man
Darnı » Atben. 197
jagen: oft mit Recht — als feindlidy empfunden werden. Die Völfer haben
heute, gerade heute, ganz Anteres zu thun, als ſich mit der Kunst, ſei jie
num angewandt oder abjtraft, bewußt auseinanderzufegen. Bei der abſtrakten
Kunst fpringt es in die Augen; ein Volk, das von Berftändnik für unfere
vornehmjten Kunjtblüthen, jagen wir: für Whijtler, Degas, Liebermann, ganz
durchdrungen wäre, müßte dem Verfall nah fein. Diefe Situation mag
wohl einmal hier oder da die nadte Annäherung zwiſchen Fürft und Stünitler
gejtatten, niemals aber die friedliche Auseinanderfegung der Beide begleitenden
Nebenfaftoren, ohne die jich in Kulturländern nicht mehr die Perjönlichkeit,
und jei jie auch noch jo allein, denken läßt. Ein hochentwideltes Mäcenaten-
thum, wie e3 ſich die Darmjtädter dachten, wäre heute nur bei einem ganz
unentwidelten Volle, etwa in Rußland oder Afghaniftan, möglich.
Denfen kann man ſich zur Noth, dag ein Monarch heute feinen Willen
durchſetzt und Skulpturen oder Bilder von der Maſſe unverftandener werth-
voller Künftler erwirbt; er ftellt oder hängt jie in feine Privatgemächer.
Man kann fi allerlei pathologiihe Phänomene und fo auch einen jungen
Kaijer vorftellen, der vor zwanzig Jahren Bödlin oder Liebermann gefauft
hätte. Schon dazu gehört viel Phantajie; aber es ift ganz beträchtlich Leichter
denkbar als das Vorgreifen eines Monarchen auf gewerblichen Gebiet in jo
weithin fichtbarer Weife, wie e8 in Darmftadt provozirt wurde. Auch wenn
es jih bei dem VBorgreifen nur um eine geringe Spanne Zeit handelt, aud)
wenn heute jchon Sicher ift — was ih im Hinblid auf Chriftianfen jchon
im Voraus herzlich und nachdrüdlich bedaure —, daß die Maſſe ähnliche
Formen, wie man jie in Darmftadt zu jehen befam, binnen Kurzem als
etwas höchſt Gewöhnliches, höchſt Natürliches und höchſt Anftändiges betrachten
wird. Es ift weniger die Sache jelbit al3 der Widerftand der Maffe gegen
ungewohnte Symptome und hat Etwas von der Abneigung eines Bundes-
jtaates, die Briefmarken eines anderen anzunehmen. Gut jituirte Fürsten
fönnen einander heute befriegen, fie können ihre Kolonien plündern oder ihre
Länder überfteuern. Das jind bis zu einem gewillen Grade vom Brauch
geheiligte Eigenthümlichleiten. Aber heute fol mal einem Fürjten einfallen,
einen neuen Hofenjchnitt ganz aus eigener Machtvollkommenheit zu verfügen!
Der auf diefem Gebiet verdientejte Fürft, der König von England, hat feine
unbeitrittenen Erfolge doch nur in einem beichränften Neffort der Toilette
errungen. Seine glänzendite Leiftung war die zehn Fahre lang mit Geſetzes—
fraft geltende Sitte, den legten Senopf der Wejte offen zu laſſen. Gewiß nichts
Geringes, da ja feititcht, daß diefe That einzig und allein feiner Initiative
entiprang; aber man vergelfe nicht, daß er ſich auch darin auf eine "rt
Tradition fügte und es jo machte wie die Pompadour bei der Einführung
der Sitte, den Fiſch mit der Gabel zu eſſen, oder eim anderer Mäcen bei
15
198 Die Zukunft.
der Schöpfung des Schnupftuches: ſcheinbar unabiichtlich, zufällig, ſcheinbar,
ohne ſich was dabei zu denken. Und dann vergefje man nicht: c8 war der
Prinz von Wales, der iiberhaupt originell war, nicht der König von England,
nicht der Negent*). it es etwa Zufall, daß jest alle Männer befjerer Stände
die MWefte wieder geichloffen tragen? Hätte der Großherzog fcheinbar aus
Berjehen die Villenkolonie auf der Mathildenhöhe geichaffen, hätte man darin
eine jener von dem biographifchen Gefühl der Maſſe jo verehrten charmanten
Unabjichtlichleiten ahnen fönnen, fo wäre vermuthlich ganz Heflen im Etil
Ehriitianfens unigebaut worden. Et encore!
Das Ulles konnte man ſich jchon am eriten Tag der Ausſtellung ſagen.
Ich ſehe noch den General, der ſo entſetzlich bei der Feierlichkeit ſchnaufte,
dem die innere Wuth mehr noch als ſein Fett den Schweiß aus allen Poren
trieb. Und die Generalin, eine nicht minder dicke Generalin, die achtungvoll
den freundlichen Blicken des Mäcens folgte, der eigenmündig die Vortheile
der Schöpfungen Chriſtianſens erklärte, und die jungen Herren Lieutenants
und die älteren Herren Räthe, dieſe ganze wohlgefügte, verbindlich lächelnde
Sippe... . Es ging einen Tag, den Tag der Eröffnung, der offiziellen
Feierlichkeit, an die fie gewöhnt jind und die fie hochhalten, ob es ſich nun
um die Einweihung eines Bismarddenfmald oder einen Trinffpruch auf einen
Mameludenprinzen handelt. Sie waren natürlich nicht jo ordinär, an dem
ſchönen Sonnentag dem lieben, armen Fürſten vor allen Leuten ins Geficht
zu lachen. Sie haben überhaupt nicht gelacht, fondern ihr Werf figend und
ſchweigend verrichtet. Ibſen, Goya, Thomas Theodor Heine! Keiner von
Euch hat die kompakte Majorität, diefe ſchwarze Maſſe auf der Bruft des
Eritidenden, diejes Ewig-Lächerliche jo kompakt, jo ſchwarz, fo lächerlich ge—
jehen wie ich an jenem goldenen Vormittag in Darmftadt.
Wenn Leute wie Behrens, Olbrich, Ehriftianfen, um nur diefe Drei
zu erwähnen, Künſtler, über deren Werth hier nicht geftritten werden ſoll,
ihre vecht erjpriegliche Erwerbsiphäre in München, Wien und Parts aufgeben,
um nad) einem unbedeutenden Provinzjtädtchen zu ziehen, jo thun fies in
der Hoffnung, dort mindeftens .einen gewiſſen materiellen Erfolg zu finden.
Sie wurden Profefjoren und erhielten einen bejcheidenen Jahreslohn. Damit
fonnten jie leidlich zufrieden fein. Der geſchätzte Titel erhöhte die Verfäuf:
lichfeit ihres Signums, nichts Hinderte fie, nach wie vor ihre Modelle zu
machen und zu verfaufen; ihre Gage war eine Art Wohnungentfchädigung.
Das Abkommen war mit der Privatichatulle des Großherzogs getroffen...
Künitler, hütet Euch vor der Privatichatulle! Die Zeit der mit Brillanten
*) Man halte mir nicht das naheliegende deutjche Beijpiel des ſenkrecht
in die Döhe gebrannten Schnurrbarts entgegen, das in diefer Ausdehnung nur
durch militärische Suggejtion möglich wurde.
Darm» Athen. 199
bejegten Schnupftabakdofen ift vorüber. Man fchnupft heute nicht mehr jo
gediegen. Die Geften haben ich geändert; die Allure ift immer noch die
felbe, aber der Effekt ift anderd. Der Inhaber der Schatulle ift ein ſchwer
definirbarer Privatmann. Schließe Kontrafte, fchöne, regelrechte Kontrafte
mit dem Staat! Den fönnt Ihr verklagen. Alles Andere ift Unjinn.
Im Anfang ging Alles gut. Man lebte vergnügt und in Unfrieden,
wie ſichs unter Künftlern gehört. Da entiteht eines Tages das Projeft der
Häufer-Ausitellung. Es war eine auferordentlich fuggeitive und im jeder
Hinſicht werthvolle Idee. Künſtlern braucht man nicht lange zuzurathen,
wenn es gilt, Flächen zu bemalen, zu behauen oder zu bebauen. Je mehr,
deſto lieber. Man hätte ſie auch ohne Mühe dazu gebracht, ſich eine eigene
Kathedrale zu bauen. Der Platz wurde ja gepumpt und der Platz iſt auch in
Darmſtadt ſchon der halbe Weg zu einem Hausbau. Dagegen pflegen die anderen
Ausgaben dem Bauherrn befanntlich ſtets die rührendſten Ueberraſchungen zu
bringen. Diefe hatten hier befonders pifanten Reiz, da fih in den Künſtlern
neben den mannichfachiten Thätigfeitstrieben auch die widerftrebenditen materiellen
Impulſe wohl oder übel vereinen mußten, Impulſe, die, wie die Erfahrung lehrt,
nur durch eine wohlthätige Arbeitsteilung zu ihrem Recht fommen. Bauherr,
Baumeifter, Künftler und Ausiteller in einer Perfon: Das ift zu viel für
ein Portemonnaie; der Erfolg war natürlich eine Tragoedie. Statt 50 bis
60000 Marf, was mir für ein vor den Thoren Darmſtadts gelegenes Wohn-
haus ſchon ganz rejpeftabel erjcheint, Fofteten mande Häufer da8 Drei- und
Vierfahe. Die Schatulle fah zu. Die Ausftellung regt ein halbes Hundert
Schriftiteller jeder Gattung zu intereffanten Abhandlungen in einem halben
Hundert illuftrirter Zeitfchriften an, alle Fachleute find voll von der Aus-
jtellung, aber die Portemonnaies der Ausjtellee werden immer leerer. Die
berühmten Aufträge, die in riejigen Ihattenhaften Umriffen das Unterbewuft-
jein der Künſtler bevölfert hatten, bleiben, wo jie find, und in den Seelen
der Frohgemmuthen dämmert die Ahnung eine Rieſenreinfalls. Wenn fie
wenigſtens die Häufer jelbjt bewohnen könnten! Aber eritens beginnen jegt
ich Symptome zu zeigen, die den Sünftlern die Reize eines bleibenden
Aufenthaltes in Darmftadt in zweifelhaften Licht erfcheinen laflen, und dann
find die Häufer mit allen Ehicanen ausgeftattet und erfordern eine zahlreiche
Dienerichaft, einen Haushalt, der eine recht behagliche Wohlhabenheit vor:
ausjegt. Das Fazit: die Künstler find glüdliche Beliger von Käufern, die
fie nicht bewohnen können und die etwa die Hälfte des Werthes ihrer Baar:
auslagen darjtellen. Site jchulden der Schatulle hübjche runde Sümmchen
für die Baupläge. Behrens hat, glaube ich, 18000 Mark dafür zu bezahlen.
Und num verfchwindet plöglic die Schatulle. Die Angelegenheit wird vom
Staat übernommen, der ſie zunächſt einmal „ordnet“, ich nad) den Kon—
15
200 Die Zukunft.
traften erkundigt und dann ein langes Geſicht zieht; die Künftler machen freilich
noch längere. Da die vereinbarten Jahre zu Ende gehen, werden die Künitler
nüchtern und eindringlich gefragt, was fie jet zu beginnen gedächten.
So fteht die Sache. Yuriftifch genommen, ift nichts dagegen zu jagen.
Warum bauen fi) die thörichten Künſtler Häufer, die fie nicht verfaufen können?
Kein Menſch hat fie dazu gezwungen. Natürlich reiben fie ſich heute die
Stirn und wundern fi, wie das Alles jo gefommen, und finden, daß fie
furchtbar dunm waren, dar jehr ungerecht ift, was ihnen widerfährt, und
wo denn nun eigentlich der Mäcen bleibe. Der aber ift mit anderen Dingen
bejchäftigt und bedauert. Natürlich find fie ſelbſt fchuld; wie alle rechten
Künftler, haben fie nicht zufammengehalten. Während der Eine dem Füriten
Dies oder Jenes erzählte, fchrieb der Andere ihm juft das Gegentheil. Ein
Dritter verfucht, die Kollegen zu einer Palaftrevolution zu reizen, läuft aber
gleichzeitig zum Fürften und fhwört ihm, er fei nur nach Darmftadt gefommen,
um fih mit Seiner Königlichen Hoheit über die Ziele modernen Gewerbes
zu umterhalten... Sentimentale Leute meinen, der Fürſt hätte nicht an—
fangen dürfen; habe er A gejagt, jo müſſe er auch B fagen. Künitler jeien
unverantwortliche und in gefchäftlichen Dingen unmündige Sinder, denen
man feine materiellen Intereſſen anvertrauen dürfe, nicht mal ihre eigenen.
Für diefe Leute ift der Fürft immer noch der Mann mit dem langen Bart
und der fchönen SProne, der eine ewig gefüllte Schnupftabakdoje in der Hand hält.
ch bin nicht diefer Anſicht und finde, daß die darmftädter Poſſe von
großem Segen für die Menjchheit ift. Ein guter Mäcen kann uns nicht für zehn
andere entjchädigen; darum Lieber überhaupt feine. Steh auf Deinen eigenen
Beinen und ſieh Did um! Heute haben die Fürſten getade fo ihre rein
gefchäftlichen Intereſſen wie jeder Bierbrauer oder Handihuhmaarenfabrifant
und jollen fie haben. Und Künſtlern iſt mit der beiten Begabung nicht ge:
holfen, wenn jie ſich im gefchäftliche Dinge mifchen, ohne Etwas davon zur
verjtehen. ch glaube, dar einen Augenblid das fünftleriiche Intereſſe beim
Mäcen fo groß war, wie es bei heutigen Mäcenen überhaupt fein Fanıt.
Aber tout passe, tout lasse. est höre ih, dak man das darmftädter
Theater umbauen will und dafür 800000 Mark auswirft, von denen
300000 Mark von der Schatulle bezahlt werden; und diefer Bau ſoll nicht
Dlbrih, nicht Behrens, feinem der Darmftädter, fondern einer beliebigen
Routinierfirma übertragen werden. Das iſt ein Bischen hart, aber gefund;
denn es reinigt. Ich fehe noch die Vorftellung am Eröffnungtage in dem
modernen Künitlertheater, mit der modernen Bühne, der modernen Spielerei
und dem gänzlich unmodernen Publifum. Der Fürſt ſaß ernſt und jchaute
und alle Anderen ſaßen ernit und fchauten, betrachteten feierlih und ver—
ſtändnißvoll den gänzlich unverjtändlichen Vorgang auf der Bühne Mir
Stoffen. 201
war angjt und bang. Heute ift mir wieder wohl; es giebt feine Gefpeniter,
feine vierte Dimenſion, auch feine Kunſt mehr, die für Fürjten da ift; und
noch weniger ein Gewerbe. Es wäre die wunderlichjte Jronie, wenn unfere
gewerbliche Nenaiffance von Mäcenen gefördert werden fönnte; dafür ift fie
zu bürgerlich. Sie bricht ja gerade mit Dem, was an Fürjtenhöfen ges
macht wurde, und ift eine der vielen wefentlich fozialen Evolutionen unjerer
aufitrebenden Zeit, — und jicher nicht die unbedeutendite,
Die Schatullen werden kommen, wenn erſt das liche Volf will. Ich
fehe ſchon alle Throne Europas mit Chriftianfens Linten und Farben ge=
ſchmückt. Heute geht es micht mehr von oben, jondern von unten; und
darüber follten wir Alle uns freuen.
Barıs. Julius Meier-raefe.
*
Gloſſen.
Sy man nicht noch heute vielfach der Anficht, daß die Deutichen als
Eſſayiſten und Feuilletoniſten nicht eben den erſten Pla in der Welt»
literatur einnehmen? Dieje Anjiht hat unter den Deutſchen jelbjt jedenfalls die
meijten Anhänger; im Grunde eine jtolze Selbjtwürdigung. Man hielt und
hält dieje und verwandte Scriftgattungen nicht für erjten Nanges; nicht für
geeignet, die Seele eines tiefen, jchöpferiichen, ſchatzgräberiſchen Geiſtes aufzu—
nehmen. Die Dandvoll Schriftiteller, die als Eſſayiſten und FFeuilletonijten
Ausgezeichnetes geleijtet-haben, find auf Umwegen in diefe von den Zünftigen
aller Werthgrade mit faum verhüllter Verachtung behandelte Yiteratur gelangt;
und jo jtarf lajtete diefe Geringichäßung auf ihnen, daß fie ſelbſt nur refignirt,
nur als Enttäuſchte, wie mit einem heimlichen Neid auf die Erfolge erftbeiter
Lindenblüthenlyrifer im Herzen, fich gefallen ließen, was fie als Afterruhm
empfinden mußten. Und die Stärkiten unter ihnen (ich denfe an Die um und
nad Wilhelm Scherer), jprudelnde Birtuojenteinperamente, deren Begabung in
der Bildfraft der Sprade, im anregenden Bermittlertfum, in phantafievoller.
Kombinationthätigkeit liegt und die nur ſchwer zur Andacht vor dem Detail ſich
zu erziehen vermögen, die aller Wifjenichaft Anfang it, fie wurden unter dieſem
lähmenden Drud der öffentlichen Schägung verführt, ihre natürlichen Neigungen
zu überwinden und zur Buchform zu greifen, die ganz zu erfüllen, die Plaſtik
- ihres Denkens wieder nicht ausreicht. Anders ijts bei Franzoſen und Engländern.
Die’ Franzoſen pflegten jogar jeit Jahrhunderten mit zärtlichjter Liebe den
Aphorisinus, die auf die kürzeſte, zierlichjte, bündigite Formel gebrachte perſön—
liche Ueberzeugung, den mit dem ganzen Nebel einer momentanen Stimmung oder
Laune behafteten Einfall, und wanden ihren Marimenichreibern, ihren in Pensdes
und Apergus fid) ausgebenden „Eleinen Mloraliiten‘‘ Kränze. Ya Nocefoncauld,
202 | Die Zukunft.
Pascal, Chamfort, VBauvenargues find Klaſſiker geworden; bei den Deutichen
icheint dagegen der angeborene Hang zur Grimdlichkeit, zur gewiſſenhaften Er—
örterung der Gedanken, zur Kontrole des Temperamentes durch die logische Zucht
die Scheu erzeugt zu haben, philojophijche, willenjchaftliche und kritiſch literariiche
Probleme irgendwie anders als lehrhaft, umständlich, polemifirend(oderdenungzirend ?)
und demonjtrirend, furz: jahgemäß zu behandeln. Die perjönliche Färbung
des Ausdrudes, dort berechtigt, wo die Einfiht noch nicht endgiltig iſt oder end»
giltig nie werden kann, ift verpönt und macht verdächtig. Perſönlich zu werden, iſt
höchftens Dem erlaubt, der den Beweis feiner literartjchen Kompetenz durd eine
umftändliche Leiſtung erbracht hat. Aber wir werden für unjere Tugenden be=
ftraft: der Bücher werden immer mehr ımd fie werden nicht bejler. Und doch
wird das Vorurtheil gegen den Eſſay, das ‚Feuilleton und den Aphorismus nur
langjam loderer; gelehrte Yettelfäde, die nie ein Gedanke entzündet, verfchreien
fie immerfort als Baftarde. Bejonders ſchwer hat Niegicdhe, vielleicht der größte
Aphorismenſchreiber aller Zeiten und Völker, unter dieſem Vorurtheil zu leiden.
Der Aphorisinus gilt nad) wie vor als Aſyl für die literariiche Chnmadt, was
freilich oft zutrifft. An den Ejjay hingegen hat man fich allmählid) doch ge-
wöhnt: allein jhon die Quantität der Leiſtung, die beredhenbare Zeitmenge
Geduld, Ausdauer, Sitfleiich verjöhnt. Auch haben herrliche Veiftungen jeiner
Anerkennung vorgearbeitet, ihn legitimirt: die Eſſays von Derman Grimm,
die Aufiäße von Wilhelm Scherer, F. Ih. Viicher, Karl Hillebrand, Heinrich
von Treitichfe (der ſich nur leider als zur Wiffenichaft gehörig betrachtete), Eduard
Danslid, Nichard Muther und noch jo manden rüjtig Scaffenden rechne ich
hierher. „immerhin blieb — oft genug wurde man daran erinnert — der Eſſay
eben nur geduldet; doch entlud jich, was in den Inquiſitionrichtern der Yiteratur
(wie Goethe fie nannte) an Groll gegen ihn fih anhäufte, zeitgemäfer gegen
feine Ywillingsjchweiter, das Feuilleton.
Nun: angefichts des ganz auffälligen Reichthumes an Effayjaınmlungen,
die in den legten Jahren den Büchermarkt überfluthen und unter allerhand ge»
juchten, graziös verjchnörfelten Namen die Aufmerkjamfeit zu feſſeln juchen,
müßte man von einem bemerfenswerthen Wandel im literariihen Geſchmack der
Deutſchen jprechen dürfen. Soll mans glauben? Sind wir weltmännilcher ge
worden? Iſt das Naffinement der Kultur bei uns jo geitiegen, daß wir dem
Ernft, der Tiefe (der guten Abfiht nadh!), der Sründlichkeit und Gewiſſenhaf—
tigkeit, Allem aljo, was wir als deutjhe Tugenden zu verehren gewohnt find,
die Grazien des Ausdrudes vorziehen? Daß diefe uns mehr loden als der Sinn
der Sache? Ich jpreche hier nicht von den Sammlungen wifjenichaftlicher Auf-
fäße und Vorträge, durch die die Gelehrten aller Disziplinen die Ergebnifje
ihrer Forſchungen einem größeren, nicht durchaus fahmännijc gebildeten Publikum
näher bringen wollen; aljo nicht von den bekannten und populären Arbeiten
der Helmholtz, Mad, Zeller, Wundt, Windelband, Wilamowig- Möllendorf,
Curtius und anderer Profefjoren. Belchrung it diejer Gelehrten Endzwed.
Die künstlerifche Wirkung des Vortrages mag ſich als ungemwollter Nebeneffekt
ab und zu einjtellen: aber ſie iſt nicht beabjichtigt, ijt zufällig. Unfere neujten
Eſſayſammler aber jind Artijten. Ihre Sammlungen find auf unfere Gemüths—
bedürfniffe berechnet. Die Kritiker, Nezenjenten, Referenten, Ausfrager, Yeit-
Stoffen. 203
artifler, Börjengrachen, die Schmods jeder Gattung und beiderlei Geſchlechts,
fie Alle, die bisher mit vielem Fleiß und „nicht ohne Talent“ fich, ihre Familien
und obendrein noch ihre Verleger ernährt haben, fie, die doc) täglich, ſtündlich
beinabe Gelegenheit haben, ihr überflichendes Derz in die Kanäle der öffentlichen
Meinungen ausjtrömen zu laſſen, die ihrer Machtinjtinkte in den Be- und Ver-
urtheilungen der gelammten literarijchen und fünjtlerifchen Produktion des Yan-
des fid) entäußern können, die ihrer Yujt, zu fabuliren, einen unerhört weiten
Spielraum gewähren dürfen, — fie fühlen fich trotzdem undefriedigt, wohl, weil
jie das Zutrauen hegen, in jedem Augenblid Gwigkeitwerthe zu prägen, und
können dem bejcheidenen Drang nicht widerftehen, ihre Würdigungen zu ſammeln
und mit ihren Sammlungen die deutjche Yiteratur zu beſchenken. Schmock be=
ichenft die arme deutſche Literatur: Das ift, Scheint es, das Neufte. Und wenn
‘Bapier, Typen, Zierleiſten, Pignetten, Finalſtöcke, VBorjagblätter, Eindband-
zeichnung, kurz: der künftleriiche Zubehör modernen Burhdrudes und Buchſchmuckes
den Yiteratunwerth des Werkes bejtimmen, dem er dient, dann dürfen wir zu
der neuften „Evolution“ des deutichen Schriftthums uns beglüdwünicen. Su
eine ‚zeuilletonfammlung präjentirt fid nicht jelten mit der ganzen Anmakung
eines modernen Kunjtwerles; aber oft hüllt ein wirklich geihmadvoller Einband
den dürren Yeib Schmocks ein. Wunderlich gekräuſelte Yinien umjchlingen auf
dem Titelblatt jeinen Namen; und vor dem ins Bedeutſame gejteigerten Ge—
jammttitel der Sammlung, den goldene Yettern auf buntjarbigem Dintergrunde
verfünden, mag ihn jelbjt das Gefühl feiner Kulturnothwendigkeit durchſchauern.
Dann wird das Buch beiprochen, gewürdigt . . . Aber man erjpare mir das
Weitere; es ijt zu ſchmerzlich.
Man könnte jagen: diejes von Ungeſchmack triefende Literaturgeſchwätz
jei in jeiner Nichtigkeit jo greifbar, bejonders die aroßthuerifchen, Schmods
philojophiiche Schmerzen sub specie eines hinter ihm orafelnden Modegötzen
ausladenden Borreden jeien in ihrer Dohlheit jo durchlichtig, daß Dem Recht
geichehe, der davon ſich verlocken laſſe. Man könnte eimwenden, dab literariich
jein wollende Zünftler in bedrohlichem -Umfange der Mode buldigen, ihre ver
jtreuten, ganz ohme ideellen Zujammenhang entjtandenen Auffäge und Ab:
bandlungen bei Gelegenheit irgend einer Tages, Jahres: oder \ahrhundertwende
als Weltanfchauungproben der Mitwelt aufzjudrängen ſuchen und diefem Unfug
eben jo wenig gefteuert werde. Das iſt nun freilich ſchlimm genug. Aber ein
Unfug hebt den anderen nicht auf; und der von den Profeſſoren verübte ijt der
harmlojere, da troß aller Stilaffettation, troß aller Ejpritfucht, um den „Eifay“
fünftleriih auszupugen, die in langer Arbeit erworbene Denkzucht meiſt vor
völlig nuglojem Gerede behütet; meilt wird doch wenigſtens gekärrnert: nicht
nur behauptet, jondern bewieien, zu beweijen gelucht; und fait immer wird ein
reeller Denkzweck verfolgt. Mit dem Eſſay als Kunſtwerk mit eigenen Stil»
aejegen, wie er ji) unter den Händen der Meifter, von Miontaigne und Bacon
bis herab zu Emerjon, Garlyle, Macaulay, Sainte-Benve und Herman Grimm
gejtaltet hat, iſt es freilich jo gut wie nichts; dazu fehlt der Betrachtung alles
Freilicht, aller ſchöne Wagemutb der Stepfis, alle Freude an den „Abentenern
der Erkenntniß“ oder in Fällen, wo diefe Gaben vorhanden find, der an Ge-
jege gebundene, durch fünftleriichen Geſchmack vor Ueberſchwang bewahrte Gebrauch
204 Die Zukunft.
der Phantaſie. Aber it darum die Kunſt des Eſſay- und Feuilletonſchreibens
bei unſeren Kritikern und Journaliſten bejjer aufgehoben? ich meine jene Kunit,
die Anſpruch auf dauerndere Geltung und ein Recht hat, mit der Augenblids
wirkung fich wicht zufrieden zu geben? Selbjt die vielen Talente, die unter ihnen
ich regen und, wenn auch meijt nad) berühmten Muftern, anregend, wißig, geiſt—
reich, urtheilsfähig und zu urtheilen berufen jind,. vermögen jich dem Eſſay oder
Feuilleion als Kunſtwerk doch nur von fern zu nähern, weil ihnen die auf
eigenem Grunde ruhende Berfönlichkeit, weil ihnen die reizvolle, auf Andere
übergreifende Impreſſionabilität, das echte, auch ins Kleinſte und Nebenſäch—
lichjte übergreifende Denker: und Dichterthum abgeht. Wenn fie jich aufs fleizige
Beobachten und Berichten beichränten, ſich vor den Fralljtriden billiger SPara-
dorie in Acht nehmen, dem Selbjterlebten kritiſch Erhörtes und umfichtig Er-
lejenes beimengen ımd ihren Stil nachträglich von den vielen unjchönen, uns»
keuſchen Zuthaten jäubern, die der jo oft in Angſt und Noth und Gewifiens
pein vollbradıten QTagesichriftitellerei nothwendig anhaften, dann dürfen fie ſich
„Sammeln“ ; dann fommen jo brauchbare, jo lejenswerthe, weil belehrende Werke
wie Goldmanns Ghinabud oder Guſtav Fr. Steffens’ Buch über England als
Weltmacht und Kulturſtaat zu Stande. Aber, wie gejagt, verhältnigmäßige
Dauer kommt ſolchen Büchern doch auch nur wegen ihres lehrhaften Kernes zu;
die Subjektivität ihrer Verfaller, intereffant genug, einem ihrer Feuilletons cine
ſchöne Augenblickswirkung zu jihern, reiht zu mehr nicht aus. Wer diejes
Mehr will, muß es aud) können; muß die Macht und Breite der Seele habeı,
winzige Erlebniſſe, Iheater- und Bilderemotionen zu vergeijtigen, zu vertiefen,
zu verallgemeinern, an allgemeine Einfihten zu Emüpfen; mit Goethe zu reden:
‚auf das Niveau der ewigen Eriitenz zu heben. Und Die es konnten, die Leſſing,
Diderot und Sainte Beuve, deren Scele hatte Schidjal, hatte Geſchichte. Kann
aber jeder Schmock Soldyes von ſich jagen?
* *
*
Ich Iprady eben vom Aphorisnus und mußte dabei Niegiches gedenken.
Mußte? Wie viele Deutjche danten ihm denn, daß er in diejer kleinſten Pite-
raturgattung Srößtes geleiftet und der deutichen Sprade Töne von ungeahntem
Klangreiz abgelodt, dab er oft bei geringſtem Wortverbraud bisher Unaus—
geſprochenes zu jagen verftanden hat? Noch jcheint die Zeit der Erfüllung für
ihn nicht gekommen. Bor rumd adıtzehn ‚Jahren jchrieb er: „Daben wir uns je
darüber beflagt, nicht veritanden, verfannt, verwechjelt, verleumdet, verhört und
überhört zu werden? Gben Das it unjer Yos, — o für lange no! Sagen
wir, um bejcheiden zu jein, bis 19015 es iſt auch unjere Auszeichnung.“ ber
nod heute affektiren die Zünftigen, abgejehen von der Ablehnung des Inhaltes,
was ihr gutes Necht ijt, die gründlichite Verachtung für die Form diejes jtiliftijchen
(Sejchmeides, für diefe unerbörte Fähigkeit, jede, auch die leijejte, heimlichite
Regung des Gedankens, jede, jelbjt die ganz nad) innen bohrende Wallung der
Affckte in Worte zu fallen, die, troß aller Glätte und Plaftik, ihren Seelen—
nachklang doch nicht verlieren. Zugleich aber wächit unter den Literaten das
Heer jeiner ungeſchickt tölpelhaften Nachmacher über alles verdaulide Maß.
Neides, Verachtung und Nachahmung, it nur zu begreiflid. Der Zünftige ver:
mißt die befonnen demonftrirende Vortragsweiſe, die bequem fontrolirbare Methode
Gloſſen. 205
im Aufbau der Gedanken, die wiſſenſchaftliche Schablone in Konstruktion und
Mittheilung. Er wird, er darf, nad) Gewöhnung und Gigenart, nicht zugeben,
daß cin philofophiicher Gedanke nicht gebrochen zu jein braucht, wenn er in
Bruchſtücken fi mittheilt. Er wird und darf nicht zugeben, da mit dem Ge:
danken zugleich auch jeine Geburtwehen veräußerlicht werden, und muß dieje
Verquickung von Sadlichem und Berjönlidem für einen Abweg ins Dilettons-
tiiche, für einen unerlaubten Zwitter halten. Bücher, die in der „Sprache des
Thauwindes“ geichrieben find, Bücher voll Uebermuth, Unruhe, Widerjprud)
und Aprilwetter cheinen dem nationalen Temperament zumider; ihm imponiren
nur maſſive Bauten, in denen die „Erkenntniffe” wie Quaderſteine jich in cin=
ander fügen und aus denen die freie Willfür im Geftalten und der in immer
nennen Anjägen fich entladende Erkennerdrang verwiefen find. Aber muß darum
der Mann jchlimmer behandelt werden als ein „toter Hund“? Muß darum von
Kanzeln und Kathedern gegen ihn mit immer fteigendem Lärm unfläthig gehetzt
werden, als ob jeder Angriff auf die Form unferer Kultur (oder Unkultur) ſchon
ein Berbrechen jei, als ob jede Verwirrung eines Schwachkopfes, dem jeder unge-
mwohnte Gedanke, jede Baradorie die Kapſel jprengt, den Verkündern neuer An—
Ihauungen zur Yajt gelegt werden darf? Man befämpfe Nietzſche. Man wider-
lege ihn, wenn man kann. Man weife nad, daß er bejjer gethan hätte, die
bewährten Gleije ſchulmäßigen Philojophirens nie zu verlajien. Man bedaure,
mit dem fieler Philoſophieprofeſſor Deußen, nachträglich, daß Niegiche das Ehe:
glück und den Kinderſegen verſchmäht habe; man erinnert fi, daß der zweite
Theil des „Fauſt“ nicht gejchrieben wäre, wenn Goethe, von Du Bois-Neymond
berathen, dem Heinrich die Grete Firchlich vermäblt hätte. Aber man hoffe doc)
nicht, den Glauben verbreiten zu können, Bücher madten cin Yeben wirr und
fraus, das vorher fräftig und gejund geweien jei. Und wenn es Büchern ab
und zu gelingt, jieches Leben jchneller zum Berwelfen, morſches Gemäuer jchneller
zum Einjturz zu bringen, jo haben jie ihre Schuldigfeit getban; es hat ihrer
nie viele gegeben. Weder heute noch früher. Und weder heute noch früher find
Bücher von folder Wirkung jajagende, beichwichtigende, die eben geltende Norm
verherrlihende, die Zuſtimmung der Mehrheit erichmeichelnde gemejen. Das
follten jich auch unjere afademijc gebildeten Yehrer jagen können, wenn fie —
ein Novum‘ — in den Yebensläufen ihrer Abiturienten über den Namen des
Bielgeihmähten ftolpern. Sie follten fih jagen: Won den Büchern, die wir
als Heiligthümer zu verehren anleiten, giebt es nur wenige, deren Berfaſſer zu
Lebzeiten den Galgen nicht wenigitens geitreift, am Giftbecher nicht wenigitens
die Yippen genebt haben. Won Blato, der heute von nicht Wenigen als der
gute Senius Europas belobigt und dazu mißbraucht wird, allerhand mitter-
nächtige „Intelligenzen wadzurütteln, bis auf Kants „Alles zermalmende* Ber:
nunftkritif, bis auf Bismards Neuausgabe von Macdjiavellis Bud über den
Fürſten ſteckt Alles voll Tücken, voll dialektiicher Seniffe, die den Normalverjtand
foppen und jeinem Scäferfrieden gefährlidy werden könnten, wenn er.
ja, wenn er begriffe, was ihm eben nicht ergreift: nämlich ihven unverjöhnlichen
PBrotejt gegen jeine Denf- und Yebensformen. Und deshalb jollte man ſich
fagen: Was die Gefahr ſolcher jerweilig moderniten Bücher paralyfirt, ijt die ſieg—
hafte Straft des Lebens, das von allen gedrudten Proteſten ſich das Wefentliche,
206 Die Zukunft.
den Kern, die Seele aneignet und einverleibt, alles Andere aber als Schall und
Rauch von ſich abſtöäßt. Darum auch mühten Takt und Klugheit die wirklichen
Aufklärer, als Anleiter zum Gejunddenfen,' die fie doch jein wollen, verpflichten,
die Widerjacher erjt ganz verjtehen, ja, den advocatus diaboli jpielen zu wollen.
Der Nachlaß Nietzſches erleichtert diefe Rolle ſehr weſentlich.
Sein Reichthum ijt erſtaunlich; und ohne Uebertreibung kann gejagt
werden, daß der aus dem Nachlaß veröffentlichte fünfzehnte Band der Werke
Nietzſches dem Verſtändniß feiner Gedanken ungeahnte Stüßen bietet. Manche
Seite lieſt man wie die Grlänterungichrift eines Fremden: jo wechſelnde Stand-
punkte tauchen bei der Behandlung philoſophiſcher Wertbhfragen auf, jo frei
ericheint die Stellung des Berfafjers, der ſich jelbft einen Argonauten des Ideales
nennt, gegenüber feinen eigenen, zähen Idioſynkraſien. Es iſt das Wert, das
Nietzſche am Schluß der „Genealogie der Moral“ (Sommer 1887) als „Der
Wille zur Macht, Verſuch einer Ummerthung aller Werthe” anfündigt. Wie
es vorliegt, mit unjäglider Mühe aus den Manujfriptbüchern des Verfaſſers
von den Brüdern Horneffer entziffert, oft flüchtig andeutend, wie um den rajend
ichnellen Flug der Gedanken mit Bleiftift oder Feder feſtzuhalten, oft in breiterer,
die ſyſtematiſche Meiſterung des ungeheuren Problemes anftrebender Darjtellung,
bat es in feiner äußerlichen Umvollendung den Anſpruch, neben „enfeits von
Gut und Böfe* und der „Genealogie der Moral“ als Hauptquelle für die
Lehre Niegiches zu gelten. An vielen Punkten erjcheint die Kritik des europäiſchen
Nihilismus nicht jo hoffnunglos unverſöhnlich wie jonft: die herrſchenden Nieder—
gangswerthe jtellen ſich manchmal dod als Erhaltungwerthe dar, nur maskirt,
nur für den Gebrauch des intelleftuellen Durchſchnittes bemäntelt, als eine Art
morality made easy. Und dann leje man, um fich von dem Werthe diefes
nachgelaffenen Bandes eine Vorſtellung zu maden, die Bemerkungen über Ber-
brechen und Verbrecher: daß fie jo tief in die phyfiologiichen Beitimmungsgründe
der menjchlichen Pſyche eindringen konnten, danken wir der Vorliche Niegiches
fir den Ausnahmemenſchen und die Ausnahmezuftände im Normalmeniden.
Jeder wird zugeben, da bier die Yiebe das jo bequeme Mitleid überwindet.
Auch wird die aus Unverftand oder gehäſſiger Abſicht geihürte Vorftellung, als
jet das Wort und die Borjtellung vom llebermenjchen der höchſte oder gar
einzige Gedanke, bis zu dem fich dieje vieljeitige Natur erhoben habe, hier auf
Schritt und Tritt widerlegt. Aber ich thue Unrecht, auf Einzelheiten hinzus
weijen; Kenntniß des Ganzen ift nöthig, zur Bekräftigung der Ueberzeugung,
daß Niegiche, der jo gern mit feinen Meinungen ſpielte, es nie mit feinen Ge—
jinnungen that. Die Stimmung ift meijt, im Vergleich zu jpäteren und gleich—
zeitigen Schriften, wundervoll ruhig, der Ton nur jelten überfteigert, überreigt,
vielmehr wie durd die Rückſicht auf die willenjchaftliche Unterfellerung der Yehre
gemäßigt. Als ob Niegiche für diefes „ſyſtematiſche Hauptwerk“ ein Eritijches,
ein mit Obren, die durch die Norurtheile des Marktes nicht verftopft find,
bürendes Auditorium ins Auge gefaßt hätte.
Dr. Samuel Saecuger.
it 25
— Een —
er j . ———
Selbftanzeigen. 207
Selbitanzeigen.
Chriſta Ruland. €. Fiſchers Verlag, Berlin 1902,
Das Innenleben einer reich veranlagten Frauennatur in feiner Ent—
widelung aus den Zeitjtrömungen heraus wollte id in „Chriſta Ruland“ dar:
itellen; einer Frau, die fich auseinanderlebt, jtatt ſich auszuleben, die fich kometen—
haft zeriplittert, weil fie inmitten einer Zeit Iteht, die für die „rau eine Welt-
wende bedeutet, weil jie cin Uebergangsgeſchöpf ift. „Wir, die junge Frauen»
generation”, jagt ihre freundin Maria, „itehen Alle noch wie auf einer Brüde;
die Brüde ruht nicht auf fejtgefügten Pfeilern, darum ſchwankt fie; und fie hat
auch fein Geländer und wir jchwanfen mit; und wer nicht jicher auftritt und
nicht ſchwindelfrei ijt, ftürzt leicht hinab; und am Ende der Brüde ift eine Sphinx.
Es iſt ein Zwieſpalt in uns Werdenden zwijchen dem Altererbteu und dem
Neuerrungenen. Was feit jo vielen Generationen Recht und Brauch war, hat
ji unferer Gejinnung einverleibt; es ijt beinahe Inſtinkt bei uns geworden.
Wir haben noch die Nerven der alten Generationen und die Intelligenz und
den Willen der neuen.” Das von allen früheren Frauengenerationen erworbene,
aufgehäufte Spezial» Weibthum heftet ſich als eine Art milder Furien oder Me—
dufen an die Sohlen der „Neuen ran“, ihren Willen und ihr Walten lähmend;
die Theofophen nennen es Karma. Und diejer Zwieſpalt, in dem die Gegen
wartfran hin und ber gezerrt wird, iſt Chrijta Rulands Tragit. Sie hat aber
auch vollen Antheil an dem Geift ihrer Zeit. In der Gegenwart gehört fie
einem Typus an, als deſſen Neinzud)t der jchwärmerijche Aſket Daniel Rainer
gedacht ift, dem Zeittypus, der von einer fiebernden Sehnſucht nad) einer vierten
Dimenjion erfüllt ift, aber auch von anardijtiichen Negungen edlen Stils, die
jelbit vor den Naturgejegen nicht Halt machen. Es jind Yeidende, an ji Ber-
gehende, die ji von Gott und Neligion losgejagt haben und mit frommer Gier
in fi ein nenes höchſtes Wefen juchen. Chriſta fühlt, daß fie nur ein dürftiges
Reis ift jenes jtarfen Stammes verwegen phantajtiicher Denfer. Ihr fehlt es
an Berjönlichkeit. An Jahrtauſende lang währender Einjperrung bat das Weib
die Flugkraft, da es fie nicht brauchte, eingebüßt. ihre Vergangenheit greift
in ihre Gegenwart hinein. Ein unjichtbares, myſtiſches Band vereint die rau
von heute mit ihren Scwejtern aus ferner Zeit. ‚ihre Flügel jind lahm, weil
jie ein weltgeichichtliches Karma tragen. Hedwig Dohm.
*
Gedichte. Kaſſel 1902. Carl Bietor.
Ein Freund ſagte einmal zu mir: „Deine Gedichte haben keinen ſtarken
Ellbogen nöthig, um ſich durch das Dichtergedränge hindurchzuarbeiten.“ Ich
habs gewagt. Man zürne mir erſt nachher.
München. Guſtav Adolf Müller.
*
Gebt uns die Wahrheit! Ein Beitrag zu unſerer Erziehung zur Ehe.
Leipzig 1902. Hermann Seemann Nachfolger.
In der Arbeit, die ich nun den Yelern vorlege, habe ich jenes gefährliche
Wageftüd unternommen, vor dem jelbit einem alten Teufelstumpan wie dem
20 Die Zukunft.
Doktor Fauſt heimlich graute: Ich bin zu den Müttern hinabgeſtiegen. Die
Mädchenerziehung iſt von je her eine heiß umſtrittene Frage geweſen. Alle
Damen, alle Herren haben darüber höchſt löblich und leidenſchaftlos geſprochen
und nur uns ſelbſt, den Hauptperſonen in dieſer beliebten Farce, wurde jede
ſelbſtändige Willensregung einfach abgeſchnitten. Wir blieben ſtumme Träge—
rinnen unſerer naiv-ſentimentalen Rollen, die uns im legten Akt die nothwendige
Luſtſpielldſung bringen mußten. Das iſt im Grunde einfache Logik der Ihat-
ſachen. Ein nach den Regeln der Geſellſchaft gedrilltes weibliches Weſen ver—
gißt nur zu raſch, über ſich und feinen Entwidelungsgang nachzudenken. Als
junge Dame hat jie weit wichtigere Funktionen zu erfüllen, als ihr Innenleben
einer Betrachtung oder gar einer Kritik zu unterziehen. Auf Grund, wie ich
fühn behaupten darf, ehrlicher pfuchologiicher Forſchung verjuchte ic, in meinem
Buch eine Darftellung jener gefährlichen Mijchung der äußeren Welterzicehung
und der geheimen Selbjtenthaltung zu geben, die ſpäter jo jchädigend auf die
Entwidelung Anſerer phyſiſchen und pſychiſchen Kräfte zurüdwirft. Steine jrivole
Abjicht, nicht die Sucht, mit der Perneinung des Althergebrachten modern zu
wirfen, hat mich dazu beitimmt. Doc) das Ausjprechen gewiller Thatjachen wirkt
in unjeren an keuſchen . . . Ohren fo reicyen Geſellſchaft immer weit verleßender
als deren Ausübung. it Einer von uns ein unangenehmes Abenteuer paflirt,
jo breitet die Welt unter falbungvollen Reden den fadenjcheinigen Mantel ihrer
Nädjitenliebe darüber. Denn Das kann jeder Mutter Kind gejchehen. Aber jpricht
Eine von uns darüber, jchreibt jie durchlebte, durchlittene Gedankentragoedien, die
das Leben in taufend und abertaufend ‚Fällen zur Wirklichkeit macht, gar nieder,
dam giebt es Skandal, — und die Steine fliegen, Denn da ijt man mwohl
licher: Des braud)t wirklich nicht ‚jeder zuzufonmen. Möge denn das Büch—
lein feinem Scidjal entgegengehn; vielleicht wird mein eigenes Geſchlecht zuerft
wider mid) aufjtchen; auch jene ganz Meinen, für die es in lichterfüllten Stunden
niedergejchrieben murde.
Elje Kerujalem-Kotänyt.
-
Wunderheilung und Gottesglaube. Karl Dunder, Berlin 1902.
Der zuerſt von Niegjche in jeiner ganzen Tragweite erfaßte Saß, daß
die Stärfe der Suggeſtionwirkung eines Glaubens niemals einen Mapitab
abgeben kann für dejien Wahrheitgehalt, erhält durch die von der Scientijten-
Sekte vollbradhten Deilungen eine Beitätigung, wie fie entichiedener gar nicht
gedacht werden fan. Cine Metaphyſik für Dintertreppe und Nodenftube heilt
Mondjüctige und Gichtbrüdige, während Herr Stoeder, der ohne Frage im
Beſitz des wahren Gottesglaubens ijt, fich bejcheiden muß, die glücdlicheren Klone
kurrenten zu beneiden, ihnen ihre Gewinnſucht vorzumerfen und, was jeine eigene
Berjon betrifft, zu lagen, dal die ſchönſten Wunder, die er thun möchte, un:
gethan bleiben, weil nach einem unerforjchlichen Rathſchluß die Gnadenhilfe von
oben verjage. Darin ftimmt mein Zchriftchen mit Herrn Stocder überein, dat
die deutiche Kolonialpolitik viel grokartiger daltände, wenn, zum Beijpiel, die
Lues der Chineſen bei blogem Dandauflegen unjerer Miſſionare ſofort verſchwände.
Karl Troit.
*
Der Ozeantruſt. 209
Der Özeantruft.
Doch gar nicht lange ift es her, da jtanden die Frachtraten in der ganzen
Eu Welt jo hoch, day der Außenhandel der einzelnen Länder gefährdet ſchien.
Damals, als die eriten Befürchtungen wegen der amerifanijchen Gefahr in Deutjch-
land auftaudhten, wurden die ängitlichen Gemüther mit dem Hinweis beruhigt,
cin rationeller Export nad) Deutjchland jei Schon deshalb unmöglich, weil die
Frachtpreiſe viel zu hoch ſeien. Allerlei Umftände hatten eine außerordentlich
günftige Konjunktur gejchaffen. Dann famen der jpanijch.amerifaniiche Krieg,
der Transvaalfrieg und die chineſiſchen Wirren. Durch dieſe politiichen Ereig—
niffe wurde der verfügbare Sciffsraum weit über das gewöhnliche Maß hinaus
in Anſpruch genommen, jo daß die Transportkoften ſich in Folge der gefteigerten
Nachfrage beträchtlich erhöhten. Wie es aber in der regellojen fapitalijtiichen
Wirthſchaft nun einmal zu gehen pflegt: die Nhedereien wollten nit einjchen,
daß es fi nur um vorübergehende, außerordentlihe Erſcheinungen handle; ie
glaubten, die hohen Frachtpreiſe würden fic) dauernd halten. Man baute wild
darauf los, um neuen Schiffsraum in Konkurrenz bringen zu fönnen. Jnter—
eſſant ijt in diefer Dinficht die Statiftil des Germanijchen Lloyd für das Jahr
1901, aus der hervorgeht, daß an Dandelsdampfern im Bau waren 1899: 543 000,
1900: 584000, 1901: 624000 Tons Brutto. Dieſe rege Bauthätigfeit beweijt
deutlid, daß man, genau wie in der Waarenproduftion, auch in der Schiffahrt
den durd) die Konjunktur erhöhten Bedarf für dauernd gefichert hielt und danach die
Erhöhung der Produftionfähigfeit einrichtete.
Natürlich) mußte fich dieje Uebereilung rächen; und fie rächte jid) früher,
als ſelbſt vorfichtige Yeute angenommen hatten. Noch vor dem Erlöjchen des
Transvaalfrieges drückte die jchlechte wirthichaftliche Lage die Frachtſätze her—
unter; und nun wurden die Aufträge jeltener und die Konkurrenz wurde jchärfer.
Der Verſuch, eine Neihe größerer Gejellichaften international zu vereinigen, um
jo die Breije zu erhöhen, iſt alſo begreiflid. Nur jollte man nicht jo tun, als
ob unabwendbare Naturereignijje zur Koalition zwängen. Die Hauptſchuld an
dem plötzlichen Berfall des Frachtengeſchäftes trägt der frühere Uebermuth.
Nachdem die große deutjch-engliich-amerifanische Dampferkoalition befannt
geworden war, bemühte fid) die englijche Brejje, an ihrer Spige die Times,
die Nothwendigfeit der Kombination aus gewillen natürlichen Umftänden abzu-
leiten und dem Publikum vorzureden, es werde aus der neujten Morganijation
den Hauptnutzen haben. Die Sciffsbautechnif, hieß es, habe fich ungemein
verbejjert; aus den Berjonendampfern jeien im Yauf der Seit mehr und mehr
ihwimmende Baläjte geworden; jede Linie juche durch vorzügliche Verpflegung,
durch elegantere Ausitattung der Kabinen und Salons das reilende Publikum
heranzuziehen. Abgejehen von den Schaaren der Zwiſchendeckpaſſagiere können ja
nur ſolche Leute fi) den Lurus einer größeren Ozeanreiſe leijten, die über viel
Geld aus eigener oder fremder Tajche verfügen und größere Anſprüche jtellen
als andere Reiſende. Die Nhedereien haben es aljo wirklich ſchwer; und Die
Konkurrenz bringt es mit fih, daß an diejen Yuruspaflagieren nicht leicht mehr
viel zu verdienen ift. Dennoch bliebe die Bereinigung der Linien eine zu tadelnde
Mapregel. Dem Publikum nübt eben nur Konkurrenz; jedes Monopol führt
210 Die Zulunit.
zur Beriumpfung. Schließt fih um die internationale Schiffahrt der Ring,
jo muß das Publikum die Zeche zahlen. An erhöhte Sicherung des Trans-
portes, an Steigerung des Komforts, der Fahrtſchnelligkeit wird nicht zu denken jein.
Neben diejer Schattenjeite der neuen Kombination tritt allerdings auch
eine LVichtjeite hervor; die Trufts find ja überhaupt modernere Wirthichaftgebilde
als konkurrirende Einzelbetriebe. Die Konkurrenz zwingt jede einzelne Geſell—
ihaft, ihren Berkehr nad allen Windridtungen Hin ſelbſt dann voll aufrecht
zu erhalten, wenn man faum für die Ausreife, gejchweige denn für die Rück—
fahrt Yadung genug hat. Während jeßt vier, fünf jchlecht bejeßte Schiffe ver-
ichiedener Gejellichaften auf den jelben Linien mit Verluft fahren, würde, nad)
der Vereinbarung, ein Schiff fahren, voll bejegt fein und rentiren. Daher war
vom Standpunkt der betheiligten Aftiengejellichaften aus der Abſchluß des inter-
nationalen Truſts nöthig. Anders aber jieht die Sade aus, wenn man jie nicht
vom Standpunkt des um feine Dividende bangenden Aktionärs oder des über die in
Ausficht ftehende Frachtvertheuerung verärgerten Bafjagiers, jondern als Volks—
wirth im Hinblid auf den ſich anbahnenden ſcharfen Konkurrenzkampf zwiſchen
Deutjchland und Amerika betrachtet. Ein Urtheil ijt da ſchwer zu fällen, weil
wir über des Trufts Art und Organijation vorläufig noch nicht allzu viel Sicheres
wiſſen. Genau unterrichtet find wir nur über die Theilnehmer. England und
Amerika jtellen die White Star-Pine, die Dominion-Pine, die American-Line, die
Atlantic Transport- und die Ned Star-Line. Dazu find dann noch die meiften
Aktien der Holland: Amerika-Linie erworben. Die Gunard- und Alan-Line haben
fi vorläufig nicht angeſchloſſen. Deutjchland ſchickt feine beiden Seeprunkſtücke,
den Norddeutihen Yloyd und die Damburg-Amerika-Linie, ins Bündnif.
Die anglo-amerikanischen Sejellihaften werden einen Truſt bilden, der
mit 800 Millionen Mark finanzirt werden joll, und zu diefem Truft treten die
beiden deutichen Geſellſchaften, durch Verträge unter einander gebunden, in ein
Bertragsverhältnig, das zwanzig Jahre gelten joll, aber nad zehn Jahren ge-
Löft werden kann. Jede der beiden Gruppen ilt „an den finanziellen Erfolgen
der anderen bis zu einem gewiſſen Grade interejfirt“; doch foll „der Erwerb von
Aktien der deutjchen Gejellichaften dem Syndikat verboten“ fein. In das leitende
Komitee jenden die Deutſchen und das Syndikat je zwei Vertreter. Die Hamburger
Padetfahrt und der Lloyd haben die Einberufung einer außerordentlichen General-
verſammlung angefündet. Weshalb aber zögerte man jo lange? Siegeszeidhen
pflegt Jeder doch möglichft früh zu enthüllen. Die Truftichiffe dürfen nicht in
deutiche Häfen kommen, die Deutichen „ihren Verkehr nicht über ein gewiſſes Maß
erweitern.“ Mit Stolz wird darauf hingewiejen, daß den deutichen Sejellichaften
die nationale Unabhängigkeit gewahrt worden ſei. Aeußerlich fichts ja auch jo aus.
Denn die deutjchen Sejellichaften find nicht, wie die engliichen, im Trust, jtehen ihm
vielmehr als freiestontrahenten gegenüber. Ein Blid auf die Vorgeſchichte der Sache
genügt, um uns die wahre Natur der deutichen Unabhängigkeit erfennen zu lehren.
Der Vater der neuen Kombination it natürlich Bierpont Morgan, der
ja jegt nie fehlt, wenn es gilt, ein Truftjeuchen zu machen. Aber es hat Yahye
langer Stleinarbeit bedurft, bis das Projekt zur Ausführung reif war. Auch
ein Truſt wird nicht an einem Tage gebaut. Seit die Dandelspolitit Amerikas
darauf zugejchnitten tft, von der Urproduktion bis zu der fertigen Waare Alles
Der Ozeantruſt. 211
in einer Hand zu vereinen, haben jich die amerikanischen Eijenbahngejellichaften
bemüht, nicht nur bis zur Hüfte die Waare in ihrer Obhut zu behalten, jondern
fie jelbjt auch auf den Erportweg zu begleiten. Wie ic mir gerade vorliegenden
- Notizen entnehme, mißlang nod) vor fieben Jahren der Verſuch der Benniyl-
vaniabahn, einen Sciffsdienjt nah Europa einzurichten. Aber ſchon ein Jahr jpäter
führte ein Gejchieterer den Berjuc zum Erfolg. Mr. Hill von der Great Northern
Bahr begann mit dem Schiffsverkehr nad Oftafien. ‚je mehr die einzelnen großen
Bahngeſellſchaften ihre Selbjtändigfeit verloren, um jo eifriger wurde ihr Streben,
gut eingeführte Rhedereien zu erwerben oder neue Linien einzurichten. Wenn wir
von den gemeinjamen Linien der Union Pacific und Southern abjehen, die
der Bollendung erit entgegenreifen, jo giebt ein gutes Bild von der herrichen-
den Entwidelungtendenz die Thatjache, daß die Baltimore und Ohio, die Bofton
und Main, die Southern Pacific, die Cheajepeaf und Obio, die Norfolf und
Weitern, die Grand Trunk einzeln „der mit anderen Pinien gemeinjam an
transatlantiihen Dampferlinien interejfirt find.
Dieje Entwidelung wurde mit yankeehafter Energie 'gefördert. Hinter
den Goulijjen leiteten die großen Finanzleute das Geſchäft, die jelben Yeute,-
die an den großen induftriellen Truſts betheiligt waren. Schließlich war man
in Amerifa fertig. Aber nun blieb das Ausland, deſſen Schiffahrtlinien in dem
Augenblick befonders wichtig werden mußten, wo des wirthichaftlichen Niederganges
erste Zeichen in Amerika fihtbar wurden. Es fam nun darauf an, den Erport
der amerifaniihen Truſts zu fteigern, und um darin den anderen Nationen
überlegen zu fein, mußte man die Herrſchaft auf dem internationalen Frachten—
markt erobern. Zunächſt faufte man Englands Flotte. Die Juman Line, die
Blue Funnel und endlid — der Stolz von Albions Söhnen — die Ley—
land Line fielen an Amerika. Fett konnte auch Deutichlands Schiffahrt von
den Dollarmilliardären aufs Korn genommen werden. Was konnten die Maßregeln
ſchaden, die verhindern follten, daß deutſche Schiffahrtaftien von Amerifanern ge—
fauft würden? Das war Dumbug, im beiten Falle Selbjtbetrug. Und wie will man
die Amerikaner hindern, geräufchlos Aktien der deutichen Gejellichaften zu kaufen >
Es ſchien eine Weile jchon, als ſeien Morgan und feine Yeute drauf und dran, die
Aktien des Lloyd und der Badetfahrt zu kaufen. Die Höllenangſt, die fie dadurd)
in Deutjchland erregten, zeigte ihnen aber, daß fie ihr Ziel jchneller erreichen konnten.
Ihnen lag ja nichts an dem Aktienbefig, Alles an der Herrichaft über die Linien.
Konnte man Geld fparen und ohne Aktien den jelben Effekt erzielen: tant
mieux. Man jhlug den Deutjchen ein Startell vor. Grleichtert athmeten Bal-
lin und Wiegand auf. Das war doch wenigjtens nad außen ein Erfolg. Diefe
Stimmung erklärt denn auch, dab in den Hamburger Nachrichten zu lejen war:
„Bir wiffen nit, ob es wahr ift, daß Englands ftolze nordatlantiiche Rhe—
derei dem amerikanischen Kapital verfallen iſt: jo viel aber wiſſen wir und find
nad) einer Unterredung, die wir heute an fompetentejter Stelle zu führen Ge»
legenheit hatten, in diejer Ueberzeugung noch bejtärkt, day die Konventionen,
die in New-York verhandelt werden jollen, die Unabhängigkeit umd die Natio
nalität unjerer beiden großen Nhedereien im feiner Weije berühren.“
Nach langen Berhandlungen wurden Herr Geo ‘Plate und Herr Ballin
nad) New-York beitellt. Was jollten fie gegenüber der in Ausſicht jtehenden
212 Die Zukunft.
mörderiichen Konkurrenz thbun? Die mußten dem Pool beitreten. Auf diejem
Wege gab es für den Aktionär höhere Dividende und für die Plebs blich
die Glorie der nationalen Selbjtändigkeit gewahrt. Doch ein Schiff fährt
nicht nach dem Willen der Flagge, jondern nad) der Weifung des Kapitaliften,
der den Kapitän bezahlt. Und ob die deutichen Stapitaliften fünftig noch weiter
fo weijen dürfen, wie fie wollen: Das wird man erjt beurtheilen können, wenn
über die Leitung des Pool völlige Selarheit gefchaffen ift. Wahrſcheinlich iſts nicht.
Für Herrn Morgan hat der Pool doc nur dann einen greifbaren Ywed, wenn
der Gebieter die Frachtpreiſe der Welt jo feſtſetzen kann, wie er in feinem Intereſſe
und im Intereſſe des Stahltrujts es für nöthig hält. Man ſollte nicht vergeflen,
dab nad Mr. Schwabs Eingeftändniß der Stahltruft ſich für ſchlechtere Zeiten
rüftet. Der Erport nad Deutſchland und deſſen Abjagebieten ift jein nächites
Biel. Eine Etappe auf dem Wege zu diefem Ziel ift die internationale Verein-
barnng, die, obwohl die deutiche Tonnenzahl beträchtlich überwiegt, vielleicht bald
zur Anerkennung der amerifanifchen Oberherrſchaft gezwungen fein wird. *)
Plutus.
) Das verächtliche Lächeln über die amerikaniſche Gefahr, deren Schrecken
ja maßlos übertrieben ſein ſollten, wird den Europäern nächſtens wohl vergehen.
Außer dem von Plutus hier betrachteten Symptom ſind noch andere ſichtbar.
Der Ankauf der däniſchen Antillen mag uns einſtweilen unbeträchtlich ſcheinen.
Schon aber hört man, daß ein anderer Morgan, der Beherrſcher eines ſtarken
Truſts chemischer Fabriken, die Eroberung der deutjchen Kaliwerke plant und
bereit3 Hure und Aktien namentlich jolcher Werke erworben hat, die dem Kali:
fyndifat nicht angehören. Da die Bereinigten Staaten feine Kalilager, aber
einen großen Berbraud an Kali haben, war der amerifanijche Markt bisher ein
werthvolles Abjaggebiet für die deutſche Industrie. Das jah Morgan der Zweite
und fagte fih: Wenn ich zunächſt die nicht Fartellirten Werte kaufe oder mir durch
Attienkäufe die Herrſchaft über ihre Gejchäftspolitif fichere, dann breche id} die
Macht des Kartells und kann es durch unerträgliche Konkurrenz mürb maden;
und dieje jchledhte Zeit der Kaliinduftrie werde ich benußen, um auch in den
Startellbereich meine Minen zu legen; babe ich im Startell erit die Mehrheit
der Stimmen, jo erlebt das deutjche Monopol feinen legten Tag, wir reißen
die Kaliproduftion an uns und brauchen uns nicht länger mehr mit dem dürftt-
gen Zwilchenhändlergewinn zu begnügen. Es ijt immer die ſelbe Geſchichte,
deren Ausgang, bei der unangreifbaren Ueberlegenheit des amerifanischen Stapitals,
faum zweifelhaft jein fann. Cine Weile wird das Syndikat Widerſtand leijten,
früher oder jpäter aber zu einer Verjtändigung mit den rückſichtlos fonkurrirenden
Yankees gezwungen fein, die ſich von der dem ftolzen Ballin, dem „Umjpanner
des Erdballs“, aufgedrängten nicht weſentlich unterjcheiden wird. Neben dieſem
Schauspiel eines wirthichaftlihen Niefenfampfes verblaßt der Kleine politische
Hader, der lärmend durd) die Breife der europäiſchen Neiche tobt. Wenn das Yand
des Sternenbanners Guropa erft den ‘Breis der Frachten, des Eiſens und Stahls,
der Kohle und chemijchen Produkte vorjchreibt und die Widerjpenjtigen -auf allen
Märkten unterbietet, wird man erfennen, wie ungemein flug es war, die Wirth:
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ihaft erwachſender Völker mit voller Wucht auf den Waarenerport zu jtellen.
Drud von Albert Damde in Berlin-Schöneberg.
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Berlin, den 10. Mai 1902.
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Hofjuden.
Se" Kinder, ich war da. Ganz einfach, weil die Gejchichte mir ſchließ—
lic) langweilig wurde. Seit Monaten liegt Ihr mir in den Ohren.
Alles Unheil fomme von dem jewish people, das fich jetst oben breit machen
dürfe. Unerhört in Preußen, daß Juden in der Hofgejellichaft jolche Rolle
ſpielen. Selbjt der Schwefelgelbe, dem Ihr nie recht grün wart, habe feinen
Gerſon Bleichroeder doch nur mit Vorjicht jervirt; und den Heinen Cohn
— ic meine das deſſauer Baronchen — hat man höchſtens bei großen Hof-
fütterungen mal flüchtig gefehen. Der wirkte mit feinem unausrottbaren
Jargon im Werken Saal jehr luftig, fühlte jic) im Gejpräch mit Unjereinem
aber ftet3 als gefnufften Schugjuden;; blieb, troß Titel und Millionen, fönig-
licher Kammerfnedht ; immer drei Schritt vom Yeibe. Die Zeit ift vorbei. Jetzt
lieft man alle paar Tage, irgend ein fauler Semit jei zur Audienz befohlen oder
auf die Lifte der mit S. M. Einzuladenden geietst worden; und wenn mans
nicht Fieft, ſickert es durch die Bortieren. Die Yeute dringen in den intimften
Kreis, werden jogar jchon aufs allerhöchite Waſſer mitgenommen, gegen das
dieſes Heilige Volk doc) vom Nothen Meer eine eflige Antipathie nad) Europa
gebracht haben follte. Der preußiiche Adel könne nachgerade ergebenft auf
jeiner Schoffe boden; Konkurrenz mit der Sippe, die Mojes und die Pro»
pheten hat, weder jtandesgemäß noch durchführbar. Kommt von uns mal
Einer ran,dann erreicht er auch was; ſiehe Putlig und Graf in der Spiritus>
choſe. Nur in Jubeljahren aber noch möglich, das ſchwarze Spalter zu durch—
16
214 Die Zufimft.
brechen. Podbielsli hat die Diode angefangen. Bei Victor Apoftata, dem
großen Milchhandelsmann, wurden die Leute vorgeſtellt, wahrſcheinlich, nad) :
dem er am Slattiſch des Königs erzählt hatte, fie ſeien nicht jo ſchlimm wie
ihr Ruf; und nun haben fie ſich warm eingenijtet. Natürlich werden da
Anfichten apportirt, die allen Traditionen altpreußiicher Wirthichaft wider-
fprechen. Obendrein hat aud) der Kanzler via Tauſſig Beziehungen zur
haute finance. Daher der Angitfchrei in der Herrenhausrede des Sor-
quitters, der jonft wohl nicht aus dem Bau gefrochen wäre. Und er ift nicht
der Einzige. Ueberall eine Heidenangft; und ſpaßhafte Wuth gegen die
Gelben Jaden, die den Anfturm der Eifelirten nicht rauh abwehren. Onfel
Polte, der hebräifche Studien für zeitgemäß hält, prophezeit in langen
Sendichreiben die Herrichaft des Kahal, der Kehilla oder Kille (wo—
runter, wie mir fcheint, das Volk Iſrael zu verftehen ift). Drumont habe
jeit Jahrzehnten Alles vorausgejagt; jet fomme auch für ung die Stunde
der letzten Schlacht. Siegen wirnicht, dann: Gute Nacht! Finis Borussiae.
Und fo weiter... Na,ichbin nicht leicht ins Bockshorn zu jagen. Habeaud)
ftet8 vor Uebertreibungen gewarnt. Einftweilen fommen auf jeden Juden
oben noch hundert Junker; und bei ſolchem Prozentjag läßt ſichs leben.
Die Eindringlinge find auch nicht ausschließlich Kinder Jehovahs. Induſtrie
und Technik ohne Unterſchied der Raſſe, oft freilich mit jüdischer Oberleitung
im Dintergrund, Item, ich wollte mal jehen. Daß id) nad) dem Geſtändniß
für Eud) ein räudiges Schaf bin, verfteht fich am Rande; aber man möchte
jeine Erben doch fennen lernen und Ihr habt mir outsider fo wie jo nie über
den Weg getraut. Nicht feſt genug im Glauben; nicht ſchwarzweiß bis in
die Knochen, Der neue Schmerz wird Sippen und Dlagen nicht niederwerfen.
Die Einladung hatte id) bald. Ein richtiger Graf und Ritter hoher
Orden hat da noch Marktwerth. Ich gab eine Karte ab — Das genügevoll-
fommen, hatte Kuno gejagt — und fünf Tage danach baten Monsieur et
Madame auf jehr anjtändigem Papier um die Ehre pp. Zu einfachen
Abendeſſen. Wir hatten feinen von den großen Löwenkäfigen gewählt, weil
ich mid) erjt alflimatifiren wollte. Beſſere Bankſache ohne Ausficht auf
Dioabit. Man muß nicht von Allem haben. Alfolos; mitdem feiten Entſchluß,
unterfeinen Umftänden aus der dankbaren Rolle des bon prince zu fallen.
Was find Hoffnungen, was find Entwürfe? Nach Mitternadht ſaß
id) mit einem Herrn, dejfen Name mir um Neun bei der Vorftellung in die
Glieder gefahren war, einträchtiglich in einer Kneipenede und amufirte mich
an dem Entjegen zweier Generalftreber, die mich erfannten und ob jolcher
Hofjuden. 215
Gejellfchaft ihren Augen nicht trauten. Der Mann hatte mirs mit nett ver-
packten Bosheiten angethan. Irgend ein Doktor, juris oder jo was, der ſich
bei näherem Bejehen als avancirten Sozialiften entpuppte, aber ’ne jchwere
Menge gejehen und gelejen hatte und famos ſprach. Wenigjtens für Unjer-
einen, dem die Sorte jonft nicht vor die Flinte fommt. Um Zwei waren wir
jo ungefähr ein Herz und eine Seele. Und ich hatte mit etlichen Bechern
Pilſener die Geſchlechtschronik faſt all der mehr oder minder ehrenwerthen
Leute genojfen, die mit mir im TIhiergarten zu Gaſt gewejen waren; nebjt
Vorjtrafen, Scheidungen, Ehebrüchen und anderem Komfort der Neuzeit.
Woraus denn wohl zur Genüge zu erjehen ift, daß der bon prince fich nicht
lange auf fteiler Höhe gehalten hatte, „wo Fürſten ſtehn“.
Zunächſt wars ja ein Bischen unheimlich) geweſen. Aus allen Eden
äugte alttejtamentarijches Vollblut. Pompös aufgeichirrte Weiber; meiit
nicht ganz in Form, mit gelblichen Charcuterien, die alfoholifche Neigungen
in mir aufjtiegen ließen, aber Aufmadjung erjten Ranges. Seit dem Cafe
de Paris und der Ermitage hatte ich nicht jo viele gute Steine und Perlen
zujammen gejehen. Etwasreichlicd) für ein einfaches Abendeffen (daß getanzt
werden jolle, erfuhr ich) erft nach dem Fiſch). Einzelne auffallend hübjche
Mädel mit abenteuerlichen Frijuren und höchſt raffinirten, aber Hleidfamen
Dedvlättern. Die Neize der Männer wären in orientaliichen Gewändern
wohl zu bejferer Geltung gefommen. Doc) jehr korrekt in weißen Frad-
weiten mit Soldfnöpfen; die jüngere Generation jogar mit felddienjtfähigen
Figuren. Immerhin: wenn plöglic) eine Chriftenverfolgung ausbrad), war
ich verloren ; nur die Diener fonnten mich dann vor dem Schächtmeſſer ret-
ten. So ſchien mirs wenigjtens, ehe ich warın geworden war. Kuno, der
Schlingel, der den introducteur fpielen wollte, hatte im legten Augenblid
abgejagt und mic) allein auf Batrouille gelafjen. Nachher... Nein, Kin:
der: ich fiel aus fämmtlichen vorhandenen Wolfen. Entre nous thun bie
Knaben immer, als hätten fie, außer beim Querjchreiben, noch nie einen
Raſſengenoſſen des Heilands in der Nähe gefehen, und nun tauchte eine
ganze Suite auf, mindefteng je ein Mufter aus allen Stleinzeugfapiteln des
Gotha. Jeder erft leije genirt, wie wenn er eine von den Damen am Arm
hätte, die man nicht mit dem Hut grüßt; bald aber kreuzfidel und entzüct
von der angenehmen Temperatur des Hauſes. Ihr rümpft die Naje und
denkt: Die zicht das Futter, die Sehnſucht nad) Schloßabzügen, vielleicht die
Hoffnung auf einen unbefrifteten Pump. Kommt aud) vor; und ficher nicht
jelten. Das Futter war wirklich gut; jo ungefähr Alles, was die Saiſon
16*
— ren N
216 Die Zukunft.
nicht Liefert; mir wurde weder Knoblauch noch Mazza zugemuthet. Und Wein
und Cigarren weit über unfere Gewöhnung. Ein Moſel, der verhärtete Anti-
jemiten vor Gewiſſenskonflikte geftellt hätte. Trogdem: die Viktualien finds
nicht allein. Sch ſah namhafte Führer, Säulen der Partei, Yeute, die ſich
jelbjt einen ordentlichen Happen leiften und ihn ohne Reue mit dreiundneuns
ziger Pommery begieken fönnen. Es ift eben nod) was Anderes. Ich habe
mid) zwar nicht gerade wie die Prinzen und Grafen des tüchtigen Herrn
Sudermann benommen, die in fremden Häufern Schreibtijche bejchnüffeln,
mich aber umgeguct wie auf dem erſten Rekognoſzirungritt meines Lieutenant⸗—
lebens. Donnermwetter: wohnt die Gefellichaft! Feder Schranf, jedes Glas
cheint ung ein Heines Wunder. Dabei nicht überladen, wie ic) gedacht hatte,
jondern mit einem gewilfen Talt auf einen Ton geftimmt. Wir haben doch
auch Kerle, die im Jahr ein dickes Padet brauner Scheine verpugen. Wo
aber jiehbt man bei Denen ein gutes Bild? Hier jo ziemlich Alles, was in
letter Zeit von fic reden gemacht hat. Bronzen, Poterien aller Stile, Ra-
dirungen, Skulpturen und Bücher, — Bücher, daß einem rechtichaffenen
riftlichen Germanen angst und bang werden fan. Na,. Ihr kennt meine
Puſchel. Aber geht erjt hin, ehe Ihr ſchimpft. Und bildet Euch ja nicht ein,
man werde Euch wie den lieben Herrgott anjtarren. Keine Spur. An adeligem
Verkehr fehlts nicht mehr. Ein neuer Name von Klang ift immer will:
fommen; aber man legt jich vor ein paar Ahnen nicht aufden Bauch. Ueber-
haupt iſts ganz anders, als wir uns vorjtellen. Der Typus Cohn und Bleich—
roeder jtirbt aus und die heranwachjende Generation kann fid) jehen laſſen.
Stramme Bengel, die reiten, turnen und Tennis fpielen, Huge Mädchen
mit der Sicherheit aus engliichen Penfionen first rate. Das hat mit acht—
zehn Fahren Alles kennen gelernt, was unſer Erdtheil zu bieten vermag,
und weiß auf den verichiedeniten Terrains Beſcheid. Als ich gejtehen mußte,
ich ſei noch nie in Rom gemwejen, glaubten die schwarzen Ilſen und Öreten, ich
wolle einen jchlechten Scherz machen. Junge Kultur, aber Kultur, Kinder.
Seid friedlich: ich ſchwärme nicht; fällt mir gar nicht ein. Bin auch
nicht jo mit Blindheit geichlagen, daß mir die Heinen und großen Yächerlich»
feiten entgingen. Zu viel Pantomime, zu wenig Ruhe in den Vorderpfoten,
die der Europäer zum Reden nicht braucht, faft immer zu viel Affekt und zu
viel Geräuich. So zwiſchen Dlarjeille und Port Said. Das giebt ſich. Yänger
wird es dauern, bis die Diener nicht mehr vornehmer aussehen als die Herr—
ſchaft. Einjtweilen guet foldyer lange Yümmel, der in Potsdam feine zwei
Jahre runtergerijjen und als Burjche Manieren gelernt hat, mit feinem
Hofjuben. 217
ſchmalen Blondkopf manchmal recht fonderbar auf die fommerzienräthliche
Slate herab. Und auf dem Lande... Ich war nämlich ruchlos genug, auch
einer Einladung auf das Rittergut meiner neuen Freunde zu folgen. Wollte
die Agrarier von übermorgen mal in vollem Glanz ſehen. Da haperts noch
böfe. Natürlich ift Alles da; nicht wie bei armen Leuten. Mafchinen, daß
Einem jchwarz vor den Augen wird, meliorirt auf Deibelholen, Vichitälfe,
für die ich meine ganze Klitiche hingäbe, und vom Feld auf Automobilen
ins elektrijch beleuchtete Schloß, das jo feudal aussieht, als hauſte ein alter
Burggraf drin. Die Leute geben fich auch alle Mühe; aber das Kleid des
country-gentleman fitt nod) nicht. Der Kutjcher grinft, wenn der Herr
Direktor ihm jagt, wie die Pferde zu behandeln jind. Und trogdem Madame
jede Kuh beim Namen kennt und vor dem Diner pünftlid) noch nach den
Fohlen jieht, merkt man auf Schritt und Tritt doc), daß ihr lieber Papa
nicht Körner gebaut, jondern mit Diamanten gehandelt hat. Die Sache geht
aljo noch nicht, wird vielleicht noch in der nächſten Generation für unfere
Begriffe nicht klappen. Wobei die Hauptjache aber nicht zu vergejien tft:
daf dem armen Boden die Düngung mit Gold vorzüglich befommt.
Ich bin alfo nicht blind. An manchen Stellen iſt der Yad dünn auf—
getragen umd jpringt, bei der Haft diejer Raſſe, leicht ab. Nur Hilft fein
Mundipisen: die Yeute find nicht mehr zu verachten oder gar auszulachen.
Ihre Stärke ift die bejfere Rüftung für die moderne Lebensſchlacht. Wir
müſſen uns höllifch zufammennehmen, jonft liegen wir platt unter dem
Schlitten. Was lernen wir denn, Hand aufs Herz? Armee, Landwirthichaft,
allenfalls noch Bischen Verwaltung oder jogenannte Diplomatie. Bücher
werden nichtgefauft und für Bilder langtsnicht. Technik, Naturwiſſenſchaft
ift ung ein Buch mit fieben Siegeln, jeder Bankier ein Gauner, und wenn
ein Standesgenojje den Sinn des Wortes Arbitrage erflärt haben möchte,
fragen wir ihn, ob er unter die Einbrecher gehen wolle. Pit, Kinder: es iſt
jo. Die paar Edelleute, die in Induſtrie, Technik, Handel was vor ſich ge-
bracht haben, eine Bilanz lejen fönnen, in der weiten Welt ſich den Wind
um die Naje wehen lafien oder diejes mit Recht geichätte Organ in
Bücher ſtecken, ändern nichts an der Negel. Im Allgemeinen wiſſen wir
Nepoten nichts von Alledem, was heutzutage wichtig ift. Künftler, Gelehrte
dringen nicht in unjeren Dunfikreis und die Meiſten von uns ahnen nicht,
wie ſich der ſtädtiſche Induſtriearbeiter vom Aderfnecht und ländlichen Tage:
Löhner unterjcheidet. Folge: wenn Einer aus diefer Schicht entgletjt oder
verarmt, kann er mit Policen auf die Walze gehen oder drüben Kellner
218 Die Zukunft.
werden; weiter reichts gewöhnlich nicht. Andere Folge: Furcht vor jedem
struggle und Groll gegen die Hohen und Hödjften, die fich die Parvenus
nicht vom Yeibe halten. Mir war regis voluntas niemal3 suprema lex
und id) bin eher preußifch als kaiſerlich; aber hier fann id) nicht mit. Wir
haben den berliner Hof nicht gepachtet; und wenn von den neuen Yeuten mal
Einer ranfommt, entjpricht8 nur dem veränderten Stärfeverhältnig. Dieje
Gentry von vorgejtern hat Yeiftungen aufzumeijen, die aud) dem Staat ge:
nüst haben, und kann dem König allerlei Intereſſantes erzählen. Ich habe
fie von allen Seiten betrachtet. Der jehnlichjte Wunsch ift, ihre Yoyalität
in der Sonne jpaziren führen zu dürfen. Die demofratijchen Ideale wer den
unter dem Selbftloftenpreis verramicht. Wir haben oft genug im Glashaus
geiejfen, wollen die Steine aljo lieber liegen lafjen. Irgendwann wirds ja
zu einer Reibung fommen, die vielleicht ein Feuer anfacht; denn Induſtrie
ift ne Kulturform, in die gewiſſe altpreußifche Ideen nicht hineinpaffen.
Gegen Boltes Finis Borussiae ift nicht8 einzumenden; nur hatte diejes
Ende jchon längft angefangen, als der Erfte von Denen, die Ihr verächtlich
Hofjuden nennt, mit Lackſchuhen die Schwelle des Schlojjes betrat.
Mein Doktor (Der vom einfachen Abendejlen her) hatte fich in den
Ausdruck vernarrt und betheuerte, nirgends würden die Hofjuden unbarm—
herziger verhöhnt als in ihren Kreifen. Er rik die runden Augen auf, weil
ich jagte, der Hohn jei im Grunde thöricht und nur durch Neid zu erflären.
Mancher, der früher die Möglichkeit, von einem Hohenzollern angeſprochen
zu werden, fo fern wie die Wiederkehr des Chafarenreiches ſah, mag jett ja
den Kopf verlieren, wenn ein Deutfcher Kaiſer ihn als Geſprächspartner
einem Mandarinen vorzieht. Von der Sorte, die lang liegt, jobald eines
Prinzen Blick fie trifft, haben wir aber auch noch hübſchen Vorrath. Des
Doftors Hände ſprachen erft Zweifel an meiner Aufrichtigfeit, dann Zu—
verjicht aus; und ſchließlich Iprudelte das kluge Kerichen einen Triumph»
gejang hervor. Er jei zwar Sozialijt (unabhängiger natürlich) und made
fich nichtS aus Faxen. Aber die moderne Entwidelung führenun mal durd)
den Kapitalismus, aljo müſſe man wünjchen, daß er ſich auslebe. Ich habe
nicht Alles fapirt. Nur, daß mit den Thiergartenleuten jehr gut zu regiren
jet; ihre Moral ſei von der anderer Menjchentinder faum noch verjchieden
und fie haben aufgehört, lächerlich zu wirfen, jeit dichöhere Kultur die Kluft
zwiſchen Schein und Sein ausgefüllt habe. Dabei zappelte er, dat die Pin-
cenezgläfer auf dem Höder unruhig wurden und ich fürdhtete, num werde er
zum tötlicyen Streich gegen die Junker ausholen. Als ein Mann von feiner
Kultur erjparte er mir für diesmal aber den landesüblichen Schmerz.
Hofjuden. 219
Einerlei. Was er jagte, jtimmt aufs Haar. Kinder, wir find furcht—
bar zurüd. Wir fennen die Erdfugel nicht, wiſſen nicht, was hinter unſeren
ftandesgemäßen Scheuffappen vorgeht. In Frankreich, England, jogar in
Oeſterreich iſts anders; da hat ein großer Theil des Adels ſich modernifirt.
Man findet in den Schlöjjern berühmte Bilder und gute Bibliothefen, unter
Gelehrten und Künstlern alte Namen. Wir find anjtändig geblicben, aber
nicht recht vorwärts gefommen. Daß es an Talent nicht fehlt, zeigt das Bet:
jpiel vieler Offiziere, die auf den verjchtedenften Tyeldern zu Haufe find. Die
Luft fehlt, die Berührung mit einer Welt, die unſere Privilegien nicht mehr
anerkennt, die Nothwendigfeit, ich fürWettfämpfe zu trainiren und inBe-
reitichaft zu halten. Fett droht uns eine Gefahr, wie fie ärger fein gewalt-
jamer Umjturz der Staatsordnung bringen fönnte. Die Yeute, die einmal
ans Licht hinaufgelangt find, werden ſich oben feftbeißen und mit zäher
Schlauheit Alles verſuchen, um von perjönlicher Gunst zu politischer Macht
aufzufteigen. Ihre Waffen jind nicht von Bappe; und jie fönnen jich leicht
unentbehrlid) machen. Erjtens, weil fie in die Welt pafien, die nicht mehr
mwegzufluchen it, und über alles in diefer Welt Wichtige auf Anhieb Ausfunft
zu geben wijjen. Zweitens, weil ihr Intereſſe mit dem der berühmten Welt:
politik fich eine gute Strede vertragen fann, Friede, Flotte, Märkte, Er:
panjion und wie der Kram jonjt noch heißt: das Alles läßt ihren Weizen
blühen, während unferer dabei vor die Hunde oder vor die Argentiner geht.
Qui vivra, verra. Mitdem homburger Bahnhof, wo der Muth in der Bruft
unjererBieledlen und Getreuen jeineSpannfraft übte, hatsangefangen. Bald
wird es dicker fommen und fchlieglid) werden wir zur allerunterthänigften
Dppofition genöthigt fein und uns nicht rühren dürfen, wenn irgend ein
Herr Singer uns Vorleſungen über Bafallenpflicht hält. Hat auch gar feinen
Zwed, mit feinen Dlittelchen entgegenzumirfen; die Cache fommt doc und
die Konventilelweisheit ijt nur jchnöde Zeitvergeudung. Sehen Sie ſich mal
drüben den Kleinen an, ſagte mein Doktor; da unterdem Yeiftifow, Warum
ſoll Der nicht Handelsminijter werden? Die Sache verjteht er aus dem ff,
iit lange drüben in New:Morkgeweien, hat hier aus 'ner Spelunfe ein Rieſen—
geichäft gefingert, mit einer Organijation, die Ihre ſämmtlichen Oberpräji-
denten nicht fertig brächten, und mauſchelt nicht im Geringſten mehr.
Stimmt. Und diefer Typus wird dag Nennen machen; einerlei, ob er aus
der Gegend des Sinai oder vom Wupperthalftammt und ob wir ihn Konzefjion:
ſchulze oder Hofjude ſchimpfen. Es hat Neun gejchlagen. Angenehme Ruhe!
%
220 Die Zufunft.
Die Sufunft.*)
3 ift im gewiſſer Hinficht ganz unbegreiflich, daß wir der Zufunft nicht
kundig find. Ein Nichts würde wahrſcheinlich genügen, ein anderer
Verlauf der Hirnfafern, eine andere Richtung der Hirnwindungen, ein Fleines
Nervengefleht mehr, — und die Zukunft würde ji mit der ſelben Deutlich-
keit, der jelben majeftätifchen und unerfchütterlichen Fülle vor unferen Augen
entrollen, wie die Vergangenheit ih nicht nur am Horizont unferes perſön—
fichen Lebens, fondern auch an dem der Gattung, der wir angehören, entfaltet.
Es ijt eine eigenartige Schwäche, eine fonderbare Beſchränkung unferes Geiles,
die uns in Unwiſſenheit darüber läßt, was uns begegnen wird, obwohl wir
doch wiffen, was uns begegnet ilt. Von dent abjoluten Standpunkt aus,
zu dem unfere Borftellung ich erheben kann, obwohl fie nicht auf ihm zu
(eben vermag, liegt fein Grund vor, warum wir nicht fehen follten, mas
noch nicht ift, weil Das, was in Bezug auf uns nod nicht ift, doch noth—
wendiger Weile fchon vorhanden fein und ji irgendwo Fundgeben muß.
Sonft müßte man ja fagen, daß wir in Hinficht auf Alles, was die Zeit
betrifft, den Mittelpunkt der Welt bilden, daß wir die einzigen Zeugen find,
auf die alle Ereigniffe warten, um das Recht zu haben, in die Erfcheinung
zu treten und im dev ewigen Gefchichte der Urſachen und Wirkungen mit:
zuzählen. Aber es wäre eben jo widerjinnig, Das für die Zeit zu behaupten,
wie für den Raum, jene andere, etwas weniger unbegreifliche Form des
doppelten Myfteriums der Unendlichkeit, in dem unfer ganzen Leben ſchwebt.
Der Raum ift uns vertrauter, weil die Zufälle unferer organischen
Beichaffenheit uns in unmittelbarere Beziehung zu ihm jegen und ihn uns
greifbarer machen. Wir fönnen uns in mehr als einer Hinficht darin ziem-
lich ungebunden vor- und rüdwärts bewegen. Desha'b wird auch fein Neifender
die Behauptung wagen, daß die Städte, die er noch nicht befucht hat, erit
mit dem Augenblic zur Wirfichfeit werden, wo er lie betritt. Und doch iſt
Das fait das Selbe, wie wenn wir uns überreden, daß ein noch nicht ein=
getretenes Ereigniß noch fein Dafein beligt.
*, Ein Fragment aus dem neuen Wert Maeterlinds, das, unter dem
Titel „Der begrabene Tempel“, in den näditen Tagen bei Eugen Diederichs in
Leipzig erfcheinen wird. Der Ueberjeger, ‚Freiherr von Oppeln» Bronitomsti,
fagt in einer Vorbemerkung, der Titel bezeichne „den begrabenen Tempel in ber
Menſchenbruſt, das unbewußte, transjzendentale Ich, aus dem alle Götter her-
vorgegangen find und in das jie jetzt wieder zurüdtehren“, und nennt das Buch
eine Bhilojopbie des Unbewußten, die fi den Gedankengängen Dartmanns
nähere. Diejer zehnte Band der autorifirten, von Diederichs jehr hübſch aus—
geftatteten Gelammtausgabe der Werke Maeterlincks koſtet 4,50 Marf.
ee |
Die Zukunft. 92]
Aber ich habe nicht die Abficht, mich nach Erörterung fo vieler anderen
in das unlösbarfte aller Räthſel zu vertiefen. Wir wollen weiter nichts
fagen, al3 daß die Zeit ein Myſterium ift, das wir willfürlich in Vergangen—
heit und Zukunft getheilt haben, um zu verfuchen, Etwas davon zu begreifen.
An fich ift es fo gut wie ſicher, daß fie nur eine ungeheure, ewige, unbe:
wegliche Gegenwart ift, in der Alles, was gefchehen iſt und noch gefchehen
wird, unerfchütterlich befteht, ohne daß das Morgen fich, aufier in dem Kurz:
lebigen Menfchengeift, vom Geſtern oder Heute unterfchiede.
Faft follte man annehmen, der Menſch habe ftets das Gefühl gehabt,
daf eine einfache Schwäche jeines Geiites ihn von der Zukunft trennt. Er
weiß fie lebendig, vollftändig und wirkſam hinter einer Art von Wand, die
er jeit den erften Tagen feine Erjcheinens auf der Erde ımabläfjig um—
freift hat. Oder vielmehr: er weiß fie im fich und einem Theil feiner felbit
befannt, ohne dar diefe bedrüdende und beunruhigende Erkenntniß durch die
zu engen Kanäle feiner Sinne bis zu jeinem Bewußtſein empor zu dringen
vermag, das der einzige Ort ift, wo eine Erfenntnig Namen, nugbare Kraft
und gewiffermagen menfchlihes Bürgerrecht erwirbt. Nur mit ungewiſſem
Schimmer, durch zufällige und vorübergehendes Durchſickern, gelangen die
fünftigen Jahre, die ihn erfüllen und deren gebieteriiche Realitäten ihn von
allen Seiten umgeben, bis in fein Him. Er wundert fih, daß ein merk:
twürdiger Zufall diefes Hirn gegen die Zukunft, im die es doch fait ganz
eingetaucht ift, fo hermetiſch abſchließt wie ein verliegeltes, in einem endlofen
Meer ſchwimmendes Gefäh: das Meer drüdt und reizt, quält und liebkoft
es mit feinen Wogen, mit denen der Inhalt des Gefäßes ſich doch nie miſcht.
Zu allen Zeiten hat der Menfh nah Epalten in diefer Wand ge:
fucht und ji) bemüht, das Waller durch diefes Gefäß durchſickern zu Laffen
und die Wände zu durchbrechen, die feine Vernunft — die fait nicht? weis —
von feinem Inſtinkt trennen, der Alles weiß, ſich ſeines Wiſſens aber nicht
bedienen kann. Wie e8 fcheint, hat er mehrfach Glück damit gehabt. Es
gab immer Hellfeher, Propheten, Sibyllen und Zauberinnen, bei denen durch
eine Krankheit, durch ein von Natur oder durch Kunst hypertrophiiches Nerven:
fyitem ungewöhnliche Verbindungen zwiichen dem Bewußten und Unbewuhten,
zwifchen dem Leben de3 Einzelwefens und der Gattung, zwifchen dem Menfchen
und jeinem verborgenen Gott gefchaffen wurden. Sie haben von biefer
Möglichkeit eben fo unwiderrufliche Zeugniffe hinterlafien wie irgend ein
anderes hiſtoriſches Ereigniß. Doc waren dieſe feltfamen Deuter, diefe
großen geheinmißvollen Hyiterifchen, in deren Nervenbahnen Gegenwart und
Zukunft im diefer Weife freiiten und ſich vermifchten, eine Eeltenheit und
darum entdedte man empirische Methoden — oder glaubte, fie zu entdecken —,
um das ſtets gegenwärtige und bedrohliche Näthiel der Zulunft auf fait
222 Die Zukunft.
mechanifchen Wege entziffern zu fönnen. Man fchmeichelte fich, jo die uns
bewußte Weisheit der Dinge und Thiere zu befragen. Daher jtammt die
Deutung des Vogelfluges, die Weisfagung aus den Eingeweiden der Opfer:
thiere, au$ dem Lauf der Sterne, dem Feuer und Waffer, den Träumen, daher
ftammen al die Arten von Wahrfagefunft, die uns die alten Schrift:
fteller überliefert haben.
E3 hat mich gelodt, feitzuftellen, auf welchem Standpunft die Wiffen-
haft von der Zufunft heute fteht. Sie hat nichts mehr von dem Glanz
und der Kühnheit früherer Tage. Cie gehört nicht mehr dem öffentlichen
und dem religiöfen Leben der Volker an. Die Gegenwart und die Ver—
gangenheit enthüllen uns fo viele Wunder, daß jie genügen, um unferen
Durft nah dem Wunderbaren zu befriedigen. Wir witrden abgelenft durch
Das, was ift oder war, und haben jo gut wie ganz darauf verzichtet, Das
zu befragen, was fein könnte oder fein wird. Trogdem: diefe altehrwürdige
Wiffenfchaft wurzelt tief im dem untrüglichen menfchlichen Inſtinkt und ift
von ihm noch nicht aufgegeben. Sie wird allerdings nicht mehr am hellen
Tage geübt. Sie hat ji; in die düſterſten Winkel, im die vulgären umd
leichtgläubigen, unwiffenditen und verachtetejten Kreiſe geflüchtet. Sie benust
alberne oder Findlihe Mittel; und trogdem hat auch vie eine gewifle Ent:
widelung durchgemacht. Ste vernachläffigt die meiften Methoden der primi—
tiven Wahrfagefunit und hat dafür andere gefunden, die zum Theil wunder:
lich, zum Theil lächerlich find, und fie hat ih einige Entdedungen nusbar
gemacht, die keineswegs für fie beſtimmt waren.
Sch habe fie bis im ihre dunkelſten Schlupfiwinfel verfolgt. Ich wollte
ie jehen, nicht in den Büchern, fondern in ihrer Wirkſamkeit im wirklichen
Leben und im Kreis ihrer bejcheidenen Getreuen, die Vertrauen zu ihr haben
und alltäglich ihren Rath einholen oder ich von ihr ermuthigen laſſen. Ich
bin mit redlicher Abſicht Hingegangen, ungläubig, aber bereit, zu glauben,
ohne VBoreingenommenheit und vorgefaßtes Lächeln; denn wenn man fein
Wunder mit blinden Augen zugeben fol, jo ijt die lächelnde Blindheit noch
fchlimmer. In jedem hartnädig feftgehaltenen Itrthum birgt ſich gewöhnlich
eine vortreffliche Wahrheit, die ihrer Geburtitunde harrt.
Wenige Städte hätten mir eim weitere und fruchtbareres Feld der
Erfahrung geboten als Paris. Hier ftellte ich alfo meine Beobachtungen
an. Zum Beginn wählte ic den Augenblid, wo ein Vorhaben, deſſen Aus-
gang nicht von mir abhing, das aber von großer Tragweite für mich fein
munte, gerade im der Schwebe war. ch will nicht auf die Einzelheiten
diejer Angelegenheit eingehen, die an ih ganz belanglos ift. Es wird ge:
nügen, daß um diejes Vorhaben viele Ränke gefponnen waren und mehrere
mächtige Gegenwillen fich dem meinen widerfegten. Die Kräfte hielten ein=
Die Zulunft. 293
ander das Gleichgewicht und nach menſchlicher Logik war es unmöglich, vor
auszufehen, wer da8 Uebergemwicht erlangen würde. Ich hatte der Zukunft
alfo fehr bejtimmte Fragen porzulegen. Das ift eine nothwendige Vor:
bedingung; denn wenn Viele jich beflagen, fie fagte ihmen nichts, fo Liegt
Tas oft daran, dan fie jie zu einer Zeit befragen, wo ſich am Horizont
ihres Weſens nichts zufammenzieht.
Ich fuchte alfo nach einander die Aftrologen und Chiromanten auf,
die heruntergefommmenen, uns wohlbefannten Eibyllen, die fich einbilden, die
Zukunft in den Karten zu lefen, im SKaffeefag, in der Form, die ein im
einem Glas Waſſer aufgelöftes Eiweiß anninımt, und fo weiter. Denn
man darf nichts unterlaffen, und wenn der Apparat mandmal wunder:
lich ift, jo kommt es doc vor, daß fih ein Körnchen Wahrheit auch
unter den tollſten Praftifen verbirgt. ch ſuchte namentlid die berühmteiten
unter jenen Prophetinnen auf, die unter den Namen von Sommambulen,
Hellieherinnen, Medien ihr Bewußtfein mit dem Bewußtſein und felbit
einem Theil der Unbewuntheit der fie Beiragenden vertaufchen und, im
Grunde genommen, die unmittelbaren Erbinnen der alten Zauberinnen find.
Ih fond in diefer aus dem Gleichgewicht gekommenen Welt viel Schurferei,
Heuchelei und grobe Lüge. Doch ich hatte auch die Gelegenheit, gewiſſe ſeltſame
und umbejtreitbare Phänomene in der Nähe zu ftudiren. Sie genügen nicht,
um zu enticheiden, ob es dem Menfchen gegeben ift, den Schleier der
Illuſionen zu lüften, die ihm die Zukunft verbergen, aber fie werfen doc)
ein ziemlich feltfames Licht auf die Vorgänge an jenem Ort, den wir für
den unantajtbaren halten; ich meine das Allerheiligfte des verichütteten Tempels,
in dem unfere innigften Gedanken und die unbefannten Sträfte, aus denen
fie erwachſen, ohne unfer Wiffen kommen und gehen und taftend den ge=
heimnißvollen Weg ſuchen, der zu den fünftigen Ereignifien führt.
Es würde zu weit führen, wenn ich Alles erzählen wollte, was ich
bei diefen Prophetinnen und Hellfeherinnen erlebte. Ich will nur furz von
einem der fchlagenditen Experimente diefer Art berichten. E3 ſchließt übrigens
die Mehrzahl der übrigen ein und die Piychologie iſt bei allen ungefähr gleich.
Die Somnambule, die ich meine, ift eine der berühmteften in “Paris.
Cie behauptet, in ihrem hypnotiſchen Zuftande den Geiſt eines unbefannten
feinen Mädchens, das fie Julia nennt, zu infarniren. Sch mußte mid) jo
an einen Tifch jegen, dat er zwiichen ung war, und jie empfahl mir, Julia
zu duzen und fanft mit ihr zu reden, wie mit einem Kinde von lieben oder
acht Jahren. Dann verzerrten ji ihre Züge, ihre Augen und Hände, ihr
ganzer Körper einige Sekunden lang in unangenehmer Weile; ihre Haare
löſten jih auf und ihr Gelichtsausdrud war völlig verändert. Er wurde
naid und findlich und aus dem großen Körper Ddiejer reifen Frau drang
224 Die Zukunft.
eine fcharfe, Eare Kinderftimme, die mich etwas ftotternd fragte: „Was
willit Du? Haft Du Verdruß? Kommft Du Deinetwegen oder für einen
Anderen, um mid zu jehen?“ „Für mid.“ „Schön; willit Du mir
helfen? Führe mich in Gedanken an den Ort, wo Dein Verdruß iſt.“
Sch konzentrirte meine Gedanken auf den Plan, der mir am Herzen lag,
und auf die verichiedenen handelnden Perfonen diejes feinen, noch unaus-
gefrielten Dramas. Allmählich drang fie, nad einigem Hin= und Hertaften,
und ohne daß ich jie mit einem Wort oder einer Gefte unterftügt hätte,
wirklich in mein Denken ein, las darin wie in einem von dünnen Schleiern
bedeckten Buch, bezeichnete genau den Ort der Handlung, erfannte die Haupt:
perjonen und zeichnete ie ſummariſch mit Kleinen, edigen, kindlichen Strichen,
die aber wunderlich richtig und zutreffend waren. „Sehr richtig, Julia“,
fazte ich in diefem WAugenblid; „aber das Alles weiß ich ſchon; nun möchte
ich erfahren, was daraus entftehen, was noch fommen wird." „Was noch
fommen wird? ... Sie wollen willen, was noch fommen wird; aber Das
ift jeher Schwer zu fagen . . .* „Aber wie wird die Sache ſchließlich enden?
Werde ich gewinnen?“ „Sa, ja, ich fehe es; fürchte Dich nicht, ich werde
Dir helfen; Du ſollſt zufrieden fein...“ „Aber der Verdruß, von dem
Du mir erzählit; der Mann, der mir Widerſtand leiftet, und der andere,
der mir Böfes thun will . . .“ „Nein, nein, er will Dir nicht? thun; es
ift wegen einer anderen Perſon ... ch fehe nicht, warum . . . Er haft
fie... D ja, er haft fie, er haft fiel... Und gerade, weil Du fie
fiebjt, will er nicht, daß Du für fie thuft, was Du thun möchtet... .“
(So war es au!) „Aber fchlieglich“ (ich bejtand auf meiner Frage) „wird
er bi8 and Ende gehen und nicht nachgeben?" „O, Das fürdte nit...
Sch fehe, er iſt Frank, er wird nicht mehr lange leben.“ „Du irrſt, Julia;
e3 geht ihm ſehr gut; ich habe ihm vorgeftern gejehen.“ „Nein, nein, Das
macht nichts; er ift franf .. Man fann e8 nicht fehen, aber er ift fehr
krank . . . Er wird bald ſterben . . .“ „Aber wann denn und wie?" „Es
it Blut auf ihm, um ihn, überall ...* „Blut? Etwa ein Duell?" (ch
_— Artte einen Augenblick daran gedacht, eine Gelegenheit zu fuchen, um mich
mit meinem Öegner zu fchlagen.) „Ein Unfall? Ein Mord? Eine Rache?“
(Er war ein ungerechter, ffrupellofer Menfch, der vielen Leuten viel Böfes
zugefügt hatte). „Nein, nein! Frage mich nicht weiter, ich bin jehr müde...
Lan mich gehen . . .“ „Nicht, ehe ich weiß . . ." „Nein, ich fann nicht
mehr jagen... Ach bin zu müde... Laß mich gehen... Sei gut,
ih will Dir auch helfen... .“
Der ſelbe Krampf, der den Körper im Anfang verzerrt hatte, trat
abermals ein und die Kinderftimme fchiwieg; die Geſichtszüge der Vierzig-
jährigen traten wieder auf daß Gejicht der Frau, die aus einem langen
— — —
Die Zukunft. 225
Schlaf zu erwachen ſchien. Brauche ich hinzuzufegen, daß wir uns vor
diefer Begegnung nie gefchen hatten und daß wir ung eben fo wenig fannten,
wie wenn wir auf zwei verſchiedenen Planeten geboren worden wären?
Aehnlich, wenn auch mit weniger charakteriftifchen und zutreffenden
Einzelheiten, waren im Ganzen die Nefultate bei den Hellfeherinnen, bie
wirklich eingefchlafen waren. Um eine Art Gegenbeweis zu führen, ſchickte
ich zu der Frau, die „Julia“ zu ihrer Dolmeticherin erwählt hatte, zwei
Perfonen, deren Berftand und Nechtichaffenheit mir befannt war. Sie
hatten der Zukunft, ganz wie ich, eine wichtige und präzije frage zu ftellen,
die nur ein befonderes Glüd oder Schidfal beantworten fonnte. Der Eine be=
fragte fie über die Krankheit eines Freundes; Julia jagte feinen baldigen Tod
voraus. Ihre Weisfagung wurde durd) die Thatfachen beftätigt, obwohl in dem
Augenblid, wo jie ausgeſprochen wurde, die Heilung ungleich wahrfcheinlicher -
war als der Tod. Der Andere fragte fie nach dem Ausgang eines Pro—
zefles: fie gab ihm eime ziemlich ausweichende Antwort; dagegen bezeichnete
fie ihm ohne Aufforderung die Stelle, wo ein für den Fragenden fehr werth:
voller Gegenftand zu finden fei, der oft vergebens gefucht worden war und
an den der Frager felbit nicht mehr dachte. Was mich betraf, jo ging Julias
Prophezeihung zum Theil im Erfüllung; ich trug in der Hauptfache zwar
feinen Sieg davon, aber die Angelegenheit wurde doch auf eine befriedigende
Weile geregelt. Der Tod des Gegners ijt noch micht eingetreten und ich
erlafje der Zukunft gern das Verfprechen, daß fie mir durch den unjchuldigen
Mund jenes Kindes aus einer unbekannten Welt gab.
Es ift fehr erftaunlih, dar man fo in die lette Zufluchtftätte eines
Weſens eindringen und bejfer als es jelbit Gedanken und Gefühle darin
lejen kann, die manchmal vergefien oder verworfen, aber ſtets lebendig oder
bie noch ungeboren find. Es ift fürwahr beängjtigend, daß ein Fremder in
unſerem eigenen Herzen weiter fommt als wir ſelbſt. Dergleichen wirft ein
feltfjames Licht auf die Natur unferes Innenlebens. Die Borlicht, die ung
hindert, aus uns herauszugeben, nützt nicht; unfer Bewußtſein iſt nicht ein=
gedämmt; es flieht, es gehört uns nicht mehr an, und wenn es auch befon=
derer Umjtände bedarf, damit ein Anderer dahin vordringen und Beiig davon
ergreifen fann, jo iſt doch gewiß, daß unfer „inneres Forum“, wie man es
mit jener tiefen Intwition genannt hat, die oft in der Etymologie der Wörter
liegt, wirklich ein Forum — Das heißt: ein gerjtiger Marftplag — ift, wo
die Mehrzahl Derer, die Geſchäfte haben, nad) ihrem Belichen fommt und
geht, ihre Blicke herumfchweifen läßt und ſich die Wahrheiten auf eine ganz
andere und viel freiere Weiſe ausjucht, als wir bis auf diefen Tag je an—
nehmen zu dürfen geglaubt haben,
Uber Laffen wir diefen Gegenſtand, dem unfer Studium nicht gilt.
226 Die Zutimft.
Was ih in Julias Weisfagungen erklären wollte, ift der Theil des Unbe—
fannten, der mir felbit fremd war. Ging fie über Das hinaus, was ich
wußte? Ich glaube: Nein. Der glüdliche Ausgang der Angelegenheit, den jie
mir weisfagte, war ungefähr der, den ich vorherfah und den mein Inſtinkt
in feinem egoiftifchen und mneingeftandenen Theile lebhafter herbeiwünſchte
als den vollitändigen Triumph, den zu erftreben und zu erhoffen mir ein
anderes, edleres Gefühl zur Pflicht machte, den ich jedoch im Grunde als
unmöglich erfannte. ALS jie mir den Tod des Gegners verfündete, offen:
- barte fie nur ein geheimes Verlangen des jelben Inſtinktes, einen jener feigen
und ſchändlichen Wünfche, die wir vor uns felbit verbergen und bie jich nicht
bis in unfer Denken hinaufmagen. Eine wirflihe Wahrfagekunft gäbe es
nur dann, wenn diefer Tod wider alle8 Erwarten, wider alle Wahrjchein-
lichkeit bald einträte. Aber felbft wenn er bald und unverhofft einträte, fo
wäre es doc) nicht die Pythia gewefen, die in die Zufunft eingedrungen ift,
fondern ich, mein Inſtinkt, mein unbewußtes Wefen hätte ein Ereigniß vor-
hergefehen, an das es gefnüpft war. Sie hätte in der Zeit gelefen, nicht
unmittelbar und wie im einem Buche, in dem Alles zu lefen ftcht, was ges
ichehen wird, jondern durch da8 Medium meiner Perſon, in meiner befon-
deren Intuition hätte fie gelejen und weiter nichts gethan als überfet, was
meine Unbewurtheit meinem Denfen nicht zu jagen vermochte.
Das Selbe trifft, denke ich mir, für die beiden anderen Perjonen zu,
die ihren Nath einholten. Der Eine, dem fie den Tod feines Freundes weis-
fagte, hatte, troß der Beruhigung, die feiner Freundichaft die Vernunft ein=
ſprach, wahrjcheinlich die innere Ueberzeugung, daß der Kranke fterben werde.
Aber diefe Ueberzeugung, ſei fie natürlich oder Hellfeherifch, war von ihm
energiich niedergefämpft worden und die Somnambule entdedte fie nun in—
mitten der holden Hoffnungen, die fie zu betrügen trachteten. Der Andere
fand unverhofft einen verlorenen Gegenjtand wieder; aber es ijt fchwer, den
Geiſteszuſtand eines anderen Menjchen genau genug zu fennen, um entfcheiden zu
können, ob hier ein Zweites Gejicht oder einfach eine Rüderinnerung vorlag.
Wußte er, der den Gegenitand verloren hatte, wirklich nichts mehr davon,
wo und unter welchen Umjtänden ev ihn verloren hatte? Er behauptet: Fa;
er habe nie die geringite Ahnung gehabt, fei im Gegentheil überzeugt gewejen,
daß der Gegenitand nicht verloren, fondern geftohlen war, und habe ftet$
einen feiner Dienjtboten in Verdacht gehabt. Aber es ift möglich, daf, während
fein Verstand, fein waches Ich nicht darauf achtete, der unbewußte und gleich:
ſam fchlafende Theil feines Ich den Drt, wo der Gegenftand hingelegt wurde,
fehr wohl bemerft und ih an ihn erinnert hat. Durch ein nicht minder
überrafchendes Wunder, das aber einer anderen Ihatjachenreihe angehört,
hitte die Somnambule dann die latente, faſt animalifche Erinnerung wieder:
Die Zukunft. 227
gefunden, aufgewedt und ans Licht des Menfchlichen geführt, zu dem fie
vergebens emporzudringen getrachtet hatte.
Sollte Das für alle Prophezeiungen gelten? Die Weisfagungen der
großen Propheten, der Sibyllen, Pythien und Zauberinnen: wären fie viel-
leicht nichts geweſen al8 ein Wiberjpiegeln, ein Ueberfegen und Hinaufheben
in die BVerftandeswelt jener inftinftiven Hellichtigfeit der Einzelweſen und
Bölker, die ihren Sprüchen laufchten? Möge Jeder die Antwort oder Hypo—
theſe wählen, die ihm feine eigene Erfahrung zuflüftert. Ich habe die meine
mit der Einfalt und Aufrichtigfeit gegeben, die eine Frage der Natur erheifcht.
Trogdem wiederhole ich: es ift faft unglaublich, da wir nichts von der Zu-
funft willen. Ich denke mir, daß wir ihr ähnlich gegenüberftehen wie einer
längft vergeffenen Vergangenheit. Wir fünnten uns ihrer erinnern. Einige
Thatſachen fprechen für diefe Annahme, die wir nicht ausfchliefen dürfen.
Es würde fih darum handeln, den Weg zu diefem Gedächtniß, das ung
vorausgeht, zu entdeden oder wiederzufinden.
Ich verftehe, daß wir nicht befähigt find, die Ummwälzungen der Elemente,
das Geſchick der Planeten, der Erde, der Reiche, der Völker und Nafien
vorauszufehen. Das berührt und nicht unmittelbar und wir fennen es in
der Vergangenheit nur durch die Kunſt der Geſchichtforſchung. Aber was
uns unmittelbar angeht, was uns erreichbar ift und ſich im unſerer kleinen
Lebensiphäre abrollen muß, die Ausfcheidung unſeres geiltigen Organismus,
die und in der Zeit umgiebt, wie die Mufchel oder das Cocon die Molluste
oder Seidenraupe im Raume umgiebt, — Dies und alle äußeren Ereigniffe,
die darauf Bezug haben, find mwahrfcheinlich in diefe Sphäre eingefchrieben.
Auf jeden Fall wäre Das viel natürlicher, als es verftändlicd wäre, wenn
es nicht jo if. Es handelt fih hier um einen Kampf von Wirflichfeiten
mit einer Illuſion und nichts verbietet ung die Annahme, daß hier, wie überall,
die Wirklichkeiten ſchließlich der Illuſion Herr werden. Die Wirklichkeiten:
Das ift, was un begegnen wird und in der Gefchichte, die unſere überragt,
in der unbeweglichen, übermenfchlichen Gefchichte der Welt fchon begegnet ift.
Die Illuſion: Das ift der undurchfichtige Schleier aus jenen vergänglichen
Fäden, die wir Geftern, Heute und Morgen nennen und über diefe Wirklich:
feiten weben. Aber es ift nicht unumgänglich nöthig, daß unfer Weſen
ewig im Bann diefer Jlujion bleib. Mean kann jich fogar fragen, ob
unfere außergewöhnliche Ungefchidlichfeit im Erkennen eines jo einfachen, jo
unbeftreitbaren, vollfommenen und nothiwendigen Dinges, wie die Zukunft
eins ift, für den Bewohner eines anderen Sterns, der uns befuchen käme,
nicht ein Anlaß zur größten Verwunderung wäre...
Die Zukunft ift, wie Alles, was beiteht, wahrfcheinlich logischer als die Logil
unferer Einbildungsfraft; und all unfer Zaudern, all unfere Ungewifheiten find
228 Die Zukunft.
mit in ihre Vorausſicht einbegriffen. Und wir wollen nicht etwa glauben, daß der
Gang der Ereignifie völlig umgeworfen würde, wenn wir ihn im Voraus fännten.
Zunächſt würden die Zukunft oder einen Theil von ihr nur Die kennen, die fich
die Mühe gäben, fie zu erforschen, wie die Vergangenheit oder einen Theil
ihrer eigenen Gegenwart nur Die kennen, die den Muth und Berjtand gehabt
haben, fie zu befragen. Wir würden uns den Lehren diefer neuen Wiflen-
fchaft eben fo raſch anbequemen, wie wir uns denen der Geſchichte angepaht
haben. Wir würden alsbald zwifchen den Uebeln unterfcheiden, denen wir uns
entziehen fönnten, und denen, die unvermeidlich find. Die Weifeften würden
die Geſammtſumme diefer Uebel für fich vermindern und die Anderen würden
ihnen entgegengehen, wie jie heute vielen gewiſſen Unglüdsfällen entgegen-
gehen, die jich Leicht vorausjagen laffen. Die Summe unferer Verdrießlich—
feiten würde etwas geringer werden, aber weniger, als wir hoffen, denn
unfere Vernunft vermag bereit3 einen Theil unferer Zukunft vorauszufehen,
went auch nicht mit der materiellen Sinnfälligfeit, von der wir träumen,
jo doc mit einer oft hinreichenden moralifhen Sicherheit; und wir fehen doch,
daß die meiſten Menfchen aus diefer jo leichten Vorausficht feinen Nuten zu
ziehen wiljen. Sie würden den Rathichlägen der Zukunft ihr Ohr verſchließen,
wie jie die Warnungen der Bergangenheit hören, ohne ‚fie zu befolgen.
Paris. Maurice Maeterlind.
Waldgejicht.
Ir dem weiten, weiten Walde tobte Gewitterzorn. Naufchend brachen die
8* entfeſſelten Waſſer aus den ſchwarzen, ſchweren Wolkenſäcken in die
Wipfel und Kronen hernieder, als wollten ſie ſie zerdrücken, zerſchmettern mit
ihrer Wucht; und wenn droben über der bangenden Welt der Gewittertyrann
brüllend ſeine Flammenpeitſche ſchwang, dann ftanden fie alle, die Bäume, athem-
los, wie zu heldenhaftem Dulden gewillt, wie jchweigend bereit, zu fterben.
Da kams unter den flimmernden, mildigen Schleiern der ftürzenden
Regengüſſe einhergejchlüpft, gehüpft, fchattenhaft, menſchenähnlich: ein altes, ver—
hugeltes Weibchen, den Nod über den Kopf geichlagen, da ihr Eulengefichtdhen
ſchier verſchwand; erbarmen hätts Einen mögen! Uber da drunten die dürren
nackten Beine jprangen jo hurtig und federnd iiber die ſchlüpfrigen Pfade dahin,
über die Inorrigen Baunmvurzein, daß cs zum Staunen war. Hin und wieder
Waldgeficht. 229
redte fie jchnobernd die jpite Naje himmelan, Iugte jchlau dur die Zweige in
die Wolkennacht da oben, nidte und mederte: „Nur zu, Better, nur zu!*
Schüttelte vor Lachen ihre Lumpen und ſprang in Niejenfägen über die Waſſer—
lagen wie ein muthwillig Hidlein, jobald der rothe Dahn des Himmels feine
breiten Klammenfittiche über den jtahldunklen Wolfen jchüttelte und die Yüfte
von einem prajjelnden Poltern erbebten, als jtürzte da oben hinter Wolfen:
bergen eine reiche Stadt mit Häuſern, Thürmen, Kirchen und Baläjten um ihrer
Sünden willen in Trümmer und Berwüjtung. Himmelangſt fonnte Einem
werden! Aber die Alte? Scheint ja mit dem ſchwarzen Gewitter auf Du und
Du! Da... verichwunden war jie in Negenjchleiern und Waldjichatten!
Ganz weltvergejfen inmitten des großen Waldes lag ein venwittertes
Blodhaus, tot, verſchloſſen. Wer es gebaut: fein Menjcd weiß es, nod, wen
es gehört, wozu es gedient; ob fürftlichen Jägern ein Unterjtand, ob jchuldiger,
weltflüchtiger Yicbe eine verjchwiegene Hut? Die Fenſter waren längit erblindet,
von Luft und Regen zerjegt jchillerte das Glas in allen Negenbogenfarben, in
der Mitte das niedere Thürchen ſaß wie eingewadjen in feinen Fugen, das
Schloß daran war mit braunem, förnigem Roſt dicht bededt. Uber vor der
Thür ſtreckte fich ein breit ausladendes Ueberdach, an den beiden Eden vorn von
zwei morjchen Holzläulen gejtüßt, bedeft mit bunten, zottigen Moospolitern,
der alten Eiche entgegen, die um des verjchollenen Häuschens Geheimniß wußte;
aber die ſchwieg. Die Menſchen der nahen Stadt, wenn fie in Waldesmitten
von Unwetter überrajcht wurden, flüchteten gern in die Hut des breitichattenden
Vordaches. Nach dem Häuschen ſelbſt und feiner Vergangenheit zu fragen, hatte
die Neugier längſt aufgegeben; nur Beeren juchende Kinder träumten fi um
die Abendjtunde dort gern Märchen und Wunder, flüfterten, wenn fie vorbei-
ſtrichen; kecke Knaben drüdten das Näschen an den blinden Scheiben breit, rannten
dann, von plöglihem Grauen gepadt, davon, logen den Spielkameraden Wımder-
dinge vor, die jie da drinnen gejehen hätten, und glaubten fie jelbit. Sonit
aber war und blicb das alte Blodhaus eben ein Leichnam; genug: unter jeinem
Dache war gut fein, wenn ringsum Negen in die Wipfel ranicte.
Auch heute hatten fich zwei verirrte Menjchenkinder dort gefunden, fremd
einander. Er hatte lähelnd an feinen Hut gefaßt und zu der Unbekannten ge
fagt, — was man jo jagt: „Ein Schönes Wetterchen, nicht wahr?“ Sie hatte
leije nur den Kopf geneigt, höflich gelächelt und geſchwiegen. Nun jtand er
vorn, ganz vorn, und jchaute mit Yuft und Grauen in den Aufruhr; fie aber
ſaß hinten im Schatten, auf dem Bänkchen aus Birkenholz neben der Thür,
hatte die Kleinen Füße über einander gelegt, das Köpfchen mit dem breiten
Sommerhut tief geneigt und bot in ihrer Negunglofigfeit das Bild grenzenlos
ergebener Geduld; aber bei jedem knatternden Schlage, wenn ihm in aufathmender
Kraft die Bruft fich hob, fuhr fie leile zufammen, ſchaute mit großen, bangen
Keinderaugen in das Wetter und warf einen ſcheuen Blick auf den fremden
Mann, der jeine Luft an den Scrednifjen zu haben ſchien. So harrten die
Zwei, ohne ein Wort zu wechſeln, lange. Dann lie die Leidenſchaft der Wetter-
gewalten nad), der Negen nur jtrömte undermindert; dod) wars ein jtetes, reiches
Strömen, nicht mehr das ungeſtüme Niederpeitichen, das prajjelnde Nieder-
ſchleudern unerhörter Waffermajjen, als ob da droben Titanenarme einen Rieſen—
17
230 Die Zukunft.
eimer nad dem anderen hernähmen und fluchend über der Welt umftürzten.
Schon juchte des jungen Mannes Blid den Himmel: er war nod) dunkelgrau.
Nun muß ich aber Eins verrathen: die Zwei, die fi da unter dem
Schutzdach getroffen hatten, waren nicht allein. Sie wußten nichts davon, daß drinnen
im Blodhaus die Alte lauerte. Wißt hr? Die Alte, die wir vorhin durd)
den Wald jchlüpfen jahen. Wie fie hineingefommen und warn? Sch weiß es
nicht. Was fie drinnen zu Schaffen hatte? Fragt fie jelbjt! Wenn man genau
bingudte, jo jah man über dem Haupte des Mädchens das verwitterte Fenſter
offen und das alte wunderliche Alraunengejicht ftarrte heraus. Das heit... .
Nein! Wenn man ganz genau binjah, war Alles wie immer: die blöden, blinden
Scheiben des feitgeihloffenen Fenſters jchillerten blau und grün. Uber doch
ſchaute fie heraus, und zwar mit einem eigenen Blid und Ausdrud. Ihr großes,
gewichtiges Zigeunerantlig, dem ſilberweiße Haarjträhnen ſich voll um eine ſchöne
Stirn fchmiegten, trug den Ausdrud ftarren Staunens, angitvoller, entjeglicher
Spannung und die übermächtigen, geheimnißvollen Augen jprangen ficberwild
hin und her, von ihm zu ihr, von ihr zu ifm. Was jah fie nur an den be-
ſcheidenen Menjchentindern, die böfe Trude? E3 war nämlih ein eigen Ding
um diefe Augen. Das waren nicht Augen irdiicher Art: fie jahen die Dinge
diefer Welt licht und jcharf, aber dazu Alles, was hinter den Dingen lag, ihr
Woher und Wohin. Das merkte man ihnen an. Sie jahen Gedanken in der
Menihenbruft verichwiegener Tiefe und hinter den Gedanken die That, ganze
Geſchlechter von Thaten: und hinter Gedanken und Thaten der Thaten und
Gedanken Segen und Fluch; fie jahen, wenn fie als Nahtmahrt in die dumpfen
Sclaffammern jchlüpfte und fi Über die jchwer athmenden Menſchen beugte,
tief im Dirn und Buſen der Gequälten die Träume, die fi ballten aus Schuld
und Neue; fie jahens, wenn in ſchmutzigen Nebelgewanden eine ihrer häßlichen
Muhmen vom trüben Horizont heranſchritt, eine Seuche, hinter ihr her eine
Scattenprozejfion von Särgen und Yeidtragenden; vorn Die in prächtigen Zeichen:
wagen, deren ſchwarz verhüllte Roſſe fchnaubend ſchwarze Federbüſche auf den
Köpfen jchüttelten und zierlich die Hufe hoben und fegten nad) den Stlängen pomp—
hafter Trauermuſik; dahinten die Neihen Derer, die einen jchmudlofen Tannen»
ſchrein auf müden Schultern eilig zum Kirchhof jchleppten, wie man einen Raub birgt.
Und was jahen fie hier? Ein geheimes Leben, Werden und Wollen:
wie einen jchimmernden Kranz, wie die Feuer von Sanft Elms fjahen die
Wunderaugen Etwas um der Beiden.Häupter geijtern; weiter und lichter wurden
die Aureolen, Funken jprangen daraus; und jeßt, jetzt dehnten fie fich, reckten
fie fi, die Lichtkränze, baujchten fih auf, durchbrachen die Rundungen, ftrebten
lihtathmend, jchwellend einander entgegen, Funken flogen in Enifterndem Aus:
tauſch aus des einen Lebens Bannfreis in den des fremden. Der Jüngling
riß den Hut vom Kopfe, trodnete jih den Schweiß; von der Stirn; ein unrubhiges,
grund» und finnlojes Berlangen quälte ihn, die Fremde -anzufchauen, — nur
anzujchauen? Es fochte in feinen Adern, braufte in feinen Scläfen. Er ging
mit aufgeregten Schritten ab und zu und murmelte, um nur Etwas zu jagen,
halb zu ihr gewandt, und erichraf vor feiner fremden, heiferen Stimme: „Lang:
weilige Geſchichte, gelt?* Sie antwortete nicht; ihr Gefiht war tiefer gefentt,
verſchwand ganz im Schatten des breiten Hutes; jo jah er nicht, daß fie, toten»
Baldgeficht. 231
bleich, leidend, die Augen geichloffen hatte, die Lippen zujammenpreßte, wie
um einen Schrei zu erjtiden. Ein unerflärlihes Schwäcdegefühl, Angſtgefühl
überwältigte fie; ihr Herz pochte, als wollte es ihre Bruft zerjchlagen. „Was
ift mir nur? Nur nicht krank werden! Hier! Wo der Fremde mir helfen
müßte!” Inzwiſchen ward es dämmriger. Der Regen raujchte fort. Nun aber
ſah die Trud in dem Dämmergrau mit entjegten Mugen ſich Gejtalten formen:
jah, wie das Weib, das da in den Schatten gedudt ſaß, zag und jcheu, ſah,
wie das jelbe Weib in jelbjtvergeffener Wonne zwei volle nadte Arme um den Hals
jenes Mannes dort jchlang, wie Mund an Mund, Bruft an Bufen fich preiten,
lange, lange, wie Mann und Weib Seele in Seele tranften! Dann, — dann
wanfte, verſchwamm dies Bild der Vereinigung; dem Dämmer entfeimte ein
roſiges Kindergeficht, das Kind, gezeugt von diefem Mann, von diejem jungen
Weibe geboren; es mwechjelte, wuchs, ward ein troßig-chöner Snabentopf, warf
bald aus einer gebietenden, lichten Jünglingsſtirn mit herriſchem Ruck eine
üppige Zode zurüd... Die Alte zitterte, ihre Lippen lallten: „Halt ein! ...“
Aber das Haupt erhob jich föniglicher, in feinen Augen flammten alle Gnaden
des Himmels, alles Erfühnen der Menjchenart, alle Wahrheit und aller Betenner-
muth und alle Liebe. Tauſenden wollte er Erlöfung bringen, Troſt und Frieden!
Das Geſicht der Alten ftierte weiß und verzerrt wie ein Daupt, das ein Henker
vom blutigen Blocke hebt und der fchaudernden Menge zeigt, mit glafigen Augen
auf den gewaltigen Heilandsfopf. Das jcheue Mädchen athmete ſchwer, als
wolle es jterben, der Jüngling lehnte fi taumelnd an einen der Holzpfeiler und
jchalt ſich jelbjt Feuchend: Gefpenfterfcheuer Narr Du! Und Fäden, Fäden werden-
der Geſchicke jpannen fi herüber und hinüber, von ihm zu ihr, von ihr zu ihm.
Die Ulte jah fie flimmern und phosphorijch leuchten, in Funken kniſtern.
Da, mit einem Rud, ließ der Regen nad). Noch einige ſchwere Tropfen
hie und da; die Bäume fchüttelten fih und athmeten auf; duftende Neinheit
webte fühl herein. Einen jcheuen Blid halb über die Schulter werfend, linkiſch
den Hut lüftend, ftürzte der Nüngling davon. Das Geficht der Alten ftrahlte
in breitem Grinjen. Das Mädchen wartete noch ein Weilchen; fein Schritt
war bald verflungen. Dann hob ein tiefer, tiefer Seufzer ihren unjchuldigen
Buſen, al3 athme fie ſich die Laſt eines ganzen Lebensgeſchickes, Mariengejchides
von der Seele. Sie faßte fih an die Stimm, jehüttelte lächelnd den Kopf:
Was wars nur? Was? Dann fchürzte fie ihre Nöde forgjam, ergriff den
Feldblumenſtrauß und schlug ſich linkswärts in den Wald. Rechts war er gegangen.
Dinter ihr drein klang mederndes Lachen: Wieder nichts! Wieder nichts!
Alles bleibt Hübjich beim Alten! Die große Mutter ift dod; gar zu dumm umd
'ne ſchlechte Wirthin! Sclaft hübſch weiter, Menſchenwürmer, meine Naben
fliegen noch lange, lange! Ui Jegerl: Das muß id doc Heute nachts den
Schweitern am Kreuzweg erzählen!
MWaidmannsluft. Eberhard König
nn
17”
232 Die Zufmit.
Bilderbücher.
In ratur möchte ich zwei neue Bücher von Echulge-Naumburg nennen
— Hulturarbeiten, Band I, Hausbau (Kunftwartverlag, München)
und Die Kultur des weiblichen Körpers als Grundlage der Frauenfleidung
(Diederiche, Leipzig) —, obwohl diefer Name in unferer Zeit nicht fchmeichel:
haft klingt. Es ift für den Charakter unferer Kultur ſehr bezeichnend, welchen
Sinn das Wort für uns angenommen hat: Bücher, mit denen man Kleine
Kinder unterhält, mit deren Hilfe man ihnen vielleicht auch allerlei Ideen
und Vorftellungen beibringt, denen aber der Begriff des Kindifchen, Spiele—
riſchen feft anhaftet. Ein Theil diefer Geringihägung geht fogar auf die
wiſſeuſchaftlichen Werke über, die mit Abbildungen „verfehen* jind. Oder
wenn nicht auf das ganze Werk, fo werden doch die Bilder in den weitaus
meisten Fällen al3 cine unterhaltende Beigabe, als eine Art Ejelöbrüde des
Gedankens betrachtet. Die Thatfache, daß diefe „VBeigabe* für gewiſſe Materien
vollfommen unentbehrlich ift, ja, das zugejtandene Prinzip, dar „Anſchauung
die Grundlage aller Erkenntniß fei*, ändert daran nichts. Den eigentlichen
Wiffensgehalt des Buches fucht man im Wort. Das ift natürlih und jelbit-
verftändlich, wenn es fi) um Gebiete des Denkens handelt, die ganz und
gar im Bereich de8 Sprachdenfens liegen, fehr merkwürdig aber auf dem
Gebiet der Nealwifienfchaften, die den überwiegend größten Theil ihrer Er-
fahrungthatfachen auf dem Wege des Anfhauungvermögens erhalten. Warum,
zum Beifpiel, halten wir die Wortbeichreibung eines Anatomiebuches: „Der
Körper befteht aus diefen und jenen heilen, feine Muskeln und Sehnen
fegen bier und dort an, haben diefen und jenen Verlauf, die eine oder andere
Wirkung“ für Uebermittelung eines Willens, die entiprechende Zeichnung
daneben aber für Beigabe, auf die fich die Wortbefchreibung zwar beziehen
kann, die aber für jich allein bedeutunglos bliebe? Knochen, Muskeln, Sehnen,
Geſäße u. f. w. find in der Zeichnung durch ihr Aussehen deutlich getrennt, che
diefe Trennung durch das Wort angezeigt wird; über räumliche Lage, Form, Farbe
und Geftaltung der Oberfläche macht das Bild Angaben, gegen die gehalten
die Bezeichnungen durch das Wort fchattenhafte Winfe, nicht eindeutige
Beitimmungen find; ſelbſt für die zeitlich ſich vollziehende Entwidelung oder
Wirfung einzelner Organe hat die bildliche Darftelung Ausdrudsmöglic-
keiten, Die dem Wort allein zuftehende Namengebung tft fein wejentliches
Beitandtheil der Erkenntniß, fondern eim Hilismittel der Verjtändigung, das
beim bildlihen Ausdrud völlig gegenitandlos wird. Wenn man eine Dar:
ftellung durd) Worte als bejonders vorzüglich bezeichnen will, fo nennt man
fie „anſchaulich“. Iſt Tas die Abbildung nicht noch viel mehr?
‚Daran, dat der Thatfacheninhalt der Abbildung ein geringerer wäre
Bilderbücher. 233
als der der Wortbeſchreibung, kann der Unterſchied in der Werthſchätzung
Beider alſo nicht liegen. Und doch iſt er uns ſo ſelbſtverſtändlich, daß wir
faum noch nach Urſache und Berechtigung fragen. Man verſtehe mich recht:
es giebt ja Fälle genug, wo wir die „Abbildung“ über den „Text“ eines
illuſtrirten Werkes ſtellen, beſonders, wenn der Text recht ſchlecht iſt. Meiſt
meſſen wir dann aber dem Bild einen beſonderen „künſtleriſchen“ Werth bei,
deſſen Bedeutung wir als eine ſehr ſtrittige kennen, von dem wir nur zu
wiſſen vermeinen, daß er nicht in der Uebermittelung von Kenntniſſen be
jtehen darf. Für mic aber handelt es fich gerade um die Frage, inwieweit
die zu einem Werke wiſſenſchaftlichen Charakters gehörige Jlluftration parallel
dem Wort, aber unabhängig von ihm, ein Wiffen und Denken zu übermitteln
vermag. Und bei diefer Frage eben treffe ich auf die allgemeine Annahme,
daß das Denken erſt da beginne, wo fich der Inhalt der Sinneswahrnehmung
in Worte umfegt, daß folglich eine Vermittelung des Denfens auch nur
durch Worte vor ich gehen fönne. Machen wir und an dem vorhin ges
wählten Beijpiel Far, worauf diefe Annahme beruht. Nenn man ftatt der
Abbildung eines anatomischen Werkes einem wirklichen anatomischen Präparat
gegenüberfteht, fo befigt man zweifellos deſſen Anfchauung in viel vollkom—
menerem Mae, als je eine Abbildung fie zu vermitteln vermag. Trotzdem
wird das bejchreibende Wort, fei es nun gefprochen, gedruckt oder nur gedacht,
diefe Anfchauung erjt „anſchaulich“ machen, indem es zunächft die Geſammt—
ericheinung in Theile zerlegt, einzeln benennt, diefe wieder in Theile und fo
fort, dann diefe Theile wieder zu zweien oder mehreren zujfammenordnet umd
fo fchlieklich ein fyftematifch aufgebautes, im ſich gegliedertes Bild ftatt des
einfahen Spiegelbildes auf der Netzhaut entjtehen läht. Zugleich ſetzen die
dabei nothwendig angewandten Gattungbezeichnungen das Objekt und feine
Theile in Zufammenhang mit anderen bereits vorhandenen Vorſtellungkom—
pleren. Wenn alfo der Wirklichkeit gegenüber aus der Sinneswahrnehmung
erft dadurch eine Erfenntnig wird, daß das Sprachdenfen fich des Augenbildes
bemächtigt: wie viel mehr wird Das der Abbildung gegenüber der Fall fein,
die aus dem Gejammtbilde der Wirklichkeit doch nur einen Heinen Theil —
und den unvollkommen — darftellt!
Allgemein gejprochen: das vom Auge aufgenommene Bild wird erſt
durch einen Aft bewußten Denkens zur faßbaren Borftelung und diefe bedarf
zu ihrer Entwidelung und Mitteilung einer äuferen Form. ALS folche
fanden wir eben die Sprade.
Doc giebt es — und Das ift erſtaunlich Wenigen befannt — eine
andere Form geordneten Apperzipirens, die ganz und gar im Gebiet der Ans
fhauung bleibt und als ſolche mittheilbar-ift: die bildliche Daritellung.
Auch jie beginnt mit der Zerlegung der Erjcheinung im ihre wefentlichen
234 Die Zukunft.
Theile und diefer wieder in kleinere Theile und ordnet dann aus diefen Stüden
ein neues, ſyſtematiſch gegliedertes Ganze zufammen. Anders als auf diefem
Wege ift ein Nachbilden der Wirklichkeit undenkbar. Und jeder der Bewußt-
feinsafte, der nothwendig war, um aus der Perzeption der Wirflichfeit Das
zu machen, was der bewußte Wille durch Arbeit der Hand in bildliher Nach—
ahmung feitzuhalten vermag, findet feine Ausprägung in dem fo entjtchenden
Bilde: und zwar jo, daß man alle diefe Bewußtfeinsafte einfach abzulefen
vermag und alſo im Bilde eine fchon apperzipirte Wirklichkeit in ſich auf—
nimmt. Daß zum Apperzipiren des Bildes dann freilich noch einmal eine
Dentthätigkeit nöthig ift, verfteht jich von ſelbſt. Sie entfpricht ganz genau
der, die nöthig it, um aus dem Geräuſch der gefprochenen Worte oder dem
Flimmern gedrudter Buchftaben einen Sinn herauszuverftehen.
Die Erfheinung der Wirklichkeit ift in jedem kleinſten ihrer Theile
unendlih. Die Darftellung durch Worte ſowohl wie die durd) das Bild
löft aus diefer nie reſtlos zu erfaſſenden Unendlichkeit einen befchränkten Theil
und führt diefen um fo deutlicher, weil gefondert, dem Bewuhtjein zu. Im
einen Fall fehen wir darin Vermittelung einer Erfenntnif, im anderen Sur—
rogat der Wirklichkeit, daS um fo viel weniger werth ift, wie es weniger ent=
hält als diefe? Das ift abfurd. Wir müfjen vielmehr erkennen, daß es nicht
eine Unvollfommenheit der bildlichen Darjtellung ift, wenn fie mit der Wirk—
lichkeit nicht identisch it, Sondern dar fie, eben jo wie eine Mittheilung durch
Worte, das Nefultat eines abwechſelnd analytischen und fynthetifchen Denk—
vorganges darjtellt. (Bon diefem Punkt aus wird man übrigens begreifen,
dan eine Kunſt fich die genaue Darftellung der Wirklichkeit zum Ziel fegen
kann, ohne daß deshalb die Fdentität mit der Wirklichkeit ihre Vollendung bedeutete.)
Wenn wir zur Zeit gewohnt find, in dem Minus der Abbildung gegen-
über der Wirklichkeit nur den Mangel zu erbliden und die Summe geiftiger
Thitigfeit zur verfennen, die gerade dieſes Minus zu beftimmen hatte, fo
liegt Das freilich zum großen Theil aud daran, daß unfere Abbildungen
Schlecht find, daR fie durch ein zufälliges Herauspflüden von Einzelheiten ent=
ftehen und die Möglichkeiten, einen geordneten Denfvorgang durch bildliche
Darftellung ſichtbar zu machen, nicht annähernd ausgenügt werden. Ge:
ihähe Das, jo müßten wir neben der redenden MWiffenichaft eine anſchauliche
beiigen, die jene ergänzte. Das Wort, das abjtrakte Symbol des Dinges,
das letzte, flüchtigite Deftillationproduft des unermüdlich ausfcheidenden Denk—
vorganges, würde immer die ungeheure Beweglichkeit und Leichtigfeit im
Heranholen der entfernteiten, abgezogenften Borftellungsfompfere, im Zus
ſammenordnen unzählig vieler, in ter Ueberwindung von Zeit und Raum
voraus haben. Doc darf man nicht vergejien, daß auch das Bild eine un:
befannte Erjcheinung zunächſt auf befannte zurüdzuführen und allgemeine
Bilderbücher. 235
Zufammenfafiungen aus einer Summe von Einzelfällen zu geftalten und
mit diefen neuen Formeln zu arbeiten vermag. Und was ihm an Beweg—
lichkeit abgeht, würde es durch eindeutige Evidenz der ihm zugäng'gen Schluß:
formen erfegen. Die Ausdrudsformen für eine folhe Anſchauungwiſſenſchaft zu
finden, ift Sache der bildenden Kunſt. Ich fage ausdrüdlich nicht, daR fie ſelbſt
Kunft fei, weil wir unter Kunſt Gefühlserregungen einer ganz beftimmten
Art zu verſtehen gewohnt find, die wir zwar fehr wohl kennen, aber fchwer
zu umgrenzen vermögen. Wohl aber kann auch eine Anſchauung allgemeiner,
alfo nicht Tpezififch Fünftleriicher Art gerade wie die künſtleriſche nur dann
erzeugt werden, wenn ein innerlich geichautes Vorjtellungbild mit den Dar:
ftellungmitteln, teren ſich die bildende Kunft bedient, zur fihtbaren Er—
fheinung gebracht wird.
Wenn ich e8 alfo für den Charakter unferer Kultur bezeichnend nannte,
dat das Wort „Bilterbuch“ einen fo fchlechten Klang befonmen hat, fo
meinte ich damit, daß in der That heute der größte Theil unferes Denkens
im Bereich der Sprache vor ſich geht und eben jo die Feitlegung und Ver—
mittelung de8 Willens die Form des Wortes wählt. Ich will nicht unter-
fuchen, ob Das jemals anders war; ficher jcheint mir, daß wir nothwendig
einer Verjchicbung bedürfen, die uns von der Alleinherrjchaft des Worte,
des leeren Zeichens ohne finnfälligen Zufammenhang mit dem Bezeichneten,
befreit und unfer Urtheilen und Wiffen zum Theil in ein Gebiet überführt,
wo der Gedanke mit der Sinneswahrnehmung unlöslich verbunden ift.
ALS treffendes Beiſpiel einer ſolchen Gebietseroberung zu Gunften des
anjchaulichen Denfens ericheinen mir die beiden Bücher von Schultze-Naum—
burg; deshalb nannte ich fie „Bilderbücher“. Ich will dazu bemerken, daß
mir der PVerfaffer und die Ideen jener Bücher perfönlich nah ftehen. Wer
glaubt, daft ich darum Beide in perfpeftiviicher Vergrößerung erblide, möge
das Verfönliche aus diefem Urtheil ausfchalten und den einzelnen Fall als
Exempel einer prinzipiell wichtigen Frage nehmen.
Die „Kulturarbeiten”, von denen der erjte Band, „Hausbau“, er—
ſchienen ift, handeln von den Veränderungen, die der Menſch mit der Ober:
fläche der Erde vornimmt, imsbefondere der Deutiche mit feiner KHeimath, "
um aus ihr feine Wohnftätte zur Schaffen: wie er Wälder fchlägt, Berge ab-
trägt, Flüffe lenkt und überbrüdt, Felder und Gärten, Häufer, Dörfer,
Städte an ihre Stelle fegt, Wege, Strafen, Bahnen und Yeitungen aller Art
zwiichen diefen zicht und die Produfte des Landes zu feinem Nugen verar:
beitet. Wir nennen diefe Thätigfeit heute „Werwüftung der Natur durch die
Kultur” und jchauen ihrem leider unabmwendlichen Fortfchreiten mit Grauen
zu, als wäre es ein langjamer Selbitmord der Menfchheit. Muß es fo
fein und war e8 immer jo? Ein Blid in die Vergangenheit, nicht weiter
—
236 Die Zulunft.
als hundert Jahre zurück, zeigt, daß einſt die Schöpfungen des Menſchen
denen der außermenſchlichen Natur als Kinder gleichen Stammes eben—
bürtig zur Seite ſtanden. Wenn wir uns heute verzweifelt fragen, ob man
auf einer Erde, die ganz und gar von Menfchen zugerichtet und ausge—
baut wäre, überhaupt noch eriltiven kann, fo ift Das nicht etwa eine Folge
der höheren Volllommenheit, Zweckmäßigkeit und Bequemlichkeit unserer
Einrichtungarbeiten im Haus der Natur, wie die meiſten Menfchen berirhigten
Gemüthes annehmen, fondern umgefehrt ihrer Geringwerthigfeit, der ges
danfenlofen, niedrig gemeinen Ausnützung des ralchen Scheingewinns, des
allgemein betriebenen Raubbaus, der Unfähigkeit, mit unferen mühfamen Ar—
beiten Das zu erreichen, was fie eigentlih bezweden: unſer Wohlbefinden
Tas andere Bud, „Die Kultur des weiblichen Körpers", behandelt
die Veränderungen, die der Menſch mit feinem Körper vornimmt, ins—
befondere die Frau, eritens, um ihn vor Kälte zu ſchützen, dann, um ihn
zu ſchmücken und reizend zu machen; alfo die Kleidung. Auch hier zeigt
fih ein feindlicher Widerftreit zwifchen Kultur und Natur. Er ſcheint
unlösbar und die meiſten Menichen halten ihn für nothiwendig. Ja, in diefem
Falle find fogar beinahe Alle darüber einig, das Zerftörungwert der foges
nannten Kultur für Schön und feinen Fortfchritt für durchaus erftrebenswerth
zu halten. Im Wefentlichen handelt e8 ich um die Bildung der Taille durch
das Korſet und die Veränderung des Fußes durch den Stiefel. Dem dir hen
Schaden für die Gefundheit, der daraus entftcht, und dem imdireften für
das Seelenleben des Menichen, der aus dem willenſchwächenden Zwiefpalt
zwifchen Zwedmärigfeitbegriff und Schönheitbegriff wählt, kann nur geiteuert
werden, wenn wir unfere Vorftellung von der Schönheit des weiblichen Körpers
und von Dem, was zu feiner Veredelung und Pflege geichehen kann und
muR, ganz von Neuem auf licheren Grundlagen aufbauen.
Dar über ſolche Themata ein Künftler feine Meinung entwidelt und
mit bildlicher Darftellung belegt, kann nicht Staunen erregen. Man würde
darin ein äſthetiſches Urtheil erbliden. Das aber würde für die beiden Bücher
nur dann zutreffen, wenn man den Begriff des Wortes „äſthetiſch“ fo fehr
verfchöbe, dak er mindeſtens mit dem heutigen Sprachgebrauh nicht mehr
übereinjtimmte, Nach der Stellung, die dies Wort heute einnimmt, kann
man unter einem äjthetiichen Urtheil kaum noch etwas Anderes verfiehen als
die direfte, möglichſt unwillkürliche Luft: und Unluſtreaklion auf die cinfahe
Sinneswahrnehmung. Als Noficht des äſthetiſchen Verhaltens Natar und
Kunſt gegenüber gilt uns der unmittelbare, in der Zinnesempfindung liegerde
Genuß: eine angenchme Crregung, über deren Berechtigung oder Werth
keinerlei Diskuſſion möglich ift, da fie Selbſtzweck iſt. Die Fähigkeit, zwiichen
angenchmen und unangerchmen Zinmeseindrüden zu unterfcheiden, nennt
Bilderbücher. | 237
man auf allen Wahrnehmungsgebieten Gefhmad. Im engeren Sinn vers
ftehen wir unter Geſchmack Sinneswahrnehmungen in der Nähe der Ernährung-
mwerfzeuge, dur die wir nützliche Nahrung von fchädlicher unterfcheiden.
Wir willen, daß prinzipiell die Luftempfindung das dem Körper Zuträgliche,
die Unluftempfindung das ihm Schädliche bezeichnet, da aber aus dem Miß—
brauch der Luſtempfindung um ihrer ſelbſt willen eine Umfehrung diefes Zwed:
mäßtigfeitverhältniffes entitehen fann. Wenn wir das Wort Geſchmack auf die
Thätigfeit anderer Sinneswerkzeuge übertragen, fo follte man damit natürlich
deren Fähigfeit bezeichnen, Nüsliches vom Schädlihen zur Aufnahme und
Berwerthung oder zur Zurückweiſung und Abwehr zu unterfcheiden. Sie find ja
Waffen des Körpers im Eriftenztampf; das Aufſuchen der Nahrung und die Ber:
meidung der Gefahr find ihre primitiven Funktionen; die fcheinbar interefielofe
Erforfhung der und umgebenden Welt ergiebt fich aus ihnen als höheres Entwicke—
lungftadium. Aber wie der „Geſchmack“ der Zunge und de8 Gaumens, fo fannı
fich au; der „Geſchmack“ des Auges und des Ohres durch Mißbrauch der
ihm eigenthümlichen Luftempfindung ins Gegentheil verfehren oder mindeſtens
vollfommen von feinem Ziel verirren. Und ift c8 fo, dann gelangt man zu
dem Urtheil, dat Gefchmad, den man zur befonderen Kennzeichnung feiner
„Iniereſſeloſigkeit“ noch äfthetiichen Geſchmack nennt, die Fähigkeit fei, zwifchen
angenehmen und unangenehmen Sinneseindrücden zu unterfcheiden, den Genuß
der angenehmen um ihrer felbit willen zu züchten. Was wir als guten und
ſchlechten Geſchmack fo gemeinhin zu unterscheiden pflegen, ftellt fich dann bei
genauerer Betrachtung als eine frühere oder fpätere Stufe in der nad) dem
Selen des Abwechjelungbedürfniffes auf einander folgenden Neihe immer
neuer Reize heraus. Iſt Das richtig, dann muß der Kampf um den Geſchmack
nutzlos und unjinnig fcheinen; fo nennt ihn das alte Sprichwort.
Wenn wir alfo das Wort „äſthetiſch“ in diefem landläufigen Sinn
nehmen, jo wäre e8 durchaus unzutreftend, Schulge-Naumburgs Bücher als
äfthetiiche Abhandlungen zu bezeichnen. Doc, ergab ſich uns vorhin bei der
Ableitung des Begriffes „Geſchmack“, der in feinen verfeinerten Leiſtungen
mit dem „älthetifchen Sinn“ identisch ift, dar ihm eim Urtheil innewohnt
über die, ganz allgemein gejagt, Zweckmäßigkeitbeziehung des Wahrges
nommenen zum wahrncehmenden Eubjeft. Wie nun, wenn jich beweifen liefe,
dar dieſes Gefchmadsurtheil ſich parallel mit dem Zweckmäßigkeitbegriff ent:
wideln läßt und ihm auch dort noch zu folgen vermag, wo diefer über den
gemeinen Nugen der einzelnen Berfon, und fei es ein noch fo weitichauender,
hinausgewachſen ift und lich als Lebensprinzip ganzer Völker oder einer
ganzen Menschheit in ethiichen Begriffen verförpert? Dann wäre ein Streiten
um den Geſchmack nicht mehr unnüg und unnöthig, fondern vielmehr Kampf
um die legten menjchlihen Werthe, die wir überhaupt zu faficn vermögen und
um die wir kämpfen müflen, weil von unferm Geſchmack unfere Exiſtenz abhängt.
238 Die Zukunft,
Im Grunde ift es das Poftulat jedes unbefangen empfindenden Ge-
müthes, dar Schönheit und Vollkommenheit im praftiichen oder ethijchen
Sinn nit zufammenhanglofe, oft einander widerfprechende Eigenjchaften jein
follen. Jeder erinnert ich wohl des Kummers, mit dem er die erfte fchein-
bare Kluft zmifchen Beiden wahrnahm. Wir würden e8 als eine Erlöfung
empfinden, wenn wir zu einer Einheit zurüdtehren könnten.
Der intuitiven Erkenntniß diefer Einheit entfpringen die Bücher von
Schyulge- Naumburg. E3 find Einzelunterfuhungen von Fällen, in denen
angeblich die Nothwendigfeiten unferes Lebens, die praftifchen oder ethifchen
Forderungen, in Widerfpruch ftänden mit Dem, was der „Geſchmack“ unfcrer
Augen jagt. Und immer löft ſich der Widerſpruch fo, daß entweder unfere
Augen zu verdorben waren, um die Schönheiten zu fehen, die den natürlich—
ften Nothmwendigfeiten entwuchfen, oder daß, was wir für die höchſten und
nöthigften praftifchen oder ethiichen Forderungen hielten, ſchlechten und werth—
lofen Wünſchen entiprang. Tiefer Gedanfe war in der Anſchauung erfaßt.
Und in der Anfchauung ift er auch wiedergegeben. Die Methode, wie es ge=
ſchieht, zu beobachten, ift Doppelt interejjant, weil beinahe ausfchlieglich mit Photos
graphien gearbeitet wird. Diefe jtehen ja heute ald authentische Wiedergaben
der Wirklichkeit in einem viel höheren Anjehen als irgend eine durch Menſchen—
hand hervorgebradjte Abbildung, und zwar gerade, weil man nicht nur die
Menichenhand, fondern auch den Menſchengeiſt von ihnen fern glaubt. In
der That braucht man nur eine unferer zahlreichen mit Photographien iluftrirten
Zeitſchriften aufzufchlagen, um fich zu überzeugen, dat man vor Photogra=
phien jtehen kann wie vor der Wirklichkeit: nämlich vor einem großen Kalei—
doffop von Formen, aus dem Einzelnes herauszufefen und dem Vorjtellung-
ſchatz als Bereicherung einzufügen eine fehr bedeutende Anjtrengung erfordert,
deren Viele offenbar nahezu unfähig find, nämlich die Arbeit des wirklichen
Apperzipirens. Es genügt nicht, Anſichten von unbefannten Ländern, Blitz—
bilder von welthiftoriichen Momenten, Portrait8 berühmter Leute, ja, Auf—
nahmen aus Regionen des Seins, die dem Auge unter gewöhnlichen Um—
ftänden gar nicht zugänglich find, zufammenzuhäufen und die technifche Voll—
kommenheit der Wiedergabe immer höher zu treiben. Gewiß vermag man
auch daraus Bereicherung feines Anjchauungdenfens zu gewinnen. Aber in
ihnen liegt nicht die Vermittelung einer innerlich erfaßten und feitkriftallifirten
Borftellung, die als folche dem menschlichen Geifte denkbar ift. Daß die
Erſcheinung der Wirklichkeit Das einftweilen nicht ift, muß man ſich immer
wicder von Nenem Mar machen, um die Bedeutung der bildlichen Feitlegung
anfchaulicher Vorſtellungen zu begreifen. Die Photographie aber ift zumächlt
nur infoweit farbarer als die Wirklichkeit, als ihre Erfcheinung aus drei
Dimenſionen zu zweien reduzirt und der Wechfel der Erjcheinung nebft allen
amderen Zinneswahrnehmungen außer denen des Auges ausgefchaltet ift.
Bilderbücher. 239
Zu einer wirflihen Mittheilung von Vorftellungen geſtaltet jie ſich
erſt, wenn der Vorgang künitleriicher Thätigkeit über diefe primitive Funktion
hinaus weiterfchreitet. Das Nächite ift die bewußte Auswahl eines Objektes
aus vielen, in dem die „dee“ der Gattung zu befonders fcharfem Ausdrud
konnt — einer Anſicht und Beleuchtung, die diefen Ausdruck fteigert —, die
Ausiheidung aller zufällig (alfo nur durch ihre räumliche Nähe) mitfprechenden
Nebenerjcheinungen, die Begrenzung der Bildfläche, die den Blick auf das
Wefentliche Fonzentrirt. So weit fann die Photographie den analytiichen
Sehvorgang, durch den aus der Erjcheinung der Wirklichkeit die Vorftellung
herausgelöft wird, mitmahen. Die mit der Hand ausgeführte bildliche Wieder-
gabe geht hier nun noch weiter mit der Herausichälung des für den befon-
deren Zweck Wefentlichen, im Extrem bis zu der fchematiichen Demonitration,
die etwa einen menfchlichen Körper durch drei Striche erſetzt, um das ftatifche
Prinzip der aufrechten Haltung zu zeigen. Dem photographifchen Bilde find
weit eher ſchon Grenzen gejegt. Wie weit aber auch die ihr gewährten Mittel
ausreichen, faßbare Vorftellung zu verkörpern, zeigen Schulge:-Naumburgs Bücher.
Die jo erhaltenen Bruchtheile ordnen ji dann wieder zufammen, um
den Denkvorgang im Gebiet des Sichtbaren ſynthetiſch weiterzuführen: zwei
widerfprechende ftehen einander als Antitheje gegenüber; zwei felbftverftändfiche
und befannte führen zu einer dritten neuen als nothwendiger Schluffolgerung;
viele Einzelbeifpiele, den Gattungen entjprechend, deduziven ein allgemeines
Geſetz; Keiten zeitlicher Entwidelung erklären das endlich Gewordene. Auch
dent ſynthetiſchen Tenkvorgang find im Bereich des photographiichen Bildes
engere Grenzen gezogen, als e3 bei dem mit der Hand hergeftellten Bilde der
Fall fein würde. Dafür bleibt es auch ftet3 fontrolirbarcs, weil mecanifches
Spiegelbild einer Jedem zugänglichen Wirklichkeit. Das ift wichtig, wo es
fich darum handelt, die Stellung fünftlerifcher Ideen gerade der Wirklichkeit,
der Welt der praftiichen und ethiichen Forderungen gegenüber feitzulegen.
Wir glauben, das Verhältnig von Bild und Wort in „Illuſtration“
und „deforativem Buchſchmuck“ zu erichöpfen. In diefen Büchern aber ges
ftalten ich Beide zu einander wie die Zeichnung einer geometriichen Figur
zu dem Sag, der deren räumliche Gejegmäßigfeit in Worte fat: das Eine
iſt die Veriinnlihung, das Andere die abitrafte Formulirung der felben Vor—
ftellung. Wie wichtig die hier ang.itrebte ſinnfällige Darjtellung praftifcher
und ethifcher Forderungen für uns fein wird, können wir nod) gar nicht
ganz überjehen. Hätten wir mehr „Bilderbücher“ ftatt der vielen, vielen Leſe—
bücher, dann fehrte vielleicht eiwas mehr Klarheit in die Verwirrung zurüd,
in der jest all die Begriffe verichwinden, die unfer Leben leiten follten.
Ludwig Bartning.
2
240 Die Zuhmit.
Selbitanzeigen.
Veröffentlihung der geheimen friegägerichtlihen Alten im Fall
Luthmer. Univerf.. Buchhandlung von Hörning, Heidelberg. Der Reine
ertvag it für die Blinden des NeichSlandes beitinmt.
Bekanntlich haben wir uns Schon lange daran gewöhnen müfjen, die Ehre
der Offiziere für etwas Bejonderes zu halten. Der gewöhnliche Bürger hat
zum Schuß jeiner Ehre nur das Strafgeſetzbuch, der Offizier, auch der mit
Uniform verabidjiedete, noch die Verordnungen über die Ehrengerichte der Offi-
ziere, die nicht nur dazu dienen follen, die Ehre des Einzelnen zu wahren,
ſondern auch, den ganzen Stand von räudigen Elementen rein zu halten. Das
ift die Theorie; und die Praris? Auch der Bürger wird manchmal in die Lage
foınmen, von dem ihm zur Seite jtehenden Schußmittel keinen Gebrauch zu
maden, nämlich, wenn die ihm zugefügte Beleidigung auf Wahrheit beruht und
eine Klage beim Gericht nur dazu dienen könnte, eine Beftätigung diefer Wahr:
heit zu erhalten. In ſolchen Fällen bleibt nichts Anderes übrig, als die ver-
meintliche Beleidigung einzujteden, und die Erfahrung lehrt, day von ſolchen
würdigen Perſonen Gremplare herumlaufen, die ſelbſt die gigantiichjten Did-
bäuter der Zoologie in den Schatten jtellen. Ein ſolcher Zuſtand tft beim
Militär natürlich unmöglich, weil der ganze Stand über die Ehre des Einzelnen
wacht. Da aber Deutjchland immer größer wird und der Einzelne unter der
Maſſe verihwindet, jo iſt es begreiflid, daß auch einmal eine Ausnahme zu
verzeichnen ijt. Weber dieſes Stapitel der Offizierehre ift ſchon recht viel ge:
ichrieben worden, leider zumeilt von Denen, die Grund hatten, ihre im bunten
Nod verlorene Ehre in der Oeffentlichfeit wieder zu juchen. Eine Ausnahme
von diejer Yiteraturjpezies macht meine kleine Schrift. Es handelt ſich in ihr
ganz und gar nicht darum, meine angegriffene Ehre vor der Deffentlichkeit in
ein bejchönigendes Yicht zu jtellen; denn ich bin bis auf den heutigen Tag weder
kriegs- noch chrengerichtlich bejtraft noch von einem diefer Gerichte auch mur zur
Verantwortung gezogen worden; es handelt ſich vielmehr darum, die Ehre Anderer
in das rechte Licht zu jtellen und dabei zu zeigen, weldyer Werth den bejtchenden
Verordnungen über die Ehrengerichte der Offiziere beizumefjen ift.
Ich war im Auguft 1893 Batterichef im Feldartillerieregiment 31 in
Hagenau im Elſaß. Ein zu meiner Batterie eingezogener Rejerveoffizier zeigte
eine ſolche Unfähigkeit im Dienjt, daß ich meinem Negimentstommandeur, acht
Tage vor Beginn des Manövers, eingehende Meldung erjtattete und hinzufügte,
ich hätte die Ueberzeugung, diejer Neferveoffizier werde im Falle eines Krieges
die Kanonen auf die eigenen Truppen richten. Der Regimentslommandeur gab
diefer Meldung feine ‚zolge. Drei Wochen jpäter wurde ich durd) die grobe
Fahrläſſigkeit dieſes ſelben Nejerveoffiziers im Manöver von einem Stanonen-
ſchuß ins Geficht getroffen; durch diefen Schuß erblindete ich jofort und für
immer auf beiden Augen. Diejes Vorkommniß binderte den Regimentskom—
mandeur nicht, dem Nejerveoffizier fünf Tage ſpäter ein glänzendes Dienft-
zeugniß auszuftellen, deſſen Inhalt mir natürlich verheimlicht wurde. Ein von
mir gejtellter Strafantrag gegen den Negimentsfommandeur wegen wifjentlic)
falicher Berichterftattung wurde, unter Berufung auf die geheimen Friegsgerichte
Selbftanzeigen. 241
lihen Alten gegen den Urheber meiner Erblindung, abgelehnt. Gegen den
Nejerveoffizier war die Eriegsgerichtliche Unterfuhung eingeleitet worden, aber
zunächſt wurden nur ſolche Zeugen vernommen, die von dem Thatbeftand gar
nichts gejchen hatten. Erſt jpäter jeßte id) die VBernehmung von Zeugen durch,
die den Borgang meiner Verlegung genau gejehen hatten. Dieje Belajtung:
zeugen wurden in ihrer Bedeutung wejentlich beeinträchtigt durch ein von dem
Inſpekteur der Feldartillerie ausgejtelltes artillerijtiiches Gutachten, jo dab der
Augeſchuldigte mit einer geringen Freiheitſtrafe davon fam, die noch durch die
Gnade des Saijers in ihrer Dauer um ein Drittel gekürzt wurde. Während
der friegägerichtlichen Unterfuhung gegen den Angejchuldigten wurde mir von
ihm eine jchwere Beleidigung zugefügt, die mich trog meiner völligen Erblindung
zwang, der Standesehre zu genügen und meinen Gegner eine Biftolenforderung
zuzujschiden, nahdem meine Anfrage über deſſen Satisfaktionfähigfeit von allen
Inſtanzen bis zum Kaiſer hinauf bejaht worden war. Meine Herausforderung
wurde glatt abgelehnt, was für meinen Gegner die befannten Folgen nad) ji)
309g. Mein Startellträger, der den jchriftlichen Antrag zur Forderung nachweis-
lich durchaus wahrheitgemäß begründet hatte und der in denkbar edeliter Weile
die Piltolenforderung von jeinem erblindeten ehemaligen Norgefegten auf ſich
zichen wollte, wurde von dem Gerichtsherrn des Nejerveoffiziers zur ehrengericht-
lien Verantwortung gezogen und erhielt eine Verwarnung.
Das Alles iſt mit Anführung der Namen aller Betheiligten und mit
wörtlier Wiedergabe aller einjchlägigen Dokumente vor fünf Jahren von mir
veröffentlicht worden in einer Brocdure: „Die Gejchichte meiner Erblindung.“
Nah ihrem Erſcheinen verſchwand der erwähnte Gerichtsherr aus der Armee.
Die Brodure wurde im Reichstag zweimal beſprochen. Die Negirung erwiderte
den \interpellanten, in meiner Angelegenheit jet durchaus korrekt verfahrenworden,
und der noch jebt amtirende Kriegsminijter erklärte, daß ihn nur meine Er-
blindung von einer Strafverfolgung abgehalten habe. Es war mir nidjt ge
lungen, Kenntniß von den geheimen friegsgerichtlichen Akten zu erhalten. Doch
giebt es noch andere Mittel und von ihnen machte ich num Gebraud. Ich zog
meine ganze Angelegenheit vor das bürgerliche Gericht; die Akten wurden als
Beweismaterial zugezogen und fo lernte ich jie fennen. Sie zeigten mir, was
unter der Herrſchaft der Rechtſprechung hinter verichloffenen Thüren möglid) war.
Das den Mittelpunkt bildende artilleriftiihde Gutachten erwies ſich als falſch,
und da das Erfenntniß unmittelbar auf diejes Gutachten gegründet ift, jo find
auch Urtheil und Erkenntniß ungeſetzlich. Die mir ertheilte Auskunft über Ver—
weigerung einer Strafverfolgung gegen meinen früheren Negimentstommandeur
erwies fich als unrichtig. Die mir während der Unterfucdung zugefügte Bes
leidigungrührte nicht von dem Angeichuldigten, ſondern von dem Berichtsherrn her.
Nun lieh ich die hier angezeigte Schrift erjcheinen. Die durdaus jachlid)
gejchriebene Brochure bringt in allen Punkten die Beweife für die in der früheren
aufgeitellten Behauptungen und gejtaltet fich jo zu einer ſchweren Anklage gegen
das Syjtem der geheimen Gerichte und gegen eine Anzahl ſehr hochſtehender
Berfonen. Unter diefen Umſtänden war es nicht auffallend, daß der größte
Theil unferer Breffe die Brochure totſchwieg oder aber deren eigentlichen Zweck
verſchwieg. Im Februar kam die neue Brodjure im Neichstag zur Sprade.
242 Die Zukunft.
Der Kriegsminiſter jagte, er habe fie gelejen, fie habe für den Reichstag aber
fein Intereſſe. Zum Schuß der ſchwer bejchuldigten Perſonen jagte er nicht
ein einziges Wort. Eben fo unterlich er, feine eigenen, von mir früher als
faljch bezeichneten Angaben auch nur irgendiwie zu vertheidigen. Alle Bethei-
ligten find von mir perfönlich von dem Erſcheinen der Schrift in Kenntniß ge-
jegt worden. Wie zu erwarten war, verklagt mid; natürlid) fein Menſch; und
da auch meine Erblindung nicht mehr als Vorwand dienen kann, jo wird die
Sade einfach totgefchwiegen. Wo aber bleibt der Ehrenfoder der Offiziere?
Jeder, der meine Brochure unparteiifch Lieft, wird zu der Ueberzeugung fommen,
daß von allen erwähnten Offizieren fein einziger jo edel gehandelt hat wie mein
Ktartellträger; aber all meine Verfuche, die ehrengerichtlihe Verwarnung diejes
Kameraden auf Grund der beitehenden Verordnungen aus feinen Perjonalpapieren
ftreihen zu laffen, find gejcheitert. Darf eine faiferlide Entjcheidung nicht auf
ihre Richtigkeit geprüft werden? Unſere Geſetze geben mir leider nicht die Mög-
lichkeit, einzelne der jchwer bejchuldigten Herren vor das Forum der bürgerlichen
Gerichte zu ziehen; ih muß mic alfo auf die Öffentliche Anklage bejchränfen.
Wie ſchon oft, jo hat auch in diejem Fall der Reichstag in Nechtsfragen
volljtändig verjagt. Inzwiſchen aber hat fich der Deutjche Rechtsbund meiner
Sade angenommen. Der Wortführer diefes Vereins, Profeſſor Lchmann-Hohen»
berg in Kiel, hat im „Volksanwalt“, ein „Offenes Schreiben“ an den Reichs—
fanzler gerichtet. Das Thema diefes Artikels, die allgemeine Nechtsnoth und
fpeziell meinen Fall, hat er auch in einer Öffentlihen VBerfammlung (in Ham—
burg am achtzehnten März) vor zahlreichen Hörern beiprochen. Die vom Pro—
feffor Lehmann gejchriebenen und geiprodhenenen Worte gehen in ihrer rüdhalt-
(ofen Sritif des gegen mich begangenen Unrechtes jo weit, daß ich, troß allen
bisherigen Erfahrungen, faum zu glauben vermag, die Angegriffenen, bejonders
der Sriegsminifter von Goßler, könnten diefe jchweren Vorwürfe jchweigend hin—
nehmen. Schweigen jie wider alles Erwarten dennoch, — dann wird fich fein
Deutſcher der Beredſamkeit jolden Schweigens verſchließen können.
Dagenau in Elſaß. Konrad Luthmer.
*
Gedanken über Tolſtoi. Hermann Seemann Nachfolger. Preis 2 Mark.
Gedanken find es: Gedanken zwiſchen Nadıt und Tag! Beim frühen
Grauen wedte mid) Etwas, das jich denken mußte, das mich nicht mehr jchlafen
lieg. Und abends fand ich feine Ruhe. Auch Spazirgangsgedanfen find bar»
unter, die fi) abrollten, — ohne mein Zuthun. Beide jtimmen in Einem überein:
fie famen zu mir, nicht ich zu ihnen. Sie nahmen mich als Durdgangspunft,
als Medium, um zur Ericheinung zu gelangen; jo erklärt fich das jcheinbar
Zerfließende, Zuſammenhangloſe, das „Unterwegs“. Was id will, ijt ein Er-
flären, ein Nahebringen, jhliehlich, im Grunde, nur ein Nachſchaffen und ein
Zeugnig, daß auch diejer Menſch — eben jo wie ih — Theil eines Ganzen
it, ein Theil von mir, von Dir, wie ich von ihm, von Dir. Das zu erreichen,
giebt es taujend Mittel und es find unter millionen Möglichkeiten vielleicht erſt
hundert verfucht. Dier beginnt die Kunst, die Schwere Kunft der Kritit — wenn
wir aus Nüßlichkeitgründen dieje Bezeihnung beibehalten wollen —, die Wenige
begriffen haben. Da heißt es nur immer: Bis hierhin hat er recht; hier beginnt
Selbftanzeigen. 243
das Unrecht. Mic, jelbft beherricht das Gefühl, auf ein weites, mir unbefanntes,
bis dahin unvertrautes Meer hinausgejegelt zu fein. Nun treiben mid) die
Winde; wohin? Die Augen heißt es offen halten und wachen und horchen.
Zuweilen iſt es, als jchimmerte Etwas ganz in der Ferne. Iſt es nur der
Traum erregter Sinne? Der Sceefahrerfinne, die jo fühn find, daß fie fich gern
eine Zeit lang täufchen laſſen? Oder iſt es die Hüfte, die langerjehnte? Noch
nie bin ich in diejer Richtung gefteuert. Alles erjcheint mir neu; es dehnt fich
die beengte Bruft; ich begrüße Alles mit junger Liebe. Hier wehen andere
Winde. Hier jheint eine andere Sonne. Wild und doc befonnen brauft das
Blut... Dieje Fragmente aus dem Prolog werden von dem Charakter des
Buches ungefähr einen Begriff geben.
Münden. Ernit Schur.
*
Henri Ibſen. Verlag von E. A. Seemann in Leipzig und der Geſellſchaft
für graphiſche Induſtrie in Wien. 1902.
Im Anhang zu meinem Bud) über Ibſen habe ich eine Bibliographie
veröffentlicht; da find 64 Werfe aufgezählt, die über Ibſen handeln. Und troß-
dem fand ich den Muth, noch ein Buch über ihn zu jchreiben. Ach habe verjucht,
dem Stoff eine neue Seite abzugewinnen umd an einem Beifpiel zu zeigen,
wie ich mir biographijche Kunft denke. Ich fchrieb eine pſychologiſche Biographie.
Zwed und Biel meiner Aufgabe war, zu zeigen, wie in Ibſen das Bild der
Welt jich geitaltete, wie jeine Empfindungen den Menſchen gegenüber wuchſen
und ſich bildeten. Ich bemühte mich, die Entwidelung feiner Seele aus den
Umftänden feines Lebens, aus dem Boden, dem er entiprojjen, dem Milieu, in
dem er lebte, zu erklären. Er wurde, der er war, weil er jo werden mußte.
Um einen Sag von ihm auf ihn jelbjt anzuwenden: all jein dichterisches Wollen
war ein Wollenmüfjen. Indem ich aber den Werdegang eines fo hervorragenden
Geiſtes jchilderte, mußte ich auch die Ideen fchildern, die um die Jahrhundert—
wende in Europa um die Derrichaft ſtritten. Freilich war der mir zugewiejene
Kaum zu beſchränkt, um diefem Thema gerecht zu werden. Auf breiterer Baſis
möchte ich einmal zeigen, wie die Biographie eines großen Menſchen zum Spiegel
feiner Zeit werden fann, werden muß. Der Jubiläumsausgabe feiner fämmt-
lihen Werke jette Ibſen die Worte voran: „Nur durch die Auffaffung und
Aneignung meiner jämmtlichen Produktionen als eines zufammenhängenden,
ununterbrochenen Ganzen wird ınan den beabjichtigten, zutreffenden Eindrud
empfangen.“ ch Habe diefe Abjicht Ibſens erfüllt. Ich Habe verfucht, fein
ganzes Lebenswerk thatſächlich als ein zujammenhängendes Ganze darzuftellen
und dem Lejer verſtändlich zu machen. Erſt bei ſolcher Arbeit lernt man Ibſen
wahrhaft lieben und bewundern. Man jtaunt über den Stolojjalbau, den er auf»
geführt, wo Stein ſich an Stein fügt und wo das legte Wort, das er gejchrieben,
die nothiwendige Konfequenz feines eriten ift. Ich wollte keinen Kommentar zu
Ibſens Werken liefern, fondern nur Das, was der Dichter jagen wollte, in helles
Licht jegen. Das Glüd war meiner Arbeit günftig; ich durfte eine Menge bisher
unbefannten, unveröffentlichten Materials benußen, jo zahlreiche Briefe Ibſens
an jeine Freunde. Auch die \lluftrationen bieten manches Neue.
Wien. Dr. Rudolf Yothar.
*
244 Die Zutunft.
Erportwirthichaft.
Ss Izeantruft, dejfen Bedeutung ich im vorigen Heft abzuſchätzen verjuchte,
— beſchäftigt natürlich noch immer die Gemüther. Wenn man von den
Börjenjpielern abficht, die jet vor allen Dingen erfahren möchten, ob in den
Direftorenbureaur der Deutſchen Bank die flaue Stimmung jchon wieder einer
zuverjichtlicheren gewichen ift, jo find an der Erörterung diejer frage recht viele
Menſchen interejjirt, nicht nur Kaufleute und Volkswirthe, jondern aud) Politiker.
Denn von hier aus können die Örundprobleme der allgemeinen Wirthſchaftpolitik
betrachtet und erwogen werden. Derr Darden hat in feiner Anmerkung zu meinem
legten Artikel ſchon aus dem rajchen Wachſen der amerifaniichen Gefahr, die
gerade der Dampfichifftruft wieder in ihrer ganzen Bedrohlichkeit erfennen lieh,
den Schluß gezogen, es jei unflug, die Wirthichaft erwachſender Nölfer mit
voller Wucht auf den Waarenerport zu ftellen. Ich möchte diefe Bemerkung
nicht ganz ohne Erwiderung vorübergehen laſſen. Nicht etwa, weil ich meine,
gegen das Wort eines Einzelnen, der andere Anfichten hat als ich, fofort pole-
mijiren zu müjjen. Das ift leider bei uns in Deutichland nicht nöthig; denn
das Glaubensbekenntniß einer Berjönlichkeit wird zwar gelejen, aber jelten be»
berzigt. Anders tft es jedoch, wenn ein jolcher Gedankengang einer ganzen
Gruppe von ntereffenten jo bequem tft, daß er zur Barteimeinung führen kann.
Die muß befämpft werden. Gerade die heutige Wirthſchaftlage Deutſchlands
kann leicht zur Aufnahme des Satzes verführen, daß es nicht Flug war, „bie
Wirthichaft erwachjender Völker mit voller Wucht auf den Waarenerport zu Stellen.“
Die Faſſung dieſes Saßes fann in unklaren Köpfen die Vorftellung weden,
die wirthichaftlihe Entwidelung Deutjchlands fei aus ihren von der Natur gewieſe—
nen Gleiſen herausgeriffen und auf den ins WVerderben führenden Schienenweg
des Waarenerportes geftellt worden. So aber darf man die Sadje wirklich nicht
auffaflen. Der Waarenerport ift etwas mit Naturnothwendigkeit Gemordenes.
Man muß, um jeinen wahren Charakter zu erkennen, fi) nur von der bejchränften
liberalen Anſchauung frei machen, nad) der die augenblidliche Art der Waaren-
produktion uns aller Weisheit legten Schluß bietet. Auch die Gegner ber
fozialiftiichen Gefellfchaftstheorie müfjen heute zugeben, daß in der Kritik der
fapitaliftiichen Broduftionmethode der Marrismus Unübertroffenes geleiftet hat
und allein leiften Eonnte, weil er die Dinge im Fluß ficht, weil er von der alten
dejfriptiven, von der dogmatischen Wolkswirtbichaftlehre zur Würdigung wirth-
Ihaftgejchichtlicher Werdeprozejje voracdrungen ift. Das Wefen der fapitaliftiichen
Maarenproduftion ift anarchiich. Während im Urzuftand und noch weit darüber
hinaus der Konjument der die Produktion bejtimmende Faktor war, ijt die
Waanrenproduftion unter der Herrſchaft des Kapitalismus zum Selbſtzweck ge-
worden. Der Produzent fabrizirt wild drauf los; er fragt nicht nad) der Konjum«
fähigfeit, die er gar nicht zu Ichäten vermag, jondern fieht nur in der eigenen
Produftivfraft die Grenze. Die Entwidelung vom Bandwerfer, der auf Be—
ftellung arbeitet, zum Fabrikanten bezeichnet diejen Weg. Am Wejen aller
fapitaliftiichen Gewerbe liegt es, daß die Hilfsgewerbe ihre eigentlichen Zwecke
vergeſſen und aus der dienenden zur herrichenden Stellung empordrängen. So
bat der Dandel, der einjt nur der Fuhrknecht der Güterproduktion war, ſich
Exportwirthſchaft. 245
emanzipirt und geht ſeine eigenen Wege, die oft der Produktion geradezu ſchädlich
ſind. Je mehr nun die Produktivkräfte wachſen, um ſo nothwendiger wird es
natürlich, fremde Abſatzmärkte aufzuſuchen; und ſo iſt die Exportwirthſchaft
— damit meine ich nicht den Export von Gütern, die anderswo nicht oder nur
viel theurer herzuſtellen ſind — ein echtes Kind der kapitaliſtiſchen Produktion.
Dieſe Exportwirthſchaft bringt viele arge Uebelſtände mit ſich und hat
ſogar für die Politik wichtige Folgen. Um dem Export den berühmten Platz
an der Sonne zu ſichern, wurde Kiautſchou nebſt Umgegend gepachtet, und um
den Platz an der Sonne zu ſchützen, wurden und werden neue Kriegsſchiffe ge—
baut. Ein nicht zu unterſchätzendes Moment iſt, daß für den Exporteur der Welt-
markt viel größere Bedeutung hat als das Inland, das ihm nicht annähernd jolche
Waarenmengen abnimmt. Auf dem Weltmarkt muß er billig liefern können,
wenn es nicht anders geht, jogar mit Verluſt, und diejer Verluft muß ausge-
glihen werden. Das ift entweder durch hohe Anduftriezölle in Verbindung mit
Kartellen, die die Preife Hoch halten, zu bewirken oder durch Beitellungen aus
den Mitteln der Steuerzahler. Nicht die Firmen Krupp und Stumm nur,
fondern noch fehr viele andere find jo an der Vermehrung unjerer Wehrmadt zu
Waſſer und zu Lande interejjirt. Das find Folgen ber Erportpolitif, die jelbjt von
meinen fozialdemnofratijchen Freunden nod) zu wenig als ſolche gewürdigt werden.
Aber auch jozialpolitijche Folgen find fichtbar. So lange der Fabrikant auf die
Konjumkraft des inländifchen Marktes angewiejen ift, muß er einjghen, daß die
Arbeiterfoalitionen zur Hebung des Tohnniveaus auch ihm Nußen bringen; denn
was er feinen taujend Arbeitern mehr zahlen muß, verdient er doppelt und
dreifach an der Mafje der Arbeiter, die bei höherem Lohn jeine Produkte faufen
können. Wird aber für den Weltmarkt produzirt, fo ſpielt der inländiiche Arbeiter
als Konfument feine Hauptrolle mehr und fein Lohn wird nur noch durd die
Rückſicht auf möglichit geringe Produftionkojten beftimmt. Dieje Koften müſſen
herabgedrücdt werden, damit der Fabrikant auf dem Weltmarkt billige Preije
fordern fann. Das erklärt auch, weshalb gerade die Erportinduftrie und an
ihrer Spige der Eentralverband Deuticher Jnduftrieller im Kampf gegen das
Recht der Arbeiterkoalition- in der vorderjten Reihe fteht. Der Lohn aber ift
um fo tiefer herabzubrüden, je billiger die Ernährung der Arbeiter iſt. Daher
die völlige Berftändnißlofigkeit, die der Erporteur den Agrarproblemen entgegen-
bringt. Diefer Zufammenhang der Dinge wird heutzutage durch die Thatſache
verdedt, daß Induſtrie- und Agrarjchußzölner Hand in Hand gehen. Dazu
aber treibt fie nicht etwa eine gemeinjame Ueberzeugung, fondern das Gebot der
Tatil. Die Anduftriellen kennen die Stärke der einzelnen Madıtfaktoren und
wiſſen, daß fie im preußifchen Deutjchland nur im Bunde mit den Yandjunfern
ihre Forderungen im Parlament durchjegen können. Die konjervative Partei
fühlt fi in der Nolle einer Schüßerin der Erportinduftrie freilich nicht jehr
behagli; und in den Kämpfen um den Bolltarif hat man ja die Grenze ge-
fehen, bis zu der die beiden Heerhaufen vereint majchiren können.
Wenn die Überwiegende Mehrheit der deutjchen Arbeiter ſich heute gegen
eine fünftliche Erhöhung der Getreidepreife erklärt, jo find die Motive, die fie
leiten, völlig verjchieden von denen der Bourgeoijie, die jelbjt haben möchte
was fie den Junkern verwehrt.
18
246 Die Zutunft.
Ich verfenne alfo die Schäden der Erportinduftrie nicht; aber es ift nicht
leicht, ihnen abzuhelfen, wenn man nicht das Kınd mit dem Bad ausidütten
will. Wer, wie die Mittelftandspolitifer, den Kapitalismus rückwärts revidiren
möchte und in mittelalterlich gebundenen Wirthichaftformen cin Allheilmittel fieht,
Der verfennt die Gejege der ökonomiſchen Entwidelung und kümmert ſich nicht
um die Frage, was beim Sinfen unjerer Exrportziffern aus dem Arbeiterheer
werden joll, das heute in der Großinduſtrie Beichäftigung findet. Wir Sozialiften
haben erfannt, daß der Erportinduftrialismus nur eine Phaje der großfapi-
taliftiichen Entwidelung ift und daß der Großfapitalisınus nur dur eine
modernere Ordnung der Produftion überwunden werden kann. Das Argument
der Agrarier, die Konſumkraft des inländiichen Marktes müfje gehoben werden,
erfennen auch wir an; aber ihre Mittel gefallen uns nicht. Die von ihnen jo
hoch gepriejenen Getreidezölle find Ichon deshalb zu verwerfen, weil fie nur einigen
Großen Hilfe bringen. Will man die Konſumkraft der Landwirthſchaft ftärken,
jo muß man Bauern züchten, aber nicht Bauern mit individualiſtiſchen Quer—
köpfen, ſondern moderne Genofenjchaftbauern, die in unjere Zeit hineinpajfen.
Das geht ohne Getreidezölle befjer ald mit Zöllen, die, ftatt fie zu fördern, die
Entwidelung nur hemmen. Das weitaus Widhtigere aber tft die Stärfung der
Konſumkraft der Arbeiterklaffe. Starte Gewerkſchaften mit hohen Lohnanſprüchen,
Konſumgenoſſenſchaften: ſolche Mittel liegen auf dem Weg der Entwidelung
und können zu einer vernünftigen Sozialijirung der Gejellichaft führen. Werden
fie angewandt, dann hat die Induſtrie Ausficht, auf dem heimischen Markt Erjag
für den Weltmarkt zu finden. Wenn fie, ftatt früh fi fommenden Wirth:
Ihaftformen anzupaflen, im haftigen Wettlauf mit anderen kapitalijtiichen Völkern
einem Phantom nachjagt, dann wird fie fi bald die Schwindſucht holen.
Plutus.
17
Notizbuch.
ST): früheren Unteroffiziere Marten und Didel, die bejchuldigt waren, ihren
Es Vorgejegten, den Rittmeifter von Kroſigk, getötet zu haben, find in Gum—
binnen vom Cherfriegsgericht freigeiprocdhen worden. Sie hatten jchon einmal vor
dem Oberfriegsgericht geitanden, dejlen — Marten des Mordes ſchuldig Iprechendes —
Urtheil vom Reihsmilitärgericht aufgehoben wurde, weil die Berufunginftanz nicht
nad der Vorjchrift beſetzt geweſen war. Jetzt ſaßen die jelben beiden Juriſten, die
an dem vorigen Urtheil mitgewirkt hatten, wieder im Gerichtshof, der jelbe Ober:
friegsgerichtsrath; Mieyer vertrat die Anklagebehörde, die öffentliche Hauptverband»
lung ergab fein den Beichuldigten günstiges neues Moment, — und dennod ist der
vor acht Monaten zum Tode verurtheilte Dragoner nun freigeiprodhen. Da jieht man
doch, las Mancher in feinem Blättchen, wie ungerecht das vorige Urtheil war, dag
nur durch den namentlich die höheren Kommandoftellen beherrihenden Wunſch er-
Härt werden fonnte, im Intereſſe der Mannszucht den Mord nicht unentdedt, un:
gejühnt zu lafjen. So aber liegen die Dinge nicht. Auch diesmal hat das Bericht
Notizbuch. 247
im Urtheil ausgeiprochen, der Angeklagte Marten jei der That „dringend verdächtig“,
fei als „fajt überführt” zu betrachten; nur genüge das Beweismaterial nicht zu einer
Berurtheilung. Das ift Sache perjönlichjter Auffaffung ;die Richter, die nach modernem
Recht nicht die Ueberführung durch den Augenjchein zu fordern, ſondern in freier
Beweiswürdigung nach dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung zu urtheilen
haben, fonnten aufgenaudas jelbe Beweismaterial einen Schuldſpruch bauen. Marten
hatte, als Soldat und als Sohn, Grund, den Rittmeifter zu haffen. Er war oft von
ihm jchledht behandelt und am Tage des Mordes vor der Schwadron gedemüthigt
worden. Der Dragoner Skoped hatte an der Bandenthür einen Mann mit Unteroffi-
ziersmüßeund Mantel geſehen und der Unteroffizier Marten war, nad) unerjchütterten
Beugniffen, mit Mügeund Mantelfurzvorder Thatdurchden Theil des Korridors ge-
gangen, wo morgensdernahmittagsvom Mörder benußte Karabiner gejtanden hatte.
Marten hat ih nach dem Mord auffällig benommen, ſich, trotzdem derBorgang ihm ſchon
von zwei Dragonern berichtet worden war, geitellt, als wiſſe er nicht3 davon, den Vor—
gejetten, der die dienjthabenden Unteroffiziere ausfonderte, dreimal zu täuſchen ver-
fucht, fein Alibi für die wichtigften Minuten auch mit der Hilfe feiner Eltern nicht
nachzumeifen vermocht, einander widerjprechende und als falſch erwieſene Angaben
gemacht und fic dem Strafverfahren durch die Flucht entzogen, die er nur aufgab,
weil jeine Hoffnung, unterwegs Geld und Eivilkleider zu bekommen, ſich nicht er-
füllte. Auf ſolchem und auf nod) viel dünnerem Indiziengrund werden von bürger-
lichen Gerichten beinahe täglich; Menſchen reif für Beil und Zudthaus gefunden.
Sit Ziethen der Mord, Kojchemann das Attentat, Yevy der Meineid, Sternberg
der beifchlafähnliche Verkehr mit der kleinen Woyda nachgemwiejen worden? Wahr:
fcheinlich hat den drei Kriminaliften auch diesmal, wie im Auguft jhon, der Indi—
zienbeweis zum Schuldfpruch genügt, it die Freiſprechung den militäriichen Richtern
zu danken. Im Leben des Offiziers, der ja nicht das bezahlte Alltagsgeichäft treibt,
Menſchen zurichten, iſt die Stunde, die ihm ſouveraine Gewalt überleben, Ehre und
Freiheit eines vom Weibe Geborenen giebt, ein Ereigniß; und es ijt nur natürlich,
daß er die Wucht der auf ihm laftenden Verantwortung tiefer empfindet als ein ge-
plagter Tandgerichtsrath, der elf Monate im Jahr judizirt. Der Prozeßſtoff iſt am
einunddreißigiten August hier geprüft worden; und zu dem Ergebniß, das damals
von Vielen getadelt wurde, ift num auch der zweite Gerichtshof der Berufung:
inftanz gelangt: ſchwere Belaftung des Hauptangellagten, aber feine zur Verur—
theilung ausreichende Gewißheit. Das diefem Gerichtshof und bejonders dem
Borfigenden, dem Oberftlientenant Herhuth von Rohden, in der Prefje reichlich ge-
fpendete Lob ift durchaus verdient; die Art, wie in Gumbinnen Angeklagte und
Entlaftungzeugen behandelt, Beweisanträge aufgenommen wurden, könnte vielen
SKriminalpraftifern ein Beifpiel fein. Nur wird mit dem Tadel des einen, mit
dem Lob des anderen Gerichtshofes noch nichts bewirkt. Jetzt, da in der Sade
dreimal verhandelt und die Senjation vorüber it, follte man die Vorunter—
fuchung, die TIhätigkeit und die Zeugenausjage des Kriminalkommiſſars von
Baeckmann nahprüfen und dafür jorgen, daß in der Strafjuftiz, der bürgerlichen
wie der militärifchen, die Herrjchaft rüdjtändiger Routine ein Ende nimmt. Nicht
jedem Angeflagten lächelt, wie dem Dragoner Marten, die öffentliche Meinung;
und man könnte ſich nachgerade um die Armen kümmern, die, ohne daß eine Chrijten-
feele ihnen nachfragt, im Dunfel verdächtigt, verhaftet und abgeurtheilt werden.
18”
248 Die Zukunft.
Freilich: der Großbetrieb unferer prompt liefernden Urtheilfabrifen müßte eingejtellt
werben, wenn man fich überall, wie in Gumbinnen, mit ber Dauptverhandlung
gegen einen des Totjchlages Angejchuldigten dreizehn Tage lang aufhalten wollte.
* *
*
Ein anderes Urtheil, das nicht in Nordoſtelbien und nicht von einem der ver—
haßten Militärgerichte gefällt worden tft. Am Tag nach der Weihnaächt erſchien in
der Brandenburger Zeitung, einem ſozialdemokratiſchen Blatt, ein Artikel, der die
Entwickelung des Chriſtenthums und der Kirche ſcharf kritiſirte. Der verantwort-
liche Redakteur wurde angeklagt. Gottesläſterung; Beſchimpfung einer chriſtlichen
Kirche; $ 166: Gefängniß bis zu drei Jahren. Die Strafkammer hielt zwei Wochen
Gefängniß für eine ausreichende Sühne. Als die Strafe verfündet war, jtieg der
brandenburgiiche Pfarrer Grau. auf die Kanzel und jagte vor der Gemeinde: „Der
Artikel war, troß jeiner Verftändnißlofigkeit für unferen Glauben, ein guter Ar»
titel. Denn er war, bis auf einige Phrafen, die man aber in allen Zeitungen finden
fanı, warm empfunden und von Begeifterung für wahre, echte Menjchlichkeit ge-
tragen. So machte er auch im der Kritif Halt vor der Perſon unjeres Heilands,
für den er Worte ehrfürcdhtiger Bewunderung hatte... Ich geitehe, daß ich bei
folden Borgängen immer ein Gefühl tiefer Scham habe. Iſt wirklich unjere Kirche
jo ſchwach und unfere Ueberzeugung jo Schlecht begründet und morſch, daß fie richter—
lichen Schußes bedarf? Bertragen wir fo wenig, dab man uns kritifirt ? An dieſem
tapferen Pfarrer, der in der Sonntagspredigt für einen verurtheilten Sozial-
demofraten eintrat und feine Predigt dann druden ließ, hätten Jeſus von Nazareth
und Martin Quther ſich gefreut. Wie aber ifts mit dem Urtheil der gelehrten Richter?
Die haben, wie faſt immer in Prozeſſen, bei denen es ſich um die Wahrung geift-
licher oder weltliher Autorität handelt, in freier Beweiswürdigung unter allen
möglichen Wortauslegungen die dem Angeklagten ungünjtigite gewählt und eine
Beihimpfung der riftlichen Landeskirche in einem Artikel gefunden, den der evan⸗
geliiche Pfarrer des Thatortes auf der Kanzel rühmt. Das tft feine Senfation.
Davon wird nicht geiprochen. Das fommt alle Tage vor. Schön. Warum aber
wüthet man dann gegen Kriegsgerichte, die im allerſchlimmſten Fall doch auch nur
dem Lodenden Irrlicht ihrer Standesrefjentiments folgen ?
B *
*
Auch Senſationen werden manchmal verſchwiegen. Nur in wenigen Zei—
tungen war zu leſen, daß Herzog Ernſt Günther zu Schleswig-Holſtein, der Schwager
des Kaiſers, neulich als Zeuge vernommen und gefragt worden iſt, ob ein gegen bie
frühere Gejellichafterin der Prinzeffin Amalie von Schleswig gerichteter Artikel von
ihm jtamme, Der Derzog hat unter Berufung auf den vierundfünfzigiten Para—
praphen der Strafprozeßordnung die Ausjage verweigert. Diejer Paragraph lautet:
„Jeder Zeuge kann die Auskunft auf ſolche Fragen verweigern, deren Beantwortung
ihm felbjt oder einem Angehörigen die Gefahr ftrafgerichtlicher Verfolgung zuziehen
würde.‘ Neuigen Preßſündern mag es ein Troſt jein, daß ſelbſt eine Hoheit, der
Bruder einer Kaiſerin, in der Hitze des Wortgefechtes einen Artikel jchreiben kann,
der den Verfaſſer mit der Gefahr jtrafgerichtlicher Berfolgung bedräut.
* *
*
Herr Hauptmann a. D. Stavenhagen ſchreibt mir:
„So rege das Gefühl der Kameradſchaft in der Armee ift, jo erſtaunlich
Notisbud). 249
ſchwach ijt die Fürjorge für ihre dem Elend verfallenden inaktiven Offiziere und
deren Familien, namentlih im Vergleich zu anderen Ständen und Ländern.
Augenblidli giebt e8 rund 8500 penfionirte Offiziere, davon 7774 in Preußen
allein. Die Penfionirungen nehmen mit jedem Jahr zu. Sehen wir auf andere
Stände, jo finden wir: die König Wilhelm-Stiftung für erwachſene Beamtentöchter.
Sie hat 20000 zahlende Mitglieder und ein Vermögen von 500000 Marf. Sie
gewährt jährlich 45 000 Mark Unterftügungen. Der Töchterhort für die Reichspoſt—
und Telegraphen: Beamten hat ein Vermögen von 600000 Mark und 57000
zahlende Mitglieder. Er gewährt jährlich 70000 Mark an Beihilfen.
Sehr entwidelt ift bei den niedrigen jtaatlihen Penfionen die praftifche
Wohlthätigkeit Tefterreih- Ungarns für feine inaftiven Offiziere. Und zwar
haben neben dem oberiten Kriegsherrn und den Mitgliedern des Erzhauſes alle
Klaflen der Bevölferung, denen ein freundliches Geſchick es ermöglichte, fich wett-
eifernd nad) diefer Richtung bemüht. So haben die Offiziere des Ruheſtandes
und ihre Wittwen und Waijen zunächſt Theil an der auch für aktive Kameraden
beftimmten Erzherzog YUibrecht- Euftozza- Stiftung und an den Stiftungen der
Saiferin Maria Anna und der Freiin von Stengel. Dann giebt es 54 Staats-
und Privatitiftungen, die nur für penfionirte Offiziere und Militärbeamte be-
ftimmt find, darunter die größte Zahl für lebenslängliche Aufnahme der Bedürftigen.
Davon führe id) an die Elijabeth- Therefiajtiftung mit 21 Freiplätzen, nur für
Generale und Oberjten. Ferner den Berein für Unterftügung von Militär-
Invaliden (fürjtlih jchwarzenbergijche Stiftung) mit 218 Plägen. Dann die
Nathanael von Rothichild-Stiftung, die in unbejtimmter Zahl alte Funggejellen
im Subaltern- Offiziers- und Dauptmannsrang aufnimmt; die Stiftung des
Feldmarſchall Freiheren von Heß mit 11 Pläben, den Gablenz-Fonds mit
27 PBläßen und die Fürſt Dietrichftein-Stiftung mit 23 Freiſtellen für adelige
Dffiziere. Ferner giebt e3 60 Stiftungen für Offizier und Milttärbeamten-
MWittwen. Ich nenne die des Wiener Männer-Gejangvereins, des Hamburgers
E. U. Neumann, des Fürften Dietrichitein für Dinterbliebene von Rittern des
Maria Therefien- Ordens, die allgemeine Jubiläumsſtiftung des belichten Re-
gimentes Hoch- und Deutjchmeifter No. 4, die Stiftungen des Deutſch-Patriotiſchen
Hilfsvereins, des Feldmarſchalls Fürften Karl von Batthyänyi, des Konſuls
Freiherrn von Morpurgo u. ſ. w. Dann finden wir für Offizier- und Militär-
beamien-Waifen 69 Stiftungen, darunter die des Kronprinzen Rudolf, der Erz:
berzoge Karl und Rainer, der Saijerin Maria Therefia, der Gräfin Iſabella
Croce, des Grafen Blüher von Wahlitatt, des Abtes franz Schauer, des Lieute—
nants Franz Zadory (dev eine Heirathlaution für eine Offizierstochter ausſetzt),
der Offiziercorps verschiedener aufgelöften Regimenter u. ſ. w. Auch für erfranfte
Dffiziere ift dur Einrichtungen für Bade- und Kurzwecke gejorgt. Groß iſt
die Zahl der Freiplätze (Wohnung, Bäder, ärztliche Behandlung) in 11 Elima-
tifchen Kurorten und 23 Mineral-, Eiſen- Moor- und Stahlbädern. Dann
giebt es eigene Militär. uranjtalten: 7 Schmwefelquellen, 8 indifferente Thermen,
4 Soolbäder, 3 Jodquellen und 13 Kaltwaljer-Deilanftalten, die von den inaktiven
Offizieren eben jo wie von den aktiven benußt werden können. Was haben
wir, die erfte Militärmacht der Welt, an die Seite zu ftellen? Welches der
Aberfüllten Miilitär-Lazarethe nimmt einen erkrankten inaftiven Offizier auf?
250 Die Zutunft.
Er kann unter Arbeitern in der dritten Station eines bürgerlichen Kranfen-
hauſes fein Glüd verjuchen, jofern er es erſchwingen kann. In Münden wurde
kürzlich ein Genie Hauptmann a. D. nur durd) freie Mildthätigkeit feiner Wirths-
leute vor dem Armengrab bewahrt! In welchem Badeort werden ihm Erleichter—
ungen gewährt? Ganz abgejehen davon, dab die Zahl der für Militärs be»
ftimmten Kurorte auch nicht annähernd die der Öjterreihiichen erreicht (Militär-
Seuranjtalten bejtehen nur in Wiesbaden, Landeck, Teplig und Norderney; dann
giebt es noch etwa 18 Bäder mit Hurerleichterungen), fann die Wohlthat einer
freien Kur unbemittelten inaftiven Offizieren nur dann gewährt werden, wenn
ihr Leiden mit einer Dienjtbeihädigung zufammenhängt. Und find, wie wohl
meift, die Stellen an aktive Herren vergeben, dann auch nur gegen Erftattung
der Selbitfojten. Und worin bejteht bisher die private Selbithilfe der inaktiven
Offiziere? Der ‚Verein‘ diefer Offiziere dient leider nur rein gefelligen Zweden,
denn das Bischen Stellenvermittelung — auch nur jubalterner Art — ift kaum
erwähnenswert. Auch der Deutiche Tifizier-Verein, das jegige Waarenhaus
für Armee und Marine, leiftet troß gutem Willen nur ſehr Unzureichendes
auf dem Gebiete der Stellenverinittelung, befonders für Offiziere, die höhere
Anſprüche machen können. Es ift beflagenswerth, daß ein Zuſammenwirken
diejer beiden großen Wereinigungen, troß allen — auch von mir — wiederholt
gegebenen Unregungen, nicht zu erreichen iſt. Die jelbe Zeriplitterung finden
wir in der privaten Fürſorge für Wittwen und Waijen der Offiziere; für Mütter
und Schweſtern, die nicht in dieſe Kategorie fallen, giebt e8 überhaupt Feine Für:
forge. Wir haben nur: den Militär-Hilfsverein zu Berlin mit 1185 Mitgliedern
und 65 000 Mark Vermögen; er hat im vergangenen Jahr 7500 Mark an Unter-
ftügungen und 62000 Brifetts vertheilt; den Bund Deutfcher Frauen mit
440 Mitgliedern und 17000 Mark Bermögen,; er konnte im lebten Jahr
1600 Mark Beihilfen gewähren; den Verein zur Verjorgung deutſcher Offizier—
töchter mit 925 einzelnen Mitgliedern und 37 Offiziercorps; er hat 12200 Mark
Vermögen. Dann giebt es nod private Militär Hilfsvereine in Provinzial«
ftädten wie Breslau, Frankfurt a. M., Danzig, Stettin, Magdeburg, Hannover,
Karlsruhe und Straßburg mit vorläufig unerheblichen Kräften.
Nicht alle Dilfe fan vom Staat allein kommen, wenn er aud) die Haupt—
urſache des großen Elends ift und die wirfjamjte Hilfe durch Gewährung an-
gemeflener, würdiger und penfionfähiger Arbeit in Givilverjorgung- und vor Allem
Heeresitellen feinen alten Offizieren bringen und durch ein anderes Penſion—
verfahren die jeßige, auch der Armee höchſt Ichädliche Dafeinsunficherheit des
aktiven Offiziers befeitigen muß. Auch die Offiziere müſſen jih — ſchon während
der Aktivität — jelbft regen und fameradichaftlid; einander und befonders den
Inaktiven helfen. Namentlich der für die Eriftenz jo gefährliche Lebergangs-
zuftand zwiſchen der Aktivität und der feiten Anftellung im neuen Lebensberuf
muß möglichſt vermieden werden.
Es ift ja erfreulich, zu erfahren, daß fich demnächſt ein großer Offizier- -
Hilfsverein, zunächſt in Preußen, bilden will mit einer Gentraljtelle in Berlin
und Dilfsvereinen von hoffentlich großer Selbjtändigfeit in den einzelnen Corps—
bezirten. Möchte das Werk, das freilid nur Offizierswittwen und »-Waijen,
leider nicht auch Müttern und Schweitern unverheiratheter inaftiver Offiziere
Notizbuch 251
zu Gute fommen fol, ji nur von jedem Bureaufratismus umd behördlichen
Zwang frei halten! Sonſt wäre der Sade mehr gejchadet als genügt und
höchſtens einzelnen Spitzen und ihren Protektionkindern erwüchſe ein Vortheil.
Die Hauptarbeit aber müſſen die inaktiven Offiziere ſelbſt leiſten. Arbeit: Das iſt
bie Parole, befonders für die bedürftigſten und leiftungfähigiten, die jüngeren
Stabsoffiziere und die Dauptleute, von denen es augenbliclich im ‚Nuheftande*‘
(ein famojes Wort!) allein in Preußen 1740 bezw. 2437 giebt. Selbjt kleine
Aufbeiferungen der Penſionen können feine durchgreifende Hilfe bringen. Dier ift
eine foziale Reform nöthig, die nur durch die vereinten Kräfte der unter den
heutigen Zuftänden Leidenden bewirkt werden kann.’
* +
*
Ueber die — hier ſchon erwähnte — neufte Encyklifa des Papſtes fchreibt
mir Herr Karl Jentſch: „Nachdem Leo XII. einige atademijche Vorträge über die
foziale Frage, die hriftliche Demokratie und ähnliche Gegenftände veröffentlicht und
darin einiges Verſtändniß fir moderne Verhältniſſe befundet hat, ijt er in feiner
jüngſten Encytlifa, jeinem Teftament, auf den ftreng orthodoren Standpunft der
Kurie zurüdgefunfen und ftellt wieder einmal dar, wie die Kirche, die ihm natürlich
mit der Dierarchie zufammenfällt, gleich ihrem Stifter Jeſus ftets völlig unfchuldig
leiden muß und gerade wegen ihrer Deiligfeit von der Welt, die alles Guten Feind
ift, verfolgt, wie aber dieje Welt für ihre geiftigen und körperlichen Angriffe auf die
Kirche durch den Umfturz der Moral und der bürgerlichen Ordnung bejtraft wird.
Nun weiß Jeder, daß es heute, und zwar gerade in den protejtantiichen Yändern,
um die Moral und die bürgerliche Ordnung jehr viel beffer Steht, als es je in den
Zeiten weltlicher Bapftherrichaft gejtanden hat, woraus freilid) der Hiftorifch Gebildete
fo wenig gegen das Papſtthum ſchließt, wie er für diefes ſchließen würde, wenn die
Weltgeſchichte jo verlaufen wäre, wie fie die Nurialijten jchreiben, In Nom follte
man doch Boccaccios Geichichte vom Juden Abraham kennen, der Chrift wurde, weil
er ſich ſagte: Eine Religion, die befteht und ſich ausbreitet, trotzdem der zu ihrer Er—
haltung berufene römiſche Klerus Alles thut, fie durch jeine unerhörten, ohne eine
Spur von Scham und Gewiſſensunruhe gepflegten Yajter und verübten Verbrechen
zu zerftören, muß fich wirklich eines bejonderen göttlihen Schutzes erfreuen. Und
Leo follte willen, dad jein Vorgänger Hadrian VI. auf dem Reichstag zu Nürnberg
1522 durd) jeinen Legaten Cheregati erflären lich, Gott habe die Berfolgung über
feine Kirche verhängt wegen ihrer Sünde, vornchmlich der Briejter und Prälaten:
da jei Kleiner, der Gutes thue, auch nicht Einer. Diefer Papjt hat alfo erkannt, daß
die Anfeindungen der Kirche nicht nur Auflehnung menschlicher Sündhaftigkeit gegen
die fittlichen Forderungen des Chriſtenthumes find, die freilich aud) vorfommmnt, jondern
meiſt Auflehnung menjchlicher Vernunft und Gerechtigkeit gegen die Unvernunft
und Ungerechtigkeit der Priejterichaft. Die gebildeten deutichen tatholifen müßten
ſich ſolcher Kundgebungen ihres geiftlichen Oberhauptes in tiefiter Seele ſchämen,
wenn diejes Cherhaupt nicht durd) die der jeinen ebenbürtige Umviffenjchaftlichkeit
feiner Zodfeinde, eines Grafen Hoensbroech und feiner proteftantifchen Gönner zum
Beijpiel, einigermaßen entichuldigt würde.“
* *
*
In der Voſſiſchen Zeitung iſt der Brief eines niederdeutſchen Arztes ver—
öffentlicht worden, der ſeit vierundzwanzig Jahren in den Burenfreiſtaaten lebt und
252 Die Zukunft.
vorher den deutjchen Feldzug gegen Frankreich mitgemacht hatte, aljo die Kriegsſitten
civilifirter Völker kennt. Er jchreibt: „Ich habe jetzt jeit ungefähr zwei Jahren hier
(in Bethulje) unter engliſcher Herrichaft gelebt und während der ganzen Zeit ift
weder mir nod) einem anderen im Orte lebenden Deutjchen irgend Etwas von Lleber-
griffen oder Gewaltthaten zu Ohren gefommen, obwohl hier häufig ziemlich viele
Truppen angehäuft waren oder Durchzüge jtattfanden. Die Einwohner werden durch—
aus nicht beläftigt. Einquartirung giebt3 nicht; nur in leerftehenden Häuſern werden
allenfalls Truppen untergebradjt; die meijten kampiren, jelbft bei der hier herrſchen—
den Winterfälte, ſtets in Zelten. Der engliihe Soldat tt durchaus ruhig, höflich
und, was nad) einem fajt 2'/, Jahre dauernden Kriege jehr wundert, ganz befonders
gut in der Dand feiner Borgejegten, obwohl er mit Drillen jehr wenig geplagt wird.
Die Leute find auffällig ftill; es wird nicht einmal laut gejungen. Vielleicht hat der
gemeine Mann nicht genug Erbitterung gegen jeinen Feind, obwohl doc; gerade die
Kampfesweije der Buren ganz dazu angethan ift, ein ſolches Gefühl zu weden. Wir
wiſſen es ja aus eigener Erfahrung, wie erbitternd es auf eine Truppe wirft, wenn
fie aus dem Dinterhalt — oder, wie es in Frankreich fo oft der Fall war, aus einer
Entfernung, über die unjer Zündnadelgewehr nicht reichte — von einem Feinde be-
ſchoſſen wird, der verſchwunden ift, ehe fie an ihn heran kann.“ Er vertheidigt auch
die vielgeſchmähten Konzentrationlager: „Selbit in Friedenszeiten wird ein großer
Theil der nothwendigiten Yebensimittel — Korn, Mehl, Kaffee, Zuder, Kleidung:
ftüde u. j. w. — eingeführt. Dieje Saden find nur in den Dörfern zu haben, die
alle in engliichem Befig waren. Sollten nun die Engländer zulafjen, daß die Frauen
und Kinder auf den Farmen ſich innerhalb der englifchen Linien mit Lebensmitteln
und fonjtigen Bedarfsgegenftänden verjahen, um jie dann den fechtenden Buren zu
zuführen? Das konnte man wirklich nicht von ihnen verlangen. Auf der anderen
Seite: Schloß man die Frauen und Finder ganz aus, fo entjtand die Gefahr, daß
fie verhuugert oder von den Kaffern beläftigt worden wären. Aus diejen Erwägungen
heraus hat man fich entichloffen, die ganze Bevölkerung vom flachen Lande zu ent:
fernen und fie in den Zufluchtlagern zu fonzentiren. Man gab ihnen dort die jelben
Nationen, die die engliichen Soldaten empfangen, und friiche Milch für die Kinder,
die allerdings im Winter ein rarer Urtifel iſt. Sie befamen Fleiſch, Mehl, Kaffee,
Zucker, kondenſirte Mil) und für die Kranken wurde extra gejorgt. Nun ift in Deutſch—
land die öffentliche Meinung anicheinend durch Erzählungen von Gewaltthaten und
allerlei Nuchlofigkeiten, die bei der Näumung der Farmen vorgekommen fein ſollen,
ſehr erregt worden, „ich glaube nicht, daß an diefen Erzählungen etwas Wahres ijt.
Der Charakter der engliichen Soldaten, jo weit ic) ihn kennen gelernt habe, und vor
Allem meine perfönlichen Erfahrungen jprechen dagegen. Ich habe etiva jechs Donate
lang in einem diejer Zufluchtlager als Arzt gearbeitet und habe in diejer Zeit öfters
Züge von Wagen mit Burenangehörigen ankommen jehen. „ich habe aber niemals
Klagen über rauhe Behandlung oder Dergleichen gehört; im Gegentheil waren alle
Weiber des Yobes voll, wie die Soldaten ihnen zur Hand gegangen jeien, beim Auf-
laden der Sachen auf die Wagen geholfen und für die Kinder gejorgt hätten. Bei
den großen Entfernungen danerte es zumeilen Tage lang, che die Ochjenwagen in
dem Yager ankamen. In dieſer Zeit theilten die Soldaten ihre eigenen Rationen
mit den ‚Flüchtlingen, machten ‚Feuer, halfen beim Kochen, und wenn die Wagen im
Yager anlamen, jah man häufig Soldaten, die Burenkinder auf dem Arm trugen.
Notizbuch. 253
Was die Verpflegung in den Lagern anbetrifft, ſo muß man ſich gegenwärtig halten,
daß die engliſchen Soldaten, die Einwohner der Stadt und Dörfer, die man ruhig
in ihren Häuſern gelaſſen hatte, und auch die reicheren Buren, die dort auf ihre eigenen
Koften wohnen durften, auch nicht mehr empfingen. Die Eifenbahnen find alle ein-
gleifig. Truppentransporte waren häufig und außer ben Lebensmitteln für die Armee
und die ganze Civilbevölferung mußte auch nod) das Futter für die Unmaſſe Pferde
von der Küſte herbeigefchafft werden. Da war es natürlich, da jeder nur feine be-
ftimmte Portion empfing, wie in einer belagerten Stadt. Später bradjen in den Lagern
Epidemien aus, die aber aud) die übrige Bevölferung nicht verjchonten. Das waren
ja ſchlimme Zeiten, aber Alles wurde gethan, um den Leuten zu helfen. Und feit im
November das Kolonialamt die Yufluchtlager übernommen hat, ijt dort Alles in
Ueberfluß vorhanden: Konjerven und Milch, alle möglichen Kindermehle, Cognac
und Whisky, Champagner und jonjtige Weine. Die Merzte haben volllommen freie
Hand und die Buren haben nie jo gut gelebt. Manche Büchſe mit Konjerven wird
uneröffnet fortgeworfen, weil die Leute zu viel davon haben, und es iſt Thatjache,
daß aus den Lagern Lebensmittel herausgeihmuggelt und den noch im Felde jtehen-
den Buren zugeführt werden.“ Zu dem jelben Thema gehört ein Brief, den ein
berliner Juriſt mir ſchrieb und dein ich die folgenden Säße entnehme: „Sie nennen
die Darjtellung, die der Lieutenant Gentz im legten Aprilheft der „Zukunft“ von den
füdafrifanischen Kriegszuftänden gab, zumächit befreimdend. Das ijt fie für Den
nicht, der ſchon mehrfach Berichte von Augenzeugen kennen gelernt hat. Als Be:
weije dafür, daß Herr Gentz mit feinem Urtheil nicht allein fteht und nicht etwa ans
gekränktem Ehrgeiz zu feiner Darjtellung veranlagt jein fann, gejtatte id mir,
Ihnen anbei einige Stellen aus Briefen des Stabsarztes von Hildebrandt an den
Geheimrathvon Esmard) zu überjenden. Hildebrandt war Führer einer Rothen-Kreuz—
Ambulanz und ift daher gewiß unparteiiih. Die Briefe find in der Münchener
Mediziniſchen Wocenjchrift 1901 erfchienen, aber, wie alles den Buren Ungünitige,
von der Tagesprefje totgejchwiegen worden. Bielleiht machen Sie diefe Stellen
durch Veröffentlichung einem weiteren Leſerkreis zugänglid. Es ift jehr erfreulich,
dah der dicke Weihrauchnebel, der um die Buren lagert, durch Artikel wie den des
Herrn Gent zerriffen wird und daß der Leiter einer Zeitichrift den Muth hat, diejer
Kritif Raum zu gewähren. Dildebrandt ſpricht von der Urt der Schußverlegungen:
‚„In Fällen, in denen das Geſchoß aus nächſter Nähe den Körper getroffen (in Folge
von Umvorjichtigfeit beim Busen, meijt jedoch durch Abficht, um jich dem Kriegs—
dienſt zu entziehen), fand ſich eine große Ausſchußöffnung. Won diejen Zelfschoots
(accidents, wie jie ironisch genannt werden) haben wir fieben im Yazareth zu ſehen
befommen. Die größte Anzahl davon (fünf) erhielten wir in der zweiten Woche nad)
den blutigen Gefecht bei Scholz-Ned, als eine Schlacht großes Stiles eriwartet
wurde. Nun, da jie ausgeblieben,...... fallen auch dieje Unglücksfälle weg." Sieben
Selbjtverftümmelungen bei im Ganzen 60 Verwundeten! Dildebrandt erwähnt,
daß dad moderne Geſchoß die VBerwundeten nicht fampfunfähig made: manche
fämpften troß der Verlegung weiter. Er fährt wörtlich fort: „Vielleicht wäre die Zahl
diejer Perjonen noch größer gemwejen, wenn nicht die meilten der kämpfenden Buren
die Verwundung als willlommene Gelegenheit auffahten, ſich möglichit Schnell dem
Kampfe zu entziehen.‘ Schließlich ift Hildebrandt froh, daf die Ennländer Jakobs—
daal bejegten, troßdem er auf der Seite der Buren Stand. Er jchreibt: ‚Die Ver—
254 : Die Zulunft.
bandlungen mit den Engländern waren angenehmer als mit den Behörden der Buren.
Trogdem wir Alles, Verpflegung u. |. w., der Negirung des Oranje-Freiſtaates
bezahlt hatten (die den Buren freiwillig Dilfe leiftende Umbulanz !), jtießen wir
ftets auf Schwierigfeiten, jobald wir Forderungen ftellten. Bei den engliichen Mi-
litärbehörden das größte Entgegentommen, fofortige Erfüllung aller Wünfche.‘*
Das Alles wird hier natürlich) nicht angeführt, um die Engländer zu entſchulden,
den Buren, die Banerntugend und Bauernfehler haben, häßliche Yappen ans Kleid
zu fliden. Sicher wird von den lieben Briten in Südafrifa viel gefündigt, und wenn
fie dafür die Strafe trifft, werden fie vergebens Mitleid erfichen. Nur joll man er:
wachiene Bölfer nicht wit Kindermären von Engeln und Teufeln füttern. Das
Urtheil in einer ernten Sache darf fih nit nur auf die Ausjage einer Partei
ftüßen umd den Widerjpruch der anderen überhören. Deshalb werden hier von
Beit zu Zeit Stimmen vernommen, die Manchern vielleicht zunächſt nicht gefallen,
nad) und nad aber die Möglichkeit Schaffen, fich jelbjt eine Meinung zu bilden.
* *
+
Der Direktor einer Mädchenjchule jchreibt mir:
„euer Wein taugt nicht in alte Schläuche. Wir Pädagogen dürfen die
moderne Kultur nicht als najeweifen Eindringling in die heiligen Ballen der
Schule behandeln, ſondern als jugendfriichen Gaft, der neues Yeben und neue
Freude in die ehrwürdig grauen Mauern bringt. Freude! Na, Dand aufs Herz:
wer hat denn an unferer höheren Schule noch jo recht feine Herzensfreude ?
freies Spiel der geiftigen Kräfte, ein edles und doch beicheidenes Selbſtver—
trauen, jugendfrifche Yeiber mit gefunden Sinnen: dieje Ideale einer vernünf:
tigen Erziehung können doch wahrlich nicht in der Stidluft der ewigen Extem—
poraliennoth unter dem Damoklesſchwert der Verfegungangft gedeihen. Das
Bischen formale Bildung durch die Hajfiihen Spraden und — aud Das muß
gejagt fein — das Bischen höhere Mathematik ijt nicht jenes Lebermaß von
Kummer und Verfümmerung werth, das fie jahrans, jahrein die licbe Jugend
fojten. Eine Neform wäre gar nicht jo furchtbar jchwer, wie fie ausficht. Gerade
jeßt ift dazu die Gelegenheit günftig; denn die Ausdehnung der Bereditigung
zum Studium auf alle höheren Vehranftalten bedeutet doch wohl zugleich die
Anerkennung der Gleihwerthigfeit aller Wege, die zu diefem Ziel führen. Wenn
aljo die Zcheidewand zwiſchen den höheren Vehranitalten gefallen ijt, jo find
wir damit dem deal der Einheitichule, der höheren zunächſt, doch um eine
hübſche Strede näher gerüdt. Nur darf das Fundament nicht wieder zu maſſiv,
der Oberbau nicht von vorn herein zu ſehr überlaftet werden. Won Weberlaftung,
Ueberbürdung haben wir vorläufig genug. Was foll im Mittelpunkt ftehen?
sch denke: für Deutjche das Deutiche, und zwar mit mächtiger Ausladung nad;
der Hulturgeichichte, jo daß cs ſich auf der humaniftichen Grundlage, der wir
unfere literarifche Entwidelung verdanfen und gern verdanten, aufbaut. Mit
anderen Worten: der grichiiche Unterricht muß im deutjchen aufgehen. Der,
dem dann der Geiſt des Dellenenthumes in unjeren herrlichen Ueberſetzungen
der Klaſſiker nicht dämmert, wird ihn auch nicht bei der Thränenjaat der Extem—
poralien über den Optativaufgehen ſehen. Unfere Schule foll mehrfein als eine Fach—
Ihule für Altphilologen und Theologen. Nach dem Deutichen die fremden
Spraden. Warum aber gleich zwei? Cs iſt für Jahre hinaus gerade genug
an einer einzigen für jolches junge Hirn, das noch nebenher — nur! — ein
Notizbuch. 255
halbes Dutzend anderer Fächer durchitudiren ſoll. Als Abſchlagszahlung auf die
Forderung einer entiprehenden körperlichen Erziehung genießt allerdings der
junge Körper zweimal in der Wocde eine Art militärifcher WVordrejjur nach
äuberlicher Schablone. Das nennt man QTurnen und ftopft mit diefem Wort
der gequälten Natur den Mund. Auch das Bischen Bewegungipiel als liebens-
würdiges Anhängjel der Schule ift doch fein Nequivalent für die Vernachläſſigung
des jugendlichen Körpers. Alſo zunächſt eine einzige Fremdiprade, und zwar
Franzöfiih. Es iſt leicht zu lernen, hat formalen Bildungwertb, iſt bei unferen
geſchichtlichen und kommerziellen Beziehungen wichtig und hat cine Yiteratur,
die nur der Unkundige ablehnen kann. Nach einer Weile muß wohl eine zweite
Fremdſprache folgen; leider, aber der babyloniſche Sprachenthurm ftcht nun ein=
mal. So mögen denn die Einen zum Franzöſiſchen nod Latein, die Anderen
Engliich nehmen. Ob dann einzelne Schüler von der Erlernung der zweiten
Fremdſprache unter entiprechender Kürzung ihrer Berechtigung dispenfirt werden
können, ob ferner in den oberjten Kurſus der lateiniſch-franzöſiſchen Abtheilung
ein fafultativer griechiicher Unterricht einzuführen tft: Das find techniſche Fragen
zweiten Nanges für die jpätere Praris. jedenfalls hätten wir dann Gym—
nafium und Realſchule — die Zwiichengattungen haben keine innere Berechtigung —
durch ein gemeinfames Band zufammengehalten. Und ift der Gedanfe, daß in
unferer Zeit der Zerfahrenheit des öffentlichen Lebens, der centrifirgalen Be-
jtrebungen auf der ganzen Yinie wenigjtens die Jugend noch auf einem gemein»
famen Boden ihrer Weltanfhauung ftehe, als Bürgichaft eines neuen ZJuſammen
ſchluſſes der Nation nicht allein jchon der Erwägung werth und eines vielleicht
nur geträumnten Opfers liebgewordener jcholaftiicher Ueberlieferungen? Das Opfer
ift das Griechiſche in der Urjprade; und der Gewinn: eine viel eingehendere
Beichäftigung mit der Gefammtkultur des AUlterthumes, ferner die höhere Ein-
heitſchule mit ihrer großen jozialen Bedeutung und vor Allem die Entlaftung
der Tugend und die Möglichkeit harmoniicher Ausbildung nicht nur des Geiſtes,
jondern auch des Peibes. Kommen wird es, weil es fommen muß; aber wann?“
* . '
*
Heinrich der Zweiundzwanzigſte älterer linie, jouverainer Fürſt Neuß, Graf
und Herr von Plauen, Herr zu Greiz, Kranichfeld, Sera, Schleiz und Yobenftein,
ift geftorben Seine Mutter, die hejjiiche Staroline, unter deren Vormundſchaft er
anfangs regirte, hatte ihn Breußen haſſen gelehrt. Breußen und Bismard, der aber
galant genug war, der würdigen Dame die Erinnerung an kleine Bosheiten nicht
nadjzutragen. Als Ernſt Dohm, der Redakteur des Kladderadaticd, wegen Belei-
digung der Fürſtin aroline zu fünf Wochen Gefängniß verurtheilt worden war,
erwirkte Bismard dem geijtreihen und muthigen Mann eine Berfürzung der Strafs
zeit und fügte dem Brief, der dem Gefangenen die Begnadigung in die Stadtvogtei
‚meldete, die „perfönliche Bitte“ hinzu, „die arme Staroline nin ruhen zu lafjen“.
Ihr Nachfolger wurde, in den Wibblättern wie auf dem Thron, der arme Heinrich.
Dem erging es noch jchlimmer, obwohl er ein ruhiger, anftändiger und bejcheidener
Herr war, der auf jeine Weije redlich für das Behagen der reußiichen Bürger forgte.
Daß er Breußen nicht liebte, war am Ende begreiflich; daß er feinen Haß nicht, wie
andere Mifzvergnügte, die in der Tajche die Fauſt ballen und mit einem Courlächeln
berliner Prunkſchauſpielen zujchen, in des Bufens Tiefe barg, zeigte ihn als einen
256 Die Zukunft.
Mann,der den Muth jeiner Meinung hatte. Und diejer Frondeur war jo ungefähr-
lich, daß man ihn nicht zu fürchten, nicht zu ſchelten brauchte. Er lich feinen Ver—
treter im Bundesrath gegen faſt alle preußijchen Anträge ftimmen, feierte die Feſte,
mit denen das Neich durch berliner Dekret beglüdt wurde, nicht mit und fagte ber
Hofdienerichaft,er werde Keinen bejtrafen, der einen Sozialdemokraten in den Reichs—
tag wähle. Das waren jo ungefähr jeine ärgiten Sünden. Dafür war er ein guter
Daushalter und unter Uniformen und Galakleidern eine in ihrer Art chremmerthe
Perjönlichfeit. Keine große; fonjt hätte jein Groll fich nicht mit Nadelftichen be-
gnügt, die fein Flöckchen aus der preußiſchen Wolljade rifen. Ein Heinrich von
höheren Wuchs hätte auf feinen dreihundertundjechzehn Duadratfilometern, auf
einem Gebiet aljo, das ſelbſt heutzutage ein Fürſt noch zu überjehen vermag, bie
verhaßten Preußen die Kunſt moderner Staatsverwaltung gelehrt. Der Erbe bes
Toten iſt pjychiich belajtet und unfähig, die Negierung anzutreten. Die Regent:
ichaft fällt der jüngeren Linie zu. Und von den Bundesfürften des Deutichen
Reiches find zwei num offiziell für geiſteskrank erklärt.
* x
*
Einewunderliche Tragitomoedie hat in Berlin begonnen. Im vorigen Sommer
hat der König von Preußen dem Stadtrath und Reichstagsabgeordnneten Kauffmann,
den Magiitrat und Stadtverordniete zu Berlins zweitem Bürgermeijter maden
wollten, die Beftätiqung verfagt. Die Wahl wurde wiederholt, der Vorjchlag aber,
nad dem Sinn des Gefeges mit Necht, dem König nicht noch einmal unterbreitet
und jeder wußte: Herr Kauffmann wird in Berlin niemals Bürgermeifter. Das
gab keinen Grund zur Aufregung. Die fommımalen Körperichaften haben fein Wahl»
recht, jondern nur eine Borjchlagspflicht; fie haben für erledigte Stellen Kandidaten
vorzujchlagen, die der König dann nad) Belieben ablehnt oder ernennt, ohne feinen
Entihluß begründen zu müffen. Die ganze, jo laut als liberale Errungenſchaft ge-
priejene Selbjtverwaltung ijt eben, wie diellnabhängigfeit der Richter und das Preu—
ßenrecht, in Wort, Schrift und Bild feine Meinung zu jagen, eine hübjche Couliſſe,
deren Anblick artige Stinder erfreut. Herr Kauffmann war früher ein Redtsanwalt
ohne große Praxis geweſen, dem ehrenhafte Geſchäftsſitte nachgejagt und der dann, als
gut freilinniger Mann, in die Stadtverwaltung übernommen wurde. Ein Stabtrath
wie andere Stadträthe; und ein Neichstagsabgeordneter, der in dem kleinen Häuf—
lein Derer hinter Eugen Richter nie aufgefallen war. Der in der zweiten Lebens
hälfte in den Sommunaldienjt Beförderte hatte nie einen neuen oder neu Elingenden
Gedanken ausgejprochen, nie Gelegenheit gehabt, Weltkenntniß oder gar Berwaltung:
talent zu zeigen. In der Reihshauptitadt aber, deren Oberbürgermeijter der frühere
Nedtsanwalt Kirichner it, ein ichmiegfamer Herr ohne jede Initiative, könnte
natürlich auch ein anderer müder Nobenträger die Amtsgefchäfte des zweiten
Bürgermeijters beforgen. Die Hauptſache iſt ja, daß die Freiſinnige Vereinigung
Kirſchner) und die Freifinnige Volkspartei Kauffmann) die beiden wichtigiten Stellen
beiegen. Derr Kauffmann Scheint nun die Hoffnung nicht aufgegeben zu haben, doch
eines nicht allzu fernen Tages noch ans Ziel feiner Wünſche zufommen. Er wollte bie
Wahl nicht ablehnen, Hinderte aljo feine Parteigenoſſen, einen neuen Kandi—
daten vorzuſchlagen. Plötzlich, vor ein paar Wochen, bie e8, er fei erfranft.
Biychoje. Der Hausarzt fei gezwungen geweſen, ihn in die maison de sante zu
bringen. Dort blieb er eine kurze Weile und von dort fam an den Stadtverordneten-
Notizbuch). 257
vorfteher ein Brief, in dem der Stadtrath erflärte, er trete von der Bürgermeiſter—
fandidatur zurüd. Dann reifte er nad Thüringen und wurde von einem Sendboten
bes Berliner Yofalanzeigers interviewt. Ich bin ganz gejund, jagte Herr Kauff-
mann; dad Zuſammenwirken von Opium und Morphium hatte mich für furze
Beit „in eine maniakaliſches Delirium verjegt“; von einer eigentlichen Geiftes«
krankheit kann nicht die Rede fein, ſonſt wäre ich nicht jo ſchnell geſund geworden;
mein Hausarzt hat unverantwortlich gehandelt und meiner Rüdtrittserflärung ift „ein
offizieller Charakter nicht beizumefjen“. Schon vorher war behauptet worden, die frei—
finnigen Mannesjeelen, die um jeden Preis wieder in die Gnadenſonne gelangen
mödten, hätten den ftörrigen Stadtrath gefränft, mit Arbeit überhäuft, indie Irren—
anjtalt gejchleppt und dem Leidenden den Verzicht auf die Kandidatur aufgedrun—
gen. Die jolche Geſchichten umhertrugen, merkten wohl nicht, welche ſeltſame Rolle
fie ihren Helden jpielen lichen. est, nad) feinen unbeitrittenen Erklärungen, ift
faum noch ein Zweifel daran möglich, daß er wirklich krank ift ; ungefähr jo, wie er
ſprach, jprechen faft alle unglücklichen Opfer einer Pſychoſe. Da dieje Krankheiten
aber lange Ruhepauſen nicht ausſchließen und oft Fahre hindurd dem Laien nicht er=
fennbar find, kann die traurige Geſchichte ich noch eine Weile hinziehen. Herr Kauff—
mann will, trotzdem er nach den letten Borgängen doch unter feinen Umftänden
Bürgerimeijter werden fann, nicht freiwillig verzichten, jeine Parteigenoffen werden
fich hüten, ihm einen Pſychiater ins Haus zu ſchicken, und der Brief einesin einer Irren—
anjtalt Internirten ift rechtlich werthlos. Immerhin jollten die Freunde des Kranken
nicht allzu jcharf ins Zeug gehen; jonjt wird man fi im Rothen Haus doch ent:
ſchließen, ein pjychiatrijches Gutachten zu fordern und Öffentlich fejtzuftellen, daß Herr
Kauffmannindem Synodaljtreit, der die Urjache feinesZufammenbruches gewejen jein
joll, die Dauptarbeit zwei Affefjoren zugemiejen hat. Der Stadtfreifinn jehnt ſich gewiß
inbrünftig nach der Hofgunft ; die Irrengeſchichte riecht aber allzu jehr nach der Hinter-
treppe. Jedenfalls haben die Herren jet Zeit, einen neuen Bürgermeijterfandidaten
zu küren, und es wird interefjant jein, zu jehen, ob fie wirklich den Muth haben werden,
wieder eine fraftionelle Mittelmäßigfeit vom Sclage des Herrn Fiſchbeck zur Er—
nennung zu empfehlen. Als neulich im Kreis der Zuverläffigen die Frage erörtert
wurde, wen man zum zweiten Bürgermeifter wählen jolle, rief ein wißiger Herr:
Kirſchner!“ Der Mann hatte Recht. Für die Stelle des zweiten Bürgermeijters ift
Herrftirichnerjehrgeeignet. Wenn zum Oberbürgermeifter ein jtärferes Verwaltung.
talent erwählt würde, ein Mann von Weltfenntniß und perjönlihem Anjehen, der
weiß, was in England, Amerika und Frankreich die Gemeinden heutzutage leijten,
dann fönnte manaudin Berlinendlich an die Löfung neuer Probleme derftonmunals
politif denken und brauchte ſich nicht mit dem dürftigen Ruhm zu begnügen, der
zwijchen den Pflafterjteinen jauberer Straßen emporfeimt. Doc) ſolche Hoffnung
wird unerfüllt bleiben, jo lange die reichshauptjtädtiiche Semeindeverwaltung obdach—
(ofen Mitgliedern der beiden freilinnigen Fraktionen als Ajyl dienen muB.
* *
*
Im Reichstag haben die Freiſinnigen ſich das Lob unbefangener Zuſchauer
verdient. Sie haben die der Zolltarifkommiſſion bewilligten Sommerdiäten abge—
lehnt. Das war klug und wird ihnen nüßen. Sie fünnen nun mit dem Finger auf
die Konjervativen, Nationalliberalen und die Kentrumsabgeordneten weijen und
fagen: Seht, wir find bejjere Menjchen als Dieſe, die fi für eine nußloje, zwed»
258 — Die Zukunft.
loje Arbeit zweitaufend Mark auf den Kopf bezahlen lajjen! Zwecklos ift die Arbeit
der Tariffommiffion, weil über die wichtigiten Bunte der fünftigen Dandelsverträge
offenbar jchon eine internationale Einigung herbeigeführt ift und das ganze Gerede
ins Yeere verhallen wird. Daß Sozialdemokraten und FFreifinnige das für ſolche
Arbeit gebotene Geld nicht annahmen, war ein Beweis taktiſcher Leberlegenheit, den.
fie bei den nächſten Wahlen ins hellfte Licht rücen werden. Lebrigens jollte man
im Deutjchen Reich heute jede Sünde wider Wortlaut und Sinn der Berfaffung
nod) ängjtlicher jchenen als in weniger kritiſchen Zeiten. Artikel 32 der Reichsver—
fafjung jchreibt vor: „Die Mitglieder des NReichstages dürfen als ſolche feine Befoldung
oder Entſchädigung beziehen.“ Es ijt betrübend, zu fehen, mit wie leichtem Herzen
Bundesrath und Reichstagsmehrheit fich über diefe Vorſchrift hinweggeſetzt haben.
* *
*
Solche Bedenken ſchrecken den Grafen Bülow nicht. Er iſt heiter und freut
Ach, trotz Regenſchauer und Sturm, des erwachenden Lenzes. Neulich hat er in
Düſſeldorf bei der Eröffnung der Ausitellung wieder einmal geredet. Wundervoll.
Auch da regnete es. Doch der vergnügte Kanzler rief tröftend: „Post nubila
Phoebus! Sobald der Hohenzollerniproß (der Kronprinz, dem das Protektorat
über die Ausitellung anvertraut ift) eintritt, wird die Sonne jcheinen.“ Und fie
fhien. Dann jprad er von den Zollkämpfen und jagte: „Stets ſoll uns hier
das Vorbild unjeres Kaijers voranleuchten, der jeinen Schönsten Ruhm darin findet,
unermüdlich unſer Gejammtvorbild zu fein.“ Das war no nicht Alles; die
ftärfite Leiftung brachte der Sag: „Unſer großer fönigsberger Weiler Kant hat
feiner eriten Schrift den Titel gegeben: ‚Bon der wahren Schätzung der lebendigen
Kräfte‘. Ich glaube, daß wir nach unferem heutigen Rundgang in diefer Schäßung
reicher geworden jind“. Der zweiundzwanzigjährige Wolffihüler Kant hat wirf-
ih „Sedanfen von der wahren Schätung der lebendigen Kräfte“ veröffentlicht;
eine noch unielbjtändige Arbeit, die ſich mit fartefiichen und leibniziichen Gedanten
auseinanderzujegen verjuchte. Natürlich war da nicht von wirthichaftlichen Kräften
die Nede. Graf Bülow hat diefe Schrift nicht gelefen. Das iſt fein Unglüd,
Wariım aber citirt er fie dann, citirt fie jo falich, dal die gebildeten Yeute durch dieſe
Wippchenthat zu lautem Lachen gereizt werden? Es war ſchon jchlimm, daß er dem
Alten rigen über das Breußenheer ein Wort zujchrieb, das in der gemeinen Wirk—
fichfeit Bonaparte zur Abwehr deuticher Kritiker geiprochen hatte, und Fichte in Süßen
pries, die verriethen, daß er das ſozialiſtiſche umd atheiſtiſche Glaubensbekenntniß
des Gerühmten nicht kannte. Weiß ernicht, daß jeine diplomatischen Kollegen ihn längft
den Dlinifter des jchönen Aeußeren nennen und in der Wilhelmitraße vorgeichlagen
ward, einen Eitirfchußverein gegen den Kanzler zu gründen? Kultur haben, heißt
doc vor allen Dingen: nicht mehr jcheinen wollen, als man iſt, nicht im Schein
einer Bildung glänzen, die man nicht beißt. Graf Bülow iſt ein guter Feuilleton»
redner. Den größten deutjchen Philoſophen aber jollte er nicht zum Aufputz von
Zafeltoaften mißbrauchen. Seine Reden werden ja gedrudt und nicht nur von ehr«
fürdtig aufhorchenden Yandsleuten gelejen. Im Ausland aber wirkt es nicht günitig,
wenn der erite Beamte des Deutichen Neiches immer wieder die großen Geifter
jeines Volkes citirt und ihres Wejens doch nie einen Hauch zu ſpüren vermag.
Heraus jeber und ——— Redakteur: M. Sarden ın \ Berlin, — Verlag. der Zufunft in ‚ Berkn.
Drud von Albert Damde in Berlin Schöneberg.
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Berlin, den 17. Mai 1902.
3
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Waldeck-Rouſſeau. |
Niris hat eine gute, an Senfationen reihe Woche gehabt und dieputzigen \
Zageblattbofjuets, die vor Jahrzehnten ſchon Barbey d'Aurevilly das |
Leben verleideten, brauchen von der Furcht vor pfingftlicher Feſtruhe ſich
diesmal nicht jchreden zu laſſen; denn der aufgehäufte Stoff reicht für Mo-
nate aus. Zuerjt rüttelte der Fall Humbert-Cramwford die Nerven. Frau
Thereje Humbert, eine rejpeftirte Dame der beiten Gefellichaft, hat ſich un:
gefähr zwanzig Jahre lang für die Erbin eines Vermögens von hundert
Millionen Francs ausgegeben, das ein Amerikaner, Herr Crawford, ihrver-
macht habe. In einer eifernen Truhe bewahrte jie den Schat, zeigte Zweif—
lern manchmal dicke Rentenbriefbündel, durftedas Geld aber noch nicht alsihr
Eigenthum betrachten, weil das Teftament von zwei Neffen des Erblaifers
angefochten wurde, deren Bejisrechte der gewilfenhaften Dame heilig waren.
Mit genialer Verbrechertaktit jchleppte fie die Sache feit 1883 immer
wieder ins tiefite Dickicht des Civilprozejjes; und da die Aermſte mit ihrem
Mann, dem Sohn eines früheren Juſtizminiſters, inzwijchen dod) jtandes-
gemäß leben mußte, pumpte fie, pumpte munter bei Groß und Klein. Vierzig
Millionen hat jie auf diejem jelbjt heute nod) ungewöhnlichen Wege zu:
jammengebradt. Nun ift Madame mit Dann und Sippe verichwunden, die
eiferne Truhe ift leer und über den Thatbejtand fein Zweifel möglich: die
drei Crawfords haben nie gelebt, Frau Humbert hat nichts geerbt und, um
die Gläubiger hinzuhalten, in allen Inſtanzen die Komoedie eines Erbichaft
19
260 Die Zukunft.
jtreite8 aufgeführt, dem jeder Gegenftand fehlte. Ein Stoff für Ariftophanes,
Le Sage oder Offenbach; ob ihn nicht irgend ein flinfer Philippi big zum
nächften Herbft deutichen Kunden zujchneiden wird? Noch lachten die nicht
unmittelbar Gejchädigten über die ausbündige, alle Schelmenromane über-
trumpfende Gaunerphantafie, der folcher Erfolg bejchieden war: da fam die
Hiobspoft, die Krater des Mont Pelee auf Martinique hätten eine Yavafluth
ausgejpien und Saint-Pierre, die Hauptftadt der alten, oft umftrittenen fran=
zoͤſiſchen Kolonie, verjchüttet. Vierzigtaufend Menſchen follen in dem Kata—
klysmus umgelommen fein; diefe Zahl erreicht nicht „faſt“, wie der Deutjche
Kaifer in einer Depejche an Herrn Loubet irrend fagte, die der in Pompeji
von vulkaniſchem Wüthen Hingerafften, fondernift zwanzigmalgrößer. Und
faum war diejes Schredens jäher Prall verwunden, faum fingen die von
unflarer Graujensfunde Verftörten zu finnen an, wie den Ueberlebenden
Hilfe zu bringen, die von einem durd) die Antillenwelt tobenden Elementar-
aufruhr bedrohte Kolonie zu retten fei, als jchon neue, nähere Senjation die
ruhelofen Gemüther packte. Die letste Schlacht im Wahlfampf war geichla-
genundjeder Franzoſe griff nachdem Stredenrapport, um zu erfahren, wen
auf der Jagd nad) der Bolksgunft diesmal Fortuna gelächelt habe. Und mitten
in all dem Yärm wurden die Anker des Schiffes gelichtet, das den Präfiden-
ten Youbet nad) Nufland trägt, zum Gofjudar der nation alliee et amie.
Für eine Woche wars genug; und fein Wunder, daß auch unjerer Zeitungen
größter Theil mit der Schilderung franzöfifcher Zuftände zu thun hatte.
Frau Humbert, der zwijchen Turcaret und Mercadet ein Pranger-
plat gebührt, wurde in die Kellerräume gewieſen und, wie des Yandes der
Braud) ift, von den fürs Feuilleton gemietheten jungen Yeuten zur Berherr-
lihung deutfcher Rechtspflege benugt. Den Krater des Mont Pelée um:
freiften allerlei jeltfame Eintagsgeologen, die von Bimsfteinfand wundervoll
zu erzählen, die Lapilli anfchaufich zu bejchreiben wußten. Ueber die Fahrt
ins Heilige Rußland wurden Wie gemacht, als wären bei ung ſolche Reifen
nie zu den wichtigen Staatsaftionen gezählt worden. Die Politiker aber
jtimmten einen Triumphgejang an: Herr Walded-Rouffeau hat gefiegt und
die Horde der Prätorianer und Jeſuitenſchützlinge aufs Haupt gefchlagen!
Die Schwarzen Anjchläge der Dunkelmänner und Tyrannenknechte find zu
Schanden geworden und das Ministerium der Freiheit, des Lichtes, der
Gerechtigfeit bleibt uns erhalten. Uns: ungefähr jo wird wirklich gejchrieben
und gedruckt; als müſſe dem guten Deutjchen die Fortdauer der Firma Walded
KMillerand ein Herzensbedürfniß fein. Obſie dauern oder ſchon im Juni ge—
Waldet-Ronffean. 261
löſcht werden wird, iſt heute noch zweifelhaft. Die Berechnung des in der
neuen Kammer zu erwartenden Stimmenverhältnifjes ift feinen rothen
Heller werth. Faſt nach jeder Wahl fieht man in Frankreich das ſelbe Schau-
jpiel: alle Parteien erklären fich von dem Spruch des ſouverainen Volkes be=
friedigt und preifendie Weisheit des Wählers, der fichdurd) des böfen Feindes
Höllenkunft nicht vom rechten Weg locen ließ. Anders Hingt das Lied ge
mwöhnlich erft, wenn die neue Saiſon in den Folies-Bourbon eröffnet ift.
Auch jet muß man fichgedulden, follte man, ftatt dem Freudengekreiſch der
Jaureès und Rochefort zu lauschen, die Zeit bis zur Entſcheidung benugen,
um die Bedeutung des Streites erkennen zu Ternen, der nun Jahre lang
ſchon Frankreich Boden zerwühlt und von dem alten Erperimentirlande
der Weltgejchichte bald in andere Gegenden fortwuchern wird. Seit der
Dreyfuslärm verhallt und die Erregung, die dem Betrachter die wildejten
Kampftage der Ligen ins; Gedächtnig ruft, dennoch nicht ausden Gemüthern
gewichen ift, mußte jeder Wache merken, daß der in beiden Lagern mit allen
Mitteln brutaler Gewalt und liftiger Tücke geführte Bürgerkrieg einem
größeren Gegenftande galt als der Rettung oder Vernichtung eines dom
Standesgericht jchuldig gefprochenen Menjchen. Die Franzojen fühlen ſich
in ihrem Lebensrecht bedroht; fie möchten fich als ein ftarfes Herrenvolf in
Europa behaupten und fämpfen deshalb gegen die fapitaliftifche Korruption,
gegen die träge Gleichgiltigfeit der deracines, die für alle fittlichen Fragen
nur ein müdes, jfeptifches Yächeln hat, gegen den Baudevillegeift, den ſelbſt
der ernitejte, traurigfte Vorgang nur zu Frechen Wien ſtimmt, und gegen
die Tyrannis der ſchnell von jedem pfiffigen Schwindler gefejjelten Maſſe.
Das Heil joll, jo hoffen die Patrioten, vom Heer fommen, dag nicht, wie
das regirende Parlament zum großen Theil, aus fäuflichen Strebern, fon»
dern aus redlichen, in einen jtarren Ehrbegriff gewöhnten Männern be-
fteht, dejlen leuchtendes Kleid der Panamaſchlamm nicht beipritt hat
und dem man ruhigen Muthes die nationale Zukunft anvertrauen darf.
Der jede andere Erwägung niederzwingende Wunſch, in dem aller bür-
gerlichen Autorität beraubten Yande wenigitens das Anfehen der Armee un-
getrübt zu wahren, hat in dem von Jules Yemaitre geleiteten Bunde La
Patrie Francaise viele der feinsten Borhutgeifter zufammengeführt. Ihnen
hat fich in den meijten Provinzen die KFortichrittspartei der Herren Meline
und Ribot verbündet. In diejer Koalition find wenige Pfaffenknechte, noch
weniger Monarchiſten, aber jehr viele aufgeflärte und liberale Leute zu finden,
die offen jagen: Unſer katholifches Volk hat gefährlichere Feinde, als der
19*
262 Die Zukunft.
Klerus einer ift; es braucht ein ftarkes, in der Disziplin und im Glauben
an jeine Führer nicht erfchüttertes Heer und will lieber von franzöfijch em⸗
pfindenden Bifchöfen und Generalen beherrjcht werden als, wie bisher, von
den Herz, Arton, Reinach und deren Dienftmannen. Daß die Schaar, die
mit diefem Auf in den Kampf zog und der die Bauern- und Kleinbürger-
angft vor dem Erftarfen des Sozialismus zu Hilfe fam, nicht beim erften
Anfturm den Sieg erftritt, ift das perfönliche Verdienft des Minifterpräfi-
denten Walded-Rouffeau. ALS Berryer, auch ein politifcher Advofat, von
feiner Preffe zu den Halbgöttern erhöht wurde, ſchrieb Barbey in heller Wuth:
Diefe Läppifche oder heuchlerifche Lleberwerthung eines Menſchen ift auf die
Dauer efelhaft. Solches Gefühl regt fich in dem Unbefangenen auch beim
Leſen der Waldeckhymnen. Doch der Held diefer Sänge ift der Beachtung werth.
An einem Büchlein von Erneft-Charles hat kluge Bosheit neulich fein
Eharafterbild gezeichnet. Ein Mann, der nie lacht, nie in hitige Wallung
geräth, der unter blickloſen, halb verjchleierten Augen von Zeit zu Zeit nur
melancholifch, verächtlich lächelt. Er läßt ſich nicht hinreißen, nicht von En-
thuſiasmus noch) Zorn weiter führen, als er gehen wollte, und kein Ereigniß
icheint ihm das Phlegma vertreiben zu fönnen. Dabei ftolz, oft hochfahrend
im Ton, mit der fteifen Würde des vom Athem des profanum vulgus ans»
gewiderten Ariftofraten; ein ſehr Eultivirter Menfch, Sammler jeltener ob-
jets d’art, Dilettant im franzöfiichen Sinn des Wortes. Die Klofterfchule
hat ihn, wie jo viele in mönchiſcher Zucht Erwachjene, allem Kirchenwefen
entfremdet. Als junger Anwalt folgt er der Fahne Gambettas, deſſen ge-
flügeltes Wort: Le elericalisme, voilà l!’ennemi ihm aus fühlem Herzen
geiprochen ift, wird neben dem ftet8 Trunfenen ein nüchterner Minifter, geht,
als Sambetta fällt, zu Jules Ferry über, der ihm das wichtige Minifterium
des Inneren anvertraut, und zieht ich, da die Bretonen ihn nicht wiederwählen,
mit deutlichen Zeichen der Geringichägung aus der Politik in die Civilrechts—
praxis zurüd, Er wird in Baris der Anwalt der großen Gejchäftsleute und der
großen Spigbuben, häuft ein ftattliche8 Vermögen und jcheint, als die Here
Politik ihn nach Jahren abermals lot, von dem einen Wunſch nur erfüllt:
den Sozialismus mit Stumpf und Stiel auszuroden; und ſozialiſtiſch nennt
er ſchon den bürgerlichen Radifalismus des Herrn Bourgeois, dem er vor-
wirft, den Umjturzparteien die Thür zur Herrichaft geöffnet zu haben. In
allen Reden warnt er vor der destruction, empfiehlt er die conserva-
tion sociale. Ohne jtraffe Ordnung fei Freiheit nicht möglich und eine
internationale Partei, die das Vaterlandgefühl negirt, ohne Rückſicht und
41
—— — — —
Waldeck Rouſſeau. 963
Schonung zu befämpfen. Wer dem Arbeiter helfen wolle, dürfe das Kapital
nicht beunrubigen, dem Arbeitgeber nicht die Möglichkeit nehmen, im eigenen
Haufe der Herr zu fein. Das Befigrecht iftihm daserfte aller Menſchenrechte.
Im Oktober 1897 ruft er, ganz wie unſer Stumm, in Reims, fein Gerede,
fein feiges Ausweichen nütze, die Entſcheidung müſſe klipp und Har für oder
wider den Sozialismus fallen. Als er 1898 den Grand Cercle der
fonjervativen Republikaner eröffnet, den er zum Hauptquartier der So-
zialiftenfeinde machen will, rühmt er Herrn Meline, den eminent homme
d’Etat, den Minifter, der das Pand vom Unrath gereinigt und deſſen Autori=
tät ſich von Tag zu Tag verjtärft habe. DreiMonate danach ſcheidet Meline
aus der Macht und Walde ruft dem „energijchen Republikaner” nad:
Nousne lui disonspas adieu, mais au revoir! Das war im Juni 1898.
Ein Jahr jpäter war Waldeck-Rouſſeau Minifterpräfident. Er wählte zwei
Sozialiften, die Genofjen Baudin und Millerand, den Führer der jozial-
demofratijchen Kammerfraftion, zu Kollegen und hat feitdem feinen anderen
Politiker mit jo zähem Ingrimm verfolgt wie Herrn Meline, deſſen poli—
tifches Wejen doch in feinem Zuge gewandelt ift. Staunend fahen Waldeds
frühere freunde dem Speftafel zu und fragten, was diefen Dann, der nie
nach Volksgunſt lüſtern jchien und der jchon oft Gelegenheit hatte, ohne
Opfer zurMacht zugelangen, beftimmt haben könne, jeineganzeVergangen-
heit als ein Zweiundfünfzigjähriger jo zu verleugnen. Ein piychologifches
Näthjel. Auch der Herr, der ſich Erneft-Charles nennt, hat es nicht gelöft.
Und doch ift am Ende die Yöjung jelbft dann nicht gar fo ſchwer zu
finden, wenn man fich vorher entjchlofien hat, Walde nicht einfach für einen
feilen Wicht und Streber zu halten. Er ift Hug, ungewöhnlich gejchieft und
jo weitfichtig, wie mans dem gejuchtejtenparifer Eivilanwalt zutrauen durfte.
Er ſpricht nicht mehr von destruction und conservation sociale, fondern
hat längjt ein anderes Schlagwort gewählt und heißt ſich jelbt den Organi:
fator der defense republicaine. Die Republif, jagt er feit drei Jahren,
ift bedroht; vor jedem Thor lauert ein Prätendentenwunſch, eines Diktators
Ehrgier, und wenn wir nicht wachjam jind, wird mit der Hilfe der immer
den jtarken Bändigern verbündeten Pfaffenichaft uns morgen irgend ein
Gaſſencaeſar fnechten. Das glaubt der Schlaue natürlich ſelbſt nicht, der
genau weiß, daß von allen Staatsformen des vorigen Jahrhunderts feine in
Frankreich fo ungefährdet war wie die 1870 gejchaffene und daß für ab-
jehbare Zeit an die Auferftehung einer Monarchie von Gottes oder von
Pöbels Gnaden nicht zu denken ift. Er zweifelt aud) nicht an der Zuver-
264 Die Zukunft.
läjjigfeit des Klerus, der, auf eos und Rampollas Befehl, mit der Republik
Frieden geſchloſſen und nicht den geringften Grund hat, in nutzloſen Aben-
teuern Eojtbare Kraft zu verzetteln. Aber ein Anwalt und ein Bolitifer hat
nicht immer, hat jehr jelten fogar die Pflicht, die reine Wahrheitüber die Forde-
rung der Augenblickstaktik zu jtellen. Wer ſich gewöhnt hat, die Menjchen nad)
ihrem Handeln, nicht nach ihrem Reden zu beurtheilen, wird leicht merken, daß
Walded-Rouffean feinem alten Ziel, die Neigung zum Sozialismus aus den
Hirnen zu ſcheuchen, um eine tüchtige Strede näher gekommen ift. Der feine
Steptiter, der an der Barre und in Wahlverfammlungen die Maſſenpſyche
ichäten gelernt hat, mag geſchmunzelt haben, al3 er auf den großen Boule-
vards Tauſende rufen hörte: Nieder mit Millerand! Conspuez le baron!
Kein Zetern, fein Sozialiftengejeß, „Fein Kampf mit geiftigen Waffen“
fonnte jo wirfen wie die wehe Enttäuschung, zu der ein fozialdemofratijcher
Minifter feiner Genofjenjchaft verhalf. Die Millerand, Jaurès, Viviani,
die ministrables fein wollten, haben in heißen Schlachten die Guesdiſten,
Marxens jtrenggläubige Jünger, geſchwächt und zugleich ſich ſelbſt um den
Nimbus des Volksbeglückers gebracht. Diejer Erfolg war nur durch eine
Berbrüderung von Bourgeoifie und Proletariat zu erreichen; und ſolches
Bündniß wurde erjt möglich, wenn der Menge die Ueberzeugung einge-
hämmert war, die Republik jei, die Freiheit, das Menfchenrecht in Gefahr.
So oft eine Bourgeoifie ſich in ihrem Befigrecht bedroht fühlt, jchreit fie, die
heiligjten Menjchheitgüter ſeien gefährdet, zeigt fie der gegen die ſchranken—
[oje Geldherrichaft erregten Maſſe den Pfaffen als Erzfeind und ſucht fich
das Gewimmel zu befreunden, das ihr morgen ſonſt indie Putzſtuben brechen
fönnte. Und jedesmal — eben jahen wirs wieder in Belgien, wo liberale
Fabrifanten die Arbeiter um den Kampfpreis prellten und der Sozialdemo-
fratie eine Wunde ſchlugen, von der fie jich jchwer erholen wird — jedesmal
ift das Proletariat dann jo arglos, jo blind, daß es jich von den ungemein
menjchenfreundlichen Kapitaliften firren und als Helotenheer in einen Krieg
der Privilegirten treiben läßt, in dem e8 nichts zu gewinnen hat.
Herr Waldeck-Rouſſeau hat diefesNothmittel nicht erfunden, aber jo
flug angewandt, daß der Erfolg nicht ausbleiben konnte. Frankreich, das eine
joziale Revolution fürchten mußte, hat heute nur Salonfozialiften und macht—
loſeSekten. Walde hat gefiegt, nicht über monarchiftifche oder pfäffiſcheFeinde
der Republif, jondern über die Förderer der destruction sociale. Unjerer
Prefjeifterderlichte Held lauterſter Redlichkeit. Vielleicht ftammtdieDanfbar-
keitaus demInſtinkt, der in Waldeck den Hort bourgeoifen Befigfriedeng wittert.
*
Die Welt als Seit. 265
Die Welt als Zeit.
Man lernt mehr Weisheit mit dem
Hören als mit dem Sehen. Das Hören
bringt mehr herein, aber das Sehen weit
mehr hinaus, Meijter Edhardt.
Es giebt feinen Unterjchied zwiſchen
dem Subjekt, das erkennt, und dem Objekt,
das erfannt wird.
PBarijer Univerfität anno 1276.
—— babe ich in meinen Berichten über Mauthners Sprachkritik*)
den Grundgedanken des Werkes verftändlich genug wiedergegeben;
was mir aber zu fehlen fcheint, ijt die Aufdedung des Grundgefühles, aus
dem heraus Mauthner ans Werf gegangen ift; und was fchlieflich das Selbe
fagt: es muß noch gezeigt werden, zu welchem Ende und Mauthner diefe
Waffe in die Hand gegeben hat. Kurz gefagt: zum Ende Gottes. ch
glaube, nicht jalfch zu vermuthen, wenn ich fage: Was Mauthner bei diejer
Arbeit langer Jahre geftählt und begleitet hat, war das Gefühl, daß es weder
Kant noch einem Anderen bisher gelungen war, mit der falfchen Hypotheſe
„Bott“ fertig zu werden. Man mußte die Sprache angreifen, noch mehr,
man mußte erfennen, daß all unſere Erkenntniß nur Sprache fei, um dieſe
That zu thun, — es einmal für alle hinzuftellen: ob Ihr e8 Gott nennt oder
moralifche Weltordnung oder Zwedmäßigkeit der Welt oder tiefere Bedeutung
der Welt oder Erforfhung der Wahrheit oder Erfennbarfeit der Welt, —
es ijt immer das Selbe: der Glaube, die Welt ausfprechen zu können, ift
der Glaube an Gott. Was immer Ihr von der Welt jagt: e8 find Worte.
Das heikt: e8 ift nicht wahr. Wahrheit hie bisher immer: jo ift e8; wenn
das Wort noch fernerhin angewandt werden joll, muß es bedeuten: es ijt
anderd. Das Wort Wirklichkeit mögen wir ruhig behalten für unſere Er:
fcheinungwelt, für Das, was auf uns wirkt und wiederum von uns bewirkt
wird; Wahrheit aber ift ein durchaus negatives Wort, die Negation an ſich,
und darum in der That Thema und Ziel aller Wiflenfchaft, deren bleibende
Ergebniffe immer nur negativer Natur find. Darum auch ift es fein Wider:
ſpruch, dar Mauthnerd Kampf gegen die Sprache ſprachlich geführt wird:
denn Das ift eben die Aufgabe der Begriffsfprache, fih mit Dem zu be
ichäftigen, was nicht ift, bisher Geglaubtes zu negiven. Alles ift anders:
Das ift die Formel all unferer Wahrheit. Auf diefe Ahnung iſt es wohl
zurüdzuführen, daß man hinter dem Tod die Löſung des großen Räthſels
gefucht hat; ich möchte jagen, man hat den Trugſchluß gemacht, aus der
\
*) S. „Zukunft“ vom 23. November 1901.
266 Die Zukunft.
Empfindung, daß Wahrheit — Andersfein ift, zu fchliefen: es brauche alfo
nur eine gründliche Veränderung mit uns vorzugehen, damit wir Alles er-
kennen. Uber folche Veränderung ift ja auch wieder nur etwas Poſitives,
nur ein Zuftand; jenes Andersfein aber drüdt lediglich die Negation aus und
könnte duch „niemals“ erfegt werden. In diefer Auffaſſung fällt „Wahr:
heit“ natürlich auch mit dem „Ding an ſich“ zufammen. Was ftedt hinter
unferer Wirklichkeit? Etwas Anderes! Wie ift die Welt an fih? Anders!
Diefe Wahrheit, daß man die Welt eben darum nicht erkennen kann,
weil man jie erfennen muß, räumlich, zeitlich, dinghaft wahrnehmen und mit
Worten belegen, iſt fchon früh und immer wieder, manchmal mit wunderbarer
Schärfe und Deutlichkeit, ausgejproden worden; und gerade in den Kreiſen,
wo man mit tieffter Sehnfucht nad der Ruhe des Poſitiven lechzte und
darum unerfchroden und ehrlid) war. Denn die Gefchichte der Weltanfhauungen,
der Philofophien wie der Religionen, fünnte in zwei Lager getheilt werden:
auf der einen Seite Solche, die ſich ſchnell bei etwas Pojitivem beruhigten:
die Priefter und die Gründer philofophifcher Syiteme als Befjere und bie
Pfaffen und Philofophieprofefforen al8 weniger Gute; auf der anderen Seite
Solche, die leidenschaftlich nad Ruhe begehrten, aber durch nichts beruhigt
werden fonnten: die Ketzer, Seftirer und Myſtiker. Es geht eine Linie, die
bei den Neuplatonifern ficher nicht anfängt, aber doch zum erjten Mal mit
Sicherheit fejtzuftellen ift, die dann in Dionyſius Areopagita wohl im fünften
Jahrhundert ihren eriten Höhepunkt findet, in Scotus Erigena im neunten
ihren zweiten, die dann nachhaltig die Scholaftifer, Realiften und panpfy:
hiftifchen Sekten des MittelalterS berührt, bis fie in Meiſter Edhardt ihren
dritten und höchſten Gipfel erreiht. Yon da geht die Linie langjam und
verborgen, aber unverloren weiter über Picus de Mirandola, Molinos und
Jakob Boehme zu Angelus Silefius, der, wie der treffliche Gottfried Arnold
jo wunderhübjch jagt, „aus denen vornehmiten myſtiſchen Theologis die
summam der geheimen &ottesgelahrtheit im nervojen und nachdrüdlichen
epigrammatibus vorträgt“, der Tih aber zu Cdhardt verhält wie der
Jeſuitenſtil zur Gothik; ein deutlich erfennbarer Zweig geht dann nad England
hinüber zu dem großen Berkeley, der freilich als echt engliicher Kopf genialjte
Negation mit kraftloſeſtem Politivismus zu vereinigen wußte; die Linie ſcheint
mir bis in die Gegenwart zu reichen und in Johannes Wedde und vor Allem
Alfred Mombert in die Erjcheinung getreten zu jein. Sie Alle jind in der
Einficht vereint, dar fie — mit Berkeley zu ſprechen — Sinne und Worte
als erroneous prineiples bezeichnen; fie machen denmad, wie Johannes
Wedde es ausdrüdt, „Front gegen jede bejtehende Religiongemeinfchaft (und
jedes wifjenfchaftlihe Syftem), denn fie Alle fordern die Anerkennung ge-
wiſſer Begriffe und Begrifisverbindungen als intelleftuell richtiger. Es iſt
Die Welt als Zeit. 267
aber unmöglih, dak ein Menfch Etwas richtig begreife.“ Sie jind ferner
au darin einig, unfere Sinnenwelt ald etwas Bildmäßiges zu betrachten,
und mühen fich leidenfchaftlih, eine Welt „ohne Bilder und Zeichen“ —
wie Mombert jagt — zu fchaffen. Und drittens find fie darin einig, daß
ie — im Gegenſatz mehr zu dem landläufigen materialiftifchen Bantheismus
al3 zu Spinoza — ſpiritualiſtiſche Pantheiſten find; da die Welt (oder Gott)
nicht von außen her erkannt werden kann, muß fie von innen her geichaften
werden: durch Abkehr von Raum und Zeit, durch myſtiſche, nicht oder faum
auszufprechende Verſenkung follen augen die Dinge und innen das Ichgefühl
aufhören, zu fein, Welt und Ich in Eins zerfliehen.
Der Gröfte unter all diefen ketzeriſch myſtiſchen Steptifern war unfer
Meiſter Edhardt, der mit gewaltigen Mitteln unternahm, wovon bei Spinoza
nur Spuren zu finden find und was fünf Jahrhunderte fpäter dem Kant—
ihüler und Boehmeſproß Schelling nicht gelingen wollte: Pantheismus und
fritifche Erfenntniftheorie in Harmonie zu bringen. Er wußte und hat es
oft ausgefprocden, dar man Gott, den Sinn der Welt, nicht erfennen könne,
daß wir aber willen, was er nicht ift. Auch war e3 feine tiefe und bleibende
Erkenntniß, diefes Nichts, mit dem er eben fo wie ſchon Dionyfius und
Scotus Gott identifizirte, für ein unbekanntes Poſitives zu erklären, defien
Artribute nur alle unfere Erjcheinungen ſammt unferem Ich find. Diejes
Unbefannte glaubt er aus jich heraus fchaffen, myſtiſch darein verfinfen und
dann bildmäßig und in Gleichnifien davon fprechen zu fünnen. E3 war ihm
ficher, daft, was wir in ung felbit al3 ſeeliſches Erleben finden, dem wahren
Weſen der Welt näher ftünde als die aufen wahrgenommene Welt. Aber
auch diefes innere Erleben, wen es ſchon den Raum abgethan hatte, geichah
doch noch in der Form der Zeit; und darum betrachtete er die Zeit als den
ärgiten Feind Gottes. Zeitlos mufte man werden, damit Außenwelt und
Ich zu Einem würden. Die Stellen, wo er von diefen inneren Erlebnifien
tieffter Art erzählt, gehören zum Ergreifenditen, was es an Wortfunit über:
haupt giebt. Selten hat Einer jo jhön und wahrhaft um das Unaus:
ſprechliche herumgeſprochen wie Meifter Eckhardt. Aber hier handelt es ſich
nicht darum, fondern um die Frage: ob es möglich ift, einen ſolchen über—
natürlichen Zuftand, wo Welt und Perfönlichfeit zugleih aufgehoben und
vereinigt fei, in ſich zu verjpüren. Da wir jelbit ganz ficher nicht nur
äußere und innere Erfcheinung find, fondern auch zur Welt als Wahrheit,
zur Welt, wie fie anders ijt, gehören, läßt fich, wie ich zögernd jagen muß,
diefe Möglichkeit nicht ohne Weiteres abweifen. Daß Das, wovon uns
die Myſtiker Bericht erjtatten, nur Wortbild und Negation faljcher Annahmen
ift, beweist nichtS dagegen, dar fie Etwas erlebt haben, das ſich anders nicht
fagen läßt. Auch die Erkenntniß, dar zum Beifpiel Meifter Edhardts Ent:
20
2068 Die Zuͤtuuft.
züden über feine tiefen Stunden und Berzüdungen dem pfychologifch prüfen-
den Leſer ſich als fein Staunen über die eigene Genialität herausftellt, der er
in nüchternen Stunden felbft nicht gewachfen war, ift noch nicht durchſchlagend.
Und auch der Einwand, wir fönnten nichts fühlen oder im Bewußtſein haben,
was nicht Zeit erfordere, beweift nichts, denn es handelt ſich eben bei diejen
Erlebniffen um Gefühltes und Seelifhes jo wenig wie um Materielles:
auch Erlebniß ift natürlich eim gräßlich falfches Wort für etwas Zeitlofes
und darum auch Leblofes. Dabei ijt niemals ein Erlebnik fo ftarf und
wahrhaft als Ungeheuerliches, Blendendes, Fortreißendes und Befeligendes
geichildert worden wie von den Miyftifern diefer benommene Traumzuſtand.
Ich laffe dies Geheimnißvolle alfo dahingeftellt; nur muß hinzugefügt werden,
daß die Erflärung des Zuftandes als irrige Deutung genialer Entrüdtheit —
Andere würden fagen: einer frankhaften Verfaſſung — eben fo wohl möglich
ift. Und vor Allem: da diefer Verkehr zwifchen Welt und Individuum
völlig ummittheilbar fein muß, kann er als folder weder dem Gedächtniß
des Individuums noch irgend einer Erfenntnig angehören. Wäre ich dazu
genug Myſtiker, fo würde ich jagen, er gehöre wohl dem Weltbewußtfein an;
aber jolche Bilder darf fih ein armer Normaler nicht erlauben. Wenn es
aljo Etwas diefer Art giebt, dann hat es feine eigene Sphäre und geht uns
nicht da8 Geringfte an, fo lange wir es nicht mitgemacht haben. Es ijt dann
die ſelbe Sache wie mit dem Tod, von dem ſchon Epikur gefagt hat, daß
er und nicht angeht, und unferem Zuftand vor der Geburt oder eigentlich der
Zeugung. Nur geht e8 uns freilich mit unferer erften Kindheit genau fo;
und doc wird faum Einer leugnen wollen, daf fie zu feinem Erfeben gehört.
Wir find eben doc noch mehr als Gedächtniß und Bewußtſein; oder, das
Selbe nicht negativ, fondern metaphoriich ausgedrüdt: unjere Bewußtſeine
hinterlaffen nicht alle bleibende Spuren in dem Bewußtfeinstheil, den man
Gedächtniß nennt. Körperlich Freilich ift kaum mehr Etwas von Dem an
uns, was wir damals als Kind waren; nicht einmal die Zähne.
Ich habe gejagt, die Wiffenschaft fei das Wiffen von Dem, was nicht
if. Das ließe ih an Beifpielen Mauthners weiter erläutern; ich erinnere
an das Gefeg von der Trägheit oder der Erhaltung der Energie, deren Aus:
fagen ja nur landläufige Irrthümer zurüdweifen. Ich habe dann zweitens
von dem Nichtwiljen in dem abgründlich poſitiven Sinn der Myſtik ges
fprochen; für Den, der daran glaubt, muß Das die einzige Art von Religion
jein, die ihm noch möglich it. Neben diefe Wiffenfchaft und diefe Neligion
tritt ein dritted Clement unjerer Weltanfhauung: die Kunſt. Darunter
verjtehe ich hier die ſymboliſche oder metaphorifche Ausdentung der Metaphern
unferer Sinne und der Metaphern unſeres inneren Bewußtſeins. Sie hat an
die Stelle Deffen zu treten, was bisher die Willenfchaft Pofitives zu leiſten
Die Welt als Zeit. 269
wähnte. Nicht mehr abfolute Wahrheit fönnen wir fuchen, feit wir erfannt
haben, daß ich die Welt mit Worten und Abftraktionen nicht erobern läßt.
Wohl aber drängt e8 uns, fo ftark, daß fein Verzicht möglich ift, die man—
nichfachen Bilder, die uns die Sinne zuführen, zu einem einheitlichen Welt-
bild zu formen, an deſſen fymbolifche Bedeutung wir zu glauben vermögen.
Das aber ift Kunſt in diefem höchſten Sinn: ein zwingendes Sinnbild der
Welt. Wo immer wir in den Thaten der Wiljenfchaft zwingend Pofitives
antreffen, bei Kopernikus oder Laplace, bei Helmholg oder bei Herb: mir
dürfen willen, daß es entweder nur verjtedte Verneinungen find oder zwin—
gende Symbole, die irgendwann einmal von treffenderen Metaphern abgelöft
werden. In der Wiſſenſchaft alfo findet man überall zerftreut die Bruch—
ftüüde der Symbolik, die einmal an die Stelle des angeblich politiven Theils
unferer abjtraften Erkenntniß treten wird. Bevor es aber dazu fommt,
bevor es möglich zu fein fcheint, aus den Ergebnifjen der wifjenfchaftlichen
Forſchung eine Weltgeftalt zu formen, fcheint eine große Umnennung nöthig:
der Verzicht auf eine uralte Metapher und ihr Erjag durch eine andere. Der
Naum muß in Zeit verwandelt werden.
Selbſt Manthner fpricht an einer Stelle, wo er von dem alten Gegen:
fag von Leib und Seele redet, davon, er könne die Schwierigkeit nicht ein=
fehen, die in der Vorſtellung liegen folle, daß feine Bewegungen der Außen—
welt fich zunächft in Nervenbewegungen und dann in Das verwandeln, was
wir Empfindung nennen. Diefe Stelle ift aber freilich vereinzelt und ihr
ftehen andere bedeutfam gegenüber, in denen es heißt, wenn die Sprache
Das ausdrüden könnte, möchte er jagen, der Glodenton fei für die Glode
felbjt feine Bewegung, fondern Etwas wie Empfindung. ch geftehe: mir
giebt einzig und allein diefe — keineswegs unausfprehbare — Vorftellung
einen Sinn; der Gedanke, da draufen fei etwas Körperliches, das unab-
hängig von meiner Wahrnehmung jo materiell da jei, und diefes Ding oder
diefe Bewegung von Stofftheilhen „bewirke“ Das, was mir von innen her
als Pſychiſches fo wohlbefannt ift: diefer Gedanke ift für mich völlig abjurd.
Spinoza hat es ſchon gefagt, wenn es auch durch die jtumpf geichliffenen
Brillen der Spinoziften meiſtens nicht durchgegangen ift: die Welt kann
phyſiſch volllommen ausreichend erklärt werden und braucht das Pſychiſche
gar nicht erjt zu bemühen: von den Wirkungen da draufen geht es ins
Sinnedorgan, von da zu den Leitungbahnen der Nerven, von da zum Hirn,
vielleicht von einer Partie zur anderen, vielleicht auch chemifchen Veränderungen
unterzogen oder fonftwie behandelt, auf Arten, die wir nicht fennen, und vom
Hirn geht e8 wieder auf anderen Nervenbahnen hinaus in die Außenwelt als
Aktion; Alles rein materiell. So kann die Welt erklärt werden; aber
Phyſiſches kann nur durch Phyfisches erklärt werden: und Das, was innen
20”
270 | Die Zukunft.
in uns, als unier Allerbefannteftes, vorgeht, ift nad) diefer Weltmetapher
nicht etwa eine Wirkung oder Etwas, das als Begleiterfcheinung nebenher
geht, fondern es ift ganz und gar nicht vorhanden. Wir mußten, weil wir
die Metapher „Ding“ oder „Materie“ oder „Außenwelt“ acceptirt haben,
nothmwendiger Weife an die Stelle unferer vertrauteften Innenvorgänge die
Metapher „Nerven“, „Gehirn“ u. f. mw. fegen. So fteht die Sache und
man kann, wenns Einem genügt, ftatt von inneren, pſychiſchen Erlebnifien,
von Gehirnvorgängen reden; wenn man aber meint, die Gehirnvorgänge
feien die Urfache der Seelenerlebniffe, fo fcheint mir, da meine man Un—
finn. Wie Spinoza erfannt hat: Phyſiſches kaun nur durch Phyſiſches,
Pſychiſches nur durch Pſychiſches erflärt werden; vermengt man die beiden
Bereiche, jo läßt man fich die fchauderhafteften Metaphervermengungen oder
Wippchen zu Schulden kommen. |
Ein Weltbild, das zur Vorausfegung die Annahme hat, unfere inneren
Erlebniffe jeien nicht vorhanden, jcheint mir nur eine Unmöglichkeit für ung
Menfhen. Wohlgemerkt: es ift bei diefem Fonfequenten Materialisnus nicht
anzunehmen, es handle jich bei Dem, was wir innen verjpüren, um eine
Täufhung; feineswegs! Denn auch „Täufhung“ iſt ja fo eine vertradte
pſychiſche Angelegenheit; man muß vielmehr behaupten, diefe Erlebniffe feien
gar nicht da; wenn Einer zum Beifpiel feinen Arm in die Höhe hebt, ges
fchehe nur, was davon zu ſehen fei; und noch ein paar körperliche Vorgänge
ähnlicher Art im Innern des Leibes; aber dar er jelbit von diefer Aftion
Etwas fpüre: Das gebe e8 nicht. Mir jcheint alfo ein folches Wegleugnen
uns unmöglich. Die Wirklichfeit unjeres Innenſeins ift uns unentreißbar. Es
bleibt uns aber noch der andere Weg: Alles piychiich zu erklären. Und
Das jcheint mir in der That geboten: was wir al3 Aeußeres wahrnehmen,
muß uns etwas Piychifches bedeuten. Wir müfjen die körperliche Welt als
eine Metapher unferer Sinne betrachten lernen, die wir erſt dann mit der
Metapher unſeres Ichgefühls zufammenreimen können, wenn wir eine
Metapher zweiten Grades vornehmen: diefe Fförperliche Außenwelt iſt uns
nur noch ein Symbol, ein Zeichen für Etwas, das gleicher Art ift mit
unferem Seelenleben. Mauthner liebt es, die Zeit als die vierte Dimenfion
der Wirklichkeit zu bezeichnen. Dahinter ftecht fchließlich gar nichts Anderes
als die Andeutung, die Zeit fei nur Etwas wie eine Eigenfchaft des Raumes.
Wenn es ihm möglich ift, auch unferen inneren Zeitinhalt, unfer Pſychiſches
rein als Raum binzuftellen, dann fol uns dieſer fonfequente Materialismus
jehr willlommen fein; wir können ihn brauchen, wenn aud) nur, damit er
ſich ad absurdum führt. Aber ich glaube nicht, dak Mauthner den Verfud
machen will; es fcheinen mir nur Reſte einer Schon faft völlig überwundenen
Epoche der matertaliftiichen Metapher zu fein. Der Verſuch, den er mauch—
Die Welt ald Zeit. 271
mal macht, das Gedächtniß als eine Art objektiven, ohne Bewußtſein funk—
tiontrenden mechanischen Apparates zu betrachten, gehört auch zu diefen An-
läufen. Diefer Erflärungverfuh mit Hilfe des objektiven Gedächtniffes wäre
eine und ganz und gar finn= und bedeutunglofe Wörterzufammenftellung,
wenn wir nicht unfer ſubjektives Gedächtniß hätten, das wir fo fehr gut
fennen, ohne e8 im Geringften erklären zu fünnen. Das Piychifche läßt ſich
eben nur dann durch Phyſiſches „erklären“, wenn man das Pſychiſche als
befannt, als feiner weiteren Erklärung bedürftig vorausfegt. Dann aber
thut die phyfische Erklärung wundervolle Dienjte: als bedeutungvolle Sym—
bole für das Seelifche, das objektivirt und veräußert werden muß, um er=
fennbar zu fein. Mit der Ausfage, die Zeit fei die vierte Dimenlion des
Naumes, vermag ich alfo zur Bezwingung und Geftaltung der Welt nichts
anzufangen. Umgekehrt drüde ich aus: der Raum mit Allem, was darin
it, ijt eine Eigenfchaft der Zeit. Nicht mit diefer veralteten Metapher —
Eigenfchaft! — ausgedrüdt, ſondern vorläufig negativ: es giebt feinen Raum;
was uns räumlich beharrend erfcheint, ift eine zeitliche Veränderung; was ung
im Raum bewegt erfcheint, find die wechfelnden Qualitäten zeitlicher Vorgänge.
Der Einwand, unfere Sprache fei aber nun einmal von Haus aus
materialiſtiſch, trifft uns auf diefer Stufe durchaus nicht und kann ung nicht
abhalten, weiter zu fchreiten. Er fagt nichts weiter, als dar die abftraften
Begriffe, mit denen Vollsglaube und Wiflenfchaft arbeiten, den Charafter
des Sinnlichen nicht abftreifen fünnen. So daß zum Beifpiel Atom, Aether
und ſolche Worte nicht3 weiter jind als unvorftellbare Produfte räumlicher
Borftellungen, ung aber niemals von den Sinneseindrüden befreien können.
So lange man die Worte wörtlich und die Mittheilungen der Sinne finnifch
verjteht und fo lange man aus dem Sinniſchen und feinem Wortichatten
pojitive Wahrheit fchöpfen will, ift der Einwand richtig und wichtig, daß die
Sprade und nicht vom Fleck bringen kann. Hier aber, auf diefer Stufe des
Kunſtwiſſens und der bewurten Metapher, ift uns alle Sprache nur ein
Symbol des nicht weiter Auszufprechenden, des Unmateriellen. Diefen Dienft
hat die Sprache als Wortkunſt fchon immer geleiftet. Nehmen wir ein Bei:
fpiel aus Goethe, wie e8 jich mir beim zufälligen Auffchlagen eines
Bandes bietet:
Wie Fellenabgrund mir zu Füßen
Auf tiefem Abgrund laitend ruht,
Wie taufend Bädje ftrahlend fliegen
Zum graufen Sturz des Schaums der Fluth,
Wie ftrad, mit eignem Fräftgem Triebe,
Der Stamm ji in die Yüfte trägt:
So ijt es die allmächtge Yicbe,
Die Alles bildet, Alles hegt.
272 Die Zuhmft.
Das, was uns diefe Begriffe vermitteln, iſt weder eine Abftraftion
noch eine äußere Wahrnehmung: die Worte und Sinmenbilder find nur
Metaphern für etwas nnerliches, das Goethe uns mitzutheilen veriteht.
Sch meine nun: eben jo wie wir unfer Junere8 auszudrüden verftehen mit
Hilfe bildlicher Ausdrudsweife, eben fo gut fünnen wir auch, um die Ein-
heitwelt zu formen, die wir brauchen, die Welt ald etwas Pfychiiches dar—
ftelen, unter Benugung von Wörtern, die freilich nur Aeußeres bedeuten;
aber das finnifch Ausgedrüdte und das ſinniſch Wahrgenommene fol uns
nur an Pſychiſches erinnern. Die Aufgabe für Den, der ein einheitliches
Weltbild formen will, ift alfo: das Materiele al3 etwas Piychifches darzu=
ſtellen. Das heißt: glaubhaft zu zeigen, daß die Materie, das aufen Ge—
ſchaute, nur eine metaphorifche Darftellung, ein Sinnenbild oder Sinnbild
feelifchen VBorganges if. Wenn Das möglidy fein foll, muß zwifchen den
Aufenbereihen und unſeren Ichgefühlen eine Aehnlichkeit, ein Bergleichung-
punft vorhanden fein. Das ift der Fall; und die mechaniftiiche Wiſſen—
fchaft hat uns diefes tertium comparationis nahe genug gebracht: ich meine
die Zahl. Die Zahl ift der Weg vom Naum zur Zeit, von den Dingen
zum Seelenfliegen, von der Gefichtsfprache zur Muſik, von der Weltanfchau-
ung zur Weltbehorhung, der Weg zu einer neuen Metapher.
Schon Berkeley hat gewußt, daß Alles, was wir jehen, nur die Sprache
von etwas Piychifchem ift, alfo nur ein unzutreffendes Bild des Wirklichen
in fremdem Material giebt; feine befte Erkenntniß hat ihm feine Chrijten-
fprache verhunzt, aber deutlich genug hat er trogdem von dem visual lan-
guage geſprochen. Und Lazarus Geiger hat wiederum entdedt, daß alle die
Begriffe, die unfere Weltanfchauung bilden helfen, auf das Sehen zurücgehen.
Alfo, füge ich hinzu, auf den Raum; denn die Raumhypotheſe ift, wie ich
zeigen will, nur auf das Auge, nicht, wie man meijt annimmt, auf eine
Kombination von Sehen und Taſten zurüdzuführen. Nicht die drei Dimen—
fionen ſind das Charakteriftifche für die Hypotheſe des Raumes, fondern die
Annahme eines Aeußeren, Dinghaften, Bleibenden, das nicht zu uns gehört,
das nicht bei ung, nicht unfer ift. Ohne Diſtanz, ohne Entfernung, ohne
Trennung durch fcheinbar Unausgefülltes wäre man niemals darauf gelommen,
Etwas wie Raum oder Ding anzunehmen. Unfere Sprache ift fubftantivifch und
objektivifch, weil Schon unfer Auge ähnlich angelegt ift; die Diftanz zwifchen uns
und dem Erſchauten, das nicht an ung rührt, das nicht unfer Leben, fondern unfere
Fremde ift, hat die luft geschaffen, die zwischen Welt und Ich gähnt. Man
jtelle fich einmal vor, es habe nie Geſichtsvorſtellungen gegeben, niemals Licht
oder Farbe oder gefehene Gejtaltung, und dann gleite man, während die Augen
geichloffen find, mit den Fingerfpigen dem nächſten Gegenſtand entlang,
diefem Stuhl oder diefem Tiſch; ich behaupte: was ich da fühle, it nimmer-
Die Welt als Zeit. 273
mehr ein harter Gegenftand da draußen — ic) kenne kein Draußen und habe
nicht die geringfte Veranlaffung, es anzunehmen —, fondern nur eine in der
Zeit vorgehende Veränderung meiner felbft. Meine Fingerfpigen werden
jo merfwürdig verändert; Das fühle ich; da wir diefe Taſtſprache nicht aus—
gebildet haben, will ich mich unferer Ausdrüde bedienen und jage: meine
Fingerjpigen werden hart; und inzwifchen jind jie gefchweift und glatt (Form
und Oberfläche des Stuhles) und nun ift wieder das Alte (der Stuhl hat
aufgehört) und jest Find die Finger Scharf (die Schreibtiichfante) und nun
werden jie naß und falt (ich bin ins Tintenfaß gefommen). Selbftverftändlich
könnten diefe Abitufungen, Grad» und Qualitätunterjchiede noch viel feiner
und jpezifizirter ausgedrüdt werden, wenn die Menjchen bis heute das
Intereſſe gehabt hätten, darauf zu achten. Aber jedenfalls habe ich nicht
die geringfte Beranlaffung, beim Taſten mir ein Außen zu denken, da ich
ja nur Etwas fühle, das bei mir, an mir, zu mir gehörig ift. Ich fühle
nur, daß in der Zeit fortwährend Veränderungen mit mir vorgehen. Alles
aljo, was ich tajte, find zeitliche Qualitätunterfchiede, aber keine Spur von
Raum bietet jih mir dar. Während es mir alfo unmöglich ift, wie ich
zeigte, von der Zeit und meinen Schgefühlen abzufchen, kann ic) vom Taftiinn
aus fehr wohl das Urtheil abgeben, das für die Erklärung des Piychiichen
durch Pſychiſches nothwendig ift: E3 giebt feinen Raum. Und genau fo
fteht e3 mit den Temperaturlinn, mit dem Schmerzenfinn und den übrigen
Abarten des Taftiinnes, genau fo fteht e8 auch mit dem Gehör, dem Geruch,
dem Geſchmack und Allem, was wir leiblich verfpüren: überall find e3 lokale
Vorgänge, wenn id) e8 vom Geſicht aus erfläre, find es Zeitveränderungen
an mir, wenn ich vom Geficht abjehe. Hätten wir feine Augen, fo wäre
der Unterfchied zwifchen der Welt und mir niemals entitanden, wäre man
niemal3 auf die verrüdte dee gekommen, zu dieſem Leib hier zwar Ich zu
fagen, aber ja nicht zu diefem Buch oder diefem Tiſch oder diejer Frau.
Und wäre, al3 das Auge entjtand, Telegraphie und Telephonie ohne Draht
ichon eine vertraute Sache gewejen, fo hätte man aus der Diſtanz wohl
auch nicht auf eine Andersartigkeit des Geſchauten gefchloffen, fondern gejagt:
Wie bin ich gewachſen! Wie breitet jich auf einmal eine Sprache vor mir
aus, für ganz meue, fonderbar klare Gefühle, die ich bisher faum im Dunkeln
geahnt! Nein: man hätte gar nicht3 gejagt, man hätte gejchaut und hätte
Das al3 die neue Sprache empfunden. Denn es wäre nichts Getrenntes,
nichts Ichfremdes gewefen: man hätte ja die Elektrizität oder das Licht als
fein eigen empfunden. est aber gähnt eine Leere; und ganz weit Kinten, wo
ih nicht bin, ift ein Ding. Dieſes Nichts it der Raum.
Die großen Denker haben gejagt, Naum und Zeit feien unfere eigenen
Anſchauungformen. Und wir haben es dahingeftellt jein laſſen und haben
274 Die Zukunft.
nicht3 damit anfangen können. Anders wird e8, wenn man dieſe Ausjage
auseinander reißt. Die Zeit ift nicht nur die Form unferer Anjchauung,
fondern auch die Form unferer Ichgefühle, alfo ift fie für ung wirklich, für
das Weltbild, das wir von uns aus formen müffen. Die Zeit ift wirklich,
gerade weil fie fubjektiv ift. Der Raum aber ift eine Anfhauungform; unjere
Subjeftivität braucht ihm nicht zur Deutung des Eigenen, fondern nur als
Bedeutung für das immer nod) frenıd Gebliebene. Der Raum ift unwirklich,
uiht Das, was er fcheint, obwohl er fubjektiv ift: er fcheint objektiv. Die
Entdedung, dar es nichts Näumliches, nichts Dingliches giebt, ift Etwas,
dad und mal in Fleisch und Blut übergehen muß wie die Entdedungen des
Kopernifus. Wir müſſen das Fremde zu unferem Eigenen machen, den Raum
in Zeit verwandeln, die Ertenfität der äuferen Dinge muß uns ein Bild
fein für die Intenſität unferer Ichgefühle. Ich bin nicht nur diefes Hirn,
nicht nur diefer Organismus, ich bin auch mein Gefchautes. Dies nicht
um der Wonnefäligfeit oder der Verzüdung willen — denn die Welt wird
wahrhaftig nicht Schöner und nicht edler, wenn ich jie bin (Dies für pan-
piychiftifche Pfaffen) —, fondern um des Sinmbildes der Wahrheit willen,
das mir einzig noch möglich fcheint.
Natürlich handelt es ih mir bier nicht um jolche dem Rolksglauben
angehörende Begriffe wie Seele, Ich und Dergleichen; ſie müffen nur mit
Vorbehalt angewandt werden, jo lange unfere Aufmerffamfeit noch fo Häglich
wenig auf die unendlich differenzirten Qualitäten und Intenſitäten der Zeit
gerichtet worden ift, jo lange wir die neue Sprache noch nicht Haben. Wie
wir ein Ding mit Eigenschaften, eine Bielheit um etwas Bleibendes herum,
in die Außenwelt verſetzt haben, jo erfcheint uns auch unfer Ichleben ats
eine Vielheit von Individualitäten, die ih um den trog ewiger Beweg—
lichkeit fejt fcheinenden Kern der Perſon und Ueberperfon, des Gedächtniſſes
und Uebergedächtnijfes gruppiren. Für diefe Vielheit der Perfonen in Einem
hat Kant ein Fühnes umd myſtiſches Bild gefunden; er jagt: „Eine elaftiiche
Kugel, die auf eine gleiche in grader Richtung ſtößt, theilt diefer ihre ganze
Bewegung, mithin ihren ganzen Zuftand (wern man blos auf die Stellen
im Naume jieht) mit. Mehmet nun, nad der Analogie mit dergleichen
Körpern, Subſtanzen an, deren die eine der anderen VBorftellungen, fanımt
deren Bewußtſein, einflöhete, fo wird Tich eine ganze Neihe derfelben denfen
lajien, deren die erite ihren Zuſtand ſammt deſſen Bewußtſein der zweiten,
diefe ihren eigenen Zultand jammt dem der vorigen Subjtanz der dritten
und dieje eben fo die Zuftände aller vorigen jammt ihrem eigenen und
deren Bewußtſein mittheilete. Die legte Subſtanz würde alfo aller Zuftände
der vor ihr veränderten Zubitanzen fich als ihrer eigenen bewußt fein, weil jene
zuſammt dem Bewußtſein in fie übertragen worden, und Dem unerachtet
würde fie doch nicht eben die ſelbe Perfon in allen diefen Zuftänden gewefen fein.“
Die Welt ald Zeit. 275
Diefe Stelle ift ein Verſuch, das Prinzip der Vererbung auf das
Berhältnif der einzelnen differenzirten Individuen innerhalb eines Individuums
anzumenden. Sie ladet aber aud) ein, die Einheit Defien, was Ich zu einem
Stüd Welt fagt, noch mehr zu erweitern: wenn das ch eine Anzahl von
Individuen (Zellen) in einem Herrſchaftſyſtem vereinigt, dann jehe ich nicht
ein, warum nur die Welttheile zu mir gehören follen, die ich mit Mund
und Lunge in mich aufgenommen habe, und nicht eben fo gut die anderen,
die mich font irgendwie berühren. Die Welt wird jo aufgefaht als eine
unendlich Fomplizirte Kreuzung pſychiſcher Herrſchaftſyſteme. Vor dieſer
Komplizirtheit ſich zu ſcheuen, liegt gar keine Veranlaſſung vor; darum
erſcheinen uns alle Weltanſchauungen fo kläglich, weil ſie mit Hilfe von
Abitraktionen, die immer tugendhafter wurden, je verblajener fie waren, ver:
fuchten, die Welt auf eine einfache, möglichit moralifche Formel zu bringen.
Die Welt ift nicht einfach; und wir haben feinen Grund, uns vor mikroſkopiſchem
Detail zu fürchten. So fehr die Naturwiſſenſchaft und Mechanik ins Detail
gegangen ift, fo jehr muß e8 die ſymboliſche Auslegung dicjer materiellen
Sinnbilder, die jene Wiffeniharten ung verschafft haben, thun. Die Geiftes:
wiſſenſchaften haben lange genug um ein paar armfälige fchönrednerifche
Hohlheiten fi herummgedrüdt.
In der Naturwiſſenſchaft hat man ſich ſeit Jahrtauſenden bemüht, alle
Vorgänge, phyſiologiſche und chemiſche, Licht, Farbe, Wärme, Elektrizität, auf
die Mechanik zurückzuführen. Das heißt: auf die Bewegung winziger Stoff:
theilhen, die eigentlich gar nicht mehr differenzirt waren und gar nichts
Stofflihes mehr an Sich hatten. Man mollte Alles auf die Bewegung eines
Einheitlihen zurüdtühren, deifen einzige Eigenfchaft eigentlich die Bewegung
war. Warum man Das wollte, warum man nicht, was man ohne Zweifel
eben fo gut hätte verjuchen können, etwa alle Bewegung durch Wärmegrade
ausdrüden wollte oder überhaupt irgend eine andere beſtimmte Sinnesenergie
als Mar aller Dinge angenommen hat, darüber wollte man jich nie Klarheit
verjchaffen. Und doch fcheint mir der verborgene Grund ganz einleuchtend:
man wollte das Qualitative aus der Welt fchaffen und es durch Uuantitatives
erjegen; die ſekundären Eigenjchaften jollten durch primäre erſetzt werden.
Schon Kant fpottet über die Mechaniker, die immer empirisch bleiben wollen
und die do zu Beginn ihrer Forſchung die „metaphyſiſche Vorausfegung“
machen, daß das Reale in Raum ich nur der extenſiven Größe nach unter:
fcheiden könne. Das Beitreben dev Mechaniker iſt, die Welt feelenlos,
farbenlos, duftlos, Manglos zu machen. Es follten nur reine Raumverhält—
nilfe übrig bleiben, die all das Wirre, Einnengemäre erklärten. So ſind
fie dazu gefommen, die Welt in benannten Zahlenverhältnifien auszuſprechen,
deren Name feine Rolle mehr jpielt. Sie haben die Welt auf die Zahl ge
bracht; und wo fie noch micht jo weit Find, find fie doch auf beſtem Wege.
276 | Die Zukunft.
Die Zahl aber ift nicht nur das Maß des Nauntes, fondern auch der
Zeit, nicht nur der abftraft gefchauten Bewegungen, fondern auch der Intenſität
all unferer Sinnesenergien, nicht nur des materiellen Draußen, fondern auch
des piychifchen Innern. Die Aufgabe Derer, die an dem Weltbild formen
wollen, fcheint mir zu fein: mit Hilfe der Ergebniffe der mecaniftifchen
Wiſſenſchaft richtige Zahlenverhältniffe für das Intenfive und das Syſtem
des pſychiſchen Fließens zu finden. An die Stelle der Dinglichkeit, der
Kaufalität, der Materie hat die Intenfität, das Flieken, die Pfyche zu treten:
an die Stelle des Raumes die Zeit. Räumliche Onantitäten jind nur bild-
liche Berhältnifzahlen für die unendlich differenzirten Qualitäten der Zeit.*)
So gewinnt Schopenhauers Einfiht, daß die Mufif die Welt noch einmal
it, einen neuen Sinn: jie ift einer der Verfuche des Kunftwifiens, der Welt-
verinnerlihung, mit Hilfe qualitativ getönter Zahlenverhältniffe ein Bild der
Welt als Pfyche zu geben, eine Sprache zu fchaffen für daS Weich der
Intenfitäten. Das Auge, der Raumjinn bat uns zu den Abjtraftionen des
Ertenfiven gebracht, bis wir merkten, daß wir unfer Inneres nicht auf Raum—
formeln bringen fünnen; vielleicht fann uns das Gehör, der Zeitſinn, die
Traum- und Slangbilder geben, deren wir bedürfen, um die Symbole, die
wir als Außenwelt fchauen, im zeitlichen Verlauf zu verwandeln. Wenn wir
fo Raum und Materie nur al3 ein Sinnbild für intenfive Vorgänge. in ber
Zeit auffafien, als eine Sinnestäufhung, die wir umdeuten müffen, dann
füllen wir etwa den Abgrund aus, der bisher unfer inneres Dafein und unfere
Außenwelt getrennt hat. Wir hören dann auf, unfer Innenleben al3 Räthjel
und die Raumwelt als Gefpenft zu betrachten: Beides geht dann auf im
einen unendlich mannichfachen feelifchen Zeitenftrom, deſſen geheimnißvolle
fraufe Berfchlingungen wir mit Hilfe der Metaphern unferer Sinne noch
zu erforschen haben. Die Wahrheit jenſeits unferes Eigenen kümmert ung
nicht, weil wir willen, daß wir nichts davon erkennen; das Fremde aber,
das wir bisher als Außenwelt liegen liefen, müfjen wir in unfer Eigenes
verwandeln. Vielleicht fommen wir auf diefem Wege, durch die Schärfung
und Verfeinerung all unferer Intenfitäten, auch zu neuen Sinnen, zu neuen
Bildern, von denen wir heute noch feine Ahnung haben.
Bromley. Guſtav Landauer.
*) Nachträglich finde ich in dem jüngſt aus Nietzſches Nachlai herausgegebenen
„Willen zur Macht’ den folgenden bejtätigenden Sat: „Der mechaniſtiſche Begriff
der Bewegung ift bereits eine Ueberſetzung des Uriginalvorgangs in die Zeichen—
ſprache von Auge und Getaſt“. Ueberhaupt dedt jich die Berwandlung des Seins
in Werden, die Niebfche in diefem Hauptwerk vorichlägt, fo ziemlich mit meiner
Meinung von der Berwandlung des Naumes in Zeit.
1 2
Blımmenträume,
Blumenträume.
Don mit mir in die filberne Srühlingsnadt,
C}
’ Mein Kieb, fomm mit mir hinaus;
Aus dem Schlaf find die Rofen und Kilien erwacht
Und ſchimmern von Perlen des Thaus;
Wir gaufeln über die Wege fact,
Auf Flügeln über die flammende Pracht,
Don Blüthen zu Blüthenftrauß.
Komm mit in den webenden Glanz hinein,
Mein Lieb, in den wogenden Duft;
Die weißen $loden wallen und jchnein,
Hörft Du, wies fchmeichelnd ruft?
Die Seele voll füßen Träumerein,
Mein Fieb, wir wollen wie Blumen fein,
Hitternd in Frühlingsluft.
Die Rofe öffnet die Blüthe weit.
Biſt Dus, mein Kieb, die fie rief?
Gieb mir die Hand, dag wir zu Zweit
Sinfen hinunter tief.
Die Wände in rojiger Herrlichkeit
Und Kerzenglanz und das Lager bereit,
Darin die Königin jchlief.
Auf leifem Fuß Du geglitten bift
An das Bett, wo die Königin träumt;
Du haft ihr Köpfchen in füßer Liſt
Mit weißen Armen umſäumt;
Sie hat Dih im Traum auf die Wangen gefüßt
Und Dein Antlis zur Roſe geworden ift,
Don dunkler Gluth überfhäunit.
Yun tauch in den Kelch der Kilie hinein,
Mein Lieb, in den weißen Schoß;
Da jtehen die Säulen in ſchimmernden Reihn,
Du reift den Bli nicht los;
277
278
Die Zukunft.
Auf dem Thron von blendendem Marmorſtein
Da ruht die Elfe im Mondenfchein,
Die Augen ftill und groß.
Und mit weißer, feierlicher Hand
Bat fie Dich, mein Lieb, berührt;
Du haft Dich fchauernd emporgewandt,
Da den Hauch Du von Kicht gefpürt;
Auf Deiner Stirn wie ein goldnes Band
Kiegt nun der Glanz aus Filienland
Der nimmer fich verliert.
Mein Kieb, nun fomm an den dunflen Teich,
Wo die Waflerrofe ruht;
Saß uns wehen auf Lüften, füß und weich,
Ueber die wellende Kluth,
hinein in der Blume magifches Reich,
Wo in fremden Flammen, irr und bleich,
Flackert die Märchengluth.
Wie auf filbernen Schwingen der Schmetterling,
So wiegſt Du Dich über dem Schaum;
Wie der Kalter an jchimmernden Kelchen hing,
So ſchwebſt Du am Blüthenfaum;
Und der Traum, den mein Lieb von der Blume empfing,
Der liegt nun am Grund wie ein funfelnder Xing,
Tief in des Herzens Raum.
un fomm, mein Lieb, in die Macht zurüd,
Wo die Rofen im Winde wehn,
Den zaubrifhen Traum im leuchtenden Blick,
Und das Haupt wie Kilien ſchön —
In unfern Herzen das Märchenglüd,
Mein füßes Kieb, das fonnige Glück,
Das fann nicht untergebn.
Hamburg. Theodor Sufe.
x '
F
Tr u."
Der verehrte Dichter. 279
Der verehrte Dichter.
Sr thut nicht gut, wenn ein Schriftiteller viele Verehrer hat; es thut nicht
gut! Nur den Sumpfpflanzen jchadet Ueberfluß an Feuchtigkeit nicht;
den Eichen ift fie nur mit Maßen zuträglid. Ich erzähle Hier von einem
Burſchen aus dem Schriftjtelleritande, der auf dem Wege zu feinem Biel un:
erwarteter Weiſe in den Morajt der Popularität gerieth, erzähle davon, wie
läderlih und ungeſchickt er ji benahm, als er ji) mit dem Schlamm des
Lobes vollgejogen hatte, und was mit ihm gejchah, als ihm der Kopf durch die
nebligen Dunjtwolfen des Ruhmes verqualmt worden war. Der Burſche war
einfältig, aber nicht ganz dumm, und er unterjchied ji von feinen Kameraden
im Gewerbe dadurd, daß er aufrichtig war und darum fich felbjt jeden Tag
widerijprad. Er lebte in einem Lande, deſſen Literatur einen Weltruf genoß;
und als er auf die erſten Anzeichen der Popularität zu ftoßen begann, nahm er fie
mit Unwillen auf und dachte: Sonderbar ... . In die Pojaune jtöht man, — und
fie hören nicht; ein Nohrpfeifchen bläft, — und fie freuen ſich . . . Der Burſch war
nicht bejcheiden, durchaus nicht! Aber er kannte feinen Werth. Das war bie
Sade ... Und dann wußte er aud, daß es in feinem Heimathlande fein Volt
giebt, jondern nur ein Publikum, und daß es namentlich das Publikum iſt,
das literarifche und andere Berühmtheiten erjchafft, während das Volk jeinen
Trott geht, die Schriftjteller gering jchägt, an Zauberer glaubt, jein Leben lang
nur arbeitet, aber troßgdem immer Dunger leidet und jeden beliebigen Augen»
bli bereit ift, die ganze Literatur mitjammt all den anderen vom Publikum
geliebten Künjten für einen Sad Mehl einzutaufchen. Aber obgleih mein
Burſche dies Alles genau wußte, war er dod nur ein Menſch; und außerdem
find alle Schriftjtellee — und jogar die Bhilojophen — mehr oder weniger beſchränkte
Leute. Er fing an, zu fühlen, daß die hartnädige Aufmerkjamteit, die das
Publikum jeinen Büchern zeigte, ihm angenehm fei. Er befam von den Lejern
ihmeichelhafte Briefe. Ein Leſer jchrieb: „Talentvoller“ ... . Der andere jehte
ihwarz auf Weiß hin: „Docdzuverehrender“ . . . irgend eine Lejerin jchrieb
einfach, aber Eräftig: „Danfe, mein Seelden!“ Ganz, als habe der Dichter
ihr Seide zu einem Jäckchen geichenft. Und ein Krämer, der mit Büchern han
delte, ſchickte einen Brief folgenden Anhalts: „Seehrter Herr! Herr Schriftjteller!
Indem ich anfing, mich zu interejjiren, warum, daß das Publikum jo Fräftig
Ihre hochzuverehrenden Bücher kaufe, habe ich diejelben durchgelefen und aus
mir ergojjen fich die nachfolgenden Verſe:
MWie Lilien im Sumpf,
In meiner müden Seele
Blühten Viſionen und Träume
Von einem Leben ohne Dinderniß.
Sie blühten, aber ichüchtern,
Blühten und verwelkten
Und verfaulten im Schlamm des Herzens
Und es roch jehr häßlich ...
Uber Du drangit mir ins Derz,
280 Die Zukunft.
Mit Deinen heißen Worten,
Wie mit Funken überftreuteft
Das Dunkel meiner Seele Du
Und id) entflammte in Leidenichaft;
Ich wurde unfinnig fühn
Und jet rieche id) jtolz
Wie ein angejengtes Schwein . . .
In aufrihtiger Hochachtung
Sila Korſchunow.“
Und viele andere ſüße Zeichen der Aufmerkſamkeit erhielt mein Schrift—
ſteller vom Publikum. Und der Teufel, der treue Begleiter des Schriftſtellers,
flüſterte ihm ein: Genir' Dich nicht, Närrchen; Du haſt Dirs verdient, alſo
genir' Dich nicht! Du biſt jetzt dem Publikum, was eine junge Geliebte einem
entkräfteten Greis iſt. Und ſo ſtelle Dich auch nicht beſcheiden, denn „die
Karauſche liebt es, in Sahne gekocht zu werden“, und der Dichter, daß man
ihn in Weihrauch räuchere. Da ha hal...
Und jo fing mein Bürſchchen langjam an, dem in ihn verliebten Publikum
unter die Augen zu treten. Er jieht: fie Elatjchen in die Hände. Und er bes
gann, fi) an dieſes Geräuſch zu gewöhnen, wie der Trunfenbold an den Schnaps,
und es wurde ihm langweilig, ohne diefes Händeklatſchen zu leben; aber zu—
gleich fing der Burjche an, fich hinreißen zu laſſen.
Alſo eines Tages umringte ihn an einem belebten Ort ein Haufe
Publikum, drüdte ihn an die Wand, klatſchte in die Hände und jchrie: Bra—voo !
Bra—voo!... Und er ftand vor der Menge, gerührt lädhelnd, und ihm war
jo jüß zu Muth, als ob man ihn in Sirup gejotten hätte. Zum erjten Mal
jah er das Publitum in der Nähe... Und plöglich wurde ihm unbehaglich
davor, jogar bang ward ihn; obs man ihm nicht mächitens unter dem Arm
tigeln würde? Durch feinen Kopf ſchwirrten allerlei unfinnige Gedanken. Es
jchien ihm, dat Jeder in der Menge, der ihn anichaute, in Gedanken jeine
Ohren mit den Ohren des Schriftjtellers vergleiche, um genau feſtzuſtellen, weſſen
länger jeien. Und mein Bürjchchen fühlt, dab feine Obren wuchien, wudjlen,
gigantiichen Umfang erreichten. Aber das Bublikum fteht und Schreit: Bra—voo—o!...
Da entzündete fi) in der Seele meines Helden ein unheilvoller Zweifel an der
Freiheit feines Sch und er dadıte: „Sie betrachten mich als ihr Eigentum und
werden fogleich anfangen, mit mir zu fpielen, wie mit einem Ball.“ Der Teufel
aber jtand neben ihm und lachte tückiſch: „Haha! Schau nur, ſchau!“ Er ſchaut
hin, mein armer Burſch, und fieht: die Menge ift von Zehn auf Hundert ge
wadhjen und Alle Elatichen in die Hände. In ihrer Mitte ftehen die wohl:
erzogenen Nachkommen des Judas Iſchariot, des Ignatius Kramol und aller
Chriſtusverſchacherer; fie ſtehen feſt und klatſchen ihm zu. Die Augen des
Publikums bohrten ſich wie tauſend Nadeln in die Bruſt meines Helden. Er
ſchaute in Verwirrung auf die Menge und ſah: alle die Geſichter verſchmolzen
in ein einziges ungeheures, düſteres, knechtiſches Geſicht, das hatte keine Augen,
ſondern nur zwei trübe Flecke an deren Stelle; und die Naſe in dieſem Geſicht
war lang, wie der Rüſſel des Elefanten.
Der verehrte Dichter. 281
„Schau“, jagte der Teufel, boshaft Fichernd, „jeine Führer Haben ihm
eine lange Naſe gemacht, aber fie haben fein Feuer entzündet in feinem Derzen
und jo ift es blind! Und fich hin, was für eine Zunge es hat, fieh mur!“
Bor den Augen meines Delden bewegten ſich ungeheuer große finnliche
Lippen über einer tiefen, jhwarzen Höhle; in der Tiefe diefer Höhle drehte ſich
irgend ein glitichiger, kurzer, dider Balken und mit Geſtank brach es hervor:
„Bra—vo!“ Der Schriftiteller ſchloß vor Furcht die Augen; er fühlte, daß man
ihn irgendwo einfauge. Aber als er fie wieder öffnete, jtanden vor ihm Menjchen;
die allergewöhnlihiten Menſchen ftanden vor ihm wie eine dide Mauer, ihre
Gefichter lädhelten, die Augen bligten mit dem Vergnügen von Kindern, die ein
neues Spielzeug erblidt haben, und Alles um ihn herum war einfach und ge-
wöhnlich. Bor diefem Lächeln und diefen freundlichen Augen wurde dem Dichter
warm zu Muth, die Furcht ſchmolz in feinem Herzen und er wünjchte, dem
Publikum Etwas zu jagen, jo etwas recht Herzliches. Er athmete, jo tief er
fonnte, und jprach, die Hand auf das erjchredte Herz drüdend:
„Meine Herren!“
„Bravo!“
„Tß! Still! Er will jpredhen.“ '
„Deine Herren! Ihre Aufmerkjamkeit kigelt angenehm mein Herz. Ich,
ſcheint mir, verjtehe Sie. Als ih klein war und Militärmufif hörte, pflegte
ih Hinter ihr herzulaufen; und mich unterhielt nicht jo jehr die Muſik jelbjt wie
der Soldat, der die große Trompete blies und dabei die Baden blähte...
Ich danke Ihnen, meine Derren !“
„Bra — voo — oo!” jchrie das Publikum.
„Wir lieben Sie!" jagte Jemand laut.
„Danke!“ ſagte der Dichter gerührt und bewegt.
„Bra — voo!“
„Meine Herren! Laßt uns offen mit einander reden!“
„Bravo!“
Der Teufel, der hinter dem Schriftiteller ftand, lächelte... Sclaufopf!
„Ich, meine Herren, glaube an die Aufrichtigkeit Ihres Verhaltens gegen
mid. Aber nur jchwer verjtche ich, wodurch ich ſolches warme Gefühl bei Ihnen
hervorgerufen habe. Manchmal, willen Sie, fommt es mir vor, als liebten Sie
mich, weil ich feinen Ueberrock trage und in meinen Erzählungen oft unanjtändige
Wörter gebrauche. Und manchmal denke ich, daß, wenn ich mir einübte, Iyrijche
Gedichte mit dein linken Hinterfuß zu jchreiben, Sie ſich noc wärmer, mit noch
größerer Aufmerkjamfeit gegen mich benehmen würden...“
„Bra — voo!“ jchnatterte das Publikum.
„Und, jehen Sie, mir fcheint, als jeien Sie nicht wirkliche Leſer, ſondern
einfad; Berehrer. Der Lejer weiß, daß wichtig nicht der Menich, jondern der
Geift de3 Menſchen ift, und er gudt den Scriftiteller nit an wie das Kalb
mit zwei Köpfen. Er lieft ihn, aber er glaubt ihm nicht blind. Er denkt jelbjt
über das Buch nah: ‚Dieſes ift jo, aber Jenes ift nicht jo.‘ Und wenn er
nachgedacht Hat, jchafft er etwas Gutes und dann wird diejes Gute ‚Seichichte‘
genannt. Ihr aber, meine Herren, jchafft nicht Gejchichte, jondern Skandal—
geſchichten . . . Und wirkliche Leſer find gar felten auf der Welt, von Eurer
282 Die Zukunft.
Sorte aber viele. Auf mein Gewifjen: ih muß Euch jagen, dab ich feine
Sympathie und nod weniger Achtung für Euch empfinde. Die Kameraden haben
mir gejagt, daß man das Bublifum achten müfle, aber Niemand fonnte erklären,
weshalb. Wie denken Sie? Weshalb follte man Sie achten?“
Der Schriftjteller jchiwieg und jah fragend auf das Publikum. Das
ſchwieg aud und jchien etwas verdüjtert. Won irgendwo her wehte ein falter Wind.
„Seht Ihr wohl”, jagte nad) langem Schweigen janft der Dichter, „aud)
Ihr jelbjt ſeid nicht einmal im Stande, herauszufinden, weshalb man Eud
wohl achten jollte.‘
irgend ein rothhaariger Menſch riß den Mund auf und fagte im Ba:
„Bir jind Menden... *
„Run, find denn Viele unter Euch wirkliche Menſchen? Inter Taujend
wird man vielleicht Fünf finden, die leidenjchaftlid glauben, daß der Menſch der
Herricher und Schöpfer des Lebens jei und daß jein Necht, frei zu denken, zu
jprechen, zu gehen, ein heiliges Necht jei; möglich, daf Fünf von Tauſend jogar
fähig find, für diejes Net zu fämpfen und furchtlos im Kampf dafür unter
zugehen. Die Meiften von Euch find Sklaven des Lebens oder deflen freche
Herren. Und Ihr Alle feid zahme Bürger, die mitunter die Pflichten wirklicher
Menjchen erfüllen. Das, was in Euch menjchlich ijt, gehört in den Bereich der
Boologie; ich jchaue hier in Eure trüben und ängjtlichen Augen und mit Schreden
fehe ich, wie Wenige unter Euch tapfer, wie Wenige ehrlih find. Arm iſt
mein Land an ftarten Menſchen; und doch iſt wieder die Zeit gefommen, wo
es eines Helden bedarf.‘
Etwa zwanzig Yeute aus dem Publikum drehten dem Redner den Rüden
und gingen ab. Er aber fuhr fort: „Ein guter, lebendiger Menich wird immer
nad Etwas ftreben, Etwas ſuchen; Ihr aber lebt ftill, zahm, unbeweglid, wie
Euch befohlen wird. Das Leben iſt Euch fchwer, zum Denken ſeid hr zu faul
und habt Angjt, Euch zu bewegen. Nings um Euch jtarren, wie die Nichtig-
feiten auf dem Börtchen im Empfangszimmer der Cocotte, die morſchen Trabi:
tionen und verjchiedenen Vorfchriften, die verteufelt wenig taugen. Das Alles
hindert Euch, frei die Hände zu bewegen; aber all diefe Dinge find für Euch
kleine Götzen und Ihr wagt nidıt, fie zu vernichten, obgleich fie Euch wie Feſſeln
drüden. Und wenn der Wind vom Feld her in die muffige Luft Eurer Höhlen
friiche Düfte hineinweht, jo ſchließt Ahr, einen Derzichlag befürdtend, alle Yuft-
flappen. Unruhe liebt Ihr nicht, Unruhe erichredt Eud. Aber Ihr müßt
irgend Etwas zum Sprechen haben, Ihr braudjt was, um Eure Gäfte zu unter-
halten; wie die Bettler auf der Kirchentreppe, ftredt Ihr die Hände nad der
Literatur aus, um von ihr Etwas zur Jerſtreuung zu erwiſchen. Die Literatur
ijt für Euch das ſcharfe Gewürz im der Fadheit Eures dämmerigen Lebens. Eud
gefällt es, wenn man mit Blut und Galle ſchreibt; aber es gefällt Euch eben
nur. Und weder Liebe nody Day wedt die Yiteratur in Eurer Brut, — nidts,
außer Beifallsgeichrei oder Schmähungen. Ihr ſeid nicht Menſchen, Ihr jeid
Zuſchauer, Bublitum, Nicht ein Bittern würde durch das Leben gchen, wenn
Ihr Alle auf einmal daraus entſchwändet, wenn Ihr auf einmal in die Erde
verjänfet; nichts würde jih auf der Erde ändern. Ihr ſeid Stoifer, weil hr
Stlaven ſeid. Man ſchlägt Euch: Ihr ſchweigt; man beleidigt Euch: Ihr lächelt.
— nn —
2 .. — — — —
Der verehrte Dichter. 283
3—
Euch können höchſtens noch Eure Frauen ärgern, wenn das Mittageſſen nicht ſchmeckt,
und Ihr leidet nur aus Gier nach den Gütern des Lebens, aus Neid gegen
einander und durch ſchlechte Verdauung. Wenn der Stiefel Euren Fuß drückt,
ſeufzt Ihr: ‚„O, wie Recht hat Schopenhauer!’ Aber wenn hr das Geſchrei
nach ‚Freiheit‘ hört, denkt Ihr bei Euch: ‚Was iſt mir Hekuba?‘“ Daß Euch
Alle der Teufel holte! Wenn Ihr wüßtet, wie jämmerlich, wie widerwärtig
Ihr ſeid, wie ſchrecklich ſchwer es iſt, unter Euch zu leben! Man ſagt Euch:
das Leben iſt furchtbar, das Leben iſt düſter, es iſt ganz von Blut durchtränkt.
Ihr glaubt S nicht. Euer Leben iſt nur gemein und langweilig; und wenn
man Eud) den Tod zeigt und die Schrednifje diejer Gemeinheit, jo bleibt Ihr
ruhig und interejirt Euch nur für das Eine: Iſt es Schön dargeftellt? Aeſthetiker,
die im Schmuß ertrinken . . Möchtet Ihr wenigjtens jchneller darin erfaufen!...“
Das Publitum lichtete ſich allmählich. Es liebt lange Rede nicht. Aber
der Teufel lachte; er kannte ja den wirklichen Werth von Alledem.
Nur der Redner, bingerijjen von dem Gefühl zu erfüllender Pflicht, merkte
nichts und fuhr fort: „Das Leben ift die heroiſche Dichtung vom Menjchen, der
jein Derz jucht und es nicht findet, der Alles wiſſen will und nichts wiſſen kann,
der jtrebt, jo mädtig zu jein wie jein Bater im Himmel, und nicht die Kraft
bat, jeine eigenen Schwächen zu befiegen. Habt Ihr von der Wahrheit gehört?
Bon der Gerechtigkeit? Bon dem Wunſch, alle Menſchen der Erde jtolz, frei
und jchön zu jehen?... hr tradhtet nur danach, jatt zu fein, es warm zu
haben, den Frauen unter der Vorjpiegelung von Liebe Gewalt anzuthun und
fie zu verderben. Ihr wollt nur ruhig leben, gemüthlich, fänftiglih. Das iſt
Euer Glüd. Euer höchſtes Glüc aber ift, für einen Grojchen fünf zu friegen.
Das Glüd fängt man mit Eräftigen, muskulöſen Armen. hr aber jeid Teig:
linge, Schwädlinge. Ihr könnt nicht einmal eine liege ohne fremde Hilfe
fangen. Ihr braucht dazu vergiftetes Papier: ‚Fliegentod‘. Mir thun die Fliegen
leid! Sie jummen und ftören dadurd den Schlaf; aber ich würde mit Freuden
für Euch ein Papieren ‚FFliegentod‘ jchreiben, daß Ihr beim Leſen von Unruhe
vergiftet würdet... Ich jehe, hierin habe id) nicht Recht: Ihr beunruhigt Euch
wohl. Nämlich, wenns Euch unbequem wird, zu leben, weil das Gehalt nicht zur
Ernährung der Familie ausreicht oder weil Eure Frauen vor Langeweile, mit Euch
zu leben, Euch betrügen. Dann jeufzt hr, philojophirt, das Leben erjcheint
Euch widerlich und ſchwer . . . jo lange,.bis Eud) das Gehalt erhöht wird oder Ihr
eine Geliebte gefunden habt. Und indem Ihr das Leben mit den altersijchwachen
Nörgeleien, dem efligen Gefeif des Kakenjammers, mit Euren Klagen über das
Dafein anfüllt, vergiftet hr das Ohr Eurer Kinder. Ihr feſſelt ihre Gedanken
an die Sleinlichfeiten des Yebens, an dejjen Plattheiten und ihre Gedanken
werden ftumpf wie das Schwert, mit dem man Aeſte abhaut, jtatt der Köpfe.
Dann gehen auch die Kinder, ermüdet von Eurem Geſchwätz über das
Leben, das Ihr nicht kennt, jtill die ausgetretenen Wege; fie werden früh Kleine
kalte, jämmerliche Greije; fie gehen und juchen ein warmes Leben, ein jattes
Yeben, ein molliges Leben; fie finden es und vegetiren jtill dahin, nad) dem Bei-
jpiel der Bäter. Sie find wie eine friſche Tünche, mit der man den Spalt im
alten Gebäude übermalt hat. Bier ijt eim ſchweres, ſchmutziges Gebäude, ganz
durchtränkt vom Blute der Menjchen, die es zerdrücdt hat; es erbebt in jeiner
21
284 Die Zukunft.
Morſchheit, wird vom Vorgefühl des nahen Zuſammenbruches gepadt und wartet
zitternd auf den Augenblid, wo es krachend einftürzen joll. Und jchon reifen die
Kräfte zum Stoß; jie wachen an, können fich kaum nod) zurüdhalten und bald dort,
bald hier lobt ihre Gluth in einer Flamme der Ungeduld auf. Sie werden
fommen; dann wird das alte Gebäude erzittern, wird Eud auf die Köpfe fallen
und Eud) unbarmherzig zerquetichen, obgleich Ihr nur ftraffällig jeid, weil Ihr
nichts gethan habt. Aber es giebt feine Schuld in diefem Leben.“
Gar wenig Publikum war übrig geblieben. Ein Theilgdavon ſchaute
mit Bedauern auf den Dichter; da fie feine Erzählungen gern lajen, börten
fie mit Summer feine Rede, dieweil in feiner Nede nichts Wefthetifches war.
Einige ſahen ihm mitleidig an. Alle langweilten fih und Niemand fühlte ſich
beleidigt. Da ſchrie ein erbojter Jüngling: „Alles Dies find Worte. Zeigen
Sie, daß fie ein Programm haben, ein praftiides Programm!“
Ein würdiger Herr jagte jeufzend:
„Ach, auch ih war in meiner Jugend Nomantifer!“
Und eine Dame in ſchwarzem Kleid fragte: „Warum jchimpft er denn
auf die Frauen?“
Der Teufel lachte.
„Roh Eins muß ich Euch jagen. Sehr liebt Ihr, unglüdlich zu fein.
Ich denfe, Ihr thut es aus Berehnung: Ihr habt nichts, um unter einander
Achtung und Liebe zu erweden, und jo werdet Ihr abfichtlich unglücklich, um
für Euch das Mitleiden, das Mitgefühl, billige Emotiönchen zu erregen, mit
denen Ihr einander abjpeift und die Ahr im der jelben Stärke dem Hündchen
gönnt, wenn das Rad eines Wagens ihm das Bein zerquetiht hat. Wenn in
Euch nur ein gejundes, ganzes Gefühl der Liebe zum Leben wäre! hr liebt
ja das Leben nicht, Ihr fürdtet Euch vor ihm, hr reift ihm leife, wie ein
Died, Stüddhen ab... Zahme Sippihaft! Arme Bettler! Möchte Gott mehr
Elend auf Eure Däupter herniederfchicden, auf daß Ahr aus träger Ruhe fämet;
möge Gott Euch Aufregungen in Fülle enden, damit hr auflebet!...*
In der Öruppe der Yeute, die vor dem Redner jtanden, fühlte ſich Einer
beleidigt und jchrie: „Ja, nicht Alle find wir jo... Der Teufel hols! Das
ift nachgerade ungerecht!“
„Mein Herr, fordern Sie nicht von mir Geredhtigfeit. Die giebt es nicht
im Leben; vorläufig wenigjtens nicht. Wie kann in Eurer Mitte Gerechtigkeit er-
ſtehen? Und hr jeid Alle gleich ſchlecht. hr, die Gefellichaft: wie foll man
Eud in Gute und Schlechte theilen? Ihr Alle habt Euch in der Jugend mit
Kenntniſſen ausgerüftet, während Ihr in den Schulen ſaßet, und Euch Alle
lehrte man das Selbe. Ich glaube, daß hr Gutes gelernt habt, denn ich bin
überzeugt, Ihr hättet nicht gelitten, da; Euch Böſes gelehrt wird. Ic kann mir
ſchwer eine Umniverfität vorjtellen, in der man die Jünglinge ein menjchenfeind-
liches, leidenichaftlojes Verhalten dem Leben gegenüber lehren fönnte, das Streben
nad warmen Bläschen und andere Superklugheiten. Aber wenn Ihr ins Leben
tretet, wird die Summe der vorhandenen Semeinheiten durch Eure Gegenwart
nicht vermindert. Ich weiß nicht, ob Ihr friiche Kleine Gemeinheiten mitbringt,
und werde dieje Behauptung auch nicht aufitellen. Ich weiß nur, daß hr mit
fünfundzwanzig Jahren das PBrivateigenthum betämpft und mit fünfunddreigig
Kaufmännijche Schiedsgerichte. 285
Fahren nette Billen beſitzt. Ich weiß: Ihr verfteht, für Euch zu arbeiten; aber
id frage: Was habt Ihr für das Leben gethan? hr Alle fühlt gleich Kalt.
Die jogar, die warm reden. Wie viel Niedertraht umgiebt Euch! Probirt hr,
fie zu vernichten? Jagt Ahr fie von Eu? Nein! Aber die Befjeren unter
Euch — Das jah ih — verfteden fich preziös davor. Das Streben, reinlic
zu fein, ift fein jchlechtes Streben, aber der ehrliche Menjc fürchtet den Schmutz
nicht. Laßt uns offen reden. Daran, daß unjer Leben jo häßlich ift, find wir
Alle gleich ſchuldig. Auf der Welt giebt e3 feinen Gerechten, noch nicht. Aber
woher nehmt Ihr den Muth zu ſolcher Kriecherei vor der Macht und wo habt Ihr jo
jflavijch für das Heil Eurer Haut fürchten gelernt? ch behaupte: alles Gemeine und
Widerliche, das auf Schritt und Tritt und begegnet, blüht nur deshalb Jo lebendig,
ſtark und grell, weil es fi auf eine fräftige Wurzel ftübt, auf Eure Angſt um
die Haut, auf Eure Sklaveninjtinkte. Die Schnad des Lebens haben wir Alle
zu gleichen Theilen verjchuldet. Und wenn ich an die Kraft des Fluches glaubte,
würde ih Euch Alle verfluden. Aber ich glaube an etwas Anderes. Bald
werden neue Menjchen fommen, muthige Menſchen, ehrliche, jtarfe... bald!“ ..
„Nun ifts aber genug“, jagte der Teufel Lächelnd.
Mein Bürſchchen jah ji um. Bor ihm und um ihn war feine Serle.
„Seltjam! Sind fie ſchon Alle fortgelaufen? Ich-bin ja noch nicht zu Ende.”
„Sie find verbrannt im Feuer Deiner Reden. Siehſt Du den Ruß an
der Dede? Das ijt Alles, was von ihnen geblieben it. Laß uns gehen.“
Ich weiß nicht, was weiter mit meinem Helden geichah, möchte auch das
Ende diejer Geſchichte nicht ausdenken, denn ich ahne darin nichts Erfreuliches
für ihn. Aber ich bin jicher, day es nicht gut thut, wenn einem Dichter viele
Verehrer erjtchen. Wer mit dem Publikum zu thun hat, muß von Zeit zu Zeit
die Luft um fich her mit der Karbolſäure der Wahrheit desinfiziren.
Das ift Alles...
Moskau. Marim Gorlij.
11,7
Raufmännifche Schiedsgerichte.
G* Landrichter a. D. Ernſt Mumm holte im legten Aprilheft der „Zukunft“
zu gewaltigem Streich gegen die kaufmänniſchen Schiedsgerichte aus.
Nach der anjpruchspollen Einkleidung feines Artikels hatte ich gehofft, wenigjtens
einen neuen Gedanken über dieje Inſtitution darin zu finden, muß aber geftehen,
daß er mich nur auf oft betretene Gemeinpläße geführt hat.
Herr Mumm bedauert, dab durch die Schaffung kaufmännischer Schieds:
gerichte „der Grundſatz der ordentlichen Gerichtsbarkeit abermals durchbrochen
wird.’ Diejer Ausdrud jcheint mir nicht ganz korrekt. Das Prinzip der ordent-
lien Gerichtsbarkeit iſt jchon feit der Einführung der Gewerbegerichte durch—
brochen. Jetzt handelt es jih nur noch darum, für eine Kategorie von Lohn»
arbeitern — denn aud die Dandlungsgehilfen find nichts Anderes —, die eigent:
lich Schon lange der gewerblichen Sonderredhtiprehung unterjtchen müßte, einen
für fie ungünjtigen Ausnahmezuftand zu bejeitigen. Ich ſehe nur einen Stand-
21”
—
286 Die Zukunft.
punkt, von dem aus man vielleicht Bedauern könnte, daß die aus dem kauf—
männilchen Dienjtvertrag erwachſenden Redtsitreitigkeiten der ordentlichen Ge—
riehtsbarfeit entzogen werden, nämlid den Standpunkt der juriſtiſchen Wiſſen—
Ichaft, der dadurch ein jehr wichtiges und jchwieriges Gebiet genommen wird.
Das hat Juſtizrath Staub in der Deutſchen Juriſtenzeitung mit Recht betont.
Staub geht aber zu weit, wenn er aus diejem Grunde die faufmänntiden
Schiedsgerichte überhaupt ablehnt. So hoch uns die juriftiihe Wiſſenſchaft
itchen mag: höher jteht die Praxis, für die ja die Wiſſenſchaft ſchließlich vor-
handen ijt. Und die Praxis fordert gebieteriich kaufmännische Schiedsgericdhte, aus
dem jelben Grunde, der jchon früher zu der Forderung von Gewerbegerichten
trieb. Yeider nehmen viele Nuriften mit Herrn Landrichter Mumm an, es jeien
„überall Rechtsfragen, Fragen der Auslegung von Gejeßes- und Bertragsbeitimm-
ungen, die der Entſcheidung harren, und äußerſt jelten nur werde der Richter
Gelegenheit finden, jpezifiih kaufmänniſche Kenntniffe zu verwerthen.‘ Gewiß:
faufmänniiche Spezialfenntnijje find überhaupt nicht nöthig. Aber die zur Aus-
legung von Dienftverträgen nothwendigſte Vorausjegung iſt joziales Verftändnip.
Wo die Auslegung Flipp und Ear ift, da kann nad) den Geſetzesbeſtimmungen
auch der Gewerberichter nur genau jo entjicheiden, wie es der Berufsrichter thun
müßte. Die Schwierigkeit beginnt eben erjt bei den vielen Fällen, wo der
Buchſtabe des Geſetzes zweierlei Urtheile zuläßt. Da muß das foziale Gefühl,
muß das Bewußtſein mitiprehen, daß der Handlungsgehilfe gegenüber dem
PBrinzipal der wirthichaftlih ſchwächere Theil iſt. Dieſes ſoziale Bewußtfein
ijt aber bei unjeren Richtern aus zwei Gründen nicht allzu häufig zu finden.
Entweder legen fie in Folge ihrer Borbildung auch in zweifelhaften Fällen
formaliftiichen Erwägungen ausjchlaggebende Bedeutung bei; oder ihre Herkunft,
ihre gejellichaftlihen Beziehungen und Yebensgewohnheiten wirken von vorn herein
auf ihr joziales Empfinden. Wären Lediglich oder auch nur in der Hauptſache
faufmännijche Kenntniſſe nöthig, dann müßte man in den Handelsfammern der
Landgerichte die berufeniten Richterfollegien jehen. Sie fommen ja heute jchon
für Klagen von Angeſtellten als Berufungsgerichte, aber auch, zum Beijpiel
bei Klagen wegen der Konfurrenzklanjel, als Gerichte eriter Inſtanz in Frage.
Aber fie find jelbjtverftändlic; noch viel gefährlicher als Berufsrichterfollegien,
denn bier jigen ja die Chefs über die Angejtellten zu Gericht.
Ueber die von dem Herrn Candrichter befürchteten fozialen Folgen der kauf—
männiſchen Sciedsgeridhte ließe fich disfutiren, wenn nicht die Erfahrungen der
Semwerbegerichte laut gegen feine Auffaſſung ſprächen. Ich begreife, offen ge-
itanden, nicht, wie jemand, der nicht ganz ohne Kenntniß der einjchlägigen
Verhältniſſe urtheilt, heute noch daran zweifeln kann, daf das Zujfammenarbeiten
in den Berufsgerichten Arbeiter und Arbeitgeber einander näher bringt. Das
Zuſammenwirken der Vertreter einzelner Klaſſen kann natürlid) den Klaſſen—
fampf nicht aus der Welt jchaffen. Dadurdy aber, daß die Kontrahenten des
Arbeitvertrages in einem gewiſſermaßen obligatoriihen Verkehr jtchen, lernen
fie einander als Perjönlichkeiten achten. Der Arbeiter jicht, daß feine Brot»
herren perfünlich jehr oft frei von jener Därte find, die ihnen der Zwang wirth—
Ichaftlicher Konkurrenz aufnöthigt. Und auch der Arbeitgeber lernt bei jo naher
Berührung im Arbeiter den Menſchen mehr jchägen, als ers früher gewöhnt
war. Man frage nur umnjere großen Fabrikherren, die in der Randesverjiche-
2
Kaufmännische Schiedsgerichte. | 287
runganftalt, in den Krankenkaſſen und im Gewerbegericht mit den Bertretern
der Arbeiterſchaft zuſammenwirken, ob jie im Yauf diefer Thätigkeit nicht viel-
fach einen ganz anderen Begriff von der ntelligenz und vom Wejen der Arbeiter
befommen haben. Die Befürdtung, eine Vermehrung der Zahl der Prozeſſe
könne die wirthichaftlichen Gegenjäße verjtärfen, ift durch alle mit den Gewerbe»
gerichten gemachten Erfahrungen als grundlos erwiejen worden,
Auf einem ganz anderen Blatt jtcht die von dem Deren Landrichter be—
rührte Frage, ob Gewerberichter, die aus allgemeinen Wahlen hervorgegangen
find, die nöthige Gewähr für eine unparteiiiche Mechtiprehung bieten, Der
einzelne Richter gewiß nicht. Das joll er auch gar nit. Der Fortſchritt der
Berufsgerichte bejteht ja gerade darin, daß die falſche Fiktion der Objektivität
bejeitigt und dem Klaſſencharakter der Geſellſchaft ausdrücklich Nechnung getragen
wird. Der Arbeiter-Beijiger ſpricht Recht nad dem fozialen Empfinden jeiner
Klaſſe. DerArbeitgeber-Beifiger wird in vielen Fällen den entgegengejeßten Stand—
punkt einnehmen. Und den Ausſchlag giebt der präfidirende gelchrte Nichter,
dem beide Anſchauungen in friiher Urjprünglichkeit vor Augen geführt werden.
Herr Mumm nennt den Ruf nach Schiedsgerichten eine Modejade. Soll
damit dieje bitter ernjte Frage ins Lächerliche gezogen werden? Wenn man
Alles, was modernen Bedürfniffen entipricht und deshalb gefordert wird, Mode
fahe nennen will, — gut, dann find auch die faufmänniihen Sciedsgerichte
Modejahe. Entjchieden aber wäre die Unterftellung zurüdzumweijen, es handle
fi) bier etwa um eine Mode, der nicht mehr Werth zuzufprechen iſt als dem
erfolgreihen Bemühen eines Konfektionärs, der den Frauen aller Yänder vor-
fchwaßt, es jei nöthig, am Ende der Kleiderärmel trichterförmige Erweiterungen
zu tragen, die wie Negenabflußrohte ausjfehen. Wenn Herr Yandrichter Mumım
auf ſolche Anſchauung jeine fozialpolitiiden Studien baut, dann fteht er aller-
dings dem von ihm verehrten Karl Ferdinand Freiheren von Stumm recht nah,
für den ja aud) die Forderung des Rechtes freier Koalition eine Modeſache war.
Vebrigens hält diefe Mode ſich nun fchon feit mehr als zwölf Jahren.
Wer rüdblidend erkennt, weldhen Raum in der Handelswelt die Forderung kauf—
männiſcher Sciedsgerichte fi im Yauf der Zeit erobert hat, Der wird zu
anderen Anfichten fommen als die Herren Stumm und Mumm. In dieſen
Tagen ift eine kleine Schrift, „Der Kampf ums Recht“ erichienen, die der Gentral«
verband der Dandlungsgehilfen und Gehilfinnen Deutſchlands herausgegeben
hat. Sie bringt im Anſchluß an eine Rede, die der Neichstagsabgeordnete Paul
Singer in einer Öffentlihen Verfammlung am zehnten Februar 1902 hielt, in
einem Anhang eine kurze Gejchichte des Nufes nach kaufmänniſchen Schieds—
gerichten. Daraus fann man erjehen, daß ſchon 1890, als vom Bundesrath
dem Neichdtag der Entwurf eines Gewerbegerichtsgejebes vorgelegt wurde, die
fozialdemofratiiche Partei beantragte, Handlungsgehilfen und Lehrlinge in die
Rechtſprechung der Gewerbegerichte einzubeziehen. Der Antrag fiel damals, aber
die Frage war damit in Fluß gebracht. Nur ein einziger Berein, der Verband
Deutſcher Handlungsgehilfen in Yeipzig, erflärte noch 1894 faufmännijche Gewerbe»
gerichte für durchaus überflüſſig. Schließlich aber mußte auch er fi dem Drud
feiner Mitglieder fügen; und ſeitdem giebt es Feine aud) noch jo jchwächliche
Handlungsgehilfen-Organifation, die nicht kaufmänniſche Sondergerichte verlangt.
288 Die Zukunft.
Die Frage, wie die Gerichte zujammengejeßt werden follen, wird freilich jehr
verichieden beantwortet, braucht uns hier aber nicht weiter zu bejchäftigen. Daß
die Dandelsfammern fi zum großen Theil gegen Sciedsgerichte erklären, iſt
fein Wunder; ſelbſt wenn fie nicht durch das ungeheuerliche Wahlrecht zu Ver—
tretern der Dandelsarijtofratie gejtempelt wären, blieben fie doch im beiten Fall
immer nur Vertreter ber Arbeitgeber. Die aber haben mit den Gewerbegeridten
ichlechte Erfahrungen gemacht.
Auch über die Gründe, die, abgejehen von den ſchon angedeuteten jozialen
Erwägungen, die Dandlungsgehilfenichaft zu ihrer Forderung beftimmten, giebt
die Brochure eingehend Auskunft. Statt im Allgemeinen von der jozialen Ber:
jtändnißlofigleit zu reden, die in manden Urtheilen der ordentlichen Gerichte
an den Tag tritt, will ich einen einzigen Prozeß herausgreifen, der deutlich
zeigt, wie jchleppend der Geſchäftsgang vor unſeren ordentlichen Gerichten iſt.
Ich eitire wörtlich: „Im Kaufhauſe Germania in Hamburg verunglüdte im
Juni 1898 ein Angeftellter beim Deforiren und durfte auf Anordnung feines
Arztes feine geichäftliche Thätigkeit nicht ausüben. Der Chef entließ ihn ohne
Kündigung und gab als Grund an, der Angejtellte jei unberechtigter Weije aus
dem Gejchäft fortgeblicben. Am fiebenundzwanzigiten Juli 1898 wird vom
Angeftellten die Klage eingereicht und der erſte Termin iſt am fiebenundzwanzigiten
September, da die Gerichtsferien dazwilchen liegen. Bertagung. Zweiter Ter-
min 20. Oftober. Bertagung. Der Arzt foll vernommen werden. Dritter
Termin 8. November. Der Hausdiener joll vernommen werden. Vierter Termin
29. November. Der Chef joll die Gejchäftsbücher vorlegen. Fünfter Termin
13. Dezember. Es wird Entjcheidung angejeßt auf den 28. Dezember, dod am
20. Dezember noch einmal verfügt, Zeugen zu vernehmen. Sechster Termin
12. Januar 1899, Neue Erhebungen beantragt. Siebenter Termin 26. Januar.
Neue Erhebungen. Achter Termin 2. Februar. Neue Erhebungen. Neunter
Termin 9. Februar. Zeuge nicht erichienen. Zehnter Termin 16. Februar.
Grlaß eines Theilurtheiles: dem Beklagten wird ein Eid zugejchoben. Diergegen
legt der Kläger Berufung ein. Elfter Termin 2. Mai. Verhandlung über die Be
rufung. Vertagung. Zwölfter Termin 9, Mai. PVertagung. Dreizehnter Termin
18 uni. Vernehmung der Parteien. Vierzehnter Termin 15. Juni. Theil
urtheil: die Parteien jollen bejtimmte Dinge beſchwören. Fünfzehnter Termin
10 Juli. Nur Stläger erichien, der ſchwört. Sechzehnter Termin 26. September.
Vertagung. Siebenzehnter Termin 28. September. Bellagter ſchwört. Adıt-
zehnter Termin 30. September. Urtheilsfällung und Berurtheilung des Ber
Flagten, nachdem vierzehn Monate jeit der Einreichung der Klage vergangen find.“
Ein ſolches Beijpiel jollte dod) wahrhaftig genügen, um zu zeigen, wie nöthig eine
beſchleunigte Sonderredhtiprechung ift. Man muß fid) vorjtellen, was es für
einen armen Dandlungsaehilfen heißt, vierzehn Monate auf jein Gehalt warten
zu müſſen. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle hat der Dandlungs-
gehilfe noch nidht einmal jo viel Privatvermögen, daß er, ohne Schulden zu
machen, auch nur einen Monat der Stellenlofigfeit überdauern Fönnte,
So erwadjien dem Gehilfen ſchon Nachtheile, wenn er fi entichlieht, den
beitehenden traurigen Nechtszuftand auszunügen und den Klageweg zu beichreiten.
Dod wie Wenige thun Das überhaupt! Da ift der Herr Landrichter flinf mit
Kaufmännifche Schiedögerichte. 289
Ironie bei der Hand: „Das jtumme Dulden bildet aber gerade in unſerer Zeit
ganz fiher nicht die Regel.“ Der duckmäuſeriſche Verzicht auf den Kampf ums
Recht allerdings nicht. Aber Noth lehrt auch dulden. Man ftelle fi) vor, was
ein Prozeß, defjen achtzehn Termine ſich über vierzehn Monate hinaus erjtreden,
fojtet. Dieje Kojten an Geld und Zeit find in jehr vielen Fällen eben gar nicht
aufzubringen. Und jo muß denn der Gehilfe die Sache ins Waffer fallen lafjen.
Das Recht wird dadurd zur Yuruswaare, die für den armen Handlungsgehilfen
— man denfe nicht immer nur an Bantbeamte, Konfeftionäre und Waarenhaus-
disponenten — einfach nicht zu erreichen ift. Herr Mumm hofft freilich, eine
Beſchleunigung und Berbilligung unjeres gefammten Prozeßverfahrens werde
herbeizuführen fein, die ihm logiicher jcheint, ſchon weil fie weiteren Volkskreiſen
Nugen brädte. Wer außer ihm giebt ſich aber der Hoffnung hin, der Militär-
jtaat Preußen könne Geld genug aufwenden, um nicht nur die Ueberlajtung der
Amtsgerichte zu bejeitigen, jondern auch jo viele Richter neu anzuftellen, daß
in wenigen Tagen Prozeſſe entichieden jein können? Und jelbjt wenn Preußen
nicht Preußen wäre: ihrer ganzen Struktur nad) find die Amtsgerichte für eine
joziale Rechtſprechung nicht brauchbar. Das ijt jogar von Nichtern anerkannt
werden. Ich erinnere nur an die Reden des Amtsrathes Bacher aus Augsburg
und des Amtsrichters a. D. Kayſer aus Worms auf dem legten Verbandstage
deutjcher Gewerbegerichte (in Lübeck am zehnten September 1901).
Nun aber der höchſte Trumpf des Herrn Mumm. Bei den bejtehenden
Sciedsgerichten in Dannover, Braunſchweig, Osnabrück und Stolp jind nur
jehr wenige oder gar feine Verfahren anhängig gemacht worden, ergo tft das
Prozeßbegehren der Handlungsgehilfen gar nicht fo groß, ergo find kaufmänniſche
Sciedsgerichte Modejahe. Daß die genannten Schieds- oder Fachgerichte mit
den von den Handlungsgehilfen geforderten nichts als den Namen gemein haben,
icheint der Herr Landrichter nicht zu willen. Es jind Sciedsgerichte, die nur
in Funktion treten, wenn fie von beiden Parteien freiwillig angerufen werden.
Ich habe das Statut des hanmoverſchen Schiedsgerichtes durchgelejen und wundere
mid) gar nicht darüber, daß es im Jahr 1900 dort nur achtzehn Prozefle gab.
Denn erjtens muß, wie gejagt, diejes Gericht von beiden Parteien angerufen
werden und zweitens ijt es nur für Mitglieder der Handelskammer, aljo für
eingetragene Firmen zujtändig. Gerade die Dandlungsgehilfen, die in den vielen
feinen Gejchäften unter den traurigiten Bedingungen dienen, find von den Wohls
thaten diejes „Rechtsſchutzes“ ausgejchloffen. Und wer richtet? Chefs und Ges
hilfen. Doc die Bollverfammlung der Handelsfammer wählt auch die Gehilfen-
Beifißer aus der Zahl geeigneter Kandidaten, die fi die Sammer von ihr bes
fannten faufmännijchen Vereinen vorjchlagen läßt. Man ſieht alſo, wie völlig
verjchieden von diejen Mißgeburten Faufmännijche Sewerbegerichte jind, die nad)
jejtem Gejeß für alle aus dem kaufmänniſchen Dienftvertrag ftammenden Rechts»
jtreitigfeiten in Anjprucd; genommen werden müjjen, deren Beifiger aus allges
meinen Wahlen hervorgehen und die in längjtens eben jo vielen Wochen den
Endſpruch fällen, wie das Amtsgericht Monate braucht, um ein Zeugenverhör
zu Ende zu führen. Solde Sciedsgerichte find nicht Modeſache, jondern ent»
Iprechen einem dringenden wirthichaftlichen und jozialen Bedürfniß. Blutus.
%
20 Die Zukunft.
Meiſterſpiele.
IA or achtundvierzig Jahren wurde der neue Glaspalaſt der Bayernhaupt=
N ftadt zu würdiger Aufnahme der Allgemeinen Deutjchen Induſtrie—
ausjtellung, der erjten münchener, vorbereitet. Franz Dingelitcdt, dem aus Stutt-
gart verfchriebenen Intendanten des Hoftheaters und fosmopolitifchen Nacht-
wädter a. D., dem dermünchener Boden damals noch heiß war — und nie fühl
werden follte —, lagen die Freunde in den Ohren, Liebig, Sybel, Dönniges, Geibel
und die Anderen: was er den herbeijtrömenden Fremden nun im Schaufpielhaus
bieten wolle. Alltagskoſt durfte es nidjt fein; denn Jedermann erwartet jich ein
Feſt. Und Geld mußte es einbringen; denn König Mar hatte eben erft er:
Härt, er fei „durch die Verhältniſſe aufer Stand gefegt, mehr für das Hof-
theater aufzumenden als bisher.“ Mit diefen Ukas in der Tafche waren große
Sprünge nicht zu machen, namentlich nicht von einem zugereiften Proteitanten
und Revolutionär, dem, ob er inzwiichen auch facht fein frommm geworden war,
noch immer das bajuvarifche Mißtrauen auf die Finger fah. Und wenn das
Hoftheater während der Ausjtellungzeit läflig blieb, Eonnte der Herr Inten—
dant mit feiner Jenny allein im der Galerie Noble des eriten Ranges figen;
feine Kage ging ihm aus dem Glaspalaft dann ins Schaufpielhaus . . . In
einer Falten Dezembernacht fam dem blinden Heilen die Erleuchtung, als
er mit dem berühmten Arzt Karl von Pfenfer auf dem Karolinenplag vor
dem Obelisfen ftand. „Statt eines Schaufpielgajtes laffe ich ein Viertelſchock
kommen und ftelle jie insgefammt auf die felbe Linie. Nur Künſtler eriten Ranges
lade id) ein, aber in ciner alle großen Theater umfafjenden Auswahl; und nur
in klaſſiſchen Stüden führe ich fie vor. Die Mitglieder der hiefigen Hofbühne
betheifigen fi, je nach Vermögen, an der allgemeinen Aufgabe. Ich ſchaffe mir ein
Perſonal von lauter erjten Kräften und mache für eine Weile die münchener
Bühne zur deutfchen Centralbühne. Lauter große Stüde, deutichen Urſprungs,
geipielt von lauter großen deutichen Künftlern bis in die Heinfte Rolle hinein.“
Als der Gedanke auftaudhte, waren noch ſechs Monate bis zur Eröffnung der
münchener Meffe. Dingelftedt verlor feine Zeit nicht. Dem König gefiel der
Plan, im Januar fchon wurden die Aufforderungen an dreißig Theatergrößen
verfandt und in der Karwoche gings auf die Werbereife. Die war nicht be:
quem; in Wien mußte der Intendant an einem Tage zmeiundvierzig Stod:
werfe erflettern und auf einer Fahrt durch alle deutichen und öfterreichifchen
Hauptftädte gabs damals, bei bitterer Kälte, noch manche Strapaze zu dulden.
Als nach achtzehn Tagen aber der lange Franz wieder in München ſaß, war
das Programm fertig umd die Ausführung gefichert. Jeder Gaftipieler befam
für jede Nolle hundert Gulden. Feder hatte ſich verpflichtet, aufer zwei eriten
auch zwei Heinere Nollen zu übernehmen, drei Tage vor dem Beginn der
. — —— —— — Fur - - —
Meiſterſpiele. 291
Vorſtellungen einzutreffen und mindeſtens zwei Wochen lang zur Verfügung
zu bleiben. Das war möglich, weil im Juli die meiſten großen Theater
geſchloſſen ſind und die Wandervirtuoſen raſten. Den Regiſſeur jeder Vor—
ſtellung wählten die Gäſte mit Stimmenmehrheit. In Streitfällen blieb die
Entſcheidung dem „Plenum der Geſellſchaft“ vorbehalten. Den Text der
Stücke redigirte Dingelſtedt und nach ſeinen vorher verſandten Soufflirbüchern
mußten die Gäſte, ehe ſie zum Wettkampf aufbrachen, ihre Rollen einrichten.
Er, dem das Bild ſtets wichtiger war als das Wort, ſorgte auch für das
ſzeniſche Kleid. Da war er in ſeinem Element. Er hat ſich ſelbſt einen „an—
geborenen Hang zu Maſſenwirkungen und Maſſenentwickelungen“ nachgeſagt. Wie
ſo Vieles aus der Geſchichte unſeres durch Banauſenhochmuth von der Tradition
gelöſten Theaters, iſt heute vergeſſen, daß Dingelſtedt das frühe Vorbild der mei:
ninger Regiefünfte war. Bon ihm haben Alle gelernt, die feitdem verfuchten, die
Nüchternheit norddeutſchen Sprechſpiels mit dem bunten Reiz feiner Sinnlid;:
feit zu erwärmen und auf der Bühne ein „Milteu* zu Schaffen, eine ftimmende,
beftimmende Umwelt, die dem Determiniften im Zufchauerraum den Traum und
das Wollen der vor feinem Auge handelnden Menfchen erklärt. (Kein Zufall iits
nämlich, daß erft, al3 der Glaube an Willensfreiheit und gottähnlich jelbit-
herrifches Heldenthum jich müde hinbettete und der Glanz der Theologie und
Televlogie mählich verblih, au im Theater der Wunſch nad Erfenntniß der
Kaufalität erwachte, das Bedürfniß ſich regte, auf den Brettern, die eine
Menjchenwelt bedeuten jollen, die Menſchenſchickſale determinirenden Kräfte
verförpert, die Hintergründe in greifbarer Klarheit zu jehen.) Sogar die „male=
riſcher“ Maffengruppirung günftigen Treppen, die von den Meiningern in die
Mode gebracht wurden und zu der Frage führten, ob denn ſämmtliche Fürften
im Seller wohnten, hat Dingelftedt erfunden. Und eine ſolche Riejentreppe
stieg in Münden am elften Juli 1854 Iſabella von Mefjina in die vom
Intendanten „mit felbitvergnügtem Kaffinement aufgebaute“ Halle des nor:
manniichen Palaftes hinab. Er hatte manche Abjage befonmen und mußte auf
Dawifon, Deffoir, Ludwig Löwe, auf die Fuhr und die Bayer verzichten. Troß:
dem konnte er Aufführungen von nie erfchautem Glanz bieten. Iſabella war
Julie Nettich, Deutfchlands damals größte Tragoedin, Cajetan der mächtige
Sprecher Anſchütz, Manuel und Gefar wurden von Emil Devrient und
Hendrichs gefpielt, „den berühmteiten Liebhabern und zugleich den in natura
feindlihen Brüdern des deutichen Theaters.“ Auf diefer Höhe hielt ſich das
„Geſammtgaſtſpiel“ bis zum Schluß. Den einfachen Namen hatte Dingeljtedt
gewählt; die Freunde jprachen von Muſter-, die Feinde von Monjtre: und
Mujterreitervorjtellungen. Was gegen den aus fommerzieller, nicht aus
fünftlerifcher Sehnſucht geborenen Gedanken zu jagen war, wurde gejagt. Stil:
einheit ift in fo furzer Friſt nicht zu erreichen; und aud) bei längerer Vor:
292 Die Zukunft.
arbeit hätte kaum einer der berühmten Mimen ſich herabgelafien, auf perfön=
liche Starwirkung zu verzichten und ſich in ein Enfenble zu fügen. Immerhin
ward eine fehenswerthe Ausftellung deutfcher Schaufpielfunft. Ein groß
artiger Bühnenraum; forgjame Vorbereitung; fajt alle ftärkjten Talente der
deutfchen Bühne vereint: Anſchütz, Devrient, Döring, Hendrichg, La Roche,
Liedtke, Joſt, Chriften, Haafe, die Damen Haizinger, Seebad, Neumann,
Marie Dahn, und an der Spige ein Theaterfünftler von der nachſchaffenden
Phantafietraft Dingelftedts: fein Ausländer hatte deutfcher Schaufpiellunft vor:
her folche Leiftung zugetraut. Der Theaterkafje brachte das Gefammtgaftipiel
zehntaufend Gulden; für zwölf Hochfommerabende im armen Deutjchland von
anno dazumal eine hübfche Summe. Als beim Abſchiedsfeſt im Theaterfoyer
König Marimilian — 1854! — freuzfidel unter den Somoedianten ſaß und
„auf das Gedeihen der dramatischen Kunſt und Poefie in Deutichland“ tranf,
da ging dem langen Franz das Herz auf und er pries fich glüdlich, weil
ihm gelungen fei, „die berühmteften Meifter unjerer Schaufpielfunft, ohne
BVortheil für ihr eigenes, einzelnes nterefje, durch rein ideale Zwede in
ein Ganzes zu verfchmelzen und ein aus fämmtlichen deutfchen Stämmen,
Staaten und Städten gemifchtes Publikum für die Aufführungen Hafiticher
Dichtungen durch klaſſiche Darfteller zu erwärmen.“
Der Berfuch wurde erft ſechsundzwanzig Jahre ſpäter ernent. Wieder
in München, wieder während der Sommerferien. Allerlei Surrogate, aber
auch wirkliche Mufterdarjtellungen wurden geboten. Die Wolter als Orſina
und Lady Macbeth, die Weſſely al3 goethifches Mädchen, Herr Sonnenthal
al3 Clavigo und Prinz von Guaftalla, Herr Kraſtel al3 Tempelherr und
Mar Piccolomini, Herr Poſſart als Oktavio und Goethes Carlos, Herr
Häuſſer al3 Jo, Frau Ellmenreich als Minna: Das lohnte allein jchon des
Weges Mühe; und die Herren Lewinsfy, Berndal, Barnay, Friedmann, Haafe
wirkten mit. Das Virtuofenthum war, wie Eduard Devrient vorausgefagt
hatte, jtärfer geworden, der auch nur kurze Stunden dauernde Schein einer
Stileinheit noch jchwerer als 1854 zu erreichen. Sichtbar wurde die Wirfung
der taliener, der Riſtori, Roſſis und Salvinis, die das deutiche Tragoe—
dienfpiel aus der Erftarrung gelöft und die fait vergeffene Kunſt gelehrt
hatten, die Geftalten der klaſſiſchen Dichtung naiv anzufchauen, als wären
jie gejtern von einem unter uns lebenden Poeten geichaffen worden. Das war
fein unwichtiges Refultat. Und mochte an Plan und Ausführung Manches zu
tadeln fein: aud) diesmal — Das fonnte jelbit der ftrengfte Kritiker Herrn
Pofjart, dem Yeiter, nicht beftreiten — war an jzeniichen Künften nicht ge-
fargt und beinahe jede Hauptrolle mit dem beften Darfteller befegt, der im
Perfonalbeftand des deutfchen Theaters zu finden war.
Jet werden in den berliner Hoftheatern „Meiſterſpiele“ veranftaltet.
— | — — — — — — m - - — nm.
“ "..
Meifteripiele. 293
Man weih nicht recht, von wen. Der Generalintendant — für ein Weilchen
iſts noch Graf Hochberg — hat ich, fo heit e8, dem prager Direftor Angelo
Neumann verbündet; und da diefer in allen Preiwinfeln gewalttige Herr,
unter deſſen Leitung das prager Schaufpiel längjt den guten Namen verloren
hat, fich hervorrufen und in Tifchreden feiern läßt, muß er ſich wohl als den
Manager diefer Großthat fühlen. Einerlei. Wir brauchen auch nicht zu fragen,
warum der Leiter der dem Rang nad) erften beutichen Bühne zu ſolchem Unter:
nehmen jich einen geſchickten Opernfpefulanten al3 Helfer holen muß und ob
die Männlein und Fräulein aus dem Bretterreich nicht eben fo gern dem Auf
des Grafen Hochberg wie dem des Herrn Neumann gefolgt wären. Ver—
antwortlich bleibt die Generalintendanz. VBerantwortlic für den unter ihrer
privilegirten Adlerflagge verübten Unfug, den ſchlimmſten und zugleich lächerlich:
ften, deflen Spur in der Gefchichte des deutjchen Theaters zu finden ift.
Meiſterſpiele . . . Franz Dingelftedt, in dem doch ein recht robustes Selbſt—
bewußtfein lebte, hätte jih jo anmafenden Namens gefhämt; er wunte, daft
es in jeder Kunft und im jeden Kunſthandwerk nur wenige Meifter giebt. Und
das Wort kann doch feinen anderen Sinn haben als den: zu diefen Spielen
hat ſich die Schaar der Meifter vereint. Wir wollen die Bedenken perjönlichen
Geſchmackes ausfcheiden, jede allgemeine anerkannte Theatergröße für einen
Meifter oder eine Meifterin nehmen und fragen, wer von diefen der Meiſter—
haft würdig Befundenen nad) Berlin geladen ward. Zwei Meijter wirfen
mit: die Herren Baumeifter und Sonnenthal, zwei Greife, die ſeit einem
halben Jahrhundert in erften Stellungen find. Die Damen Sorma, Niemann,
Hohenfels, Dumont, Sandrod, die Herren Kainz, Poſſart, Barnay, Baſſer—
mann (Berlins ftärkites Spieltalent), Engels, Reicher, Thimig, Niffen: te
Alle fehlen und mit ihnen mancher Andere, der hier Sicher nicht Fehlen durfte.
Aus allen Provinzen aber find die Mittelmärigkeiten zufammengetrommelt.
Eine vom Botichafter Fürften Eulenburg empfohlene Anfängerin verjucht jich
— nah Frau Sorma, deren finnlicher Mädchenreiz hier ein holdes Wunder
ſchuf — an Grillparzers Ejther. Eine Heine, ſäuerlich heftige Frau, der
bei aller gefchicften Houtine, auch innere Größe unerreichbar ijt und die, wo
fie von Tragoedienfiebern gefchüttelt jein follte, nur böfe werden kann, Feucht
unter der .Laft, die ihrem fpigen Talentchen die majeftätifche Zarenwittwe
Sciller8 aufbürdet. Das in unerträgliche Manierirtheit verfallene Fräulein
Poppe (ein urfprünglich jtarkes, in der berlinischen Zuchtloſigkeit vor der
Neife zerrüttetesS Temperament) ſpreizt und windet und ziert ih al8 Maria
Stuart. Den Fauft ſpielt ein tüchtiger, auch im Schreiben emjiger Herr,
der vor einem Jahr den anftändigen Durchichnitt des Scillertheaters nicht
überragte. Als Soubretten jind ung die Frauen Schratt (die vor dreißig Jahren
vom berliner Hoftheater zu Laube ging) und Gonrad-Schlenther (die ich als
204 Die Zukunft.
Schüler debutiren fah) verfprochen und das Fräulein von Barnhelm ift der Frau
Busla anvertraut, die eben jo alt, doch nicht eben fo Luftig und ferngefund ift wie
Frau Echratt. Ich weiß nicht, welche Erwägung die Auswahl beitimmt hat,
und kann nur feititellen, dar Frau Buska die Gattin des Managerd Angelo
Neumann, Frau Schratt die Freundin des Kaiſers von Defterreich ijt (fie
war auch die Freundin feiner Frau; ich bitte alfo, nichts Arges zu denken),
dar Fränlein Wachner (Ejther) von einem Botfchafter, Fräulein Poppe von
einem Intendanten protegirt wird, Frau Conrad mit dem Burgtheaterdireftor,
Frau Bertens (Marfa) mit einem Theaterkritifer des Berliner Tageblattes
verheirathet ilt. Außer ihnen find, offenbar nach willfürlicher Laune, allerlei
brave Mimen geworben, die, da jest ja nicht Ferienzeit ift, faft immer nur
eine Probe mitmachen fönnen, nad der Vorftellung heimmärts fahren und zur
nächſten Rolle wieder nach Berlin fommen. Steine Möglichkeit innerer Samm:
lung alfo und nicht einmal der Berfuch, durd) jorgiames Tönen, Fügen, Abſtim—
men eine Stileinheit herzujtellen. Auch nicht das Bemühen, den aufzuführenden
Gedichten ein mit befonderer Sorgfalt angepaftes Feiertagskleid zu Schaffen. Büh—
nenleiter der Spiele ift Herr Grube, ein von meininger Erinnerungen — eigenen
und denen feines Inſpizienten — zehrender Regiſſeur ohne Anfehen, ohne
Fleiß, Künftlerernft und fchöpferiiche Kraft, ein Iheaterpugmacher, der den
tiefiten Punkt, den feſten Grundſtein einer Dichtung nie zu erkennen vermag,
dem im feinem Schaufpielhaus Niemand gehorcht und der jich durd) den Hohn
der Berufsgenojfen, wie es fcheint, nicht abfchreden läßt, jelbit in Hauptrollen
unter die Meijterfpieler zu treten. Die meijten Dramen finden im Neuen Königs
lihen Operntheater Unterjtand, in einem Bühnenhaus, das zu Reitübungen und
Mastenbällen geeignet jein mag, jede intime Wirkung aber verfagt und die
Spieler im Affelt zu häßlicher Ueberfpannung der Lungenkraft zwingt. Warum
ward dieſes Haus gewählt? Weil es an Wochentagen fonft leer fteht und
ſich — eine Errungenſchaft aus der Aera Pierfon — Schlecht verzinjt und
weil die verehrliche Generalintendanz Geld verdienen will. Deshalb werden
am Scillerplag die Saifonzugftüde gegeben und die Meifterjpiele bei feſtlich
erhöhten Preifen hinter der Siegesjäule veranftaltet. Deshalb darf Feine
Borftellung ausfallen, muß Goethes wichtigſte Dichtung pünktlich aufgeführt
werden, trogdem der herbeigewinfte Fauitiprecher erit drei Stunden vor Anfang
der Vorjtellung aus Wien eintrifft und feinen Mephijto kennen lernt.
Dar die Intendanz Geld verdienen will, ift nah den — trotz allen
pomphaften Erklärungen erweislihen — Einbußen der leuten Zeit leicht zu
veritehen und wäre unter allen Umftänden ihr, wie jedes Gewerbetreibenden,
gutes Necht. In der Wahl der Mittel aber, die zu ſolchem Ziel führen
follen, müßte fie einigermaßen vorlichtig fein. Schon früher ließ ſie abge:
fpielte Operetten von einem zufammengewürfelten Berfonal aufführen, das eben
fo wenig wie das Occheſter je dem SKHoftheaterverband angehört hatte, und
Metiteripiele. 295
ruhigen Muthes auf den Zettel druden: Neues Königliches Operntheater.
Der Fremde, auch der in Berlin dem Theaterwefen fern Lebende wurde durch die
ftolze Adlerfirma getäufcht: er zahlte das Eintrittsgeld für eine KHoftheater-
“ vorjtellung und wurde mit einer Aufführung bewirthet, deren stars aus der
Himmeldgegend von Lübeck, Pofen und Chemnig ſtammten. Der felbe War
breitete jeine Schwingen über die Ankündung einer franzöjischen Opernbande,
die nad ein paar ſtandalöſen Abenden geräufchlos verduftete. An Sonntagen,
wenn im beiden Käufern gejpielt wurde, gab es am Königsplatz immer
Bejegungen, die felbft der alte Hülfen nicht zugelaffen hätte. Jetzt ...
Ich ſchätze die Leiltungen des berliner Hofichaufpielhaufes nicht allzu Hoch; aber
e3 hat gute Männerfpieler (die Herren Matkowsky, den größten, den einzigen
großen Tragoeden Deutſchlands, Kraußneck, Kepler, Bollmer, Chriftians,
Ludwig, Pohl, Molenar) und bietet an Alltagen mehr, al3 die Meijterfpiele
bis jegt boten und nad) dem Programm bieten können. Wird eine Vorftellung
dadurch bejier, dat Matkowslys Rollen von ſchwächlichen Nachahmern ge-
fpielt werden und irgend ein Hinz oder Kunz aus Dresden oder Weimar auf
unbefannten Brettern die Kräfte übt? Und diefe Hinz und Kunz find nad)
ſolchem haftig vorbereiteten Gaftfpiel auf fremdem Boden nicht einmal zu
beurtheilen. Ueberhaupt kann von einem Kunſtwerth der Spiele nicht ernit=
haft die Rede fein. Sie zeigen nicht den Status der deutfchen Bühne,
nicht, was den unter einem Kommando vereinten flärkiten Talenten gelingen fann,
nicht die Refte und Rudimenteder einzelnen Schulen, — höchſtens die heillofe Sprach—
verrottung und Stilzeriplitterung. Die Hoftheater von München, Dresden,
Stuttgart geben je eine Vorftellung. Auch daraus ift nichts zu lernen. Daß
Herr von Poſſart, wenn er ſich acht Tage lang wieder einmal befleift, eine an—
ftändige Aufführung des — kinderleicht zu fpielenden — „Erbförfter“ fertig
bringt, wußte der Sachkundige jchon vorher; wer nach diefer einen Probe das
münchener Schaujpiel jchäßte, würde ftaunen, wenn ers daheim fähe: mit
einem Perſonal, dem der Held und die Heldin, Fauft, Franz Moor, Lady
Macbeth fehlen und das Feiner großen Aufgabe gewachjen ift. ine gute
Aufführung kann ſchließlich jedes Theater leiſten. Woher aber nimmt die
Generalintendanz das Recht, für BVorftellungen, die in beitem Fall bis ans
Alltagsniveau des Gewöhnten reichen, erhöhte Eintrittöpreife zu fordern?
Woher? Aus dem Titel des Unternehmens. Dem Gefammtgaftjpiel
unbefannter Hiftrionen hätten nicht Viele nachgefragt; Meiſterſpiele: Das
follte zichen und hat wirklich gezogen. Sind aber die waderen Leute, die
in Dresden, Hannover, Leipzig, Prag, Stuttgart, Weimar feit Jahr und
Tag ſich beicheiden und die von Zeit zu Zeit der Glanz eines den Bühnen—
himmel abwandelnden berliner Sternes überftrahlt, find diefe redlichen Durch:
ſchnittsmimen Meifter? Und find fies nicht, geben fie ſelbſt ich nicht dafür
aus: was iſt dann über den Titel zu jagen, deſſen Pofaunenton die arglofe
296 Die Zukunft.
Menge heranloden fol? Die Intendenz mag getäufcht worden fein; der
Manager, der vom Schaufpiel nichts verftcht, mag feinem Werberbemühen
beſſeren Erfolg erhofft haben. Jetzt wiffen Beide, woran fie jind; und jet fordern
wir, daß der täufchende Titel verfchwinde. Das deutiche Gefet beitraft den Ver—
fuch, durch Vorfpiegelung falſcher Thatjachen auf Koften Anderer fich oder einem
Dritten einen rechtswidrigen VBermögensvortheil zu ſchaffen. Die öffentlich unter
dem Adlerwappen behauptete Thatfache, daß in den Hoftheatern Meifter jpielen,
ift erweislich falich, ift jogar von den zahmiten Rezenfenten als falſch erfannt
worden; wird die Behauptung aufrecht erhalten, dann wird „das Vermögen“
der Schaufpielbefucher „befchädigt“, „durch Vorfpiegelung falſcher Thatfachen
ein Irrthum unterhalten“, — und der Dolus ift nicht mehr zu leugnen. Noch
Andere aber fönnten ſich durch folche concurrence deloyale bejchädigt fühlen:
alle berliner Schaufpieldirektoren, die täglich mindeften® eben fo gute Vor—
ftellungen bieten wie das Neue Stönigliche Operntheater und denen num die ſpärliche
Lenzkundſchaft weggefchnappt wird. Als eine Form unlauteren Wettbe:
werbes, den ſchon 1881 eine Reichsgerichtsentfcheidung „widerrechtlich, fittlich
zu migbilligen und gemeinſchädlich“ nannte, verpönt das Civilteht wahrheit:
widrige Reklamen und unrichtige Angaben über Werth und Güte von
Waaren, wenn diefe Reflamen und Angaben öffentlich (in Zeitunginferaten,
Plafaten, Cirfularen) gemacht werden, zur Jrreführung des Publikums geeignet
find und mit dem falfchen Schein eines befonders lodenden Angeboti3 die Kunden
dem Stonfurrenten entziehen, der sich ſolcher Mittel nicht bedienen will.
„Strafrechtliche Folgen“, jagt Profefior Rofenthal im Handwörterbuch der
Staatswiſſenſchaften, „zieht die fchwindelhafte Reklame nur dann nad) jich,
wenn außer den angeführten Ihatbejtandsmerkmalen noch das Bewußtſein
der Unmahrheit der Angabe und die Täufchungabiicht bei deren Urheber vor=
handen ıft“. Ich fann nicht finden, dar ein Kaufmann, der ftatt der im
Schaufenfter verheißenen leinenen dem Kunden halbleinene Tafchentücher ver:
kauft, fchuldiger iſt als ein Theatergeſchäftsmann, der ftatt der auf Rieſen—
plafaten verfprochenen Mleijterfpiele raſch zufammengejtoppelte Dutzendvor—
ftellungen bietet, und ich bin überzeugt, dak Konfurrenten und Kunden vor
Gericht ihr Schadenserfagrecht erjtreiten könnten. Hans Heinrih XIV. Bolko Graf
von Hochberg, Herr auf Neufchlof und Rohnſtock, erbliches Mitglied des
prußiſchen Herrenhauſes, gilt als ein Schwacher, doch flecklos ehrlicher Mann.
Er hat einen Namen zu verlieren, nicht als Intendant, aber als Edelmann,
und wird wiſſen, was die Anſtandspflicht dem Enttäufchten gebietet. Fällt
der Faljche Titel und wird ein Geſammtgaſtſpiel deutjcher Provinzfeans „unter
Mitwirkung der Frau Medelsky und der Herren Baumeifter und Sonnen
thal“ angezeigt, dann braucht kein Veritänd ger ich über die armfälige Karilatur
des dr ngelſtedtiſchen Unterm bmens morgen noch weiter aufzuregen. M. H.
Seraubpeber und verantwortlicher Nevakte au: M. Herden | in Berlin. — Berlag der Zukunft in Berlin,
Drud von Albert Damde in BerlinsSchöneberg.
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Berlin, den 24. Mai 1902.
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- Der Rönig von Spanien.
ht Apfelfchimmel zogen den Prunfwagen. Die Granden des König-
reiches, der Hofitaat, Infanten und Infantinnen fuhren in Gala»
futichen voran. Vom Schloß rechts an der Plaza Mayor vorbei, wo einft
die Inquiſition und nad) der Zeit der Autos de Fe dann die Corrida herrichte,
über die großftädtifch banale Puerta del Sol hinweg durch die Calle Jero—
nimo bi8 zum Kongreßpalajt. Selbft im feierlichen hiipanischen Schritt ift
vom Renaiffancebau Philipps des Fünften, von der Erinnerung an bren-
nende Keger, an die von den Hörnern wüthender Stiere zerfegten Menſchen—
feiber bis in die moderne Geſetzfabrik der Weg nicht ehr weit. Hinter der
Guardia Civil und der Gebirgsartilferie, die das Spalier bildeten, jchob und
drängte fich das Volk von Madrid, harrten in Sonnenhige die aus allen
Theilen Neukaftiliens herbeigeeilten Yandleute, um ihren König auf dem
Wege zur Herrſchaft zu Schauen. Viel fahen fie nicht. Bunte Teppiche, bunte
Blumen, grünes Yaubmwerf, rothe und gelbe Leinwand, foftbare Gobelins,
Goldtreſſen, Hofgalafleider, Uniformen, die wohlbefannten Gewänder der
hohen undniederen Klerijei; und zuletzt, hinter den Spiegelicheiben des präch—
tigften Wagens, einen weißen, winfenden Kinderhandichuh. Alfonjoder Drei-
zehnte grüßte fein Volk. Zum erſten Dale trug er den von Gold ftrogenden
Nod eines Generalfapitäns; zum eriten Mal ſollte er König fein, jollte der
Knaberegiren. Als König war er, ſechs Monatenad) dem Tod feines Vaters,
geboren worden. Dod) da das ſpaniſche Grundgejet den Monarchen erjt beim
22
298 Die Zukunft.
Eintritt in das jechzehnte Yebensjahr mündig jpricht, hatte Maria Ehriftine
bisher für den Sohn die Regentichaft geführt. Heute, am jiebenzehnten
Maitage, wurde Alfonjo großjährig, mußte er vor beiden Kammern der
Cortes den Eid auf die Berfaffung leiften. Acht Apfelichimmel zogen ihn
auf den Schauplat der erſten Königspflicht. Ueber dem Prunfwagen lag
auf einer leuchtenden Weltkugel die ſpaniſche Krone. Und auf feidenen Kijjen
ſaß das ſchwächliche Kind des Schwindjüchtigen im Paradelleid eines Krie-
gers und winkte mit weißem Handſchuh einer unbelannten, unerlennbar
wimmelnden Menge huldvollen Gruß; denn jo, ward ihm gejagt, grüßen
nach altem Brauch die Könige ihr treues Volf. Nur den Handſchuh jieht
man von Zeit zu Zeit zwijchen den Pferden der Leibgarde, die den Wagen
umringt. Aber vom Schloß her dröhnen die Böller, helle Fanfaren em-
pfangen den Zug; und jubelnd kreiſcht endlich nun die von joldhem Glanz
geblendete Menge, die lange ftumm gaffte: Es lebe der König !
Sie kennt ihn nicht, hat ihn kaum je gejehen und mit halbem Ohr nur
den Gerüchten gelaufcht, die aus den Gefindeftuben des Palaftes in die ver:
fallenden Gäfchen ſchlichen. Der Bauer, der Kleinbürger wagt nicht mehr,
auf bejiere Tage zu hoffen. Der Proletarier ſchwört auf Igleſias und harrt
ungeduldig der Stunde, da Balunins Saat aufgehen und der rothe Schreden
das Yand reinigen, neuer Ernte den Boden bereiten wird. Die Frau tft, die
darbende befonders, in blind gläubigem Fanatismus dem Priefter unterthan ;
feinem Wort horcht fie und flüchtet aus Angit und Noth in die finjter
ragenden Klöfter, in die vorgejchobenen Forts der geiftlichen Weltmacht, die
wie ein Schwarzer Gürtel die Hauptjtädte einjchnüren. Wer joll der Frage
nachſinnen, ob von dem neuen König Gutes oder Schlimmes zu erwarten
it? Die Heine Schaar der Gebildeten höchitens, die vergleichen kann und
die Schmälerung des ſpaniſchen Anjehens bitter empfunden hat. Die Zeit der
Megentichaft war hart; fie hat dem Reich, in dem einft die Sonne nicht
unterging, Alles geraubt, was es noch zu verlieren hatte: Wohlftand,
Kolonialbefig, Preftige, innere Einheit. Die Defterreicher haben Spanien
immer Unglüd gebracht und die Defterreicherin Maria Chriftine hat das
Werk ihrer Ahnen vollendet. Gewiß: fie that, was jie vermochte, war jitt-
jam und fromm, Tocte feinen Buhlen auf ihr Wittwenlager, gab fich nicht,
wie die Babylonierin Iſabella, in brünjtiger Yaune heute einem Serrano,
morgen einem Marfori. Dod) die jtrengite, prüdefte Tugend erjegt nicht
das Herrichertalent. Maria Ehriftine blieb in Spanien jtet$ die Fremde,
die Dejterreicherin. Nie jchien fie bemügt, Yand und Yeute fennen zu lernen,
Der König von Spanien. 299
den Charakter und die Bedürfniffe des Volkes zu erforjchen. Oft ward ihr
vorgeworfen, fie denke nur an die Erhaltung der Dynaftie, forge nur für
die Wahrung der;fteifen &eremonialformen und jet im tiefften Grund ihres
engen, abergläubigen Herzens froh, wenn fein Strahl den dunklen Sinn der
Menge erhelle. Auch Hochmuth, Geiz, unfreumdliches, mürrifches Wefen
wurde ihr nachgejagt; und ein ganz in grelfen Leidenſchaften lebendes Volt
fonnte ſich ihrer Fühlen, ftarren Tugend niemals befreunden. Sie blieb un-
beliebt und’verlor jogar den Nimbus der Keufchheit, als gekränkte Schranzen
die Kunde ins Volk trugen, die Königin-Regentin, die jede natürliche Ge-
Ichlechtsregung verpöne, habe heimlich eine morganatifche Ehe gejchloffen.
Das Geraun log wahrjcheinlich, wurde aber, weil e8 eine wachjende Anti»
pathie nähren fonnte, gern aufgenommen und weitergetragen. Und jchließ-
lic): was taugt Frauenherrſchaft einer Zeit, deren Schäden nur eines gan-
zen Mannes geſammelte Kraft heilen Fönnte? So grollte und jeufzte die
Intelligenz des Landes, die Bourgeoifie, die in übeljter Yage immer noch
vor dem Umſturz der Staatsordnung zittert und in der Dauer der Mo—
narchie den ficherften Schuß ihrer Geldjchränfe ficht. Vielleicht reifte im
Schloß jchon der rettende Mann. Vielleicht... Hoch hinauf flatterte freilich
die Hoffnung nicht. Der Knabe Alfonjo wurde,von feinem Vater im legten
Stadium der Schwindfucht gezeugt. Solchen Urſprungs Leidensſpur ift an
ihm fichtbar geblieben; er ſieht jünger aus, als er tft, und war jeit dem erjten
Lebenstag ein blaſſes, verkümmertes Angſtkind. Kein Höfling hat ihm je
einen Wefenszug nachgerühmt, der auf befondere Regſamkeit eines früh
wachen Geiftes ſchließen ließ; und Königen wird doch ſchon Genialität an-
gedichtet, wenn fie, ohne allzu laut zu fchreien, fich den Kopf waſchen, die
Saugflafche wegnehmen und die Nägel ſchneiden laſſen. Diejen König hielt
die Deutter beinahe ängftlicd) verborgen. Niemand jah ihn. Der Pater
Montada, eine Stüte der Orthodorie, leitete jeine Erziehung. In die Ver:
waltungpraris wurde der Knabe nicht eingeweiht und nie vernahm man,
er habe auch nur als Hörer einem Minifterrath beigewohnt. Ein andalufifcher
Hirtenfnabe weiß mehr von Spaniens drängenden Wünjchen, von Spaniens
Yammer als diefer im goldenen Käfig Erwachjene. Und der arme Poftu:
mug foll num König fein und eine Erbichaft antreten, vor deren Laſt ſelbſt
ein mit allen Waffen moderner Bildung gerüfteter Rieſe erbeben müßte.
Wohl ihm, wenn er auf jeidenen Kiffen in indischen Wahn nicht an
die Beichwerden des zur Herrichaft führenden Weges denkt, nicht an das
Ziel der mühfäligen Fahrt, die fo glanzvoll, mit Bölfergedröhn, Fanfaren
97%
u
300 Die Zukunft.
und Bolksjubel begann. Weh ihm, wenn er aud) nur in flüchtigen Traum
die furchtbare Wirklichkeit fieht, wern eines Warners rauhe Hand den
Schleier zerreißt, den zärtliche Frauenſchwachheit und jchlau vorjorgende
Prieftertaktit um die Schläfe des Knaben wanden. Wird das Auge dieſes
Königs frei, dann muß er verzweifeln, muß feinem Schidjal fluchen und ſich
gegen die graufe Bofje einer Staatsrechtsordnung bäumen, die jo ungeheure
Bürde auf eines Sechzehnjährigen ſchwache Schultern Iud.
Dennoch) hoffen gerade die Beiten im Land, der Trugfchleier werde
reißen, des muthigen Warners Stimme bis ins Ohr des gefrönten Knaben
dringen. Leicht, fo rechnen fie, läßt Jugend fich zu großen, Ruhm verheißen⸗
den Aufgaben loden ; und gar verführerifch Hänge hier wohl das Wort des
Zapferen, der fich entjchlöffe, ohne Furcht vor ihm jelbft gefährlichen Folgen
diefem König die Wahrheit zu zeigen. Sieh um Did), müßte er jprechen,
und lerne zuerst: nur glauben, was Du mit eigenem Auge jchauft; mit
nüchtern prüfendem Auge, das nicht träg an der Oberfläche der Dinge haftet.
In Deinem Reich ift Alles unecht, unehrlich, Alles auf Täufhung und
Selbjttäufchung geftellt. Ein Coulifjenland, das der erjte Windftoß über
den Haufen weht. Das Volk, das Dir zujubelt, liebt Dich nicht, traut Dir
nicht einmal; es heult vor Freude über die bunte Deforation und huldigt
Dir wie in der Arena den behenden Chulog, die im Tanzſchritt vorrüden und
dem gereizten Stier das rothe Tuch um die Hörner werfen. In der nächſten
Viertelftunde fann irgend Einer aus der populären Schaarder Banderilleros
oder Picadores Did) aus dem Schein der Volksgunſt verdrängen. Wenn Du
Deiner Macht fefte Grundlagen jchaffen willft, darfft Du nicht auf der
Straße dem Applaus nachlaufen. Das hieße, die Zeit vertrödeln. Did)
bedrohen nicht nur Anardhiften, Karliften, Separatiften, Republifaner und
Yandproletarier: Du haft überhaupt feine zuverläffige Stüte. Ein Schuß,
eine Dynamiterplofion macht Lärm; die ſchlimmere Gefahr iſt geräufchlos.
Die Maffe, die noch ganz in den Vorftellungen des Abfolutismus von Gottes
Gnaden lebt, fragt nicht, ob liberal oder fonfervativ regirt wird, und langt
nicht nach Gedanfenfreiheit; was follte fie mit folcher Errungenſchaft an-
fangen? Sie herricht ja auch nicht, hat feine Möglichkeit, an der Geftaltung
ihres Schiefals mitzuwirken. Unfere Demofratie ift eine Lüge, die Keinen
mehr täuſcht. Hier hauft, über dem Volk, iiber dem Schattenfönig fogar,
eine Dligarchie, deren Gruppen und Eliquen ſich um dieBeute balgen. Diefe
Rauferei nennen wir ftolz den Prinzipienfampf politifcher Parteien. Und
eben folche Lügen find all die Einrichtungen, von denen wie von nationalen
Der König von Epanien. 301
Heiligthümern geredet wird. Einuntüchtiges Heer, deſſen Führer immer an
den perfönlichen Vortheil, nie an die res publiea denken. Eine unbrauch—
bare, von der ganzen Welt verhöhnte Flotte. Wenn morgen der Streit um
die Herrjchaft über das Mittelländifche Meer ausbricht, ift unfer Bischen
Einfluß aufMaroffo verloren. Dabei bringen wir die Roften einesStaats-
haushaltes auf, der jährlich faft eine Milliarde Pefetas verjchlingt. Wir
haben feine dem hajtigen Wettbewerb jüngerer Rulturvölfer gewachſene In—
duftrie, feinen modernen VBerfehrsmöglichkeiten entiprechenden Handel; und
den Aderbau lähmt die Rückſtändigkeit des Betriebes. Mit ftaatlicher Bei-
hilfe werden Monopole erfchachert, die den Aerınften Wucherzins abpreſſen
und einen Klüngel bereichern. Günftlingmwirthfchaft und Korruption aller
Art hat überall ihre Minengänge gegraben. Alles ift hohl, haltlos, zum
Untergang reif. Nicht Ruinen haft Du zu reftauriren, nein: Du mußt die
morjchen Nefte in die Luft fprengen und auf dem gefäuberten Boden ein
neues, helles, Tuftiges Gebäude errichten. Alles ift hier noch zu thun, der
Grundſtein politifcher und wirthichaftlicher Organifation erft zu legen. Und
Der nur, dem diejes Werk gelingt, wird wirklich König fein, nicht im Purpur
als eine nidende, winfende Gliedergruppe die Rolle des Königs fpielen.
Wer jo zu Alfonfo Poſtumus jpräche, riethe ihm eine Revolution und
lockte den Knaben zu einem Verfuch, der auch mannbare Könige jchreden
fönnte. Die Gefchichte lehrt, daß Nevolutionen fat ausnahmelos nur dann
Erfolg hatten, wenn fie von Klaſſen, Klafjenführern oder Deklaſſirten aus—
gingen, die nichts verlieren, Alles gewinnen konnten. Ein König von Spa-
nien, der eine gründliche Modernifirung feines Neiches plante, müßte vor
allen Dingen die lebermacht des Klerus brechen. Diejes Unternehmen aber
wäre nirgends jo gefährlich wie im Baterlande Yoyolas, wo die dünne Ober:
Ihicht zwar antiflerifal, dod) die Maſſe des nicht in den Großftädten ent-
chrifteten Volkes blind dem Priejter ergeben ift. Und wo fände die Dynaſtie
Stützen, wenn fie auch noch die vatifanische Weltmacht wider jich waffneteund
denihr bis heute jo gnädigen Papſt zwänge, feine Hoffnung aufden Sieg der
Karliften zu jegen? Sagafta mußte jehr gut, warum er, der ausgezogen war,
die Pfaffenfeitungen zu fchleifen, aufhalbem Weg umfehrte. Keineder beiden
großen — jetzt freilic) jacht abbrödelnden — Bourgeoisparteien wird diefen
Weg bis ans Ende gehen. Aufdie Separatiften und die Sekte Bakunins aber
kann ſich Alfonſo nicht ftüten, wenn er nicht nach gewonnener Schlacht beim
Siegesmahl der Dreizehnte jein will. Die Situation ifteben nicht fo einfach,
wie der liberale Befiter ewiger Wahrheiten wähnt,der dem Sohn der from:
302 Die Zukunft.
men Erzherzogin einen frijchen, fröhlichen Kulturfampf empfiehlt. Die
Spanier lächeln verächtlich zu jolchem Rath und jchneiden jede Erörterung
mit dem fpigen Wort ab: Cosas deEspana! Das heißt: darüber fteht nur
dem in Spanien Geborenen ein Urtheil zu. Gefprächiger werden fie erft im
intimen Verkehr. Dann kann man von ihnen hören, daß fie die jpanijche
Monarchie für unrettbar verloren halten und ihr rathen, auf die am Man—
zanares jehr mächtige vis inertiae zu bauen und ohne ftörenden Lärm auf
den alten, breitfpurigen Wegen noch ein Weilchen das Leben zu friften.
Die Straße, auf der die acht Apfelfchimmel den Prunkwagen zum
Kongrekpalaft ziehen, ift alt und ward oft befahren. Auf der Weltfugel, die
über der Spiegelfutjche im Sonnenlicht blitzt, Tiegt diefpanifche Krone, deren
Neich feit den Tagen vor Kuba fo Hein geworden ift. Und Niemand lacht;
aus weiter Fremde find Gäfte gefommen, denen man ein Schaufpiel ſchul—
det. Cosas de Espana! Auch der bleiche Knabe, dejjen mageren Leib der
wattirte Baraderod eines Generalkapitäns Fräftiger erjcheinen läßt, hatfeine
Rolle eifrig gelernt und weit auswendig, wie er jich in jedem Augenblic zu
benehmen hat. Er winkt mit dem weißen Handſchuh; denn fo, hat ihn der
Pater Montana gelehrt, grüßen nad) altem Brauch die Könige ihr treues
Bolf. Jetzt fährt er jähauf und lehnt fich dann jcheu in die Kiffenzurüd....
An den Wagen hat ſich ein Mann gedrängt, dem der Hofmarſchall eine Waffe
entreißt. Der Zug ftodt; und der Zögling des Mönches weiß nicht, welche
Haltung in folder Minute der Braud) den Königen im Angeficht ihres treuen
Volkes vorjchreibt. Im Kongreßſaal aber warten die Granden, der Hof:
ftaat, Infanten und Infantinnen, fremde Fürften, Würdenträger und beide
Kammern der Cortes. Der Beginn der Geremonie, jagt endlich der Präfi-
dent, verzögert fich, weil ein Mörder Seine Majeftät angefallen hat. Doch
da ift der König ja fchon. Unter dem gelben Baldadhin jchreitet er über
Marmorjtufen in den Saal. Er hat ſich erholt, reckt, nad) der Weifung, die
Hand umd jpricht mit einer Kinderftimme, die in dem Bemühen, männ-
lich und kriegeriſch zu Klingen, heifer wird: „Bei Gott und den heiligen
Evangelien ſchwöre ich, des Rechtes und der Verfaſſung Hüter zu fein!“
Dann gehts zum Tedeum nad) San Franzisko. Und aufden Rückweg winkt
wieder der weiße Handſchuh. ALS die Reihen der Leibwache ſich am Schloß
löfen, jieht man den König fogar lächeln. Die Weiber jubeln und Alfonjo ift
von fo rührendem Ausdrud der Unterthanentreue beglüdt. Seit er ſich in
der Kathedrale auf den Thron niederliek und im ganzen Reich die Gloden
erflangen, ift der kränkelnde Knabe ein mündiger König geworden.
*
rm,
Mesmer. 303
Mesmer.
I feiner Novelle „Der Magnetifeur“ läßt E. Th. AU. Hoffmann den
Titelhelden von der durch Mesmer entdedten Naturfraft jagen: „ft
es denn nicht lächerlich, zu glauben, die Natur habe uns den wunderbaren
Talisman, der und zum König der Geifter macht, anvertraut, um Zahnmeh
oder SKopfichmerz oder was weiß ich fonjt zu heilen? Nein, es ijt die
unbedingte Herrichaft über das geiftige Prinzip des Lebens, die wir, immer
vertrauter werdend mit der gewaltigen Kraft jenes Talismans, erzwingen.“
Diefe Worte fpiegeln mehr das große antiphiliftrofe Grundgefühl Hoffmanns
al3 feine wahre Meinung über den Mesmerismus wieder, wie andere Stellen
in feinen Erzählungen zur Genüge beweifen. Jedenfalls aber vermitteln fie
eine Auffaffung der mesmerifchen Lehre, die von ihrer rein medizinifchen
Bedeutung abjieht. Es fommt uns freilich nicht mehr auf da8 Phantom
einer „unbedingten Herrſchaft über das geiftige Prinzip des Lebens“ an,
wohl aber auf das Anfchauen diefes geiftigen Prinzips in feiner Tiefe. Dazu
iſt Mesmers Lebenswerk zweifello® ein Beitrag. Nur diefer rein geiftige
Gehalt jeiner Lehre joll uns hier bejchäftigen, ohne daß wir darum jeden
Seitenblid auf fein eraftsnaturwifjenichaftliches Erkennen vermeiden wollen.
Mesmer ſtammt vom Rhein. In Itznang, einem Dertchen in der
Nähe von Konftanz, das am Fur des Schienerberges über einer Bucht des
Unterſees der alten Stadt Radolfzell gegenüberliegt, wurde er 1734 geboren.
Und nachdem fein reiches Leben ihm durch Defterreich und Frankreich geführt,
fehrt er als Greis 1812 nad Konftanz in feine Heimath zurüd. In Meere:
burg, wo er 1815 ftarb, jteht auf dem Friedhof ein dreifantiger, mit ſymboliſchen
Zeichen gefchmüdter Opferaltar: Das ift fein Grabftein. Und bei Stein am
Rhein foll nad) glaubwürdiger, in einer dort angefeffenen Familie erhaltener
Tradition eine Begegnung Mesmerd mit Goethe ftattgefunden haben.
Seine jeit früheiter Zeit von Vielen eifrig verfochtene, von Anderen
befämpfte, immer uniftrittene Lehre von der Wechſelwirkung, der man mit
Recht vielleicht nur vorwerfen darf, daß fie eine individuelle, ihm und ein:
zelnen Anderen genügend jichtbar verliehene Kraft generalifirte, hat ihn bald
zu einer europäifchen PBerfönlichfeit gemacht. Er muß in der That, jelbit
wenn feine ganze praktische Lehre nur ein großer Irrthum fein follte, durchaus
al ein bedeutender, feine Umgebung und feine Zeit beeinfluffender Mann
genommen werden. Zeugnig dafür ijt fein raſcher und großer Erfolg in
Franfreich, wohin er 1778 von Wien aus ging und wo er troß aller Be:
fümpfung durch die Schulmedizin zwanzig philantrophifche Inſtitute mit
magnetifcher Behandlung einrichten konnte. Den Einfluß, der von ihm aus—
ging, bewahren uns auch Einzelberichte von Zeitgenoſſen. Ein Augenzeuge,
304 Die Zutumft.
der den greifen Mesmer in Konftanz aufſuchte und feinen unentgeltlichen
magnetischen Kuren zufah, fpriht von der „wunderbaren Kraft der Ein:
wirkung auf Kranke bei dem durchdringenden Blid oder der bloß ftill er:
hobenen Hand“ Mesmers. Diefe Wirkung ging vielleicht zunächſt rein von
der phyſiſchen Perfönlichkeit de8 Magnetiſeurs aus; fie wurde jedenfalls
erhöht durch die Macht der hinter der phyſiſchen jtehenden geiftigen Perfönlichkeit,
die in ringenden Gedanken wie in inneren Schidjalen gereift umd erftarkt
war. Diefer Mare, Huge Repräfentant der Aufklärungzeit, wie er ſich nament:
ih in dem Entwurf eines idealen Bürgerftaates (im zweiten Theil des
„Syſtems der Wechjelwirkungen“) zeigt, war zugleich Myſtiker und ein die
Tiefe der Natur durcchforfchender Geift. Diefe Zweiheit giebt ihm fein Be:
jonderes. Sein Wefentliche8 aber ift fein ganz innerliches Anſchauen der
Natur und ihrer Kräfte Mesmer gilt in naturwiſſenſchaftlicher Hinficht
gemeinhin als Phantaft. Allerdings beſaß er die nachſchaffende Phantafie,
ohne die ein lebendiges Erkennen überhaupt undenkbar it; fie mag ihn mand-
mal zu Irrthümern geführt haben; daß jie ihm auch große Wahrheiten ver:
mittelt hat, ift ohne Frage. Es wird feinem Ruf als Naturforfcher gewiß
nicht Schaden, daß er den Zufammenhang aller organischen Entwidelung
deutlich jah, dak man ihn fait als unbewußten Darwiniften bezeichnen kann.
Er fpridht einmal davon, daß das Thier feine Wurzeln ans dem Erdreich
genommen und als Magen in feinen Körper verjenkt habe. Das ift eine
grundlegende Lehre des Darwinismus. An einer anderen Stelle betont er
die Möglichkeit, daf der Schlaf — als ſolchen bezeichnet er ausdrüdlich das
Leben der Pflanze — der dem Menfchen natürliche, urfprünglihe Zuftand
jei: dem Zwed des Vegetirens am Ummittelbarften entfprechend. „Könnte
man nicht behaupten, daß wir nur wachen, um zu ſchlafen?“ Man halte
daneben die der Entwidelunglehre eigenthümfliche Anfchanung, daß der menſch—
liche Geift fih nur als Waffe im Daſeinskampfe entwidelt habe.
Mesmer gliedert feine felbiterlebten Anſchauungen in ein jfizzirtes
metaphyſiſches Syitem ein. Das hat den Vortheil, daß er felbjt einige der
tieferen Sonfequenzen feiner Ideen ziehen und uns vorweggeben muß; uns
günftig aber bleibt, daß er nun nicht in dem Maße gezwungen ijt, die Einzel-
erfcheinung — die er durd; Eingliederung in das Syftem genügend motivirt
zu haben glaubt — jo anſchaulich lebhaft zu fchildern, daß ſie aus ſich felbit
allein den Lefer von ihrer Wahrheit überzeugt. Das Syftem verhült ung
zunächſt au den Ausgangspunkt, von dem Mesmer in fein Gebiet
eindrang. Eine tiefe und befondere Art der Weltanfchauung muß in der
Perfönlichkeit, die zu ihr finden foll, ganz und gar vorbereitet fein. Eine
folche Anſchauung mag — zumal wenn in ihr fo fichtlich praftifche Konſe—
quenzen liegen am Anfang, ehe fie ſich vunden konnte, nur als der
Mesmer. 305
Spiegel beſonderer zufälliger Erfahrungen erſcheinen. Am Ende, wenn das
ganze Leben eine urſprüngliche Veranlagung umſtrömt und Zeit gewonnen
hat, ſich um den — bewußten oder unbewußten — Gedanken zu kriſtalli—
ſiren, wird ſich dies Gebilde ganz zum Ausdruck der Perſönlichkeitwandeln. Ber:
ſönlichkeiten aber ſtellen in ſich immer einen Theil der großen Wahrheit dar.
Der erſten äußeren Anregung, die Mesmer zu ſich erweckte, kann ich
nur einen Zufallswerth beimeſſen. Es iſt ziemlich gewiß, daß er als junger
Arzt durch Beobachtungen an Kranken auf den Einfluß achten lernte, den
die großen Himmelskörper, insbeſondere Sonne und Mond, auf den thieriſchen
Organismus üben. Seine Doktordiſſertation handelte von dem Einfluß der
Himmelsförper auf die Erde. Er forjchte vorurtheillos und fand fcheinbar
fernliegende umd doch deutliche Beftätigungen. Mit richtigem Blick fah er
in alten Bollsmeinungen, Aberglauben und Aehnlichem keinen Unſinn, fondern
— imenn auch erjtarrte und verderbte, dennoch — ſchätzbare Leberreite einer
urfprünglichen Erfahrungwahrheit. So ging er forichend bis auf vergefiene
aftrologifche Anfichten zurüd. Unſere Naturerfenntniß bejtätigt diefen aftralen
Einfluß übrigens; wie man denn jüngft auch zu einer unbeftreitbaren Er-
kenntniß der Einwirkung ganz ferner meteorologifcher Eriheinungen auf das
Nervenfyftem gelangt ift. Im feiner Praxis empfand der junge Mesıner
fhmerzlih, dar es fein direltes auf die Nerven wirfendes Heilmittel gab.
Er gerieth — nicht unbeeinflußt von feinen aftrologifchen Studien — auf
die Vermuthung, daß Dieſes ein Agens nicht wägbarer Mlaterie fein müſſe,
ein Prinzip der Belebung. In diefer Vermuthung lag gleichzeitig eine Er-
klärung des von ihm ausdrüdlich al3 wechjelfeitig angenommenen Einflufjes
der Himmelsförper, die jich fait ganz mit der befannten Aether: Theorie Bedt; nur
nimmt Mesmer einen noch feineren Weltftoff an. Diefer Einfluß „bewirfe
ich durch einen Mittelftoff oder durch eine Fluth, worin alle Welen in einer
Art von Berührung jo unter einander gemengt find, dar dadurd eine einzige
Maſſe von der ganzen Welt gebildet wird.“ Wir find „eingetaucht im den
Dean der Allfluth.* In diefem Ausdrud dofumentirt ſich fchon eine kos—
miſch, phantheiftifch empfindende Perjönlichkeit. Und inniger noch berührt
fie und, wenn er feine wundervoll künſtleriſche Anſchauung vom Entitehen
der Körper, Formen und Geftalten darlegt. Sie werden erzeugt von den
beiden großen Kräften des Als: Ruhe und Bewegung. Cr giebt für feine
Anſchauung ein etwas triviales, aber eindeutiges und klares Bild: ein großes
Glasgefäß fei mit Butter gefüllt, in dem fich unfichtbar — in Farbe und
Ausſehen der Butter ganz gleich — eine Wachsfigur befindet. Eine Form
ijt nicht vorhanden: wir haben den Zuſtand der abjoluten Ruhe. Erhiten
wir das Gefäß fo lange, bis die Butter fchmilzt, das Wachs dagegen noch
nicht aufgelöft wird, fo haben wir den Zuftand der Welt: Ruhe und Des
23
3) Die Zukunft.
wegung; die Bewegung durch die ihr im Weſen verwandte Wärme hervor-
gerufen. Wir haben Form und Geftalt. Erhitzen wir das Gefäß weiter,
bis aud die Wachsfigur ſchmilzt, fo haben wir den Zuſtand der abjoluten
Bewegung und wieder feine Form, feine Geftalt. Wenn wir des Gefühles,
daß alles Vergängliche nur ein Gleichniß it, ganz theilhaft find, jo muß
dies triviale Bild tiefe Bedeutung für ung gewinnen. Als ein Spiel der
beiden Kräfte Ruhe und Bewegung ftellt Mesmer das Förperliche Leben des
Menſchen dar. Mit der Geburt — richtiger wohl: in der Empfängnik oder
in der Entitehung des Spermazoons — tritt Leben aus dem Reich abjoluter
geftaltlofer Bewegung in den Doppelzuftand der Bewegung und Ruhe ein. Nun
beginnt eine laugſame (oder bei tötlichen Krankheiten plögliche) Verfeſtung, die
zum Zuftand der abfoluten Ruhe, zum Tode führt. E8 leuchtet ſofort ein,
dan die Widerfprüche, die in diefem Schema — wie in allem Schematifchen —
liegen, daher rühren, daß wir vom Zuſtand der abjoluten Bewegung vielleicht
finnvoll zu fprechen vermögen, jedenfalls aber den Zuftand der Ruhe nur in
feiner Verbindung mit der Bewegung kennen und ihn abfolut auch nicht denten
fönnen. Wenn Mesmer dagegen mit feinem Schema nichts Anderes jagen wollte
als: daß das Leben einer Einzelform eine langſame Verfeftung fei, die im Tode
einen Augenblid lang — wenn das der Form eigenthümliche Leben entflohen ift,
das neue der Verweſung noch nicht eingelehrt jcheint — uns als ein Gleichniß
der abjoluten Ruhe bedünfen mag, jo löſen fich die Widerfprühe. Aller:
dings hat diefe8 Schema mit Mesmerd Grundanfhauung über die Ent:
ftehung der Geftalten dann nicht mehr logischen, jondern nur dem tieferen
ſymboliſchen Zufammenhang. Unerörtert bleibt — und hier befchattet viel-
leicht der Nationalismus Mesmers Gelichtsfeld — die Frage nach der piy:
chiſchen Entwidelung im Leben. Sie geht im Peripheriichen der förperlichen
Verfejtung parallel, im Centralen jcheint jie ihr direkt entgegenzugehen, wahr:
haft „ein Entwerden“ zu jein. Ich erinnere an Jean Pauls Unterfcheidung:
„Das Aeufere, das Innere eines Menjchen kann fterben, aber nicht das Junerſte.“
Aus der Anfchauung von der Allfluth leitet Mesmer feine medizinische
Lehre her. Er nimmt an, daß die ganze Welt fortwährend durdhitrömt jei
von Fluthreihen dieſes feinften Stoffes, die nach allen Richtungen geben.
Diefe Annahme iſt hypothetifch auch von einigen Ajtronomen zur Erklärung
der Gravitation herbeigezogen worden. Wo diefe Fluthreihen nun gezwungen
ſind, die Zwifchenräume fejter Körper zu paffiren, befchleunigen ſie fih und
es entftehen Stromfcnellen. Das find die uns bemerkbaren fogenannten
magnetifchen Ströme. Diefe Ströme find fein Hauptheilmittel. Aber in
der Allfluth jah Mesmer noch Anderes. Es iſt ein fonderbares Zuſammen-—
treffen, dar auf dem felben Boden, auf dem im vierzehnten Jahrhundert
einer der Männer, die aus dem tiefiten Quell des Seins gefchöpft haben,
Mesmer. 307
lebte: der Mönd Heinrich Suſo, — daß hier der aufgeklärte Arzt Mesmer
geboren iſt, der auf ſeinem Wege zu ähnlichen Anſchauungen gelangt wie
der Myſtiker. Wie wir die Sterne nicht ſehen können, wenn die Sonne
ſcheint, ſagt etwa Mesmer einmal, fo hindern unſere äußeren Sinne oft
das Leben und Wirken unfere8 inneren Sinnes. Auf diefen wirft nad)
feiner Anfchauung die Allfluth direft ein, jo da der Menſch — wie man
im fomnambulen Schlaf, wo die äußeren Sinneswerkzeuge aufer Thätigkeit
gejegt Sind, beobachten fann — in einem ununterbrochenen Zufammenhang
mit der Natur jteht. Er glaubt, diefen inneren Sinn im Nervenfyften
erfannt zu haben. Mit ihm verbindet er nun eine ſehr wichtige, für das
Berftändnig aller großen menſchlichen — kulturellen wie künſtleriſchen —
Entwidelung geradezu umentbehrliche und deshalb durch die Arbeiten der
jüngiten Hiftorifergeneration (Lamprecht, Breyfig) mittelbar unterftügte Hypo—
theie. Die Anftedung der Meinungen, der Sitten, die oft plögliche Um:
ſtimmung ganzer Epochen, die Wirfung des Willens ftarfer Charaktere, der
Segnungen und Berfluhungen und alles Defien, was heute unter den Begriff
der Suggeition fällt, find ihm durch die Allfinth vermittelte Wirkungen auf
den inneren Sinn. Was die Luft für den Schall, der Aether für das Licht,
ift der feine Fluthftoff für den Gedanken. Vielleicht ift unfer naturwiſſen—
ſchaftlich eingeengtes Denken durch die felbjt für den Pfahlbürger wunder:
baren Entdedungen der drahtlofen Telegraphie und der Röntgenftrahlen
wieder einmal für eine Zeit lang von feiner Banalität und Ueberhebung fo
weit befreit, daß wir auch diefe Gedanken, "ohne fpöttifch zu lächeln, zu
erwägen im Stande find. Mesmer hat hier unzweideutig die völlige Durch—
dringung des Alls mit Geiſt ausgeſprochen. Das ift eine — in Folge
ihre8 näheren Haftens an dent Gleichniß des BVergänglichen — gröbere
Form des Pantheismus, als er fich fonft bei Mesmer ausfpridht. Worte
wie: „Das Wollen des belebten Körpers ift nichts im Weſen Unterfchiedenes
von dem Fallen des unbelebten“; oder: „Die Moral ift eine unfichtbare
Phyſik“ drüden feinen tieferen PBantheismus aus. Mit den werthvolleren
Anfhauungen des Dfkultismus dedt ſich Mesmers Gedanke, daß alle Wefen
Materialifationen nad innerem Bilde feien; aud die von Mesmer ange:
nommene Möglichkeit einer Fernerſcheinung, „nachgeformt fogar auch durch
die bloße Eriftenz der urfprünglichen Form“, ift offultiftifche Anfchauung. Er
fieht alfo auch in der Thatſache der Exiſtenz, des Daſeins etwas weſentlich
Anderes al3 die gewöhnliche Auffaffung; nicht einen Zujtand, fondern eine
fortgefegte und beliebig weit reichende Zeugung. In all diefen mesmerifchen
Gedanken liegen Werthe für uns, die von der Wahrheit oder Nichtwahrheit
feiner magnetiſch-mediziniſchen Lehre unabhängig find.
Weimar. Wilhelm von Scholz.
v 23*
308 Die Zukunft.
Rriegsraifon.*)
SI‘ Kriege der ältejten Zeit — jo ſchildert Guftav Freytag die geichicht-
liche Entwidelung — waren auf Austilgung des Gegners mit Weib
und Kind, auf Aneignung feines Bodens und feiner Habe gerichtet. Aus |
Eigennug machte man Gefangene; ſonſt tötete man; die gefangenen Sklavinnen
hatten „feine Ehre“. Noch in der Saiferzeit verfuhren die Römer im
Wejentlihen fo. Die Germanen zeigten ſich den Frauen gegenüber milder;
am Wenigften die Franfen, die deshalb getadelt wurden. Allmählih kam
e8 dazu, daß von Unbewaffneten nur noch die Männer gefangen, daß die
Gefangenen „geihagt“ wurden; die Sreuzzüge, das Lehnsweſen, das Ritter-
thum brachten, trog vielen Ausnahmen graufamer Wildheit, doch einen Fort-
fchritt gegen früher. Neben der reiiigen Schaar hatten ftetS Nefte des alten
Boltsheered fortgedauert, und als diefe ich in das Landsknechtsheer ver:
wandelten, alſo etwa zur Zeit Marimilians, fam man wieder eine Stufe
höher. Eine aus dem übrigen Volksthum gelöfte Berufsorganifation ftand
der anderen gegenüber. Im eigenen Handwerksintereffe gab man einander
„Duartier“, verſprach den Weibern und Kindern freien Abzug. Wurde aud
viel geplündert, fo kauften fi) doch auch viele Städte los. Aufofern die
Kriegführung fi noch mehr auf Berufsheer gegen Berufsheer bejchräntte,
hat jelbit der Dreikigjährige Krieg eine gewiſſe Weiterentwidelung zur
modernen Methode gebradht. Im Uebrigen bietet er freilich fait nur ent:
jegliche Bilder von Grauſamkeit, Mordluft, Zerftörungluft, auch gegen Nicht:
fombattanten, Weiber, Kinder und deren Habe; nur Guftav Adolf felbit
— nicht mehr die Schweden nad) feinem Tode — hielt beffere Mannszudt.
Auch das Landvolf verwilderte; der Landmann hatte in jedem Soldaten, aber
auch der Soldat in jedem Bauern den Feind zu fürchten, bereit zu hinter-
liſtigem Ueberfall, zur Marterung, zum Morde. Nah dem Weitfälifchen
Frieden erjtarkte das Gefühl für Humanität doch fo weit, daß das Haufen
der Franzoſen im der Pfalz allgemeinen Abjcheu erregte. Die Meinung
fejtigte fih, daß den Krieg die ftehenden Heere zu führen haben, während
der ſeßhafte Bürger arbeitet und fteuert. Schwere Laſten haben auch deutiche
Armeen auferlegt, aber meift doch folche, die von der Leitung geordnet wurden;
Roheiten famen vor, aber gegen die gemwollte Zucht des Heeres. Friedrich
der Große bafirte feine SKriegführung zum großen Theil auf Verpflegung
und fürjorglich angelegte Magazine. Das wirkte manches Gute, aber auch
eine gewiffe Gebundenheit, von der Napoleon den Krieg löfte. Große Er:
prefiungen famen unter ihm vor, namentlich in Preußen. Aber er regelte
in ganz neuer Weife die Vorbereitung der Kriege, fo des Feldzuges von
*) S. „Zukunft“ vom 22. März 1902: Deutiche Soldaten in Feindesland.
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Kriegsratjon. 309
1805, eben jo des rujfifchen Krieges, durh Sammlung von Vorräthen für
Bekleidung, Nahrung, Fourage, Wagenparf in nie dagewejenem Umfange.
Freilich ift der Untergang der großen Armee unter Mitwirkung von Kälte,
Hunger, Unwegjanfeit, Entbehrungen jeder Art dadurch nicht verhindert
worden. Für das vorher in der Heimath Erduldete haben die Deutfchen
1814/15 in Frankreich wenig Vergeltung geübt; diefe Lichtfeite des damaligen
Krieges darf man wohl Hauptfächlic auf die Durchjegung des Heeres mit
einer zahlreichen begeifterten, zum Theil gebildeten Jugend zurüdführen.
Im Ganzen brachten die zwei Jahrhunderte nach 1648 einen fchnellen
Fortjchritt zur Humanität. In der zweiten Hälfte de3 neunzehnten Jahr:
hunderts fteigerten ſich die dahin gerichteten internationalen Beftrebungen.
So im Sanitätwefen, in der Fürforge für Verwundete (Genfer Konvention:
und in Bezug auf die anzuwendenden Waffen (Verbot der Sprenggeſchoſſe
aus Handfeuerwaffen). Die grundfägliche Schonung des Privateigenthumes
im Landkrieg und der Nichtlombattanten wurde zu einem unanfechtbaren
Sag; auf Achtung des Privateigenthumes zur See wurde wenigitens hin-
gearbeitet. Die Humanifirung des Kriegsgebrauches erhielt eine Kodififation
in der — freilich nicht ratifizirten — brüffeler Deklaration von 1874 und,
auf deren Grundlage, durch die in frifchem Andenken ftehende Haager Kon—
vention von 1899. Die deutihe Regirung jah ſich damals in der erfreu-
lichen Lage, erflären zu fönnen, dak von deutfchen Truppen „nach den ges
troffenen Beitimmungen fehon bisher verfahren ſei“ In der That dürfen
wir geichichtlich für unfer Vaterland ein Hauptverdienft um den Fortjchritt
der Schonung im: Krieg beanfpruchen.
Mit unabwendbarer Nothwendigkeit haben aber diejer Tendenz andere
Momente entgegengewirtt. Das überjieht man vielfah. Erſtens die un-
gemein gefteigerte Machtentwidelung der Staaten überhaupt, die Kriege führen,
ihrer Volkszahl, ihrer Kultur. Das und namentlich das völlig geänderte
Transportwejen, Eifenbahnen und Dampfichiffe, führt zur Aufftellung von
unvergleichlich jtärferen Heeren und zu ungeheurem, im Felde häufig doch
nicht geordnet zu befriedigendem Bedarf für Menjchen und Thiere. Man
hat für einen Aufmarfh mit 1 Million Menfchen und 300000 Pferden
auf drei Wochen eine Erfordernig von 2 Millionen Centnern (ohne Heu und
Stroh) berechnet. Gefteigerter Wohlftand nnd Kultur, die weit feinere Ver:
äftelung aller wirthichaftlichen Verhältniſſe jind aber auch viel empfindlicher
gegen jede Abweichung vom friedlichen Zuftande. Ferner jind die technifchen
Zerftörungmittel in ungeahnter Weife vervolltommnet und fein Staat fann
es unterlaffen, von den wirkſamſten Gebrauch zu machen. Bejonders wichtig
ift, dak im Kreislauf der Gefchichte die Seriege wieder mehr den Charakter
von Bolkäfriegen angenommen haben.
310 Die Zukunft.
Das nationale Bewuftjein, die Gebundenheit an Macht, Gröfe und
Ehre des eigenen Staates haben eine Intenſität gewonnen, die den vorher:
gehenden Jahrhunderten unbefannt war. Die Gefchichte wird gefälfcht, wenn
jest vielfach dem Dynajten, dem Feldherrn, dem Bürger oder Soldaten des
achtzehmten und noch früherer Jahrhunderte preußischer oder gar deutfcher
Patriotismus, wie wir ihn verjtehen, in den Mund gelegt wird; man denfe
an den Großen Hurfürften, der ſich von Frankreich bezahlen lien. Heutzu—
tage empfindet der deutſche Fürft, empfindet jeder Deutjche als einen Schimpf
die finanzielle Abhängigkeit von einem fremden Staat, die Förderung von
defien Zweden gegen Entgelt. Jeder Einzelne empfindet den Friegerifchen
Erfolg gegen den eigenen Staat als eine ihn perfönlich mittreffende Beein-
trächtigung der nationalen Ehre und Wohlfahrt.. Jeder fühlt ich verpflichtet,
nad Kräften, wenn irgend möglich mit der Waffe, an der Abwehr theil-
zunehmen. Daß „jeder Staatsbürger“ Widerftand leiften ſolle, wie Scharn:
horft und Gneifenau wollten, daß „hinter dem Ofen“ nur „erbärmliche Wichte*
bleiben, wie Körner fang, war damals etwas Neues, ijt aber feit den Freiheit:
kriegen immer allgemeiner ins Bewußtſein gedrungen, gilt jet nicht nur von
Deutfchen, fondern mindeitens auch von Franzoſen, Italienern und würde doch
wohl auch von Briten gelten, jobald es ſich nicht um einen Kolonialfrieg,
fondern etwa um einen zwiſchen großen europäifhen Mächten handelte. Dies
Gefühl ift weſentlich mitverbreitet durch die allgemeine Wehrpflicht, aber
nicht unbedingt an deren bereitS erfolgte Einführung gebunden. Es führt
dazu, daß auch auferhalb der organifirten Truppen viel aktive und pajjive
Feindjäligkeit fich zeigt, namentlich im von der Invaſion betroffenen Lande,
daß neben jenen Truppen oder nach deren Erjchöpfung weniger organilirte,
von den Nichtfombattanten ſich nicht jcharf abhebende Gruppen Widerftand
leiften. Auch die Frauen markiren den Abjcheu gegen den Landesfeind. Es
wird vielfach zur Ehrenfache für jeden Einwohner, den Anordnungen, Re:
quifitionen, militärischen Maßregeln des Feindes möglichit Abbruch zu thun,
und foldyes Streben muß wieder geiteigerte Strenge und Härte hervorrufen.
Neben oder nad) dem großen Kriege entbrennt der Kleine, die Guerilla, die
nicht blos mit den ſonſtigen Mitteln der Taktik und Strategie arbeitet, fondern
die Tendenz hat, mit längerer Dauer auch an Graufamfeit zuzunehmen.
Trog Alledem würden wir, bei dem im Ganzen doch offenbaren ort:
ichritt, nicht jo viel von Sriegsgräueln hören, wenn ſich nicht die Feinfühlig-
feit gefteigert hätte. Das kann gar nicht oft genug betont werden, hier wie
auf anderen Gebieten, zum Beifpiel auf dem der riminalität. Die Menjchen
werden nicht Schlechter: fie halten ſich für Schlechter, weil fie weicher empfinden.
Des Krieges Wejen aber ift harte Gewaltthat.
„Im Kriege geichehen die ſchlimmſten Irrthümer aus Gutmüthigteit.
striegsraifon. 311
Wer gewaltthätiger iſt, iſt jtärfer.“ Noch einmal ſtehe hier das Wort von Clauſe—
witz, dem großen Theoretiler des Krieges; ſelbſt der Laie muß einſehen, daß er
Recht hat. Man mag ſtreiten, ob Kriege nothwendig, ob fie nüßlich find; aber
wenn Kriege find, müſſen fie jo geführt werden, daß möglichft Schnell möglichit viel
Schade an Leben, Leib, Sachen zugefügt wird. Daß die Seele des Feldherrn
weihmüthigen Regungen unzugänglid) fein muß, hat Colmar von der Golg tief:
tend dargejtellt. Der Feldherr, der am Nachmittag die entiprechenden Meldungen
erhält, muß ſich bis zum Abend entfchliefen können, morgen fünfzigtaufend
Menfchen feines Volfes hinzuopfern, wenn er davon einen entfcheidenden Sieg
erwarten darf. Welche ungeheure Entichliefung: eine halbe Million Frauen,
Kinder, Eltern, Geichwifter unmittelbar betroffen, ein furchtbarer Aderlaß in die
blühendite Volfskraft hinein, Millionen weggeworfen, die für Aufzucht diefer
Menjchen aufgemwendet find, Millionen verloren, die fie in den produftivften
Jahren einbringen follten! Der General, der eine befeitigte Stadt zu halten
oder anzugreifen hat, muß Tod, Wunden, Siechthum fogar über Taufende
von Frauen und unfchuldigen Kindern bringen, muß ihre Leiden mit anfehen,
ohne weich zu werden. In der Nothwendigfeit diefer Härte giebt es feinen
Unterfchied zwischen Deutfchen, Franzofen, Engländern, Ruſſen; die Taufende
von Müttern, die in Paris ihre Kinder in Folge der Entbehrungen dahinſchwin—
den ſahen, haben den Deutichen eben jo geflucht wie die Burenmütter den Briten.
Man mag den erften Napoleon haſſen, Moltke lieben: jene Feldherrn-Eigen=
Schaft beſaß der Deutiche jo gut wie der Korſe. Auch der Staatsmann, deſſen Poli:
litik durch das Schwert ja nur fortgejetst werden ſoll, muß ſolcher Härte fühig fein.
Bismard war es und mußte es fein; er ift in die drei Kriege nicht hineingeglitten;
er wußte vorher, daß er Blut und Eifen brauchen würde. Er hat die Verantwort—
lichfeit auch nicht abgelehnt; noch viel Später Laftete fie gelegentlich auf feinem
jtarfen Herzen, wenn er am varziner Kamin der Hunderttauiende gedachte,
die feinem Lebensmwerf geopfert werden muRten. Doc war jelbft Napolcon
Regungen nicht unzugänglich, die man fentimental fchelten möchte; der General
Marbot erzählt, wie der Kaiſer einen feindlichen Unteroffizier, der lich züh
und unerjchroden auf einer Eisicholle treibend hält, gerettet fchen will, wie
Marbot und ein anderer franzöfischer Offizier fich ausziehen und mit größter
eigener Gefahr den Braven aus dem Treibeis jchwimmend herausholen.
Aber der felbe Kaiſer beſann sich feinen Augenblid, als Tauſende flichender
Feinde auf der feiten Eisfläche jich befanden, dieſes Eis durch Artilleriefeuer
ſprengen zu laſſen und jene Schaaren vor feinen Augen mit grauſigem Tode
verzweifelt und hoffnunglos fümpfen zu ſehen. Und er handelte recht.
| Man ftreitet nicht darüber, dat gegen fämpfende Soldaten das Streben
nur auf möglichit ſchnelle und umfaffende Vernichtung gerichtet fein kaun.
Die Beichränfungen, die man hierbei aus Humanität für die Kampfmittel
312 Die Zukuuft.
ſtatuirt, find mehr oder weniger willfürlich und können auf immer gejicherte
Geltung jchwerlich beanjpruchen. Aus Handfeuerwaffen jollen Sprenggeſchoſſe
nicht gefeuert werden: Das ijt gerechtfertigt, wenn und fo lange ein Geſchoß
in der Regel nur einem Leibe gilt und dafür mehr als ausreichend ift. Sonſt
wäre nicht abzufehen, weshalb man aus einem großen Lauf mit einem Schuß ein
Dugend Menſchen zermalmen darf, aus einem Heinen nicht. Das haager
Verbot, aus Luftballons Sprengftoffe zu fchleudern, hat ſchon Schaeffle an:
gefochten; mit ihm darf man vermuthen, dat eine Armee oder Marine, die
ganz neue oder überlegene Mittel des Kämpfens aus der Luft befähe —
was ja heutzutage leicht eintreten mag —, diefen Vorſprung jchwerlich unbe-
nugt laffen dürfte. Die Haager Konvention verbietet Alles, was „überflüfiige
Schmerzen“ erzeugen kann. Ferner Gift und vergiftete Waffen.
Der feindliche Soldat, der die Waffen gejtredt hat, ſoll gefchont werden.
Das preußische Militär-Strafgejegbuh von 1845 fchügte feinen Leib noch
ausdrüdlich, das deutiche von 1872 hält eine befondere Vorſchrift nur noch
in Bezug auf die Sachen der Gefangenen für nöthig. Aber die Leute müſſen
auch mit Erfolg bewacht, jie müffen transportirt, ernährt und unter lm:
jtänden bekleidet werden. Da fönnen Konflikte zwiſchen anerfannten Huma—
nitätpflichten und dem eigenen militärifchen Intereſſe leicht entitehen. Bei
zu fürchtenden Schwierigkeiten ift man naturgemäß weniger geneigt, Öefangene
zu machen. Iſt die Menge der Nahrungmtittel jehr bejchränft, jo muß die
Erhaltung der eigenen Leute voranfiehen. Die Franzojen verabfolgten in den
Nevolutionfriegen einmal mehreren taufend gefangenen Defterreichern längere
Zeit täglich nur je ein Achtelpfund Fleifh und ein Achtelpfund Brot. Das
heißt beinahe, langjam verhungern laſſen, kann aber durch die Umſtände ent—
Ihuldigt werden. Auch nad Sedan fonnten die Lager der Gefangenen nicht
jofort genügend verforgt werden. In fünftigen Sriegen mag bei den unge:
heuren Zahlen Schlimmeres pafjiren. Die größten Fortfchritte gegen früher
find im der Behandlung Verwundeter gemacht. Man freut jich Deſſen, ohne
zu überfchen, welche merkwürdige Anomalie darin liegt: phyifche Kraft, tech:
nische Hilfsmittel, Intellekt, Geldbeutel aufs Aeuferjte anzufpannen, um
Tauſende zu jchädigen, und gleich darauf die gleichen Anftrengungen zu
machen, um fie zu pflegen und zu heilen.
Wer aber ift als feindlicher „Soldat“ zu behandeln? In Fällen wie
dem amerikanischen Sezeflionkriege, bei farlijtifchen Unruhen, Erhebung der
füher türfifchen Provinzen und Bafallenftaaten und anderen fragt ih, ob
die Nechte Kriegführender zuzubilligen find oder ob gegen Aufrührer, neben der
Niederwerfung im Kampf, auch jtrafrechtliche Mittel zur Anwendung fommen
jollen. England hat bei Beginn des jegigen Srieges gegenüber der Süd—
afrikanischen Republik, trog der aus früherem Bertrage beanjpruchten
Kriegsraiion. 313
Suzerainetät, dieje Frage nicht aufgeworfen. E3 kann aber weiter zweifel:
haft werden, wann der paflive Kriegsitand aufhört, namentlich, nachdem der
eine Staat zur Annerion gefchritten ift. Wenn wir 1870 die Welfenlegion
im Felde getroffen hätten, wäre ihr jicher nicht das Recht auf gleiche Be—
handlung wie franzöftfchen Soldaten eingeräumt worden. Wird der ganze
feindliche Staat vernichtet, ift gar feine orgamijirte Gewalt da, mit der Friede
geichlofjen werden könnte, jo ift befonders fraglich, warn der pafiive Kriegs—
ſtand aufhört. Man kann es vom völfer- und ftaatärechtlichen Stand:
punft ſchwerlich billigen, dat England den weiter fämpfenden Freiltaatern
und Transvaalern jest Verbannung und andere Nachtheile androht, nur weil
Bioemfontein und Pretoria feit längerer Zeit erobert find und die Annerion
proflamirt it. Denn der Krieg hat inzwiichen ununterbrochen fortgedauert,
weite Landftriche find noch nie von den Engländern bejegt geweſen, andere
wieder aufgegeben. Wenn aber das Kämpfen für Monate oder Jahre ganz
aufhörte, die englifche Negirungsgewalt fih im ganzen Lande wirfiam be:
thätigte und dann wieder Burentruppen im Felde erjchienen, wäre es eher
berechtigt, die Analogie einer Rebellion anzuwenden.
Nicht ohne Zufammenhang damit ift die Frage, wie die Kombattanten
befhaften fein müflen, um als Soldaten behandelt zu werden, alfo mit An—
ſpruch auf Schonung und Straflofigfeit außerhalb des Gefechtes. Da ift
es wohl berechtigt, wenn der Feind gewiſſe Anforderungen ftellt: Auftrag
berufener Gemwalten, Organifation, fenntliche Uniform, die ftändig getragen
wird. Er fann ich nicht der Gefahr ausjegen, dar Leute, die ſich als fried-
liche Bürger geben und behandeln laſſen, jeden günftigen Augenblick benugen,
um ihm feindlich zu wirken, durch Ueberfall, aus dem Hinterhalt, in Quar—
tieren, gegen jchwächere Truppg, gegen Transporte und Transportmittel, gegen
feine rüdmwärtigen Verbindungen. Ein Srieg mit wirklich allgemeiner,
militärisch nicht orgamifirter Volk3erhebung muß nothwendig graufam werden.
Dean kann ein Volk, das fo aufiteht, bewundern, man kann entſchloſſen fein,
dies unveräufßerliche Necht gegebenen Falles felbit auszuüben, — aber man
ſoll fih flar fein, dar eine ſolche Bevölferung, wie Felir Dahn richtig jagt,
dann auf Schonung verzichtet. Wo ſich Anſätze dazu zeigen, werden die
Gefangenen hingerichtet oder doch ſonſt ſchwer beitraft; ihr wie ihrer Ange:
hörigen und ihrer Gemeinden Eigentum wird zeritört oder eingezogen,
ein Vernichtungsfrieg entbrennt, das Feuer muß alısgetilgt werden. In
diefem Sinn, wenn auc recht gemäßigt und mild, haben auch die Deutichen
in dem Striegsabjchnitt nach Sedan gehandelt. Sie haben, wie Dahn jagt,
die Repreſſion faltblütig veglementirt ; und darin lag ein Fortfchritt gegen früher.
Merkwürdiger Weiſe beantragten auf der Konferenz im Haag — id
folge Schaeffles Bericht in feiner Zeitichrift — die Engländer eine dem
314 ! Die Zuhmft,
„Vollskriege“ günftigere Vorfchrift: die Bevölferung eines nicht bejegten
Gebietes, die beim Herannahen des Feinde8 aus eigenem Antrieb zu den
Waffen gegriffen hat, ohne Zeit zur militärifchen Organifation zu haben, als -
„Friegführend“ zu betrachten, ſofern fie die Gefege und Bräuche des Krie—
ges achtet. Nachdem fich der deytiche und der jchweizer Vertreter dagegen
ausgeiprochen, andere beigeitimmt hatten, wurde der Antrag zurüdgezogen.
War er jentimentaler Erinnerung an vermeintliche Grauſamkeiten der Deutfchen
entfprungen oder dem Bewußtſein, wie wichtig für das nfelreih im Fall
der Invaſion, bei feinem ſchwachen Heer, eine Volfserhebung werden könnte?
Jedenfalls hat e8 ſich gefügt, daft unmittelbar darauf England in Krieg mit
zwei Staaten verwidelt wurde, im denen ein eigentliche® Heer gar nicht
beitand, aber jeder Bürger, vom zarten Knaben bi8 zum reis, bereit und
fähig ift, zu fämpfen. Ballten zu Anfang die Bürger ſich zu organilirten
Truppen zuſammen, jo laufen jie doc jest häufig auseinander und ver-
einigen ich wieder, fämpfen auch in ganz feinen Gruppen, tragen feine
Uniform, find heute Bauern, morgen wieder Kombattanten. Es ift anzu—
erfennen, dat dadurd die Kriegführung außerordentlich erſchwert wird; es
ift zu vermuthen, daß auch andere Staaten aus diejem Grunde zu ftrengeren
Mafregeln außerhalb des Gefechtes jchreiten würden. Mean ftelle jich vor,
dak wir künftig einmal in Frankreich, nach Niederwerfung des eigentlichen
Heeres, Feindfäligfeiten gegenüberftänden, wie fie jet die Buren betreiben!
Auf der anderen Seite ift nicht zu vergeſſen, daß die beiden jugendlichen
Staaten, Dafen einer werdenden Kultur, mit ihrer ganzen Exiſtenz nur auf
jene Art der Landesvertheidigung balirt waren.
Wer von den Eimwohnern fich nicht feindlich bezeigt, wird auch nicht
als Feind behandelt. Ausgenommen find aber nicht nur Alle, die von den
Warten Gebraud; machen, jondern auch Alle, die den Feind unterftügen durch
Nachrichten, durch Verſchaffung oder Berbergen von Kriegsmitteln, VBorräthen,
durch Schädigung militärifher Einrichtungen u. ſ. w. Nah 8 91 des
Strafgefegbuches ijt gegen Ausländer wegen der Handlungen, die, von
Deutichen begangen, Landesverrath jind, „nad dem Kriegsgebrauch“ zu
verfahren. Der Landesverrath im Felde ift Sriegsverrath, deilen Begriff
aber auf die eben erwähnten feindlichen Handlungen erweitert; wer auf dem
Kriegsichauplag ſich folder Handlungen ſchuldig macht, wird mit dem Tode oder
mit Zuchthaus beftraft (Militäritrafgefegbuch $ 160) und nah $ 161 gelten
alle deutichen Strafgefese aud) gegen Ausländer in befestem Gebiet zum
Schuß deutfcher Truppen und Behörden.
Die Einwohner find auch vorbeugenden polizeilichen Maßregeln unter:
worfen. Es ift Mar, dan die Ordnung in Hriegszeiten, in befegtem Feindes-
land mit beionderer Strenge aufrecht erhalten werden muß. Die erforderlichen
Kriegsraiion. 315
Einjhränfungen der Bewegungfreiheit, des Handels und Gewerbes können
fehr weitgehend jein, ohne dag der Vorwurf unnöthiger Härte begründet
wäre. Sie werden um jo ftrenger fein, je mehr auf der Seite des offupirten
Staates der Krieg fih dem Volfsfrieg nähert. Auch Austreibung aus den
MWohnftätten und Internirung kann erforderlich werden. Noch heute fpricht
man hier mit Abjcheu davon, wie Ende 1813 Davout mehr al3 dreißig—
taufend Menſchen aus Hamburg vertrieb, wie ein großer Theil davon fchonunglos
der Kälte und dem Hunger ausgejegt wurde. Aber grundfäglich verzichten
auf ſolche Befugnik kann fein Staat. Zunächſt nicht für die Zwecke des
Sefechtes. Ferner bei auszuführenden oder auszuhaltenden Belagerungen.
Aus Rüdiichten der Uuartierbefhaffung, der Verpflegung, der Hygiene, die
im Kriege jchärfere Maßnahmen erfordern kann als im Frieden. Dan
ſtelle ſich vor, daß 1866 die ausgebrochene Cholera noch mehr ich verbreitet,
der Krieg mehrjährige Dauer angenommen und eine Truppenanhäufung in
Landftrihen Böhmens nöthig gemacht hätte: gewiß hätte man anftandlos
zu den militäriich räthlichen Berjchiebungen der Civilbevölferung gegriffen.
Das Selbe gilt, wenn man auf feine andere Weile die Einwohner hindern
fann, dem Feinde fortlaufende Nachricht über die eigenen Operationen zu geben
oder folche jonjt zu ftören. Namentlich aljo, wenn man mit verhältnißmäßig
ſchwachen Truppen ein weites Gebiet in Ordnung halten fol. Rekruten
aus dem befegten Gebiet auszuheben, ift gänzlich abgefommen, während
man früher ja häufig genug gefangene Eoldaten fogar in das eigene Heer
jtedte. Wohl aber darf man die Geftellung von Mannjchaften aus dem
offupirten Terrain für die feindliche Armee verbieten und Zuwiderhandlungen
jtrafen. Die Engländer in Südafrifa haben jetzt die eigenthümliche Modi:
fifation eingeführt, dat fie einen Neutralitäteid jchwören laſſen und deilen
Bruch ftrafen. Jeder Krieg, ſagte Dahn jchon 1871 richtig, bildet fein
befonderes Strafrecht aus, je nach den Berhältniffen.
Ueberhaupt wird man die Gefete des beſetzten Landes fo weit in Kraft,
defien Eivilbehörden fo weit in Funktion laſſen, wie e8 das eigene militäriſche
Interefie geitattet; sauf emp&chement absolu, fagt die haager Konvention.
In Frankreich wurden deutſche Präfekten eingejegt, dagegen die vorhandenen
Cofalbehörden, wenn e3 möglich war, belaflen; durch ihre ortsfundige Ver-
mittelung juchte man dem militärifhen Bedürfniß zu genügen.
An unbeweglichen Gütern des Feindesitaates wird nur die Nutznießung
beansprucht. Nach einer haager Beſtimmung follen dem Kultus, Unterricht,
der Wohlthätigfeit, der Kunſt oder Wiflenjchaft gewidmete Gebäude wie
Privateigenthum behandelt werden. Bewegliches Staatseigenthum kann be—
ſchlagnahmt werden. Ob und wie weit Provinzen, Gemeinden und andere
offentliche Verbände in dieſen Beziehungen dem Staat oder den Privaten
316 Die Zukunft.
gleichgeftellt werden, fcheint nicht vecht feitzuftehen. Man darf wohl zur
Analogie mit Privaten neigen. Aber Nequiüitionen, Beitreibung militärifcher
Bedürfniffe, au ohne Bezahlung, richten fi) naturgemäß vorzüglich gegen
Gemeinden, Kreife und ähnliche Verbände. Die Requifitionen einzufchränten,
ind die Staaten heutzutage bemüht. Schon zu Anfang des neunzehnten
Jahrhunderts follen die Engländer in Amerika, im Krimkriege die Weftmächte
gar nicht requirirt haben; auch die Maasarmee nicht feit Dftober 1870.
Ganz verzichten darauf kann fein Heer. Trog den beften Vorkehrungen für
Nachſchub von Bedarf jeder Art, trog umjichtigem freiwilligen Anfauf fannı
zwingender Mangel eintreten. Je wohlhabender und leiftungfähiger daS be—
jegte Land, defto weniger darf dann die Beitreibung unterbleiben. Im Inter—
eſſe beider Gegner empfichlt fich, dabei peinlich auf Ordnung zu halten; alio,
wenn möglich. Baarzahlung, mindeitens Quittung über Empfang der Sachen,
ftrenge Mannszucht bei der Ausführung und Regelung der Kompetenz für
die Anordnung. Diefe gebührt, fo weit Truppen im Berbande liegen, dem
Höchftlommandirenden oder bedarf doc) feiner Delegation an andere Stellen.
1870 foll bei ung die Vorschrift beftanden haben, daß die Befehlshaber kleinerer
detachirter Corps nur Xebensmittel, andere Gegenjtände — Bekleidung, Lazareth-
material, Geräthe, — nur Generäle ausfchreiben durften. Es ift Mar, dar
Ausnahmen zuläflig fein müſſen. Iſt dringender Mangel, Gelegenheit zur
Abhilfe, keine Zeit und Gelegenheit zum Inſtanzenzug oder nah den Um:
jtänden die Genehmigung zu erwarten, jo darf und muß jeder Regiments-,
Bataillon:, Compagnie: Kommandeur auf eigene Verantwortung requiriren.
Im Haag ift die Beitimmung durchgefegt worden, die Requilitionen müßten
„in angemeflenem Berhältnin zu den Mitteln des Landes“ bleiben. Ziemlich
nichtsfagend. Auch für Komtributionen ift eine Einengung ohne jonder:
lichen Erfolg verfucht worden. Die Zuftändigfeit wäre hier freilich möglichit
auf die höchiten Stellen zu befchränfen.
Das Privateigenthum ift im Prinzip umverleglih. Das ijt für den
Landfrieg anerfannt. Eine Ausnahme ergab fich bei den Nequifitionen; eine
fernere bejteht für die militärischen Bedürfnifje des Angriffe und der Ver—
theidigung. Dann für Privaten gehörige Sriegsmaterial, Telegraphen,
Telephone, Kabel, Eifenbahnen, Schiffe; doch joll Alles nah Schluß des
Krieges zurüderftattet werden. Diefe Ausnahmen genügen aber woch nicht;
man muß formmliren: Auch das Privateigenthum darf angegriffen werden,
jo weit e8 für die Zwecke des Krieges erforderlich ift.
Der humane Fortfchritt, den man erreicht hat, beiteht alfo darin, daß
man die Umverlegbarfeit zur Regel, das Gegentheil zur Ausnahme gemacht
hat. Daß man micht boshaft oder muthwillig jchädigen darf; auch nicht zu
dem Zweck, durch Schädigung der Einzelnen die Gelammtfraft zu ſchwächen
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Zr run —
Kriegsraiſon. 317
Daß weder der beſetzende Staat noch ſein Heer, im Ganzen oder in Theilen,
noch der Einzelne aus dem Privateigenthum Gewinn für die Zukunft, für
das ſpätere Leben ſuchen darf. Endlich, daß die Schädigung des Landes—
einwohners nicht ganz außer Verhältniß zu dem dadurch geſchaffenen Nutzen
ſtehen ſoll. Um unnütze Bedrückung zu vermeiden, wird man, auch im
Intereſſe der eigenen Disziplin, dafür forgen müfjen, da nicht Jeder fordern und
erzwingen darf. Aber die Grenzen find hier naturgemäß ſchwankend. Nicht
wegen jeder Einzelheit fan im Quartier der höhere Vorgeſetzte beläftigt
werden. Der Soldat ijt im Kriegsquartier, namentlich aud) auf dem Marſch,
berechtigt, fich ſelbſt zu Helfen. Und ihm fol möglichft Gutes, nicht nur das Aller—
nothwendigjte, gewährt und, fo weit e8 angeht, Abwechfelung verfchafft werden.
Buftav Freytag giebt einige Beifpiele: Es ift tadelnswerth, wenn ein
höherer Befehlshaber allen Champagner der Stadt für feinen Stabstifch cin-
fordern läßt. Es ijt berechtigt, für eine zu veranftaltende Feſtlichkeit auch
eine bejondere Ruruslieferung zu verlangen. Der Hauptmann fchidt ein paar
Leute ins Nahbardorf, um ein Fat Bier für die Compagnie zu holen: Das
ift berechtigt, aud) als Zwangskauf. Darf man aber zum Transport des
Faffes einem Meinen Bauern Wagen und Pferde nehmen, die er vermuthlich
nicht zurüderhält? Die Beifpiele laffen ſich leicht vermehren. Es wäre frevel:
haft, eine Kuh mitzunehmen, um Milch zum Kaffee zu haben; anders, um
dringendem Fleifhmangel abzuhelfen. In einem herrfchaftlichen Haus wird
man für die Mannfchaften nur die befcheideneren Räume beanfpruchen. Wo
Frauen und Kinder von Noth bedroht jind, wird man das eigene Bedürfniß
leichter hintanfegen. Im wohlhabenden, noch nicht ausgejfogenen Bezirk ver:
langt man mehr als im armfäligen u. ſ. w. Auch die Induſtrie des feind-
lihen Landes kann benugt werden, wie es in Tours gejchah.
Das deutſche Militärftrafgefegbuch ändert am Thatbeftande des Raubes,
Diebftahles, der Sachbeſchädigung auch bei Begehung in Feindesland nichts.
Es definirt den Begriff der „Beute“ nicht; daher gilt der Sat des Völker—
rechtes, wonach dem Beuterecht nur feindliches Staatsqut, Waffen, Bferde
und Ausrüftung der feindlichen Soldaten unterliegen und 8 Regal ift. Das
Strafgejeß bedroht die eigenmächtige Entfernung von der Truppe, um Beute
zu machen, das eigenmächtige Aneignen von Sachen, die an ich dem Beute:
recht unterworfen find, die rechtswidrige Zueignung rechtmäßig erbeuteter,
aber abzuliefernder Sachen. Es ftraft wegen Plünderung Jeden, der „im
Felde unter Benugung des Kriegsichredens oder unter Mifbraud feiner
militärifchen Leberlegenheit, in der Abficht recht3widriger Zueignung, Saden
der Landeseinwohner offen wegnimmt oder ihnen abnöthigt oder unbefugt
Kriegsihagungen oder Zwangslieferungen erhebt oder das Maß der von ihm
vorzunehmenden Requifitionen überfchreitet, wenn Das des eignen Vortheiles
318 Die Zukunft.
wegen geſchieht.“ „Als eine Plünderung iſt es nicht anzuſehen, wenn die
Aneignung nur auf Lebensmittel, Heilmittel, Bekleidungsgegenſtände, Feuerung—
mittel, Fourage oder Transportmittel ſich erſtreckt und nicht außer Verhältniß
zu dem vorhandenen Bedürfniß ſteht.“ Es bedroht ferner „boshafte oder
muthwillige Verheerung oder Verwüftung fremder Sachen“ und das Maro-
diren, „Bedrüdungen“ der Landeseinwohner durch Nachzügler. Ganz durch-
fihtig und vollftändig ift der Abfchnitt nicht. Auch für das Bürgerliche Gefeg-
buch ift die Regelung des Beuterechtes abgelehnt (Motive zu $ 903 Entw.).
Befonders zweifelhaft ift, was in verlaflenen Ortfchaften oder Häufern
genommen werden darf. Es ift wohl richtig, daß das Mobiliar der Gebäude
um Paris, um Mes nicht als „herrenlos“ im juriftifchen Sinn gelten konnte;
die Eigenthümer hatten nicht die „Abficht, auf das Eigenthum zu verzichten“
($ 959 B. G. B.). Sie hatten nur nothgedrungen ihre Sachen den Wechiel:
fällen des Krieges preisgegeben. Bei Dingen, deren Verluſt, Zeritörung,
Berderb nad) menschlichen Ermeſſen jicher ift, mag man Dereliktion annehmen.
Im Allgemeinen ift alfo theoretifch wenig Unterfchied von bewohnten Stätten.
Aber praftifch geftaltet fich das Verfahren doch ganz anders. Das immer—
hin weitgehende Recht der Befriedigung von Bedürfniffen des Krieges und
der Truppen wird hier ohne Ortskenntniß, ohne Unterftügung durch mit den
Dingen Bertraute, nach eigenem Ermefjen ausgeübt. Kauf gegen Bezahlung
ift ausgeſchloſſen, geordnete Nequifition eben fo. Auswahl und Schonung
erjcheinen vielfach zwecklos, da das Ganze doch verkommen wird. Der Soldat
vor Paris war daher in feinem Recht — iſt nicht nur „schonend zu beurtheilen“,
wie Freytag meint —, wenn er fein Quartier angemeſſen möblirte, die vor:
handenen Brennmaterialien verbrauchte, nach deren Erſchöpfung mit Zaun-
ftüden und fchlieflich mit Möbeln heizte, die Konfiturenbüchfen und die Wein- |
flafchen leerte, Strümpfe und Unterzeug anzog, die Deden mit auf Borpoiten |
nahm. Unehrlich blieb die Wegnahme einer Bufennadel, eines Bildes zu
eigenem Vortheil. Unehrlich, wenn auch entfchuldbarer, felbit dann, wenn das
Haus niedergebrannt werden ſollte. Bei Sachen, die dem Bedarf des Tages
dienen, zieht die Grenzen das Intereſſe der Disziplin und der etwa am jelben
Ort nachfolgenden Truppen. Das ift jehr wichtig und wurde 1870/71
nicht immer genügend beachtet; man fam manchmal in Dörfer, die durch
Bergeudung, Unordnung, Unfauberfeit früher Einquartirter mehr als nöthig |
verwahrlojt waren. Die größere oder geringere Zahl der Webergriffe giebt |
den Maßſtab für Bildung und Gelittung des Heeres.
Im Begriff und Wefen des Strieges liegen die Rüdfichten der Huma—
nität am Sich nicht. Holgendorf lehrt: „Ale Mittel, die erfahrunggemär
auf die Erreichung der Endzwede von erheblichem Einfluß find, erfcheinen
als gerechte Mittel des Krieges, fogenannte Kriegsraifon. Und umgekehrt:
— urn — — — en ————⸗ - ” Be
Kriegsraifon. 319
verwerflich find die Alte der Zerftörung, die unwejentlih oder erfahrung-
gemäß unwirkſam erfcheinen für die Beendigung des Krieges oder gegen
Perfonen gerichtet jind, deren Berlufte ohne Einfluß find auf die friedliche
Entjchliefung der Staaten.“ Das führt nicht viel weiter. Jede Stärkung
der eigenen Kraft bei Einzelnen oder dem Ganzen, jede Schwächung der
einzelnen Glieder oder größerer Verbände des feindlichen Staates ift erheblich
für Erreichung des Kriegszweckes. Ganz unzweifelhaft können Gewaltthaten
gegen Einwohner, Zerftörung des Privateigenthumes, Verheerung des Landes
jehr großen Einfluß auf defien Entſchluß zum Frieden üben. Man kann
mittelbar wie unmittelbar auf den Willen wirken; und ihn zu beugen, iſt ja
das militärische Ziel. Auch in der Schlacht ift befiegt, wer ſich beſiegt fühlt.
Gejteigertes Elend des Landes fann die Negirung ſehr wohl zum Nachgeben
bringen. Man ftelle fi vor, England habe zu Haufe fein brauchbares
Heer mehr, alfo dort feine Schlachten, aber Invaſion zu erwarten: wird nicht
diefe Eventwalität weniger auf den Entſchluß zum Frieden wirken, wenn
feititeht, daß die feindlichen Truppen ideale Mannszucht halten, in die Civil:
verwaltung faum eingreifen, das Privateigenthum jfrupulös jchonen werden?
Beltimmte Ausnahmen von der zerftörenden Tendenz des Krieges
haben fich im Laufe der Zeiten herausgebildet. Er bleibt trogdem „ein roh
gewaltfam Handwerk.“ Bismard hat mehr als einmal von Fällen geiprochen,
wo dag saigner A blanc des Erbfeindes nöthig wird; debellare, Vernichten,
auch mit Hilfe Jahre langen Drudes, kann durch die höchite Staatspflicht der
Selbftbehauptung erfordert werden. Der Feldherr kann jich gezwungen jehen,
eine „wüſte Zome* zu jchaffen, aus einem größeren oder kleineren Bezirk die
Menschen wegzuführen, die Häujer dem Erdboden gleich zu machen, Vieh,
BDorräthe, Ernte zu zeritören. Das iſt verwerflich, wenn es unnöthig, wenn
es nicht von erheblichem Nugen für den Kriegszweck ift; darüber enticheidet
das in all diefen Dingen jehr weite Ermeſſen der Führer. Es ijt aber
nicht deshalb verwerflidh, weil es unſäglich hart iſt. Der Krieg foll und
muß hart jein. Weihmüthige Führung würde die Kriege vervielfältigen
und verlängern. Iſt der Krieg gerecht, jo iſt auch die Härte gerecht.
Und in ihrer Weisheit hat die Vorjehung den Völkern die Gabe ver:
lieben, daß fie ftetS die eigene Sache für die gerechte halten. Der Ruſſe
glaubt an die Weltmifjion des Slaventhumes, der Engländer an das ge:
ſchichtliche Recht auf Erhaltung de8 Empire, bedingt durch Erhaltung der
Herrfchaft in Südafrika, die von deu Burenrepubliden bedroht fei. Der
Deutfche gedenkt mit Ehrfurcht des frevelhaft ihm aufgezwungenen Krieges
von 70/71, der Franzofe beweift urkundlich, dar Bismard die fpanifche
Kandidatur abiichtlich gerade zur Herbeiführung des Krieges angezettelt hat...
Altona. Dr. Julian Witting.
%
320 Die Zukunft.
Die Tadelloje.
© chon wenn ich jie anjehe, erjtarre ich, wird mir falt ums Herz; fie braucht
SS nicht einmal zu jprechen, nicht einen ihrer ſtets jo korrekten Säge in reinftem,
dialeftfreiem Deutich zu jagen. Auch ſolche Yebensäußerung ift tadellos, wie
Alles an ihr. Selbit an ihrer Kleidung kann man nicht den leijeften Fehler
entdeden, keine alte, feinen led und natürlich erit recht feinen Riß. Sie
trägt fi nie unmodern ; die Ktleiderjchnitte bleiben bet ihr in der richtigen Mitte.
Sie nimmt die Mode erit an, wenn Alle jie anerkennen. Zu den Pionieren
gehört die Tadelloje nicht, darum ift fie ihr Leben lang korrekt gewejen und
geblieben. Sie hatte nicht Phantafie genug, um einen Schritt vom Wege zu
machen, auch nicht, um bei Anderen einen jolhen Schritt zu verftehen und zu
verzeihen. Fräulein Noje Winter hat im Anfang ihrer Yaufbahn ein alltägliches
Yeben geführt; jpäter freilich trat ein Ereigniß ein, das dem fernen Betrachter
jogar romantiſch erjcheinen könnte. Sie beſuchte glei nad) der Schule ein
Seminar und wurde Lehrerin an einer höheren QTöchterjchule. Als ihre Eltern
ftarben — ihr Vater war auch Pädagoge geweſen —, erbte fie ein nicht unbe:
deutendes Vermögen. Jede Andere hätte nun das Yeben genofjen, wäre auf
Reifen gegangen oder hätte Uehnliches gethan. Fräulein Winter aber meinte,
der Menſch jei nicht zum Amufiren auf der Welt, der Menſch müſſe ſich einen
Wirkungskreis erwählen. Sie hatte ja in Allem das Recht auf ihrer Seite;
aber man begann, das Rechte zu hafjen, wenn fie es in ihrer unerträglich pedantijcen,
lehrhaften Weiſe ausſprach. ES war jtets, als habe fie das Rechte erfunden,
als jei es eigens für fie da.
Fräulein Winter begründete eine höhere QTöchterfchule mit Penfionat.
Hier hatte fie Gelegenheit, ja, die Pflicht, lehrhaft zu fein. Und fie ließ ihrer
Begabung freieften Lauf. Nun hätte fie eigentlich zufrieden jein und andere
harmloje Leute nicht als Belchrung-Objeft benugen jollen; aber die take läßt
eben das Maujen nicht.
Roſe verlebte die Schulferien bei ihren verheiratheten Nichten, die Reihe
herum, und da genofjen die jungen Gheleute in erjter Linie die Früchte ihres
Beſſerwiſſens. In zweiter Linie wurden die Bekannten und Freunde der Nichten
belehrt, jo daß ein ſolcher Bejuc immer tiefe Berſtimmungen hinterließ. War
die Tante abgereift, dann athmete die Familie auf und begann, die Wunden
zu verbinden, die Nöschens Dornen gerigt hatten.
Eine von Rojes liebjten Behauptungen war: „sch jage immer die Wahr:
heit.” Welche Grobheiten fie unter diejer Firma austheilte, ift nicht zu bejchreiben;
und fie war obendrein noch jehr ſtolz darauf.
Warum [ud man denn aber Tante Roje ein, wenn fie jo gefürdtet war?
Sie hatte eine Stellung in der Welt, ihre Vortrefflichkeit war von Allen an-
erfannt; wer fi mit ihr überwarf, hätte fid in der guten Gefellfchaft verdächtig
gemacht. Und dann: fie war die Erbtante, das Familienprunfftüd; es ging
einfach nicht anders. Einmal im „jahre, öfter fam die Reihe nicht herum,
mußte es ausgebalten werden, unter die Röntgen-Strablen von Tante Roies
Kritik zu kommen.
— — — — —
harter 28 . SS Due SE .—.
mn a
Die Tadellofe. 321
Daß Fräulein Winter Roſe hieß, war eine der Schelmereien des Schickſals
oder, wenn man will, eine der Taktloſigkeiten unvorſichtiger Eltern. Kinder ſollten
eigentlich erſt einen Namen bekommen, wenn man weiß, wie ſie ſich entwickeln.
So lange könnten fie ja Bubi oder Mädi genannt werden, wie es ſchon vielfach
n Familien Sitte ift.
Fräulein Winter verbejjert die Taftlofigkeit ihrer unvorfichtigen Eltern
und nennt jih Roſalie. Das madıt einen vornehmen Eindrud, meint jie.
Ihre Zöglinge in der Schule bezeichnen fie aber, ganz rejpeftlos, als Mutter
Salli. Da Das jüdiſch klingt — Fräulein Winter war neben anderen Anti
auch Antijemitin —, wirkte es auf fie wie die Muleta, das rote Tuch, auf
den Stier. Als Mutter Salli zum erjten Mal ihren Spitnamen hörte, über-
fam fie eine ihrer gänzlid unmürdige Wuth. Sobald die Leidenſchaft verraudt
war, rieth ihr die Klugheit, die Sache nicht weiter zu beachten. Sie folgte dem
guten Rath; zu ihrem Beil: fie hätte fich ſonſt unfehlbar lächerlich gemacht.
Jüngſt fragte mich ein najeweijer berliner Bachfiſch, für den Verloben
und Heirathen das A und O find: „Dat fih Mutter Salli eigentlich nie ver—
liebt? Sie wäre doch eine gute Partie geweien! Sie bejigt ja das jchöne Haus
und hat ihr reichliches Ausftommen.“
Man fieht, jelbjt Eleine Mädchen jind heutzutage mweltklug.
Verliebt! Der Gedanke war mir jo komiſch, daß id) lächelte; dann jagte
ich: „Noch iſt wohl nicht der Rechte gefommen. Sie heirathet vielleicht noch.“
„Roh! In dem Alter? Unmöglich!“
Fräulein Winter ift vierzig Jahre alt, aljo für eine Sculvorjteherin
in den beiten Jahren; aber dem jungen Ding erjchien jie mit diejem Lebens:
alter natürlich wie eine Urgroßmutter.
Dennoch — jelbjt in Berlin gefchehen noch Wunder — verliebte fid)
Noje Winter. „Nicht ein Klein Wenig, fat gar nicht‘, wies im Leierreim Heißt,
jondern Hals über Kopf, „konnts gar nicht lafjen‘. Und zwar in ihren jüngjten
Lehrer, Anton Matton. Wie viel er jünger ijt als fie, wollen wir nicht unter-
ſuchen . . Und er?
Herr Matton iſt praktiſch, wie jetzt alle jungen Leute; außerdem ſchmeichelt
es ihm, daß die Geſtrenge ſich zu ihm herabläßt. Ungefähr wie zwiſchen Danae
und Zeus, ſo geſtaltete ſich das Verhältniß der Beiden; nur iſt der Zeus hier
ein Fräulein und die Danae trägt einen großen, blonden Bart. Aber die Hin—
gebung ftimmt. Anton Datton war nur Seminarijt, fein akademiſch gebildeter
Lehrer. Das erjchwerte den Fall und erhöhte die Ehre für den Begnadeten,
So ging es natürlich nicht. Er mußte erſt würdig gemadt werden, die
Hehre zu umfangen. Herr Matton bejuchte die Univerfität und jteht jett vor
feinem Oberlehrereramen.
Nur brieflich darf er mit der Tadellojen verkehren. Wenn er das Eramen
beitanden hat, dann heirathen fie.
Biele Leute in Berlin meinen, e$ würde nod; Etwas dazwiſchen fommen ;
dafür und dagegen wird gewettet. Wer gewinnen wird?... Vielleicht nicht
der Bräutigam, der die Tabellofe heimführt.
G. von Beaulieu.
*
—— 24
322 Die Zukunft
Moderner Ratholizismus.
5) as Bud) des wiener Theologen Ehrhard, der jet nach dem badijchen Frei—
— burg gebt, „Der Katholizismus und das zwanzigite Jahrhundert im Lichte
der kirchlichen Entwidelung der Neuzeit“, hat eine univerſale Bedeutung und
eine befondere für Oefterreih. Als Symptom des in allen katholiſchen Ländern
erwachten — durch heftige Angriffe zum Aufwachen gezwungenen — Neform-
geijtes it es hier jchon erwähnt worden. Chrhard zeigt in einer Betradhtung
der Kirchengeſchichte, daß Alles, was mit Nedt an der katholiſchen Kirche ge:
tadelt werden kann und muß, vergängliches Erzeugniß nationaler Unvolllommen-
heiten, geſchichtlicher Prozeſſe und eigenthümlicher Zeitverhältniſſe ift, daß zwiſchen
ihrem Weſen, namentlich zwiſchen ihren Dogmen und dem modernen Geiſt, ſo
weit er ein guter Geiſt iſt, kein unverſöhnlicher, ja, überhaupt kein Widerſpruch
obwaltet, und er zeigt den Furchtſamen, den Engherzigen, den Denkfaulen unter
ſeinen Glaubensgenoſſen, daß der von Fanatikern geſchmähte moderne Geiſt,
abgeſehen von Verirrungen und Auswüchſen, von denen ſich kein großer Kultur—
fortſchritt ganz frei halten kann, ein guter Geiſt iſt und ein ſolcher ſchon aus
dem Grunde ſein muß, weil Gott die Weltregirung niemals an den Teufel ab—
treten kann und Das ſicherlich auch in den letzten vier Jahrhunderten nicht gethan
hat. Ehrhard beweiſt alſo, was ich in der „Zukunft“ behauptet habe, daß man
ein gläubiger Katholik und dabei ein moderner Menſch, ein Vertreter der heutigen
Wiſſenſchaft, ein vollwerthiger Univerſitätprofeſſor ſein kann. Und da ſelbſt die
feinſte Jeſuitennaſe in ſeinem Buche keine Ketzerei aufſpüren kann, ſo werden
die proteſtantiſchen Gelehrten wohl ihre Anſicht aufgeben müſſen, Katholizismus
und Wiſſenſchaft vertrügen ſich nicht mit einander. Den Glauben Ehrhards, daß
jedes Kirchendogma mit jeder wiſſenſchaftlich erwieſenen Thatſache vereinbar ſei,
theile ich allerdings nicht, noch weniger ſeinen Glauben, daß die katholiſche Kirche
geradezu die Bedingungen alles echten geiſtigen Fortſchrittes enthalte, ſo daß
die Menſchheit ohne den Proteſtantismus weiter gekommen ſein würde, als ſie
gekommen iſt. Ich rechne die Hierarchie und den ſtolzen Dom der Dogmatik
zum hiſtoriſch gewordenen, veränderlichen und vergänglichen Leibe des katholiſchen
Geiſtes, der aufopfernde Liebe zum Nächiten, Freude in Gott und Hoffnung auf
den Dimmel ift und deſſen Offenbarungen der ſymboliſche Kultus, die hriftliche
Kunft und die barmberzige Schweſter find. Einen Leib kann auch der fatho-
liſche Geiſt jelbjtverftändlid, nicht entbehren, aber er muß ji dem Milieu an-
pajjen und mit ihm umbilden, was er bis jegt ja aud immer noch vermodht
bat; Ehrhard zeigt jehr gut, daß die heutige Fatholijche Kirche der Urfirche viel
ähnlicher ficht als die mittelalterliche. Daß auch die Hierarchie und die Dog—
matik zu den veränderlichen, ja, an fich entbehrlidhen Bejtandtheilen des Kirchen»
leibes gehören, kann und darf Ehrhard freilicd nicht zugeben; aber nad) meiner
Ueberzeugung ift es jo. Wenn ſich der Bapjt in den Verluft des Kirchenftaates
gefunden haben und ein nicht jouverainer Kirchenbeamter fein wird wie feine
Brüder, die ehemals jouverainen Kirchenfürſten des Deutichen Neiches, jo wird
er etwas von den Piuſſen des neunzehnten Jahrhunderts Grundverjchiedenes fein.
Und wenn er, nad abermals einem Jahrhundert, jtatt al$ Chef eines unge—
heuren bureaufratiichen Apparates Diplomaten in Audienz zu empfangen und
Moderner Katholizismus. 323
bei — auf den Schultern von prächtig aufgeputzten Lakaien einherzu—
ſchweben, zu Fuß unter den Aermſten ſeiner armen Landleute umherwandeln,
in ihren Hütten Troſt ſpenden, ihre Unterdrücker ſchelten, eine verſtändige innere
Koloniſation organiſiren, die Carnſi aus ihrer Hölle erlöſen, ihre Wunden küſſen
und fie in blühende ‚sruchtgärten führen wird, bei deren Bebauung jie ihres
Lebens froh werden, — dann, erft dann werden jih auch die Ungläubigiten zu
dem Glauben befehren, daß der römijche Bapjt das Werk Jeſu von Nazareth
fortjeßt; oder vielmehr, e8 wird dabei von Glauben Feine Mede mehr jein, weil
es ja Niemand bejtreiten Fan. Auch die Dogmen gehören zum Beränderlichen
am Sirchenleibe; fie find Erzeugnijje des griehijchen Denkgeijtes, fie find in der
Beit, wo die römische Kirche im Abendlande ihr großes weltgeichichtliches Kultur—
werf vollbradhte, ganz in den Pintergrund getreten und dann dreimal, in der
Scolajtif, in der Reformation und in der neueren Philojophie, Gegenftand
heftigen Streites geworden, ohne auf das Leben der Ehrijten einen bemerfbaren
Einfluß zu üben. Sie können und jollen nicht für Irrthümer erklärt werben,
aber man wird einmal aufhören müſſen, fie mit orthodoren Augen anzujehen.
Das chriſtologiſche und das Trinitätdogma gehören dem Gebiete der Metaphyſik
an, in dem ed weder zwingende Beweije noch Widerlegungen giebt. Vielleicht
verhält fi Alles jo, wie die Kirche lehrt; aber diefe handelt nicht Elug, wenn
fie Männer, die ganz katholiich fühlen, von ſich ausjchließt, weil fie über Dinge,
die Niemand willen kann und Niemand zu willen braucht, anders jpefuliren,
als die Theologen der alten Konzilien jpekulirt haben. Der Dogmentompler,
der aus der Geſchichte vom Sündenfall und der Spekulation Pauli über den
zweiten Adam und feinen Sühnetod herausgejponnen worden ift, verwebt ſchöne
Symbole hiſtoriſcher Thatſachen und unergründlicher Geheimniſſe zu einem cr»
habenen Syſtem; wörtlich verjtanden, widerſprechen ab x jeine einzelne Süße
geſchichtlichen, piychologifchen und phyſiologiſchen Thatjachen. Es waltet aljo
ein Widerjpruc ob, nicht zwiichen dem Katholizismus als Ganzem, aber zwijchen
dem othodoren Sinn einiger jeiner Dogmen und der modernen Wiſſenſchaft.
Das darf heute noch fein katholiſcher Theologe zugejtehen; aber diejes Zuges
ſtändniß iſt auch zu einem gedeihliden Zuſammenwirken von Gelehrten beider
Konfejjionen gar nicht nothwendig. Denn nicht ein Zehntel, vielleicht nicht ein
Humbdertitel unjeres geſammten Wilfensgebietes wird von dieſen Dogmen berührt.
Eben jo wenig dürfen die Ehrharde jett ſchon einjehen, daß fie irren, wenn fie
glauben, die katholiſche Kirche jei niemals ein Dinderniß der freien Forſchung
und der Proteftantismus daher nicht nothwendig geweſen. Wenn die Fatholijche
Kirche der Vergangenheit ohne ihre Hierarchie gedacht werden könnte, dann dürfte
man die Behauptung zugeben. Das ijt aber eben nicht möglich. Die Hierarchie
war, wie es zu gehen pflegt, aus einem vortrefflichen Mittel Selbjtzwed ge:
worden, hatte fich jelbit dogmatifirt und ſuchte nun im eigenen Intereſſe den
Fortichritt des Denkens und der ökonomiſchen Entwidelung zu hemmen. Die
Abſprengung ganzer Völfer vom alten Stirchenleibe wurde jo aus vielen Gründen
nothwendig; zum Beijpiel darum, weil die Zukunft der Menjchheit ein Fräftiges,
nicht am Gewiſſenswurm krankendes weltliches Leben, ungetheilte Hingabe an die
weltlichen Intereſſen forderte.
Daß es ohne Luthers Reformation auch zu Feiner inneren Reform des
24°
324 Die Zukunfi
fatholiich gebliebenen Theils der Chriftenheit gefommen wäre, ſieht Ehrhard.
Und damit ftehen wir bei der ſpezifiſch öfterreihiichen Bedeutung jeines Buches;
denn dieſes wäre ficherlich nicht geichrieben worden, wenn nicht die antiklerifale
Strömung, von der die Pos-von-Rom: Bewegung nur ein Seitenbad) ift, wenigitens-
den moraliihen Beitand des öjterreidhiichen Katholizismus bedrohte. Die Kirche |
ijt nidyt von den Lebensgejegen der Gejellichaftorganismen ausgejchloffen, auch
nicht von dem, daß fie ohne Angriffe von außen und ohne Oppofition in Innern
verfaulen. Ein erleuchteter öfterreichifcher Katholik kann ſich gar nichts Beſſeres
wünjchen als eine Abfallbewegung und er wird an der von den Alldeutichen
eingeleiteten nichts auszujegen finden, als dal jie jo jpät kommt und viel zu
ſchwächlich iſt. Eine jo verfommene Gejellihaft wie die öfterreihiichen Katho—
liten muß mit Skorpionen gepeitſcht werden, wenn fie fich zur Selbjterneuerung
aufraffen ſoll. In jüngeren Jahren habe ich manche Gelegenheit gehabt, fie kennen
zu lernen: die jämmerlide Drejjur der angehenden Stlerifer in den WPriejter-
jeminarien, die Roheit und Unbildung der Pfarrgeiftlichkeit, die Lüderlichkeit
und das raffinirte Genußleben der reich dotirten Stiftsherren, die tiefe Ver—
achtung, mit der alle Gebildeten die Geiſtlichen und Diefe jelbjt ihre eigene Kirche
behandeln (Viele prahlen auf Reifen und in Badeorten mit der Nichtachtung,
des Abjtinenzgebotes und mit ihren galanten Abenteuern), und die Hohlheit jener
Gebildeten, deren ganze Bildung und Aufklärung darin bejteht, daß fie den
ſonntäglichen Kirchenbejuch durch den Frühſchoppen erjegt haben, auf die Pfaffen
ſchimpfen und die von wigigen Köpfen ausgehedten Religionjpöttereien nachſprechen,
jo weit dieje nicht über ihren Horizont gehen, An den legten fünf Jahrzehnten
mag ja Manches gebefjert worden jein — namentlich der Kardinal Schwarzen-
berg hat fic) viel mit Neformverjuchen abgemüht —, aber von einer gründlichen
Reform, die eine Wiedergeburt und Umwandlung des ganzen öſterreichiſchen
Volkes vorausjeßen würde, kann wohl nicht die Rede fein. Um die Urſachen
diejes Zujtandes klar zu maden, müßte man jechs Jahrhunderte Öfterreichiicher
Geſchichte jchreiben. Ein Gemiſch von Slaven und halbſchlächtigen Deutjchen,
aller Nationalitäten Daupttugend die Gemüthlichkeit, leichtlebige Genußſucht ohne
Tiefe, ohne Gharakterjtärke, ohne Schneidigfeit, der Joſephinismus, der den
Klerus zur Schwarzen Garde des Bolizeijtaates herabwürdigt, dieſer Bolizeijtaat
jelbjt, der dem Klerus jein Einkommen, jeine äußere Mutorität und GStraflojig-
feit beit Vergehungen jichert, unter der Bedingung, daß er fi) als politiſches
Werkzeug mißbrauchen läßt, das Syſtem Metternich, das die Tüderlichfeit hätſchelt
und das Denken verbietet, Schlamperei als allgemeines Lebensgejeg, ein fürſtlich
dotirter, in die Intereſſen eines privilegirten hohlföpfigen und frivolen Hoch—
adels verflochtener und von deſſen Yebensauftaflung angejtedter Epistopat,
Frömmigkeit, wo fie vorfommt, nur in der Öejtalt, die ihr bigotte, abergläubige
und fanatiihe Mönche zu geben vermögen (man erinnere ſich des Pelikan, der
Miß Vaughan und des Teufels Bitrn): Das find jo ungefähr die Elemente des
Ipezifiichen Oeſterreicherthumes und des öfterreichtichen Katholizismus. Die er
wähnt num zwar Ehrhard gar nicht, ja, er deutet jie nicht einmal an; er lehnt
ausdrücklich ab, auf praftiiche Mebelitände einzugehen; deren Beſprechung gehöre
nicht im die Preſſe, Sondern in die firchlichen Rathſtuben. Aber es iſt Elar, daß,
wenn ſich die öjterreichiichen Geiftlichen, wie es Ehrhard fordert, gegen ihre
a u ——
Trinkgelder. 325
Feinde mit geiſtigen Waffen wehren ſollen, ſie ſtudiren und zunuchſt ihre Faul—
heit ablegen müſſen; und darum ſind die hochwürdigen Herren wüthend, denn
ſie wollen a Ruh hobn; die Ketzer ſoll ihnen die Polizei vom Leibe halten. Sie
werden ſich auch ſchwerlich bei der von Ehrhard in einer neuen Schrift abgegebenen
Erklärung beruhigen, er wolle nicht zu den „liberalen Katholiken“ gezählt werden.
Ein ganzes Volk könnten freilich auch zwanzig geſcheite und vernünftige Profeſſoren
nicht umwandeln; aber ſolche Männer können wenigſtens, von der Noth der Zeit
anterftüßt, einen Ummandlungprozeß einleiten. Wären die übrigen Kirchenfürjten
weniger beſchränkt al der Kardinal Gruſcha, dann würden fie fich aus dem Deutjchen
Reich noch einige Ehrharde verichreiben. Sie fünnen jolde Männer bejonders
in Preußen finden, wo der allgemeine Bildungzwang, das freie Studium an
der Univerjität, die Nothwendigfeit, fi in gemijchten Gegenden ihrer Haut zu
wehren, und zulett der Kulturkampf den Katholifen und ihren Geiftlichen den
Beritand geihärft, den Charakter gejtählt und die geiftigen Waffen geliefert
haben. Siegen dagegen Dummheit und Faulheit, Bigotterie und Fanatismus,
jo werden zwar die Evangelifchen die gehoffte Ernte nicht einheimjen — denn
wenn das lautere Evangelium, wie jie es verfündigen, zugfräftig wäre, fo müßte
man doch zuallererit in Berlin Etwas davon jpüren —, aber die Abfallbewegung
wird wachſen, weil ſich gewifje Forderungen des modernen Lebens, denen der
Klerifalismus Widerjtand leiftet, jelbit im gemüthlichen Defterreih mit unwider-
ftehlicher Gewalt durchſetzen. Die Gebildeten werden jich dann vom Gtaate
das Recht ertrogen, als Eonfejlionlos leben zu dürfen, und die Maffen werden
der Sozialdemokratie zufallen,
Neiſſe. Karl Jentſch.
85
Trinkgelder.
Sein gute alte Börjenfitte it im den letzten Wochen zu neuem Leben er-.
wacht. Früher pflegte man nämlich. bei größeren Emifjionen die Bei-
Hilfe der Börje dadurch zu erfaufen, daß die Emijjionficmen den Maklern und
Bankiers Betheiligungen gewährten. Jedes Bankhaus, das fich meldete, wurde
im Konjortium betheiligt und den Maklern gab man umfangreiche Optionen,
die ihnen ermöglichten, oft jehr beträchtliche Summen darauf bin und her zu
handeln. Diejer alte Brauch galt ſchon lange nicht mehr; nicht etwa, weil der
Emijjionäre Herz ichlechter geworden war, jondern, weil ſich mit den Verhält—
niffen auch die Borausjegungen geändert hatten, auf denen dieſe Börjen:
betheiligungen beruhten. Früher mußten ſelbſt große Banken, die Aktien oder
Renten an die Börfe bringen wollten, mit den Stimmungen der Börjenleute
rechnen. Denn auch hinter dem Eleiniten Bankier jtand die Macht eines Kunden:
freijes; und außerdem war die Couliſſe ftark genug, um nad) ihrem Willen auf
Wochen hinaus das Börjenwetter zu bejtimmen. Jetzt hat das Börjengejeß den
kleinen und mittleren Bankier aus feiner einftigen Machtjtellung verdrängt. Die
Kapitalshäufungmwurde im Bankgewerbe über das durd) die natürliche Entwidelung
gebotene Maß hinaus beichleunigt, wie Magnetberge zogen die Großbanken die
326 Die Zukunft. *
Kundſchaft an ſich und manches Lebensſchiff ſank in die Tiefe, nachdem ihm bie
Nägel, die feine Planfen an einander fchlofjen, entzogen waren. Der Couliſſe
ging es nicht bejjer: auch hier wirkte das Börfengefeß; es gab den Großbanken
die don Jahr zu Jahr bequemere Möglichkeit, Kauf und Verkaufgeſchäfte in
jich felbjt auszugleichen, jo daß man fie nicht erft im Börfenjaal abzuſchließen
brauchte. Stärfer noch als das Börfengejeß wirkte auf die Eouliffe der Effekten— |
itempel. Gr vertheuerte die Umſätze, trich einen Theil der Spefulationmafler
überhaupt aus Deutjchland und machte der wachſenden Schaar der Heinen Makler
das Leben jchwer. Angeſichts jolcher Zuftände brauchen die großen Emiſſion—
firmen, die den Kursſtand fajt autofratiich beftimmen und jelten einen eben-
bürtigen Gegner finden, auf die Gunft oder Ungunjt der Börje fein Gewicht
mehr zu legen. Trotzdem bätte man aus alter Gewohnheit die Betheiligungen
wohl noch weiter gewährt, wenn nicht ohnehin jchon die Emiſſionſpeſen beträchtlich
geftiegen wären. Vom Gffeftenftempel ſehe ich ab. Aber all die vielen Boni-
fifationen, die jonjt noch allen möglichen Yeuten zu gewähren find, von dem
entgleiften Nurijten, der dem Proſpekt die richtige Yorm geben muß, bis zum
Inſerat in dem Heinen Börjenblatt, das je nach Bedarf des Herausgebers er:
ſcheint, machen jchließlich eine Summe aus, mit der man rechnen muß. Die
Yeiter der großen Banken fanden es deshalb vernünftiger, die Betheiligungen,
die früher die Börje wegichnappte, lieber der eigenen Kundſchaft zufommen zu
laſſen, den Provinzbantiers, die jelbjt heute, bei der jtarfen Konkurrenz der Hoch—
finanz, nod) eine gewijje Macht haben. Nur eine Sitte — oder Unſitte — blieb be-
ſtehen: bei jeder neuen Emiljion wird nach wie vor den beiden Sursmallern,
die das Papier offiziell handeln, ein bejtimmter Betrag zugewieſen, angeblich,
um ihnen Material zur Regelung der Kurſe zu verichaffen.
Bei der Emiſſion der legten ruſſiſchen Anleihe hat plöglid nun die
Firma Mendelsjohn & Go. den alten Braud wieder aufgenommen. Sie ge
währte zunächſt den großen Malern recht anjchnliche Betheiligungen und zeigte
ſich auch den Bitten der Kleinen, die betheiligt werden wollten, wohlgeneigt.
Der Zweck diejer Taktif war leicht zu erkennen. Die neue Ruſſenanleihe jollte
zum Terminhandel zugelaffen werden. Wichtiger als bei Eleinen Kajja-Emij-
ſionen jchien es hier, die Börje in quter Stimmung zu erhalten, weil ein Ultimo-
markt nie jo vom Emifjionhauje zu fontroliren ijt wie das wenig umfangreiche
Geſchäft in Kaffapapieren, bei dem man die Fixer täglich aufſchwänzen Tann.
Das Werfahren der Firma Mendelsjohn hatte Erfolg. Ohne auch nur den ge
ringjten Eindrud auf die Kurſe zu maden, famen und gingen die Tage, da
auf dem Newskij-Proſpekt das rothe Banner der Revolution entrollt wurde und
der Schuß des militärifch vermummten Studenten den Minifter Sfipjagin ins
Reich der Schatten beförderte. An der Börſe gilt mehr noch als anderswo das
Wort, daß eine Band die andere wäſcht. Die Makler gaben fid) redliche Mühe,
in den kritiſchen Tagen fid für die ihnen enwiejene Aufmerkjamkeit dankbar zu
zeigen. Und da man die Bonififationen eben für eine Aufmerkſamkeit, für das
Zeichen einer bei den Mendelsjohns üblihen Bornehmheit in Geldjachen hielt,
hatte die Firma oberdrein noch einen moraliſchen Grfolg.
Diejer Lorber ließ die Herren der Deutſchen Banf nicht ſchlafen. So
beliebt dieje Bank, namentlich wegen ihrer Eugen Beichäftsführung, beim Bublitum
7
u nn ee — = nz
Trinfgelder. 327
it: die Börjenleute find ihr nicht grün, weil fie in ihr das Ungethüm jehen,
das in jeiner unerjättlichen Habgier das Geſchäft unzähliger Bantiers gefreijen
hat. Die Direktion der Deutſchen Bank jcheint diefe Feindſchaft nicht recht ver:
ichmerzen zu können; fie jucht unermüdlich nad) Gelegenheiten, ſich an der Börſe
populär zu machen, wird dabei aber von Mißgeſchick verfolgt. alt immer wird
fie da gerade getadelt, wo jie Yob verdient zu haben hoffte. Die Folge mangel-
hafter Negiefunft zeigte jich neulich nun wieder bei der Emiſſion der wiener Stadt-
anleihe, die angeblich einen NRiejenerfolg gehabt hat. Der Bürgermeijter Dr.
Karl Lueger hat im Gemeinderath erklärt, fie ſei vierumdjiebenzigmal überzeichnet
worden. . Seine liberalen Gegner antworteten natürlich, diefe Ueberzeichnung jei
nicht ernt zu nehmen. Ich nehme auch diefe Antwort nicht allzu ernjt, weil
der Parteifanatismus leicht dur gefärbte Gläjer jicht, muß aber jagen: Bei
uns im Reich bat die Lleberzeichnung wenig zu bedeuten. Wie es jet üblich
ift, haben viele Zeichner Beträge gefordert, deren zehnten Theil fie kaum be—
zahlen könnten, jelbjt wenn der ftrengjte preußiiche Gerichtsvollzieher ihre Kaſſen
durchjuchte. Mit der Thatſache der Leberzeichnung aber hatte die Deutjche Bank
zu rechnen. Das ijt nicht immer leicht; denn bei den nothiwendigen Heduftionen
darf man nicht nach Schema F verfahren. Bei größeren Emijjionen wurde in
legter Zeit für die beträchtlieren Boranmeldungen meijt ein beftimmter Prozent»
ſatz als Zutheilungquote feitgejeßt, nachdem den Keinen joliden Zeichnern vorher
wenigitens ein bejcheidener Mindeitbetrag gelichert war. Diejer Vorzug jcheint
diesmal gar nicht gewährt worden zu fein. Stleine Bankiers, die ihrer Anlage:
fundjchaft gerathen hatten, ji bei der Zeichnung in engen Grenzen zu halten,
befamen nichts und waren den Kunden gegenüber in unangenehmer Yage. Einer
biefigen angejehenen Banffirma, die 200 000 Stronen gezeichnet hatte, jollen nur
2000 Kronen zugetheilt worden jein. Auch der Darmjtädter Bank wurde, troß-
dem fie als Zeichenftelle fungierte, nur ein ganz Kleiner Betrag zugewieſen; ich
nenne die Quote nicht, die an der Börje angegeben wurde, weil ich die Nichtig-
feit der Behauptung nicht Eontroliren fanın Man muntelte in der Burgitraße
von einem freundichaftliden Ylippenjtoß, der damit Herrn Dernburg Apoſtata
verjeßt worden jei. Das wäre, wie mir jcyeint, aber allzu jehr wider die Klug—
heit und müßte fich bald räden.
An dem jelben Tage, wo die Banfiers an der Börſe ſich ärgerten, weil
jie zum allergrößten Theil völlig leer ausgegangen waren, zogen die meijten
Fondsmakler morgens am Kaffeetiſch das folgende Schreiben aus einem Couvert,
das den Firmenaufdruck der Deutſchen Bank trug: „Wir beehren uns, Sie zu
benachrichtigen, daß wir Ahnen Kr. . ..... vierprozentiger wiener Stadtanleihe
zum Gubjtriptionfurs von 97°/, abzüglich 0,25 Prozent Bonififation zugetheilt
haben, abzunchmen nad ‚ihrer Wahl bis Ende Juni diefes „Jahres, und
bitten um gefl. Bericht, jobald Sie die Stücde zu beziehen wünjchen.“ Die in
den Briefen genannten Summen jchwantten je nad) der Bedeutung der Makler.
Das Minimum scheint 10000 Stronen geweien zu fein. Die Methode, nad) der
die Makler ausgewählt wurden, war vielleicht nicht ganz einwandfrei. Angeblid)
war für die Berückſichtigung der großen Spefulationmatler die Aufjtellung eines
Meaklerbankdireftors maßgebend gewejen; aus dem Deer der kleinen wählten die
Börjenvertreter der Bank nad) Gutdünfen die zu begünftigenden.
298 Die Zuhmft.
Die Deutihe Bank hatte feinen ſachlichen Grund, die Bonififation zu
gewähren. Einen Ultimohandel in wiener Stabtanleihe giebt es nicht und keinem
Menſchen iſt eingefallen, die Antheile zu firiren. Die fleine Couliſſe fonnte
der Bank weder nügen noch ſchaden. Wenn mans bei Licht beficht, wurde aljo -
ein Trinfgeld vertheilt. Nicht einmal ein Schweigegeld fonnte mans nennen;
man braucht ja die Thatjache nicht totzufchweigen, daß durch Siemens’ nnd
Gwinners Bermittelung Steinthal und Mankiewitz dazu gebracht wurden, den
antijemitiichen wiener Stadtbau zu ftügen. Darüber fpricht ja jchon lange
Niemand mehr; eben fo wenig wie über die andere niedlihe Thatjache, daß die
Hebräer aus Rußland und Rumänien mit der Knute von Beamten gepeitjcht
werden, deren Sold aus den Kaſſen Rothſchilds und feiner Gruppe fließt. Die
Deutiche Bank hat der Börſe alfo ein Geſchenk gemacht. Sie wollte an Bopularität
nicht hinter den Dtendelsjohns zurüditehen. Nur ganz wenige Matter haben den
Muth gehabt, das Geſchenk zurückzuweiſen; die meijten fürchteten die Folgen
ſolcher Kränkung. Einige nahmen es aud) wohl aus Noth; denn heutzutage giebts
wirflid Börfianer, denen zwei blaue Lappen einen Monatsverdienft bedeuten.
Wem haben nun die Börfenfeinde mit ihren durh Sadfenntnif nicht getrübten
Reformen genügt? Was hat das deutjche Volk davon, daf da, wo früher Hunderte
von Familienvätern ihr Brot fanden, jeßt fich ein paar Auffichträthe und Direftoren
anmäjten? Die Thatſache, dag an der eriten deutichen Börje Fondsmakler mit
Gejchenfen von 150 bis 200 Mark für eine Weile glücklich gemacht werden
konnten, zeugt von einem wirthichaftlichen Elend, das ernite Beachtung verdient.
Der Verein der jelbjtändigen Makler an der berliner Börje jcheint die
Sade freilid von einer ganz anderen Seite zu jehen. Er legte Werth darauf,
im Berliner Tageblatt feierlich feitzuftellen, bei den Zutheilungen habe fichs
nicht um ITrinfgelder, jondern um die Erneuung eines alten Brauches gehandelt.
Mit Berlaub, meine Herren: der Brauch wird zum Mißbraud, die Sitte zur
Unfitte, wenn fie aus den Berhältnifjen ihrer Entjtehenszeit gelöft werden. Früher,
jagte ich vorhin jchon, waren die Spejen eines Compagniegeſchäftes mit der
ganzen Börje eine nothwendige Ausgabe. Bei der Ruſſenemiſſion hatte die
Taktik wenigitens noch einen Sinn; bei der wiener Anleihe war jie überflüffig
und die Betheiligung einfach ein Geſchenk. Zum Trinkgeld aber wurde das
Geſchenk dadurch, dal; man den Eleinen Leuten nicht die durch das Rundſchreiben
juggerirte Vorftellung lich, fie jeien wirklich Betheiligte, die nach ihrem Ermeſſen
die Stüde beziehen und verkaufen fonnten. Als am Tage nad) dem Empfang
der Zutheilungbriefe der Kurs der Anleihe auf 99 erhöht werden jollte, lief ein
von der Deutſchen Bank Beauftragter mit der Namenslifte durch die Neihen
der Goulifjiers und nahm ihnen — man fann fait jagen: gewaltfam — ihren
Befig wieder ab. Da erſt erfannte mancher Makler zu ſpät die wahre Natur
diejer liebevollen Zuwendung und... ballte die Fauſt in der Tajche. Im Dinter-
arımde aber jtanden die fleinen Bankiers, an die man gar nicht gedacht hatte,
und jahen grollend dem Kampfipiel zu.
Was mag die ftolze Deutſche Bank bewogen haben, fich bei diejer ein-
tachen Emiſſion künſtlich ſchmerzhafte Geburtwehen zu jchaffen ?
Plutus.
—— —
Notizbuch. 329
Notizbuch.
AN“ zwei Jahren hatten die reihsländiichen Abgeordneten unter der Führung
des Stadtpfarrers Winterer wieder einmal im Reichstag die Aufhebung des
Paragraphen beantragt, der dem Statthalter die diftatoriiche Gewalt giebt, „bei
Gefahr für die öffentliche Sicherheit ungejäumt alle Maßregeln zu ergreifen, die er
zur Abwendung der Gefahr für erforderlich erachtet.“ Der Untrag wurde von der
Neichstagsmehrheit angenommen, vonden Berbündeten Regirungen aber abgelehnt.
Der Reichskanzler Fürft zu Hohenlohe jagte, der Dikftaturparagraph jet nicht zu ent-
behren, denn er jei „eine Fahne, die wir aufpflanzen gegenüber der franzöjtichen
Geſinnung, jo weit fie noch vorhanden iſt. Elſaß-Lothringen iſt ein Grenzland.
Unjere Nachbarn find leicht erregbar. Unfere Bevölkerung ſteht noch an vielen Orten
in Beziehungen zu ihren früheren Landsleuten. Es ijt immerhin möglich), daß wir
von etwa in Nahbarlande auftretenden Erjchütterungen nicht unberührt bleiben.“
Schon damals waren die unbeamteten — und viele beamtete — Stenner von Yand
und Leuten in derlleberzeugung einig, daß der Diktaturparagraph fallen könne, fallen
müffe, daß er, jo jelten eraud) angewandt werde, durch fein drohendes Dajein die deutjche
Sache ſchädige und dem Reichsland die volle Autonomie nicht länger vorzuenthalten jei.
In der ersten Hälfteder neunziger Jahre Schon hatte derYommandirende General von
Blumein Straßburg gelagt: „Das Elſaß ift noch nicht deutjch geworden, aber es hat
abſolut aufgehört, franzöſiſch zu jein. Aufdieinnere Einigung mit Deutjchland werden
wir warten müjlen, bis die Generation, die zur Heit des Krieges das Mannesalter
erreichte, völlig ausgeſtorben iſt.“ Der Bundesrath aber blieb bei der Behauptung,
das Ausnahmegejeß jei unentbehrlid. Da fing der Kaijer jich für die „Wiederher-
ftellung“ der Hohkönigsburg zu interejjirenan. Weithin anerfannte Sadjverjtändige
ipradhen ſich für die Erhaltung der ehrwürdigen Burgruine und insbejondere gegen
den nad) ihrer Anjicht auf brüchiges Material geſtützten Wiederheritellungplan
des Arditeften Bodo Ebhardt aus, dem die Faiferlihe Gunst aber bewahrt blich.
Die Baukoſten jollten vom Neichstag und vom eljäjliihen Landesausſchuß zu
gleihen Theilen aufgebradjt werden. Im berliner und im jtraßburger Parla—
mentsgebäude wurde dem begnadeten Architekten ein Saal für einen Vortrag
und für eine Ausjtellung jeiner Baupläne eingeräumt und im Neichstag fiel
das Wort, „nicht einmal bei den großen Frlottenvorlagen ſeien Reklameaus—
jtellungen in folhem Umfang und mit jolhem Aufwand beliebt worden“. Der Landes—
ausſchuß bewilligte jchließlich die geforderte Summe — lamortdansl’Ame, wieder Ab-
geordnete Wetterle jagte —, weil ihın als Entgelt die Aufhebung des Diftaturpara-
graphen und anderer Reſte der Rechtsbeſchränkung zugelichert worden war. Ausdrücklich
hatte der Staatsjefretär von Puttlamer noh am Schluß der Berathung erklärt:
„Es iſt dankenswerth, daß der Landesausſchuß jahliche Bedenken höheren Erwä—
gungen opfert; und das in diejer Angelegenheit bethätigte Entgegenfommen wird
hoffentlich gute Früchte tragen.“ Wir bewilligen das Geld für den Plan, der uns
ſachlich mißfällt, weil wir bei diejer Gelegenheit endlich vom Diktaturparagraphen
befreit werden: fo dachten, jo ſprachen jogar die Männer der „höheren Erwägungen“.
Dennod) lehnten jieben Abgeordnete die Borlage ab und die zuftimmende Mehrheit
jtellte die Bedingung, die andere Koſtenhälfte müſſe vom Reichstag bewilligt werden;
der Neichstag, hoffte fie, wird Nein jagen und danı haben wir diligentiam präjtirt
330 Die Zuhmft.
und brauchen das Geld doch nicht zu geben. Aber der Reichstag jagte, troß den be—
redten Warnumgen des künſtleriſch empfindenden Herrn von Rollmar: Ya; und der
Landesausſchuß blieb an jein Botum gebunden. Doch der Diftaturparagraph wurde
nicht befeitigt. Zwar hatte.der Kaijer gleich nach der enticheidenden Abftimmung an
den Statthalter telegraphirt: „Theile den Derren mit, dab ich ihnen von ganzem
Herzen dankbar bin und daß es mir zu hoher Befriedigung gereicht, daß das Reichs—
land mein Intereſſe und meine Arbeit für die Wiederherftellung der herrlichen Burg
jo richtig verjteht und fo freundlich unterſtützt“. Der Kaiſer war falſch informirt:
nicht für den begünftigten Plan des Herrn Ebhardt war das Geld bewilligt worden,
jondern als Aequivalent für die verheißene Erfüllung eines autonomiſtiſchen
Wunſches. In Berlin fand Mancher, der bedrängte Herr von Buttlamer jeiin feinen
Zuſagen zu weit gegangen; und als Graf Poſadowsky im Reichstag interpellirt wurde,
nannte er die vom ftraßburger Staatsjefretär mit dem Yandesausihuß gewechſelten
Reden „Privatunterhaltungen“, die für den Bundesrath belanglos jeien. Inzwiſchen
aber muß der Kaiſer den wahren Sadjverhalt erfahren haben; denn er hat den Erlaß,
der die Aufhebung des Diktaturparagraphen anfündet, von dem Bauplaß der Hoh—
fünigsburg datirt und damit deutlid) gezeigt, welche Yeiltung des Neichslandes ihn
jum „Beweis jeines Wohlwollens“ bejtimmt habe. Bei feinen Beſuchen hat der Kaijer
in Eljaß-Vothringen die Bevölkerung jo loyal gefunden, daß ihm reprejfive Maß:
regeln nicht Länger nöthig jcheinen. Solchen Wahrnehmungen eines hohen Derrn, der
auf jeinen Neifen nur die gepugte Diinderheit des Volkes ficht — dem alten Wilhelm
wurden im Eljaß aus Baden importirte und in die Reichslandstradht geitecfte Bauern
und Bäuerinnen vorgeführt —, darf man nicht allzu großes Gewicht beimefjen. Auch die
Thatſache aber, daß an der franzöfiichen Grenze jet wieder die Marjeillaife ge-
jungen und Vive la France! gerufen wird, jpricht nicht laut gegen die Be—
jeitigung des Ausnahmezuftandes. Es ift Zeit, den Neichslanden volle Autonomie
zu gewähren, ihnen im Bundesrath Sig und Stimme zu geben und den Landes—
ausichuß in einen Yandtag umzuwandeln, der, im jelben Umfang wie die Pandtage
der Bundesjtaaten, an der Geſetzgebung mitwirkt. Die in Ausficht gejtellte Maß—
regel iſt aljo verftändig; nur muß man fragen, ob es rathſam war, eine politische
Aktion von der Erfüllung eines kaiſerlichen Privatwunſches abhängig zu machen.
War der Diktaturparagraph, von dem viel geredet, der aber fajt nie fühlbar wurde,
zu entbehren, dann mußte er aufgehoben werden, jelbjt wenn der elſäſſiſche Landes»
ausichun für die Hohkönigsburg fein Geld geben wollte. Auch die Art der Unkündung
mußte verichieden beurtheilt werden und iſt befonders im Süden nicht gerade freund»
lich beiprochen worden. Dem an den Statthalter gerichteten Erlaf fehlte die Gegen—
zeichnung des für die reichsländiiche Politik verantwortlichen Kanzlers ; und. die
Zeitungſchreiber, dieihren Yejern zuriefen: „Der Diktaturparagraph ift aufgehoben !,
bewicejen wieder, wie fremd Wortlaut und Sinn der Reichsverfaſſung ihnen geworden
ift. Nicht der Staijer, der in Elſaß Lothringen die Stantsgewalt „im Namen des
Reiches" ausübt, fondern Bundesrat und Reichstag haben zu entſcheiden, ob der
‘Raragraph bleibt oder fällt. Und weil es fo ift und man heutzutage alle Urſache hat,
die partifularen Empfindlichkeiten der deutichen Dynajtien und Negirungen zu
Ichonen, ſollte man den Namen des Kaiſers nicht für Bläne engagiren, deren Schid-
jal immerhin noch zweifelhaft tft. Jetzt, nachdem der höchſte Nepräjentant deutfcher
Macht jich jo bündig für die Aufhebung des Diktaturparagraphen ausgejprochen hat;
Notizbuch. 331
könnte ein anderer Bundesfürſt ſeine abweichende Meinung kaum noch zum Ausdruck
bringen . . . Das Merkwürdigſte an der Geſchichte iſt die Lehre, daß in unſerem aller—
neuſten auguſtiſchen Alter auf die politiſche Geſtaltung der Reichszuſtände die bauenden
und bildenden Künſte doch nicht ganz ohne Einfluß ſind.
* *
*
Vielleicht wird, wenn die diktatoriſche Vollmacht des ſtraßburger Statthalters
erliſcht, als Erſatz ein Ausnahmegeſetz gegen die gemeingefährlichen Beſtrebungen
der modernen Kunſt gefordert, die der Kaiſer bei einem Beſuch der Großen Berliner
Kunſtausſtellung wieder ſehr ſchroff kritiſirt haben ſoll. Noch ſind wir nicht ſo weit;
und da einſtweilen Der nicht mit Gefängnißſtrafe bedroht iſt, der dieſer Richtung
Unterſtand gewährt, konnte auf charlottenburger Gebiet die fünfte Ausſtellung der
Berliner Sezeſſion eröffnet werden. An die den Modernen gemachten Vorwürfe er—
innerte in der Erbffnungrede des Profeſſors Liebermann nur der Satz: „Nicht der
mächtigſte Fürft: der Künſtler allein zeichnet der Kunſt die Wege vor, die fie zu ver—
folgen hat“. Das iſt weder allzu neu nod) allzu fühn, für ein Mitglied der berliner
Akademie am Ende aber alles Mögliche. Dieje Ausstellung jelbjt muß jedem, derin
ihren Räumen den Ertrag derlegten Kunſternte zu finden hofft, recht arm ſcheinen. Die
berliner Sezeffionijten haben nicht bejonders Großartiges geleijtet. Der interefjante
Verſuch des Herrn Mar Liebermann, den Simfonftoff zumodernifiren und eine Delila
zu zeigen, deren bürftiger Geſchlechtsreiz ſtark genug ift, um in der Brunft den ftärkjten
Dann zu betäuben — wie manden Simſon jah man auf dem Lager einer unſchön
alternden Luſtſpenderin der Straft beraubt! —, ift Skizze geblieben; freilich die
Skizze eines Meifters, dem Keiner in Deutjchland heute das Eleine Bild „Im
Meer” nahmalt. Herr Corinth entwidelt fi) von Jahr zu Jahr mehr zum
techniſch ftarken, jeelifch ſchwachen Effekt: und Modemaler. Die lüderlichen Pinfeleien
des Deren Mund, der noch immer eine unerfüllte Hoffnung ift, jollte man nicht
ausjtellen; jie jcheinen gemalt pour &pater le bourgeois und fünnen das Urtheil,
das taſtende Kunftgefühl unberathener Schauer nur verwirren. Die Herren von
Hofmann und Leiftifow haben uns diesmal nichts Neues, die Derren von Uhde,
Brandenburg, Staffen nichts Gutes zu jagen; und „Bierlanden“, das reizvolle
und doch nicht ſüßliche Bild des jchlichten Holften Alberts, war vor fat zwei Jahren
ſchon bei Keller & Heiner ausgeftellt. Ueberhaupt mu man fragen, ob der Zweck
einer jährlichen Ausjtellung fein joll, jo viele alte, dem an der Kunſtentwickelung
Sinterejfirten längjt belannte Bilder vorzuführen. Natürlich iſts eine Freude, die
Meiſterwerke von Monet, Manet, Bödlin, Degas, Veibl, Thoma und Anderen wieder-
zuſehen; diejes Wiederſehens Schauplaß könnte aber aud) der Yaden eines Kunſt—
händlers jein, der fich dann wohl jcheuen würde, einen jo unbedeutenden Whijtler
auszuſtellen, wie wirihn jegt in Charlottenburg jehen. Und wenn man die alten Bilder
wegnähme, bliebe nicht jehr viel Sehenswerthes übrig. Zwei phantaſtiſch-witzige
Bilder vonThomas Theodor Deine. Das Ehrylander- Portrait vom Grafen Staldreuth. '
Landichaftliche Einzelheiten auf lingers „Domer“. Dasfeine, durch die ſanfte Farben—
ſymphonie entzücende Damenportrait von Reinhold Yepfius. „In der Waſchküche“ von
Linde-Walther und das Halligbild von Alberts. Der von Slevogt virtuosgemalteSän-
ger D'Andrade als Don Juan. Eine,Dame im blauen Kleid“ von dem Ruſſen Somoff,
deſſen Namen man ſich merken muß. Einpaar gute, meiſt aber auch längſt befannte
Trübner. Und — dieſe Laienüberſicht macht auf Vollſtändigkeit natürlich keinen
nn
332, Die Zukunft.
Anſpruch — ein großes „Gejellfchaftbild von Ignacio Yuloaga. Schon diejes
Bildes wegen müßte man die Ausitellung fehen. In dem von den Herren Marter-
fteig und Woldemar von Seidlig herausgegebenen „‚‚Sahrbud, der bildenden Kunſt
1902“, das, mit jeinem Neichthbum an belegrenden und anregenden Aufjägen, an
Kunftbeilagen und Tertilluftrationen, des Lobes und der Empfehlung würdig ift,
hat Herr von Tſchudi gejagt, der Spanier habe als Erjter die edle Tradition der
Velazquez und Goya wiederaufgenommen. Wirklich: ſeit Belazquez ift jo nicht ge:
malt, aus jolcher quellenden Schöpferfüllenicht geftaltet worden. Ein alter Meiſter
jcheint erftanden, doch einer, der aus dem Nuge eines Modernen auf die Menjchenwelt
jieht. Zuloagas deutiher Ruhm ftamınt aus Dresden, wo im vorigen Jahr vier feiner
beiten Bilder ausgeitellt waren. Eins ſteht jet in der Bibliothek der Nationalgalerie,
wird aber, da der Hofwind ſolchen Erwerbungen nicht günftig ift, wohl nicht ange»
kauft werden. Ziemlich jchlecht ijt in der Sezeſſion die Plaſtik weggekommen. Klingers
bemalte Sipsjkizze zum „Beethoven“ giebt von dem fertigen Werf feinen Begriff
und wäre von bejjeren Freunden des Künftlers nicht banaufischer Lachluſt ausge:
liefert worden. Es tft einigermaßen beſchämend, daß die Wiener Sezefjion in einem
von ihren ſtärkſten Künſtlern in jchöner Beicheidenheit geſchmückten Raum den echten
Beethoven zeigt, während die Berliner fid) mit einem kümmerlichen Embryo begnügen
müjjen. Groß wirkt Klingers berühmter Liſzt; und Hildebrands „Bode“ ijt als
Bortraitbüjte eine in ihrer Fühlen Art vollendete Meifterleiftung. Rodin ift ſchwach
vertreten, von dem Belgier Minne mußte man, nachdem ſeit Rahren jo viel über
ihn gejchrieben ward, jtärkere Proben geben und der Berliner Tuaillon hat in diefer
Ausjtellung das nad) jeiner herrlichen „AUmazone“ von ihm Erwartete dem Blid
nicht geboten. Warum, da nıan doc ältere Werke ausſtellte, fehlt Carrids,
deilengeniale Plaſtikin Berlinnod ganz unbekanut iſt, warıım die Schaar der jüngeren
Bildhauer, unter denen manches Talent zu entdeden wäre? Warıım hatman Zuloagas
Sitana nicht von dem dresdener Befiger ausgeborgt? Solche Fehler — es wäre
leicht, mehr Beiipiele anzuführen — follten vermieden werden, — jchon, um das von
ziſchelnder Feindſchaft verbreitete Gerücht zu entfräften, die Häupter der Sezeflion
juchten fich vor neuer Stonturrenz jchlau zu bewahren. Ihre Ausftellung bietet noch
immer viel mehr, als man früher in Moabit zu jehen gewöhnt war. Gritens aber
fönnten die meilten Bilder eben jo qut in einer akademiſchen Ausjtellung unterge-
bracht werden. Und zweitens müßte eine Sezefltonijtenausitellung ein anderes Ziel
haben als das: annähernd zu leiften, was jeder tüchtige Bilderhändler in feinem
Salon leijtet. Wie würden die Abtrünnigen jpotten, wenn die Orthodoren ihre Säle
am Lehrter Bahnhof mit den Meijterbildern der franzöfiichen Romantik, mit alten
Werfen von Bödlin, Lenbach, Menzel, Knaus, Vegas, Thoma, Gebhardt füllten!
Der große Erfolg, den fie faft mühelos erreicht haben, darf die Sezeffioniiten auf
ihrem Weg eben jo wenig hemmen wie die Schimpfreden, die der Leiter der Großen
Berliner Kunſtausſtellung neulich gegen fie ausſtieß. Sie haben die Pflicht, ohne
Rückſicht auf ihr eigenes Seichäftsinterejje und auf die Yaunen des Herrn Omnis
dem harrenden Bli alles Schenswerthe und Erreichbare zu zeigen, was während
des abgelaufenen Jahres geſchaffen ward. Wollen fie retrojpektive Ausjtellungen
veranftalten: vortrefflich: nur follen fies dann ausdrüdlich jagen. Nie aber darfihre
Ausſtellung die foralame, duldſame Auswahl vermiſſen laffen, nie, wenn jte ein
Kunſtereigniß fein ill, der Zufallshäufung eines Bilderhändfers gleichen.
*
u 2 ea Sl
Notizbuch. 333
De Rebarbariſirung Deutſchlands ſchreitet raſch fort und den ſpärlichen
Lenzkeimen künſtleriſcher Kultur droht ernſte Gefahr. Wer hätte vor ein paar
Jahren für möglich gehalten, ein ehrfurchtloſer Dilettant könne wagen, nad) einem
allgemein anerkannten Meijterwerf zu greifen, es zu entjtellen, mit plumper Fauſt
zu zerfegen, Wejen und Form zu ändern und diejes Produkt jeiner Bandalenwilltür
an weithin jihtbarer Stelle den Deutichen zu zeigen? Wer hätte nicht Hundert
gegen Eins gewettet, folches frevle Beginnen müfle ein Wuthgeheul weden? Nest
erleben wir faſt in jedem Jahr diejes widerwärtige Schaufpiel; und gewiljenloje
Neporter rühmen die Barbarei dann nocd als eine Heldenthat. Bor zwei Jah—
ren hatte Herr von Hüljen, der Intendant des wiesbadener Hoftheaters, den jeinem
Wink gehorchenden Handwerkern befohlen,, fih über Webers „Oberon“ herzu—
machen; nach dem Plan des ‚Intendanten wurde ein neuer Text gedichtet, die
Muſik „verbeflert“, mit melodramatijchen Zujägen verziert und das Ganze als
„Feſtſpiel“ derjtaunenden Dengeangeboten. Dagegenjolche Berunglimpfung eines
großen deutjchen Künſtlers der Widerftand fid) nicht laut genug regte und Fein
Kritifer jagte, Webers unvollfommenes, doch organiſch entjtandenes Werk fei ihm
zehntauſendmal lieber als das Nagout aus der wiesbadener Hofkunſtküche, ift der
Oberkoch am Neroberg jet nod) fühner geworden. Wieder gab es „Maifeſtſpiele“;
und diesmal hat der Herr Intendant jelbit des Dichtens Laſt auf ji) genommen.
Daß er Shafejpeares Judentragifomoedie in ein „Märcenipiel“ umwandelte, mit
ſchlechter Muſik befrachtete und, che noch ein Wort geiprochen ward, einenStraßenjänger
fi produziren ließ, war ſchon ſchlimm genug und als cin erimen lacsae majestatis
zu trafen. Aber der Mann hat aud) Gluds „Armida“ eine neue Handlung und neue
Muſik gemadt. Das ift nicht etwa ein Scherz: Herr von Hüljen, der vor großen
Schöpfern nie das Fürchten lernte, hat den Charakter der Heldin völlig verändert,
ihr Judithmotive angeflict, den Text „neu gedichtet” und einem Dußendfapellmeifter
befohlen, Glucks Muſik zeitgemäß umzuarbeiten. Was dabei heraustommen konnte
und mußte, kann Jeder ſich vorjtellen, der Glucks gewaltige Architeftonik je
auf ſich wirfen lieh. Giebt es irgendwo noch ein fultivirtes Yand, wo jo dreijte
Entjtellung nationaler Meijterwerfe möglich wäre? Bei uns wird der Attentäter
in den Zeitungen gelobt, wird er von den Pietſchen als ein „genialer Regiſſeur“ ge-
priejen, weil er „Dekorationen von beraujchender Schönheit‘ herbeiſchafft und, jtatt
den Geift und die Form der ihm zur Neproduftion anvertrauten Gedichte rein zur
Geltung zu bringen, all die kleinen Luxushandwerkerkünſte aufbietet, über deren ver-
derblihe Wirkung von Sadveritändigen jchon das Urtheil gejproden wurde, als
fie, weil der arme Ludwig von Bayern an buntem Bühnenpomp Vergnügen fand,
in den berüchtigten Separatvorftellungen zum erjten Mal angewandt worden waren.
Gluck, deffen Muſik gar nicht orientaliich im Sinn der Modernen it, kann nur eine
jtreng jtilifirte, leije, etwa in der Art Dorés, andeutende Inſzenirung brauchen;
Derr von Hülien pußt ihn mit Wundern, die er aus den Winkeln der Trientbazare
holt, und ftülpt, als wäre es ein Pappbau von Stinderhand, Charaktere und Hand»
fung um. Früher hätte man wenigitens verjucht, ſolche Reſpektloſigkeit mit den
Namen bewährter Künſtler zu decken. Jetzt genügt die Verantwortlichkeit eines
Herrn, der bisher nur durch jeine Yeiltungen als Kartenkünſtler, Coupletſänger und
Zajdenipieler befannt war und dem, als Yohn für jeine Berdienfte um die deutjche
Kunft, die ehrenvolle Aufgabe zugewiejen wird, das Lohanniterfeft, dasim Sommer
2334 Die Zukunft.
auf der Marienburg gefeiert werden joll, in Szene zu ſetzen. . . Uebrigens muß in
Wiesbaden allerlei Merfwürdiges zu jehen, zu hören und zu riechen geweſen fein.
Der Kaiſer „fuhr durch ein Spalier von Fackelträgern und wurde im Theater von
fojtümirten Fanfarenbläſern begrüßt.“ „Bevor der Kaiſer die Hofloge betritt, müſſen
alle Beſucher des Erſten Ranges ihre Plätze eingenommen haben, die ſie auch in den
Pauſen nicht eher verlaſſen dürfen, als bis der Herrſcher den Gang erreicht hat, der
Hofloge und Foyer verbindet.“ Das ganze Theater iſt parfumirt. Der unbeſchreib— |
liche Holzbod aber meldet: „Unter den Foyer jteht das Publikum, es richtet feine
Blide nad oben und fühlt ein Stückchen Dofluft wehen.“ Sonderbar, jehr jonder-
bar. Ein Glüd noch, daß die Firma Lohſe für Maiglödchendüfte geforgt hatte.
* *
*
Aus Wiesbaden kam auch, gleich nach der Meldung, die Tochter des früheren
Hofbankiers Cohn habe dem Deutſchen Kaiſer „Für Kunſtzwecke“ eine Million zur
Verfügung geitellt, das Telegramm, worin Wilhelm der Zweite dem Präjidenten
Roojevelt die Abjicht fündete, den Bereinigten Staaten ein Denkmal des Alten
rigen zu ſchenken. Rom darf fih an den Konditorfünften des in Straßburg ab»
gelegnten Herrn Eberlein freuen und Waſhington befommt einen echten Uphues;
fein Original, wie es heißt, fondern eine dritte Kopie des bramjigen rigen aus der
Puppenallee. Die Verheigung diejes fleinen Geſchenkes ift wohl als eine Privat:
angelegenheit des Kaiſers zu betradhten. Für eine Staatsaftion wäre die Stunde
nicht gut gewählt. Auf allen Gebieten ſuchen die Amerikaner Deutſchlands Wirth-
ſchaft in ihren Dienſt zu prejjen; und zugleich zeigen fie durch Freiwillig gewährte Lieb—
fofungen, durd) nad) England und Frankreich verichiefte Einladungen, wie viel ihnen an
der Entkräftung des Verdachtes Liegt, jie jeien mit dem Deutjchen Reich befonders intim.
Die öffentlich Meinenden, jelbjt die in der bequemen Byzantinerlivree ergrauten,
haben denn auch den Einfall desstaifers nicht mit Jubelhymnen begrüßt. Daß Herr
Uphues und nicht, da es doch eine Kopie fein jollte, Rauch gewählt wurde, ijt be
dauerlich, weil ſolche Wahl das Anfehen deutiher Kunft ſchmälern muß. Cine
Mufterausitellung follte endlich einmal der Spottiucht zeigen, daß es fern von der
höfiſchen Sphäre eine deutjche Plaſtik giebt, die ſich ſehen laſſen kann. Unklug aber
iſt die Behauptung, Friedrich paſſe, als ein Deſpot der Feudalzeit, nicht vor das
Kapitol einer Republik. Dieſen Preußenkönig, der kein Kind hinterließ und dem
feiner der ſpäteren Hohenzollern in irgend einem Weſenszugähnelt, hebt das Genie—
recht aus der langweiligen Reihe alltäglicher Derrichergeitalten. Vieles, was über
feine inneren Beziehungen zu dem Freiheitfampf der Nordamerifaner erzählt wird,
gehört der Legende an, nicht der Geſchichte. Doch er hat gejagt: „Das Ziel, das den
Staatengründern vorſchwebte, erreichen Republiken fchneller als Monardien und
fie erhalten ji auc) länger; denn gute Könige fterben, gute Gejeße aber find un—
ſterblich . . Jeder Monarch follte bedenken, da Ehrjucht und eitle Nuhmbegierde
Yajter find, die man an einem Privatmann jtreng ahndet und an einem Fürſten
immer verabichent. Die Tyrannen fehlen gewöhnlich dadurch, daß fie die Welt
nur in Beziehung auf ich jelbit betrachten.‘ Und in jeinem Teſtament: „Das
Ungefähr, das bei der Beitimmung der Menfchen obwaltet, bejtimmt auch bie
Erjtgeburt; und darum, daß man König it, iſt man nicht mehr werth als die
Uebrigen.“ Der Sat wäre als Denkmalsinſchrift für Waſhington jehr zu empfehlen.
‚Herausgeber und verantwortlicher Nedakeuc: M. Harden ın Bertin, — Verlag der Zubunft in Berlın,
Drud von Albert Damde in Berlin: Schöneberg.
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Berlin, den 51. Mai 1902.
er ——
Vereeniging.
as wir in den Begriff der Sittlichkeit, des ewigen, Theologen und
Atheiſten bindenden Sittengeſetzes zuſammenfaſſen, iſt mehr als ein
catalogue raisonné der Dinge, die man thun, und der anderen, die man
laſſen ſoll. Das habe ich ſchon vor Jahren geſagt, in den friedlichen Tagen,
wo ich noch Zeit hatte, Moralphiloſoph — und leider auch Bimetalliſt — zu fein
und nach den Zielen neuer Ethik auszuſpähen. Doch ſchon damals habe ich
auch vor einer Ueberſchätzung der in unſerer Menſchenwelt ſichtbaren Ent—
wickelungen gewarnt. Was iſt dieſe kleine Welt im Leben des Alls? Sicher
nicht ſein Ziel. Selbſt die Weiſeſten unter uns ſehen nur eine an Ruhm
und Bedeutung nicht allzu reiche Epiſode, die ſich auf einem der unbeträcht—
licheren Planeten abſpielt. Hinter uns erblicken wir Blut und Thränen,
Raub und Mord, rathloſes Taſten und vergebliches Streben, wilde Em—
pörung und ſtarre Ruhe; und nicht lange mehr — nicht lange wenigſtens
im Vergleich mit den moderner Forſchung bekannten Zeiträumen — wird
es dauern, bis die dem Menſchenauge jetzt ſcheinende Sonne erbleicht und der
träg und fluthlos gewordene Erdball die Raſſe verſiechen läßt, die für ein paar
kosmiſche Minuten ihre Einſamkeit geſtört hat. Dann ſtirbt der Menſch
und mit ihm ſteigen all ſeine großen Gedanken und Errungenſchaften, ſein
Genie, heldiſches Mühen und ſittliches Wollen ins Grab. Und im An—
geſicht ſolcher Zukunft ſollen Zufallsoszillationen das ruhige Gleichmaß un—
ſerer Seelen erſchüttern? Was wir ſinnen und trachten, iſt ja nicht neu; oft
25
336 Die Zukunft.
genug ward ung vorgeworfen, unjere Macht beruheauf Sceraub, Briganten=
thaten, Stiavenhandel; und ob wir Indien oder Egypten, Neufeeland oder
Auftralien mit Britifch- Roth färbten, gegen Somalis, Ajhantis, Bajutos,
Afridis oder Kaffern als Kulturbringer fochten: immer hat der Neid ung
Grauſamkeit und fchnöden Egoismus nachgefagt. Keiner aber hat und den
Weg zu ſperren vermocht, Keiner aud) zu beftreiten, daß wir gegen Bentham
und Gladitone uns auf Moſes und Darwin berufen fonnten. Und weil
wir thun, was die gelben Hottentoten den dunkleren jaguaniichen Bosjemans,
die Schwarzen Kaffern den Hottentoten, die halbweißen Buren den Kaffern
thaten, weil wir mit dem Recht der höheren Kultur einen unjauberen,
jchlecht gepflegten Stamm ausroden, der mit dem jelben Necht Anders»
farbige verdrängt hat umd ihnen bis heute jogar den Menjchennamen ver-⸗
jagt: deshalb follen wir aus der Gemeinschaft der fittlih Empfindenden
jcheiden? Das Auge, das durch Aconen fchweift, wird bei joldher Drohung
nicht lange weilen. Mich hat die Frage nad) dem Ausgang des Krieges nie
aufgeregt und ic) jehe auch jetst mod) feinen Grund, ihr den Schlaf und die
Nealtennisjreuden des Wochenendes zu opfern. Allesin unferer Weltnimmt
ein Ende, das der Philojoph in Geduld abzumarten hat. So kann ich im
Unterhaus, vor den furzathmigen ntelligenzen Campbell - Bannermans
und jeiner Leute, nicht ſprechen; da muß ich auf die Gerechtigfeit unferer Sache
pochen und die Regiſter der nationalen Ehre ziehen. Hier aber brauchen wir
ung nicht zu echauffiren. Auch dieje Epijode in der Epijode des vergänglichen
Denjchenrafienlebens geht ftill vorüber und fünftigen Geologen und Aſtro—
nomen wird e8 gleich gelten, ob wir ein Bischen früher oder fpäter gefiegt
und den Befiegten etwas mehr oder weniger Freiheit bewilligt Haben.“ Alſo
ſprach Arthur James Balfour, der Erjte Lord des Schakes, in Scotts
Palaft, den die Downing Street von der Treafury trennt. Sprachs, lehnte
das Haupt zurüd, ftredte die Beine jehr weit von ſich und blickte mit einem
Ausdrud, an dem Fra Angelifo feine Freude gehabt hätte, gen Himmel.
Robert Cecil, Marquis von Salisbury, war während der langen
Rede ſeines philojophiichen Neffen fo janft entfchlummert, als fäße der Bot-
Ichafter einer Großmacht vor ihm. Daran war man gewöhnt und fein Kol«
legenantlig zeigte die Spur eines Staunens. Sacht und mit der gehöri—
gen Diskretion zupfte Hicks- Bead) den greifen Schläfer am Rod. Der Pre⸗
mier eriwachte, blinzelte, räufperte fich, um den Schleim aus der Kehle zu
Ihaffen, und jprad) dann: „Ya... Ich bin aud) der Meinung, daß es ſich
nicht empfiehlt, den Abſchluß der Sache nod) länger hinauszuſchieben. Mils
Bereeniging. 337
ner muß doch jelbft den Stein, De La Ney, und wie die widerhaarigen
Gentlemen fonft heißen mögen, endlich bewiefen haben, da fie befiegt find, daß
fieeinfach nicht weiter fönnen und blind annehmen müſſen, wasunfer Groß—
muthihnengewährt. Mit der Führung diejes Beweifes hatteich ihn beauftragt
und begreife nicht, daß er immer noch von Bedingungen redet, die uns geſtellt
würden. Ich jehe eigentlich nurnoch eine Schwierigkeit. Wir wollen, ſagte ichin
vielen Peersfammerreden und Trinfiprüchen, weder Goldnoch Land, jondern
fümpfen nur für die Gleichberechtigung des freien Briten. Aber die An-
nerton ift ja ſchon ausgejprochen und an die alten Gefchichten denkt wohl fein
Menſch mehr. Auch die Verheifung, den Buren folle fein Schatten von
Selbjtändigfeit gewahrt bleiben, ift hoffentlich vergejjen. A la guerre
comme ä la guerre. Der Ruſſe, vor dejjen langem Löffel unfer ungemein
geiftreicher Kollege aus Birmingham in einer feiner mit Necht berühmten
heißen Stunden jo wirfjam gewarnt hat, könnte eines Tages unruhig wer-
den und ficd) von inneren Nöthen dadurch zu befreien juchen, daß er das
Bentil nad) außen Öffnet. Das wäre, trogdem wir des Deutjchen Reiches
fiher find, immerhin unangenehm. Und Sie Alle, meine verehrten Herren,
wiljen, daß der König den dringenden Wunſch hat, das Feit der Krönung in
einem Reich friedlicher Ruhe, unter glüclichen Bürgern zu feiern. Schon
die Rückſicht aufdiefen fo humanen wie natürlichen Wunſch muß uns beftim-
men, den Rahmen der zubewilligenden Konzejfionen ein Wenigzuerweitern.“
„Wirklich?“ Herr Joſeph Chamberlain hatte jchon eine Weile nervös
mit dem Monocle gejpielt; jet femmte ers ins Auge und ſandte dem Bre-
mier einen Blid, aus dem Grimm und Verachtung jprachen. „Ich freue
mic) der Thatfache, daR der ehrenwerthe Marquis den Muth hat, der Kate
die Schelle anzuhängen, muß aber geftehen, daß meine Ohren das Geflingel
nicht vertragen. Nicht erſt jeit geſtern. Yängft ärgert mich die jchellenlaute
Thorheit, die aus einer Hofceremonie ein politijches Ereigniß macht. Hat
dein das Volf der drei Königreiche, das die Stuarts nicht ertrug und ſich
mit der Schlichtheit feiner demofratiichen Einrichtungen brüftet, plößlic)
nichts Beſſeres zu thun, als fic über Koſtümfragen den Kopf zu zerbrechen
und an Rangordnungen, Putzmacherei und Schneiderfram die Zeit zu ver-
zetteln? Dann darf es auf die Kontinentalfitten nicht mehr ironiſch herab—
ſchauen und fich nicht wundern, wenn der Monard) über die Rolle hinaus
ftrebt, die ihm die Magna Charta dieſes Yandes zumeilt. Und num joll
die Rückſicht auf ein Hoffeft gar die Antwort auf eine Lebensfrage beſtim—
men? Dann fehren wir hinter die Zeit zurüd, wo Lord Coke jchreiben
25°
338 Die Zutunft.
fonnte: Praesumitur rex habere omnia jura in serinio pectoris sui.
Wir führen einen Krieg um die Macht, um die Zukunft de8 Imperiums,
einen Krieg, in dem wir fiegen müfjen, wenn wir nicht Afrika verlieren und
dem Feind den Seeweg nad) Indien öffnen wollen. In diefem Krieg haben
die Kolonien das Mutterreich in einer Weiſe unterftügt, die alle Erwartung
übertraf. Glauben Sie, daß die Kinder Britanias der lautejte Krönungjubel
für ihre Opfer entjchädigen fann? Ich zweifle; und meine, daß wir ung
weder bei Philojophengeipinnjten noch bei loyalen Redensarten aufhalten
jollten. Der Wunſch des Königs darf, jo rejpeftabel und menjchlich er jein
mag, uns nicht um eines Fußes Breitezurüddrängen. DieBuren find tapfere
Leute und noch nicht am Ende ihrer Kraft angelangt. Yejen Sie den Januar—
bericht de8 Generals Smutsan Krüger ; erinnern Siefid, daß Steijn an Kit»
chenerichrieb, Englands Macht reiche in Südafrika nurgerade jo weit wie die
Flugbahn ſeinerGeſchoſſe; und bedenken Sie,wielange auf dem den Angreifern
ungünjtigiten Terrain der Erde ein Bauernheer Stand halten fann, deſſen
Deannjchaft zufrieden ift, wenn ie in brennendem Kuhmiſt einen Fleiſchfetzen
gebraten hat. Seit Wochen ſitzen die Führer diejes Heeres in Berceniging und
Pretoria. Da ſoll, nach dem Auftrag des jehr ehrenwerthen Marquis,
Lord Milner ihnen beweijen, daß fie bejiegt, unrettbar verloren jind. Biel-
leicht werden fie finden, diejer Beweis ſei nur durch die Gewalt der Waffen
zu führen. Jedenfalls find fie nicht von jeder Verbindung mit Europa ab—
geichnitten; und wahrjcheinlich haben fie jchon gehört, welcher Werth hier
darauf gelegt wird, daß der Friede vor der Krönung gejchlojien ift. Der
Herr Staatsjefretär für das Kriegsweſen jchüttelt den Kopf? Nun, meine
Herren, ich fenne die Küche, in der das Friedensgericht gefocht wird. Ich
vermuthe nicht, jondern weiß, daß in Pretoria gejagt worden iſt: nur der
Tag der Strönung biete die Möglichkeit, die Caprebellen zu begnadigen, und
wenn die Buren bis dahin nicht Frieden jchlöffen, jei diefe Bedingung nicht
mehr zu erfüllen. Bedingung! Jahre lang haben wir erklärt, wir führten
feinen Serieg, fondern würfen den Aufftand eines VBajallenftaates nieder, —
und nun verhandeln wir wie mit einem ebenbürtigen Gegner über die Frie-
densbedingungen und laſſen uns von Tag zu Tag zu neuen Konzeſſionen
drängen, ftatt in einer legten Anftrengung unjerellebermacht zu zeigen. Ich
gebe gewiß nicht viel auf papierne Berjprechungen ; wenn die Tinte troden
ift, lieft mans anders. Hier aber handelt jich8 um unjer Anjehen. Keine Unter-
handlung, hier es, Fein Schatten von Selbftändigfeit. Wenn wir unjer Pre—
jtige preisgeben wollten, brauchten wir den Krieg nicht erft anzufangen.“
Bereeniging. 339
„Das wäre, wie jonft ganz verftändige Leute finden, am Ende fein
Unglüd gewejen”. Der alte Salisbury war, munter geworden und das
Schmunzeln der Kollegen trieb ihn, der fatirischen Neigung den Zügel zu
lodern. „Der anjehnliche Herr Kolonialminifter, deſſen hohe Genialität
uns jo oft entzüct hat und dem ich, mit einem Wort Dowdens über Shafe-
fpeare, einen wahrhaft majeftätiichen Menjchenverftand nahrühmen möchte,
fcheint mit dem Moſesſtab feines Geiftes Quellen zu erjchließen, aus denen
uns Shwächeren Sterblichen fein Tröpfchen rinnt. Wahrjcheinlich find es
die jelben Quellen, aus denen ihm früher die Gewißheit fprudelte, der
Doktor Jameſon werde auf feinem Ritt ang Ziel fommen, und jpäter die
noch glaubwürdigere Kunde, Paul Krüger werde um feinen Preis der Welt
jein Vol zu den Waffen rufen. Vielleicht erinnert der eine oder andere
der Anweſenden ſich noch der fortreißenden Beredjamfeit, dieder verehrte Herr
Kollege aufwandte, um ung feine Zuverjicht zu ſuggeriren, — mit jo glängen-
dem Erfolg,daß wireinliltimatum wagten,ohneirgendwiezumstriegegerüjtet
zu fein. Und jeitdem haben wir ja mehr als einmal dieVorausficht feines Di-
plomatenauges angeftaunt. Jetzt aber muß ich in aller Bejcheidenheit ge-
ftehen, daß ich dem hohen Flug jeiner Gedanken nicht zu folgen vermag.
Das liegt vielleicht an einer gewifjen Senilität, die der ehrenwerthe Herr mit
der ihm eigenen Menfchenfreundlichkeit jchon öfter an mir wahrgenommen
haben joll, vielleicht aber auch an der Verjchiedenheit unferer Ausgangs-
punkte. Mir fcheinen die Dinge auf gutem Weg. Man hat fic) gejchlagen,
man wird fid) vertragen und beide Parteien werden den Pflod um ein paar
Löcher zurücteden. Den Mund haben wir Alle — natürlid; mit Ausnahme
des Herrn Kolonialminifters — mandymalzuvollgenommen. Das ijtkein jo
furchtbares Unglüd. Für ein ſolches aber müßte ich eshalten, wenn die Mi:
nijter Seiner Majeftät jic) dazu hergäben, Wünjchen de8 Monarchen ent-
gegenzuarbeiten. Diejen Theil des Dlinenkrieges wenigſtens muß ich Ande-
ren überlafjen, die durd) feine Tradition gehemmt find und ihre Lehrzeit in
anderen Lagern durchgemacht Haben. Der König kann in diefem Lande nicht
Unrecht thun. Der hohe Herr ift ſich auch jetst bewußt, der Verkünder
jehnjüchtiger Vollswünſche zu fein. Das Bolf von England will Frieden.
Es will nicht länger die Yaft des Schimpfes tragen, den ihm das Ausland
täglich zufügt, und das füdafrifanische Induſtriegebiet der ruhigen Arbeit
wiedergegeben jehen, die Reichthümer schafft, nicht gehäufte Schäße vernichtet.,
Eine Regirung, die gegen jolche Forderung taub bliebe, würde unpopulär
werden; und mindefteng die Abjicht, die Volksgunſt einzubüßen, möchte ich
840 Die Zuhmft.
meinem Herrn Kritiker nicht zutrauen. Uebrigens kann ich für die Richtig—
feit unseres Handelns eine Autorität anführen, deren Gewicht er einſt nicht
verfannt hätte:-Yord Nofebery, der ihm näher fteht als mir, riethb ung... .”
„So jchnellwie möglich Frieden zu Schließen. Natürlich. Der Schwie-
gerjohn Rothſchilds, der da unten eine Millionenfaat in der Erde hat und
ungeduldig auf den Minenboom und den Induſtrieaufſchwung wartet, der
dem Friedensichluß folgen muß. Und Nofebery ift wurzellos, feit er gegen
Homerule auftrat und Imperialiſt wurde. Er braucht, um Premierminifter
werden zu können, einen neuen Trumpf; und ich muß ihm nachſagen: er
hat, unter fluger Leitung, die Karten vorfichtig gemischt. Kommteszueinem
dem Vollklswunſch entiprechenden Frieden, dann hat er als Erjter den Weg
gewiejen; in jedem anderen Fall ift er ſchuldlos und die Wirfung des guten
Nathes durch die Thorheit der fonjervativen Regirung vereitelt worden.
Beim König hat er ſich, wie immer der Würfel falle, beliebt gemacht. Denn
der König langt ſehnlich nad) einer Aufbefjerung feiner Popularität. Den
verehrten Marquis, den ich zwar nicht Englands größtem Dichter, aber dem
unfterblichen Sänger der Odyſſee vergleichen fann — der ja aud) mand)-
mal jchlief —, drückt die Yaft ausländischer Schimpfreden und ungejtiliter
Bolksjehnjucht zu Boden. Sein erjchütternder Seufzer erinnerte mid) an
das Erlebniß eines nicht minder weifen und fittenftrengen Politifers. Als
Herr Briffon in Marjeille neulich in einer Wahlrede jagte, er habe unter
dem Kittel des Arbeiters jo viel muthige, heldenhafte Würde gefunden,
daß fein Schwarzer Rod ihm fchwer werde, rief ein jchlagfertiger Proletarier
dem gerührten Greis zu: ‚So zieh ihn doch aus!‘ Nach reiflichem Ueber-
legen fände vielleicht aud) unfer Neftor die Möglichkeit, eine Bürde, die ihm
zu jchwer wird, abzufchütteln. So lange wir aber das Glück und die Ehre
haben, ihn auf dem Plage zu jehen, dem er jeinen Ruhm danft, muß er mir
ichon geftatten, mit dem jelben Freimuth zu reden, den er früher fo auf-
richtig ſchätzte. Dem füdafrifaniichen Induſtriegebiet ſoll die Aera ruhiger
Arbeit wiederfehren. Das klingt wunderſchön; nur... Der Krieg, der
jich jegt auf ganz anderen Schauplägen abipielt, hindert die Minenbejiger
längst nicht mehr, die Arbeit in vollem Umfang aufzunehmen; aber die
ſchwarzen Arbeiter fehlen ihnen, — und dieſe unerjeglichen Kaffern bringt
der Friedensichluß nicht von heute auf morgen an den Rand zurüd. Wir
wollen die Dinge doch ſehen, wie fie find, nicht hinter Phrajenjchleiern. Fort—
geſchimpft wird unter allen Umjtänden. Wenn wir nad) dem langen, an
Opfern aller Art überreichen Kampf nun aber einen Frieden jchließen, der
Bereeniging. 341
ung bejd,ämende Konzeſſionen aufzwingt, dann ernten wir zu dem Schimpf
auch noch Spott. Die Berantwortlichfeit für jolchen Frieden ſcheue ich, nicht
die fürden Krieg. ES war nicht meines Amtes, 1899 feftzuftellen, daß die Hoff-
nung auf fremde, namentlich deutjche Hilfe in den beiden Freiſtaaten ſtärker
war als alle Bauernbedenfen; und der Yeiter der auswärtigen Politik follte
mir nicht Mangel an Borausjicht vorwerfen. Immerhin: ich bin bereit, die
Schuld aufmic zunehmen. Wirdder Krieg jozu Endegeführt, daß wir miter-
höhtem, nicht mit geminderten Anjchen daraus hervorgehen, dann magman
mein Handeln unfittlich und barbarifch nennen. Ohne zerbrochene Eierjchalen
giebts feinen Eierkuchen, ohne zerftampfte Völkerſtämme fein Weltimperium.
Sch will zufrieden fein, wenn man jagt: Diejer Kerl hat den Muth gehabt,
Etwas zu wagen, und die Ausdauer, fein Ziel zuerreichen. Ob id) dabei für
eine Weile aus der Volksgunſt verdrängt werde, gilt mir gleich. Vorläufig ..
Ich habe, vielleicht, weil ich jünger bin, vielleicht, weil unjere Ausgangs:
punfte verjchieden jind, nur einen Verwandten in eine Staatstellung ge-
bradtundbin, troßall meinen Sünden, unjchuldig daran, daß diejeslöbliche
Minifterium als Hotel Cecil Illimited auf der Gaſſe verhöhnt wird.“
Die befürd)tete Exploſion war da. „Aber meine Herren... !”
„Kleine Misverftändnijfe! Nein taftiiche Fragen!“
„Er bleibt der Barvenu aus der Eijenbrandhe.“
Ein Bote trat ein. „Botichaft von Kitchener?” Nein: vom König,
der direlte Nadyridyten empfangen hat und den Marquis von Salisbury zu
fi) bitten läht. Es handelt jich nur nod) um Kleinigkeiten. Zu erwägen jet,
ob man den Buren den Kabelverfehr mit Krüger freigeben jolle. Das werde
verlangt, weil beide Theile ſich beim Abjchicd mit Handſchlag verpflichtet
hatten, weder in Afrifa noch in Europa Frieden zu schließen, ohne vorher
den Rath des anderen Theiles gehört zu haben. Dem König jcheine die Zeit
zur Erfüllung dieſes nicht unbilligen Wunſches gekommen.
„Wenn Seine Majeſtät die Enticheidung aus dem Schrein feines
Herzens holt, brauchen wir hier nicht müßig herumzufigen. Mahlzeit!”
Der Erjte Yord des Schages zog die Beine vom Stuhl. „Schicken Sie
den Zeitungen eine Notiz: ‚Die aus Bereeniging und Pretoria eingetroffenen
Nachrichten haben den Minifterrath heute nicht lange beichäftigt, da ein-
jtimmig an dem Entichluß feitgehalten wird, über die in Ausficht geftellten
Konzejjionen nicht Hinauszugehen‘. Hm... Dieje Politiker find merfwürdige
Leute. Wie uninterejjant werden den Geologen und Ajtronomen der Zukunft
all die Dinge jcheinen, mit denen wir uns das Bischen Yeben vergällen . . .*
*
Ge- u
342 Die Zukunft.
Die Große Runftausftellung.
er die Große Berliner Kunftausftellung hört man fo viele Klagen,
SEN da man verfucht wird, Einiges zu ihrer Entfhuldigung zu fagen.
Ihr Niveau ift allerdings jchlecht und die Bilder, die in ihr miferabel
find (fie hängen meift im Rundgang und in jenen Räumen, wo über zahl:
reihen Thüren das hilfreiche Wort „Nothausgang* fteht), diefe Bilder mögen
dem ärgften Dilettantismus verdanft worden fein. Man fragt ji, ob bei
ihrer Annahme den Ausftellungvorftand nicht ein doch zu nichts nützendes
Mitleid leitete. Was kann den armen Malern, die diefe Bilder eingejandt
haben, ihre Austellung helfen, da fie fo gehängt wurden? Der Ausitellung-
vorftand war großmüthig: er nahm ein Gemälde an, das in einer violetten
Gegend einen blauen Fluß zeigt, während am Horizont in einem rothen
Streifen die Sonne unterlinft. Aus dem Roth, Blau, Violett entftand ein
trübes Ganze; außerdem jcheint der Maler bei der Heritellung feines Bildes
fi der Vortheile nicht bewußt geworden zu fein, die die Delfarbe wegen
ihrer Gefchmeidigfeit bietet. Dder man fieht ein Herrenportrait, auf defien
weiße Weſte und Stirn überflüfiger Weife — überflüjjig, weil die Dar:
ftellung nicht überzeugend wurde — das Sonnenlicht fällt. Man denkt vor
diefem Bilde daran, wie in dem guten alten Zeiten die Maler ich einfache
Motive wählten und fie in Bollfommenheit wiedergaben, während heutzutage, —
und fo weiter. Und gerade die Dilettanten wählen die jchwerjten Motive aus.
Dennoch können diefe Bilder für die berliner Ausftellung nicht ver—
hängnißvoll fein. Denn jeder Befucher der parifer Salons erinnert ſich,
an wie vielen Bildern er.dort alljährlid in unfagbarer Langeweile vorüber-
geſchritten iſt. Dieſe Bilder waren ohne Zweifel befier gemalt. Doc diefer
Unterfchied bedeutet nicht viel. Nicht, weil fie mehr oder weniger fchlecht
gemalt find, jondern, weil die Künitler, die fie fchufen, matt find, deshalb
wirfen in allen Ausitellungen die „vielzuvielen* Bilder lähmend. Und die
Sezeiftoniften, von Paris wie von Berlin, wußten fehr wohl, weshalb jie
vor Allem daran gingen, ihre Ausitellungen auf einen fleineren Umfang
zurüdzuführen; in den bejchränften Räumen, mit deren Arrangement fie ſich
befaßten, hatten jie es unendlich leichter als ihre Kollegen von den offiziellen
Ausstellungen, interejlante Ausftellungen zu Stande zu bringen.
Die Große Berliner Kunftausftellung leidet außer an der Ausdehnung
ihrer Säle daran, daR ihr Publikum eine Unterhaltung erwartet. Diejen
Unterfchied zwiichen der Großen Berliner Kunftausjtelung und der Sezeſſion
macht man fich lächelnd Far, wenn man in der Großen Kunftausftellung
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Die Große Kunftausftellung. 343
vor einem Bilde ftehen bleibt, das eine junge Dame in alterthümelnder
Tracht an einem Saffeetifch am offenen Fenſter (mit einem Blumenarrangement
und im Sonnenfchein) zeigt und das den Vermerk „Verkauft“ trägt, —
dieweil in der Sezeſſion der Vermerk „Verkauft“ nur an ſolchen Werfen
fteht, die den. Stempel des Unvolfsthümlichen gerade in der fchärfiten Form
offenbaren. Für die Erörterung in diefem Zufammenhange ift es einerlei,
ob zum Theil der Terrorismus, den die Zeitungen ausüben, mit ſolchem
verwunderlichen Verkauf unvolfsthämlicher Werke im Zufammenhang jteht.
Jedenfalls ift ficher, daß, wenn vielleicht das Publifum der Sezeſſion
auf die Aeußerungen der Zeitungen achtet, die Kunftfreunde in der Großen
Kunftausftellung naiv find. Im ihr treffen Menfchen zufammen, die nicht
gelonnen find, Sich von Zeitungen und Zeitfchriften rathen zur laſſen, welche
Bilder zu bewundern find. Man geht feiner Laune nah. Und danır fchallen
aus dem Hintergrumd, leife, aber verriehmlich, die Klänge einer Muſikkapelle.
Nach der Belichtigung der Bilder wird man in den Parf gehen.
Diefer Charakter der Ausftellung, den eine langjährige Ueberlieferung
geichaffen hat, giebt ihr Etwas von einem bürgerlichen Vergnügen. Man
fann gegen diefe Tradition fich nicht auflehnen. Man wird der Auftellung-
leitung mildernde Umftände bewilligen müſſen, wenn es ihr nicht gelungen
fein follte,.die Austellung rein künftlerifch zu machen.
Und dann bedenke man auch die Nebenftrömungen. Da find Bildniffe
von Dtto von Krumhaar. Sie unterscheiden ſich von den Bildern der
Dilettanten, die in die entlegeneren Räume relegirt worden find, dadurch),
daß ihr Berfertiger allerdings nicht die ſchwierigen Aufgaben, fondern die
leichteften Motive wählte, um fie unvolllommen auszudrüden. Das gab ihnen
aber noch fein Recht auf viel beſſere Pläge. Doc Hängen jie nicht zur
Genugthuung des Ausjtellungvoritandes da. Ein Ausitellungvorftand hat
um fo vielfachere Nüdjichten zu üben, je ausgedehnter der Kreis ijt, über den
die Ausstellung ſich verbreitet. Dem diesjährigen Ausftellungleiter iſt es
nicht in höherem Maße als einem feiner Vorgänger gelungen, der Mißlich—
feiten Herr zu werden, die fich einer Fünftlerifchen Geftaltung der Großen
Austellung entgegenfegten. Doch wenn felbft eine emergifchere Hand als
die des Profeffors Arthur Kampf die Zügel ergriffen hätte, fo würde nod)
immer in der MWeitläufigfeit der zu füllenden Säle und in den Wünfchen
vieler ihrer Befucher feine Verfchiebung herbeigeführt worden fein.
Die Werke, mit denen jih Kampf an der Ausftellung betheiligte, find
ſchwach. Sie find von einer betrübenden Gleichförmigkeit; e8 wird feine
Spur von Empfindung in ihnen fichtbar, fie find akademiſch mit einem Zus
ſchuß von Düffeldorfertfum. Zur larmoyanten und falten Spezialität des
düffeldorfer Koftümgenres gehört Kampfs Bild, deſſen Thema wahrlid eine
344 Die Zukunft.
fräftigere Ausführung hätte hoffen laflen, von „Friedrich dem Großen nach
der Rückkehr aus dem Giebenjährigen Kriege in der harlottenburger Schloß:
fapelle“ ; auf die in Düfjeldorf von E. F. Leſſing bis zum Profeſſor Janſſen
betriebene Monumentalkunft weiſen feine Entwürfe für Wanbdbilder hin, bie
für das Kreishaus in Aachen beftimmt find. Vor diefen Kartons hätte
Cornelius fih im Grabe umgedreht, während C. F. Leſſing bei. ihnen er—
wogen haben würde, wie fchön es fei, dar auch jegt noch eine Kunſt, die
manche Selige eine Surrogatfunft nannten, in weiten Streifen gejhägt werde.
Abſcheulich berührt an diefen Kartons die Negelmäigfeit. Man fehe auf
dem einen Eutwurf die Kinder an und vergegenwärtige ich die Kinder von
Knaus auf feinem Bilde in der Nationalgalerie „Wie die Alten jungen“
(nad welchem Gemälde jih Kampf ein Wenig gerichtet hat)... Man betrachte
nah Kampfs anderem Karton, der Arbeiter bei und nach der Arbeit zeigt,
die Arbeiter auf Menzels „Eifenwalzwerf*. Man vergleiche die mathe:
mathifch gemachten Kinder und Arbeiter bei Kampf mit den Kindern bei
Knaus, mit den Arbeitern bei Menzel.
Es iſt jo entjeglich verkehrt, zu meinen, daß, aud wenn der Athen
für Monumentalfunft nicht vorhanden iſt, Monumentalfunft damit hervor-
gebracht werden könne, dan Modellftudien gruppirt und des individuellen
Ausfehens beraubt werden.
Ein Dealer, der Dergleihen thut, ſetzt ſich lediglich zwischen zwei
Stühle. Aus feinen Studien nad dem lebenden Modell reift er das Leben,
den Neiz des Lebens, die Intimität, — und Monumentalfunft wird es nicht,
weil Etwas nicht dadurdy monumental wird, daß an die Stelle der Mannich—
faltigkeit und reichen Unregelmäßigfeit des Lebens einige willfürliche Linien
treten. Ein Werk ift nit darum monumental, weil es arm von Leben ift.
Ein Werf wie diefes iſt vergrößerte und dabei unleidlich vergröbertes Genre.
Schade um die Winde dieſes Kreishauſes.
Ein harakteriftifches Werk der Großen Kunftausftellung iſt das Por-
trait der „Gräfin H.“ vom Profeffor Grafen Harrach. In diefem Bild
Ipricht eime echtere Kunſt als in allen Einfendungen von Kampf: hier war
Etwas zu jagen. Freilih ift Das mehr eine inhaltlich feſſelnde Erzählung
al3 eine gute Malerei. Dies Bild berichtet von Helden und Sieg, von
Treue und Vaterland, von vaterländifcher Geſchichte. Es enthält auch mehr
Geſchichte als Nöchlings beide gemeinen Schlachtengemälde von Kolin und
Hohenfriedberg. Es iſt nicht gut gemalt, troden, mehr gezeichnet als gemalt,
die Edjultern und der Naden ind geradezu fchledht, aber von feinem Blut
durchriefelt iſt das zarte Fleisch des befchatteten Geſichtes und anſchaulich
ind die Haare behandelt. Es ijt viel naives Talent in dem Bilde Man
findet eim ſolches Bild nicht in der Berliner Sezefjion, man findet,. möchte
Die Große Kunftausftellung. 345
man fagen, im feiner Sezejjion-Ausftellung der Welt ſolches Bild, das über:
zeugt Thron und Alter vertheidigt. Wir haben in England und Frankreich
freilidd Maler der großen Welt gefehen; jie konnten jedoch dieſe Reinheit
nicht geben. Schade, daß Harrach nicht Maler ift. Was ihm fehlt? Das
entnimmt man vielleicht dem daneben hängenden, übrigens, trogdem der Dialer
Talent hat, nicht guten Bilde von Dettmann. Dies ijt ein tolles Bild.
Ein „Friefiiches Lied“ follte dargejtellt werden. Die Stimmung, die auf
der Stirn der Heineren frieifhen Dame leuchtet —: wenn die Fähigfeit, irgend
‘ einen Hauch, eine Bewegung der Luft, über den Körper fliegen zu laffen,
in Harradh läge oder von ihm erworben worden wäre, dann würde er
Maler fein.
Guſſows ftupend gemaltes Bildnif der „Frau Bürck“ hinterläßt einen
gemifchten Eindrud. Die Technik und Frau Bürd Haffen auseinander. Die
Technik ijt eine den Malern früher Zeiten nachgeahmte, man denkt an Stopijten-
und Rejtauratorenthätigfeit; und Frau Bürd ift feine Erfcheinung, die fich
für eine Malerei in der Art der Primitiven eignen würde; fie hat ein voll»
ftändig. modernes Geliht; fo erklärt fi der Widerſpruch. Man denkt an
Zolas Wort: „Ein Kunſtwerk ijt ein Winkel der Schöpfung, gefehen durch)
ein Temperament“, um fich daran zu erläutern, daß Gufjows Bild fein
Kunſtwerk if. Zugleich freut man fich über die Fortfchritte der Menjchheit,
da die Menfchen früher Guſſow für ein Temperament hielten und fid) jest
darüber einig wurden, daß er nur ein Techniker ift.
Gari Melchers wirkt auch nicht mehr überzeugend; allerdings ift es
ein ziemlich fchlechtes Bild, das er auf der Ausjtellung hat, fein „Roth—
läppchen.“
Das große Hiſtorienbild Benliures verſtimmt nicht, beſchäftigt aber
auch nicht.
Als vor Kurzem Julius Groſſe ſtarb, las man, ein Redakteur vom
Rheinischen Courier habe ihm eine Warnung ertheilt, nicht nad) Weimar zu
gehen; in Weimar, jagte er, würde er ein Pflänzchen fein, das zwifchen den
großen Bäumen im Schatten ftehe. Daran darf man denken, wenn man in
der Großen Ausjtellung in das Kabinet von Louis Kolig tritt.
Diefer Maler hat in Kaffel im Schatten der Galerie gewirkt. Staffel
ift eim gefährlicher Ort für Maler: die Galerie ift dort wundervoll; eine
malerische Vorſtellung in der falten Beamtenjtadt kann nicht auffonmen;
nicht3 hält der Galerie die Wage. Kolig gerieth in den Bann diefer Sammlung.
Was in feiner Spezialausftellung aber auffällt, ift nicht das Stellerartige im Licht
jeiner Bilder, nicht ihr Schwarz, ihr Tiefſinn, ihre Grabesſtimmung, ihr Eklekti—
zismus: das Alles erwartete man. Was auffällt, ift, auf feinem Selbitportrait
wahrzunehmen, daßer friiche, geröthete Wangen hat; denn Das erwartet man nicht.
346 Die Zukunft.
Man hatte vermuthet, er müßte vom Geifte der Galerie verzehrt fein, bleich,
hohlwangig, aldemiftifch ausfehen. Nun hat er ein gemüthliches Geſicht
und eine goldene Brille; deito beffer. Er fcheint weniger eine Künftlernatur
zu fein, die von den Alten bejeflen it, als ein ruhiges Gelehrtennaturell,
das ihnen in einer gemächlichen Weife folgt. Im feinen Bildern ahmt er
den Alten, meift Jedem für fih und manchmal in Kombinationen, nad.
Das natürlich find feine fchlechteiten Werke. In einer Kriegsſzene von 1870
ift er einheitlih. Er läht die Helmfpigen von Wilhelm dem Erften, Bis:
marck und Moltke leuchten, wie man Metalltheile in den Kriegsbildern ans
dem fiebenzehnten Jahrhundert Leuchten fieht. Verwundert gewahrt man,
dar der alte Wilhelm, Bismard und Moltke doch Uniformen tragen und
nicht Bandenführertrachten aus dem Dreikigjährigen Krieg. Allerdings find
ihre Uniformen fo dunkel geftimmt, wie es nur irgend möglich war, fo dunkel,
daß fie aus dem Ton des „hiftorifch* gehaltenen Bildes nicht herausfallen.
Wie weit das Alles von uns zurüdliegt!
Dann fieht man im feiner Austellung manchmal ein unbefangenes
Talent: von feinem objektiven Bilde von „Fräulein Rehn, Pianiftin“, be-
kommt man den Eindrad der Perfönlichkeit. Um wie viel Lebhafter bedauert
man dann die Verirrung, der der Künftler anheimfiel! Man freut fich, daß
die deutfche Malerei den Weg der Lenbah, Canon, Kolis, den Weg, den
einſtmals Fabricius ging, energiſch und hoffentlich auf immer verlaffen hat.
Bon Lenbach fieht man ein Bildniß der „Frau F.“, nicht einmal ein
fchöner Reſt, — was Lenbach betrifft. Bon Erdtelt ift ein für die durd
ihn bezeichnete münchener Malerei ganz vorzüglic)es und doc gleichgiltiges
Bild da.
Eher findet man an der Fühlen Malerei von Dänemark Gefallen.
Etwas von der Realität Ausgehendes und dabei ſehr Subtiles ift in diefer
Malerei. Ein Auskommen mit Wenigem. Sie beherrfchen einen hellen Ton.
Einige von ihren Bildern find fehr gut, zum Beiſpiel Schlichtkrulls „Sonnen:
fchein in der Bauernſtube“; Peter Ilſtedt in Kopenhagen giebt ein gutes
Interieur. In Verbindung mit den dänifchen Künftlern iſt Momme Niffen
zu nennen, ein Deutjcher, der nah der dänischen Grenze, in Niebüll, zu
Haufe ift. Niffen zeigt einen friefifchen Bauern in feinem alten Hausrath.
Ausgezeichnet iſt das Sonnenlicht wiedergegeben und das Holz des Tifches,
die Stühle mit den Kiffen; Alles iſt wahr, dabei fünftlerifch zur Er—
ſcheinung gebracht.
Bei den Dänen fühlt man mehr Poeſie, Sehnen, man merkt, daß
fie das Reale wiedergeben, weil es die Unterlage ihrer Stimmung. bildet.
Momme Niffen dagegen giebt da8 Neale wieder, weil es ift: vechnerifch giebt
er es wieder, nicht muſikaliſch.
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Die Große Kımftausftellung. 347
Ein Gegenbild zu Momme Niffen gewährt Kuehl in feinen kofetten
und malerijch zugejtugten Interieurs. Die Dänen geben die Zimmer, die
fie uns um ihrer Poeſie willen zeigen. Momme Niffen zeigt Zimmer wegen
ihres Gegenftandes. Kuehl malt Interieur wegen des „Maleriſchen“. Er—
wirft aufdringlich, mit überfadenem Putz, — in einer gewilfen Weiſe wie
einige Wigbolde der italienischen Schule. Auf einem der von ihm gemalten
„JInterieurs“ gleitet ein Sonnenftrahl über einen’ dunfelgrünen alten Koffer
mit eifernen Vorlegefchlöffern, vorn jteht ein rother Seffel, nad) hinten blickt
man in einen Naum, in dem die Sonnenftrahlen einen — leider Farbe
gebliebenen — Tanz aufführen, wobei Kuehl wohl an ein Wunderwerf der
modernen Malerei, an die Gobelinftiderinnen von Velazquez, gedacht hat.
Diefer Theil feines Bildes jieht wie eine heftige Parodie aus. Im nicht
geringerem Grade übertrieben, überläden, unmöglich wirkt ein anderes Bild
von ihm, „Das blaue Zimmer“.
An einem Bilde eines feiner Schüler findet man mehr Gefallen: der
Maler heizt Edmund Körner, das Bild „Im Schatten“. Es ift eine Arbeit,
die im ihrer Kompofition und ihrem Farbengange auf Kuehl, wie er im feinen
älteren Bildern war, zurüdgeht und, fo weit Das bei diefer Art möglich
it, einfach anmuthet.
Der der Architeftur gewidmete Raum ift offenbar nicht dafür ein-
gerichtet, daß Befucher fonımen. Man will auf dem großen Tiſch die dort
ausgebreiteten Publikationen fehen: man nimmt feinen Stuhl wahr, um ſich
an diefen Lefetifch niederlaffen zu fönnen, wohl aber nahen aus den Neben—
räumen zwei Wächter, die darauf paflen, daß ſich der ungewohnte Gaft nicht
der Publikationen bemächtigt. Unbehaglid.
In die Möbelfojen hat man eine Einrichtung in Mahagoni zugelafien,
von der man nicht weiß, wie jie in die Hunftausftellung gerathen konnte,
ftatt in die Auslage eines Möbelmagazinsd. In diefem Theile der Aus—
ftattung jehnt man jich nach Menfchen. Man entbehrt hier felbit die Muſik;
jie dringt nicht bis hierher. Man geht ins Freie; auch im Park ift es un—
behaglich; und man fehrt der Ausstellung den Nüden.
Herman Helferid).
tot,
548 Die Zukunft.
Derfelbe, Diefelbe, Dajfelbe.
SB: haben wir auf der Schule über die perſönlichen Fürwörter im Deutichen
gelernt? Nicht wahr, daß fie heißen: id), du, er, fie, es, wir, ihr, jie?
Das haben wir in den unterjten Klaſſen gelernt; und hätte man uns dieſe jo
nüßliche Kenntnig mit dem jelben Nachdrud aud in den höheren Klaſſen be-
feitigt, jo gäbe es in der deutſchen Literatur, in der hohen, der mittleren und
der niederen, nicht einen der twidermärtigiten, von Ärgjter Stumpfheit des Sprache
finnes zeugenden Stilfehler. alt in jedem Buch und fiher in jeder Zeitung,
die uns in die Hände fommen. Ein Sefundaner, der ſich unterjtehen wollte,
in einer lateinifchen Arbeit is und idem zu verwechſeln, oder der in einer franzö-
fiichen jchriebe: Philipp war der König von Makedonien, le fils du m&me 6tait
Alexandre, würde von dem ergrimmten Lehrer nad) Berdienjt angeſchnauzt werden;
und wiederholte er dieſen ſprachlichen Unſinn öfter, jo bliebe er ſitzen. Im
Deutichen aber wird die Lehre von den perjönlichen Fürwörtern ich, du, er, fie,
es in den oberen Klaſſen mißachtet und — ich habe mich jelbit aus Schüler-
heften davon überzeugt — das berüchtigte derjelbe, diejelbe, dafjelbe hält feinen
Einzug in den Sprachſchatz der armen, übel behüteten ungen, ohne daß der
Lehrer — natürlich mit Ausnahmen — es für nöthig findet, ihnen dafür den
didjten Nothitrih an den Rand zu malen. Bon der Schule pflanzt fich der
Mißbrauch ins Leben fort; und jo findet man in fajt allen amtliden Schrift-
ftüden, in den meiften Büchern und allen Zeitungen diejes jedem feineren Sprad-
gefühl unerträglich verhaßte jchleppende dreijilbige Ungethüm.
Daß der deutiche Sprachunterricht auf unjeren Schulen, bejonders auf
den höheren, nichts taugt, darüber find alle deutſchen Schriftjteller einig. Wie
fommt es nun, da nur die Wenigſten von ihnen die jo naheliegende Folgerung
für ſich jelbft daraus ziehen: da ich auf der Schule nicht ordentlich Deutſch ge
lernt habe, nicht mit folder grammatiichen Strenge wie Lateiniſch, Griechiſch
und Franzöfiich, jo muß ich, da das Schreiben der deutjchen Sprache mein Beruf
tt, im Leben nachholen, was in der Schule an mir verjäumt wurde? In den
legten zwanzig Jahren iſt eine ganze Reihe vortrefflicher Hilfsmittel, wern nicht
für qutes, jo doch für fehlerlojes Deutſch erſchienen: die Bücher von Andreſen,
Wuſtmann, Deinge, Otto Schröder jind nicht unbekannt und auch nicht ganz
ohne Wirkung geblieben. Mir fcheint aber, daß gerade die Schreiber von Beruf,
alio die Männer von der Buchliteratur und von der Zeitung, von diefen Dilfs-
mitteln den geringjten Gebrauch machen. Sie reden fid) wahrjcheinlid ein, wie
Herr Jourdain bei Moliere, daß man eben nur zu ſprechen brauche, wie Einem
der Schnabel gewachſen, oder die Feder übers Bapier laufen zu laffen, um „Proſa“
zu erzeugen. In Frankreich ift der Mitarbeiter des kleinſten Provinzblattes un—
möglich, wenn er nicht mindeitens fehlerloſes Franzöfiich jchreibt; Deutſchland ift
das einzige große Literaturland, wo man die Ärgjten grammatiſchen und ftiliftijchen
Fehler begehen und noch immer für einen großen Schriftiteller gelten kann.
Für die deutichen Männer von der ‚Feder kann man neben vielen anderen
Eintheilungen auch ganz; getrojt diefe vornehmen: in Schriftiteller mit und im
Schriftſteller ohne „derielbe, diejelbe, dajjelbe‘‘. Leider ift die Zahl ber legten
oder, wie die Schriftiteller mit derjelbe, diefelbe, dafjelbe jagen würden: „der
Derfelbe, Diefelbe, Dafjelbe. 349
legteren‘, die überwiegend größere. Die Stumpfheit gegen den Ungeſchmack,
der in dem jteten Gebrauch des pedantiſchen dreifilbigen „derjelbe* jtatt des ein-
filbigen ſcharfen „er ſteckt, wurzelt jo tief ſelbſt in manchen nicht üblen Schrift—
ſtellern, daß die ſchärfſte Hinweiſung auf dieſen Unfug ſie nicht überzeugte. Otto
Schröder hat in ſeinem prächtigen Büchlein „Vom papiernen Stil“ mit allen
Waffen des Spottes, des Zornes, des ruhigen Ueberredens gegen dieſen ärgſten
Fehler deutſchen Stils gekämpft, das Büchlein hat auch viele Auflagen erlebt,
es hat in allen jpäteren Sprachbüchern Unterjtügung gefunden; doch genüßt hat
das Alles recht wenig.
Der Ungefhmad und die Sprachwidrigfeit von derſelbe! ſtatt „er“ liegt
nicht in der ſchleppenden Dreiſilbigkeit, obgleich ſchon ſie jeden Schriftſteller mit
ſprachlichem Feingefühl zur Wahl des einfachen und kurzen „er“ zwingen müßte.
Leider konnte nur ein Franzoſe, Muſſet, die ſprachliche Grundregel für alle
Schriftſteller ausſprechen:
Non, je ne connais pas de métier plus honteux,
Plus sot, plus dögradant pour la nature humaine,
Que de se mettre ainsi la cervelle à la gene,
Pour &crire trois mots quand il n’en faut qu'un seul.
Noch ichlimmer als die Schwerfälligfeit tft, daß „Derjelbe‘ auf eine Gleich—
heit mit einem vorangehenden Worte hinzuweiſen jcheint, die in den meilten
Fällen entweder gar nicht vorhanden ijt oder die troß dem jcharfen Hinweis
unflar bleibt oder auf die eigens hinzuweiſen, überflüfiig, lächerlich und pedantiſch
ift. „Der Unterjtaatsjefretär im Reichspoſtamt Fritſch, welcher vor längerer
Zeit feinen Abſchied erbeten, hat jeßt denjelben vom Kaiſer unter Verleihung
des Titel Excellenz bewilligt erhalten. Wer fühlt nicht, wie jchleppend und
zugleich lächerlich bier „denjelben” ſtatt „ihn“ Elingt? Man wird einmwenden: Das
iſt Geſchmacksſache. Gut, nad) einem ſchönen altjpaniichen Sprichwort „ſind
die Geſchmäcker verjchieden, aber es giebt joldhe, die Prügel verdienen‘; es giebt
auch einen Hörgeichmad, der einen um ein Biertel zu hohen oder zu niedrigen
Ton ohne Bein erduldet, während ein mufifaliiches Ohr dabei leidet, wie wenn
ein jtumpfer Griffel quietichend über eine Schiefertafel hinfährt. ‚Auf jeinem
Nittergut im Kreife Honig ift Herr Oskar Wehr gejtorben. Derjelbe vertrat
früher den Tandtagswahltreis Konitz-Schlochau.“ Nur ja: Derjelbe! Wie leicht
fönnte man jonjt auf den Gedanken fommen, es handle ſich um einen Anderen.
In der jelben Nummer der jelben Zeitung, worin dieſe Nachricht jteht, finde
ich die Erklärung eines Yandraths: „Dem vorigen Streisblatt hat eine Abonnements:
empfehlung für die Danziger Zeitung‘ beigelegen. Ich bitte die Leſer derjelben,
nicht zu glauben, daß ich ein Abonnement auf die „Danziger Zeitung‘ empfehle.“
Mit Recht fügt die Redaktion diefem „derjelben‘ in Klammer hinzu: „Wellen?
Der ‚Danziger Zeitung‘? Spottet ihrer ſelbſt und weiß nicht wie.
Den meilten Schriftitellern und Zeitungichreibern tft ganz aus dem Be-
mwußtjein entichwunden, dab es eim deutiches Wort „deſſen“ giebt. Man kann
dide Bücher und blätterreiche Zeitungen durchlefen und findet diejes jo nützliche
Wörthen nicht ein einziges Mal, dafür aber auf Schritt und Tritt das ftelz-
beinige „deilelben“. Woher mag das dreifilbige Ungeheuer ftammen? Das
ältejte Deutich kennt es überhaupt nicht. Es taucht in der Literatur erjt im
350 Die Zukunft.
fiebenzehnten Jahrhundert auf, auch nur ganz vereinzelt und noch nicht mit der
völligen Ueberflüfjigteit wie heute. Wahrjheinlid rührt es von der deutſchen
Kanzleiſprache ber, die ja ſelbſt urjprünglid nichts Anderes war als Ueber-
jegungdeutih. Ich glaube, Otto Schröder, der dem bdreifilbigen Scheuſal jein
halbes Büchlein gewidmet hat, iſt doch nicht auf den wahren Urjprung verfallen.
Ganz fiher bin auch ich nicht, ihn entdedt zu haben; meine Vermuthung aber
mag hier jtatt irgend einer anderen jtehen; man überjepte filia ejus: die
Tochter defjelben! Dem Franzofen bei jeinem feinen Spradjfinn wäre es nie
eingefallen, fi durch eine fremde Sprade in dem natürliden Gebraud der
eigenen beirren zu lafjen; nie hat ein franzöfiicher Kanzleifchreiber oder gar
Schrififteller Alia ejus anders als durd sa fille, niemals durd) la fille du
möme überjegt. Im Engliſchen iſt es eben jo; bier dient jogar the same
jtatt he oder she zur abjidtlidhen Kennzeichnung der Sprechweiſe ganz unge»
bildeter Menjchen. Auf den deutſchen Gymnaſien wird mit rührender Gedanten-
lojigfeit Allia eius fait nur durch die Tochter defjelben, jehr jelten durch jeine
Tochter überjegt; und: jung gewohnt, alt gethas.
Das Spaßigite dabei ift der von jedem Leſer täglich zu machende Ver-
juch, ſich derjelbe, diejelbe, dafjelbe einfach dadurh vom Halſe zu ſchaffen, daß
man fie ganz wegläßt; jie find meift eben jo überflüffig wie geſchmacklos. Was
joll man dazu jagen, wenn man in einer Kinderfibel (von Wihmann und Lampe)
für die unterjte Stufe der Gemeindeſchulen in einem Leſeſtückchen über „Die
Zeit“ folgenden herrlichen Saß findet: „Der Anfang des Tages heißt der Morgen,
die Mitte deijelben (des Morgens?) der Mittag.“ Ein bejonders aufgewedtes
Kindchen fragte jeine Mutter: „Was ijt denn dejjelben? Das ift ja gar nicht
wahr!" Das fiebenjährige Mädel hatte einen feineren Sprachſinn als die Ver—
fafler der Fribel; es hatte „defjelben“ auf den Morgen bezogen; und warum jollte
es nicht? Die Mutter wußte dem Kinde nicht zu rathen; ich rieth ihm (dem—
jelben!): „Streihs weg!" Mit ausgelafjener Freude jtrich es (dafjelbe!) das
überflüjfige Zeug weg; und, fiehe da: der Sa war nicht nur kürzer, jondern
auch verjtändlicher geworden. „Die jtädtiichen Behörden dürfen ſich nicht von
einem unteren Beamten der Krone abfertigen lafjen durch die Weigerung des—
jelben, die Akten höheren Orts zu unterbreiten.“ Man jtreiche „deſſelben“, — und
die Sade ift in Ordnung. „Wenn das Nohr aud) nicht gerade eins der optiſch
ftärkjten ift, jo erfüllt es doc jeinen Zweck, dem Bublitum den Anblid der
Wunder des gejtirnten Himmels zu ermöglichen, vollauf. Wir bringen neben»
jtehend vortrefflihe Abbildungen deſſelben.“ Dejjelben? Welches jelben? Des
Dimmels? Wahrſcheinlich nicht, Jondern des Rohres. Man jtreiche „deſſelben“ —
und man iſt aus aller Werlegenheit.
Das Tollfte leijtet in diefem Punkt das widtigite Stüd öffentlicher
deuticher Literatur: die Neichsverfajlung. Nicht ein einziger Artikel (derfelben!),
in dem auch nur die entfernte Möglichkeit zur Einſchmuggelung des verhaßten
Dreifilbers bejtand, ift von dem Verfafjer (derfelben!) verfchont geblieben. Ich
weiß nicht, weldyer hohe Staatsbeamte mit der ftiliftiichen Faſſung (derfelben!)
betraut war; wohl aber weiß id, daß fein Spradigefühl von äußerjter Stumpfe
heit gewejen fein muß. Man jehe jich die Verfafjung einmal an: faft jeder
Artikel wimmelt von derjelbe, diejelbe, diejelben, defjelben u. f. w. Die Folgen
Derſelbe, Diefelbe, Dafielbe. 351
jind nicht ausgeblieben: Mißverſtändniſſe aller Art entitchen gerade durch diejen
Mißbrauch. Im Artikel 8 heißt es: „In jedem diejer Ausſchüſſe werden ...
mindejtens vier Bundesitaaten vertreten jein und führt (ſchönes Deutſch!) inner=
halb derjelben jeder Staat nur eine Stimme.“ Welder derjelben? Der vier
Bundesftaaten oder der Ausihüfle? Eins der jchönjten Beifpiele für die Gram—
matik der Neichsverfaffung bietet der erjte Abjaß des Artikels 53: „Die Kriegs—
marine des Neiches ift eine einheitliche unter dem Oberbefehl des Kaiſers. Die
Organijation und Zufammenjegung derfelben liegt dem Kaijer ob, welcher die
TI ffiziere und Beamten der Marine ernennt und für weldyen diejelben nebft ben
Mannſchaften eidlich in Pflicht zu nehmen find.“ Um jo erjtaunter ijt man,
auch einmal das Kleine Wort „deilen“ zu finden. Wenn man im Artikel 11
left: „Zur Erflärung des Krieges ift die Zujtimmung des Bundesrathes er»
forderlich, es jei denn, dai ein Angriff auf das Bundesgebiet oder dejjen Küſten
erfolgt“, jo fragt man ji, warum der Verfaſſer nicht auch hier nach jeinem
lieblichen Gebrauch gejchrieben hat: auf das Bundesgebiet oder die Hüften des—
jelben, Hätte man jenem Staatsmann die Bibel zur Fanzleimäßigen Umarbeitung
übergeben, wir würden wahrjcheinlich als erjten Vers lejen: „Im Anfang jhuf
Bott Himmel und Erde; leßtere war wüſt und leer und war es finjter auf der—
jelben“; und manche ‚gebildete‘ Lejer würden keinen Anſtoß daran nehmen.
Treibt man die Feinde des einfilbigen Fürwortes, die „Unentwegten“
des Dreijilbers, in die Enge, jo fommen fie unfehlbar mit Leſſing, Goethe und
Sciller angerüdt. Jawohl, auch unjere drei Größten bedienen fich zuweilen
des Dreifilbers ftatt des Einfilbers. Warum jollten fie nit? Hatte man ihnen,
die doch aus dem Sprachwuſt des jiebenzehnten Jahrhunderts erſt eine gebildete
Sprade jhaffen muften, etwa in der Stinderlehre gejagt, wie man die Mutter-
ſprache richtig zu Schreiben habe? Das hatte man Voltaire, Diderot und Rouſſeau
gelehrt. Aber man komme überhaupt nicht mit joldhem Einwand, wenn man
nicht auch jonit dem Yejer etwas Achnliches zu jagen weiß wie Leſſing, Goethe
und Schiller. Auch bei unſeren Klaſſikern findet man Sprachfehler; ſobald
unſere heutigen Dutzendſchriftſteller und Zeitungſchreiber im Uebrigen als Klaſſiker
gelten dürfen, ſollen ihnen alle Sprachfehler verziehen werden. Man iſt als
Schriftſteller oder Zeitungſchreiber nicht verpflichtet, ein Klaſſiker zu ſein; aber
man ſollte, denke ich, verpflichtet ſein, in der minderwerthigen Literatur, die man
im beſten Falle erzeugt, wenigſtens erträglich richtiges Deutſch zu ſchreiben.
Uebrigens kommt die Pedanterei mit „derſelbe“ bei unſeren Klaſſikern äußerſt
ſelten vor, eigentlich nur als Folge einer gewiſſen Läſſigkeit, als Ausnahme.
Otto Schröder hat feſtgeſtellt, daß in Goethes ſämmtlichen Schriften von 1771
bis 1814, alſo auch in der Zeit ſeines ſchon beginnenden Geheimrathſtils, nur
an hundertundachtzig Stellen der Dreiſilber ſtatt des Einſilbers ſteht.
Eine durchgreifende Beſſerung kann nur die Schule und das gute Bei—
ſpiel des Buch- und Zeitungdruckes ſchaffen. Heute, wo die alten Sprachen im
Unterricht mehr und mehr abbröckeln, ſollte unſere oberſte Schulverwaltung mit
größerer Strenge als bisher die Sprachrichtigkeit im Deutſchen einſchärfen. Aller⸗
dings würde dazu gehören, dal; unjere höchſten Schulbehörden jelbjt über ein
mujtergiltiges Deutjch verfügten. Ob fie ſich Deſſen rühmen dürfen, will ich
für heute ununterjucht lajien. Eduard Engel.
A 26
352 Die Zutunft.
In der Arbeiterfolonie.
Siner der wißigiten Kerle jchien mir der Lampenputzer zu jein. Er wußte
> ic) allerdings einen Schein von Blödigkeit zu geben. Und mit einem
gewiflen Stumpffinn pußte und wiſchte er an den Lampen herum. Die Unter-
haltung der ihn Umftehenden beachtete er fajt gar nicht. Mit peinlicher Sorgfalt
padte er, wenn er die beiden Hängelampen im Saal und die Fleinen Blend»
lampen der Schlafräume gereinigt und friſch gefüllt hatte, feine Lappen und
Bürſten in die kleine Stifte, nahm fie unter den Arın, in die Dand die Petroleum-
fanne und zog weiter, in den Nebenjaal.
Mit jeiner blauen Bloufe, feiner grünen Schürze und der flahen Mütze,
die er jtets jehr grade trug, nie auf das eine oder das andere Ohr ſchob, jah
er aus wie ein braver, pflichtbewußter Kleinbürger. Er glid einem jener Menſchen,
die den ganzen Tag ihre glatte Straße hinablaufen, ſich abends in einer be-
jtimmten Kneipe an einem bejtimmten Tiſch mit bejtimmten Kameraden betrinten
und immer im jelben Bett, neben der einen Frau, ihren Rauſch ausjchlafen, —
um am nächſten Tage wieder glatt ihre Straße binabzulaufen. Seine grauen
Augen waren jo verglaft und blidten jo ruhig gradeaus, als könnten fie nie
in Zorn und Daß gefunfelt haben, als leuchte hinter ihnen im Kopf fein Wunſch,
fein Verlangen und feine Hoffnung. Aber diefe Starrheit ſchien mir nicht ganz
echt zu fein. Und als ich ihn mehrmals gejehen hatte, wie er mit älteren In—
jaffen der Kolonie vergnügt und harmlos jcherzen Konnte, mit leichtem, ver-
ihmigtem und jorglofem Laden, wußte ich nicht, ob ich einen ganz abgefeimten
Burſchen oder einen fimplen Spießbürger vor mir habe, einen Spießbürger, der
entweder Unglüd gehabt hatte oder, wie faft Alle jeiner Art, unfähig gewejen
war, irgend eine jchwierige Situation zu überwinden.
Eines Tages hatte ih ein Packet befommen. Wie es die Anderen
machten, mußte ich es wohl auch thun: Allen, mit denen ich in einem näheren
Zuſammenhang ftand, Etwas von dein Inhalt der Sendung abgeben. Da id
nicht jelbjt Luſt hatte, in den unteren Saal zu gehen, ſchickte ich einen meiner
Nebenmänner mit einigen Gigarren, Apfelfinen und Aehnlichem hinunter. Er
jollte e3 einem älteren Manne geben, der einige Jahre Medizin ftudirt hatte,
fein Studium aufgeben mußte, ſich durch Unterrichtsftunden ernährte, dann aber
Krankenwärter in einer großen Anjtalt geworden war. irgend ein Erlebniß
hatte ihn aus diejer ficheren umd guten Stellung — er war inzwijchen zum
Oberwärter aufgerüdt — vertrieben. Diefer Mann mußte wohl doppelt, drei:
fach fühlen, daß er hier nur ein Geduldeter war, daß er durch Barmherzigkeit
in diefem Daufe ein jammerliches Yeben frifte, — er, ein denfender und grübelnder
Menſch zwiichen ſolchen Yanditreichern, Bauarbeitern, Schmieden, Matrofen und
Trinfern. Am Meiften freute mid, daß ich ihm ein paar Bücher leihen konnte,
in denen Stulturfragen behandelt wurden. Das intereflirte ihn bejonders.
Ich wunderte mich, daß er nicht fam, um mit mir darüber zu fprechen.
Auf Dank rehnete ich nicht. Die meilten Koloniften hatten blutende Herzen.
Sie waren zerfletiicht worden. Man mußte fie mit einem ganz bejonderen
Feingefühl behandeln, mit ganz weichen Händen anfaſſen. Einen Dank ver-
mochten ſie faft nie auszujprehen. Wenn man ihnen Etwas gab, mußte man
In der Arbeiterfolonie. 353
es in bejonderer Art thun, damit fie fich nicht für verpflichtet hielten oder ſich als
weniger beglüdt und hochſtehend empfinden fonnten. So hatte ich denn dem
Mediziner jagen laffen, ich käme nicht als Gebender, fondern als Fordernder zu
ihn. Er möchte doch jo freundlich fein, mir Einiges aus feinem Leben auf-
zuichreiben. Wie er wiſſe, interejfire mic jo was. Und die paar Gigarren und
das Andere jollten eine fleine Vorausbezahlung fein... Er fam nidt.
Am nächſten Tage gehe ich über den Hof nad) einem Stallgebäude, um
mir dort einen Spaten zu holen. Da jah ich den Yampenpußer, der mit der
friich gefüllten ‘Petroleumfanne über die Schwelle trat.
„Ra, wo wollen Sie denn hin?“ fragte er.
„Spaten holen.”
„Na, ihre Hände find aber auch nicht folche Arbeit im Sumpf gewöhnt!“
Er lachte, wie immer den Kopf, ganz in der Weife der meilten Koloniften, ein
Wenig gebeugt. Aber in feinem lautlofen Lachen lag jo viel, daß ich jtehen
blieb. Er hatte jeßt ein ganz anderes Geſicht. Offenberzigkeit, Zutrauen und
etwas Dartes, Selbjtbewußtes waren dort gemiſcht.
Ich jah ihn erjtaunt an. Da meinte er:
„Das war nett von Ihnen, dag Sie an mich gedadht haben. Sie haben
die Sachen nicht dem Falſchen gegeben. Sie haben fich nicht in mir getäufcht.
Uber ih muß Ihnen hier an diejer Stelle frei und offen jagen, dab es mir
al3 Koloniften nicht gegönnt ift, mich mit ſchriftlichen Arbeiten zu bejchäftigen.
Doc) ich befafje mich gern mit Büchern und fchriftlichen Arbeiten. In der Be-
ziehung jollen Sie fi in meiner Perſon durchaus nicht getäufcht haben. Da
find Sie an die richtige Adreſſe gekommen. Die Bücher find fein! Wenn mir
oo der Gene zu viele Worte macht ...“
„sa, jagen Sie mal, die Bücher haben Sie bekommen?“
„sa! Sie follen fi) auch nicht in mir getäujcht haben. Denn das Zeug
zum Nufjchreiben von mein Leben befiße ich wohl. Aber, fehen Sie, da guet
Eener und da. Die janze Bude id voll, der Augen find mir zu viele, um
meine reihhaltigen Sammlungen von reinen, wahren und nadten Thatſachen,
die ich in meinen verjchiedenen Lebenslagen und auch in meiner jeßigen als
Koloniſt gejehen habe, vor Aller Augen in jolchem Gefchiebe und Gedränge im
Aufenthaltsraum zu notiren. Da hat man doch feine Ruhe, da hat man dod)
nicht die Geiſtesſammlung, die man dazu braudt. Und Sie wiſſen ja aud): der
einzigite jichere und zugleich einem Jeden zuerfannte Platz, Das ijt blos nachts
das Bett. Und ſonſt ift man den ganzen Tag auf den Beinen. Kommen Sie
in den Stall, dann ſieht uns Steiner und wir fünnen in Ruhe erzählen”, unter-
brach er fich, jchob mich zur Thür hinein und lehnte fie hinter ung an.
Wir ftanden einander dicht gegenüber. Der Raum war mit erdigen
Haren, Spaten, Starren und allerlei Adergeräth angefüllt. in dem Dämmer-
licht Fonnte ich nur wenig vom Geſicht des Yampenpußers erfennen. Er jtredte
mir jeine Hand bin: „Willen Sic, als Der mir die Gigarren und die Bücher
brachte, — na, Sie fünnen fi ja denfen, wie Einem zu Muth ift, der jeit über
zehn Jahren kein Sejchent befommen hat und num plötzlich ...“
Ich z0g mid ein Wenig zurüd, Es war mir unangenehm, daß dem
alten ehemaligen Mediziner die Sachen entgangen waren, daß fie vielleicht ein
26*
354 Die Zuhunit.
Abenteurer ſchlimmſter Sorte befommen hatte. Mit einem jo aufdringlidyen,
ſchwatzhaften Patron wollte ich nicht unnütz Zeit verſchwenden und fagte: „Ja,
es thut mir leid, aber die Bücher und das Andere waren nicht für Sie be—
ſtimmt. Die ſollte der alte Mediziner haben.“
Da ſah ich, wie ſeine Augen ſtarr wurden, wie fie ſich förmlich an mir
feſtklammern wollten. Haſtig antwortete er: „a, ja, Sie find nicht an den
Falſchen gefommen. Ich kann Sie verfidern, daß Sie nicht der Einzige find,
der über mein früheres Leben Aufihluß begehrt. Ach babe ein thatenreiches,
höchſt abenteuerliches Qeben hinter mir. Wenn ic) auch erft einunddreißig Jahre
zähle, jo wundere ich mich doch felbjt, daß ich noch am Leben bin, denn anf meinen
vielbewegten Neijen dur die Südftaaten von Europa ging es haarig her...
Ich bin der Nidhtige für Sie!”
Jetzt hatte ich mich an das matte Licht gewöhnt und konnte jehen, wie
jein Geficht, das die Bläffe der meiften Koloniften zeigte, noch bleicher geworden
war. Und ich machte raſch: „Na, ich glaube es ja; die Saden find zwar an
den Falſchen gefommen, aber Sie find doch der Richtige.“
„Nee, nee, ich bin nicht der Yraliche. Und wenn mir auch die Glüds-
görtin nicht hold gemwejen iſt; und wenn Einer ein jchweres Leben hinter ſich
bat, jo bin ih es. Und jchon mancher jachkundige Dann hat mir für einen
Abrig aus meinem Leben Geld und gute Worte geboten. Doch bis jest habe
ichs jtets verweigert und werde es auch weiter thun, wenn mir nicht die ftrengite
Berfchwiegenheit zugefichert wird. Mein Name darf auf feinen Fall hinein-
gezogen werden. Auf feinen Fall!“
Aha, dachte id), aljo Einer, der nicht gern möchte, daß man daheim er-
fährt, wie es ihm draußen gegangen ift. Das war mir nichts Neues, — und
Schließlich war die ganze Sade nichts werth.
„Sehen ie”, fuhr er fort, „ih muß ficher fein. Das ijt die Haupt-
ade. Und von „ihnen glaube ih, daß Sie Steinen verratben. Wenn Sie
Einem, den Sie faum fennen, Bücher jchiden ..... Sie haben mid richtig er-
kannt. Ich gebe viel auf jo was. Schriften und Bücher habe ich gern.“
Ich verſprach ihm, ihn nicht zu verrathen.
„Nas meinen Sie, wie jie hinter mir her find! Wenn fie mich friegen
fünnten . . Na, was id) habe durchmachen müjlen! Ein dider, runder Sterl war
ich früher. Und dann ein paar Monate hinter Schloß und Niegel, — und
Dant und Knochen blos noch. Und als ich mid; rausgearbeitet hatte, ba war
es mir gleich, was nu wurde; nur nicht wieder hinein. Lieber gleich Alles über
den Daufen.“ Gr biß die Yippen zuſammen und jchnaufte vor Erregung.
Ziſchend fprudelte er hervor: „Wenn fie mid) noch mal fejtnehmen, dann...“
Gr hatte jein Meſſer, eine dolchartige Klinge, gezogen und führte fie gegen die
Brujt: „Und wenns durch und durd; geht, — ich wäre der Erfte nicht, dem ich
Eins verjeßt habe ...“
Ruhiger fügte er hinzu: „Ich will nicht wieder hinein. Ach will nit...
Ind Das it mir die Dauptjache, daß ich jicher fein Fann. Das fann id) bei
ihnen. Das habe ich ‚ihnen glei angemerkt. Sie find der Einzige unter
den zweihundert Dann, mit dem man ein Wort reden kann.“
sch lächelte. Gr: „Nee, nee, blos endlich ficher werden.“
In der Arbeiterfoloitie. 355
Mit dem Fuß ſtieß er die Thür auf: „sit da Jemand?“
Seine Augen waren blutig unterlaufen. Sein dünner blonder Schnurr-
bart jchien mit einem Dal wie gejträubt. Die ſchmalen Flügel jeiner etwas
furzen Naje blähten ſich . . Draußen jtand Niemand.
Mit einem verlegenen Lachen jchloß er die Thür: „Sie müfjen nämlid
wiſſen, daß ich fein Schweizer bin. Ich bin eben jo gut ein Deutjcher wie Sie.
Das darf aber Niemand willen. Ich gehe ſchon unter dem dritten faljchen Namen.
Niemand darfs wiſſen. Niemand! Ich muß ficher fein...“
Mit offenem Munde jah er mid an. Ich beruhigte ihn. Da meinte
er lädhelnd: „a, ja, ich glaubs. Aber wijjen Sie was? Ich jchlage vor, daß
ic; mit Ihnen am Sonntag auf die Felder gehe. Da kann uns Seiner be»
laufen. Hier wird man doch behorcht.“
Er nahm jeine Kanne und ging hinaus: „Am Sonntag, wenn jchön’
Wetter ift, dann fehen wir uns mal’ die Felder an.“
Es war nicht jchön’ Wetter. Uber er hatte mid) doch abgeholt. In
Hagel und Schnee gingen wir über die Sümpfe. Bon drei Seiten waren fie
mit Siefern umſtanden. Der Wind kam von der einen offenen Seite und
bewarf uns und die mattrothen Stämme mit weißlichem Matih. Wir gingen
fo rajch wie möglich in den Wald hinein. Da war es jo ruhig und troden wie
in einem überwölbten Sänulengang. Die bufchigen Wipfel der Bäume drängten
ſich hoch Über uns zu einem dichten, dunklen Dad zulammen. Ziſchend eilte
der Wind darüber hin. Grade und troßig jtanden die braunen, jchlanfen Säulen
da. Jede hatte ihre eigene Zeichnung. Und eben jo aufrecht ging jebt der
Lampenpuger neben mir. Nicht das Geringite von feiner früheren Gebücktheit,
von feiner Leijetreterei hatte er an fih. Mit feitem Fuß trat er auf den mit
Nadeln und dürren Zweigen bejtreuten Moosboden. Das Selbitbewußte und
Harte, das ih einmal an ihm gejehen hatte, ſprach jegt aus feiner Geſtalt.
„sa,“ fagte er, „und wenn fie mid hinter Doppelthüren und hinter ge-
panzerte Wände gebracht hätten: mich konnten fie doch nicht feithalten. Gleich
da3 erſte Mal jagte ich zum Juſtizrath: Schön, gefaßt haben Sie mid. Aber
Sie behalten mich nicht! Ih, meinte er, ſolch Bürſchchen werden wir wohl nod)
bändigen. Sie nicht, antwortete ih, Sie nit. Da find Sie viel zu ſchwach
dazu. Da müſſen erft Andere kommen, die den Mar feithalten wollen.“ Gr
lachte, leicht und luſtig. „Na, und ehe der Herr Juſtizrath mit feiner Unter-
juhung zu Ende war, da hatte id) mir jchon meine herrliche, goldene Freiheit,
allerdings unter den größten Strapazereien, wieder erobert. Mich hatte er nicht
feithalten fünnen.“
Zwiſchen den Stämmen wurde es langjam finjterer. Wir jahen hinaus
nah der Lichtung, über der fi die Wolfen immer dichter und jchwerer zu:
jammenzogen. Max horchte: „Uns kann doch hier Steiner belauſchen?“ Mit jpähen-
den Bliden durchſuchte er das Zwielicht, das zwiihen den Stämmen lag. „Wenn
fie mic) drin auch nicht feithalten können: hinein kann ich doc nicht mehr.
Wenns auch blos ein paar Wochen dauern jollte, bis ich hinaustomme. ch
halts nicht mehr aus hinter den Spanischen Gardinen. Ich will jett endlich Ruhe
haben. Ich will ficher fein.“
Ich legte ihm die Hand auf den Arm: „Ich habe Ahnen doc gejagt,
daß ih Sie nicht verrathe.”
356 Die Zukunft.
Die verzweifelte Entichlofienheit wid aus jeinem Geſicht: „Das weiß
ih. Sonſt würde ich ja nifcht jagen. Bisher habe ih aud noch Keinem was
berichtet von meinen Erlebniffen. Site find der Erjte. In der lebten Zeit habe
ic Schon gar nicht mehr jchlafen können. Jede Nacht lag ich wach und jah in
die Sternenwelt oder in die dunklen Wolfen hinaus. Es wird mir ordentlid)
leichter, dal id) mal mit einem Mtenjchen, der fid aus Büchern gebildet und
das Willen in ſich aufgenommen hat, von Allem jprechen kann . . Als fie
ntich das erjte Mal Eriegten, war ich noch jung. Acht Jahre ift es her. Und
fie hätten mich nicht gekriegt, wenn der Andere, dieſer Kalbskopf, nicht mehr
die. Waare bei fi) gehabt hätte. Es war mir jhon jo komiſch, daß meine
Verwandten alle nad einander verjchwanden. Erſt geht der Onkel weg, dann
die Fleine Mali. Sonjt blieben fie Sonntag mittags zu Baus. Wir madten
uns Alle zujammen an den Sonntagsbraten. Und nu? Na, was ijt denn
da los, denk id), daß jo Einer nach dem Anderen fortging? Und Seiner jprad) jo
recht mit mir. Alle jahen fie mich jo von der Seite an. Das war ja aber
icon öfter vorgefommen,. Und der Unfel fonmte mich ja nie jo recht ausſtehen.
Erjt war id) ihm ein zu großer Freſſer. Er bat für mich forgen müſſen, weil
id) ein uneheliches Kind war; mein Water joll ein Bergkrarler, jo ein Touriſt
geweſen jein und meine Mutter iſt früh geitorben vor Summer und Gram.
Und dann, als ich beim Unkel lernte, habe ich ihm nicht genug gearbeitet. Nach—
ber hat er mich auch nicht behandelt, wie man einen Erwachſenen behandeln
muß, und da habe ich ihm den Vorſchlag gemacht, daß ich mir meine eigene
Maſchine aufftellen werde, in der Hälfte von dem Hauſe, die mir zugehören
thut. Er hat mich ausgeladt. So ein junger najeweijer Laffe, hat er hoch—
fahrend gemeint. Der fäme gerade mit einem Geſchäft zurecht! Und nun wollte
ich ihm beweiien, daß ich wohl auf eigenen Füßen ftehen konnte, daß ich feinen
Heren Über mid) brauchte. Und ich fing zu arbeiten an. Vom frühiten Morgen
an bis in die tiefſte Nacht ſaß ich und jchwitte. ich wollte meinen eigenen
Weg emporkflimmen. Aber es wollte nicht zur Höhe gehen. Kein Menich wollte
bei mir faufen. Das Bischen, was id) losjchlug, machte nicht genug aus. Und
es war wohl auch nicht möglich, day in dein fleinen Neft zwei ſolche Gejchäfte
gingen. Bis jeßt war mein nel gerade jo zurechtgelommen. Nun fehlte
es auch bei ihn. Ich nahm ihm ja einen Theil, wenn aud nicht viel. Das
madjte mir nicht wenig Spaß. Ganz zu Grunde wollte ich ihn richten. Hatte
er mir vorher den Ruin gewünjcht, follte er jet in den Abgrund jtürzen.
Damit wollte es aber nicht jo leicht achen. Und da fam ich mit dem
Anderen zujammen. Wie es jo it: einem armen Teufel bleibt nichts Anderes
übrig, wenn er vorwärts fonımen will, als mal dem Nebenmann Eins auszu-
wiichen. Na, was da paſſirt iſt, Das bleibt ja vollfommen gleichgiltig. Meine
Sade wollte ich eben nicht im Stich laſſen, wie mans jonft feiger Weije thut.
Und jo ſchaffte ich mir die Mittel, im Ort figen zu bleiben. Wie nun der Onfel
und die Mali an dem bewunten Sonntagmorgen weg jind, wache ich auf und
merkte, wie der Ludwig mir nicht ins Geſicht jehen kann und wie der Tante bie
blaufen Thränen in den Augen Stehen. Grit dent’ id: Das hängt mit dem
ichlechten Gejchäft zulammen, das Die jept machen, meinetwegen. Sich freu”
mich wie ein beglückter Schaggrüber und gche in mein Zimmer, um mir mein
ET RER FETT NETTE ge ron — —
In der Arbeiterfolonic. 357
Sonntagszeug anzuziehen. Da — id) will gerade in die neuen Dojen fahren —,
da läuft der Ludwig aud) fort und die Tante läuft hinterdrein,
- Sie wolltens recht jchlau machen, daß ich nichts merken follte, und gingen
fein Alle einzeln hinaus. Das fiel mir aber in die Augen. Wären fie zufammen
ipaziren gegangen, dann wäre ich ahnunglos wie ein neugeborenes Kind in die
alle gelaufen. Aber jo merkte ich, was los war. Sie wollten eben nicht
zu Hauſe fein, wenn ich abgeführt wurde. Vielleicht auch hatte mich der Alte
angegeben. Schön... Ich riegelte raſch die Thür ab. Da Elopfte es. Ich
blieb jtill und jchlic an die Thür, um zu horchen. „Drin ift er‘, hörte ih. Sie
wollten mic; aljo holen. Zeug über und nachgejehen, ob etwa vor dem Daus
Welche jtchen. Dann hätts an der FFeuerleiter hinabgehen können, die immer
da hing. Ja, Die war futicdh! Und acht oder neun Meter hinunter, auf die
Steine: Das ging nicht. Alfo frech und fidel die Thür auf und vergnügt pfeifend
jpring ich die Treppe hinunter, als wenn ich in die Kneipe wollte. Die Amts-
diener jtanden verblüfft über die Kedheit, mit der ich fie beim Ihüraufmachen
in die Ede gedrüdt hatte. Wüſt tobten fie hinter mir ber. Das Dausthor
aber war offen. Nod drei Schritt: draußen wär" ich, in der ‚sreibeit. Denn
id) hatte wohl gejehen, daß auf der Straße fein Hühnerhund lauerte. Aber
unten an der Treppe ftand ein Schrank und da trat der Gendarm vor und
padte mic an einem Aermel. Gr war in Civil und trug einen weichen Hut;
deshalb hatte ich ihn vorhin, als er an unjerem Haus vorbeijtolzirte, nicht erfannt.
Ich ſchlug ihn auf die Hand: ‚Was ſolls?‘ Er jagte: ‚Schön ruhig, ſchön
ruhig! Sie find verhaftet!” Da lachte ich: „Sie machen ja nette Wige! Augen:
blicklich laſſen Sie mich frei! Sind Sie Beamter?‘ Ich riß mir faft den Aermel
aus und wir torfelten Beide die ansgetretenen Stufen hinunter. Da hatten
mich aber jchon die Amtsdiener an den Dandgelenfen. Und dann legten fie
mir eijerne Armbänder an und einen Nojenkranz, daß ich jchön beten könnte.
Damit gings durd die Straßen nad) dem Amisgericht.
Lange haben Sie midy nicht!" jagte ich den Amtsdienern glei. „Lange
nicht! Ich bin an Freiheit gewöhnt. Sie lachten mid) aus. Na, dacht" ich
in meinem Sinn, Euch werd’ ich mal zeigen, was ich kann.
Als wir vor den Juſtizrath kamen, ſchlug er die Hände über dem Kopf
zujammen: „junge, was hajt Du gemacht?" „Hören Sie mal, Derr Juſtizrath,
wir haben noc nicht zufammen den Stall ausgemijtet, dar Sie mid duzen!
Aber wenns ihnen recht ift, — ſchön, duzen wir uns.‘
Er wurde bla wie friichgefallener Schnee. Er hatte mich nämlid) cr»
ziehen lajien, in die Bürgerjchule geſchickt. Uber deshalb durfte er mich doch
nicht mehr wie einen Sculjungen behandeln, wenn er mir aud eine Wohlthat
erwiejen hat. Das iſt doch feine Art. Nach einer Weile jagte er leiie, ohne
mich anzujehen: ‚ie fonnten Sie foldyre Geſchichten anstellen?" Ich lachte
und war ſtolz, ihn jo in Schreden zu bringen. Ueberhaupt: als fie mic) durd)
die Straßen führten, habe ich mich gar nicht geichämt. Als mich Alle jo ängit:
lid) und verwundert anjtarrten, dachte ih: Aha, jebt fürchtet Ihr Eud) vor mir,
dem böjen Verbrecher? Als ich ihm jo ins Geficht lachte, wurde der geitrenge
Juſtizrath doch wüthend: Did) werden wir ſchon kirr friegen!" meinte er. ‚Mid
nicht, Herr Juſtizrath!‘ ‚Na wir haben Dich ja und feitgehalten wirft Du.’ ‚Mid
fönnen Sie nicht feithalten!" lachte id).
358 Die Zufunft.
Na, jte brachten mich in ein ziemlich finfteres Verließ. Es ging nad)
dem Hof raus. Da war nichts weiter als glatte hohe Wände; feine Thür,
fein Anbau, nichts, was Einem zur Flucht hätte dienen fönnen. So ſaß id
ihon meine drei Monate. Und weil id) als geſchickt galt, hatten fie mir Allerlei
zu thun gegeben. Erſt braten fie mir Stroh, damit ich daraus Deden flechten
jolle. Und als ich für den Oberwärter jo einen Teppich gemacht hatte, fam
der Juſtizrath jelbft und fah fich das Ding an. Und ob ich ihm auch jolche
Dinger machen wollte? Aber jehs Stüd, er wolle fie verjchenfen. Das jeien
ja Kunftwerfe. ‚Nicht wahr ?* fagte ih. ‚Aber dann müſſen Sie mir auch Wert-
zeug geben. Das macht man nur einmal blos mit dem Meſſer.“ .Na?* jagte er
drohend. ‚„Ja, dann kann ichs eben nicht mehr. Dier, jehen Sie mal meine
Hände. Ganz zerriffen und zerihunden. Nur dem Herrn Cberwärter zum Gefallen.‘
Alſo ich befam Hammer und Zange und noch mehr. Und nun gings
an die Arbeit. So nah und nad) jchnitt ich die Niegel an der Thür durd.
Und die Deden wurden noch einmal jo herrlich als die erſte. Aus lauter
Freude, daß ich Hinausfanı, wenn Alles glüdte. Der Juſtizrath, der öfter
nacjehen fam, war ganz entzücdt.
Eines Morgens jagte ih jo leichthin zum Oberwärter, ob er mir nicht
den Lohn für die Dede geben wolle. Yon dem Material, das mir der Juſtizrath
gegeben habe, falle noch jo viel für ihn ab, daß er aud) eine Dede bekomme.
Er hatte Bedenken. Aber jo heimlich ſchmunzelte er doch, daß er nod eine
Dede befommen jolle. Und dann fträubte er jih. Nein. Das gehe nit. Der
Herr Nuftizrath habe gejagt, er dürfe Keinem den Lohn früher geben, als bis
er hinaustomme. Ich wolle wohl Jemand beftechen?
‚Mit den drei Mart? Wen denn?‘
Ja, der Juſtizrath hats aber verboten.‘
Das fagte er Schon, wie wenn er fich entjchuldigen müſſe, weil er mir
die drei Mark nicht geben könne. Am nächſten Morgen brachte er denn auch
das Geld. So, nu konnte es losgehen. Da ih zum Dof nicht hinauskonnte,
wollte id) mittags, wenn die Tochter des Wärterd mit dem Eſſen kam, die Thür
aufitogen — das Stüddyen, an dem der Riegel hing, mußte ja bei einem berz«
haften Fußtritt zerbrechen wie ein Streichholz —, dann dem Mädel eine ordent-
liche Chrfeige geben, daß fie in meine Zelle flog und ich fie dort einjperren
fonnte, — und heidi hinaus. Mittags war ja fein männliches Weſen im Haufe,
wie cs in einer Stleinftadt jo ilt.
Das war aber nicht mal nöthig. Denn als ich mir einen Mittag feit:
gelegt hatte, brachten ein paar Maurer eine lange Leiter auf den Hof. Sie
hatten was am Gefängniß auszubeflern. Das war fir mich wie gefunden. Ich
blieb einfach einen Tag länger und lief morgens, wenn wir unfere Zellen reinigten
nnd die Thüren offen jtanden, hinaus auf den Hof nnd Eletterte auf der Leiter
über die Mauer. Ich kann Ihnen jagen: cs war feine Stleinigfeit. Die Wärter
dicht hinter mir. Die Yeiter vom Dauje weggerifien — die Maurer frühſtückten
gerade — und das lange Ding, an dem Zwei zu jchleppen hatten, quer über
den Dof. Das Blut jprigte mir aus den Fingern... Rangeſtellt, raufge-
jtolpert, — da jtanden die Wärter jchon unten. Ich ſchmiß die Leiter um
und nun fünf Meter hinunter. Ich fiel nicht Ichlecht auf das Ende vom Rüden.
2 di u
In der Arbeiterfolonie. 359
Und dann mit den jhmerzenden Knochen durch den meterhohen Schnee, wies
im Gebirge nicht anders ift. Zum Mittag wolle ich ins nächſte Dorf, um mid)
im Gafthaus aufzuthauen. Gerade bin ich über die blanken Felder am erjten
Haus Hin, da ſehe ich ſchon den Gendarm, der feine Tour hatte. Nu alfo
zurüd über die Felder, wie der Wind. Ich kam in den Wald, che der Greifer
heran war. Aber den Tag ging id in fein Dorf. Ich hatte ja zwei Anzüge
an — den Sonntagsanzug unter dem Arbeitrod —, aber bei zehn Grad Kälte
und nichts im Magen... brr! Da merkt man, was der Winter ift. Ich
hätte mich auch nirgends jehen lafjen fünnen, von wegen meiner Mütze. Das
war eine, wie jie die Eijenbahner tragen. Daran hätten mich Alle erkannt.
Jedem, dem ich auf der Landſtraße begegnete, wich ich aus; ging einfach hinter
die Büſche. Und nu mußt’ ich aud die Nacht draußen bleiben. Ich war jchon im
dritten Dorf und jah, wie Alles zu Bett ging, wie alle Häuſer finjter wurden.
Der Mond ftand hell und blank wie polirtes Eifen über den Bergen. Der
Schnee war hart und feft und knirſchte. Eiszapfen fielen von den Dächern.
Sie brachen vor Kälte ab und barjten Elirrend. Aber ich wagte mich nirgends
hinein. Meine goldene Freiheit wollte ich nicht verlieren. Lieber fterben!“
Er ſchüttelte fich, als erlebe er diefe Nacht noch einmal. Dabei hatte er
rothe Flecke auf den Baden und fieberte.
„Na, ic) jtellte mich in eine Ede und wartete den Morgen ab.
Ganz früh fam ein Bauer, der in feinen Kuhjtall ging. Ich folgte ihm.
Gehen fonnte ih nicht mehr. Meine Beine waren jteif. Ich ſchob mid hin,
immer ein Bein ein Stüd, dann das andere. Als mic der Bauer jah, friegte
ern Schred. Ich dachte gar nicht, dab er mid) angeben könnte. Mid; zog nur
die Wärme an. Ich fragte, ob ih im Stall bleiben dürfe. ‚Na, aber wo
fommen Sie denn her? Sie waren doch nicht die ganze Nacht draußen?‘ Ta.
‚Und da leben jie noch?“ Ich hörte ihn nicht, warf mich einfach in das warme
Stroh. Er brachte mir dann eine heiße Suppe; und als er mal hinausging,
vertaufchte ich meine Mütze mit einem alten Hut, der oben am Balken hing.
Dann konnte ich ungehindert weiter. Und fie kriegten mich auch nicht.
Sie hätten mich nicht fejthalten können. Mic nicht! Dazu hätten jie
ftärfer jein müſſen. Und jo oft fie mich irgendwo einjtedten — immer unter
anderem Namen —: ich wußte immer meine Sefleln zu jprengen und meine
Freiheit wieder zu gewinnen.‘
Er war ganz heijer geworden. Seine Baden glühten. Mit jeiner heißen
Hand faßte er mein Handgelenk und fagte: „Aber nicht wahr, bei Ihnen habe
ic meine Sicherheit? Sie geben mid nit an? Nocd einmal hielte ichs nicht
aus hinter den finiteren Mauern!’
Seine jonderbare, mit romantiichen Worten und Wendungen durchießte
Sprache wurde mir bald flar. Gr hatte eine beiondere Freude an Büchern,
die von heroijchen, unerschrodenen Menjchen berichteten und die auch in ſolchem
mwunderlichen Stil gejchrieben waren.
Er hielt es übrigens nicht allzu lange in der Anjtalt, in diefer frei»
willigen Gefangenschaft aus. Als er jo lange drin war, daf die dort erhaltenen
Beugniffe einen gewijlen Werth hatten, verlangte er jeine Entlajfung.
Wenn er inzwiſchen nicht irgend einen — vielleicht gefahrvollen — Beruf
360 Die Zukunft.
gefunden hat, der jenem Thatendrang, feiner Phantafie zu thun giebt, hat er
jiher jchon wieder eingebrochen oder wird es nächſtens thun . Be
Bon ganz anderem Schlag war einer der Stüchenfalefakftoren. Der lief
immer mit irrenden Augen herum, blieb ſtehen, als ob er fih auf Etwas be-
finnen müſſe, das er vergejien habe, und kaute ftets. Er hatte immer einen
vollen Mund. Gifrig war er bedadt, fi) die Gunft der Frau Inſpektorin zu
erhalten, um nicht aus der Küche verjagt zu werden. Mit feinem wadeligen
Gang, dem Kleinen, glatten Schädel, dem grauen, von bünnen, weichen Bartitoppeln
beitandenen Gejicht jah er aus wie ein immer gefräßiges Huhn.
Einmal erwijchte ich ihn, wie er aus der Tonne, in die alle Reſte der
Mahlzeiten aus den Blehihüffeln der Ktolonijten geichüttet wurden, ji die
Fleiſchſtückchen herausſuchte.
„Na, ſchmeckts?“ fragte ich.
„Und wie!” ſchmatzte er... . „Was iſt denn dabei, wenn id) Das eſſe?
Iſt doch nod nichts Werdorbenes. Na, werns von einem franfen Vich ftammte!
Aber jo... Da bat mal ein Knecht auf einem Gut, wo ich als Stellmader
war, ſich eine Hälfte von einer verredten Kuh in der Nacht ausgegraben. Das
war eklig. Denn das Vich war doch frank geweien. Aber dies Fleiſch bier tit
von gejunden Thieren. Wenn man erft mal vier Wochen lang gehungert bat...
Und Das hab’ ih. Als ich keine Arbeit mehr hatte, mußte ich tippeln. Und
da ich nicht anjprechen konnte, mußte ich eben fajten. Na, Das hab’ ich ja hier
nicht nöthig!” Er ſchmatzte munter und laut drauflos.
Ver der Feldbahn, die den Sand von den Hügeln nad) dem Sumpf
ichaffte, jtand icdy neben einem alten zitterigen Graufopf. Sein rothes, ver-
dunſenes Seficht und der jtruppige, ſchwarzgraue Bart verftedten nicht ganz ein-
jelne feinere Züge. Und die jchmalen, weißen Handgelenfe, die unter jeinem
serfranjten Nermel zum Vorſchein famen, jagten deutlid, dag er fein grober
Sandarbeiter gewejen war, Auf meine Frage meinte er, er jei Mufiter; er
habe es nicht nötbig, im Sommer bier zu bleiben, er verdiene dann ſchönes
Held. Er brauche auch nicht, wie die Anderen, fechten zu geben.
ach einer Weile jtüßte er jid auf feinen Spaten und fagte: „Eigent—
lich bin ich ja Beamter; höherer Steuerbeamter war id. Aber da machte ich
Schulden. Und jo was ſieht ja die ſparſame Behörde nicht gern. Na, da
mußte ich geben . . . ‚ich bin auch jo dumm geweſen und habe nicht geheirathet.
"abe immer nicht lange Freude an einem Mädel achabt. Mufte immer bald
eine Andere fein. Und da dachte id: was jollit Du jon Mädel unglüdlid)
machen? Und nu? Sib’ ich jelber drin . . . Hätte lieber heirathen follen.... .
Tas erzähle ich Ihnen mal jpäter . . . Dier ift mar jeßt Niemand, mit dem
man mal vernünftig veden kann. „Na, früher! Da waren noch anftändige Yeute
unter den Koloniiten! Da war ein Profeſſor, ein chemaliger Nectsanwalt, ein
Offizier: Alles Koloniſten, Alle arbeiteten im Sumpf, Alles verjtändige Leute,
Aber heute fommen ja nur noch gewöhnliche Taglöhner und Dandarbeiter hierher.‘
Er jchüttelte den Kopf, ariff mit feinen zitterigen Dänden nad) dem Spaten
und fchien tief betrübt, weil er in der Arbeiterfolonie nicht die vornehme Gelell:
ichaft von früher wiedergefunden hatte,
Großlichterfelde. Hans Oſtwald.
Selbftanzeigen. 361
Selbitanzeigen.
Die Grenzwifienichaften der Pſychologie. (Anatomie des Nervenſyſtenis.
Animale Phyſiologie. Neuropathologie. Pſychopathologie. Entwidelung:
pſychologie). Leipzig, Verlag der Dürrſchen Buchhandlung 1902. 7,60 Mark.
Die moderne Pſychologie nimmt unter allen Wifjenfchaften vielleicht die
eigenthümlichſte Stellung ein. Ihr Gegenjtand, die Gefammtheit der pſychiſchen
Erlebniffe, beftimmt fie zur Grundlage alles geiſteswiſſenſchaftlichen Forſchens,
legt fie mit den Geijteswifienjchaften in enge Berührung. Ihre Methodik, wie
jie jeit Weber und Fechner ſich entwidelt hat, fnüpft fie wiederum faft in jedem
ihrer Fortſchritte an die Phyfiologie. „ihre philofophiichen Grundfragen ſchließ—
lich weijen unvermeidlich auf das allem Pſychiſchen zugeordnete phyſiſche Sub:
jtrat, das Nervenſyſtem, zurüd und damit auf dejjen Anatomie und Pathologie
bin. So aber fomplizirt fi die Möglichkeit eines eindringlihen Studiums der
Pſychologie auf eine jcheinbar hoffnungloje Art, für den medizinijch wie für den
geijteswilfenschaftlidd Worgebildeten. Mit feinen naturwiljenichaftlichen Vor—
fenntniffen, um die ihn der Geifteswifjenichafter beneidet, bringt der Mediziner
eine meijt nicht geringe Zahl von entſprechenden Vorurtheilen mit, die ihm den
Weg zum fruchtbaren piycologiichen Arbeiten verjperren und die dadurch nicht
unfchädlicher werden, daß er fie ſelbſt für Anzeichen einer befonders freien Denk—
weije hält. Immerhin vermag er die unentbehrliche Anknüpfung an die Geiſtes—
willenfchaften bei gutem Willen ftets noch leichter zu finden, als umgekehrt der
Geijteswifjfenichafter über die naturmwijicnichaftlichen Fragen, denen er auf Schritt
und Tritt begegnet, Aufklärung erlangen faın. Denn ihre ausgiebige Beant-
wortung ilt theils an den anſchaulichen akademischen Unterricht gebunden, der
vornehmlich in der medizinischen Fakultät die praktischen Bedürfniſſe des Arztes
in den Vordergrund zu jtellen hat, theils in Büchern niedergelegt, die entweder
jenen Unterricht vorausjegen oder aber fo umfangreich, jo jpezialiftiich gehalten
und theuer jind, day ihr jorgfältiges Studium für den Nichtfahmann eine Uns
möglichkeit wird. Auf diefe Weije bleibt die pſychologiſche Debatte eine höchſt
oberflächliche, mit unverdauten Schlagworten durchſetzte; es fehlt, mag man die
Dirnanatomen, die Phyfiologen, die Nervenärzte hier, die Geijteswillenichafter,
bejonders die Pädagogen, dort anjehen, überall an der Kenntniß von Ihatjachen
und an kritiſcher Ueberlegung, — von den zahlreichen pſfychologiſch interefjirten
Laien ganz zu jchweigen, die in der Befriedigung ihres Wiljensdurftes oft auf
die bedenklichſten Quellen, Familienblattaufjäße und Nehnliches, angewieſen find.
Tie Betradtung diefer Sachlage, über die mir Mediziner wie Pädagogen oft
genug ihr Bedauern geäußert haben, ließ in mir den Gedanken reifen, einen
Leitfaden zu Schaffen, der dem Mediziner die Binchologie und ihre Anwendung
auf die Sprache und das Bölferleben in kurzer Darftellung vermittelte, dann
aber und hauptſächlich dem Geiſteswiſſenſchafter einen hinreichenden Fonds
medizinischer Kenntnijje in die Hände gäbe. Das Ganze fahte ich als die
„Srenzwillenjchaften‘ der Biychologie zuſammen. Ginleitend habe ic) zunächjt
die Ergebnijje der modernen piuchologiichen FJorſchung refumirt. Dan leite ich
den Lejer zum Nervenſyſtem hinüber, indem ich dejjen groben und feinen Bau,
die Architektur und die Struktur, jchildere; hieran ſchließt ſich die Kritik der
362 Die Zuhmift.
Cofalijationlehre, die Diskuffion aljo der großen Frage nad dem Zuſammen—
bang zwiſchen Nervencentren und pſychiſchen Vorgängen; mit einem Hüdblid
auf die Bergangenheit des Nervenſyſtems im Thierreich jcheide ich endlich von
der Anatomie. Der folgende Abichnitt erörtert die Probleme der Bewegung,
der Sinnesfunktion, vornehmlich deren theoretiihe Seite — Raum» und Zeit-
anſchauung, Farbenlehren — und bejonders eingehend die Nerventhätigkeit.
Dierauf folgt der Schritt ins Pathologiſche. Gegen die beiden Abſchnitte „Neu:
ropathologie‘' und „Pſychopathologie“ werden vielleicht die meijten Einwände
erhoben werden, weil ich nicht nur die einzelnen Funktionftörungen, ſondern
aud die ganzen Krankheitbilder fchildere. Doch verweije ich darüber auf die
Apologie, die ich dem kliniſchen Forihungprinzip als dem A und O aller Patho—
logie im jechsunddreißigiten Kapitel gejchrieben habe. Die Therapie fand natür-
li nur Erwähnung, fo weit fie pathologiſch ift, aus dem Wejen der Erfranfung
folat; alle empirische Behandlung blieb außer Betradht. Die Diskuffion der
kliniſchen Prinzipien wird, denke ich, meinen Glauben an eine reiche Zukunft
der Pſychiatrie eben jo darthun wie die Darlegung des Problems der neu:
ropathifchen Belajtung meine Stepfis gegenüber der viel zu gern theoretifirenden
Gegenwart. ‚m legten Abjchnitt des Buches werden dann die Pſychologie der
Thiere, des Kindes, der Sprade, der Gemeinichaften behandelt. Bor der un—
geheuren Fülle des ſozialpſychologiſchen Stoffes konnte ich das Wagniß der Ein-
jeitigfeit nicht überall ſcheuen; damit man hieraus aber nicht eine mangelhafte
Information ableite, glaubte ich, auf eine Darlegung meiner ſozialpſychologiſchen
Grundanfichten gegenüber den hiſtoriſchen und joziologiihen Fragen nicht ver
zichten zu dürfen. Ich bitte, es aljo damit zu entſchuldigen, wenn ich diejen
Anfichten, die ich mir in der Betheiligung an den geichichttheoretiichen Kämpfen
unjerer Tage gebildet habe, ein eigenes Kapitel widmete. Die Diskuffion der
beiden höchſten jozialpiychologiichen Probleme, des Genies und der Entartung,
bei der auch die piychiiche Eigenart des Weibes berüdjichtigt wird, bildet den
Abſchluß des Ganzen. Pro domo zu fagen habe ich danad nichts mehr, nur
im Stillen recht Vieles zu wünſchen. Bor allen Dingen: daß mein Bud nad
inhalt und Form der Stellung fi würdig erweiien möge, die ihm durch die
Widmung an den Altmeijter der Piychologie zugewieſen erſcheint. Alle aber,
die außerhalb der Schule Wundts jtehen, bitte ich, in diefer Widmung feinen
Schwur in verba magistri zu erbliden: fejthaltend an den in Leipzig vertretenen
Srundanfichten, habe ich doch alle gegnerischen Meinungen eingehend gewürdigt,
wo ihre Bedeutung es zuließ. Mehr Objektivität, denfe ich, jollte man von
Keinem erwarten, dem man die Eigenjchaft der Ehrlichkeit nachrühmen will;
und Das zu wollen, bleibt nad meiner Meinung die vornehmſte Pflicht, die
wir Alle beim Eintritt in die wiſſenſchaftliche Debatte, jo weit Perfönliches in
Frage fommt, zu erfüllen haben.
Deidelberg. Dr. Willy Dellpad.
*
Was iſt national? Vortrag des Profeſſors Dr. Alfred Kirchhoff. Zum
Druck gebracht von Alfred Funke. Gebauer-Schwetſchkes Druderei und
Rerlag m. b. 9. Halle a. ©. Preis 80 Pig.
Selten bat ein Vortrag, der einer rein wilfenichaftlichen ‚jrage gewidmet
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Selbſtanzeigen. 363
war, ſo weite Kreiſe im politiſchen Leben gezogen wie der vom Profeſſor
Dr. Kirchhoff im halliichen Berein für Erdkunde gehaltene, in dem er die Frage
„Was ift national?“ beantwortet. Ich babe ihn zum Drud. gebracht, weil mir
von vorn herein klar war, daß dieje eigenartige Weiterfpinnung des befannten
Vortrages von Renan: Qu’est-ce qu’une nation? Erſtaunen und Widerſpruch
weden würde, Wer Kirchhoff fennt, weiß, daß er vor feiner wifjenjchaftlichen
Konjequenz zurüdichredt, jelbjt wenn fie die Achillesferje einer Partei empfinde
lich ftreif. Schon in der halliiden Verſammlung regte ſich gegen den Bor:
tragenden ein janftes Säufeln, das aber, durch die Redaktion der Alldeutfchen
Blätter angefacht, balb zu einem gewaltigen Sturm wuds. Kirchhoffs Darjtellung
vom Wejen einer Nation, die ich mit reichem hiſtoriſchen Material belegen fonnte,
ftcht allerdings im jchroffem Gegenjag zu den Bejtrebungen der Kreiſe, die
einem größeren Deutjchland noch ein größeres Haus in Europa wünſchen, deden
ſich aber völlig mit der von Biamard jtets vertretenen Anficht, daß der geeinten
deutihen Nation die Grenzen gebühren, die im Frankfurter Frieden geichaffen
find. Aus Bismards Aeußerungen fonnte ich Kirchhoffs Theorie belegen.
Halle a. ©. a Alfred Funke.
Der Menſch als Thierraſſe und feine Triebe. Beiträge zu Darwin
und Niegfche. Leipzig, Th. Thomas. 3 Marf.
Wenn es feinen perjönlichen Gott giebt und wenn der Menſch fi aus
dem Thier entwicelt hat, dann iſt er jelbit eben auch eine Thierrafje, weiter
nichts. Dann ftehen wir aber vor der Aufgabe, zu erklären, was denn jeine
jogenannte Vernunft, jeine Genialität, jein äſthetiſches Empfinden, bejonders
Kunjtwerfen gegenüber, was jein Gefühl für Recht und Sittlidjfeit und was
die ganze mienichliche Kultur überhaupt it. Und ganz natürlid) müſſen wirs
erflären, rein aus der gewöhnlichen Thigrfeele, in der es nichts giebt als einige
Triebe und die Fähigkeit, zu denten, die ja wohl jegt den Thieren überwiegend
zugebilligt wird. Das ijt der Iweck meines Buches. Aus vier ganz einfachen
Trieben leitet es ſämmtliche Gefühle und das geſammte älthetifche und Sittlichkeit-
empfinden her und gicbt jo auf rein darwiniſtiſchen Vorausſetzungen eine Grund—
lage der Nejthetik, der Moral, des Straf. und Givilrechtes. Ich bemühte mid,
ganz flar und einfach zu jchreiben, und ſetze beim Yejer nichts voraus als die
nothiwendigiten natumwifjenjchaftlichen Stenntniffe und gejunden Menſchenverſtand.
Dr. W. Rheinhard.
*
Jean Pauls Briefwechſel mit ſeiner Frau und Chriſtian Otto.
Berlin, Weidmannſche Buchhandlung. 1902.
Heutzutage iſt ein Jean Paul-Buch ein geringeres Wagniß als meine
vor einem Bierteljahrhundert erſchienene Schrift „Jean Paul und ſeine Zeit—
genofien“. Damals fonnte id; mich zwar auf Friedrich Viſcher und Gottfried
Keller berufen, doc damit war noch nicht zu erwarten, daß nun auch weitere
Sereife fi dem ehemals zum Himmel Erhobenen und dann wieder Vergeſſenen
und VBerfannten zuwenden würden. Dah jest die Situation eine veränderte ift,
davon legen all die Schriften und Aufſätze, die inzwilchen dem Dichter des
364 Die Zukunft.
Siebenfäs und der Flegeljahre gewidmet find, Zeugniß ab; und jo wird denn
wohl aud) meine Briefausgabe nicht unwillkommen jein. Sie bietet zwar keines—
wegs nur Ungedrudtes; erjtens aber tft jchon diejes neue Material wichtig genug,
denn es eröffnet uns überrajchende Einblide in Sean Pauls Berhältnig zu
jeiner Gattin; und zweitens zeigt eine Vergleihung des von mir Mitgetheilten
mit dem bereits Gedruckten, daß ich jchwerlich zu viel behauptet habe, wenn ich
das früher Veröffentlichte geradezu als Umikum bezeichnete. Man weiß wirklich
nicht recht, ob man die unfreimwilligen Irrungen oder die abfichtlihen Aender-
ungen für ungeheuerlicher erflären joll. Ulle, die Jean Paul nur als Thränen-
fäligen und Sentimentalen fennen, als den Mann, der im Unterſchiede von
Goethe und Schiller immer wieder auf Gott und Unfterblichfeit hinweiſt, werden
überrajcht fein, in feiner einzigen Zeile der Briefe diefen Jean Paul wiederzu-
finden, dafür aber einen Nealismus und eine Diesjeitigfeit, eine ſcharfe Beob-
adhtungsgabe und eine Kunft der Charakteriſtik, die gerade heutzutage auf Frucht:
baren Boden fallen dürften. Auf die Bedeutjamkeit der Briefe aus Weimar
für die Goethe- und Schillerliteratur hat früher bereits, in einer Anzeige meiner
‚scan Baul-Biographie, Mar Koch hingewiejen; aus der jpäteren Zeit bieten zunächſt
die Briefe aus Berlin, dann die aus der Neijeperiode, alfo aus Regensburg,
Frankfurt, Heidelberg, Stuttgart, Löbichau, Dresden, wichtige Beiträge zur
Sharakteriftif Jean Pauls jelbjt und der hervprragendjten Zeitgenoſſen.
Profeſſor Dr. Paul Nerrlid.
*
Ehefrühling. Drittes und viertes Tauſend. Verlag von Eugen Diederichs
in Leipzig. Buchſchmuck von Heinrich Vogeler-Worpswede.
Prolog.
In dieſer ernſten Stadt, darin wir leben,
Steht licht im Garten unſer kleines Haus,
Aus ſeinen Fenſtern träumt das Glück heraus,
Und „Qui si sana“ grüßt es aus den Neben.
Dort leben wir, bewuhtem Glüd ergeben,
Und donnert draußen wild des Lebens Braus,
Drin binden wir der Liebe Rojenjtrauß,
Der Düfte froh, die koſend uns umſchweben.
Sie waltet drin; fein tragijch Frrauenbild,
Nicht Klärchen, Gretchen nicht noch Kriemhild:
Ein Enfellind von Windjors Iujtigen Frauen.
Sie tollt durchs Haus. Wer hinterdrein? Nun, ich!
„Zo fang’ mich doch!“
— In Verſen fang’ id Dich!“ —
Wenn mirs gelang, jo ſollt Ahr Wunder ſchauen!
Prag. Hugo Salus.
%
. —— man — V0—
Rumänijhe Finauzen. 365
Rumäniſche Finanzen.
SR der Herbſt das Yaub gelb färbte, trug ſich die Diskontogejellichaft bereits
He mit dem Plan, eine neue Operation an ihrem Schmerzensfinde, der
Dortmunder Union, vorzunehmen; erſt jeßt aber, da, allzu zögernd, die Frühlings—
Lüfte der Bäume friiches Grün zu umfächeln beginnen, kommt der Plan zur
Ausführung. Es ift nicht mehr der jelbe Plan wie einjt vor den Mai. Die
Zeche Adolf von Hanfemann, die außer einem dem Aufſichtrath nahejtehenden
Konjortium wohl feinen pafjenden Abnehmer finden Eonnte, bleibt bei der Dort-
munder Union. Man bat plößlich wieder einmal entdedt, wie werthvoll diejer
Befig ilt. Dafür wird nun aber die Henrihshütte aus diefem Konglomerat
von Fabriken und Werken herausgenommen; jie joll, weil die Distontogejellichaft
neue Mittel braucht, abgejtogen werden. In einem Punkt ähnelt allerdings
der alte dem neuen Plan. Geld befommt durch ihn nur die Disfontogejellichaft,
während die Dortmunder Union nach wie vor auf die hohen Zinſen des Banfier-
fontos angewiejen bleibt. Die Einzelheiten der Sanirung find in der Tages:
prefje beiprochen worden; die Kritik war, wenn man von den offiziellen Börjen-
blättern abjieht, für die Disfontogelellfchaft geradezu vernichtend: fajt einſtimmig
wurden die Finanzpläne abgelehnt. Trotzdem wird natürlich am neunten Juni
in der Generalverjammlung die Disfontogejellichaft mit eigenen und geborgten
Aktien über die jchreiende Minorität fiegen. Die für unjere Verhältniſſe ſchon
recht energiiche Tonart der Preſſe ift aber nur ein Schwacher Widerhall der Wuth, die
jich in Börjenlälen und Bankierbureaux gegen die Diskontogejellichaft regt. Börjen-
leute find meiſt gern bereit, Finanzjünden zu vergefjen. Der Diskontogejellichaft
wird auch nidıt etwa die Urjünde, die Gründung der Dortmunder Union, nad:
getragen, jondern man wirft ihr vor, daß fie immer wieder neue Experimente
gemacht bat, um fich aus der Patſche zu retten, in die fie gerathen war, weil
fie der Union Riejenfredite bewilligt hatte. Anfangs hatte man ihr, an deren
bona fides man glaubte, mehr als einmal mildernde Umstände zugebilligt. Nach—
gerade aber mußte jie gelernt haben, daß auf dem bisher befchrittenen Wege
eine dauernde Sejundung nicht zu erreihen war. Bei den legten Sanirung-
verjuchen fonnte von gutem Glauben nicht mehr die Nede fein; und ganz undenkbar
ift befonders, daß Herr von Danjemann. mit dem neusten Worjchlag der Dort»
munder Union helfen zu fünnen hofft. Darüber ift die Börje wüthend. Man
rechnet der Disfontogejellichaft nah, ein wie großer Theil ihrer bisherigen
Dividende durch alle möglichen Gewinne an der Dortmunder Union verdient
worden iſt und wie während der jelben Zeit die Aktionäre der Union ihren
Belig entwerthet jahen. Die Börjianer zweiten und dritten Nanges behaupten
nit ohne Grund, ein armer Teufel von Eleinem Bankier, der auch nur an-
nähernd ähnlich gehandelt hätte wie die ſtolze Großbank, dürfte jchon längſt
nicht mehr den Börjenjaal betreten. Auch hier trifft eben das Wort zu, das
der englijche Arbeiterführer Keir Dardie jüngit im Unterhaus jprad: „Gewiß
giebt es für Arme und Reiche nur ein Geſetz, — aber zwei Auslegungen.“
Gerade jet iſt es intereffant, jih mit dem Scidjal der Dortmunder
Union zu bejhäftigen, weil Herr von Danfemann im nicht allzu ferner Zeit mit
einer anderen Angelegenheit an das deutjche Publikum herantreten wird. Es
356 Ä Die Zukunft.
handelt ji da um die zweite Unheilsſaat, die die Disfontogejellichaft, unier
immer noch erjtes Bankhaus, in die Erde geſenkt hat: um die rumäniſche Anleihe.
Non allen fremden Nenten find die rumänijchen unter den deutichen Rapitalifien
am Meiſten verbreitet, merfwürdiger Weiſe auch am Höchſten geachtet. Die
Frage, welcher Betrag von den jeweiligen Emifjionen auch wirklich in die rumäniiche
Staatskaſſe geflofjen ift, kann Öffentlich nur geitellt, nicht beantwortet werden.
Sicher ift aber, daß die deutichen Abnehmer diejer Anleihen Kurje bezahlt
haben, wie nur eine feit fundirte Großmacht eriten Ranges fie fordern duriir.
Das war dem Patronat der Nothichildgruppe zu danfen, die jeit dem Pau ber
mit dem Namen Strousberg eng verknüpften rumänischen Eifenbahnen in intimer
Geſchäfsfreundſchaft mit dem Lande Icht, deſſen Volk und Regirung den Juden
nur als Seldgebern die Gleichberechtigung zuerfennt. Schon mit den rumänticdyen
Eiſenbahnen hatte die Disktontogejellichaft recht jchlechte Erfahrungen gemadt. In
ihrem Gejchäftsbericht über das Jahr 1872 las man: „Im Intereſſe des den
uriprünglichen Sonzeilionären der rumäniichen Bahn anvertrauten deutſchen
Kapitals unterzogen wir uns zuſammen mit dem Dauje Bleichröder der ſchwie—
rigen Aufgabe, diejes gefährdete Unternehmen zu reorganijiren. Das gelang
insbejondere durch Unterftügung der Oeſterreichiſch-Franzöſiſchen Staatseijen-
bahngejellichaft, die die weitere Bauausführung, die Berwaltung und den Betrich
der Bahnen übernahm, jo daß wir auf Grund geordneter Verhältniſſe und eines
gelicherten Bejtandes des Unternehmens der Emijjion der Stammprioritätaftien
der Rumäniſchen Eiſenbahngeſellſchaft unfere Mitwirkung leihen konnten.“ Damals
hatte Herr Strousberg, wie jpäter erit befannt wurde, einen Vorſchuß von
6 Millionen erhalten, zu deſſen Sicherjtellung er jeine ſämmtlichen Güter in
Preußen, jtädtiiche Grundjtüce in Berlin und Wien und eine Standesherrichaft in
Polen verpfändet hatte. Als er in Konkurs gerathen war, ruhte ein Berluft
von über 600000 Mark auf diejer Iransaftion. Dieje anfangs höchſt zweifel—
hafte Situation Rumäniens, das in dem Eijenbahntaumel der fiebenziger Jahre
größenwahnfinnig, wie damals alle halb fultivirten Staaten, den Bau der Bahnen
um jeden Breis förderte, obwohl fein auch nur annähernd ausreichender Ver—
dient zu erzielen war, wurde nur allzu bald vergefien. Beim Beginn der adıt-
ziger Jahre trat die Disfontogejellichaft mit dem rumänischen Staat, der die
Eiſenbahn übernommen hatte, direft in Verbindung; und im den eriten acht
Jahren diejes jungen Berkehres wurden 456 Millionen Franes fünfprozentiger
Anleihen in die Welt gejetst. 1889 folgte eine Emiljion von 82 Millionen
Franes vierprozentiger Nente. 1890 wurden die jechsprozentigen Eiſenbahn—
obligationen fonvertirt: abermals mußten 274 Millionen Franes vierprozentiger
Rente geichaffen werden. Bis zum Jahr 1808 folgten verjchiedene Emijjionen
im Gejammtbetrage von 566 Millionen Franes. Und endlich wurde das Ge-
bäude gefrönt durch 175 Millionen fünfprozentiger, 1904 rüdzahlbarer Schapß-
anmweilungen, die 1849 das Yicht der Welt erblidten. So hat Rumänien eine
Schuldenlaſt gehäuft, mit der jih jede Großmacht der Erde jehen laſſen könnte.
Aber das rumäniiche Pumpbedürfniß iſt noch nicht geftillt; im Gegen«
theil: Schon die nächſte Seit wird wieder beträchtliche ‚Forderungen bringen. Bus
nächſt wird es nöthig jein, die cben erwähnten 175 Millionen Schaganweilungen
zurückzuzahlen; außerdem rechnen Sadıfundige, daß rund 25 Millionen für Vor:
Ai: F
Rumänijche Finanzen. 367
ihüfje in Anjprucd genommen worden find. Denn Rumänien mußte ſich bei
der Aufnahme der legten Schatzanweiſungen verpflichten, vor Nüdzahlung diejer
jchwebenden Schuld Feine weiteren Anleihen aufzunehmen. Nun ijt aber eine
Rüdzahlung der Schagicheine und der Vorſchüſſe aus eigenen Mitteln völlig
ausgejchlojien und man nimmt deshalb an, daß Rumänien genöthigt fein wird,
mindeitens 200 Millionen Franes durch Ausgabe neuer Anleihen flüffig zu
maden. Da it es denn doppelt wichtig, einmal die Grundlagen der Legende
zu prüfen, die unjerer Stapitaliftenwelt Rumänien als ein Land jchildert, dem
man jeelenrugig große Summen anvertrauen könne. Die Behauptung inter-
ejfirter Finanzfirmen, vorläufig jei an neue Emiffionen nicht zu denten, darf
uns von folder Prüfung nicht zurüdhalten.
Eine unparteiijhe Darjtellung ber rumäuiſchen Finanzverhältnifie ift
freilich nicht leicht zu geben. Wer nur die Berichte der Agence Roumaine oder
die von der Disfontogejellichaft infpirirten Artikel in den Börjenzeitungen lieſt,
Der muß wirklid glauben, um Rumänien ſei es mindeftens viel beffer als um
alle übrigen Balfanftaaten bejtellt. Diejer Eindrud it namentlich in Deutſch—
land leicht zu jchaffen, wo man gewöhnlich nur daran denkt, daß auf dem
rumäniihen Thron ein Hohenzollern jigt und dab König Karols Gemahlin nette
Gedichte macht. Dieje unklaren Gefühlswägungen find aber nußlos; und des-
halb müffen wir uns freuen, wenn ein auf den Boden der Thatfahen Stehender
mit fefter Dand den Rumäniens wahre Yage verhüllenden Yügenjchleier zerreißt.
Das gejchieht in der joeben erjchienenen Brochure „Die rumänischen Finanzen;
Zahlen und IThatjachen für die Bejiger rumäniicher Papiere.“ Qroß der
Anonymität jcheint die Schrift des Vertrauens würdig; und aus dem ehreniverthen
Namen des Mannes, der fie mir jchickte, darf ich wohl den Schluß ziehen, daf;
feiner Finanzelique mäctiges Wort bei der Abfaſſung mitgeſprochen hat.
1869, drei Jahre nachdem unter Karols Szepter die Fürftenthümer
Moldau und Walachei geeint worden waren, umfaßte das Budget, ohne Defizit,
den geringen Betrag von 35'/, Millionen Franes. Die Ausgaben des Budgets
für 1900/1901 belaufen fid) auf rund 238 Millionen Franes. Aber weder
der Umfang des Etats nod) die Höhe der Staatsſchulden, die im Ganzen jeßt
rund 13/, Milliarden Franes oder auf den Kopf der Bevölkerung 239 Francs
betragen, giebt uns den richtigen Maßitab für die Beurtheilung der Finanz:
fraft des Yandes. Entſcheidend ift die Antwort auf die Frage, zu melden
wirthſchaftlichen Zweden die Schulden gemacht worden find. Da Ichrt die Durd)-
forihung des Budgets nun zunächſt die traurige Thatſache, daß 39 Prozent der
aefammten Einnahmen nur zur Verzinfung der Schulden aufgebracht werben
müſſen. Won dem Erlös der Anleihen find allein etwa 937 Millionen Franes
für öffentliche Arbeiten, Eifenbahnen, Bauten u.j.w., 266 Millionen für militärifche
und 94 Millionen für diverje, nicht ficher bezeichnete Zwecke verwandt worden.
Auf den dunkeliten Punkt ftopen wir, wenn wir lejen, daß 159 Millionen zur
Dedung der Fehlbeträge verbraudjt werden mußten. Die Defizitwirthichaft it
in Rumänien chroniich geworden. In den dreischn Jahren von 1888 bis
“1901 war ein Fehlbetrag von insgefammt 35,8 Meillionen Franes zu verzeichnen.
Die rumänifchen Eijenbahnen bringen nicht etwa die Zinſen für die zu
ihrem PBaı aufgenommenen Anleihen ein: einjtweilen iſt ein jährlicher Zuſchuß
7
il
368 Die Zukmft.
von 8%, Millionen nöthig. Dabei iſt noch zu bedenken, daß die rumäniſche
Finanzverwaltung durdaus nicht jo geordnet iſt, wie man fie in offiziöjfen Be-
richten zu Schildern pflegt. Die Voranſchläge find von jo kühnem Optimismus
diftirt, daß die Ergebniſſe redyt erhebliche Fehlbeträge zeigen. Faſt muß man
an abjihtlihe Täufhung glauben, wenn man lieft, was der frühere Finanz—
minifter Take Joneseo in einer Nechtfertigungjchrift Sturdza und deſſen Finanz-
minifter Garp nachſagt. Neben anderen VBerfehlungen wirft er ihnen vor, fie
hätten für zwei GEijenbahnlinien Millionen ausgegeben, die von den Kammern
gar nicht bewilligt waren. Take Jonesco behauptet, in allen rumänischen Bud—
gets — natürlid) nimmt er das von ihm ſelbſt aufgeftellte aus — jeien Ver—
ichleierungen jo häufig, dal der Ausländer faum jemals im Stande ijt, Die
Lage zu überbliden. Die Brodure ftellt, im Anſchluß an den offiziellen Be:
riht des Finanzminiſters Filipescu, feit: ein günftiges Einnahmerejultat jei
in einem der früheren Etatsjahre nur dadurd möglich geworden, daß die Nejerve-
fonds der Gifenbahnen aufgelöft und die Militärtransporte einfach nicht bezahlt
wurden. Das jagt der Finanzminijter jelbit. Solche Manipulationen jcheint
man in Rumänien aljo nicht für betrügeriich zu halten.
Ferner ijt zu bedenten, daß Rumänien ein in erjter Linie auf den Ges
treideerport angewiejener Agrarſtaat ift. Die Brochure lehrt uns die ſchlimme
Wirkung jchlechter Ernten erkennen. Die öfterreichiichen Konfuln in Jaſſy umd
Bukareſt berichten einftimmig, dab mehrere gute Ernten nöthig find, um den
Ausfall einer einzigen ſchlechten Ernte zu deden. Dabei ift es um die land-
wirthſchaftlichen Verhältniſſe Rumäniens fehr übel beftellt. In den deutjchen
Konfjulatsberichten vom Jahr 1901 wird mitgetheilt, daß in Rumänien der
Binsfuß für private Hypotheken zwiſchen 8 und 18 Prozent jchwanfe, mand)-
mal aber bis auf 36 Prozent fteige. Die Großgrundbeſitzer müſſen bet den.
Bankiers gewöhnlich 24 Prozent zahlen, Die rumänischen Negirungen — oder,
beijer gejagt, die rumänischen Parteien — juchen die Bevölferung über die wahre
Lage zu täufchen. Die zum Theil jehr hohen Aufwendungen für öffentliche
Bauten Ichaffen für kurze Zeit immer wieder künftlich unter den Dandwertern
des Landes einen Wohlftand, der falſche Schlüffe auf die wirthichaftliche Situation
der Gefammtheit begünftigt.
Die finanzielle und wirthichaftliche Yage Numäniens ift alfo, wenn man
fie nicht in verflärendem Märchenlicht ficht, ſehr ernſt und rechtfertigt durchaus
nicht den hohen Kursſtand der Anleihen. Die Hoffnung der privaten Staats»
gläubiger klammert ſich hauptſächlich an die Erwägung, daß die Banken, um
nicht jtarfe Berlufte zu erleiden, neues Geld hineinfteden müfjer. Die Banken
aber follten, wenn fie den deutjchen Kapitalsmarkt abermals in Anſpruch nehmen
wollen, wenigstens dafür forgen, daß Rumänien nicht durd die Verjagung jüdischer
Handwerker, Yandmwirthe, Kaufleute, die das thätigſte Element des Yandes bilden,
den Neft jeiner wirthichaftlichen Kraft zeritört. Cine jo unfinnige Fremden
politif, die übrigens auch den internationalen Werträgen nicht minder als dem
Sebot der Gumanität wideripricht, muß auf die Dauer das Yand ruiniren und
follte deshalb auch für die pumpenden Banken feine quantite negligeable fein,
Die Disfontogeiellichaft wird vor der nädjiten Emiſſion unzmeidentig zu erklären
haben, was jie nad) diejer Richtung verfucht und erreicht hat. ” Plutus.
*
Notizbuch. 369
Notizbuch.
53: Profeſſor Dr. Guftav Schmoller lehrtan der berliner Univerfität National:
0 ökonomie. Er findet, mit Recht, es ſei unklug, gerade über die Vorgänge zu
ſchweigen, die für die Erhaltung, Stärkung oder Schwächung der lebendigen Kräfte
deutſcher Volkswirthſchaft beſonders wichtig und mehr als Abſtraktionen und Rück—
blicke auf Gewordenes geeignet ſind, den Sinn junger Hörer zu feſſeln. So ſpricht
er eines Tages auch über den von den Verbündeten Regirungen dem Reichstag vor—
gelegten Entwurf eines neuen Zolltarifes. Die Studenten, neben denen wohl mancher
nicht der akademiſchen Bürgerſchaft Angehörige ſitzt, ſpitzen das Ohr; was mag über
den Gegenſtand, der ſeit Monaten täglich in den Zeitungen behandelt wird, der be—
rühmte Redner zu ſagen haben? DerKampf, ſo ungefähr ſpricht der Profeſſox, ſei einſt—
weilen noch nicht allzu ernſt zu nehmen; die einzelnen Zollſätze des Tarifes ſeien
ziemlich gleichgiltig, da ſie in den internationalen Verhandlungen zum großen
Theil doch geändert werden würden, und deshalb ſolle man das Urtheil vertagen,
bis die in neuen Dandelsverträgen erreichten Zollſätze befannt jeien. Das hatten
vernünftige Leute längjt gedacht oder ausgeſprochen, ehe Herr Profeſſor Schmoller
das Wort nahm. Im vorigen Jahr ſchon und jeitdem recht oft wurde hier gejagt,
die Barteien follten, jtatt ziellos die Kraft zu verzetteln, den Negirenden ruhig die
Möglichkeit laffen, mit ihrem Zolltarif in die Fremde zu ziehen, und die Kritik bis
zur Borlegung der Handelsverträge jparen, deren Annahme ja vom Botum des
Reichstages abhänge. Ein Student behauptet num, der ‘Brofejjor habe fich im Kolleg
auf die Worte preußiicher Minifter berufen, die ihm gejagt hätten, auch jie dächten
nicht daran, den Entwurf jo, wie er dem Reichstag vorliege, zum Gejeg zu machen.
Das haben Mlinijter und Staatsjefretäre, jo weit ihre Auffafjung von Dandels-
diplomatenpflichten es geitattete, mehr als einmal angedeutet und jelbjt erwachſende
Schulfnaben willen nachgerade ion, daß der Entwurf einen Dandelsfampftarif
liefern, Konzejfionen und Kompenjationen ermöglichen, unter feinen Umſtän—
den aber unverändert Gejeg werden ſoll. Dem Studenten jchien die Mittheilung
dennoch wichtig; er machte eine Notiz daraus, die er an berliner Zeitungen jchiete.
Auf den Antrag des Profeſſors jchritt die Staatsanwaltichaft ein, die Anklage wurde
erhoben und der ertappte Student vom berliner Yandgericht zu zweihundert Mark
Geldſtrafe oder vierzig Tagen Gefängniß verurtheilt, weil er fich gegen den ‘Bara-
graphen 38 des lUIrheberrechtsgejeßes vom neunzehnten Juni1901 vergangen habe. Bon
dieſem Paragraphen wird bedroht: „wer in anderen als den gejeglich zugelaffenen
Fällen vorjäglich ohne Einwilligung des Berechtigten ein Werk vervielfältigt oder ge-
werbmähig verbreitet.“ In der Begründung des Geſetzes iſt ausdrücklich gejagt, nur
„der öffentliche Vortrag als ſolcher“ jollegeichüßt fein; „Mittheilungen, die Lediglich den
Inhalt der Rede berichten“ — auch einer vom Urheberrechtsgeſetz der freien Wieder:
gabe entzogenen Rede — jollen, „wie bisher, zuläljig bleiben“. Dievon dem Studenten
verbreitete Notiz war kurz und Derr Profejfor Schmoller nannte fie als ‚Zeuge „eine
ganz unzureichende und vielfach mißverſtändliche Wiedergabe eines etwa einftündigen
Bortrages.“ Der Miflethäter ſoll aljo erſtens Unwahres veröffentlicht und zweitens
durch dieje Veröffentlichung das Urheberrecht des Profeſſors verlegt haben. Der
Bericht über den Vortrag war falich; er giebt nicht wieder, was der Profeijor gejagt
hat, ift aber jtrafbar, weil er ohne Einwilligung des Berechtigten das „Werk“ des
27°
370 Die Zuhmft.
‘Profejjors „gewerbmäßig verbreitet“. Wenn diejes Urtheil, eins der merfwürbigjten
aus ber an jeltjiamen Sentenzen reihen Spruchpraxis des berliner Landgerichtes,
in Leipzig bejtätigt wird, werden die Folgen ſolches Präjudikates nicht ausbleiben.
Auch auf dem Gebiete der Politik können jie fichtbar werden, wo heute die Nednerei
ja einen breiten Naum einnimmt; Beifpiele kann Jeder ſelbſt leicht erfinden. Mehr
aber als die kriminaliſtiſche ift die menschliche Seite der Sache beachtet und fait ein-
jtimmig ift das Borgehen des Profeffors hart getadelt worden. Der Student hat taktlos
gehandelt. Vielleicht wollte er ſich wichtig machen, vielleicht verſprach er fich von jeiner
Notiz politiihe Wirkung, vielleicht trieb ihn nur der Wunſch, durch Reportage ein
paar Mark zu verdienen und früh Fäden anzufnüpfen, die ihn fpäter in den Preßbe—
trieb führen könnten. Ginerlei. Der Profeffor konnte ihn kommen lafjen, die Ver:
fehlung ftreng rügen, ihn, wenn ers für nöthig hielt, der Disziplinarbehörde an«
zeigen. Das war Herrn Profeſſor Schmoller noch nicht genug. Er rief die akade—
mijche Gerichtsbarkeit und die Staatsanmwaltichaftan und hat nun durchgejegt, daß
ein junger Menſch „vorbejtraft“,vor dem Auge der Korreften bematelt, wahrſchein—
lich in jeiner Laufbahn gehemmt ift. Ein junger Menſch, der ſchließlich nichts Bbſes
gethan, der nur, aus Yeichtfinn oder aus Noth, die Anjtandspflicht verlegt und den
Lehrer vor der Dauptverhandlung und nod) einmal in öffentlicher Gerichtsfigung um
Berzeihung gebeten hat. Daß dies Indiskretion den Profeſſorärgern, ihn vor den befreun:
deten Miniftern „Lompromittiren“ konnte, ift flar; ernitlich geichädigt aber war er nicht.
Die Zeitungen mußten feine Berichtigung aufnehmen und den Excellenzen mußte
das Wort des vierundjechzigjährigen berühmten Gelehrten mehr gelten als die Aus»
jage eines reportirenden Schülers. Sind die wirthichaftlicden Zufammenhänge, die
einen barbenden Studenten nach mühelojem Nebenverdienft auslugen laſſen, von
einem Lehrer der Nationalökonomie jo jchwer zu durchſchauen? Und kann ein Mann,
der zu den evangeliſch-ſozial Eimpfindenden gehören will ſich nicht der herrſchenden Mit-
leidlofigkeit entziehen, deren Sehnſucht nad) Talion unerfättlich, durch die härteſte
Strafe kaum zu jtillen ift ? Herr Schmoller ſoll ſich bereit erflärt haben, die Geldſtrafe
für den Berurtheilten zu zahlen. Sehr ſchön; doc damit find nicht alle Folgen feines
Strafantrages aus der Welt geihafft. Die Studenten find in Preußen zu qut dis«
ziplinirt, zu feit in ftramme Militärfitte gewöhnt, als daß fie an einen Boykott
dächten; in einer Fabrik, wo einem Genoſſen jo mitgejpielt worden wäre, würde
die Arbeit wahrſcheinlich niedergelegt. Den Brofefloren, von denen mancher Schmollers
Schritt mißbilligt, räth wohl follegiale Rüdjicht, über den Vorgang zu ſchweigen.
Für Schmoller ijt bisher mur Herr Profeffor Simmel eingetreten, der in einem
an die Voſſiſche Zeitung gerichteten Brief mit beinahe leidenſchaftlichem Eifer die
Kothwendigkeit betont, die „akademiſche Vertraulichkeit” zu wahren. Die Gründe,
die er anführt, ſind nicht jehr gewichtig und könnten von jedem anderen Nedner, der
in nicht Öffentlicher Berfammlung jpricht, mit dem felben Necht geltend gemacht
werden. Wer ſich je zu ſolcher Yeiftung bergab, liejt in den Zeitungberichten nachher
fait immer Säße, die er entweder gar nicht aefprochen hat oder deren Sinn durch die
Löſung aus dem Zuſammenhang entſtellt iſt. Profeſſoren find nicht Profeſſen, jon-
dern, ſo hofft man noch heute, muthige Bekenner, die ſich nicht ſcheuen, auch mit einem
gewagten, auf Hypotheſen, nicht auf Reſultate geſtützten Sag in die Oeffentlichkeit
zu treten. Sie können nicht jo naiv fein, zu glauben, was fie vor zwanzig oder vor
hundert jugendlich hitzigen Dörern jagen, bliebe verborgen; und eine geflüfterte
Notizbuch. 371
Fälſchung ijt gefährlicher als eine gedrucdte, gegen die man fich wehren fann. Herr
Profeſſor Schmoller ift ein Meiſter der dejfriptiven Volkswirthſchaftlehre und ein
mächtiger Hochſchuldiplomat, der für feine zuverläjfigen, in verba magistri ſchwb—
renden Schüler jo zärtlich jorgt wie jeit Scherers, des ihm im Wejen verwandten
Taktikers, Tode kein anderer Profeffor; er jollte zeigen, daß er auch der humanen
Pflicht eingedenk tft, die der Yehrerim Verkehr mit jungen Schülern nie vergejjen darf.
* *
*
Herr Landrichter a. D. Ernſt Mumm, Aſſiſtent an der chemnitzer Dandels-
kammer, erbittet die Aufnahme der folgenden Erwiderung:
„m, Archiv für bürgerliches Recht‘ und in der Zukunft‘ verjuchte ich neulich
nachzuweiſen, daß die jeit einigen ‘Jahren laut geforderte, im Reichstag einftimmig be-
fürwortete Einführung faufmännischerSchiedsgerichte weder nothwendig nod) auch nur
wünjchensiwerth jei. Während meine Darftellungen von vielen einfichtigen Männern
gebilligt wurden, hat Blutus jie hier heftig befämpft. Die Entſcheidung darüber,
ob es ihm geglüctt ift, mich zu widerlegen, überlafje ich getroft den Yejern. Mich
haben jeine Eimvendungen nicht eines Anderen belehrt und ich wiirde auch nicht für
erforderlich halten, auf fie zurüdzufommen, wenn mir hierzu nicht einige Bemerkungen
den Anlaß gäben, die meine Darlegungen als oberflächlich und thöricht hinzuftellen
bemüht find. Ueber die — im Grunde nebenjächliche — Bemängelung meines Aus-
drudes, es jei bedauerlich, daß das Prinzip der ordentlichen Gerichtsbarkeit abermals
durchbrochen werden jolle, brauche ich fein Wort zu verlieren. Zur Sache fann ich
nur nahdrüdlicd betonen, da ich in der Schaffung kaufmänniſcher Ausnahmegerichte
eine — um ihrer Konjequenzen willen — höchſt beflagenswerthe Abweichung von
dem gerechten Grundſatz erblide, nach dem Jeder vor dem ordentlichen Richter fein
Hecht zu juchen hat. Se ift gar nicht einzujehen, warum die Anhänger faufmännijcher
Schiedsgerichte bei dem Verlangen nad) diefen Sondergericdhten Halt machen und
nicht, wie es Agiter und Genoſſen fonfequenter Weiſe thun, auch Uusnahmegerichte
für die Streitigkeiten zwiſchen Gejinde und Derrichaft, überhaupt für alle Streitig:
feiten fordern, die aus irgend einem Lohn», Arbeit- oder Dienjtverhältnig entjtehen.
Die Gründe, die Plutus und die anderen Freunde kaufmännischer Schiedsgerichte
ins Feld führen, lafjen ſich genau jo gut zur Nechtfertigung aller nur möglichen
Sonderjchiedsgerichte anführen. Gerade diejer Umftdnd aber weit mit Sicherheit
darauf hin, daß jenen Gründen in Wahrheit die Beweiskraft für die Einführung
faufmännijcher Schiedsgerichte fehlt, daß fie nur infofern Beachtung verdienen, als
darin die Mängel des heutigen Prozehverfahrens überhaupt gerügt werden. Dann
hält mir Plutus vor, ich fuche die bitter ernfte Frage dadurd) ins Pächerliche zu ziehen,
daß ich den Ruf nad) kaufmännischen Schiedsgerichten als eine Modeſache bezeichne.
‚sch erwidere, daß ich auf Grund recht genauer Kenntniß der einjchlägigen Verhält—
niffe und auf Grund eingehenden Studiums der ganzen Bewegung das Geſchrei nad
kaufmänniſchen Schiedsgerichten in der That für blinden Lärm halte. Ich habe die
fejte Ueberzeugung erlangt, daß in den Streifen der faufmännifchen Angeſtellten ein
ernftliches Bedürfniß nach Sondergerichten nicht bejteht, dafz vielmehr einige Dußende
oder Hunderte von Agitatoren für eine Einrichtung Propaganda machen, die Dundert:
taufenden ihrer Standesgenoflen herzlich gleichgiltig ift. Schließlich meint Blutus,
mein Daupttrumpf jei, daß bei den bejtehenden Zchiedsgerichten in Dannover u. ſ. w.
nur wenige oder gar feine Berfahren anhängig gemacht worden feien. Zugleich er-
372 Die Zutunft.
hebt er den Vorwurf, id) jcheine von der Einrichtung dieſer Schiedsgerichte nichts zu
wilfen. Diejer Borwurf hätte mir füglich eripart bleiben können. Läßt doch ſchon
der Name der an verfchiedenen Urten eingeführten fakultativen Schiedsgerichte über
ihren Charakter feinen Zweifel zu. Die Beihäftigunglofigkeit diejer fakultativen
Gerichte ift im Uebrigen ganz und gar nicht mein höchiter Trumpf. Nur beiläufig
wird ſie erwähnt neben der viel wichtigeren, den Anhängern der Schiedsgerichte etwas
unbequemen Thatjache, daß die zur Austragung gelangenden Nechtsitreitigfeiten
aus dem faufmännijchen Dienjtvertrag — von den ganz großen Städten abgejehen —
jeltene Nusnahmefälle bilden.“
* *
*
Der Maler Leo Freiherr von König jchreibt mir:
„Führer durd) die berliner Kunftausftellungen‘: jo heißt ein fleines Deftchen,
das mir aus meiner Zeitung, dem Berliner Tageblatt, entgegenfiel. Aha! dachte
ich: eine kleine Erjparnii für die Abonnenten, gleich dem Kalender oder den Eleinen
Gijenbahnfahrplänen, die das Blatt jeinen Yejern in freundlicher Abficht zu ſchenken
pflegt. Eine Mark fünfzig ift für einen Katalog viel Geld; dafür kann man jchon
bei Kempinski frühftüden, meinte neulich ein Verwandter vom Yande. Hier, vers
muthete ich, würde er das billige Sremplar, ein Surrogat, die marfantejten Bilder,
wie im Bädeler, mit Sterndyen verjeben, finden. ich hatte faljch vermuthet. Das
Heftchen bringt eine gebundene Kritik der beiden Ausitellungen. Nun weil id} wohl,
daß wir Künſtler, wie Jeder, der mit Werfen oder Schauftellungen an die Oeffent«
lichkeit tritt, der Kritit Berufener und Unberufener ausgefegt find. Es Liegt mir
daher aud) gänzlich fern, Etwas über den Inhalt der Brochure zu jagen; nur über
den Weg, den dieje Kritik einichlägt, möchte ich jprechen. Das Wort ‚Führer‘ und
die beigefügten Pläne der Ausitellungen zeigen den Wunſch des Autors, der jewei-
lige Befiger des Heftes möge, mit ihm bewaffnet, feinen Rundgang durd die Säle
antreten. Diejer Beſucher aljo wird an jedes Bild mit einer vorgefaßten Meinung,
mit der des ‚Führers‘, herangehen; denn unendlich groß ift ja die Zahl Derer, für
die jedes gedruckte Wort ein Evangelium ift. Durd) dieje Art der Führung wird
dem Publikum jegliches Nachdenken eripart umd jo dem Kunſtwerk ein großer
Theil jeines erziceherifchen Werthes genommen, Der Menjch wird niemals aus
Büchern Kunſt begreifen lernen. Kunſt ift feine Willenichaft, Kunjt will empfunden
jein; und Der nur, der ſich jelbjt zu den Anjchauungen und Abjichten eines Künſtlers
durchgerungen hat, wird deſſen Werk wirklich genofjen haben. Der neufte ‚yührer‘
nimmt dem Künſtler jede Ausjicht, auf einen unbefangenen, naiven Beſchauer wirken
zufönnen. Dan jtelle ſich vor, dag die Bücher unſerer Schriftjteller mit Nandbemerf-
ungen eines Kritikers erjchtenen oder daß uns vor jedem Akt eines neuen Theater-
jtüctes ein Vortrag über dejjen Vorzüge und Mängel gehalten wiürde. Nein: vor
dem Kunſtwerk hat die Kritik zu Schweigen und erit zu Dem zu jprechen, der das
Werk ſchon in ſich aufgenommen hat. Ich habe nichts dagegen, day Herr X, am
nächjten Morgen in jeiner Zeitung lieſt, meine Bilder jeien gut oder ſchlecht; aber
vor den Bildern wünſche ich ihn unbeeinflußt; und ich glaube, daß ſich dieſem Wunſch
meine Kollegen aus beiden Däufern anschließen werden.“
* *
*
„In den preußiſchen Oſtmarken ſollen nicht mehr die Polen chikanirt, ſondern
die Deutſchen wirthſchaftlich geſtärkt werden. Dieſer Weg iſt hier ſeit Jahren oft
empfohlen worden betreten aber ſollte ihn nur ein Geduldiger, der entſchloſſen iſt,
2 - — — - . u u uETTTITE “ . —.—.-
Notizbuch. 373
nicht an der nächſten Ede ſchon in einen breiteren Seitenpfad abzubiegen. Mit
dem alten Apparat einer Berwaltung, die auch den ſtärkſten Willen lähmt, iſt nichts
zu erreichen; eine halbe Milliarde und die ganze Lebensarbeit eines jchöpferiichen
Staatsmannes wird nöthig fein, um auch nur den verlorenen Boden zurüdzuge-
winnen. Graf Bülow, der mit rühmenswerthem Eifer ſich den zähen Stoff angeeignet
und eingejehen hat, daß es fich dabei um die wichtigite Frage der deutichen Zukunft
handelt, kann nicht glauben, jolches Rieſenwerk fer im Nebenamt zu vollbringen.
Der Entſchluß zu innerer Kolonialpolitif größten Stils — und jede andere wäre
nußloje Spielerei — muß organisch mit der Summe des Wollens zufammen-
hängen, das in der Sejtaltung neuer Möglichkeiten und Nothwendigfeiten fühlbar
werden fol. Tiefer Zuſammenhang aber ift noch nicht zu erfennen.“ Auch heute
noch nicht, obwohl vier Monate vergangen find, jeit die angeführten Säße in der
„Zukunft“ zu lejen waren. Eine Viertelmilliarde aber hat die preußtiche Negirung
vom Landtag verlangt; 150 Millionen, um die AUnfiedlung deuticher Bauern in den
Oſtmarken jchneller und wirkſamer als bisher durchführen, und 100 Millionen, um
Gitter und Grundſtücke für den Domänenfisfus ankaufen zu können. Der erite
Schritt iſt aljogethan; ob erans Zielführen kann, wird fpäter zuprüfen fein. Einſt—
weilen wollen wir uns der allzu jeltenen Gelegenheit freuen, die preüßiſche Regirung
loben zu dürfen, und wünjchen, fie möge, jo lange es Zeit iſt, einfehen lernen, daß
auch im deutichen Oſten der Kolonialpolitif Erfolg nur bejchieden jein wird, wenn
ihr, jtatt der Bureaufraten, Kaufleute die Wege weilen. Daß die Provinzen Weft-
preußen und Bofen mit einer Viertelmillion gedüngt werden, ijt jicher gut; nun ſoll
man jie verwalten, als gehörten fie einer großen, joliden Banf, der nur eine praf-
tische und fraftvolle Kulturpolitif das hereingeitedte Geld hoch verzinfen kann,
+ *
*
Rochambeau, dem Grafen und Marſchall von Frankreich, der von Ludwig
dem Sechzehnten 1750 als Führer des franzöfiichen Stontingentes übers Meer ge—
Ichieft wurde und bei Yorktown, im Bunde mit Waſhington, das engliiche Heer zur
‚Kapitulation zivang, iſt vonder Negirung der Vereinigten Staaten aufdem Yafayette-
Square der Dauptjtadt ein Denkmal gefegt worden. Der kluge Stratege, der vorher im
Siebenjährigen Krieg gefochten und den nachher der neunte Thermidor vor dem Da
der Schredensmänner gerettet hatte, war lange vergejlen ; der Nuhm des Sprudel-
fopfes Yafayette hatte die Erinnerung an den fühlen Schweiger überftrahlt, der für
Kordamerifa doch viel mehr that als der hitzige Schwärmer. Jetzt ijt dieje Erinne-
rung wieder aufgefriicht und das Denkmal mit allem in einer Republik möglichen Glanz
enthüllt worden. Herr Rooſevelt hat fich bemüht, den Franzoſen, deren höchite Reprä—
fentanten zum Feſt geladen waren, zu zeigen, daß man dankbar der von ihnen
im Kampf gegen England geleifteten Bilfe gedentt. Auch der Magdeburger
Steuben, der 1777, auf das Drängen von Beaumardais und Saint: Germain,
den badiichen Kriegsdienft verließ, nach Amerika ging, Generalinipelteur der
Armee und Generalſtabschef Wajhingtons wurde, joll ein Denkmal bekommen; nicht
als Deuticher, aber als tüchtiger, bald völlig amerifanifirter Helfer im Kampf um
die ‚freiheit. Diejes Denkmal, jagen die Yankees, foll daran erinnern, daß zwar
einzelne Deutjche damals übers Waſſer famen, Preußen aber, der Staat Friedrichs,
den kämpfenden Amerikanern keinerlei Dilfe brachte. Deshalb paßt ihnen das vom
Deutſchen Kaiſer angebotene Geſchenk auch nicht ; fie möchten den Alten rigen nicht
in Stein oder Bronze vor dem Kapitol jehen. Schon iſt im Neprälentantenhaus
374 Die Zunft.
beantragt worden, die Regirung jolle das Geichenf ablehnen underflären, für Fürſten—
denkmale fei indem Gebiet der Vereinigten Staaten tein Platz; und ſelbſt in deutſch
amerifaniidyen Blättern wird das Geſchenk eine unbequeme Gabe genannt, die beiler
geipart worden wäre. Die Groffapitalijten, dieden Kaifer nicht fränten möchten, haben
vorgeichlagen, derStadt Berlin einen bronzenen Wafhington zu ſchenken, der in der Mo—
narchenrefidenz fürden republifanischen Gedanken zeugen jolle; auch die Römer wollen
fich für den Goethe von Eberleins Gnaden ja mit einem Dante bedanken. Der Alte
Fritz wird in Amerika jchließlid eine Stätte finden. War die ganze peinliche Er-
örterung aber nöthig? Dem Botichafter des Kaijers, Herrn von Holleben, wird vor-
geworfen, er habe nicht rechtzeitig zu erfennen verjucht, wie das Geſchenk in den Ver—
einigten Staaten aufgenommen werden würde. Herr von Holleben hat drüben jehr
viele Fehler gemacht, deren einer in dem Prozeß zweier Sektfirmen vielleicht aufge:
flärt werden wird. Der neue Vorwurf aber ift jicher unberechtigt. Die Abſicht des
Kaiſers, Amerika den Alten Fritzen zu Schenken, ift, twie man ſicher annchmen darf,
dem Botjchafter nicht früher befannt geworden als anderen Sterblichen.
* *
Nur die Herren, die den Kaiſer täglich ſehen und in Wiesbaden um ihn waren,
konnten von dem Geſchenk abrathen. Dieſe Herren ſcheinen von ihrer Dienerpflicht
aber eine ſonderbare Auffaſſung zu haben. Sie laſſen ihren Herrn, der nicht allwiſſend
ſein kann und nicht Zeit hat, Lexika aufzublättern, in einer an den Präſidenten Loubet
gerichteten offiziellen Depeſche die Zahl der in Pompeji Verſchütteten jo unrichtig
angeben, daß in Frankreich Gloſſen darüber gemacht werden. Und ſie informiren
ihn über die Art der Perſönlichkeiten, die er begnaden will, ſo ungenau, daß noch
ſchlimmeres Unheil entſteht. Jetzt hat Wilhelm der Zweite dem Fäulein Durand
eine Audienz gewährt, von dem vor ein paar Wochen hier geſagt wurde: „Fräulein
Durand iſt eine alternde Dame, die im Hauſe Moliéres nie einen Rang hatte und
ſeit „Jahren mit der Hilfe eines ihr befreundeten Millionärs die Frauenzeitung La
Fronde herausgiebt; ſie ift weder als Spielerin noch als Journaliſtin der Rede
werth.“ Dieie vieljeitige Dame, die in Paris nicht ernft genommen wird, konnte in
threm darbenden Blättchen num ein Interview mit dem Deutſchen Kaiſer veröffent:
lihen. Bor ihren mit vedlich erworbenen Juwelen geihmückten Ohren bat er die
modernen deutichen Dichter getadelt, hat er jagt, Wagner jet iym „zu geräufchvoll“,
darüber geklagt, daß die deutichen ‚Frauen fich fürs Iheater nicht eleganter Aeiden,
und Herrn Georg von Hülſen einen „großen, ſehr großen Stünftler“ genannt. In
Paris wurden Köpfe aeichüttelt. Wei Ihr Kaiſer denn nicht, jchrieb mir ein Fran
oje, wer Fräulein Durand tft? Die Zumuthung, er jolle es willen, ijt luftig. Der
Rertrauensmann der Deutjchen hat am Ende Anderes zu thun, als ſich um den
Vebenslauf, das Glück und den Niedergang fleiner parijfer Theatermädcdhen zu
fiimmern. Seine Diener aber jollten willen, wen fie ihm vorführen. Wie würde
man bei uns jpotten, wenn die Nachricht käme, der Zar habe das — nicht einmal
Spielens halber in Betersburg weilende — ‚jräulein ‚Jenny Groß empfangen!
Die Hofdiener des Kaiſers haben die betrübenden Irrungen und Wirrungen der
legten Wochen verjchuldet und fie joll man dafür zur Werantwortung ziehen, daß
dem Fräulein Durand eine Ehre gewährt wurde, um die recht oft Schon deutjche In:
dujtriefapitäne, Selehrte, Kaufleute in erniter Abjicht „ahre lang vergebens warben.
Herausgeber und verantwortlicher Nedaf:cur: M. Harden ın Berlin, — Veriag der gutunft ın Berlin,
Dad won Albert Damde in Berlin Schöneberg.
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Berlin, den 7. Juni 1902.
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Induſtrieſtaat oder Agrarftaat?
Ss“ den Bolltarifentwurf ift die brennendſte der deutfchen Fragen ſeit
einem Jahre das tägliche Diskuſſionthema der Zeitungen geworden.
Da ich nicht in der Lage bin, gleich Schaeffle und den anderen Autoritäten
meine Gedanken über das augenblidliche Stadium der Erörterung ausführlich
und im Zufammenhang aussprechen zu können, ſei e8 in einer Brochure oder
in einer Reihe von Zeitungauffägen, jo nehme ich meine Zuflucht wieder zu
der Form, die im knappſten Raum viel zu jagen ermöglicht: ich reihe Theſen
an einander und überlafje den Lefern die Ausführung und Begründung. Um
ihnen diefe zu erleichtern, verweife ich hier und da auf die entjprechende Seite
eines Fundorte von Beweißmaterial und benuge dazu zwei Werke von
Vertretern der beiden feindlichen Parteien: „Agrar: und Induftrieitaat“, zweite
Auflage, vom Profeſſor Adolf Wagner (W), „Deutjchland als Induſtrie—
ftaat“ vom Dr. 3. C. Huber (H) und einige meiner Opuskula: „Weder
Kommunismus noch Kapitalismus“ (K), „Neue Ziele, neue Wege“ (N),
nDie Agrarkrijis* (A) und ein paar in der Zukunft veröffentlichte Aufjäge (Z).
1. Landwirthfchaft und Bauernftand — die beiden Kategorien deden
einander nicht — bleiben die Grundlage des Staates, die Pflanzftätte der
Bolksfraft, die Bedingung gefunder fozialer Zuftände; Alles, was über ihre
Unentbehrlichkeit in materieller, hygienifcher, militärifcher und politifcher Hinficht
gejagt wird (3. B. K 357 und W von Anfang bis zu Ende), it wahr. Die
Schilderungen des Elend3 der Kleinbauern und der ländlichen Gefindejflaverei
in der antiagrarifchen Preffe find theils Karikaturen, theils ungerechtfertigte
Berallgemeinerungen. Zuzugeben ift, daß fich die Lage der ärmeren Dörfler
28
376 Die Zukunft.
in dem Mae verfchlechtert hat, wie die Landwirthichaft jeit den fünfziger
Jahren des vorigen Jahrhunderts induftriell, Fapitaliftifch und rentabel ge:
worden ilt, und daß das Verhalten vieler Rittergutsbeliger bie heutige Land—
flucht verfchuldet hat. Wie es in ſolchen Fällen zu gehen pflegt: mit den
Schuldigen werden die Unſchuldigen, namentlich die Bauern, getroffen; die
Aufbefferung der Köhne und der Koft, zu denen ſich jeßt die Gutsbeſitzer
gezwungen fehen, fommt zu fpät. (K 338; A 93). Die Hauptfhuld an
der Entvölferung des Dorfes trägt übrigens der Militärdienft. Der Dörfler
wird immer der beſte Soldat bleiben, nur muß man ihn nicht drei, auch
nicht zwei Jahre bei der Fahne behalten; damit verjtädtert man ihn.
2. Von diefer Seite her, nicht durch die ausländische Konkurrenz und
den niedrigen Getreidepreis, find die Bauern bedroht. Vom Induſtrialismus
nur infofern, als ihr Gewicht im Staate ſchwindet, da fie einen immer
Heineren Prozentjag der Bevölkerung ausmachen und durch das Uebergewicht
des induftriellen Reichthums an Anfehen verlieren. Bon dem Vergleich mit
den Nabob8 und deren hoch bejoldeten Direktoren abgefehen, leben fie nicht
ſchlecht. Nicht fie find zu bedauern, fondern der immer größer werdende
Theil des Nachwuchſes, dem der Boden gefperrt, die Möglichkeit, Ländlichen
Grundbejig zu erwerben, genommen it. Wie immer man fih nun die Noth
der Kandwirthichaft denfen mag: mit Schupzöllen kann ihr fo wenig abge:
holfen werden wie mit der Doppelwährung, dem Getreidemonopol, der
Börfenreform und den übrigen längjt begrabenen Mitteln der Agrargelehrten.
Jede Erhöhung des Getreidepreifes fteigert die Grundrente und damit den
Preis der Landgüter; die künſtliche Steigerung durch Schußzoll hat diefe
Wirkung un fo ficherer, weil fie für dauernd gehalten wird, was bei der
Steigerung durch eine fuappe Ernte, die außerdem den Vortheil aufheben
lann, nicht der Kal ift. Gerade die Preisiteigerungen jind es daher, die
Kriſen erzeugen; und den Preis der ländlichen Grundftüde niedrig halten,
iſt das einzige Mittel, Agrarkrifen vorzubeugen. Nicht der Kulturfortfchritt,
jondern die zunehmende Bollsdichtigfeit und Bodenfnappheit, die freilich im
heutigen Europa mit dem technischen Fortfchritt in Wechſelwirkung fteht,
erhöht mothwendiger Weife den etreidepreis. Wagner geht über diefe
Schwierigkeit viel zu leicht hinweg. Auch wenn e8 wahr wäre, daß heute
viele Landgüter Feine Nente mehr abwerfen, würde dadurch der angegebene
Grund gegen Agrarzölle nicht entkräftet. Die Erhöhung der Getreidepreife
würde bewirken, daß wieder Grundrente entitünde, die fteigende Konjunktur
würde, wie es immer geichehen ijt, beim Verkauf, bei der Erbtheilung und
bei der Aufnahme von Meliorationhypothelen esfomptirt werden und den
nächſten Beliger würde der niemals ausbleibende Preisrüdgang ftürzen.
Daß die Hebung des Oetreidepreifes die Produktion vermehren und Deutfch-
Digitiizegb
m
Induſtrieſtaat oder Agrarftaat? 377
fand vom Auslande unabhängig machen würde, ift ſehr ummahrjcheinlich.
Gerade die Nothwendigkeit, den Preisfall durch die Vermehrung des Ertrages
auszugleichen, hat die deutjchen Landwirthe zu Verbefjerungen gedrängt, deren
glänzender Erfolg ihnen zur höchſten Ehre gereicht. Hinter der Schugmauer
eines hohen Zolles, die den Import unmöglich machte, würden fie e8, wie
vor 1846 die englifchen Landlords und Pächter, bequemer finden, die Volks—
vermehrung bei gleichbleibender Produktion den Preis noch weiter fteigern zu
laſſen. (W 97, 119; A 9. 23. 116—121. 156).
3. Dod hat auch Huber Recht mit Allem, was er zum Xobe der
induftriellen Entwidelung anführt. Sie ift nothwendig, weil im gejchlofjenen
Staate nah vollftändiger Aufteilung de3 Bodens der Bevölkerungzuwachs
nur in- der Induftrie und im Handel untergebracht und weil dag in immer
ftärferem Maße nothiwendig werdende Jmportbrot nur mit erportirten Induſtrie—
erzeugnifjen bezahlt werden fann. Der Weltverkehr und die Produftion:
fteigerung, die er erzwingt und ermöglicht, bereichern die darein verflochtenen
Völker nicht allein durch die fteigende Menge der Güter, jondern auch durd)
die wachjende Zahl und Mannichfaltigfeit der Güterarten und durch eine
Fülle technischer, gefchäftlicher und geiftiger Anregungen. Die Verflechtung
ſelbſt erfchwert den Krieg und verftärkt die Friedensliebe immer weiterer
Kreife, was die Humanifirung der Völker zur Folge — haben könnte. Und
wenn der induftrielle Fortfchritt durch fteigende Noth bei Bodenknappheit
erzwungen wird, gereicht auch diefer Zwang der Bollsgefundheit zum Heil.
Die Völker des Haffischen Alterthumes find zu Grunde gegangen, weil die Zu—
nahme ftocte, ihre Produftivfraft den damaligen Bedürfniffen reichlich genügte,
feine Noth zu Erfindungen trieb, Herren und Sklaven faullenzten und ver—
(otterten. Auch dem geiſtig Gefunden, daher Arbeitwilligen, ift Zwang zu etwas
mehr Arbeit, al3 er freiwillig leiften würde, fehr gefund; da num bei der Mehr:
zahl die Arbeitwilligkeit zu wünſchen übrig läßt, jo it der Zwang, den
die Noth übt, für die Erhaltung der Volksgefundheit nicht zu entbehren.
4, Freilich hat diefer Nuten der Noth, die zum technifchen Fortichritt
treibt und den Induſtrialismus fördert, wie Alles in der Welt feine Grenze.
Diefe Grenze ift auf dem Punkt überfchritten, von wo ab die Noth nicht
mehr das ganze Volk kräftigt, fondern einen immer ftärker anjchwellenden
Theil zur Entartung verurtheilt. Daß troß der Berfümmerung von millionen
Menichen die Gütermafie, der Nationalreihthum fteigt, bedeutet keine Ent-
fhädigung und feinen Troft. „Die Menfchenkultur ift auf jeden Fall wid:
tiger und nothwendiger als die Erhöhung der Induſtrie und des äuferen
Wohlitandes“, hat die potsdamer Negirung in einem Erlaß vom Januar
1828 gefagt. Wagner hat volltommen Recht, wenn er (W 32) auf die Bes
xeicherung durch die Induftrie das Wort Jefu anwendet: Was nüßte es dem
28*
378 Die Zukunft.
Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne, aber Schaden an feiner Seele,
alfo an feinem Menſchenthum litte? Das ficherfte Merlmal der eingetretenen
Entartung find die Kindergräuel. In England find diefe Gräuel aus den
Fabrifen und Gruben verfcheucht worden, aber in der Hausinduftrie, in der
fogenannten Familie und auf der Straße wuchern fie fort. Was Teutic-
land betrifft, fo hat die amtliche Statiftif über 550000 im Gewerbe thätige
Schulkinder, die Lehrerenquete, deren Ergebniſſe Agahd veröffentlicht, ſchauder—
hafte Einzelheiten ergeben und der Staatsjefretär Graf Poſadowsky hat bei
Berathung des neuen Kinderfchusgefeges gefagt: „Unter Umftänden fann
der erzieherifche Werth der Arbeit darin bejtehen, daß ein foldhes Kind zum
Krüppel oder Fdioten erzogen wird.“ Ein Staatöfekretär muß folche Früchte
des jogenannten HulturfortfchrittS auch dann noch verfchleiern, wenn er da=
gegen anfämpft, fonft würde Poſadowsky ftatt „unter Umftänden kann fein”
„in viel Hunderttaufend Fällen ift“ gejagt und vor „erzogen“ „zum Ver—
brecher“ eingefchaltet haben. Die im der Landwirthichaft befchäftigten Kinder
fehlen in der Statiftif und die Zahl der im Gewerbe verwendeten ijt wahr-
jcheinlich noch viel zu niedrig angegeben. Kinder zum Brotverdienft zwingen,
ift eine in alten Zeiten und bei barbarifchen Bölfern unbefannte Barbarei
und in dem Maß und in der Weife, wie e8 heute gejchieht, doppelt Barbarei.
Es hieße, die in Betracht fommenden Millionen deutjcher Väter und Mütter
für Sanibalen erflären, wenn man annehmen wollte, daß etwas Anderes als
die bitterfte Noth jie bejtimme, ihre Kinder dem Moloch zu opfern. Den
Ausſchluß der landwirthichaftlich befchäftigten Kinder aus dem neuen Geſetz
würde ich für gerechtfertigt halten, wenn die Verhältniſſe noch jo wären wie
zu der Zeit, wo ich das Land kennen gelernt habe. Die landwirthichaftlichen
Beihäftigungen find an fi gefund und den Kindern lieber als das Sigen
in der Schule. Ob Das in den legten Jahren weſentlich anders geworden
ift, ob die Induftrialifirung der Landwirthichaft ungebührliche Ausnügung der
Kinder, befonders beim Rübenbau, in den nördlichen Provinzen Preußens zur
Folge gehabt hat, vermag ich nicht zu beurtheilen. Es ift auch viel von der
fittlihen VBerderbnif der Hütelinder und anderer Kategorien die Rede gewefen.
Dar die Landwirthichaft feine Schule mönchiſcher oder muderifcher Keuſch—
heit, fondern eine bejtändige Einladung zu derbem Geſchlechtsgenuß ift und
daß die mit der Begattung des Viehs vertrauten Dorffinder die jtädtifche
fogenannte Unfhuld gar nicht Fennen, verjteht fih für jeden nicht dämlichen
Menſchen von jelbit. Das mögen die Freilinnigen und die Sozialdemokraten
den Konſervativen vorhalten, fo oft jich diefe Herren in der Rolle von Schug-
engelm der Unſchuld Lächerlich machen; aber wenn jie ſich über die Thatjache,
ftatt über die Fonfervative Heuchelei, entrüftet jtellen, fo machen jie ſich ſelbſt
läherlid. Sollte es freilich wahr fein, daß durch die Einrichtungen vieler
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Induſtrieſtaat oder Agrarftaat? 379
Gutshöfe die Schulfinder im den Gefchhlecht3verfehr der Knechte und Mägde
hineingezogen werden, jo müßte Dem, nicht um der fogenannten Sittlichkeit
willen, jondern im Intereſſe der Volksgeſundheit und der öffentlichen Sicher:
heit ernitlich gewehrt werden. s
5. Daß ein Theil der induftriellen Bevölkerung verfümmert, erklären
gewiffe Entwidelungtheoretifer für die zur Raſſenverbeſſerung nothmwendige
Ausscheidung und Bernichtung der Minderwerthigen. Aber die Minder-
werthigen werden, wenn man von den in Zuchthäufern lebenslänglich Ein-
gejperrten abjieht, nicht an der Fortpflanzung gehindert; jkrophulöjes und
ſonſt verkümmertes Bettelgefindel ift vielfach fruchtbarer als die kräftigen und
gefunden Beigenden. Und dann: man mag die Buren für fo fchlecht halten,
wie man will — daß e8 Verfrüppelte und Verkümmerte unter ihnen gebe, hat
ihnen noch Niemand nachgefagt. Bei ihrer Lebensweife entiteht gar feine
Menfchheithefe, deren Ausscheidung und Vernichtung wünfchenswerth erfchiene;
folche entfteht eben nur auf dem Gegentheil der burijchen Lebensweiſe, unter
den Belislofen, in dicht bevölferten Ländern, befonders in Großſtädten und
bei vielen gewerblichen Beichäftigungen. Daß ein gewiffer Grad von Zus
fammendrängung und Noth erforderlich ift, um die Gewerbe und den techni—
ſchen Fortfchritt zır erzeugen, habe ich vorhin felbit gefagt. Aber der techrifche
Fortfchritt, fo unentbehrlich er für das Dafein einer ftetig wachſenden Menfchen:
menge fein mag, bedeutet feine Veredlung der phyfifchen und der geiftigen
Natur des Menfchen und feine Steigerung feiner Naturanlagen, feine Züch—
tung einer höheren Raſſe, wie id in der Schrift „Sozialauslefe“ nad}:
gewiejen habe. Was ftetig fortfchreitet, ift die VBolltommenheit der Mafchine
und die Produftenmenge, nur zum Theil auch die Güte der Produkte, gar
nicht die der Menfchen. Gewiſſe einfeitige Fertigkeiten des Menfchen werden
gefteigert; aber daß der englifhe Maſchinenſpinner beinahe doppelt jo viel
Spindeln beauffichtigen kann wie der deutfche: Das macht ihn nicht zu einem
höheren Typus der Gattung Menſch. Im Gegentheil wird durch die immer
weiter gehende Spezialifirung der gewerblichen Arbeit und durch die vollitän-
dige Trennung der fchöpferifchen, künſtleriſchen und Leitungarbeit von der aus:
führenden Handarbeit ein immer größerer Prozentfag von Menfchen degradirt.
Und um den evolutioniftifchen Optimismus Eduard3 von Hartmann it e8
fo übel beftellt wie um die Selektion nad) Darwin. Das Ringen mit der
Natur und der Kampf gegen feindliche Naturgewalten ftärkt Körper und Geift
und veredelt. In der Noth einer Springfluth und beim Deichen fühlen ſich
Arm und Reich als Brüder. Und eine durch die Kargheit der Natur erzeugte
Hungersnoth verbittert die Menfchen nicht gegen einander, jondern verbindet
fie al3 Leidensgefährten. Aber die Noth der Armen im modernen Induſtrie—
ftaat, deſſen Speicher ein unabfegbarer Ueberfluß füllt und deſſen Millionäre
380 Die Zutunft.
nicht wiflen, wie fie fi der erdrüdenden Zinfenanfammlung erwehren jollen,
» verbittert und vergiftet; und der Konkurrenzkampf, der Kampf um die Ber:
ryeilung des Futters und um den Plag am Futtertrog, der im Geheimen
geführte Kampf gegen den Mitbewerber um ein Amt, der mit Schwindel,
Reklame und Berleumdung geführte Kampf um die Sunden: der züchtet
alle gemeinen und häflichen Triebe und macht den modernen Menjchen mit
feiner Tugend: und Humanitätmaske zu einem unangenehmeren Geſchöpf,
als der Straßenräuber eins if. Zu der Scheinarbeit, die über den Mangel
an Gelegenheit zu produftiver Arbeit hinmeghelfen muß, gehört auch die Arbeit
der Poliziften, Richter und Aufpaffer, die den giftigen Konkurrenzkampf in
den Schranken äuferliher Wohlanftändigfeit halten müfjen, und die Arbeit
der Geſetzgeber, Agitatoren und Zollbeamten, die die Vermehrung der Güter:
maſſe zu Hindern, aljo die produktive Arbeit einzufchränfen haben. Nur
gewifje Tugenden zweiter Ordunng, bürgerliche Tugenden, erzwingt und fördert
der Induſtrialismus; jo fann der Großhandel ohme abſolute Zuverläffigfeit
und moralifche Kreditwürdigfeit nicht beſtehen.
6. Daß der Induftrialismus und der technifche Fortfchritt die Güter-
menge vermehrt haben, ijt num freilich mit Dank anzuerkennen, aber nicht
als ein großes Verdienſt zu preilen. Es wäre dod gar zu abjurd, wenn
die 255 Millionen cifernen Männer, die im deutfchen Reich arbeiten, die
täglich vierundzwanzig Stunden arbeiten fünnen, ohne zu ermüden, und von
denen jeder nur auf ein Achtel Deifen zu ftehen kommt, was der Lebens—
unterhalt eine8 lebendigen Mannes foftet (H 28 bis 29), wenn die nur
immer wieder andere Mafchinen und nicht auch Gebrauchs- und Genußgüter
ichafften. Aber was nügt uns, daß die Nähnadeln vierzigmal zahlreicher und
daher vierzigmal wohlfeiler geworden find als zu der Zeit, wo man fie mit
der Hand anfertigte, und daß man mit dem in Speichern und Läden lagernden
Kattun alle Planeten umhüllen könnte? Allerdings find im vorigen Jahr-
hundert die deutjchen Arbeitlöhne, in Geld ausgedrüdt, auf das Doppelte und
Dreifache geftiegen, was bei der gleichzeitigen VBerbilligung der Kunſterzeug—
niffe den vierfachen Natwrallohn bedeuten könnte. Allein das Brotkorn ift
heute noch nicht jo wohlfeil, wie es 1820 bis 1840 war, Fleifch und Butter
iind drei- bis viermal jo theuer, eben jo die Wohnung. Dabei befteht ein
jtärferer Zwang zu Anjtandsausgaben, und was die in Grofftädten und in
verräucherten, mit Schutt und Aſche bededten Jnduftriebezirken zufammen-
gepferchte Bevölferung an Naturgenuf, gefunder Luft, Kicht und was ihre
Jugend an Bewegungfreiheit verloren hat, kann gar nicht in Geld abgeichägt
werden. Huber ift auch fo ehrlich, einzugejtehen, daR ſich nicht ermitteln
läßt, in welchen Make die vermehrte Gütermenge den unteren Klaſſen zu
Gute fommt (H 53, 58, 62 bis 63). Aus den Statiftifen von Victor
Smödnftrieftaat oder Agraritaat? 381
Böhmert und Huckert, die eine bedeutende Steigerung des Brot-, Fleiſch-,
Butter- und Eierkonſums nachweiſen, wird voreilig zu viel geſchloſſen. Wenn
man die letzten vierziger Jahre zum Ausgangspunfte nimmt, dann ijt die
ftarfe Steigerung jelbftverftändlih. Denn damald hat eine Hungersnoth
Deutichland heimgefucht, deren Wiederkehr für eine abjehbare Zukunft un:
möglid; gemacht zu haben, das unbeftreitbare Verdienſt des technischen Fort—
fchrittes und des Welthandel3 ift. Aber wern man aud für die Zeit zwischen
den napoleonifchen Kriegen und 1845 behauptet, das Volk habe damals
weniger Brotkorn, Fleisch, Milch und Butter gegeffen als heute, jo glaube
ih Das einfah nicht. Die Statiftif kann fir jene Zeit nichts Sicheres
nachweiſen, weil es damals noch wenig amtliche Statiftif gab und weil ſich
bei vorherrfchender Naturalwirthichaft, wo Jeder feine eigenen Produkte kon—
fumirt — die Bevölkerung bejtand faſt zu vier Fünfteln aus Bauern und
Aderbürgern —, der Konſum ſchlecht kontroliren läßt. Da diefer Zuftand
auch nach 1845 erjt allmählich der reinen Geldwirthichaft gewichen ift, jo
find höchſtens die Zahlen der legten drei Jahrzehnte zuverläfiig., Aus dem
zulegt angeführten Grunde Hat auch die Zohnfteigerung weniger zu bedenten,
als auf den erjten Blick fcheint, denn zu Anfang des neunzehnten Jahr—
hunderts machten die ausjchlieglich von Arbeitlohn Lebenden Perfonen nur
einen kleinen Prozentjag der Bevölkerung aus, heute find fie die reichliche
Hälfte. Außerdem ift die BVertheilung ungefund. Die Beamten, denen es
ja zu gönnen ift, leben heute viel bejjer, die unterfte Arbeiterfchicht ſchlechter
al3 vor jechzig bis jiebenzig Jahren. Dann: der jugendliche Arbeiter in
einer gut zahlenden Induſtrie verdient jeine 600 bis 700 Marf und vers
frißt, vertrinft und verraucht fat fein ganzes Geld. Der verheirathete Maun
befommt im felben Induftriezweig 1000 bis 1200 Mark und fol damit ſich,
eine Frau und vier bis ſechs Kinder nähren, Heiden und beherbergen; er
kann nicht, wie der jugendliche, zum zweiten Frühftüd und zum Abendbrot
did belegte Stullen verzehren; noch weniger kann es jeine Frau, die oft mit
dreißig Jahren ein abgemagerte® Jammerbild ift. Später helfen die Kinder
vielleicht ein paar Jahre lang vertienen. Aber mit fünfzig Jahren iſt der
Mann wieder auf feine eigenen zwei Hände angewielen und verdient weniger
als in den Jahren feiner beiten Kraft. Das mehr verbrauchte Fleisch kommt
aljo vielfach in den unrechten Magen.
7. Malthus hat demnad) zwar nicht, wie Adolf Wagner glaubt
(W 53 bis 58), in allem Wefentlichen Recht, aber er hat wenigftens eine
wirklich vorhandene Tendenz erkannt, fie allerdings fo falſch wie möglıd)
formuliert. Nicht Lebensmittelmangel entjteht nothwendiger Weile durch die
Bollsvermehrung, denn mit jedem Maul fommen auc zwei Hände und ein
Kopf auf die Welt; und die Agrarier aller Länder möchten heute am Liebiten
382 Die Zukunft.
die Hälfte alles Brotkorns, Zuders, Kaffees, fammt Roſinen, Kalao nnd
Gewürz ins Wafler werfen. Sondern nur der Zugang zu den reichlich vor—
handenen Nahrungmitteln wird immer fchwieriger, weil bei der heutigen
Geſellſchaftordnung Jeder nur durch Verkauf feiner eigenen Waare, die bei
Vielen blos aus der Arbeitfraft befteht, das zum Kauf der Lebensmittel er-
forderliche Geld erwerben kann, der Abſatz aller Waaren aber durch die unferer
Produftionordnung immanenten Widerfprüche immer ſchwieriger wird. (Könnten
diefe Widerfprüche aufgehoben werden, fo würde der technifche Fortfchritt die
Gütermaffe in dem Grade vermehren, daß alle Güter beinahe umfonft zu
haben, alle Menfchen reich, die Träume der Sozialiften, da8 Paradies, das
Sclarafienland verwirklicht wären.) Malthus hat ferner das von Lift aus:
geiprochene Geſetz der Bevölferungsfapazität nicht gekannt, wonach zunehmende
Volfsdichtigfeit und entjprechende Steigerung der Gewerbethätigkeit auch den
Ertrag der Landwirthichaft fteigern, — bis zu einer gewiffen Grenze. Wird
diefe Grenze, die nah Klima, Bodenbefchaffenheit und Volkstüchtigkeit ver-
ſchieden liegt, überfchritten, jo tritt allerdings Nahrungmittelmangel ein, wenn
zugleich die Nahrungmitteleinfuhr gehindert oder erfchwert wird; auferdem
zieht die übermäßige Menfchenanhäufung auf Meinem Raum die befannten
Üchelftände nah fih. Es giebt alfo eine relative Uebervölferung unteren
Grades, die durch technifchen Fortichritt überwunden werden kann, und eine
relative Uebervölferung höheren Grades, die durch feinen technifchen Fort—
fchritt mehr zu überwinden ift. Diefe fündet ſich fchon durch die Unmög—
lichfeit an, alle VBolfsgenoffen produktiv zu befchäftigen. Daß es bei ung
fo weit ift, glaube ich, bewiefen zu haben. (U. U. Z 8. Juli 1899, ©. 67
bis 71; 15. Dezember 1900, ©. 446, K 315 bis 340.) Der legte
Aufihwung war dem Bau eleftrifcher Anlagen und den Flottengejegen
zu verdanken. Jener kann nicht im felben Tempo weiter gehen wie bei der
eriten Einführung der neuen Triebfraft und viele Flottengefege Fünnen wir
nicht mehr erleben, weil die Weltwirthichaft, wie Huber beweift (H 153,
172, 184, 192 bi8 194), zum Frieden zwingt und, wie die Haltung der
Großmächte England gegenüber in den legten beiden Jahren offenkundig ges
macht hat, das Groffapital, deſſen Commis die Negirungen find, feinen
Krieg will. Polizei und Strafjuftiz zwingen das Elend, ſich zu verfteden,
und verhindern das Bekanntwerden der Arbeitlofigfeit, erweifen aber dadurch
der Nation einen fchlechten Dienft, indem fie deren Leitern den wirklichen
Zuftand verbergen und dadurch die rechtzeitige Beſchreitung des Ausweges
unmöglid; machen. Arbeiterfchug und Arbeiterverjicherung find zwar noth—
wendig, aber der Ausweg find fie nicht. Nachdem die internationale Arbeiter-
bewegung den Gefetgebern die Augen und Ohren geöffnet hatte, haben ſich
die Negirungen aus Furt vor der Abnahme der Militärtüchtigleit, die
Induſtrieſtaat oder Agrarftaat ? 383
Unternehmer aus Furcht vor dem Rüdgang des Konfums, die Geiftlichen
aus Furcht vor dem Abfall der Gläubigen zum Atheismus, die Parteihäupt-
linge aus Furcht vor dem PVerluft ihrer Wähler, alle Befigenden aus Furcht
vor der Verbreitung des Verbrecherthumes und der anftedenden Krankheiten
zu einer Sozialgefeggebung aufgerafft. Aber alle hygienifchen und Arbeiter-
gefege zufammen vermögen höchitens einem Theil der Arbeiterfchaft die ge-
funden Lebensbedingungen wieder zu verfchaffen, die ihre Vorfahren vor
hundert Jahren und noch mehr die vor fehshundert Jahren ohne Fürforge
des Staates koſtenlos genoffen haben. Die Leiftung der Sozialdemofratie
bejchränft jich auf den Aufflärungdienft und die Organifation eine Wider:
ftandes gegen Lohndrückerei, der die Unternehmer wenigftens fo weit zur Ver—
nunft zwingt, daß fie fich nicht durch Konfumverminderung felbft erwürgen.
Dat die Sozialdemokratie mehr nicht vermag, hat jeder Einfichtige auch vor
dem belgischen Miferfolg fchon gewuht. E3 giebt nur einen Weg zur Aufs
bebung der Tohnfklaverei: freies Land! Wo jeder Menſch Grundbeſitzer werden
kann, hat feiner nöthig, feine Arbeitkraft einem anderen zu verfaufen. Ein
folder Zuftand würde nun freilich da8 Ende der Kultur fein, die ohne
Sklaverei in irgend einer Form nicht beftehen kann, aber um diefe zu mildern
und erträglich zu machen, giebt es Fein andere Mittel als die Berminderung
des Angebotes von Arbeitfraft entweder durch die neumalthuſiſche Praris oder
duch die Auswanderung in Aderbaufolonien mit wohlfeilem Boden.
8. Auch die Steigerung des Erportes ift nicht der Ausweg. wie England
bemeilt. England ift weder durch „Fleiß und Sparfamfeit“ noch durch
Greihandel reich geworden, jondern auf folgendem Wege. Es hat durch
Seeraub, Sklavenhandel und die Ausplünderung Indiens ungeheure Sapitalien
aufgehäuft. Ferner hat e3 den ren unter dem Vorwande der Religion ihr
Eigenthun geraubt und fie zu feinen Arbeitſtlaven gemacht, indem es ihnen
jede Induftrie und den Heringfang an ihrer eigenen Küſte verbot. Auch die
amerifanifchen Neuenglandftaaten fuchte e8 in folhe Abhängigkeit von fich
zu zwingen, daß ihre Bewohner nicht einmal einen Hufnagel jelbit anfertigen
durften. Wer mit England Handel treiben wollte, mußte fih englijcher
Schiffe bedienen. Nachdem die Bauern der Wollinduftrie wegen ihres Landes
beraubt worden und ihre Nachfommen Proletarier geworden waren, fonnte
fi King Cotton durch den meltgefchichtlichen Kindermord Arbeitfräfte ver-
ſchaffen, die beinahe koſtenlos waren. Mit dem auf diefem Wege produzirten
wohlfeilen Kattun wurde die Tertilinduftrie aller Ränder vernichtet, namentlich
die ſchleſiſche Leinen- und die indiſche Muffelinwebere. Damals bleichten
unter dem fchönen Himmel Indiens die Gebeine verhungerter Weber. Der
englifche Weber, fchrieb der London Spectator, works so cheap, that he
starves the poor Hindoo, and then starves himself. Hochſchutzzoll
384 Die Zukunft.
und Exrportprämien förderten die heimiſche Induftrie mit Treibhaushige und
halfen zufammen mit allerlei Handelspraftifen und den vorhin angegebenen
Mitteln die des Auslandes ſchwächen oder vernichten. Erſt nachdem lid
England das Handels- und nduftriemonopol geſichert zu haben glaubte,
ging es, um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, zum Freihandel über.
Nah noch nicht fünfzig Jahren fah es fein Monopol gebrochen und fein
Erport fteigt jegt fo wenig, daß er, die Vollszunahme in Anfag gebracht,
feit 1872 als ftationär bezeichnet werden fann. (W 164 bis 172). Daß die
paſſive Handelsbilanz an jich fein Unglüd ijt und unter Umftänden das
Steigen des Nationalreichthumes anzeigen fann, ift richtig. Aber bei einer
gewilien Größe der Differenz tritt die Nothweirdigkeit ein, zur Dedung des
Defizits das Nationalfapital anzugreifen, und auf diefem Punfte dürften die
Engländer angelangt jein. Der Ruf nad Zollſchutz ertönt immer ftärfer,
und wenn der eben eingeführte Kornzoll eine Heine Iefognitiongebühr genannt
wird, — nun, mit einer folhen hat man auch 1879 in Deutjchland ange—
fangen. Zugleich wird die Arbeitergefeggebung rückwärts revidirt und die
Arbeiter ducken ſich furchtſam. Da ruht denn doch der Reichthum der Ver—
einigten Staaten auf fichererer Grundlage, deren Bewohner ohne Export be=
haglich gelebt haben, dann reich geworden find und die jest, ohne e8 nöthig
zu haben, in fo gewaltig jteigendem Maße exportiren, daß der Ueberſchuß der
Ausfuhr über die Einfuhr fchon drei Milliarden Mark beträgt.
9. Huber klagt die Agrarier an, daß fie Lit mißbrauchten. Das ift
richtig; aber er felbft mißbraucht den großen deutfchen Nationalöfonomen nicht
minder, wenn er ihn als einfeitigen Befürworter des Induſtrialismus darftellt,
und er wird dem freilich in mander Beziehung phantaftifchen Carey nicht
gerecht, der im der Hauptjache, die Huber verjchweigt, nur Schüler Liſts war.
Beide haben nämlich, wie eigentlich fchon Adam Smith, dad Hauptgewicht
auf den Nahverkehr, auf das örtliche Zuſammenwirken und die innige Örtliche
Verflechtung von Gewerbe und Landwirthichaft und ihre gegenfeitige Befruchtung
gelegt: darauf, daß der Schmied, der den Pflug macht, Wand an Wand
mit dem Bauern wohnt, der ihn gebraucht, was natürlich zu verallgemeinerw
it. Bei einer folchen Organifation der Bolfswirthichaft ſchwindet auch der
Nimbus, den die Induftrie duch die Berechnung der ungeheuren in ihr
angelegten SKapitalien und von ihr erzielten Gewinne erwirbt. Wenn die
Gewerbetreibenden und die Landwirthe unmittelbar auf dem nächſten Wochen—
markt mit einander verkehren, dann brauchen die Nahrungmittel, die Gewebe,
die Kleider, die Arbeitmafchinen und Werkzeuge nicht taufend Meilen weit
fpaziren gefahren zu werden und ein großer Theil der Transportmittel und
der für jie arbeitenden Meafchinenbauanftalten wird entwerthet. Die Ge—
brauchsgüter haben ihren Werth an fich; den Verfehrsanftalten und Maſchinen
i ] Tr ET
—4
Induſtrieftaat oder Agrarſtaat? 385
verleiht, ähnlich wie gewiſſen Induſtriepopieren, oſt nur unzwechmäßige Wirth—
ſchaftorganiſation einen Werth, den eine Aenderung der Organiſation oder eine
Wendung der Konjunktur vernichtet. Ganz irreführend iſt der Ausdruck (H 236)
„unabhängiger Agrarftaat, der jich felbjt genügt“. Ein folder ift gar nicht
möglich, wenn unter Staat ein Kulturftaat verftanden werden foll, und die
Antwort auf die Frage: Induftrieftaat oder Agrarſtaat? lautet: Weder der
eine noch der andere ift das deal, fondern der „Agrikultur-Manufaktur—
Handelsſtaat“, den Lift gefordert hat. Selbjtverftändfich fol fich ein folcher
auch nicht mit einer chinefischen Mauer umgeben, fondern auf den Zollfhug
Ihon darum verzichten, weil er ihn beim Nahverkehr gar nicht braudt.
Drei Lebensbedingungen eines ſolchen Staates werden aus befannten Gründen
von Schugzöllnern und Freihändlern, auch von Huber, entweder überjehen
oder verfchwiegen. Soll der internationale Güteraustaufch wirklich alle Theil—
nehmer bereichern, dann muß er fi auf die Spezialitäten jedes Landes
beichränfen. Daß beide Theile gewinnen, wenn die Norbländer Tropen:
erzeugnifje mit Yabrifaten bezahlen, Tiegt auf der Hand; dagegen verlieren
beide Theile, wenn fie einander ihre Gewebe zuſchieben, die jedes von ihnen
daheim mohlfeiler, mit minderer Aufopferung von Menfchenglüd, heritellen
kann. Auch gräbt jich der Erport von Waaren, die überall oder wenigjtens
in vielen anderen Ländern produzirt werden fünnen, vielfach ſelbſt jein Grab.
Die ſchleſiſchen Schafzüchter Haben durch den für den Augenblid vortheil-
haften Erport von Zuchtwiddern nad Auftralien fich felbft der im Ganzen
doch noch vortheilhafteren Wollproduftion beraubt und die Engländer ziehen
ich duch Mafchinenausfuhr überall in der Welt Konkurrenten groß. Die
zweite Lebensbedingung des jich felbit gemügenden Staates ijt eigentlich die
erite: ein mit Mineralſchätzen ausgeitattetes Land von hinreichender Größe
und das mwenigitens die Zonen des Getreides, des Weines und der Südfrüchte
umfaßt. Zum Genügen gehört, daß der Boden die hauptfächlichften Nahrung-
mittel und alle der höheren Kultur nöthigen Rohſtoffe enthält und erzeugt
und dat das Land groß genug ift, um den Bodenpreis niedrig zu halten.
Denn fobald diefer Preis hoch jteigt, fängt die ungefunde Bertheilung der
Bevölferung an. Die dritte Bedingung ift Volkstüchtigkeit. Rußland
hat Raum und ein bis in die Zone der Südfrüchte reichendes, aud an
Mineralichägen nicht armes Land, aber ein umtüchtiges VBolf. England hat
ein tüchtiges8 Volk und Mineralfhäge, aber ein zu Feines Land. Nord—
amerifa erfreut fich aller drei Bedingungen, und weil es hinlänglid Boden
hat, ganz allein aus diefem Grunde, kann trog Anhäufung fabelhafter Reich:
thümer in den oberen Schichten auch der Arbeiter nod) doppelt fo hoch gelohnt
werden wie in Deutichland. Steine Kunſt und Fein technifcher Fortichritt
vermag das Uebergewicht auszugleichen, das den Nordameritanern die Größe
386 Die Zukunft.
ihres Landes und die Mannichfaltigfeit feiner Eczeugniſſe verleiht; der Stahl -
könig Schwab hat deutlich darauf hingewiefen. Leider hat eine von uner—
fättliher Habgier eingegebene falſche Wirthichaftpolitit ſchon angefangen,
fünftlich Bodentnappheit zu erzeugen. Das deutiche Volk hat Tüchtigkeit
und Geift im Ueberfluß, auch Mineralfchäge, aber ein zu Fleines Land. Sein
Zuftand nähert ſich dem des englifchen; nur befigt es feine überfeeiichen Aus—
beutung- und Ausmwanderungsgebiete und geringeren Kapitalreichthum, erfreut
fich dafür aber noch einer gefünderen fozialen Struktur, namentlich) eines Fräftigen
Stammes von Bauern und felbjtwirthichaftenden mittleren Gut3bejigern.
10. Bei der Veränderung der fozialen Struftur und der Wirthfchaft:
verfaffung der Völker greifen zwei Prozeffe in einander ein. Der eine ift
der Wechſel von Differenzirung und Integrirung. In der umorganifchen
Natur — die organifche bietet für unferen Fall feine Analogie — kommt
die Bewegung durch Ausgleih zum Stilftand, fei es im einer dhemifchen
Verbindung oder durch Aufhebung einer eleftrifchen Spannung. Im Wirtichaft-
leben der menfchlichen Geſellſchaft kommt e8 nach eingetretener Differenzirung
nur felten zu einer Redintegrirung und dieſe pflegt fich auf Tofale Vorgänge,
zum Beifpiel Verbindung einiger Induſtrien mit einer Gutswirthfchaft, Ver—
einigung mehrerer Gewerbe in einer Wagenbauanftalt, zu befchränfen. Eine
durchgreifende Integrirung, wie fie vor zwanzig Jahren Werner Siemens
als möglich in Ausſicht geftellt hat, durch Decentralifirung der Induftrie mit
Hilfe der Elektrizität, würde das deal von Lift Carey verwirklichen, die
innere Kolonifation vollenden, die geographiiche Abhängigkeit der Induſtrie
von den Kohlen und Erzlagern aufheben und den in vielen Beziehungen
unerfreulichen Kohlenverbraucdh vermindern. Belgien ift ein einigermaßen
integrirter Staat. Völlige Jntegrirung, die weitere Veränderungen unnöthig
machte und alles Wünfchen jtillte, würde den geiftigen Tod eines Volkes
bedeuten. Diefer Fünnte jedoch auch auf dem entgegengefegten, in der phyſi—
kaliſchen Welt nicht denkbaren Wege der Vernichtung des einen der beiden
Glieder eines polaren Gegenfagpaared eintreten: gänzliche Vernichtung der
Landwirthichaft ift eben fo möglich wie der reine Agrarftaat. Im reinen
Induftrieftaat würden die Menfchen leiblich verfümmern und zulegt verhungern,
im reinen Agrarftaat würde das geiftige Leben abjterben. Doch ſchwankt das
Wirthichaftleben immer und überall ‚zwifchen den beiden Polen und die
Staatskunſt hat der Bewegung entgegenzuwirken, die verhängnißvoll zu werden
droht; Das ift bisher immer nur die Bewegung in der Richtung zu ftarfer
Differenzirung geweſen. So lange aber die Differenzirung befteht und fort-
fchreitet, darf jih das eine Glied über das Anfchwellen feines Gegenparts
nicht bejchweren, denn fie find ſiameſiſche Zwillinge, die ohne einander nicht
leben fönnen und von denen feiner wachlen fan, wenn nicht der andere in
Induſtrieſtaat oder Agrarftaat ? 387
gleichem Maße mitwähft. Die Grofftadt muß ohme das Großgut, das
Induſtrievolk ohne das Agrarvolf verhungern, der Grofgrundbefiger müßte
ohne eine dicht gedrängte Induſtriebevölkerung, die feinen Aderbau treibt,
feine Aeder brach liegen laſſen. Der oftelbifche Großgrundbeſitz hat bis 1870
von England gelebt und lebt feitdem von Berlin. Berlin und der induftrielle
Weiten Deutichlands leben von Dftelbien, Nordamerika und Rußland. Es
iſt alfo thöricht, wenn die Agrarier und die Induftriebevölferung einander
haſſen. Urfache, mit Beiden unzufrieden zu fein, haben die Bauernfnechte,
die bei dem heutigen Zuſtande nicht Beſitzer, und die Handwerksgeſellen, die
nicht Meifter werden können. (H 270, K 455). Den anderen Prozeß bringt
der tete Vollszuwachs in Fluß, da er die Spannung zwiſchen Volkszahl
und Boden erzeugt. Diefe Spannung treibt Koloniften über die Grenze.
Wird die Grenze geſperrt, jo ſucht die eingeengte Bevölkerung durch tech—
nischen Fortjchritt entweder den Ertrag des Aderbaues zu erhöhen oder mit
Erportwaaren importirte Lebensmittel zu bezahlen oder Beides zugleich zu
thun, wie es die legten Jahrzehnte lang im Deutfchen Reich geichah. Der
vorhin als denkbar erwähnte geiftige Tod durch vollfonmene Integrirung
würde dad Stagniren der Devölferungbewegung vorausfegen.
11. Es wäre überflüffig, zu unterfuchen, ob Deutjchland auf diefem
Wege, durch Berziht aufs Kinderzeugen, zur Ruhe kommen könnte; das
deutfche Volk will diefen Weg nicht befchreiten. Wenn nun weiterer tech—
niſcher Fortfchritt, weitere Intenſifikation der Landwirthichaft und der In—
duftrie, weitere Anftrengungen zur Ausdehnung des Erportes uns nicht hin—
länglich Luft machen — und ih bin mit Wagner der Anſicht, daß diefe
Mittel bald verfagen werden —, fo bleibt nichts übrig, al3 wieder zum anderen
Mittel zu greifen, zur Gebietserweiterung, die allein auch, durch Beichaffung
wohlfeilen SKolonialbodens, die innere Kolonifation, durch Sturz de8 Boden:
preijes, in großen Fluß bringen fönnte; denn was heute mit Anjiedlungfonds
von einigen hundert Millionen geleiftet werden kann, ift ein Tropfen auf
einen heißen Stein. Wie ich mir die Sache denfe, habe ich oft geſagt.
12. Auf den Einwurf, daß mein PVorfchlag utopifch fei, habe ich
(N 127) und fonft geantwortet: Der fozialiftiiche Zukunftſtaat ift eine Utopie;
die Mittel, die der Bund der Landwirthe zur Hebung der Nöthe feiner Mit-
glieder vorfchlägt, jind utopiich; der thatſächlich unternommene Verſuch, die
Beiiglofen politisch frei zu machen und fie zugleich wirthichaftlich und ſozial
in gehorfamer Abhängigkeit zu erhalten, war eine liberale Utopie; aber Löſung
einer unerträglichen Bevölferungipannung durch Eroberungsfriege zum Zwecke
der Kolonifation ift fo wenig utopifch, daß ie vielmehr feit viertaufend Fahren
den Hauptinhalt der Weltgeichichte bildet und daß die wichtigiten Staaten
auf diefem Wege entjtanden find; für Preußen ift nicht einmal die Be—
388 Die Zufunit.
völferungipannung die Triebfeder zu feinen Eroberungsfriegen gemejen. Die
Jahre 1866 und 1870 haben die Lebensbedingungen der Völker nicht ge
ändert und bedeuten nicht den Schluß der Weltgeſchichte. Sollte fi der
angedentete Weg, obwohl er für richtig im Prinzip anerfannt wird — Wagner
(W 82 und 83) und Huber (H 160. 167) deuten ihn fchüchtern an — als
ungangbar erweijen, fo würden jehr bald die Pefiimiften wie Wagner und
Dldenberg gegen Optimiften wie Huber und Brentano Recht befommen.
13. Ueber die Einzelheiten des Zolltarifes ift fein Wort zu verlieren.
Ob fünf oder acht Mark Kornzoll erforderlich find und im Stande fein
werden, das Gut de8 Herren von X. vor der Subhajtation zu bewahren; um
wie viel ein Zoll von fünf oder ſechs Mark den Getreidepreiß fteigern, um
wie viel diefe Steigerung den Brotpreis erhöhen, ob dem Arbeiter diefes
und jenes Jaduſtriezweiges die Lebensmittelvertheuerung durch Lohnerhöhung
ausgeglichen werden wird; welche Lohnerhöhung diefe und jene Induſtrie zu
tragen vermag; ob es dem Deutichen Reich zum Segen gereichen wird, wenn
es die Ejel zollfrei einläht und die Ochſen ausfperrt, und ob nicht die Ochſen
trog ihrem bedeutenden Volumen unter dem Namen von Brautgefchenten,
die ja frei gelaffen werden follen, durch die Zollſchranke fchlüpfen werden: das
Ales kann kein Menſch im Voraus wiffen. Die Herren von der Kommiffion
mögen fi) ihrer zweitaufend Mark drei Sommer lang erfreuen: die Welt
wird auch dann fo Hug wie zuvor umd fein Abgeordneter durch die Gründe
der Öegenpartei befehrt fein. Die Entfcheidung hängt eben nicht von national-
öfonomifchen oder finanztechnifchen Gründen und Bemweisführungen ab, fondern
von dem Stimmenverhältnif der ntereffenten. Feſt fteht: die Zollgegner
find in der Minderheit, der Tarif wird aljo angenommen. E83 fragt jich
blos, ob innerhalb der Mehrheit die Extremen oder die von der Regirung
unterftügten Gemäßigten ſiegen. Darüber werden Gründe entjcheiden, die
mit der Nationalöfonomie nicht das Mindefte zu fchaffen haben, Das De:
battiren und Berathen hat alſo höchitens den Zwed, den Mehrheitparteien
zu Unterhandlungen hinter den Couliffen Zeit zu verichaffen. Das Ber:
nünftigfte wäre, gleich im Plenum über die 946 Tarifpojitionen und die
dazu geftellten Anträge ohne Debatte abjtimmen zu laflen, womit man in
einer Woche bequem fertig werden fünnte.
Neiſſe. Karl Jentſch.
wie
A
“r
$,
Klingers Beethoven. 389
Rlingers Beethoven.
9: wünjchen, lieber Harden, daß ich Ihnen über den Beethoven Klingers
| fchreiben fol. Sehr gern, weil er ja zum Schönften gehört, was ich
noch erlebt habe. Aber Sie dürfen nur nicht eine Fritifche Aeuferung von
mir erwarten. Kritik, wie man fie jest in Deutfchland verfteht und übt,
ift gegen meine ganze Natur, die für Operationen des Verftandes nicht viel
hat, Sondern genießen will. Wenn ich über Künftler und ihre Werfe rede
oder jchreibe, fo ift mir Das nur ein Mittel, fie noch inniger zu empfinden,
wie man oft auf hohen Bergen, um fich blidend, unwillfürlih in einen
Monolog über den ſchönen Ausblik geräth, weil nun einmal der Menſch,
was er denft ober fühlt, felbit erft recht erfährt, wenn er e8 mit Worten
oder doch Geberden dankbar ausgeiprochen hat. Wirkt aber em Werk eines
Künftlerd auf mich nicht oder wenn e3 fchlecht auf mich wirft, jo wende ich
mich ab, ohne erft zu fragen, ob es meine oder feine Schuld ift. Selbſt
bei Werfen für die Menge, die den Geſchmack beleidigen, verföhnt es mich
faft, daß fich doch viele Menſchen, lachend oder weinend, über fie freuen, die
Das fonft, al3 Barbaren in der Hunft, ganz entbehren müßten. Yrüher
habe ich mir wohl auch durch Kritiſiren Manches verdorben. Jetzt meine
ih, daß es nur eim einziges Verhältniß zum Künftler giebt, das fruchtbar
und rein ift: die Bewunderung. Wen ich nicht bewundern und lieben kann,
Der gehört ofrenbar nicht in meine Welt und fo habe ich über ihn nichts
zu Men, weil mir das Organ für ihn fehlt. Das mag recht unberliniſch
gedacht jein, aber Sie verzeihen mir jchon, mich lieber an Goethe zu halten,
der einmal geichrieben hat: „Es kann auch an meiner augenblidlichen
Stimmung liegen, mir kommt aber immer vor, wenn man von Schriften
wie von Handlungen nicht mit einer liebevollen Theilnahme, nicht mit einem
gewiſſen parteiifhen Enthuſiasmus fpricht, jo bleibt fo wenig daran, daß es
der Rede gar nicht werth ift. Xuft, Freude, Theilnahme an den Dingen ift
das einzige Neelle, und was wieder Realität hervorbringt; alles Andere ift
eitel und vereitelt nur.“ Und ähnlich in Dichtung und Wahrheit: „In—
deſſen ift die ftille Fruchtbarkeit foldher Eindrüde ganz unſchätzbar, die man
genießend ohne zerfplitterndes Urtheil in ih aufnimmt Die Jugend ift
diefes höchſten Glückes fähig, wenn fie nicht Fritifch fein will, fondern das
Bortreffliche und Gute ohne Unterfuhung und Sonderung auf jich wirken läßt.“
E3 wird Einem nun freilihd mandhmal recht ſchwer gemacht, das
„zeriplitternde Urtheil* abzuwehren. Sie können fi gar nicht denken, wie
es um den Beethoven zuging. Jeder wollte da zeigen, daß er es befier ver—
fteht. Der Ungebildete meint ja, e8 fei Etwas, Fehler zu finden. Bildung
iſt es jedoch vielmehr, Fehler zu begreifen, die ja doch, in der Kunft wie im
DO 00
390 Die Zukunft.
der Natur, immer nur die andere Seite von PVorzügen find. Es gehört
zum Weſen der Form, weil fie ja, Begrenzung ift, da jie, an bloßen Vor—
ftellungen gemeffen, immer unwahr fein muß. Seine Eiche ift „die Eiche*.
Sage ich: Beethoven, jo fchlägt dieſes Wort taufend Borjtellungen an und
ber Künftler, der eine erjcheinen läßt, bringt alle anderen gegen ſich auf.
Das geht ja auch jedem Maler fo, der einen Baum malt. Es ift niemals
„der Baum“ und fo muß immer wieder ein anderer Maler auf ihn folgen,
der endlich einmal zeigen will, wie der Baum „eigentlich“ ausfieht. Dadurch
ift die Kunſt unfterblic. |
Ich kann mir auch einen anderen Beethoven denfen. Ich kann mir
hundert andere denken. Und ich kann mir jeden Beethoven in hundert Mo—
menten denken. Der junge, der alte, der Menfch, der Künftler. In allen
Phafen des Schaffens: in der Erwartung der Efitafe, in ihrer Verzückung,
in der Ermattung. Wie hat Klinger ihn gefehen? Oder, vorjichtiger ge=
fragt: Wie wirft die Erfcheinung, die ihm Klinger gegeben hat? Und auch
Das fann ic) eigentlich nicht fagen, weil ich nicht weiß, was von bdiefer
Wirkung feiner Statue gehört und was die Werke unferer Künftler, die fie
umgeben, an Wirkung etwa hinzugefügt haben*). Ich bin unfähig, fie im
Geiſte auszulöfen und abzutrennen. Ich kann fie mir ohne die Bilder
Klimts gar nicht denken. Da wäre fie mir wie ein aus einem Liede ge=
rifjener Allord, der doch, was er für mich ijt, ganz erſt durch die anderen
wird, die ihn vorbereiten, die ihn begleiten, die ihn vollenden, ohne die ich
ihn vielleicht gar nicht oder doch ganz anders verftehen würde, auf die ich
ihn, nehme ich ihm felbit heraus, unwillfürlich immer wieder beziehen muß,
weil ja, was wir einmal erlebt haben, in der Erinnerung nicht mehr abge=
teilt, ifolirt und umgerechnet werden fann. Diefe Werke unferer Künitler
find ungleih. Für fi würde manches gar nicht bedeuten, wie manche
Stimme in einem Chor wirken fann, die allein ohmmächtig wäre. Aber
jede8 bringt feine Note hinein, die darin nothwendig ift. Und der Ton, den
Klimt ins Ganze giebt, wirft auf mich fo ftarf, daß ich eigentlich nicht
jagen fann: Beethoven Klingers, von den Wienern aufgeftellt; fondern fo
fagen muß: Das Thema vom Genius, auf feine Art von Klinger und von
Klimt auf feine ausgedrüdt, zufammen fo groß, daß fie die Anderen ges
waltfam mit zu fich hinaufgeriffen haben.
Das Thema vom Genius. Ueber der Thür könnte ſtehen: Gradus
ad Parnassum; oder: Weg zur Efitafe. ch weiß nicht, ob Sie die Chrift-
liche Myſtik von Görres kennen oder vielleicht einmal die Belenntniffe der
Heiligen Therefa, die der Heiligen Angela von Foligno gelefen haben. Was
in dieſen wunderbaren Büchern gefchildert wird: wie der Menfch, geheimniß-
*) In der Wiener Sezeffion iſt Klingers Beethoven in einem Raum aus—
gejtellt, den Klimt und andere Maler mit ihrer Kunjt geſchmückt haben.
Klingers Beethoven. 391
voll gelodt, durch die Welt abgefchredt, dahin gelangen kann, in jeligen
Stunden das Thierifche zu vergeiien und in eine reinere Region zu jchauen:
Das hat Klimt hier gemalt. Erft iind es die leife und zart über uns
hinausfchwebenden Wünsche, e3 ift unjere Sehnſucht, die es fortzicht. Sie
entfegt ſich, wenn jie die wirkliche Welt erblidt, die wirkliche Welt in uns
ſelbſt, unfere Begierden und Lafter und dumpfen Gewalten, das rielige Thier,
an das wir gefettet find. Hier fpielt es jih ab, ob ein Menſch im Gemeinen
erftidt oder aber, durch Grauen und Abſcheu emporgereizt, über das Thier
hinausgefhwungen wird. Die Tüde des Thieriſchen ift da mit einer furcht—
baren Macht dargeſtellt, daß ich es nur etwa mit dem Thor der Hölle des
Rodin vergleichen kann; man hat faſt das Gefühl, es ſei hier ein unab—
änderlicher Ausdruck des Laſters gefunden, der nicht mehr überboten werden
könne; und was man daran die gefliſſentlich primitive Technik genannt hat,
begreift ſogleich, wer ſich beſinnt, daß es ja eben der primitive Menſch iſt,
der Urmenſch in jedem Menſchen, vor dem die Sehnſucht erſchrickt. Nun
aber zeigt die dritte Wand die Erlöſung durch die Ekſtaſe, das Schweben
in der Luſt des reinen Anſchauens, den Genuß der Gnade. Der Parnaß
iſt erreicht, der Himmel offen, die Sonne tönt.
Wie aber, wenn ein Menſch, der einmal in einer erhabenen Stunde
ſich vom Körper entrückt und des Geiſtes gewiß gefühlt hat, nun in das
verworrene Element unſeres Lebens zurückgeworfen wird? Er hat die
Himmliſchen gehört und jetzt iſt es der Lärm der Leute, er hat angeſchaut
und jest erliſcht es. Muß davon nicht eine grauenvolle Spur in fein Geſicht
gebrannt fein? Er hat die Verachtung des Lebens auf den Lippen: denn
er wei jegt, daß es nur Schein iſt, und er ballt zornig die Fauſt, dan er
den Schein doch erleiden mug. Für ihn ift, was wir den Ernſt des Lebens
nennen, nur noch ein die Baufe ausfüllendes Spiel, die Pauſe bis zur neuen
Ekſtaſe, bis er wieder die Kraft gefammelt hat umd jich wieder erheben wird.
Er ſitzt am Rande des Lebens da, erfchöpft, um Athem zu holen, ungeduldig
die Fernen fuchend, im die er gleich wieder entfliegen wird, und wartet auf
fein Zeichen. Aber das hinter ihm brandende Leben ängitigt ihn, dar es
ihn verfchlingen könnte, und in einer ungehenuren Erektion laufcht er, um
nicht überfallen zu werden. Er heißt hier Beethoven. Es könnte aud) der
wilde Archilochos fein; oder Shafefveare mag fo, al3 er nad Stratiord
heimritt, am Wege ausgeruht haben. Es ift der Genius, der ſchon einmal
drüben war, aber zu ung zuriüdgeitogen worden: ift.
Ich weiß natürlich gar nicht, ob ſich Das Klimt und Klinger ſo ge—
dacht haben. Es iſt auch ganz gleich. Ich habe nur andeuten wollen,
welche Gedanken, welche Empfindungen mir ihr Werk gegeben hat.
Mien. Hermann Behr.
5 29
392 Die Zukunft.
Moderne Wohlthätigkeit.
ch höre oft das Wort deeadence; man operirt mit diefem Begriff, um
jich ein air von verfeinerter Kultur zu geben, der — ad! — noch jo fernen.
Ein Königreich für einen Dekadenten! Nichts al$ Barbarei iſt zu finden.
Von künftleriich- äfthetiichen Dingen ganz zu jchweigen; aber auch die Lebens—
führung des Durchſchnittsdeutſchen . . Wie harmlos verſreſſen die Winter-
aejelligfeit! Wie rührend unraffinirt überhaupt alle gejelligen Beranftaltungen!
Frauenfrage: ebenfalls rührend naiv. Nämlich alle glüdlichen Bejiger
unentiicelter oder gar unbegabter Frauen find „dagegen“. Es giebt aljo offen«
bar viele unbegabte und noch jehr viele umentiwidelte rauen. Zeichen junger
Kultur. Seien wir jtolz darauf.
Einen einzigen Decadencepunft jah ich: die moderne Wohlthätigkeit.
Die großen Diners zu wohlthätigen Zweden verjöhnen durch ihren Humor;
und da fie viel einbringen: A la bonne heure! Man muß es nicht allzu pathe-
tijch nehmen. Der Effekt iſt ja nüßlid).
Aber die negative Seite der Wohlthätigkeit! Das himmeljchreiende
Verbot der Straßen und Hausbettelei!
Mit welchem Recht, frage ich, hält man dem Menſchen, der gern geben
und helfen würde, den Anblid leidender, verzweifelnder, verhungernder Menſchen
fern? Die offizielle Antwort hierauf würde etwa lauten: Diefe mildthätigen
Herrſchaften mögen doc ihre Mittel und Kräfte einem der vielen Vereine zur
Verfügung jtellen. Darauf erlaube ich mir, zu erwidern, daß es eben jo viele
Arme giebt, denen der „Verein“, das „Komitee“, der „Vorſtand“, denen überhaupt
alle „Behörden“ ein umüberjteigbares Hinderniß find, wieWohlhabende, die dadurd)
an der Ausübung der Wohlthätigkeit verhindert werden. Man hat aber, ich
wicderhole es, nicht das Recht, das Helferbedürfniß diejer unzähligen Menfchen
unbefriedigt zu lajjen. Um jo weniger, als das durch den finnlichen Eindrud
des Elends erregte Mitleid feine einzig natürliche, ja, jeine moralijchere Form iit.
Wer Armenpflege und Armenhilfe in großem Stil treibt, wer für
Hunderte von Kindern Waijenhäufer errichtet, Der freilich kann jich durch den
Anblid der Einzelheit nicht rühren laflen. Das wäre eine überflüjfige Senti-
mentalität, die ihn jeinem großen Ziel entziehen, jeine Kraft vergeuden würde.
Ich ſpreche von der privaten Wohlthätigkeit.
Die meijten Menichen, befonders Frauen empfinden noch jo injtinkftmäßig,
daß der Anblic eines Berzweifelnden jie mehr zur That, zur Dilfe reizt als
jämmtliche jtatijtiichen Tabellen und Liften der Welt. Wenn man mir eine
Liſte vorlegte und ich müßte mir Familie F in Berlin C zum Bewohlthätern
auf dem Papier aufjuchen, jo wäre mir ungefähr zu Muth, als hätte man mic
bier in Europa einem unbefannten Miſſionar in Afrita vermählt. Ich würde
mir auf der langen Reiſe zu dem Ehemann ausmalen, dab er mindeitens feucht:
Moderne Wohlthätigkeit. 393
falte Hände und eine frähende Stimme hat, ein unerträglicher Philiſter und
magenkrank iſt; kurz: eine in der Dölle geichlojlene Ehe. So giebt es eben
auh Menjchen, denen die Armen nicht Nummern jind, jondern Berjönlichkeiten,
die fie fih je nah Sympathie auswählen.
Es kommen aber noch andere, äußerlihe und innerliche Gründe hinzu.
Es iſt, zum Beifpiel, für eine arme Wittwe mit vier Kindern ein zweifelhaftes
Glück, von irgend einer Behörde achtzehn Mark monatlich zu empfangen; denn
in den meilten Fällen iſt diejes Almoſen der Grund für ſämmtliche übrigen
Behörden und Bereine, ihr feinen Pfennig zu geben.
Schwerer wiegen andere Gründe. Reiche und Arme entarten, weil der
Nothleidende fidy nicht mehr jpontan an den Satten mit der Bitte wenden darf,
ihm zu helfen. Deutzutage finden nur die Bettler mit gutem warmen WBaletot
oder mit Federboa und Perjianermuff Eingang in die Häufer. Die laſſen ſich
„bei den Herrichaften“ melden. Oft find es Betrüger; und Den, der fo wenig
phyfiognomilchen Scarfjinn hat, auf jie hereinzufallen, bedaure ich nicht allzu
jehr wegen der paar Groſchen, die jeine Thorheit ihm koſtet. Vielleicht lehrt
dieje Erfahrung ihm beifer in Gefichtszügen lefen; dann war die Unterrichts⸗
ſtunde billig.
Die wirklich Bedürftigen ſind ja viel zu „anſtößig“, als daß ein jo takt—
volles Weſen wie eine berliner PBortierfrau jie ins Haus hineinließe. Doch
wenn man den Satten den AUnblid des Hungernden entzieht, jo nimmt man
ihnen das jtärfjte Erziehungmittel, den mächtigſten Anjchauungunterricht, den
das Leben bietet. Das einzige Mittel, das den ſich ſonſt zum monjtröjen Egoijten
Auswadjenden zur Einfehr zwingt. Ein Menſch, dem von Kindheit an nur gut
gekleidete und gut genährte Menſchen zu Gefiht fommen, Mermere jedod nur,
jofern fie ihm dienen und für jein Wohl jorgen, erhält ein falfches, läppiſches,
albernes Weltbild. Bei den Armen aber entjteht eine eben jo verderbliche Bor-
jtellung von dem Kulturmenjchen oder — was für ihn das Selbe iſt — Reichen.
Er denkt fich einen Genießenden hinter einer undurchdringlichen Mauer von Gold-
rollen. Vielleicht hat er nod} die Ahnung, daß auch hinter diefen Mauern einzelne
warme Herzen jchlagen; aber der Weg iſt ja verjperrt durch Portier, Schuß
mann, Diener und Doppelthüren.
Aljo die beiden Typen, der Schwelgende und der Berhungernde, die ein-
ander jo nothwendig brauchen, find durch die Sitte, die Ordnung von einander
unerreichbar getrennt.
Man hat Unannehmlichkeiten durch Straßen: und Hausbettelei; jicher;
nicht zu leugnen. Iſt Das etwa ein Grund dagegen? Wir jollen aud, Un—
annehmlichkeiten haben, wir brauchen jie wie die Pauſen in der Muſik als Unter:
brediungen unjeres Wohlergehens. Und gerade diefe groben Unannehmlichkeiten
brauchen wir, diejen Anblick häßlicher, unmdifferenzirter Leiden. Sie am Aller:
meiiten helfen den Menſchen entwideln und jtärfen. Ohne diejen Eindrud ver:
lieren wir den großen Maßſtab und Alles in uns wird zwergenhaft. Ein in
höchiter materieller Noth befindlicher Menſch, der jeinen Nächten um eine Gabe
bittet, ijt noch fein Bettler. Er kann, wenn jeine Yage fich beſſert, völlig ver-
geilen, daß er gelegentlich gebettelt hat, behält dadurd ein Eräftigeres Selbit-
29*
394 Die Zukunft.
bewußtjein und iſt weder vor jich noch vor jeiner Umgebung degradirt. Ein
eingetragener, regiitrirter Almojenempfänger dagegen arbeitet jih annähernd jo
ichwer in die Höhe wie ein „Vorbeſtrafter“.
Die Arbeitihen wird durd) die Bettelei bejtärft, jagt man. Beſtärkt
nicht; wohl aber wird den Arbeitjcheuen geholfen. Iſt Das nicht Menfchenpflicht ?
Wer von uns wäre noch nicht unter den Gebildeten (namentlidy Frauen)
harakteriftiichen Typen Urbeiticheuer begegnet? Die mageren unter ihnen be-
ginnen ihren Tag mit dem Frühſtück im Bett; fie lejen die Morgenbriefe; eine
Stunde Gejihtsmafjage; Morgentoilette; zweites Frühſtück; furzer, langjamer
Spazirgang; Vortrag im Viktorialyeeum über Etwas, das man zu verjtehen
beftrebt ift; Yund. Und jo weiter. Die forpulenteren beginnen den Tag mit
einen zwei bis drei Stunden langen Entfettungmarſch durd den Thiergarten;
dabei jtören fie nicht jelten eine freundin, die vormittags jehr viel zu thun hat.
Folgt eine Stunde Hüftenmaflage; Vortrag im Viktorialyeeum; Yund. Und
jo weiter. Dieje und ähnliche Typen wären rettunglos verloren, wenn fie nicht
betteln gehen dürften. Sie nähren fich ihr Yeben lang von der Mildthätigkeit
ihrer Freunde. Die legen für fie zujammen. Jeder giebt ihnen ein Stückchen
jeiner Perjönlichkeit, jo day die Aermiten eben erijtiren fönnen; denn fie find
pathologiich zwar in ihrer Zerfahrenheit und inneren Daltlofigfeit, aber oft reizvoll
und nicht unſympaäthiſch, — man fann fie unmöglid umfommen lafjen. Hätten
fie nicht produftive oder amujante Freunde, fie würden, ob ledig, ob Familien—
mütter, in irgend einer ;yorm zu Grunde gehen.
Warum follen wir nun jo hart jein und die Arbeiticheuen der unterften
Schicht verdammen, da doc auch jie pathologijch oder vielleicht nur ataviſtiſch
find? Denn vor dem Sündenfall gab es noch nicht den Begriff des Fleißes. Die
Welt iſt aber heute dem Baradieje jo fern, daß der Faule, aljo der urjprünglich
varadiefiiche Menſch, der ſich nur jonnt und wartet, bis die Früchte reifen, eben
jo als pathologijch betrachtet werden muß wie Einer, der nadt gehen will. Man
bringt ihn in eine Maison de sant& — das verlorene Paradies — oder, wenn
der Anbli minder verlegend ift, forget die Menge für ihn; er wird eben
Almojenempfänger.
Unſer Yeben ift im Ganzen jo hoffnunglos ungefährlid geworden. Der
einst jo köſtlich kühne Begriff des Abenteuers iſt verloren gegangen oder in
Berruf gelommen. Man verfichert jein Yeben, jeine Brandichäden, jeine Ein-
brüche (in England jogar Zwillingsgeburten); man tft vorfichtig bis zur Wider»
lichkeit. Erhalten wir uns doch dieje eine Kleine, bejcheidene Gefahr: daß dann
und wann ein „Umnwürdiger“ uns anbettelt. Es ijt jicher weniger bedauerlich,
dag ein Schwindler ein Almojen empfängt, als daß ein Würdiger vor lauter
Würde in feiner Kammer allmählich und einſam verhungert.
Sabine Qepjius.
ten
Ns ed
Auzeigen. 395
Anzeigen.
Die Kunſt unſerer Zeit. Franz Hanfſtaengl, Kunſtverlag, Münden.
Unzählige Blätter und Zeitſchriften populariſiren in Deutſchland die Kunſt.
Ihr Charakter iſt vorwiegend illuſtrativ und ihr gemeinſamer Stammbaum „Die
Gartenlaube“. Die neuere Reproduktiontechnik hat zur leichteren Verbreitung
der künſtleriſchen Werke viel beigetragen. Unter den Blättern, die als wirkliche
Annalen des modernen Kunſtlebens gelten können, ſind erſtens ſolche, die mit
dem wandelnden Geſchmacke gehen und alle Erſcheinungen aufgreifen, einerlei,
welcher Richtung ſie angehören. Die Abſicht dabei iſt, das Publikum von Allem
zu unterrichten, was in den Werkſtätten, in den Ausſtellungen und im Kunſt—
handel vorgeht. Ihre Berichterjtattung hat einen vorwiegend fenilletonijtijchen
Charakter, und etwas in mancher Beziehung mit den Börjenberichten und Mtode-
journalen Gemeinjames. Ihre beiondere Bedeutung liegt im raſchen Umſetzen
fünjtleriicher Werthe und in der Aufjpeicherung jtatiftiihen Materials für den
Kunfthiftorifer. „Die Kunſt unjerer Zeit“, die jeit dreizehn Jahren in unjerem
Verlage ericheint, vepräjentirt die andere Gattung, die in vornehmer Ausſtattung
Erzeugnifie des künſtleriſchen Schaffens wiedergiebt. An die Stelle der Alluftration
tritt eine mit größter Sorgfalt ausgeführte Reproduktion, worin die Eigenart
und der techniſche Charakter des Bildes voll zur Geltung fommt. Das auf
photographiicher Grundlage beruhende Verfahren läßt die malerifchen Qualitäten
deutlich erfennen und fann als ausreichendes Hilfsmittel für das Studium der
Driginale gelten. In literariſcher Hinjicht folgt die Zeitjchrift dem modernen
internationalen Kunitleben und regijtrirt getreulich alle wichtigeren Greignifje
und Beranitaltungen. Dennod bemüht fich die Yeitung, inmitten der Hochfluth
und Ueberproduftion auf künſtleriſchem Gebiete einen bejtimmten Kurs einzus
halten. Ihre Tendenz iſt einem Magneten vergleichbar, der immer auf einen
Ausgangspunkt, in unjerem Falle auf die Tradition, hinweiſt. In der Form
von Eſſays oder Monographien werden die Leſer mit den typiichen Erjcheinungen
auf dem Stumftgebiet, jedoch fait ausjchließlic auf dem der Malerei, befannt
gemacht. Der Tertlaut joll dabei, wie eine ruhige Mufik, möglichſt wenig jtörend
hervortreten, während der Beichauer von Bild zu Bild weitergeht.
Münden. Franz Danfitaengl.
*
Amiens⸗St. Quentin. — Le Mans. Beide illuſtrirt von Speyer. Karl
Krabbes Verlag, Stuttgart. Preis jedes Bandes 1 Mark.
Auf vielfaches Begehren habe ich meinen früheren Schlachtdichtungen aus
dem deutſch-franzöſiſchen Krieg als Schluß noch die Kämpfe der Nordarmee und die
„Sieben Tage“ von Le Mans angegliedert. Unparteilich wäge ich die Leiſtungen
beider Heere ab. Die unglückliche zweite Loirearmee zeigt ſich in günſtigerem
Licht als bisher, während ich in das unbedingte Loblied auf die franzöſiſche Nord—
armee nicht einzuſtimmen vermag. Beſonders Faidherbes hebt ſich ziemlich un—
vortheilhaft, handelnd und redend, von ſeinem Gegner Goeben ab, deſſen eigen—
artige germaniſche Heldengeſtalt mit liebevoller Sorgfalt, wenn auch nicht ohne
kritiſche Einwände gegen Ueberſchätzung, gemalt iſt. Chanzys Energie und die
396 Die Zukunft.
jeines waderen Unterführers, des Scemannes Jauréguiberry, wird gebührend
beleuchtend. Aber die dentiche Kraft tritt überwältigend hervor. Sowohl bie
Brandenburger bei Ye Mans als Aheinländer und Oftpreußen im Norden Frank—
reihs fünnen mit dem Ruhmeskranz zufrieden fein, den ich ihnen fledite. Auch
die Tüchtigfeit anderer Stämme, die an dieſen Kriegsthaten theilmahmen, wird
nach Verdienit anerkannt. Stärkeverhältniffe und Verluſte find fenau geprüft.
Aspern. Jllujtrirt von Thöny. Preis 5 Marf. — Waterloo, Illuſtrirt
von Thöny (454 Seiten). Preis 8 Mark.
Die beiden ſchwerſten Schladhtkatajtrophen der napoleoniſchen Zeit habe
ih in den Kreis dichteriſch wiſſenſchaftlicher Betrachtung gezogen. Realiſtik der
Detailmalerei und Gharakterijtif paart jid) mit dem Pathos weltgejchichtlicher
Tragif. Ich biete hier das Ergebniß erniter fritifcher Forjchung. Jeder Biftoriker,
jeder Sriegsforjcher, jeder Soldat, der kritiſche Wahrheit jucht, dürfte hier des»
halb jeine Nechnung finden, eben jo aber auch der Yejer, der dichterifche Anregung
wünſcht. Alle Dauptperjonen diefer Schlachtendramen find genau individualifirt.
Ich juche Napoleon jo zu jagen bei der Arbeit auf. Bon wahrhaft weltgeichicht-
lichem Odem ummeht, ragt dieje Gejtalt aus den Gewittern von Aspern, Ligny
und Waterloo in magijcher Beleuchtung empor.
Wilmersdorf. Karl Bleibtreu.
*
Peter Michel. Roman von Friedrich Huch. Alfred Janſſen, Hamburg.
Wenn man die Romane, die in den letzten drei oder vier Jahren er—
ſchienen find, heute vorurtheillos betrachtet, jo erſcheinen die beſten unter ihnen
als Vorläufer und Verkünder irgend eines fommenden Werkes. Sie find alle
einjeitig, ſowohl die realijtiichen wie die romantiſchen und diejenigen, welche
man die piychologifchen genannt hat, und gerade dieje Einjeitigfeit macht fie
intereflant und lejenswerth, dieje bewußte, mehr oder minder geijtvolle Ueber—
treibung nach einer Seite hin, nad; einer bejtimmten neuen Seite hin, von der
man jegt mehr zu willen glaubte oder mehr wußte als früher, in der Zeit _
größerer Dichter. Zu einem einheitlichen, zufammenfafjenden Kunſtwerk ſchien
Alles zu fehlen: die Kraft, die Zeit und die Unbefangenheit. Und nun ift
diejes Kunſtwerk, deſſen Erſcheinen auch die Optimijten unter den erniteren
Kritikern in unbeftimmte Zukunft verlegten, da, ift unter uns, und Jeder kann
es befühlen und jehen, daß es wirklich und am nächſten Morgen nicht ver:
ſchwunden ijt, jondern an dem Platze liegt, wo er es verlieh, als er fih in
tieffter Nacht ſchwer und in fjeltiamer Erregung davon trennte. Ich glaube
nicht, daß dieſes Bud an Einem von Denen, die es in die Hand nehmen,
ipurlos vorübergeht. Es redet Jeden an, obwohl es ſich an Steinen wendet, und
läßt Keinen mehr los, obwohl es ihn gleichfam nur mit dem Kleinen Finger
hält, mit irgend einem einfahen Sat, mit irgend einer Unausſprechlichkeit, bie
ausgeſprochen ijt, mit irgend einer Meberraihung, die jo jelbitverjtändlich vor—
ji geht wie Alles in diefem Buche, in dem nur Selbjtverftändliches geichieht.
Wie Zufälle ftehen die Ereigniſſe neben einander und die Menſchen gehen durch
fie durch, ſelbſt wie Zufälle, von einander getrennt, wie eben ein Zufall vom
anderen getrennt ift, allein, wie Kinder. allein find unter Erwachſenen, traurig
Anzeigen. 397
wie Träumer und empfindlid wie Sclafloie, — und das Yeben, das Yeben
rinnt ihnen durch die Finger wie Sand und wächſt wie ein Sandberg vor ihnen
auf, immer höher und höher, bis fie Schließlich dahinter verloren gehen. Bon
folder Art iſt die Tragik dieſes Buches, die mir mehr zu fein ſcheint als die
Tragik einer bejtimmten Zeit, während das viele Komiſche, von dem das Bud)
erfüllt ift, an der Zeit zu hängen und aus ihren Kleinheiten aufzuwachſen jcheint.
Denn es ijt viel Anlaß zum Lachen und viel Grund zum Weinen und zum
Nachdenken in diefem Buch, wie im Leben zu Alledem täglich Anläfle find; nur
werden fie uns durd) dieſen Roman jo gebieteriid) auferlegt, daß wir fie aus»
nügen müſſen, während fie im Leben an unjerer Trägheit oder Zerſtreutheit To
oft vorübergehen. Das Buch heißt Peter Michel. In ſeinen eriten elf Kapiteln
erfahren wir die Gejchichte Veters von jeiner Kindheit bis zu jeiner Verhei—
rathung. Das zwölfte und letzte Kapitel zeigt uns Peter zu einer Zeit, wo er
von fich jelbit, von dem Peter der elf Kapitel, nur jehr,wenig mehr weil: er
hat zwei Kinder und Ernejtine Treuthaler it eine brave Dausfrau. Der Sande
berg vor ihm ift ganz groß geworden, jo groß, daß er nicht mehr darüber weg
jehen kann; aber vorher, in dem größeren Theil des Buches, jehen wir diejen
Zufall Peter als die Urjache von glüdlihen und unglüdlihen Stunden, als
einen Anlaß zu manchen Veränderungen ſich auf dem kleinen Stüd Welt be-
wegen, das er in Aufregung bringt und befhmichtigt und das auf ihn zurück
wirkt, wie Maſſe auf Majje wirkt, mit feinen taujend Geſetzen und Zufällige
keiten und mit feinen Menſchen, die alt werden und eingehen und ich beicheiden.
Und obwohl allen Sejtalten diejes Buches gemeinjam ift, dab fie alt werden
und eingehen und fich bejcheiden, ift doch gar nichts Einjeitiges in dieſem Bud);
im Gegentheil: wollte man das Bezeichnende feiner Art in Kürze feititellen, jo
müßte man jich entichliegen, zu jagen, daß Alles in diefem Buch ift, von der
Ktatajtrophe bis zum Aperçu und von der breiten Komif, die abſichtlich banal
und derb wirft, bis zu jenen feinften und leiſeſten Greignijien, Freuden und
Enttäufdungen, Entfremdungen und Harmonien, bei deren Eintreten die Sprache
machtlos bleibt und der Zeiger der Worte feinen Ausichlagswinfel mehr auf:
weilt. Ach Habe nie für möglich gehalten, daß Dinge, Stimmungen, Ueber:
gänge, wie diejes Bud) fie in reicher Menge enthält, ausdrüdbar jind, cs jei
denn, daß man das ſchwer ausdrüdbare Motiv zur Hauptſache madıt, eine Skizze,
eine Novelle, ein Gedicht dafür fchreibt, aljo einen ganzen Apparat von Dilfs-
mitteln in Bewegung jet, um ihm beizufommen. Davon ijt aber hier gar nicht
die Rede. Als ob es das Allereinfachlte wäre, ſpricht diefes Bud von ganz
feiien Borgängen, Zufammenhängen und Anklängen in jeinen furzen Sägen,
die lauter Thatjahen zu enthalten jcheinen. Auf Allen ruht die gleiche Be-
tonung; mit Nedt: denn Alles iſt wichtig in diefem Buch und, trogdem Alles
zufällig Scheint, voll Geſetzmäßigkeit. Eins hält das Andere im Gleichgewicht
und die Erregung jeiner bewegten Momente jcheint über dem Ganzen wirkſam
zu fein, eben jo wie die Wehmuth feiner traurigen Stellen über alle dreihundert-
fünfzig Seiten ji wie Mondlicht auszugießen jcheint. Und da drängt ſich denn
ungeltüm die Frage nad dem Künſtler auf, nad) dem Zujammenfafler und
Ordner und Sejeggeber. ich weiß nichts von ihm, Gr heißt: Friedrich Huch.
Weftermwede. Nainer Maria Wilke.
2*
398 Die Zukunft.
Meine Ausweiſung.
F meine perſönlichen Angelegenheiten die öffentliche Aufmerkſamkeit in
YA Anſpruch zu nehmen, würde ich germ vermeiden; nicht, weil ich eine
Kontroverje darüber ſcheue, jondern, weil Berfonalien von der Art der
meinen immer Etwas von Dem haben, was Goethe im Auge hatte, als er
fagte: Die Geheimnifje der Lebensführung fann man nicht offenbaren. ch
wei nicht, aber ich vermuthe, dar dies Urtheil Goethes nicht ohne Beziehung
ift zu dem Verſuch Rouffeaus, deffen „Belenntnifje“ von einer Nachahmung
aud einen Mann abjchreden müßten, der über Rouſſeaus Stil, über feine
leidenfchaftliche Wärme verfügte. Aber es ijt nicht meine Schuld, daß ich
mit meinen Perſonalien wieder auf dem Markt jtehe. Die königlich preußifche
Polizei, nicht zufrieden mit dem harten Urtheil der Gerichte über mich, hat
mih — 31/, Jahre nach meiner Entlaffung aus der Strafanftalt, 7 Jahre
nach meiner Berurtheilung — aus Berlin und deffen Vororten ausgewiefen.
Dadurch glaube ich, verpflichtet zu fein, den Rückſichten auf meine eigene
Perjon gänzlich zu entjagen, mich meiner eigenen Geſchichte und meiner
ichmerzhaften Erinnerung an fie gewiſſermaßen zu entäußern und dieſe Ge—
Schichte jenen zu vermachen, die im Gewirr urtheillofer Gegenwarten die
Erbfolge der Befreiung vertreten, jener unfichtbaren Kirche, die mehr als alle
pragmatifche Hijtorie das Bindeglied zwiſchen der Vergangenheit unferes
Geſchlechtes und feiner Zukunft ift. Ich glaube, dazu verpflichtet zu fein,
nicht nur im Intereſſe von Menjchen, die elender find als ich, fondern vor
Allem der einzigen Inſtanz zu Liebe, deren Stuhl und Würde das Leben
lohnend und die Geſchichte der Menschheit erträglih machen. Nur die Thor—
heit fönnte mir vorwerfen, Das fei unbejcheiden von mir gedadht. Der
Bund der menjhlihen Evolution umfaßt neben den Heroen der That und
des Geiſtes aucd Träger des Leides. Als ein Opfer herrichenden Wider:
ſinns fühle ich mich berechtigt, an den Stuhl der Vernunft und den Richter—
jpruch Derer zu appelliren, die nicht jtumpf und ftumm bleiben fünnen, wenn
fie ihre Geichleht und ihr Zeitalter im Dunfeln irren jehen.
Dennoch will ic) nicht das Mitleid wachrufen, fondern die kräftigen,
die rüftigen Regungen jenes Vertrauens, das, nie befriedigt von der Gegen—
wart, von der Zukunft Alles erwartet und jelbit in den ärgjten Felleln und
mächtigiten Borurtheilen unferes Gejchlechtes nur verurtheilte Rudimente er—
fennt, das Erbe einer Vergangenheit, die ſich nicht behaupten fann gegen das
„einzige* Sefchichtgeieg, gegen die Entwidelung.
Bei meiner Ausweitung kommen zwei Dinge in Betracht: meine
„öffentliche“, politiiche Thätigkeit und meine Kriminalität, meine beiden
„Vergangenheiten.“ Wie im mir, jo wird auch in Anderen wahricheinlich
n ° us ELF, vera} a —538— er F =. ⁊
Meine Ausweiſung. 399
ſowohl jene als dieſe gemiſchte Gefühle und Urtheile hervorrufen. Auf der
einen Seite erkenne ich in beiden Seiten meiner Vergangenheit Irrthümer,
Fehler, auf der anderen ſehe ich nicht ein, wie ich, unter den Umſtänden, die
mich beſtimmten, ſolche Fehler vermeiden konnte, ja: vermeiden durfte.
Meine politiſche Thätigkeit hat in jedem Jahr auf anderen Grund:
lagen geruht, aber ſie iſt im ihrer Richtung nie durch etwas Anderes be—
ftimmt worden als durch meine Einſicht, meine Ueberzeugung. Ich mar
jiebenzehn Jahre alt, al3 ich Schriftiteller wurde. Meine erite Arbeit er-
ſchien in der „Sozialtorrefpondenz* des Geheimraths Böhmert in Dresden
und behandelte die Frage, was für die norddeutiche Hochjeefijcherei geichehen
folle und warum durchaus Etwas gefchehen müſſe. Damals — es iſt bald
ein Vierteljahrhundert her — fehlte es im Uebrigen an jeder öffentlichen Auf-
merkſamkeit für diefe Frage; bald nachher wuchs dieſe Aufmerkfamfeit und
id) darf feitftellen, daß meine Vorſchläge fait ohne Ausnahme durchgeführt
worden find. Ohne eine ftarfe Fifchereiflotte hat bisher Fein zur See mäch—
tiges Volk eriftirt. Aber e8 war nicht diefer nationale Geſichtspunkt, der
mein Intereſſe fellelte, jondern der ölonomifche. Meine Umgebung, meine
Familie, meine frieiifchen Stammesgenofjen wurden eben in meinen Knaben—
jahren aus ihrem Beiig, aus einer zwar mühjamen und einfachen, aber dod)
werthvollen Selbftändigkeit und Unabhängigkeit verdrängt. Feder Schlot, der
auf der See auftaudhte, löjchte da8 Herdfeuer unabhängiger Kapitäne aus,
die auf eigenen Seglern an der europäifchen Küſte Seefahrt trieben.
Um die felbe Zeit wirkte die wirthichaftliche Krife der ſiebenziger Jahre.
Sc ſah eben jene Flotte von Dampfern, die fo unheilvoll in daS Leben der
frieiiichen Kapitäne eingegriffen hatte, felbit zur Unthätigkeit verdammt, im
Hafen liegen. Diefe beiden Erfahrungen machten mid zum „WReaftionär*.
Ich entichied mich gegen die induſtrielle Revolution und für die dem frie-
ſiſchen Stanımescharafter befonders zufagende wirthichaftliche Unabhängigkeit
des Einzelnen auf fleinerer Grundlage des Betriebes. Ein Onfel predigte
mir einen frieſiſchen Spruch: Lieber ein Heiner Herr als ein großer Knecht.
Er hatte dabei die Dffiziere und Kapitäne des Norddeutſchen Lloyd im
Auge, zu denen fpäter mein Vater und meine Brüder übergegangen jind.
Diefe und andere Motive führten mich Ende der jicbenziger Jahren — vor
meinem zwanzigiten Lebensjahr — in die reaftionäre Welle, die damals ſich
zu erheben anfing. Aber ich Hatte früh Laſſalles Neden kennen gelernt und
hatte einen Tropfen demofratifchen Dels in mir. Diefe Mifhung führte mic
unter jene Konfervativen, die aufs Aeußerſte jich empören, wenn man ihr poli=
tifche3 Programm mit Regirungfrömmigkeit verwechielt, aljo zur „äureriten“
Rechten, wo die Leute fahren, die fich aud vor Bismard nicht beugten. ch
war in der Agitation erfolgreih. 1887 riet mich Stoeder nad Berlin, um
400 "Die Zutmit.
die Zeitung „Das Volt“ zu gründen, die ich ein Jahr lang redigirte. Mit:
arbeiter war damals (wie fpäter Redakteur) Herr von Gerlah. Als die
deutſch-ſoziale antifemitiiche Partei begründet wurde, betheiligte ich mich zu=
nächft als Gaſt. Später trat ich der Partei bei und eroberte mir 1893 den
heſſiſch-thüringiſchen Wahlkreis Eichmwege-Wigenhaufen-Schmalfalden. In
diefen Jahren entwidelte ich mich immer mehr nah links. Ich habe bei
der Begründung der deutfch-fozialen antijemitifchen Partei mitveranlaft, daß
die Aufhebung des Sozialiſtengeſezes im Programm gefordert wurde, und
auf meine durch Gerlach vermittelte Bitte redete Stoeder auf dem eriten
Tivolitage der Konfervativen in Berlin gegen eine Stelle im neuen Partei:
programm, die für die Wiederherftellung des Sozialiftengefeges eintrat. Der
Sag wurde aus dem Entwurf gejtrichen.
Es ift im Grunde albern, dar man ſich gegen den „Vorwurf“ der
Entwidelung in politifchen Dingen vertheidigen muß. Starrheit feiner
politifchen Aniichten ift im der Regel weit eher ein Vorwurf für einen Mann.
I’homme brut ne change pas; der Idiot allein bleibt, was er iſt. Die
Verſchiedenheit des Wiſſens, der Erfahrung, de8 Temperamentes, der Zeit-
umftände und ihrer Forderungen erflärt, daß der Mann von vierzig Jahren
ander8 urtheilen muß als der zwanzigjährige Füngling. Die Frage kann
nur fein, ob ſolche Entwidelung der fortichreitenden Einſicht eines ehrlichen
Mannes oder der elenden Abſicht des Strebers entipringt.
Ende 1894 wurde ich zu drei Jahren Zuchthaus verurtheilt, weil ich
in, einem Ehefcheidungprozen wiſſentlich falſch geihmworen hatte. Die näheren
Umstände mag ich nicht erörtern; man wird vielleicht fpäter erfahren, wie
wunderlich und unglaublich dieſe Umftände waren, dag meine Ausjage zwar
falich, aber au ihr gerade ein Theil richtig war, von dem Alle das Gegen:
theil vorausgefegt hatten und heute noch glauben. Dies nebenbei. Die Aus:
jage war falſch und wifjentlich falſch.
Dean hat mir — ohne jeden Beweis — in den Strafmangründen
vorgeworfen, ich hätte aus Rüchſicht auf mich felbit gehandelt. Das iſt
an ſich ohne Sinn; ich kannte das Leben genau genug, um zu wiſſen, daf
mich auch eine fchlimmere Wahrheit als die zu befennende nicht unmöglich
gemacht hätte. Außerdem lag, als ich meinen Eid leiftete, die Sache jo,
dan mir die Wahrheit ganz und gar feine Schande machen fonnte. Dies
iſt inzwiſchen gerichtSnotorisch und aktenkundig geworden durch dem zweiten
Prozeß gegen mich, in dem ich wegen Berleitung zum Meineid verurtheilt
wurde. In diefem Prozer bin ich unfchuldig verurtheilt worden. Meine
Mitangeflagte erklärte, den Thatſachen gemäß, daß ich fie gewarnt habe,
meinem Beifpiel zu folgen. Meine Berurtheilung iſt erfolgt auf Grund
der Rechtsanſicht vom „Verſuch am untauglihen“ — alio in diefem Falle
— 7 —— BT Fr a ET nn pr
Meine Ausweifung. 40]
am ohnehin entfchlofjenen — „Objekt.“ Aber jelbjt diefer Rechtsgrundſatz
wurde in meinem Fall falſch angewandt, wie leicht nachzuweiſen wäre, wenn
es hier nicht zu weit in juriſtiſche Deduftionen‘ führte. Ich lege darauf
weniger Gewicht als auf den Umftand, daß ich nicht den Halunfenftreich
begangen habe, auf eine Frau einzureden, daß fie zu meinen Gunften fich
eines Meineides jchuldig machen jolle.
Zu dem falichen Eid, den ich geleiftet habe, war ich ohne Bedenlen
und ohne Erwägung entichloffen; er war unmittelbar vom Gefühl und von
dem im Gefühl wurzelnden Gewiſſen diftirt; geſchwankt habe ich nicht einen
Augenblid. Aber auch die vernünftige Ueberlegung würde mich nicht anders
geitimmt haben, denn ich habe jeitdem und auch während der Gefangenschaft
feine Sekunde bereut, was ich gethan habe, jondern ich bin heute, wie damals,
far darüber, daß ich nur al3 vollflommener Schurfe anders handeln konnte.
Ich müßte den Mann beflagen, der anders denkt. Es ift faft ein Gemein—
plag, daR Legalität und Meoralität fehr verjchiedene Dinge und oft im
Streit mit einander find. Rudolf von Ihering hat den geiftreichen Verſuch
gemacht, die zeripaltenen Gebiete der Moral auf ihre gemeinfame Wurzel,
den Zmed, zurüdzuführen und das erftarrte „Recht“ damit im Fluß zu
bringen. Aber was im Schriftthum jchon trivial Flingt, ift praftiich, im
Leben des Volkes, des Staates, der Menfchheit, noch fait gänzlich ohne
Eriftenz. Nur in religiöfen und politifhen Bewegungen wird jene Lehre
That und Leben. Dean gejteht politifchen und religiöfen Opfern des Konfliktes
zwifchen Legalität und Moralität die Ehre de8 Martyriums zu. Wegen
des falfchen Eides, den ich geleiftet habe, nehme ich dieſe Ehre in Anſpruch,
und wenn man fie mir verweigert, jo genügt e8 mir, fie mir jelbjt zuzuerfennen.
Einjehen gelernt aber habe ich, dan es etwas Furchtbares it, wenn
auch wider Wollen und Willen, mitfchuldig zu fein an der Trennung einer
Mutter von ihren Kindern, daß diefe Mitjchuld ans Leben geht.
Während der 31/, Fahre meiner Gefangenſchaft bin ich jehr demokratisch
geworden. Für Neigungen, die ohnehin in mir lagen, war der furchtbare
Zwang, in dem ſich mein Leben bewegte, Treibhausluft. Ich habe mich,
wie bezeugt und aftentundig ift, mit der äußerſten Entjchloffenheit dem Zwange
unterworfen — durchaus nicht mit Schlaffheit —, aber das Nachdenlen und
das Gefühl floffen in einander, um mein Wefen zur Empörung gegen Zwang
und Schablone aufzureizen. Die Wirkungen der Einjamkeit find Uner—
fahrenen nicht zu fchildern. In mir haben fie zwei Weltanfichten zur Reife
gebracht: die demofratifche und die fünftlerifche. Die Wirkung diefer Wirkung
war, daß ich an fozialdemokratiichen Blättern als Mitarbeiter thätig wurde
und daß ich einen Band Gedichte herausgab. Menschen der verfchiedeniten
Klaſſen find mir mit der äußerften Artigfeit begegnet; eine capitis diminutio
402 Die Zukunft.
abzulehnen, habe ich nur jelten nöthig gehabt, obwohl ich mit offener Karte
fpielte. Aber auch in allen Parteien, vor Allem in einem Theil der jozial-
demofratiichen, ijt mir die offene Ablehnung begegnet, die mir lieber iſt al3
die Forderung einer Degradation.
Eines Tages veröffentlichte ich im der „Welt am Montag“ einen
Aufjag über „Kriegervereine*. Weil ich nicht läppifch genug war, den Vor—
behalt zu machen, daß es im den Sfriegervereinen fehr viele reipeftable Leute
giebt, Hagten einige Generale, Beamte und Private gegen mich wegen Be—
leidigung. Die Strafkammer fprad mich frei, das Reichsgericht hob das
Urtheil auf umd ich werde mich noch einmal vor der Straflammer zu ver-
antworten haben. Der Prozeß hatte die Folge, dak meine Strafaften an
den Amtsvorfteher von Wilmersdorf geſchickt und ich — nachdem ich in berliner
Bororten mehr als zwei Jahre gewohnt hatte — auf Grund eines Gejeges vom
Jahr 1842 aus Berlin und Vororten ausgewiefen wurde. Nach biejem
Gejeg find mit Zuchthaus beitrafte Leute ganz dem Ermefjen der Polizei
preiögegeben, während Perfonen, die mit Gefängniß beitraft find, der Aus:
weiſung verfallen können, wenn jie „der Sicherheit und der Moralität“ ge-
fährlich jcheinen. Die berliner Polizei hat denn auch wegen politischer Vor—
ftrafen Menſchen ausgerwiefen. Als mir der Ausweifungbefehlvorgelegt wurde, las
ich in der Akte: „Schreibt für fozialdemofratifche und andere Blätter.“ Das
Dberverwaltungsgericht hat die Verfügung beftätigt. Das alte Gefeg beiteht
ja zu Recht, wie jo viele vormärzliche Gefege, wie nach der Meinung eines
Juriften in Südhannover das zweihundertjährige „Gejeg“, das dem Bauern
verbietet, ohne Erlaubnif der Regirung auf jeinem Hof einen Baum zu fällen.
Aus zwei Gründen bin ich der Meinung, daß die hier geichilderten
Vorgänge jeden Mann von Kopf und Herz angehen. Zunächft wegen des
Konfliktes zwifchen gefeglicher und jittlicher Forderung. Frankreich und andere
Kulturftaaten fennen Eide folder Art nicht; und fein Staat follte fie kennen.
Für die fittlihe Qualität eines Menfchen ift fein Verhalten zum Strafgeſetz
manchmal bedeutunglos, manchmal aber jogar in ganz anderer Richtung
bedeutiam, als das PVorurtheil annimmt. Schiller hat, als er der Schau:
bühne moralifche Aufgaben zufchrieb, Eins vor Allem von ihr erwartet: daß
fie eine menfchlichere Anjicht von Verbrechen verbreiten werde. Ihn trieb
zu diefer jugendlich enthufiaftifchen Regung die von Rouffeau entlehnte Ein-
ſicht, daß der von großen Motiven zum Verbrechen Gedrängte der geborene
tragiiche Held jei. Das Publifum, das Karl Moor beflaticht, ſpürt nicht
die Ohrfeigen, die es felbft in dem Stück empfängt.
Dar man aber der Polizei eines Kulturftaates im zwanzigiten Jahr—
hundert, hunmdertundfünfzig Jahre nach Beccaria und den friminalpolitiichen
iteratoren des achtzehnten Säfulums, erit noch jagen muß, ihre Aufiicht
TER ETF
Onze dappern burgers. | 403
und ihre Ausmeifungen jeien nur geeignet, Verbrecher zır züchten: Das ijt
beihämend. ch ertrage mein Geſchick ja am Ende. Aber ich erinnere mid)
eines armen Mienfchen, der nach feiner Entlaffung aus der Strafanftalt voll
Angft an den Pastor fchrieb: „Helfen Sie! Die Polizei zwingt mich, zu ſtehlen.“
Er war aus vielen Städten verjagt worden. Der Miniiter hatte ein Ein-
jehen, als die Strafanitaltbehörde den Brief einſchickte. Diefes Beiſpiel ift
nicht vereinzelt. Und wenn die Unbill, die ich leide, solchen Verfolgungen
der Glendeiten ein Ende madt, dann will ich ein Feit feiern.
Sollte e8 nicht Menjchen in Preußen geben, denen die gegen mich
veranftaltete Jagd jo unjanft die Ruhe ftört, daß fie dafür jorgen, die Polizei—
gejege der abfolutiftifchen Zeit aus dem „Recht“ eines Staates zu tilgen,
der human und civilifirt genannt werden will? Hans Leuf.
17
Onze dappern burgers.
Eins mans red ijt eine halb red;
man jol die teyl verhören bed.
24 der „Zukunft“ hat der Lieutenant a. D. Geng, der jest in Deutſch-Süd—
weitafrifa weilt, das Berhalten der dappern burgers einer Kritik unter-
worfen, die id) vernidhtender anhört als alle engliſchen Lydditbomben, Shrapnels
und Lee Medford-Gejchojje zufammen. Ich würde dem Herrn brieflid; meine
abweichende Meinung auseinanderjegen, wenn ich die Gemwißheit hätte, daß der
Brief überhaupt in jeine Hände käme. Uber der englijche Cenſor in Port—
Nolloth und die Buren um Port-Nolloth herum haben auch noch ein Wörtchen
mitzureden. „sch wähle unter diefen Umjtänden den fürzejten Weg, um an die
Deffentlichkeit zu treten, indem ich mir das Wort von dem Derausgeber der
„Zukunft“ erbitte. Auch meine Rede ift nur eine halbe, macht feinen Anſpruch
auf Unfehlbarfeit, aber jie kann doch vielleiht ergänzen.
Zunädjt einige Einzelheiten. Bei Elandslaagte haben nicht 85 Deutiche
mitgefämpft, jondern 50, vielleiht 52. Auch haben niemals 6000 Deutiche,
von denen 1500 erſt herbeigeeilt famen, um mitzuftreiten, in der Burenarmee
gefodhten, wie Gent nad „offiziellen Lijten‘ angiebt. Die Zahl ift viel zu hoch.
Reitz, den ich, wie Jeder, der diefen Mann auch nur flüchtig gejehen hat, hoch
ſchätze, tjt nicht „der ärmfte Beamte Transvaals‘‘, jondern er ift der bejtbezahlte
nad Leyds. Das vereinigte Ausländercorps unter Billebois-Mtareuil, von dem
Gentz jpricht, ijt nur ein frommer Wunſch gewejen und geblieben. Andere Kleinig—
feiten übergehe ich, um nicht Raum zu verjchmwenden.
Meine äugeren Schidjale find ähnlich wie die von Gent. Ich habe nadı
Ausbruch des Krieges eine mwohlbezahlte Therlehreritelle hier in Deutſchland
aufgegeben, bin auf eigene Koften nach Südafrika Kinübergegangen, habe auf
eigene Koſten mitgefochten und bin nach zmeimeliger Tuphuserfranfung hierher
zurückgekehrt, obne je einen Pfennig baaren Geldes erbalten zu haben. irgend
404 Die Zutmft.
einen äußeren Grund, Gutes Über die Buren zu reden und nad) der heutzutage
beliebten Melodie Alles zum Beiten zu kehren, habe ich aljo nicht. Enttäufchungen
habe ich auch erlebt, wie Geng. Dennoch fann ich im Großen und Ganzen nicht
die jelben Schlüffe daraus ziehen wie er.
Er jeßt den Ausdrud „ſtammverwandte Brüder” in Anführungjtriche
und jegt in eine Anmerkung darunter mehrere unter den Buren vorkommende
franzöfiiche Familiennamen, un feine gelinden Zweifel an der Stammesver:
wandtihaft auszudrüden. Nun: man nehme nur die Rang- und Uuartierlifte
unjerer Urmee zur Dand und man wird auch eine Menge franzöfiicher Familien—
namen finden. Kein Wunder. Adelige Hugenotten, wahrhaftig nicht die ſchlechteſten
lieder des franzöfifchen Wolfes, find hüben in Deutichland, drüben in Afrika
zu gleicher Zeit Bringer und Träger einer höheren Kultur geworden, weil der
bigotte Yudwig XIV. fie aus ihrem Paterlande trieb. Durch die Beimijchung
diejes edeljten franzöfiichen Blutes find wir jo wenig wie die Buren jchlechtere
Deutjche geworden. Und jeit ich die Buren von Angeficht zu Angeficht geliehen habe,
bin ich, mehr als durch gelehrte Beweije, überzeugt, daß es wirklich jtamınver-
wandte Bauern find, die mit dem internationalen Kapitalismus und dem britiichen
Imperialismus um die Herrichaft in Südafrika ringen. Als ich vor zwei Jahren
in Komatipoort die eriten Buren fennen lernte, breitichulterig, mit gleichgiltigen
Mienen, langjam in ihren Bewegungen, ungelent in ihrer Sprache, kannte ic)
nur erſt Yagarde und noch nicht Gobineau. Aber auch jo wurde ich der Gewih-
heit froh, daß in Südafrika Verwandte wohnen. Welchem Sohn niederdeuticher
Erde könnten Worte fremd vorfommen wie: Daar is lecker waater! Ons zal
vecht tot die laatste man! Ons moet tegen die engelsche treck! Ons kan
wacht! Wenn wir bis dahin um der Abenteuer und Gefahren willen kämpfen
wollten: von diejem Augenblid an lebte in unſeren Derzen ein anderes Gefühl.
Wir mußten, daß wir für die deutfche Sprache, für deutiche Frauen und für
deutiche Kinder das Gewehr in die Hand nahmen. Ueber dieje „‚alldeutjche‘‘
Scwärmerei kann Jeder lächeln oder laden, jo viel er luftig ift. Mir ſchmeckt
fie recht Bitter, jeit „Itammvermwandte‘‘ Frauen und Kinder ungerächt in den
Konzentrationlagern verſchmachten. Ich fühle mich dem jüdafrifanischen Bauers-
mann eher im Wejen gleich, trog all jeinen Unvolltommenheiten, ald dem englis
ihen Gentleman im Sportanzug oder den jüdiſch-deutſch-engliſchen Ariftofraten
wie Beit, Wernher, Vhilipps und Konſorten.
Recht unbrüderlid haben nad) Gentzs Meinung die Buren gehandelt,
da fie zunächſt Freiwilligen, insbejondere Offizieren, „entiprechende Stellungen“
veriprachen und fie nachher „unmürdig“ und „nur mit Spott und Beratung“
behandelten. Welche Beweije hat er für den eriten Theil jeiner Behauptungen,
nämlid dafür, dal; die Buren Freiwillige angelocdt haben? Mic hat Niemand
angelodt, eher abgeichredt. Mir hat Yeyds auf meine Anfrage im Oktober 1899
jofort zurückgeſchrieben, daß die Südafrifaniiche Republik (Trausvaal) Frei—
willige nur einſtelle, wenn fie auf eigene Koſten hinüberführen. Irgend eine
Bezahlung, irgend eine entſprechende Stellung oder Dergleichen hat er mir nicht
in Ausſicht geſtellt. Leyds hat ganz ehrlich und unumwunden geantwortet, nicht
mir allein, jondern auch anderen meiner Feldzugsbekannten. Nicht einen einzigen
Transvaalfahrer kenne ich, dem ein berufener Burenvertreter in Europa Goldene
, * - — — L .- . — *
ö— m
Onze dappern burgers. 405
Berge oder Ehrenjtellen verjproden hätte. Erſt möchte ich daher genügende
Bemweije jehen. Um Ausländer anzuloden, haben nad) Gens Anficht die Buren das
Bürgerrecht freigebig verliehen. Das iſt gar nichts Befonderes. Auch bei anderen
Gelegenheiten haben die Buren Allen, die mit ihnen zu Felde lagen, das Bürger-
recht gegeben, jo im Malobochkriege. Als Yeimruthe für Gimpel haben die
Buren das vielumjtrittene Bürgerrecht nie angejehen. Obgleich fie alſo Keinen
angelodt und Seinem Etwas verſprochen haben, find doch Hunderte von deutjchen
Männern und Jünglingen binübergegangen, um für Freiheit und Recht mit
zufechten und nebenbei etwas Neues zu jehen und zu hören. Sein Menſch wird
es deutjchen und anderen Offizieren verdenten, wenn jie in der Front der Buren
armee ihren Fähigkeiten entiprechende Berwendung und Gelegenheit, ihre Kriegs»
wifjenjchaft zu bethätigen, juchten. In diefer Hoffnung bat ſich Mancher recht
bitter getäuscht. Ich ſelbſt konnte joldhe Hoffnung nicht hegen; denn ich habe
von meinem militäriihen Können, das über das eines fogenannten Sommer:
lieutenants nicht hinausgeht, feine übertriebene Borftellung. Troßdem — oder
gerade deshalb — kann ich Geng und anderen früheren aktiven Offizieren, die mehr
militäriiche Fähigkeiten und Stenntniffe haben als ich, ihre bittere Stimmung
nachfühlen. Sie hatten ein gutes Necht, ärgerlich zu fein.
Aber ein unbefangener Lejer wird, glaube id, aus den Ausführungen
Gentzs kaum herauslejen, weshalb man die europätichen Offiziere nicht auch bei
den Buren als Offiziere anftellte. Die Hauptſache erwähnt er nicht. Weder
Lends noh Ohm Paul oder Steijn, weder Joubert noch Dewet konnten einen
Burenfommandanten ernennen; denn geſetzlich jtand ja den Bürgern eines
Kommandos die Wahl ihrer Vorgejegten frei. Einem ihnen vorgejegten, nicht
gewählten Führer hätten die Bürger überhaupt nicht gehorht. Zur Artillerie,
die bezahlt und nad) europäiſchem Borbilde organifirt war, konnte Steijn wohl
diefen oder jenen europäilchen Offizier ſchicken. Weiter aber reichte aud) feine
Amtsgewalt nicht.
Im Verlauf des Krieges wußten übrigens. doch manche Deutiche ihre
Perſon zur Geltung zu bringen. Eben der von Gent erwähnte Oberft von Braun,
der zunächſt als gemwöhnlicher ‚Freiwilliger Kriegsdienſte that, hat an den ver-
trauteiten Verhandlungen des Kriegsrathes vor Yadyjmith theilgenommen. Andere
Deutſche haben ald Kommandanten von Nusländercorps und als Wrtillerie:
offiziere von ji reden gemacht oder find jonft mehrfach hervorgetreten. Kom—
mandant Banfes, der außer Deutjchen Buren unter ſich hatte, hatte jicher mehr
Einfluß als ein Durchſchnittskommandant bei den Buren. Andere, zumal jüngere
Offiziere, die in beitem Anſehen bei ihren Kameraden jtanden, haben leider
weniger Gelegenheit gehabt, jich als Führer zu zeigen. Bauernſtolz, beredhtigter
und unberechtigter, den der Bauer Südafrikas mit den Bauern der ganzen Welt
gemein hat, war zum guten Theile mit Schuld. Aber andere Umſtände, die
Gentz nicht genügend hervorhebt, möchte ich für eben jo wichtig oder noch wichtiger
halten. Erjtens mußte ſich doch jeder Europäer erjt auf den Ebenen und zwiſchen
den Kopjes zurechtfinden, fi) in die Anjchauungen der Afrikaner bineindenken,
ihre Sprache und ihren Umgangston beherrichen lernen, ehe er als Führer her-
vortreten konnte. Alles Lernen aber foftet Zeit. Ungünſtiger noch wirkte ein
.
zweiter Umstand. Es muß gerade den beiten Offizieren übel zu Muth geivorden
406 Die Zuhmit.
ſein, wenn jie fich die Yeute anjahen, die ſich wie künftige Beherricher des Ver—
einigten Südafrifas vorfamen und Dem gemäß gebahrten. Wie unjagbar
lächerlich machte ji da eine Geſtalt, die in der bunteften Uniform einherftolzirte,
jo daß qutgläubige Menſchen auf den Gedanken fommen konnten, das Deutſche
Reid habe diejen Pfau als Militär-Attahe Hinübergeihidt! Natürlich hatte
diejer Held, der wohl faum mal eine Kugel pfeifen hörte, in Deutjchland nie—
mals die Epauletten getragen, Solche Leute machten fich nicht nur lächerlich,
fondern erregten Argwohn. Mande Transvaalfahrer traten jo merkwürdig auf,
daß jie ſchon ihren Mitreijenden wie „Spione“ vorfamen. Jeder von uns
hat wohl mindejtens ein paar joldhe merkwürdige Menſchen fenuen gelernt.
Kann man den Buren verdenfen, wenn fie ſolche Leute beobachteten? Und
ift es verwunderlich, wenn fie gegen diefen oder jenen Fremdling mißtrauijch
waren? Gewiß konnte Gen wüthend werden, als er erfuhr, dab ihn ein
Detektiv eine Zeit lang beobachtet hatte. Aber er wird felbit zugeitehen, daß
es unter den Ausländern allerlei recht verdäditige Vtenjchen gab. Wer lehrte die
Buren aber das Echte vom Falſchen ſcheiden? Außerlid konnte mar Geſchäfts—
menjchen und Maulhelden und Kampfmenjchen und Betrüger nicht von einander
untericheiden. Nach dem Gefecht wuhten aber die Männer, die die Pferde in
der Dedung gehalten hatten, oft die beiten Generalideen und Spezialideen an—
zugeben. Und dieje guten Hathichläge waren mandımal gar nicht billig. Das
Rechnungbuch des Transvaal- Hotels in Pretoria weiß zu erzählen, wie einige
Leute auch im unbekannte Lande zu leben wuhten, — auf often Anderer. Wer
einmal bei Schiel nachgeleien bat, wie er die Ausländer mit wenigen Aus»
nahmen jchildert, Der wird ganz verjtändlich finden, da die Buren zu .
wenigjtens dem Fremden mißtrauisch gegenüberjtanden. .
Leider fehlte es ja aud) nicht an harmlojen und ernithaften Zwiichenfällen,
die immer wieder zu allerlei Streit und Zanf zwiſchen Ausländern und Buren
Anlaß gaben. Da ſchießt ein Deutjcher einen Springbod, der von einem Farmer
unter Zeter und Mordio als. Eigenthun zurüdgefordert wird, alldieweil beiagter
Springbod ein ganz gewöhnlicher Haus: und Stalljiegenbod war. Oder ein
Deuticher tränft jein Roß an einer Waſſerſtelle, die für die Trinkbedürfniſſe
der Menſchen bejtimmt it; oder ein anderer wäſcht jeine Kleider da, wo die
Bferde getränft werden jollen. Und nicht nur über die Yagerordnung war man
verjchiedener Anficht. Niemals bin ich flar darüber geworden, warum die Buren
gern „Heil Dir im Siegerkranz!“ hörten, höchſt ungern aber „Deutſchland,
Deutichland über Alles.‘ Man follte doch meinen, daß fie als echte Republi—
faner nicht unjerer Kaiſerhymne den Vorrang geben müßten. Und doc war es
jo. Und weld ein Unterichied der Lebensauffaſſung klaffte auf, wenn hier die
Bußpſalmen zum Himmel um Gnade flehten, während fünfzig Schritte davon
ſtürmiſch herausfordernd und wild die Marſeillgiſe erflang! Daß Buren gern
die „Wacht am Rhein“ hörten oder mitjangen, habe ich oft erlebt; daß mir
ihren Bialmen gleihe Aufmerkſamkeit erwieſen hätten, wird einer von uns
Dentichen behaupten. Wie vorfihtig mug man anderen Menjchen gegenüber
fein, wenn man die Anschauungen, die ihnen heilig find, nicht verlegen will!
Ich sehe noch heute das Geſicht des ehrlichen Staatsjefretärs Neik vor mir,
mie es zornig erröthete, als ein früherer deuticher Offizier entrüſtet die Zu—
. Pot Coca,
An a πα
Onze dappern burgers. 407
muthung von fich wies, ein Gewehr in die Hand zu nehmen. Ich wollte meinen
Landsmann daran erinnern, daß ja aud Scharnhorjt bei Auerftädt zum Gewehr
gegriffen hat, behielt aber wohlweislich dieje Bemerkung für mid). Beute weiß
Jener eine Schußwaffe fiher bejjer zu werthen als früher. Vielleicht denkt er
auch daran, daß Dewet und Steijn fi) nicht für zu hoch hielten, jelbit das
Gewehr in die Hand zu nehmen. Verſchiedene KHulturjtufen bedingen eben ver-
ſchiedene Lebensauffaſſungen. Doch Das nebenbei. Der nächſte Krieg wird aud)
unjere Stavallerie, die ihre blanke Waffe für ritterlicher hält als die Schußwaffe
der Infanterie, ficher recht häufig als berittene Infanterie ericheinen laſſen.
Nicht glüdlich verfährt Genk, wenn er Bur und Holländer in eine Gleihung
jegt. Der Bur jelbjt konnte recht aufgebracht werden, wenn man ihn für einen
Holländer hielt. Er fühlte fid) als ganz anderen Menſchen. Gentz kann daher
das von ihm angezogene thörichte Urtheil eines holländiſchen Arztes nicht als
für die Buren fennzeichnend anführen. Auch die Yeitungfchreiber der Volksstem
waren feine Buren, jondern Holländer. Es ijt ja einfach wahr, daß der Bericht
des genannten Blattes über die Niederlage bei Elandslaagte die frivole Sage
anflommen ließ, die Deutjchen hätten dieſe Schlappe verſchuldet. Eine fpäter
vom Dr. Ballentin eingefandte Berichtigung iſt kaum beachtet worden. Aber
eben jo frivol ijt die Sage, die Buren hätten die Deutichen „ſchmählich im Stich
gelaſſen“. Gent hat diefe Sage nicht erfunden, aber er mußte fie unterjuchen,
ehe er jie weitergab. Der Gedanke, noch einmal eine Daritellung der Schlacht
zu geben, widert mich an. Ich weile nur darauf bin, daß die Buren in jener
Schlacht recht harte Verlufte gehabt haben, eben jo wie die Deutjchen. Beide
haben tapfer und unglüdlich gekämpft, aber nicht wie Verräther.
Irrig ift auch, was Gentz über die Ausplünderung der Yeiche des Herrn
von Brüfewig, der und bejonders Heilig iſt, berichtet. Iihatjächlich hat ein Bur
die Yeiche geplündert, it aber nachher gezwungen worden, die Werthjachen wieder
herauszugeben. Solche vereinzelte Fälle von Diebjtahl und Yeichenraub werden
von der Mehrheit der Buren genau jo be» und verurtheilt wie in jeder anjtändigen
Geſellſchaft. Aus Gengens Sägen könnten unkritiſche oder überkritifche Leſer
herauslefen, die Buren hätten im Allgemeinen deutſche und engliiche Gefallene
ausgeplündert, und nur ihre eigenen Toten nicht. Dem gegenüber bemerfe ich,
daß id) auf den Photographien des Yeichenfeldes auf dem Spionsfop nicht die
Zeichen an den Toten entdeden kann, die nach der Anficht meines Vorredners
Zeugniß von allgemeiner Veichenräuberei ablegen jollen. Dergleihen ift mir
auch undenkbar, wenn ich aus den Berichten von Waffenbrüdern, die am Spionskop
mitgefochten haben, und aus meinen eigenen Erfahrungen einen Schluß ziehen
darf. Ich Habe auf den Gefechtsfeldern des Staplandes und im Freiſtaat, wo
ich mitgefochten habe, jtets nur beobadtet, daß die Buren vor unjeren Toten
die felbe Ehrfurcht hatten wie vor ihren.
Gentz erging es nad) der Einnahme von Pretoria ſchlecht. Er wurde ins
Gefängniß geiperrt, wo er von Gefängnigwärtern, die aus transvaaliihem in
englijhen Dienjt getreten waren, jchlecht behandelt wurde. Bei einer Gelegen-
heit denungzirte ihn jogar ein mitgefangener junger Bur. Ja, es iſt eine traurige
nadte Wahrheit, daß es unter den Buren Verräther gegeben hat. Die aber
haben nicht nur Deutiche, ſondern auch Buren verrathen. Ich kann hinzufügen,
30
408 Die Zukunft.
daß nad) der Einnahme von Johannesburg auch Deutjche in den Verdacht famen,
den Engländern als Spione zu dienen. Nun: dieſe Verräther werden nicht
nur Buren, jondern auch Deutiche verrathen haben.
Dann erzählt Geng, die Buren hätten das deutjche Corps unter Rund
ichlecht beritten gemacht, jo daß es unfreiwillig während des Rückzuges durd)
den Frreiftaat zurüdbleiben und jo beftändig die Arrieregarde der flüchtenden
Buren bilden mußte. Als Rund das Kommando von Brall, unter dem id
gedient habe, übernahm, lag ich, ihon im Hoſpital. Aber die Verfiherung kann
ich geben, daß Runds Corps nicht etwa jchlecht beritten gemacht wurde, weil
es nur aus Deutjchen beitand. Als ich jelbjt mit vier oder fünf Fahrtgenofjen
Pferde ausjuchte, wurden uns dreißig vorgeführt, unter denen wir bie Wahl
hatten. Mit der Hilfe eines pferdefundigen Buren gelangte ich zu einem tadel-
loſen Thiere, das mir vorzügliche Dienfte geleiftet bat. Des tapferen Runds
Ruhm iſt nicht etwa durch Schlechte Beichaffenheit feiner Pferde bedingt. Er wird
nicht behaupten, daß die Buren ihm abfichtlich jchlechte Pferde geliefert Haben.
Nur augenblidlihe Berbitterung kann Gent die Behauptung ausjprechen
lafjen, daß; die Buren „die Opfer an Leben und Freiheit, die jo viele Männer
ihnen brachten, hier in Afrifa nur mit Spott und Verachtung belohnt haben.“
Das Verhalten des deutſchen Korps in den capländiichen Gefechten (Januar
und Februar 1900) wurde wiederholt in den Depeſchen ehrend hervorgehoben.
General Grobeler hat öfter als einmal uns feine Anerkennung ausgeſprochen.
Uehnliches berichten Seiner und Schiel. Insbeſondere habe ich häufig erlebt,
daß die Buren uns ihrer Theilnahme für die gefallenen dappern duitsen
broers verficherten. Noch im Hoſpital wurde ich immer wieder nad dem
Grafen Zeppelin, Schmig-Dumont und Brüfewig gefragt. Hat Geng einmal
die Buren über den Major von Dalwig „nur mit Spott und Verachtung“
Iprehen hören? Haben nicht die Burenfommandos jeden ehrlichen Deutichen,
der in ihrem Verbande focht, fameradichaftlich behandelt? Schade, da wir uns
nicht früh genug entſchließen konnten, uns einfach unter fie zu miſchen. Durd)
unjere Abjonderung in Fremdenabtheilungen erregten wir leicht den DBerdacht,
daß wir uns doc für etwas Beſſeres hielten.
Ich begreife, daß Gen als früherer Offizier die Zuftände in der Buren-
armee „unglaublich“ findet; er legt eben den Maßſtab europäiſcher Verhältniſſe
an fie. Dieſes Berfahren it aber nicht gerecht. Man faun nicht die großen
und die Eleinen „Klumpen Menjchen“ mit unferen Bataillonen, die ungedienten
jehzehnjährigen und jechzigjährigen „Bürger“ mit unjeren Soldaten vergleichen,
ihre gewählten Kommandanten und Generale, die nie ein Compagniekloppen
oder Liebesmahl gejehen, geichweige denn mitgemacht haben, ‘mit unjeren Offi-
zieren. Die Nachwelt wird es einfach unglaublich finden, daß trogdem das une
geſchulte Bauernaufgebot einer überlegenen europäijhen Armee fih durdhaus
gewacjen zeigte. Wenn die Kriegführung große Mängel hatte, wenn nicht alle
Kämpfer Eriegerifchen Geiſt bewiejen, jo darf man diefe Erjcheinungen nicht ein-
fach mit „Feigheit“ oder „kläglichem Benehmen“ erflären. Man ftelle die Bauern-
Ichaft irgend eines unſerer Dörfer vor eine Aufgabe, wie fie der Sturm auf
den Spionsfop war, und man wird Etwas erleben, das nur Der unglaublic
finden fann, der in der Wölferpjuchologie und in der Striegsgeichichte nicht die
Nationale Geſchäfte. 409
richtigen Seiten gelefen hat. Ich denke als guter Deuticher viel zu hoch von
unferer auf Jahrhunderte langer Ueberlieferung beruhenden Heeresorganijation
und Disziplin, als da ich fie bei Bauern ſuchen konnte, die weder einen Alten
Fritz noch einen Blücher oder Moltke gehabt haben.
Trog Alledem haben unfere füdafrifanifchen Brüder recht tüchtige Leiſtungen
aufzumeijen, zum Beifpiel gerade den Sturm auf den Spionskop. Gent ſelbſt läßt
den Lejer fühlen, wie ſchwer es für die „jehr dünne Burenlinie“ war, ben über-
mächtigen Feind vom Berg hinunterzuwerfen. Troß dem Mangel an Zufammen-
hang fanden fich jo viele einzelne brave Menjchen, daß fie den Engländern bis
auf nahe und nächte Entfernungen fich entgegenwerfen und fie, unterftüßt durd) die
vorzügliche Artillerie, niederfämpfen konnten. Die Artillerie und die Polizei-
truppen der Buren halten fiher einen Vergleich mir jeder organifirten euro»
päilhen Truppe aus. Die aufgebotenen Kommandos haben zum Theil wenig,
zum anderen über Erwarten viel geleiftet, im Durchſchnitt mehr, als man von
undisziplinirten Truppen verlangen kann. Wie follte man fi auch den zähen
Widerjtand der legten Burenhäuflein erklären, wenn man "ie, wie Gentz, aus
feigen, kläglichen ®efellen bejtehen läßt?
Ich will ganz aufrichtig geftehen, welche beiden Fragen mich beivegten,
als ich die Küfte Südafrikas betrat. Die eine lautete: Befteht wirklich eine
Armee „meilt aus indolenten Menjchen”, wie der große Friedrich gefagt hat?
Und die zweiter Wird diejes Nolf, das ein Jahrhundert hindurch umhergehett
ift in der Wildniß, das ohne Pastor und Gejeggeber und Lehrer zwiichen Wilden
vereinzelt umberfigt, nicht jelbjt verwildert fein? Und id; fand ein Volk, bis zur
Weichheit friedfertig, an dem alle FFriedensfreunde und Freundinnen ihre Freude
hätten, das den Krieg ald Sünde verabfcheut, — und doch feine Freiheit liebt.
Und unter den Bauerfitteln entdeckte ich nicht nur indolente Menſchen, ſondern
Heldennaturen, die auch dem Zaghaften ihren Fenergeift einhauden. Das fam
mir nicht felbftverftändlich vor, jondern gab mir Näthfel auf, die mir noch fein
Bud, das ich las, gelöft hat. Eins nur weiß ich: daß ich unter unferen
jüdafritanifhen Bauern den Lebensmuth un? die Lebensfreude, die mir bier
verloren zu gehen drobten, neu gefeitigt habe.
Jever. Franz Henkel
1,7
Nationale Gefchäfte.
8: der Generalverfammlung der Hamburg-Amerika-Linie erfchien Herr
7, Dr. Diederidd Hahn, der Direktor des Bundes der Landwirthe, und ſtand
feinem jo oft gejcholtenen Gegner, dem Juden Ballin, gegenüber. Herr Hahn
fam, jah und .. ., ja, ich kann mir nicht helfen: mir fcheint, er blamirte fich.
Auf eine lange Rede voll anerfennenswerth objektiver ragen antwortete Herr
Generaldirektor Ballin mit lauter nichtsjagenden Redensarten und Herr Dr. Hahn
erflärte ſich Schließlich für überzeugt und forderte, gerührt von folder Wahrung
nationaler Intereſſen, die einjtimmige Annahme der Statutenänderung und die
Sanftion des mit Morgan gejchlojjenen Bertrages.
30*
410 Die Zukunft.
Ich habe hier ſchon ausführlich über den Ogeantruft gejprochen, der, wenn
nicht aller Vorausſicht nad inzwijchen der amerikaniſche Krach käme, geeignet
wäre, Deutſchlands wirthichaftliche Kraft in Fefleln zu fchlagen. Herr Dr. Hahn
ging mit den jelben Bedenken in die Berfammlung; und wenn ich aud) feiner
politif den und wirthichaftlihen Anjhauung fremd und feindlid gefinnt bin, jo
kann mir doch nicht einfallen, ihm das Lob dafür vorzuenthalten, daß er, als
ein Ginzelner, fich in das Lager der Seefhwärmer gewagt und ihnen feine Be-
fürchtungen offen ins Geficht gefagt hat. Die nad) Hamburg berufenen Aktionäre
und Auffihträthe jchießen, hauen und ftechen freilich nicht; das Trampeln und
Schreien iſt ihre einzige Waffe, die fie nad den Verfammlungberichten denn
auch fleißig gebraucht zu haben fcheinen. Wenn das Wort „nationales Inter—
eſſe“ fiel, dann johlte der Chor; und als gefragt wurde, ob denn die Gejellichaft
fih vor dem Vertragsabſchluß aud mit der Negirung ind Einvernehmen geſetzt
habe, wurde gerufen: „Das ijt uns gleichgiltig!" Die Aktionäre jehen in dem
Truftvertrag eben ein gutes, einträgliches Geſchäft; und in folder Stimmung
pflegen Kapitalijten das nationale Intereſſe billig zu geben.
Allerdings darf man fragen, was Herr Hahn unter nationalem Intereſſe
veriteht. Billige Volksernährung wünſcht er nicht und für den Erporthandel
braucht er nicht zu forgen. Der Gegenfaß der Herren Ballin und, Hahn ijt
nicht damit erflärt, daß der Erjte Nude, der Zweite arifcher Chrift ift. Herr
Ballin ift freihändleriich hanſeatiſcher Mhedereidireftor, dein der Schußzoll die
Rückfrachten, aljo den Verdienſt jchmälert. Herrn Hahn aber ijt wohl nicht
nur die Sriegdmarine, jondern auch das bunte Gewimmel der Kauffahrteiichiffe
„gräßlich.“ Nicht die Möglichkeit erhöhter Frachtpreiſe von Europa nad) Amerika
ängftigt ihn, jondern die andere: daß die Mankees in ihrer neuen Machtftellung
die Frachtpreiſe nad) Europa künftig wejentlich herabjegen fönnen. Das war das
nationale Intereſſe, das er vertreten zu müſſen glaubte.
Nach dem Auftreten des Herrn Hahn, der doch fiher im Einverſtändniß
mit den Übrigen Beherridern des Bundes der Yandwirthe gehandelt hat, muß
man annehmen, daß die Interpellation des Grafen Kanitz nicht zur Berhand-
lung kommen wird. Denn dem Grafen könnte ja einfad) geantwortet werden,
der Bundesdireftor jelbjt habe dem Ogeantruft feierlich zugeltimmt. Man fragt
ſich umwillfürlic, was die Ugrarier bewogen haben fönne, ihr Urtheil über den
Truſt plöglich zu ändern. Die Gefahr einer weiteren VBerbilligung der Getreide
fradhten ift vorhanden und man könnte es den für ihre Eriftenz Kämpfenden
nicht verdenfen, wenn fie ji zur Wehr jegten. Zwar jteht im Vertrage, „vor
läufig“ folle nur die Perſonenfracht vom Truſt geregelt werden. Das aber ift
nur ein Troſtſprüchlein für ängjtlide Seelen. Und von dem Wunſch, den von
unjerer Yatifundiemvirtbichaft übers Meer getriebenen Uuswanderern die Fahrt
zu vertheuern, werden die Agrarier ſich doch wohl nicht leiten lajjen.
Die Ihatfache, daß der Bund der Yandwirthe durch feinen Direktor mit
Herrn Ballin Frieden geſchloſſen hat, müßte am Meijten eigentlich unjere
Liberalen erfreuen. Die AUgrarier greifen jelbit die vernünftigften Maßregeln
der Yihedereidireftoren an, weil fie von politiichen Gegnern ftammen; und bie
Liberalen gehen mit Herrn Ballin durch Did und Dünn, weil er im Handels—
vertragsverein eine große Rolle jpielt. Dur ſolche Momente wird heute ja
EEE GEHT TE EHE VER
Nationale Geſchäfte. 411
leider das politifche Urtheil in Deutichland bejtimmt. Wenn dem Gegner ein
Schlag verſetzt wird, opfern die Liberalen Würde und Klugheit; wie jubelten
fie, als die fonjervativen Landräthe für ihre Abjtimmung beftraft wurden! Die
jelbe Dummheit wiederholt fi jetzt. Faſt die ganze liberale Preſſe jchilt Herrn
Diederih Hahn, weil er in einer Aktionärverfammlung aufzutreten gewagt hat.
Der mandefterlihen Anſchauung ijt es eben ein Gräuel, dab Jemand ſich er-
dreijtet, mit dem Hinweis auf allgemeine Intereſſen ſich in die Gejchäfte der
Aktionäre zu miſchen. Trotz dem Gezeter wird diefer Brauch fi) aber ein—
bürgern. Die Arbeiterihaft hat damit begonnen, die Yohnfragen vor das Forum
der Aktionäre zu tragen; mit Recht: denn in diefen Berfammlungen figen Männer,
deren Wort in ſolchen Fragen getwichtiger it als das von Miniftern und Staats-
jefretären, die morgen vielleicht ſchon ins Scattenreich ſinken.
Daß Herr Hahn gegen den Trujt auftrat, wird getadelt, nicht aber, daß
er fi mit leeren Redensarten abjpeijen ließ. Als er darauf hinwies, daß die
amerifanijhen Schiffe, denen der Vertrag die deutjchen Häfen fperrt, doch nad)
Belgien fommen dürfen, erwiderte Herr Ballin von oben herab, feit elf Jahren
ihon bejtehe eine Konvention, wonad) belgischen und holländifchen Schiffen der
Verkehr mit ihrer Heimath rejervirt fei. Aber Herr Hahn fragte nicht — und
Herr Ballin brauchte deshalb auch nicht darauf zu antworten —, ob denn die
Berhältnifje nicht völlig verändert feien, jeit die große Holland-Amerifalinie den
Amerilanern gehört. Eben jo wenig wurde gefragt, im Beſitz welcher Leute
denn eigentlich die Aktien der beigifchen White-Cross-Line jeien. In einem
Punft waren die feindlihen Brüder von vorn herein wundervoll einig: im der
Freude darüber, daß in dem Truſt nicht die Engländer, fondern die Amerikaner
die Führung haben. Es jcheint einen großen Unterichied auszumachen, von wen
man bewuchert wird: nur jüdiicher und britiſcher Wucher iſt unerträglid).
In unjerer liberalen Preffe aber berricht Aubeljtimmung. Herr Ballin,
heißt es, ift ein großer Mann und die nationale Unabhängigkeit der deutjchen
Geſellſchaften ift in vollem Umfang gewahrt. Daß ich anderer Anficht bin, habe
ih ſchon gejagt. Doch ſchließlich find darüber verſchiedene Anjchauungen möglich.
Einig aber jollte man in dem Zugeſtändniß jein, da die Widerjtandskraft der
deutjchen Geſellſchaften durch die Staatsfubvention weſentlich geftärkt worden tft. Das
wurde in den Times gejagt, die deshalb von unferer Preſſe heftig angegriffen werden,
Die Redakteure der Times find überdeutiche Berhältniffe Schlecht unterrichtet und ihrer
Antipathie gegen Deutſchland fehlt jeder feite Boden. Auch der Artikel über den
Anſchluß der deutichen Gefellichaften an den Truft enthielt Irrthümer; die englifchen
Nedakteure jcheinen zu glauben, die deutiche Regirung jei Theilhaberin des Lloyd
und der Hamburg: Amerika :Yinte. Dieje Fehler griff unjere Preſſe eifrig auf.
Im Schulmeijterton wurde den Engländern auseinandergejeßt, das Deutſche
Reich ſei nicht Theilhaber der Sefellfchaften, die aud) für den Verkehr mit Amerika
feine Subventionen empfangen, und die Poftvergütung ſei nicht größer als die
von England jeiner Dandelsflotte gewährte. Doc kommt cs gar nicht darauf an,
für welde Linie eine Staatsjubvention gewährt wird; wenn das eich die
Nhedereien trafen wollte, konnte es ihnen ja die Subventionen für die oſt—
afiatifhen Linien verringern. Man braucht nicht immer an dem Glied gejtraft
‚ zu werben, mit dem man gejündigt hat. Ganz richtig Jagen aber Times und
412 Die Zutunft.
andere englifche Blätter, die Furcht, von den Amerikanern verfchlungen zu werben,
habe die deutſchen Gefellichaften zum Anſchluß beftimmt. Man ftandb eben vor
der Wahl zwifchen zwei Uebeln, von denen auch der Regirung der Truftvertrag
das Kleinere ſchien. Zu nationalem Hochmuth liegt hier alfo feine Beranlafjung vor.
Die alte Taktik, die Schwäche der Pofition mit nationalen Phrajen zu
bemänteln, eine Taktik, zu der jelbft die Yiberalften der Liberalen ſich jegt ent-
ihlojfen haben, zeigt ſich auch auf einem anderen Gebiet: bei der Behandlung
des Boykottverſuches, den polnifche und ruffiihe gegen deutiche Firmen jeit den
Tagen von Wreichen ımternommen haben. Anfangs hatte man für dieſen Ver-
ſuch nur Hohn und Spott; und ald die Sade dann ernjt wurde, ging man zu
wüſtem Schimpfen über. Die Polen, die das nationale Intereſſe trieb, ihre Waaren
anderswo theurer als in Deutichland zu kaufen, wurden von den jelben Kulis
geichmäht, die fonft nicht laut genug von den auf dem Altar des Baterlandes
zu bringenden Opfern zu reden wijjen. Natürlich fehlten unter den begeifterten
Polen auch die Krapülinski und Waſchlappski nicht ; zu ihnen ift der warſchauer
Kunde zu zählen, der auf eine Mahnung antwortete, er habe jeden Verkehr mit
Deutihland abgebrochen und könne, nur um Rechnungen zu bezahlen, von feinen
heiligiten Grundjägen leider nicht abweichen. In den meiften Fällen aber
handelte es jih um eine durchaus ernite Kundgebung. Die deutichen Geſchäfts—
leute wiſſen ein traurige Lied davon zu fingen.
Ich hätte diefe Sache heute nicht noch einmal erwähnt, wenn ein neuer
Vorgang fie nicht wieder ins Gedächtniß gerufen hätte. In der Rheiniſch-Weſt—
fälifchen Zeitung ift ein Schreiben veröffentlicht worden, das die Bleiftift-Aftien-
gejellihaft Kohann Faber in Nürnberg an Kaufleute in Ruſſiſch-Polen gerichtet
bat. Darin wird ausführlich auseinandergejegt, daß die jtaatsrechtlichen Ver—
hältnifje des Deutichen Neiches, deſſen Bundesjtaaten jelbjtändig find, Bayern
nicht gejtatten, fih in Preußens Polenpolitif einzumiichen, daß es deshalb aber
aud ungerecht jei, alle deutichen Staaten zu boykottiren. Am Schluß des Briefes
heißt es: „Die polnifche Preffe wäre daher darauf hinzuweiſen, einen Unter-
ſchied zwiſchen Antipreußiſch und Untibayerifh zu machen, damit nicht jolche
Betriebe in Mitleidenschaft gezogen werden, die fih um Politik nicht fümmern,
fondern nur darauf ausgehen, ihre Abnehmer coulant und folid zu bedienen.“
Kun mag e8 ja Mancen ärgern, daß hier dem Ausland ein tiefer Blid in die
herrliche Einheit des Deutjchen Reiches gewährt wird; und jehr taftvoll fann
ih das Werfahren der Firma Faber nicht finden. Aber es ift leider nur zu
verftändlih. Denn unfere neuere Politik ift nicht jelten nur dazu angethan,
den deutjchen Kaufleuten das Gejchäft zu verderben. Und oft genug wird diefe
Schädigung nicht von der Rückſicht auf die nationale Wehrfähigkeit, jondern von
perjönlihen Wallungen herbeigeführt. Daß da ſchließlich den Bartifulariften,
die außer mit nenen Steuern auch nod mit Gejchäftsverluften zahlen jollen,
die Galle überläuft, kann man ihnen nicht übel nehmen. Es ift auch fein Unglüd.
wenn einmal offenbar wird, welche Berlufte die nutzloſe Chikanirung der Polen
ung bringt. An diejen Verluften ift die vom Weltmachttaumel ergriffene liberale
Preſſe mitjchuldig, — die Preſſe der Gejchäftsleute. Das ift der Humor davon,
Plutus.
—
Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: M. Harden in Berlin. — Berlag der Zufmft in Berlin,
Drud von Albert Damde in Berlin-Schöneberg.
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Berlin, den 14. Juni 1902.
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Die Buren.
SS Worte werden im neuen Deutjchland jo oft bei winzigitem Anlaß
gebraucht, daß der Nüchterne ſich beinahe ſchon ſchämt, pathetiſch zu
reden. Dennocd muß Großbritaniens Sieg über die beiden ſüdafrikaniſchen
Republifen ein weltgejchichtliches Ereigniß genannt werden. Das Reich des
Königs und Kaijers Eduard ift das größte, von dem die uns befannte Hi-
ftorie je Kunde brachte; es ift dreimal größer als Europa, umfaßt den fünften
Theil der Erdoberfläche und zählt ein Viertel der Menjchheit zu feinen Bür-
gern. Naher Verfall ward ihm längjt vorausgejagt. Nun hate, in ein paar
Jahren, das Rieſengebiet de8 Sudans erobert, das jeine Herrichaft über
Egypten für unabjehbare Zeitdauer verbürgt, und die an Bodenjchägen un-
ermeßlich reichen Yänder der Südafrikaniſchen Nepublif und des Dranje-
reiftaates, deren Flächenumfang nicht viel Heiner ift als der des Deutſchen
Reiches, als Kolonien jeinem Befig einverleibt. Der Wunſch Cecils Rhodes,
von Capetown bis Kairo den Union Yad flattern zu jehen, iſt fat jchon
erfüllt. Dieje Machtftellung fcheint den Briten, die nie unter der Be:
jcheidenheit der Yumpen litten, nur der Ausdruck eines ihren politischen
Tugenden gebührenden Erfolges. Was Auguftinus von den Römern
jagte, jagt oder denft jeder echte Sohn Albions vondem Weltreich der Briten:
die Vorſehung habe fie zur Herrichaft über der Menſchen Gefchlechter bes
rufen, um ihrehohe Weisheit, ihre unbeirrte Beharrlichkeit und ftraffe Selbit-
zucht zu belohnen. Ein jo ſtarkes und ſtolzes Herrenvolf, dem die Imperial
31
414 Die Zukunft.
Federation League und die Borfämpfer des Greater Britain neue Ziele
gezeigt hatten, konnte den zähen Widerftand eines Heinen, nad den Begriffen
unferer Induſtriekultur reaktionären Bauernftammes nicht gelaffen hin—
nehmen, nicht um die jungen Burenftaaten einen Bogen machen und ſich
mit der Thatfache abfinden, daß in diefer bäuerifchen Oligarchie der Eng-
länder, der ihren Wohljtand gejchaffen hat, ein Bürger zweiter Klaffe ift.
... Doch nicht von den Siegern jollte hier heute gefprochen werden, jon=
dern von den Befiegten. Die Kornburen, Weinburen, VBiehburen, Trel-
buren hatten ruhig, nad) der Väter Weife, gelebt, bis im Schoß der von ihnen
in langem Kampfden Kaffern abgerungenen Erde Goldſchätze gefunden wur-
den und eine Induſtrie entitand, die den Mutterboden der engliichen Gentry
umpflügteundaufdieWährungpolitif, auf die Beſitzverhältniſſe und die ſoziale
Schichtung der größten Reiche revolutionirend wirkte. Die Buren nützten den
neuen Geſchäftsvortheil klug und ohneUebermuth aus; für die induſtrielle Leit—
ung und Arbeit waren fie nicht gerüſtet, mochten von moderner Entwickelung
und folchem Teufelszeug in ihrem frommen Paganenthum auch nicht3 hören,
freuten ſich aber der überalfes Erwarten großen Geldjummen, die jie oft für
ein Stüd Yand einftreichen fonnten. So, dachten fie, könne e8 weitergehen:
fie würden reich werden und dennoch die alte Sitte bewahren. Zäh wehrten
fie fic) gegen die Zumuthung, die in anderen Ländern gejcheiterten Erxiftenzen
in ihre Gemeinschaft aufzunehmen, Spekulanten und Spielern Bürgerrecht
und Bürgerehrezugönnen. Siewollten für fich bleiben, aus der neumodiſchen
Wandlung nur den Profit ziehen und das dumpfe Bauernmißtrauen
nicht opfern, das in dem Fremden, dem Städter den Feind jieht. Nicht den
aus fernen Borftellungmwelten fommenden Briten nur haften fie: auch von
dem Holländer, der fie mitder Biedermannszärtlichfeit de nah Verwandten
umarmen wollte, rückten fie mit froftigem Yächeln weg. Die Trage, ob ein
großer Theil der Oberſchicht, ob nur da und dort eine nid)t immune Seele
von der aus feinem Goldland zu bannenden Korruption ergriffen wurde,
mag immerhin unbeantwortet bleiben. Zwei fo verjchiedene Kulturformen,
wir erlebens eben in Preußen, können mit einander nicht haufen ; die Inter—
eifen find zu verfchieden. Die Briten brauchten einen nad) angelſächſiſcher
Meodeladirten Jnduftrieftaat, in dem fiefich frei bewegen könnten; dieBuren
jagen warm in ihren Privilegien und wollten den agrariichen Zujchnitt der
Vtepublifen um feinen Preis ändern. Auch eine Arbeiterfrage tauchte auf.
Troß ihrer Chriſtenfrommheit, die fie zwingen follte, in jedem Menjchen
das Ebenbild Gottes und die Krone der Schöpfung zu achten, ift den
Die Buren. 415
Buren der Farbige, was er doch nur dem naturmwifjenichaftlid) Denfen-
den, an eine mähliche Evolution des zweizinfigen Gabelthiere8 Glauben:
den fein dürfte: ein Weſen niederer Art, ein als Sklave, zum Sklaven
Geborener. Der Bur wollte die Kaffern in Hörigfeit halten, der Brite
ihnen das Recht und die Bildungmöglichkeit gewähren, ohne die der In—
duftriearbeiter nicht mit dem mwünjchenswerthen Nuten zu verwenden
ift. Der alte Gegenſatz zwifchen Yandwirthichaft und Induſtrie, der auch
bei uns immer fichtbar wird, wenn die Grumdbefiger Sozialiftengejete
fordern oder ein Zufallsftrahl die Yage oftelbifcher Yandarbeiter erhellt. Kein
Verftändiger konnte je zweifeln, welche Kulturform in Südafrika ſchließlich
fiegen würde; wollte die Bauernoligarchie ſich unverändert erhalten, dann
mußte jie die Minen ſperren, der aufblühenden Induſtrie die Wurzel ab-
jchneiden. Das thut Fein Bauer; jelbft in der hitigften Wallung bedenkt er
den eigenen Vortheil und wägt, was ihm nüten, was fchaden fann. Wäh-
rend des ganzen Krieges haben die Buren nicht einen Augenblic ernſtlich
an die Zerftörung der Minen gedacht. Sie hätten den Krieg überhaupt nicht
begonnen, wenn fie nicht Grund gehabt hätten, auf einen ftarfen Schüter
im Kampf gegen den Bedränger zu hoffen. Hatte Wilhelm der Zweite nicht
das Deutsche Reich eineihnen befreundete Macht genannt, an deren Hilfe fie
appellirendürften? Englands Kraft, Englands Reichthum konnten fie nicht
ermeſſen; der Zuruf des Kaiſers aber gab ihnen die Gewißheit, dad fie, wenn
es zum Aeußerſten fäme, nicht allein Fechten würden. Nurdieje Zuverficht hielt
fie von einem Kompromiß zurüd, das auf Jahrzehnte hinaus ihre nationale
Selbſtändigkeit retten fonnte, Zweiunddreißig Dionate lang trogten fie, als
eine Guerilla, deren Ruhm inder Kriegsgeſchichte nicht verblaſſen wird, dem
an Truppenzahl und Nüftung überlegenen Feind und immer wieder wurde
die verglimmende Hoffnung angefacht: morgen führt eine europäiſche Inter—
vention uns zum Sieg. Die Armen, von thörichten und gewijjenlojen Di-
plomaten Getäujchten wußten nicht, daß die Zeit des von Andrew Carnegie
verfündeten Empire of business längjt gefommen ift und dem Reichſten
die Welt gehört. ALS jie dann endlich von dem Wahn ſcheiden mußten, irgend
eine europäijche Regirung werde für fie einen Finger rühren, als zuerft die
Botjchaft des holländiichen Minifterpräfidenten Kuyper und jpäter Kitche-
ners kluge Beredſamkeit das Pügengewebe zerriß, das ihren Blick fo lange
getrogen hatte, daretteten fiejchnell, was noch zuretten war, undfapitulirten.
Europa ift mit diefem Ausgang der Sache gar nicht zufrieden. Eu-
ropa hatte von einem Heldenvolfgeträumt, dag lieber bis zum legten Mann
31”
416 Die Zukunft.
in den Tod gehen als auf feine Unabhängigkeit verzichten würde. Und num
leben die Dewet, Botha, Delarey, Schall Burger nicht nur, nein: fie zeigen
fich fogar Arm in Arm mit britiichen Generalen, feiern den Viscount Kit:
chenerin fenrigen Reden und fordern die Yaudsleute auf, Eduard dem Sieben-
tenin zuverläffiger Treue unterthan zu fein. Die jelben Männer, die ſich mit
Handichlag verpflichtet Hatten, vor jeder Entjcheidung den Rath des greifen
Krüger einzuholen und ohne jeine Zuftimmung feinen Friedensvertrag zu
unterzeichnen, haben nun, ohne den angeblich vergötterten Ohm Paul
aud) nur zu fragen, fapitulirt und nennen den Namen des früheren Prä-
fidenten nicht mehr. Europa fteht vor einem Räthjel. Iſt Paul Krüger
denn nicht der größte Staatsmann, der neben und nach Bismard lebte,
der Doktor Leyds nicht ein Diplomatengenie, das jeder Großmacht zu
wünſchen wäre? Gleichen nicht alle Buren den mythiſchen Heroen, die jich
von blanfen Idealen nähren und deren Felſenherzen Menjchenichwachheit
nie übermannen fann? Noch vor wenigen Wochen hieß es, die Yage der
Buren fei viel günftiger als am Anfang des Krieges, Kitchener fonıme nicht
vom led und nur ein Wunder könne die völlige Niederlage der Engländer
hindern. Als die Burentommandanten nad) Vereeniging reiten und der
einfachite politiſche Inſtinkt wittern mußte, daß die Stunde des bitteren
Endes bald fchlagen werde, wurde in Utrecht die Parole ausgegeben: Die
Burgers benugen gern die gute Gelegenheit, um fid über die Fortführung
des Feldzuges zu verjtändigen, — und der dumme Sirdar, dem nur im
Kampf gegen Wilde Yorber reifen konnte, geht blind in die Halle. Der Text
der Kapitulation war jchon unterjchrieben, als noch immer mitunerjdjütter-
licher Gewißheit behauptet wurde, das Gerücht von einem nahen Friedens-
ſchluß ſei eine freche englische Yüge. Und Alles wurde, jelbjt die albernfte
Mär, willig geglaubt und jede zur Bernunft mahnende Stimme überbrüllt.
Die Buren hatten zu fiegen oder zu Sterben. Europa fah mit angenehmen
Nervenfigel dem Kampfipiel zu und war bereit, die Helden ihres Traumes
pollice verso, wie niedergerungene Gladiatoren, in den Tod zu ſchicken.
Zu ſolchem Ende hatten die Buren feine Luſt. Wer fie gerecht beur-
theilen will, darf nicht verwehten Klängen alter Heldenlieder nachträumen,
jondern muß fic) wachen Sinnes erinnern, wie in jeiner eigenen Heimath,
wie in allen Zonen der Bauer lebt und strebt, fühltundtradhtet. Der Dann,
der in harter Arbeit den Ader bejtelit, geduldig das Vieh wachjen und fallen,
die Frucht reifen, die Hoffnung eines Jahres von Wind und Wetter ver:
nichtet jieht, iſt für metaphyſiſchen Fdealismus nicht zu Haben und wird fich
Die Buren. 417
mit Harem Bewußtſein felten entfchließen, für unirdifche, nicht mit Händen
greifbare Güter das jchwerfte Opfer zu bringen. Sein Wunſch langt über
die enge Welt der Realitäten nicht hinaus und gefunder Menſchenverſtand
jhütst ihn vor der heroiſchen Schwachheit, die Alles aufs Spiel jest, Haus
und Hof zerftören, Weib und Kind hinmorden läßt, um einem Phantom
nachzujagen, das den abjtrahirenden, afloziirenden Geijt des Kulturmen-
ſchen werthvoller dünken mag als alle zeitliche Habe. Wenn der ſchwerfällige
Bauer ſich waffnet, fämpft er nicht für Begriffe, für Freiheit, Menjchenrecht
und Berfafiung, jondern ſucht einen Drud abzufchütteln, der feinen
Schaffensdrang lähmt, Schlechter Behandlung ledig zu werden, die ihn an
Leib und Gut gefchädigt hat. Soldyen Bauernfrieg haben dieBuren geführt.
Sie fühlten ſich in ihren Befigrechten bedroht, von windigen Einwanderern
mißachtet, fie hofften auf Dentichlands Hilfe, auf die Wirfung des Haſſes,
der ſich an die Erobererjchritte der Briten geheftet hat, und zogen aus, um
einem dreiften Näuber einen lehrreichen Denkzettel zu geben. Jeder nahm
ein gutes, im Gelände heimisches Pferd und eine erprobte Flinte, aber auch
einen Regenſchirm mit; denn im durchnäßten Kittel jchwindet die Wider-
ftandsfähigfeit des jtärfften Mannes, Sie mieden unnütlide Grauſam—
feit, lachten die fremden Offiziere aus, die fie europätfchen Drill und Treffen:
gederei lehren wollten, und richteten ihre Strategie nad) den bewährten
Regeln der Bauernichlauheit. Wozu follten fie englijche Soldaten und Heer—
führer töten, wenn der Schuß Pulver nicht nöthig war? Biel einfacher wars,
ihnen die Khaki - Uniform auszuziehen, die man im trainlojen Burenheer
brauchen konnte, Munition und Yebensmittel wegzufangen und Tommy nur
da, aus jicherer Stellung, wie ein Stüd Wild abzujchichen, wo die Noth zu
biutiger Wehr zwang. Dancer Europäer hat ihnen Mangel an Muth nach»
gefagt und über die Burenhäuflein gejpottet, die er hinter haftig gebauten
Schanzen boden jah. Freilich: jie jegten fich, wenn fies irgend vermeiden
fonnten, nicht den feindlichen Kugeln aus und nie wäre ihnen, wie ganzen
Schaaren engliicher Offiziere, der Einfall gefomnten, blind, im Gefühl einer
dem vaterländijchen Ruhm jchuldigen Pflicht, in den Tod zu ſtürmen; Pflicht
ichien ihnen vielmehr, jedes einzelne Yeben dem Vaterlande jo lange wie
möglich zu erhalten. Dann fam der Tag der Erfenntniß. Jeder weitere
Widerftand konnte die Entjcheidung aufichteben, nicht abwenden. Noch einen
Winter im Feld? Noch ein Jahr ohne Saat und Ernte? Die Farmen ver-
wüſtet, Frauen und Kinder im Elend, die Zufunft des Stammes gefährdet,
— und Alles umsonst? Gute Behandlung, Erjat des verlorenen Gutes,
418 Die Zuhmft.
ein behagliches Yeben unter Englands mächtigem Schug ward ihnen zuge—
jagt ; und fie lernten, als fie nad) langer Trennung einander wiederfahen, die
Ausfichtlofigkeit ihres Kampfes Har erfennen und wußten genau, was ihnen
bevorjtand, wenn fie diesmal ſpröd blieben. Sollten fie ihren Präfidenten,
deſſen Irrthum den Krieg heraufbejchworen hatte, um Rath fragen? Der
jaß, mit einem großen Vermögen, weit vom Schuß in Europa, fannte
ihr Leid nicht und hatte gut reden. Gar jo herrlich waren ja früher, unter der
Klüngeltyrannei, die Zuftände auch nicht geweſen und am Ende lief jid mit
den Engländern ganz gut ausfommen. Die Zähne zufammengebiffen und
unterjchrieben! .. Das war nicht heroifch zwar, aber bäueriſch gehandelt.
Die Burenlegende ift nicht mehr zu retten. Jetzt aber, gerade jett ift
es Zeit, die geſunde Tüchtigkeit, die muthige Energie diefer Männer zurühmen.
Nicht wie leichtfertige Knaben find fie zu friſchem, fröhlichem Krieg ins Feld
gerücdt, um Abenteuer, Ehren und, wenns nicht anders fein fann, einen
effeftvollen, Nachruhm fichernden Tod zu fuchen. Im Kampf haben fie der
Tapferkeit die Borficht als Wächter beftelit, als die Stunde des fchwerften
Entjchlufjes gefommen war, bedächtig zuerjt da8 Wohl des Stammes er-
wogen und, um ihm die Keimfraft zu wahren, den Glanz des eigenen
Namens gemindert. Nicht hellenifche Miythenhelden find fie, aber wadere,
aufrechte Bauern, deren rauhe Tugend durch die Begrenztheit bäuerifcher
Vorftellungen bedingt ift. Niemand hat für jie Etwas gethan. Der alte
Krüger nicht, der, troß dem unkeuſch zur Schau getragenen Glauben an
eine den Frommen ſchützende VBorjehung, fein Yeben und feinen Befit früh
in Sicherheit brachte und deſſen eigenfinnige Kurzficht für den Untergang
der Nation verantwortlich bleibt ; nicht Herr Leyds, dervon dem Patrioten-
recht, in Kriegszeiten das Blaue vom Himmel zu lügen, nutlofen Gebraud)
gemacht hat; und erftrechtnicht die alte, geile Europa, die ftet8 bereit ift, jedem
Zahlungfähigen die Grimaſſe der Zärtlichkeit zu verfchachern. Ihr hyſte—
risches Gefreifch hat den Buren Hoffnungen vorgegaufelt, die, jeit die Leiter
der deutſchen Politik den ungeheuren, unverzeihlichen Fehler machten, Eng:
lands Sieg zu verbürgen, nie erfüllt werden fonnten. Die Vettel möchte
das Bauernvolf jest in neue Gefahr beten; noch ſei nicht aller Tage Abend,
greint fie, und über ein Kleines könne einem Burenaufftand das Glück
günftig fein. Die guten Europäer, die ihre Meinung nicht aus Schwarzen
Küchen beziehen, follten dem Unfug ein Ende machen und dafür jorgen, daß
die füdafrifanischen Bauern ungeltört fortan den Weg gehen können, den
die nüchterne Vernunft und der wachſame Nafjeninftinkt ihnen weiſt.
Berliner Sezeffion. 419
Berliner Sezefjion.
—M un alſo wollen wir den „Laokoon“ aus den dunkelſten Tiefen des
sr Buücherſchrankes hervorſuchen und eine Debatte über die Grenzen der
Malerei und Poeſie beginnen. Leſſings von allen modernen Tendenzlern
grenzenlos verachtete Aeſthetik fommt wieder zu Ehren und das fcharfäugige
Genie des in einer Kleinftadt des achtzehnten Jahrhunderts Lebenden Biblio:
thefar8 kann ſich der Großſtadtkunſt des zwanzigften Jahrhunderts gegenüber
nochmals bewähren. Die Entwidelung unferer modernen Malerei in der
Weile, wie die Ausftellung der Sezefjion fie jihtbar macht, war längſt fällig;
dennoch kommt nun die Betätigung oft ausgefprochener Prophezeihungen
überrafchend und erwedt alte Hoffnungen. Liebermann, der Führer der
Berliner Sezefjion, defjen intellektuelle Einfluß auf das junge Malergeſchlecht
nicht leicht überjchägt werden kann, hat in einem feiner neuen Bilder eine
dramatifhe Szene gemalt und damit, in diefer Tüchtigfeit, als Erfter der
deutfchen Impreſſioniſten das Gebiet deſkriptiver Landſchaftlyrik verlafien.
Und fogleih auch hört man die Stimme unfered größten Kunſtrichters über
die Entfernung eines ereignigreihen Säfulums herüberihallen und sieht
ftaunend, wie die vor der antiken, theoretiſch überſchätzten Laofoongruppe
Klar erkannten Gefege Fünftlerifchen Empfindens von einem unendlich revolutio-
nären Maler unferer Tage bewußt oder unbewußt befolgt worden find. Diefer
Vorgang wird für den philofophifchen Betrachter zum clou der ganzen Aus:
jtellung, denn er bezeichnet einen wichtigen Wendepunft der deutfchen Malerei.
Es ijt viel von der Entdekung der Laudſchaft für die Malerei geredet
worden; man hat geglaubt, hier thue fich ein ideales Gebiet für das allzu
bemußte Empfinden der modernen Seele auf; nur die Landſchaft könne Erſatz
für die Stoffe bieten, die früher der Religion: und der Staatsgeſchichte ent-
nommen wurden. Der Irrthum lag nah und fonnte leicht entjtehen, weil
die Menjchen in ihrem gegenwärtigen Zuftand ftet3 einen Abſchluß erbliden,
erbliden müffen, um nur ruhig leben zu können. Niemand ift jich bewußt,
im Uebergang zu jtehen; da der Blid immer nur auf der Vergangenheit
ruht, die Zukunft nichts von ihren Geheimniffen preisgiebt und wie eine
dunkle Mauer vor uns aufiteigt, ift ein ſtarkes Reſultatbewußtſein unent—
behrlih. So hält man im der Malerei bis heute die Studie für den Abſchluß,
den Weg für das Ziel. Diefe Kunjt zeigt die lehrreiche Erſcheinung von
der Wechjelwirkung äußerer und innerer Erkenntniß. Zuerſt wurde das
Farbenſpiel der Atmoſphäre entdekt und mit wiſſenſchaftlichem Eifer im Bilde
regijtrirt. Unter dem Einfluß des Sehens wandelte ſich dann bald das
Empfinden, daS wieder auf die Art, die Dinge anzufehen, entjcheidend zurüd-
wirkte. Auf diefem Wege wurde die Landfchaftmalerei ganz logisch zu einer
420 Die Zukunft.
lyriſchen Stimmungskunſt. In der Lyrik lernt der Künftler ſich kennen und
ber eigenen Art vertrauen, in diefem egoiftifchen Spiel der Gefühle entfalten
fich die Kräfte zu reiferem, männlicherem Thun. Alle Jugend, jelbft die
heroifche, übt die Flügelkraft in den Räumen der Lyrik. In der Malerei
wurden die Stimmungen der Landſchaft, die dem Auge neue Erjcheinung-
formen des Lichtes gezeigt hatten, zu Trägern unflar drängender Empfindungen
gemacht; das Wetter der Seele befpiegelte fich in den bunten Sarbengläfern
der Witterung, jede gemalte Landſchaft war ein Gedicht und in erfter Linie
eine Milieufchilderung der Wohnftätten ewiger Myfterien. Die Dialer riefen:
Schaut, wie ich es jehe, wie „perfünlich“ meine Augen zu beobachten wiffen!
Im Grunde wurde und nicht die Natur dargeboten, jondern ein in Atmoſphären—
töne und in plein air umgeſetztes Gefühl. Aus diefer — nod immer fo
genannten — naturaliftifchen Malerei geht die alte Lehre deutlich hervor,
dar alle Kunft vom Menfchen für den Menſchen gemacht wird, daR die
artiftifche „Wahrheit“ nur ein Reflex der mit phyfiologifch determinirten Organen
nad) Ausdrud taftenden Seele ift. Aber je größer das Verlangen war, die
empfindfamen Gedanken — fie laufen faft alle auf Verzweiflung in irgend
einer Form hinaus — mitzutheilen und fie möglichit volltommen auch im
Betrachter zu erweden, um jo nöthiger wurde eine neue allgemein giltige
Kunftiprache, eine anerfannte Stillonvention. Alle Mittel der Berftändigung
entjtehen jedoch langlam; und fo erleben wir, daß die neue Kunſtſprache
einen ähnlichen Werdegang durchmacht wie einjt die Buchſtabenſchrift, nämlich
den über die Bilderfchrift. Die Landfchaft, deren Wiedergabe Selbftzwed
Ihien, bot den Malern für die Dauer des Ueberganges und jtatt mangelnder
Stilformen ihren reihen Motivenſchatz.
Liebermanng merkwürdiges Bild beweilt nun, daß die lyriſche Jugend:
periode der modernen Malerei ihrem Abſchluß nah iſt. Er, als der fon-
jequentefte deutjche Künftler der Gegenwart, als der geiftvollfte Selbſterzieher,
ift zuerst zu Nejultaten gelommen. Als Lyriker hat er jich eigentlich nie
gegeben; von Anfang an war feiner Fühlen fritifchen Natur Etwas von
jener Objektivität eigen, die, auf Grund genauer Eelbftbeobadhtung, mit den
eigenen Empfindungen architektonisch zu wirthichaften weiß. Er hatte den
epijchen Zug und war darum, viel mehr als Andere feiner Tendenz, fozial
beobachtender Künitler. Cine höhere Stufe der Malerei ift aber das auf
die Fläche projizirte Dramatifche; und dahin hat er ich mit feiner neuften
Leiftung erhoben. Es ift Grund zur Genugthuung, daß endlich einmal ein
modern empfindender Maler zu jener Höhe der Selbitentwidelung gelangt
ift, zu der Neife des Urtheil über die eigenen, von lähmenden Xraditionen
freien Empfindungen, um hinter einen großen Stoff, hinter ein Werk, das
für ſich ſelbſt fpricht, zurücktreten zu können. Bisher mußte man ſtets Pſycho—
Is 0 = 0.0 71600 — 2 nn — * — — — —
Berliner Sezeſſion. 421
logie treiben, das Spiegelbild des Künſtlerſenſoriums aus dem Werke ableſen,
wenn man feinſten Kunſtgenuß wünſchte. Jetzt kommt einmal ſolche An—
ſtrengung dem Stoffe zu Gut und man dankt dem Maler, indem man ihn
im Anſchauen ſeines Werkes vergißt. Vor einer gemalten Landſchaft iſt es
anders. Entweder man ſieht in der lyriſchen Stimmung den Künftler oder
erfreut fih am Gegenftändlihen. Im erften Fall treibt man Seelenkunde
und — weiterhin — Sulturphilojophie; im zweiten Fall ift die Anſchauung—
weife ganz unfünftlerifh. Dem großen Publikum gefällt eine Landſchaft
nie aus Gründen artiftifcher Erkenntniß, ſondern es fucht und findet dag
gegenjtändlid Intereſſante. Der Wunjch wird ihm lebendig, in der gemalten
Gegend fpaziren zu gehen, im Sonnenjchein behaglid zu ruhen, über Hare
Gewäſſer zu fahren, durch den Farbenraufc der Blumenfelder zu wandern,
und der Künſtler dient diefen Betrachtern eigentlich nur jo wie der Jlluftrator
de8 Bilderbuches dem Kinde. Da all das Antereffante, wie es, in edeffter
Form, in den Waldinterieurd Flidels, in den romantischen Naturanfichten
der Achenbachs zum Ausdrud kommt, den Landichaften der Impreſſioniſten
fehlt, da nur die reine Erkenntniß diefem Igrifchefymbolifchen Naturalismus
beifommen kann, wird die moderne Malerei nie volfsthümlih. Nur einem
Dichter wie Böcklin ift e8 gelungen, das Intereſſante im Bilde fo zu erheben,
daß es zu einer höheren Erkenntniß, zur Poelie wird. Das macht die Größe
feiner Kunſt aus. Die Imprefiioniften mögen ji, aus Gründen ihrer Tendenz,
zu fo ftarfen Stilifirungen, in denen werthvolle Nuancen aufgeopfert werden
müffen, nicht entjchliegen; da dem Anfchauenden aber ihre unbeftimmte Land—
ſchaftſymbolik auf die Dauer nicht genügt, fehen jie fi vor der Aufgabe, das
Stoffgebiet poetifch zu erweitern. Beſonders der deutſche Maler, dem die
Leichtigkeit des franzöfifchen Temperamentes fehlt, deilen Bildern nicht die
Fülle lebendiger Sinnlichkeit eigen ift, kann unmöglich in feiner Iyrifchen,
immer etwas kleinlichen Selbftherrlichfeit beharren, jondern muß feinen be-
fonderen Anlagen Rechnung tragen. Für ihn kann der Fortjchritt nur darin
liegen, mit dem von neuen Erfenntniffen vevolutionirten Gefühlsleben und
auf Grund der Nefultate des Impreſſionismus große poetiiche Stoffe zu
bewältigen. Der Franzofe muß num aus dem Spiel bleiben. Hier ift der
Punkt, wo die Raffentemperamente ſich ſcheiden. Die Erkenntniß kennt nicht
nationale Grenzen. Der Ausgangspunkt war für Alle gemeinfam; doc) die
Entwidelung muß nun nad) den Gefegen der befonderen Volksart erfolgen,
wenn dem natürlichen Empfinden nicht Gewalt angethan werden fol.
Bon folhem Geſichtspunkt aus ift Liebermanns Beifpiel beſonders
werthvoll. Sein Bild fünnte von einem modernen Franzofen fo nicht gemalt
fein. Es weift auf die große niederdeutfche Tradition, auf Rembrandt, und
zeigt ſo, daß der Künftler nie ängftlich zu fein braucht, ohne Ueberlieferung
32
422 Die Zukunft.
in feiner Zeit zu ftehen. Die lebendige Tradition erbt ſich unbewußt fort,
lebt in der Empfindungweife immer wieder auf und wird zu einer neuen
Kraft, um fo mehr, je konfequenter eine Perfönlichkeit ſich felbft betont. Es
thut nichts zur Sache, daß Liebermann, feiner Abftammung nad, dem nieder:
deutfchen Geiſt fern zu ftehen fcheint: die kunftgefchichtlihe Entwidelung
wählt ihre Inſtrumente nach einer Logik, die aller Heinlichen Berechnungen
fpottet und in diefem Fall ziemlich klar zu errathen ift.
Das Bild — Simfon und Delila — muß als Erftling betrachtet
werden; Größe und Unzulänglichkeit find zu gleichen Theilen darin enthalten.
Niemals hätte man dem Momentbeobachter eine fo fonzentrirte Linienführung,
folche ornamentale Gewalt zugetraut. Pſychologe im Einzelnen ift Liebermann
nicht; er kann ein Seelenleben nicht phyfiognomifch wiederſpiegeln. Schein—
bar weiß er e8, denn er verzichtet ftet3 darauf; und auch hier charakterifirt er
den Vorgang durch äußere Züge: durch eindringliche Silhouetten und eine
jäh in den Raum jchießende Bewegung, die gegen den etwas formlofen
Fleiſchknäuel des fchlafenden Simfon jeltfam hell und Freifchend abiticht.
Die Farbe unterftüst, in aller Trodenheit, die Abjicht und bringt die phrafen-
foje Roheit des gefchlechtlichen Momentes, den Realismus der Auffaſſung,
der den Stoff alles biblifchen Farbenlades entfleidet, die Hug ins Profane
gezerrte und doc zu fymbolifcher Kraft gejteigerte Situation vortrefflich zur
Anfchauung. Ueber die Häflichkeit der Delila ift großer Lärm gemacht
worden. Das liegt aber wohl mehr an der Auffaffung der Herren von
Franenfhönheit. Dies ift genau das Weib, worauf Simfonnaturen hinein=
fallen; im ihrer Fugen, raſſigen Magerkeit ift jie begehrenswerth für Jeden,
den e8 treibt, mit brutaler Männlichkeit eine ftolze, fich empört wehrende und
Rache brütende Seele zu überwältigen.
Wohl läßt ſich der Stoff zweifellos größer geftalten. Die Roheit kann
unerbittlicher, die Gemeinheit tragifcher gegeben, auf dem Wege der fonfequenten
Sieigerung der hier gewählten Auffaflung könnte das Einzelne mehr durch—
gebildet werden. Der dramatifche Realismus ift im Stilgedanfen nicht
untergegangen, fondern poetijch eritarft. Das ift viel; aber nun galt es, mit
der Farbe bewußt zu charafteriiiren, den einfachen Alkord von Fleifchtönen
und Grau hundertfach zu variiren und die Abficht pfychologifch, nicht deforativ,
fo zu fpezialiiiren, dar alle Nuancen auf den Zielpunft der dee redend
hinweifen. Von Rembrandt ijt zu lernen, wie ein ftinfend wahrer Naturalismus
in der gligernden Apotheofe eines bunten Juwelenfeuers zu verflären und
zugleich zu unterjftägen ift. Nicht die Mittel Rembrandts follen empfohlen
fein — die Mühe, eigene zu erlangen, wird unferer Malerei ja ſchwer genug —,
fondern die Kraft feiner fünftlerifchen Dispofition.
Wie ſehr Lefjing mit feiner Aeſthetik im Kern das Nechte getroffen
Berliner Sezefjion. 423
hat — daß er fie auf Grund antiker Beifpiele erklären mußte, ift ja zu—
fällig —, beweift jegt Liebermann. Die Kompoſition befolgt alle Geſetze der
plaftifhen Ruhe, ohne die ein Yigurenbild fofort genrehaft kleinlich wird.
Eine Reihe charakteriftifcher Förperlicher Exprefjionen iſt zufammengefaßt;
nicht die Momenterfcheinung ift gewählt, fondern eine aus hundert Momenten
zufammengefegte Bewegunglinie. Das Auge fieht vor der Natur ja nie
einzelne Augenblid3pofen, fondern die Bewegungfolge und diefe wird dann
als Linie, als lebendige8 Drnament empfunden. Darum erjcheinen alle
Momentphotographien falſch. Bor einem Bilde darf man nie das Verlangen
fpüren, dramatifche Entwidelungen zu fehen, nie, wie etwa vor Schladhten-
bildern, ein VBorwärtsdrängen des Gefchehniffes wünfchen. Das von Leſſing
gefundene, in aller großen Kunft längft befolgte Geſetz weiſt die Raum:
unit an, Bewegungsfomplere refumirend fo aufzubauen, daß die Situation
zeitlich fowohl vor- wie rüdwärt3 weiſt und die bildhafte Erftarrung einen
Ruhe- und Reifepunft des dramatifchen Vorgamges darftellt. Es iſt ein
Zeichen gefunden Urtheils, dar die imprefjtoniftifchen Landſchafter ſich von
dramatifchen Stoffen zurüdgehalten haben, jo lange ihre unmündige Pſy—
hologie das maleriſch Nothwendige aus der Fülle mimiſcher Erſcheinungen
nicht auswählen fonnte. Aber es ift zugleich ein Zeichen von Befangenheit,
daß jie dann das ihrem Können noch verfchloffene Stoffgebiet für unfünft:
(erifch erklärten. Aus ähnlichen Urfahen wollen neuere Bühnendichter die
Handlung für unmwefentlih halten; ihrer Phantafie, die ſich im Notizen-
naturalismus erfchöpft, fehlt die Kraft des Geftaltungvermögens.
Liebermann hat einen biblifchen Stoff gewählt., Doc) entnahm er der
Fülle tragifcher Menfchenichidjale, den ungeheuren Leidenfchaften, die im
Alten Teſtament zu einem düfteren Tempelgebäude aufgethürmt find, einen
Stoff, der allgemein menschliche Geltung behält, fich nicht auf ein religiöfes
Dogma beruft. Trogdem verräth die Wahl den verjtedten Symboliften.
Unfer Leben ift nun zwar nicht weniger arm an Vorgängen, denen fymbolifche
Poeſie abzugewinnen ift, al8 das der alten Juden; doch fehlt dem bildenden
Künftler ihm gegenüber der Abftand der Zeit. Das Nahe ift nie poetifch,
ift es im beiten Fall für den ganz Senfitiven. Das realiftifch Kleinliche,
das dem Gefchehnig der Gegenwart anhaftet, wird noch verftärkt, weil es fich
im Alltagskoftüm, im profanen Milten und ohne Unterftügung jeder mythen-
bildenden Kraft abfpielt. Dennoch wird fich die moderne Kunſt in Zukunft
vor der Aufgabe fehen, das uns umgebende Leben dramatifcher Gegenſätze
eben fo bildend angreifen zu müffen, wie fie das armfäligite Stüd Land—
fchaft durch konfequenten Subjektivismus poetifch verflärt hat. Die Renaiffance-
fünftler durften, als halbe Heiden, ohne Sorge biblifche Stoffe benugen, eine
Mutter Gottes zur Venus umgeftalten und den Zeittendenzen Träger in der
32°
424 Die Zukunft.
Apoftelgefchichte fuchen. Nominell herrichte das Chriftenthum und es war
nur eine große KHulturlift der Kunft, als fie die alte Form allgemad mit
ganz neuem Inhalt zu füllen fuchte. Heute ift Dem, der fich ehrlich an der
Hand der Naturwiffenichaften zur Weltauffaffung durchgerungen hat, aller
Bibelgeruch verdächtig, Trog der Ehrfurcht vor dem monumentalen Inhalt
der Teſtamente — der jest nur noch äfthetiich gewerthet wird — lehnt das
Gefühl Bergleiche, die diefen Büchern entnommen jind, in den meijten
Fällen ab und fordert eine dem neuveritandenen Inhalt des Daſeins ent—
fprechende Symbolit. Woher foll die aber kommen, da doch Alles im Werden
oder Vergehen ift und fein Begriff feftiteht? Das Suden nad dem ung
Gemäßen, das in der imprefitoniftifchen Malerei technifc begonnen hat und jich
nun logifch auf den poetifchen Stoff erjtredt, muRte und muß ferner bie
merkwürdige Erſcheinung hervorrufen, die unfere ganze moderne Kunſt charaf-
terifirt: alle fchöpferifchen Künftler jind Sfizziften. Die vollfommenfte
Phantafie vermag ſich nicht ein Kunſtwerk wahrhaft modernen Geiftes vor:
zuftellen, das zugleich ftiliftifch und dekorativ harmonisch vollendet wäre. Das
Eine oder das Andere: Skizziſt oder Formalift. Wenn eine neue große
Stilfprache überhaupt je ausreifen kann, wird es im Lauf von hundert und
mehr Jahren gefchehen, im einer langen, eflektifch jich ergänzenden Entdeder-
arbeit vieler Generationen. Inzwiſchen wird jeder ernft wollende Künſtler,
wenn nicht im Intellekt, jo doch im Inſtinkt, vor die Frage geftellt, ob er
die Form dem Inhalt oder den Inhalt der Form voranjegen jol. Beides
kann nicht gleich emergifch gefördert werden. Das vollendete Kunſtwerk be:
friedigt gewiß zugleih Sinne und Geijt; feit hundert Fahren hat aber fein
Künftler mehr gelebt, der die Uebereinftimmung urjprünglich erzielt hätte.
Selbſt der große Bödlin it dem Ziel nur als genialer formaliftifcher
Rhapſode, als ein auf alten Kulturwegen heroifh dahin Stürmender nah
gekommen. Manet und Monet, Liebermann, Degas und Rodin, Alle, die
einen neuen Inhalt geben und Feine anderen Mittel anerfennen als die vom
Wirklichfeitiinn des Auges janftionirten, find Skizziſten; die Bollender aber,
die Schwärmer für ſchön geglättete Form, Klinger, Stud, Tuaillon, Hilde:
brand, find, je nach der Strenge ihres Stilgefühls, aud im Erfaffen bes
lebendigen Lebens Epigonen. Flüchtigkeit, Noheit, Unflarheit und Einfeitig-
feit find die Gefahren der Skizziſten; für die Vollender droht dagegen der
Formalismus, der unüberwindbar, ift das deflamirende, unfruchtbare Pathos.
Diefer Unterfchied wird in der Ausftellung überall beftätigt; die
Gegenſätze ftehen ſchroff neben einander. Mund), der eine Sammlung feiner
Arbeiten ausstellt, ift typisch als ein Produft der herrichenden geiftigen Fieber—
zuitände. Er iſt einer der vielen Entwurzelten des Lebens, gehört zu Jenen,
die dem graulamen, unverftändlichen Schidjal mit wilden Haß und toller
Berliner Sezeſſion. 425
Verachtung gegenüberftehen, die auf dem Wege des konſequenten Nihilismus
zur Urmpftif gelangt find, nun in der Nacht der irdiſchen Saufalität vor
jedem Geſetz erfchauernd zuſammenſchrecken und alle ewigen Myſterien taufend-
fa, in den profanften Lebensformen, verförpert fehen. Nie hat e8 einen
Maler gegeben, der befjeren Willen zur poetifchen Empfindungweiſe hatte;
aber fein unglüdlicher Berjtand, der nicht zu vergefjen weiß, zeigt ihm in
allem Leben den Wurm, unter jeder Schönheit das grinfende Skelett, in der
Leidenſchaft das Thierifche, in allen Schmerzen die Willtür der Natur; und
mit ftumpfer Berwunderung, woneben der höhnifche Wahnjinn feine Arme
ausredt, geht er, als ein mit einem Talent ataviftifch Belafteter, durch dieſes
verfluchte Xeben. Hinter feinen Werken denft man ſich einen Menfchen, den
Geftalten gleich, wie fie in den Romanen Doſtojewslijs brütend durch eine
drücdende Atmofphäre von Zweifeln fchleichen, ſich philofophifche Syſteme
bilden und von der Lebensangft zu wahnwigigem Thun angefpornt werden.
Und daneben bligt und gewittert immer das Geniale. Stein Wunder, daß
ein Solcher nicht3 von Tradition und giltigen Werthen wiſſen mag. Nicht
eine Form part ja mehr zu feinem Empfinden; die Sprache der Ahnen ift
ihm paradiefifch fremd. So fteht diefes triebhafte Talent vor der Riefen:
arbeit, feiner Myſtik eine neue Kunftform zu finden. Es it faſt unheimlich,
zu beobachten, wie es hier in einer Kleinigkeit gelingt und wie die Qual
de3 Verſagens ſich an anderer Stelle in Hohn umſetzt, ſich gellender Karifa-
turen bedient, wie diefer Nervenmenjch ich dann roh geberdet wie ein Holz=
fueht. Man denkt an Strindberg, deffen Skepſis auch an den Abgründen
der Myſtik umherirrt, dem auch ein nadelfpiger Verſtand nicht geitatten will,
Gott wie ein Kind zu lieben.
Mund malt etwa, wie ein rothe8 Haus den Nahenden drohend an:
glogt und Empfindungen erwedt, wie man fie einer Marslandſchaft gegen:
über haben könnte; wie Menſchen mit blödem, verlegenem Grufeln, das fait
zum verzerrten Lächeln wird, in ein Totenzimmer treten, voll irrer Rath:
Lofigfeit dort umherſtehen und ich vor der überlegenen Gelafienheit des Toten
fhämen. Er malt Mann und Weib in brünjtiger Umfchlingung, al3 wider:
ftandlofe Opfer der eifernen Nothwendigfeit des Gattungsgefeges, Knabe
und Mädchen, die in krankem Sehnen dahinfterben, mit denen der Geſchlechts—
trieb wie mit Marionetten fpielt; Menfchen gehen durch trojtlo8 dämmernde
Strafen, wie eine Heerde von Lemuren, Franke, fataliftifche Gelichter, deren
vom Lebensleid verzerrte Züge in fahlem Gelb aus dem Dunkel hervor=
gleigen. All diefe Verzweifelten fommen von Golgatha, wo ihr deal, der
ſüße Jeſus ihres Herzens, gefreuzigt ward. Gatten jigen in dunkler Stube
eng beifammen und weinen, dar ihr Schluchzen das jtille Haus geſpenſtiſch
erfüllt; zwei körperlich eng umgitterte Seelen fchreien, kreiſchen fchredenspoll
426 Die Zukunft.
nach Vereinigung. Geftaltet find folche Stoffe mit einer brutalen Kari—
faturhaftigfeit, wie wir fie ähnlich) von Bruno Paul fennen, mit ornamen—
tafen Bildungen, die an Ludwig von Hofmann erinnern, und dann wieder
nit einem großzügigen Realismus, der den eminenten Zeichner und Maler,
den Kenner franzöfifcher Kunft verräth. Jedes Bild ift ein Embryo und
theilt Etwas von dem Efel mit, der allem Embryonifchen anhaftet; zugleich
aber fieht man überall Möglichkeiten des Wachfens, Keime zukünftiger Kraft
und Schönheit. Diefe Kunft ift im ihrer Art fo gut Extraft wie die van
Goghs, und je länger man ſich damit befchäftigt, deſto reicheres Detail findet
man im der Vereinfahung. Manchmal erhebt jih der Stil mit breitem,
ornamentalem Bortrag ins Pathetifche; manchmal entgleift er jäh ind Bur—
(este und liefert dem Publikum Stoff zu willlommenen Gelächter. Immer
aber fteht neben dem problematiſchen Senforium ein fräftige8 deforatives
Gefühl. Die Farbenharmonien, für ſich betrachtet, find von eigener, teppich-
artiger Schönheit. Wie viel diefer Unfertige fann, wie gut er fein Hand—
werk verfteht, beweifen einige Portraits. Mit den geringften Mitteln ift hier
erſchöpfend charalteriſirt, mit einer Einfachheit, die an altegyptifche Portrait—
malerei erinnert, find die individmellen Züge eines Gelichtes auf das ganz
Wefentliche zurüdgeführt.
Das Talent, eine Impreſſion technifch zu überfegen, in der Phantajie
die lebendige Begegnung von Ideen und Material herbeizuführen, alle Hilfs:
mittel des Handwerfes gerade jo zu benuten, wie fie der Abficht am Beften
dienen, den eigenartigen Stimmungwerth jeder Darftellungmanier der geiftigen
Tendenz anzupaflen: dieſes Talent macht die eigentliche artiftifche Stärke
der imprefiioniftiichen Maler aus. Man betrachte Werfe von Liebermann,
WManet, Firaeld: immer liegt die entjcheidende künftleriiche Phantafiethat in
diefer genialen Annäherung von dee und Technik, von Abſicht und Materie.
Es wird Einem Klar, wenn man, von Mund, fonımend, zu dem Bilde „Im
Meer“ von Liebermann geht — einem foftbaren Bild, dem die hohe Schule
von Degas, was Naumgefühl betrifft, anzumerken ift —, zu dem im Sinn
de8 berliner Malers fehr fein gezeichneten „Carouſſel“ Iſaacs Iſraels, zu
der genialen Reiterſtizze Manet3 oder dem fabelhaft gemalten „Frühſtück“
Monets. Man kann verftehen, daß die Braven vom Glaspalaft vor folder -
Kunft ganz rathlos find; denn diefe Technik bedingt eine eigene feelifche
Anſchauung der Natur. Ganz künftlerifche Technik ift nie etwas Willkür—
liches, fondern entjpricht genau dem Geift, der fie regirt. Parador fann man
es jo ausdrüden: unmöglich vermag ein Pointillift an die Dreieinigfeit und
an die chriftliche Unsterblichkeit der Seele — höchſtens an die fpiritiftifche —
zu glauben; Eduard von Gebhardt könnte dagegen nie Pleinairift fein. Wenn
die Technik des Impreſſionismus aucd das ewig gefniffene Auge bedingt —
Berliner Sezeſſion. 427
oder umgefehrt —, jo bleibt es doch beffer, mit diefer künftlichen Schligäugig-
feit etwas fpringend Charakteriftiiches zu ſehen als mit offenen Bliden das
Banale. Und der Betradhtung muß diefe Technif fo mejentlich fein, weil
fie ein bdeutliche8 Produft der neuen Geijtesrihtung ift. Vielleicht erlangt
Vieles von der Sezeflioniftenkunft, die uns jo ftarf intereflirt, niemals die
Mufeumsunfterblichfeit.. Das hindert nicht, daß diefe Art Unvollkommenheit
für die Entwidelung und für uns alfo wichtiger ift als die auf artiftifchen
Schleihwegen erlangte Vollendung Wahrfcheinlih werben Kiebermanns
Bilder der erften Periode, die nah dem Herzen eines Afademieprofeflors
durchgearbeitet find, in den Galerien ftet3 Chrenpläge einnehmen, während
Das von feiner heutigen Kunſt zweifelhaft if. Die von der Zeit ausge:
teilten Preife der Unsterblichkeit beruhen im Weſentlichen ja auf Majorität-
urtheil, find alſo jehr anfechtbar. Solche Hinweife find beffer aus dem Spiel
zu laſſen. Uns darf nur das wahrhaft lebendige Empfinden der Stunde
gelten; mag die Zufunft dann urtheilen, wie fie fann und will. Die Künſtler
ftehen uns am Nächten, die Dem, was uns fehmerzt und freut, was uns
wejentlich erfcheint, Ausdrud ſuchen und finden; aljo die Maler, die hier
mit dem Namen Skizziften bezeichnet worden find. Whiftler, der feinen
fultivirten Geſchmack in den Takt neuer Empfindungen gezwungen hat, gehört
dazu, Ludwig von Hofmann, der Iyrifche Stimmungpoet, und der innig
empfindende Baum, Kurt Herrmann, der, über die Jugend hinaus, ein bereits
jicher erworbene Gebiet freiwillig verlaffen, den fchon errungenen Ruhm
preißgegeben hat, um von Neuem am Kampf theilzunehmen, Breitner, der
talentvolle Mitenipfinder Jakobs Maris, der einfache, phrafenloje Alberts,
Leiftifow, deſſen Bilder jo ernjthaften Optimismus’ predigen, Stremel, mit
jeinen foloriftifch funfelnden Jnterieurs, und Corinth, der ein großer Künftler
fein könnte, wie er ein ftarker Maler ift, wenn jein Geijt jo willig wäre
wie fein Fleifch. Bon all diefer Kunſt ift im höheren Sinn nichts fertig und viel—
leicht reift fie uns niemals zu einem großen Stil aus. Das einzelne Wert
füllt nie die ganze Seele; jeder Künftler bearbeitet vielmehr eine Nuance der
allgemeinen Weltempfindung als Spezialift. Aber aus der Gefammtheit der
Werke blidt Etwas wie eine große Harmonie hervor und der Trieb, dem
diefe Talente gehocchen, weiſt auf ein einziges deal, das ich einem jeden
deal der Vergangenheit würdig gegenüberjtellen Fanır.
Die Erfcheinungen der Malerei wiederholen ſich in der Sfulptur;
nur dringt das Material hier auf deutlichere Betonung der Form. Rodin
hat jeine Materie bis zur Grenze des Möglichen ind Malerifche gezwungen;
nicht aus Laune, jondern, weil er nur mit imprejfioniftischen Mitteln differenzirte
Empfindungen darftellen kann, ohne naturaliftifch Heinlich zu werden. Er
bejigt alle Bildnertugenden der Vergangenheit: den Formenſinn der Antike,
428 Die Zukuuft.
das Charafterifirungvermögen der Gothik, das deforative Temperament der
Renaiflance; nur die vornehmfte Fähigkeit des Plaftifers, der architektoniſche
Sinn, der all jenen Stilen einjt Halt und Größe gab, fehlt ihm. Alſo
die Hälfte. Es ift nicht feine Schuld, fondern die einer nervöfen, äfthetifch
unfruchtbaren Zeit, die im Künftlerifchen, wie feine andere, den Wald vor
Bäumen nicht fieht. So wird auch er Skiazift in Marmor und Bronze.
Minne ift in gleicher Lage; nur hat fein mehr fpezialiiirtes, engeres Talent
jich für die Gothik entfchieden, um eine imaginäre Stüge zu haben. . Das
hat den Belgier zu einer fiheren Entfaltung feiner feſt umgrenzten, aber
tiefen Begabung befähigt und ihm die Möglichkeit geſchaffen, feinen realifti-
ihen Myſtizismus in einer Weiſe vorzutiagen, die wie Zukunftmuſik an—
muthet. Unter den ausgeitellten Arbeiten Minnes ift eine „Badende“. Diefer
Heine Gips ift ein Meifterwerk, ein Bijou und kann fich der Antike eben:
bürtig gegenüberftellen. Dennoch: Kleinkunſt.
Tuaillon will Monumentalfunft geben und geräth dabei jofort ins
andere Lager, zu den Formaliften. Es wird gut fein, zu betonen, daß der
verächtliche Nebenfinn diefes Wortes hier feine Geltung haben darf. Es
giebt wenige Künftler, die ernfter arbeiten, fleißiger die Natur ftndiren als
die Bollender, die den Ehrgeiz haben, im jedem all fertige, ſtiliſtiſch geglättete
Kunftwerke zu geben. Alle Vorausfegungen für große Kunſt find in diefen
Talenten enthalten; es fehlt nur die Hauptfadhe: das naive Gefühl, die
Seele. Ein Pferd und einen Aft jo zu mobdelliren, wie Tuaillon es gethan,
die Gruppen fo einfach, lebendig und mit fo feiner artiftifcher Berechnung
aufzubauen: Das ift in unferer Zeit fehr viel. Doch wir ftehen und jehen
mit Hunger Anerkennung, wir loben und faffen alle Künſte unferer Bildung
Spielen; am Ende merken wir doch die innere Kälte: das tüchtige Wert
geht uns zu wenig an. Das Fazit ift: wenn Tuaillon vom Unionklub zur
Ausfhmüdung idealer Sportpläge engagirt wirde, wäre feinem Talent
völlig genug gethan.
Bilder diefer Art find weltfremd — was nicht ausſchließt, daß fie
oft Weltleute find —, auf die Antife angewiefen und gehören zu der in
Deutfchland unvergänglihen Schaar von römischen Künftlern deutfcher Nation.
Hildebrand, das archäologische Genie, der nur warm wird, wenn er vor
einem im Leben zudenden Charakterkopf als Bortraitift fteht (was eine in—
feriore Art der Kunitbethätigung it), hat eine große Schülerſchaar heran-
gezüchtet, die fih über das Niveau der Begasichule oder gar der Siegesallee fo
weit erhebt wie Heyſe über Wildenbruch und Lauff, die aber hinter der neuen
franzöſiſchen Plaftif fo weit zurüditeht wie Heyſe hinter Flaubert. In diefem
Vergleih iſt es Schon bezeichnet: die intellektuelle Fähigkeit, der poetifche
Wille ift hier und dort fait gleich zu werthen; aber die Art der führenden
Berliner Sezeifion. 424
Ideen entjcheidet, in einer tendenziös gefpaltenen Zeit, mehr über den äſtheti—
fchen Kulturwerth von Kunftleiftungen als das abjolute afademifche Können.
Die Urfprünglichkeit fiegt bei gleichen Qualitäten. Auch Klinger ift hier zu
nennen. Sein Beethoven fol nach dem unglüdlichen Gips nicht beurteilt
werden; doch erzählt die Gruppe nichts vom Künftler, was man nicht ſchon
wußte. Hier will ih Etwas fagen, das, jehr gegen meinen Willen, arrogant
klingt: Als ich fünfundzwanzig Jahre alt war, empfand ich genau wie Klinger.
Nicht fo tief, nicht fo groß, reif und umfaffend, nicht fo temperamentvoll
und bewußt; aber in der Richtung des efleftifch taftenden Gefühles, der
Gattung des Empfindens nach genau fo. Die Phantajien ſolcher Geiftess
richtung nehmen ihren Weg über VBorftellungen von der Antife, von Dante,
Michelangelo, Goethe, auc ein Wenig von Hebbel; jie gehen ftet3 auf Kultur:
wegen, nie auf ungebahnten Naturpfaden, find nicht frei im höchiten Sinne
und nie fo verzweifelt muthig, ganz von vorn zu beginnen. Was Klinger
und all den reinen, warmen Menfchen feiner Beranlagung fehlt, ift die Fähig-
feit, primitiv zu empfinden, primitiv zu bilden. Die klaſſiſch-humaniſtiſche
Anfhauung ift ihmen zur Natur geworden, ja, zur perfönlichen Kultur. Doc
iſt ſolche Kultur allzu ſchnell — in zwei nachgoethiſchen Generationen —
erworben und nur lebenstähig im geichloffenen Kreife gleichitrebender Bildungs-
genofjen. Dieſe Intellektuellen jtehen den Primitiven fchroff gegenüber, fait
wie die Väter den Söhnen, und begreifen nicht den Zuſammenbruch der
klaſſiſchen Welt, in der ie ihre höchſten Entzüdungen erlebt haben. Es find
die legten, klügſten und freiften Epigonen der Goethezeit. Wie Klinger
Beethoven betrachtet, jo ericheint ihnen die ganze Klafjikerzeit: in olympifcher
Glorie. Uns aber ift Beethoven mehr ein Hiob, dem fein Gott auf feinen
Schrei antwortet al3 der, der ihm im Buſen wohnt.
Alles in Klingers Werfen ift gedaht; man jieht die Operation des
Verſtandes in voller Reinlichkeit. Die nur dem Gebildeten zugängliche Allegorie
fpuft überall und der genial mit Wirklichkeitiinn gemifchte Arhaismus kom—
mentirt, wo etwas Gefühltes hinreifen mußte. Slinger ift nicht etwa arm
an Empfindung; doch empfindet er mit dem Gehirn. Dadurch wird feine
Kunft zu einem Spiel mit der großen Fülle ihm geläufiger Formen, deren
jede für ihn Etwas bedeutet und Beſonderes ausdrüdt. Und Alles iſt fo
flug fombinirt, fo temperamentvoll ausgedacht und das Natürliche vermählt
fih jo glüdlich mit dem Erflügelten, daß man von diefem Vorſtellungmoſaik
ganz hingeriffen wird. Nichts ift zu tadeln als das Ganze, Alles zu loben
bis auf das Prinzip. Durch die Skulptur, wo das Material dem Berechneten
vor Allen widerjtrebt, it Klinger zur Materialäfthetif getrieben worden. Die
Büste der Aſenieff iſt fo intereffant wie leblos, jo Fünitlerifch wie Fünftlich.
Der Lifzt ift prachtvoll gedacht, — aber nur gedacht. Und der Beethoven läßt
—
430 Die Zukuuft.
jich beweifen, wie eine Tragoedie von Racine. Das Unbeweisbare aber ijt
Kern aller großen Kunft.
Nicht immer find es Motive aus Griechenland und Jtalien, womit
die Vollender ihre Werke harmonisch zu runden ſuchen. Strathmann über:
nimmt die irren und wirren Reize japanischer Kunft, bildet fich jo einen
engen, aber Foftbar funkelnden Formalismus aus und fpielt ſich, erperimen-
tirend, im Schönheitstraum durchs Leben. Heine weiß fi) dagegen aus dem
Dilemma, wie aus jedem, geiftreich zu retten. Erſt benugt er mit größter
Subtilität und vollendetem Geihmad archaiſtiſche Bildreize zur Darftellung
graziöfer Ungezogenheiten, — und dann übertreibt er die formalen Stileigenheiten
fo flug, daß der Formalismus ich ſelbſt ironiſirt und die Satire des Stoffes
verftärft. So jteht er mitten im Hiftorifchen und doc) darüber, verwirrt den
Beichauer, fpottet über die eigenen Krüden und löjt das Problem im Ge—
lächter auf. Nur feine Behandlung der prinzipiell fo wichtigen Kunftfrage
hat praftifchen Werth: die Löſung eines Karifaturiften.
Der Zwieſpalt verfchwindet allein auf dem Gebiet der Portraitmalerei.
Hier, wo das Objekt feine Rechte fordert, der Phantafie feſte Grenzen for=
maler Natur gezogen find, fragt man nicht nach Impreſſion oder Altmeifter-
lichfeit. Wenn das Weſen des Dargeftellten eindringlich wiedergegeben ift,
jind die Mittel gleihgiltig. Darum wird Trübners Herrenportrait, das
ſchon vor zwanzig Jahren gemalt worden ift, für alle Zeiten modern
fein; denn jede künſtleriſche Qualität dieſes meifterhaften Bildes ift pfycho=
logiſch gerechtfertigt; und wo der Gleichflang von Anſchauung und Idee iſt,
wird jedesmal aud Stil fein. Slevogt ift e8 mit feinem D’Andrade
weniger geglüdt, fo viel Talent in feiner Arbeit auch enthalten if. Der
Künstler ſchwankt eben jegt zwilchen Hell und Dunfel und die münchener
Malweife, die auf zwanzig Schritte nach Delfarbe riecht, wird ärgerlich
ſichtbar. Doch man fpürt in feiner Natur ein fräftiges Wachſen. Sein
Theaterportrait iſt darum, felbjt in der Unmausgeglichenheit, werthvoller als
dag fertigere, ſehr geichmadvolle, etwas feminine Damenbildnig von Lepfius,
als das von einer ewig gleich Schrulligen Tüchtigfeit zeugende Werk Habermanns
oder Kalckreuths mühſame, verftändige Portraitfunft. Temperament fpürt
man wieder bei Zorn, dem europäifch kultiviggen Ruſſen Somoff und in dem
himmliſch füren Frauenbildnig von Zargent. Das ift verliebte Malerei.
Mit diefem Bild im Auge wird es leichter, die äfthetiiche Anfchauung,
die in der Ausſtellung wahre Strapazen ertragen hat, auf der Strafe, der
geihmücten Weiblichkeit gegenüber, harmlos fortzufegen; und fo fommt man
mit guter Manier über die peinvollen Widerfprüche hinweg, die ſich innerhalb
der Sezefltoniftenkunft und tim Verhältniß diefer idealen Bethätigung zu den
geltenden Lebensformen zeigen und unerbittlich zur Parteinahme drängen.
Friedenau. Karl Scheffler.
»
Geigenfpieler und Flötenbläfer. 431
Beigenfpieler und Slötenbläfer.
5; Schickſal ift dumm und blind und brutal.
Was fümmert es, ob wir in £uft oder Qual
uns beraufchen oder rajen?
Eine fingende Geige gabs mir in die Hand
und warf mich hinab, wo im ganzen Sand
die Leute nur Flöte blafen.
Und ich geigte im ganzen Lande herumt,
doch Alles blieb Fühl und dumm und ftumm:
fie verftanden ſich nur auf Flöte. h
Und doch hatt! ich ihnen mein Beſtes gezeigt,
nein Allereigenftes vorgegeigt,
daß ich vor Scham jett erröthe.
Da jperrt’ ih mich ein in mein Kämmerlein
und Fratte und geigte für mich allein
auf meiner Dioline.
Daß fie bald Preifchte und fchmerzlich fchrie,
bald jchluchzend weinte in Melancholie
unter dämpfender Sordine.
So geig’ ich mich tot ohne Zweck und Siel,
denn es rührt mein einfames Geigenfpiel °
weder Menſchen noch Thier noch Gräfer.
Das Schiefal ift dumm und brutal und blind.
Warum fchict es ein geigendes Mlenfchenfind
unter die Slötenbläfer ?
Belfingfors. Johannes Oehquiſt.
Kinderarbeit.
as Kind iſt eine Vergegenwärtigung des Ideals, nicht zwar des erfüllten,
aber des aufgegebenen. Es iſt die Vorſtellung ſeiner reinen und freien
Kraft, feiner Integrität, feiner Unendlichlkeit, was uns rührt. So ſchrieb
Schiller zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts.
432 Die Zuknnft.
Es war die Zeit, in der die aufblühende mechanische Produftion jich
der Kinderhände bemächtigte; aus den gelöjten Felleln der früher behördlich
überwachten Gewerbe jchmiedete fie Sklavenketten. Seit 1815 zeigen jtaat=
liche Erhebungen, wie es um die reine und freie Sraft, die Jntegrität, die
Unendlichkeit einer wachienden Anzahl Kinder ftand: von vier und fünf Jahren
an wurden jie bis zu vierzehn Stunden in dumpfe Werkjtätten eingepfercht,
zum Theil in der Nacht; nicht felten mit roher Mißhandlung zur Arbeit
getrieben, mit Peitfche und Waflerfprige „Frifch“ erhalten. Es kam vor,
dak ihre Erholung in Spiel, Tabak, Branntwein, Unzucht, Rauferei, ihre
einzige Unterhaltung während der Arbeit in fchmugigen Reden und Liedern
beftand. Das Kinderelend jchlug die erſte Brejche in das Lehrgebäude von
der Selbjtverantwortlichleit der Arbeiter in dem neuzeitlichen Wirthichaftleben,
ſchuf die Antithefe der Gewerbefreiheit: den ftaatlichen Arbeiterſchutz.
Doch die Geſetzgebung eines Jahrhunderts vermochte nicht, daS Uebel
an der Wurzel zu treffen. Im der Fabrif freilich ward e8 eingedänmt.
„sn der Hausinduftrie, in Handel und Berfehr, ja, in fait fünmtlichen
Berufsarten wuchert es üppiger al3 zuvor.“ „Tauſende, Zehntaufende von
Kindern arbeiten im Schweiße ihres Angefichtes von morgens halb vier ab
bis zu Anfang des Umnterrichtes Stunden lang oder jchaffen die Nächte hin—
durch bis zwei, drei Uhr.“ Das zwanzigite Jahrhundert brach an, ehe Deutfch-
land eine Reform aud nur in Angriff nahm. Erſt jetzt haben die Ver:
bündeten Negirungen einen Gejegentwurf vorgelegt, der die Sinderarbeit
außerhalb der Fabriken regeln fol. Er macht Halt — leider — vor ber
Zandwirthichaft und dem Gelindedienft. Nicht aber vor der Schwelle des
häuslichen Heiligthumes, das in zu vielen Fällen eine Höhle der Armuth
und der Verfommenheit iſt. Darin liegt feine Bedeutung.
Die Geſchichte diefer Neform zeigt deutlich, was ein Einzelner vermag,
der mit tapferer Hingabe fein Ziel verfolgt. Gewiß darf das von Soziologen,
Aerzten, Gemwerbeinfpeftoren und einzelnen Ortsbehörden gelieferte Material
nicht unterfchägt werden, nicht der Einfluß der ſozialdemokratiſchen Agitation
und der Arbeiterfchutfongreife. Aber die lebendige That brachte doch erſt das
Auftreten des Bolksfchullehrers Agahd.
Konrad Agahd, im Fahre 1867 als Sohn eines Lehrers in dem
ponmerfchen Flecken Neumark geboren, empfing im Elternhaus die Eindrüde,
die jein Leben bejtimmten: „Mit der Muttermilch eingefogen habe ich den
Grundfat: den Schwachen beiftehen im jeder Weife. Unfer Haus war felten
oyne Jemand, dem der Vater helfen mußte, und die Mutter gab Alles hin
für Kranke im Ort, — leife, leiſe.“ Schon im Seminar regte lich der
fritifch veformatoriiche Geiſt und in feiner erſten Kehreritelle in Virchow,
Kreis Dramburg, begann der Zmwanzigjährige, „den Urjachen nachzuſpüren,
Kinderarbeit. 433
auf denen die Verſchiedenheit der fozialen Lage, der Bildung und die Rück—
ftändigfeit der Bewohner dieſes Ortes umd feiner Heimath beruhen könne.“
1890 fommt er nad Rirdorf. Hier beginnt feine jozialpolitifche Tätigkeit
unter dem Motto: „Durch eigene Kraft vorwärts, unbefümmert um rechts
und links. Der Menfc glaube an feine dee.“ Sein Glaube ftählt ihn:
fein Ruhen noch Raften, fein Erlahmen an den Widrigkeiten des Kampfes,
an der Enge und Gebundenheit feiner Stellung. Er nimmt fie groß. Mit
feinen Berftehen forfcht er in der Kinderſeele, fucht die Löfung mancher
Näthfel in ihrer Ummelt. „Bon je her bemüht, jeden Schüler individuell
zu behandeln“, macht er fich mit den Verhältniffer der Eltern vertraut.
1894 erregt feine erjte grundlegende- Schrift über die Lohnarbeit der Kinder
in Nixdorf Auffehen. Zahlreiche Auffäge, Vortrag auf Vortrag bald hier
bald dort, folgen. Ihm vor Allen ift es zu danken, daß die deutfche Lehrer:
ſchaft sich in den Dienft des Kinderfchuges ftellt und den Staat zum Handeln
treibt. Nach feinem Vorgehen, dauernd von ihm angeipornt, ergänzen und
fommentiren die Lehrer die unzulänglihen Angaben amtlicher Erhebungen,
hauchen den toten Zahlen graufam beredtes Leben ein.
Agahds jüngft erfchienenes Buch „Kinderarbeit und Gefeg gegen die
Ausnugung findlicher Arbeitkraft in Deutjchland“*) unterrichtet über den Gang
der Ereigniffe. Genauer Sachkunde paart fih naiv bewegliche Klage und
apojtolische Mahnung zur Abhilfe. Der Menfchheit ganzer Sammer, der
dem Berfaffer in jeiner Schule vor Augen trat, durchzittert wie leifes
Schluchzen die fchlichte Darftellung.
Nach den als folden erwiejenen Mindeftzahlen der amtlichen Erhebung
von 1898 waren außerhalb der Fabrifen 544283 Kinder gewerblich thätig.
Ihre wirkliche Zahl wird auf das Doppelte veranſchlagt. Man jpridt von
der erzieherifhen Wirkung der Arbeit. Geſundheit-, Schul: und Kriminal—
ftatiftif laffen über diefe erzieherifche Wirkung feinen Zweifel. Sie befteht,
fagte Graf Pofadowsly in der Reichstagsfigung vom dreiundzwanzigften April
1902, unter Umjtänden darin, „daß ein folches Kind zum Krüppel oder
Idioten“ — und, füge ich hinzu, zum Verbrecher — erzogen wird. Der
Aufenthalt in verdorbener Luft, Näſſe und Kälte, endlojes raſches Treppen-
laufen, Bier: und Schnapsgenuß find die Segnungen des kleinen Haus:
industriellen, Straßenverkäufers, Zeitung: und Badwaarenträgers, Ausläuferg,
der Kegeljungen und Kellmerlehrlinge. infeitige Körperbeanfpruchung in
der Tertilinduftrie bewirkt Mifbildungen, nächtige8 Porzellanmalen zerftört
die Sehkraft. An fi ungefunde Arbeiten, wie in der Tabak-, Cigarren:
und Gummifabrifation, treten Hinzu. Kinder, Mädchen und Knaben, find
*) Unter Berüdfichtigung der Gejeßgebung des Auslandes und der Be-
Ichäftigung der Kinder in der Yandwirthichaft. G. Fiſcher, Nena 1902.
4314 Die Zutunft.
als Steinmegen, in Mühlen, Brauereien, Branntweinbrennereien, als Mefler-
ſchmiede, Stubenmaler, Zimmerer thätig. Auch „Schlachten ift feine Be—
fhäftigung für Kinder. SonderfabinetS zu bewachen noch viel weniger.“
Die Hege des Ermwerbes macht die Schule zum „Nebenberuf“, der das
Kind ſtumpf findet und ihm Prügel einbringt, wenn es ihn zum Ausſchlafen
nugen will. „Die Kinder fehen vielfach bleich und kränkli aus, find
engbrüftig, befommen krumme Rüden, leiden an den Augen.“ „Es kommt
vor, daß fait die Hälfte der Erwerbsſchüler einer Klaſſe unternormal ift.
Und e8 kann nit Zufall fein, daß die bemooften Häupter der Fibeliften,
fo weit nicht Fdioten in Betracht kommen, fait immer noch erwerbend thätig
find oder doch waren.“ Möge niemals vergefien werden, unter welchen Ver—
hältniffen Lehrer arbeiten, wenn 44 von 69 bi8 87 Prozent einer Klaſſe
(Ergebnit aus Chemnig) im Erwerbsleben thätig find. „Die verbreitetiten
fittlihen Schädigungen liegen aber in der Untergrabung der Ehrlichkeit, des
MWahrheitgefühls und des Gefühls für Sitte und Anftand.“ „Es gehört
durchaus nicht zu den Seltenheiten, dag Knaben am frühen Morgen von
Dirnen verjchleppt werden.“ In England waren 67 Prozent der zur Zwangs—
erziehung abgegebenen Kinder Strafenverläufer. Hören wir auch den Ge—
fängniflehrer. Bon je 100 jugendlichen Gefangenen in Plögenfee waren 54
bis 70 während der Schulzeit Stalljungen, Laufburſchen, Kegelaufjeger u. f. w.
„Unfere Bengel, die wir da haben, die Mörder, jind, wie ich feitgeftellt habe,
alle Jungen gewefen, die in den Deftillen gefeflen und Segel aufgeftellt Haben.“
Viele Jungen, die wegen Diebſtahls beftraft wurden, waren früher Semmel-
träger. Mit Heinen Diebftählen fangen fie an, eine Stufenreihe reiht fich
an die andere und endlich kommen die Jungen zu und.“ Was für die ge-
werbfiche Arbeit gilt, trifft auch die Landwirthſchaft und den Geſindedienſt.
Wie die Beilerunganftalten und Gefängniffe, jo füllt jede Art der
Kinderarbeit auch die Kranken- und Armenhäufer. Die übermäßige An—
ftrengung in der Jugend führt zu vorzeitiger Erjchlaffung und Erwerb3-
unfähigfeit. Und die Heinen Kinderhände drüden bleifchwer auf die Löhne
der Erwachfenen, mehren Noth und Arbeitlofigkeit. So ift ihr Erwerb ein
Krebsichade, der den Staat belaftet, das Volk entnervt. Unmöglich, ihn in
unferem heutigen Wirthfchaftfyiten erziehlich wertvoll zu geftalten. Er hängt
zu eng mit defjen trübjten Auswüchſen, Wohnungnoth, Hungerlöhne, Armuth,
Smeaterinduftrien, zufammen. Immerhin: das neue Gejeg weilt vorwärts.
Agahds Buch zeigt den Werth und die Rüdjtändigfeit des Entwurfes, fordert
zur Mitarbeit an feiner Verbefferung auf, will mit Recht die ganze Gefell-
haft zu ntereffenten feiner Durchführung machen. Es iſt „allen Kinder—
freunden gewidmet“, eine flammende Mahnung, ein erichütternder Wedruf.
Helene Simon.
*
— — — — F Zu ne
B ? ar — u. “ — — — — — u.
= F nee um WETR, ’ n — —
Selbſtanzeigen. 435
Selbſtanzeigen.
Die Fabrikarbeit verheiratheter Frauen. (Schriften des Sozialwiſſen—
ſchaftlichen Vereins in Berlin. Herausgegeben von Oskar Stillich. Verlag
von Dr. Eduard Schnapper, Frankfurt a./M. 1902.
Das Jahr 1899 hat uns eine höchſt werthvolle Aufnahme gebradt. Man
hatte die Beamten der Gewerbeaufjicht beauftragt, eine Unterſuchung über die
Trabrifarbeit verheiratheter Frauen und alle ihre Folgeerfcheinungen anzuftellen.
Meine Schrift bezwedt, die Ergebnifje diefer Aufnahme in völlig ſachlicher Faſſung,
aber trotzdem kritiſch verarbeitet, einer größeren Oeffentlichkeit zu unterbreiten.
Selbjtverftändlich konnte man fich nicht darauf bejchränfen, die Wirkungen der
tabrifarbeit auf die Frauen ſelbſt zu kennzeichnen. Es galt vielmehr, in ben
Brennpunkt der Erörterungen die Frage zu rüden, welden Einfluß die induftrielle
Thätigleit der rau und Mutter auf die Familie, namentlich auf die Kinder,
ausübt. Daran fnüpft fi die Erwägung, ob die verheirathete Frau von der
Fabrikarbeit auszujchließen ſei. Endlich mußten verjchiedene Reformvorſchläge
betrachtet werden. Auch die heute ſo vielumſtrittene Frage einer Neugeſtaltung
des Arbeiterhaushalts auf wirthſchaftgenoſſenſchaftlicher Grundlage wird eingehend
erörtert. Sch hoffe, mit dem Buch Allen, die ſich für die wichtige Frage der
eheweiblichen Fabrikarbeit interejjiren, ein Hilfsmittel in die Hand gegeben zu
haben, das ihnen die nöthigen Daten in überfichtliher Weife zur Verfügung
ftellt. Schließlich wird wohl Jeder zu der Forderung gelangen, daß die aus
vielen Gründen unentbehrliche Erwerbsarbeit verheiratheter Frauen jo geihügt
und ausgebaut werden muß, daß jie aus einem Verderben bringenden zu einem
heilfamen Faktor der nationalen Wirthichaft werde.
Frankfurt a./M. a Henriette Fürth.
Geftern und Heute. Gedichte. M. Lilienthal, Berlin. Preis 1,50 Marf.
Eine Probe:
Gebet.
Bu Dir bet’ ich, großer Geift der Welten!
Laß mic immer treu jein meinem Schwur:
Eud allein ſoll nur mein Ringen gelten,
Wahrheit, Schönheit, Eurer Spur.
Wenn erjterben will das ftarfe Sehnen
Und zu niederm Biel der Geift einft lenkt,
Wenn mit lieblid, lodend ſüßen Tönen
Leichter Ausweg aus dem Kampf fi ſchenkt,
Dann — gewaltger Geift, erhör mein leben —
Tritt zu Boden jedes andre Glüd,
Lab erbarmunglos mich untergehen,
Dod bereite mir fein feig Zurüd.
Halenſee. Hellmuth-Hell.
*
436 Die Zutunft.
Die Slaven in Deutjchland. Mit 215 Abbildungen, Karten und Plänen,
Sprachproben und 15 Melodien. Braunfhweig, Drud und Verlag von
Friedrich Vieweg & Sohn 1902. (15 ME.)
‚sch Habe die Politif aus dem Spiel zu laſſen geſucht, um die Tages:
frage „Die Slaven in Deutichland* zu würdigen. Ich glaube aud, da bei
gegenjeitigem Eingehen auf das Volksthum der Stämme eine Grundlage der
Berftändigung geichaffen wird. Jedenfalls jollte dem Bolitifiren das Studium
der Volkskunde der jlaviichen und baltiihen Bewohner des Deutjchen Reiches
vorangehen. Meine Darftellungen, die erjten ausführlichen des großen Geſammt—
jtoffes, fügen fich auf wiederholte längere und kürzere Neifen und auf den
Verkehr mit den jlaviihen Stämmen an Ort und Stelle. Dabei ijt nicht ver«
geften worden, auf Alles einzugehen, was in der deutichen und ſlaviſchen Literatur
alter und neuer Zeit meinen Gegenitand beleuchtet.
Leipzig. a Franz Tegner.
Sprecdyendes Leuchten. Für denkende Menichen ein Büchlein Gedanfen.
Berlin 1902, Schufter & Koeffler.
Der Autor diefes Buches? Das Leben. Nicht ich. Aber in mir hat das Leben
Muße gefunden, Manderlei zu offenbaren von Dem, was in ihm bejchlofjen
liegt. Und aus diefem Mancherlei habe ich mich Das zu wählen bemüht, was
entweder, wie das Sprichwort, ewig wahr und prägnant oder in der Form jo
neu it, daß auch alter Inhalt gern mit in den Kauf genommen wird. Sollte
mander Spruch diefes Buches im Sprichwort aufgehen, dann will das Bud)
mit Freuden wieder. untergehen.
Münden. . Hugo Oswald.
v
Der Spiegel. Gedichte, Szenen, Königsmärchen. Hermann Seeman Nach—
folger in Leipzig, 1902.
Seite 1:
Und wieder faß ichs fo: das Spiegelglas,
das Du in Deines Lebens Mittagshöhe
anſiehſt ohn' Unterlaß
in jener augentiefen Nähe,
wo es jchon faſt vor Deinem Hauſe naß,
zeigt Dir, wenn Du beharrit
und wartend bis zum Grund der Spiegelbilder jtarrft,
erfüllt, was unerfüllt in Dich geſunken
und aus der Gluth,
aus Deinem Blut
ein traumhaft Yeben ſich getrunken.
Und Du erwadjit, wenn ich Dich) jo den Pfad
zur klaren Fluth ewiger Bilder führe
und aus dem eich des Spiegels, nicht der That,
Dich leis mit meiner Hand berühre.
Meimar. Wilhelm von Scol;.
v
2 — III
EEE u [ *
Sanden und Genoſſen. 437
Sanden und Genoſſen.
volle Wochen waren am neunten Juni ſeit dem Tage verſtrichen, wo
draußen in Moabit die Hauptverhandlung gegen Herrn Eduard Sanden
und jeine Mitfchuldigen begonnen hatte. Wenn jie im bisherigen Tempo weiter-
geht, wird am Ende in Leipzig über Herrn Erner das Urtheil gejprochen fein,
bevor hier die Anwälte zu den Blaidoyers fommen. Bor dem Bräfidenten häufen
fih Berge von Akten und neben dem Großen Schwurgerichtsjaal lagern centner-
ſchwere Geſchäftsbücher. Fünf Richter, ein Erjagridhter, drei Staatsanwälte,
zehn Bertheidiger, fünf Sadjverjtändige und ein Heer von Berichterftattern find
zu der feierlihen Amtshandlung mobil gemacht worden. Diejer große Apparat
entjpricht der Größe der Schuld, die die Öffentlihe Meinung den Angeklagten
aufbürdet. Sie haben Hunderte von Familien um den Reſt ihrer Eleinen, durch
mühſame Arbeit aufgejpeicherten Erjparnifie und Abertaujende um wejentliche
Theile ihres Vermögens gebradt. Noch jchlimmer beinahe ift, daß fie dem
Großkapital Gelegenheit gaben, feine Uebermacht auszunügen und Denen, die
Alles zu verlieren fürdteten, die Bedingungen der Rettung zu diktiren. Un—
zweifelhaft haben die Santirungen der Banken in den Augen der Mitwelt bie
Schuld der Sandengenofjen erhöht. Trotz diefer Schuldfülle muß man heute
jagen: Tant de bruit pour une omelette! Denn ganz anders als der Spruch
der Zeitgenoſſen ſchätzt das gelehrte uriftenrecht die Schuld der Angeklagten.
Ob durd eine Handlung ein Einzelner oder viele Berjonen geſchädigt find: Das
fann für das Strafmaß in Betracht fommen, wird von dem Paragraphen des
Strafgejeges aber nicht verjchieden beurtheilt. Wenn das Gefeß die That nad)
ihrer größeren oder geringeren Gemeingefährlichfeit jtrafte, müßten die Ver—
gehen gegen das Aktiengeſetz viel jtrenger geahndet werden, als es heute nad
den Normen des Handelsgeſetzbuches gejchieht. Und wenn man bedenkt, wie
verhältnigmäßig gering, ſelbſt im fchlimmften Fall, die über Sanden und Ge-
nojjen zu verhängende Strafe ausfallen mühte, dann erjcheint der in Bewegung
gejegte Apparat dem nüchternen Auge wirklich fait allzu groß.
Eher jhon ſtimmt die Länge der Dauptverhandlung mit der Dauer de3
Borverfahrens überein. Die Leute, die ji jet auf der Anklagebank einer
neugierigen Hörerjchaar zeigen müfjen, fiten rund anderthalb Jahre in Unter:
juhunghaft. Sicher ift bei jo fomplizirten Vergehen eine längere Borunter-
juchung nöthig als bei Alltagsdeliften. Etwas jchneller aber könnte und müßte
auch in jolhen Fällen die Juſtiz arbeiten. Leider fehlt unferen Richtern in
Dandelsjachen jede Vorfenntnig. Die Geheimniffe der Buchführung, alle Uſancen
des Gejchäftslebens find ihnen völlig fremd; und viel Zeit geht jchon verloren,
bis jie auch nur im Stande find, die Gutachten der herangezogenen Sachver—
ftändigen zu verjtehen. Mit Recht hat man deshalb gefordert, daß in jolchen
Prozeilen der Anklagebehörde und dem Unterfuchungrichter handelsrechtlich ges
ſchulte Hilfskräfte beigeordnet werden; auch in der Hauptverhandlung follte die
Staatsanwaltjchaft von einem Dandelsrichter unterjtügt werden. Die über-
mäßige Ausdehnung der Vorunterfuhung ſchädigt den Angeklagten, aber aud)
das Anjehen der Juſtiz. Den Sanden und Genoffen wird man ja einen großen
Theil der Unterfuhunghaft — wenn nicht die ganze — auf die Strafe an-
33
u A
438 Die Zukunft.
rehnen müſſen. Das aber war nicht die Abficht des Geſetzgebers, der für be
ftimmte Bergehen eine beftimmte Gefängnißjtrafzeit vorjchrieb und nicht wollte,
daß ein Theil diefer Strafe im Unterfuhungsgefängniß verbüßt wird, mo der
Angeklagte jeine eigenen Kleider tragen, fich felbit beföftigen und in gewiſſem
Umfang frei bewegen darf. Der Piychologe aber kann ſich über die jchlimmen
Folgen einer jo langen Unterfuhunghbaft nicht täufchen. Die fchredlichfte Ge—
wißheit ijt leichter zu ertragen als die jeeliiche Dual banger Erwartung. Auch
dieſe modernijirte Folter wollte der Gejeggeber nit einführen. Nach, jeder
Richtung bedarf aljo das Verfahren in Handelsprozeſſen einer gründlichen Reform.
Nützlich wäre es ſchon, wenn Affefforen, ehe fie zur Staatsanwaltichaft
fommen, eine Weile bei Großhändlern lernten. Jedenfalls zeigt gerade der
Prozeß Sanden, wie nöthig der Anklagebehörde die genaue Kenntni der Dandelsge-
bräuche iſt. Der Staatsanwalt, der die Anklage gegen die Hypothetenbanferot-
teure gebaut hat, verfügt über alle Gaben, die man von einem Staatsanwalt
billiger Weife verlangen kann; er hat eine ftattlihe, an jchöne Studententage
erinnernde Yeibesfülle, ein ungewöhnliches Maß geduldiger Ruhe, iſt Elug, jchlag-
fertig und kennt feinen Prozeßjtoff gut. Die preußijche Bureaufratic mahlt,
- mit Gottes Mühlen, laugſam; wenn fie aber eine Sache erjt einmal erfaßt hat, dann
weiß fie auch Beſcheid. Doch was joll jelbjt ein Mufterftaatsanwalt gegen zehn
in alle Sättel gerechte Bertheidiger ausrihten? Der NReditsanwalt muß in
jolden Fällen dem Staatsanwalt überlegen jein. Die Praris bringt ihn oft
in Verkehr mit Kaufleuten und in feinem Bureau gehen allerlei Leute ein und
aus, die ein königlich preußiſcher Staatsanwaltichaftrath mie ſieht, — metit auch
nicht jehen oder ‘gar hören will. Und für den Hall Sanden find die Triarier
der Bertheidigung aufgeboten. Neben den Herren Kleinholz, Sello, Wronfer
fit der Juſtizrath Munckel, der mit Bandelsgefchäften im Allgemeinen und —
durch feine Aufjichtrathsthätigkeit — ſpeziell auch mit den Schleichtwegen der Preußen-
bank vertraut ijt, fit Wilhelm Bernftein, der Kommentator des Wechſelrechtes,
und Fedor Stern; diefe Derren kennen alle Dintergründe des Gejchäftslebens
genau und nicht jeit geitern. Sie Alle, Ankläger und Bertheidiger, ſuchen natür—
li die berühmte „objettive Wahrheit‘ und find ohne Ausnahme Anwälte des
Rechtes. Vielleicht aber find zehn jo geübte Pfadpfinder im Suden glüdlicher
ald die auf joldem Terrain unerfahrenen Nobenträger neben dem Ridtertijch,
denen ein Dandelsrichter als Helfer nur nüßen könnte.
Die Hauptverhandlung zeigte bisher ungefähr die jelben Züge, die in
ähnlichen Prozefjen und neuerdings wieder in dem Verfahren gegen den Treber-
Schmidt fichtbar waren. Die zuerjt jehr lebhafte Hoffnung auf Senfationen
ſchwindet da jedesmal, wenn in ausführlicher Breite die Korrektheit der Buchung
und die Schiebungen erörtert werden; aud jet wurde der moabiter Schwur-
gerichtsjaal von Tag zu Tag leerer. Allgemein war erwartet worden, die „vor—
nehmen Beziehungen“ des Dauptangeflagten, befonders fein reger Verfehr mit
dem berhofmeijter Freiherrn von Mirbach, würden erörtert werden, und die
Neugier hatte ſich auf die Verlefung der Bolizeiaften gefreut, von der fie manche
Ueberrajchung hoffte. AU diefe Doffnungen find unerfüllt geblieben. In die
Anklagejcrift it von Sandens höfiſchen Verbindungen fein Wort gefidert; nicht
einmal die Thatjache wurde erwähnt, da Herr Eduard Schmidt den Titel eines
Sanden und Genoffen. 439
Hofbankiers der Kaijerin trug. Auch die Alten der Auffichtbehörbe zeigten nur,
was man längit wußte: daß es Sandens biederer Beredſamkeit immer wieder
gelungen war, Polizei und Minijterium an der Nafe herumzuführen. Im Hinter:
grunde läßt die BVertheidigung vorläufig den früheren Landwirthſchaftminiſter
Freiherrn Lucius von Ballhaufen über die Bühne führen,. Vielleicht wird er
noch vernommen. Dann follte man ihn fragen, weshalb die mit genauen Daten
belegten Angaben der Grundbejigervereine und des Dr. Paul Voigt, weiland
Privatdozenten in Berlin, denn gar nicht beachtet worden jeien.
Einjtweilen fönnen die monotonen Verhandlungen nicht einmal den Fach—
mann bejonders interejjiren; das „Finanzſyſtem“ des Klüngels war ja ſchon
vorher befannt. Die eriten Tage hatten wenigſtens dadurch nocd einigen Reiz,
dab man die Taktik der Bertheidigung erfennen lernte. Doc war ihr der Weg
eigentlich ja vorgejchrieben. Sandens Hauptwaffe ift fein ſchwaches Gedächtniß.
Er hat in der erften feeliihen Deprejjion nad) der Verhaftung ſich ſelbſt ſchuldig
bekannt. Jetzt Teugnet er und wei im Grunde nur noch beitimmt, daß er
nichts weiß. Er, dem in der Zeit feines Ruhmes ein ganz auferordentliches
Gedächtniß und die Fähigkeit nachgejagt wurde, . fi in dein wirrjten Gejträhn
bes Niejenbetriebes zurechtzufinden, fennt jegt nicht einmal mehr die Namen
der Mitglieder des Konfortiums für die jungen Grundſchuldbankaktien und weiß
nicht von Herkunft und Beitimmung einzelner Konten. Wo aber der Sad):
verjtändigen Spürfinn jeine Winkelzüge aufgededt Hat, da verſchanzt er ſich Hinter
feinen guten Glauben. Gr vertheidigt fi ruhig und ficher, beinahe behaglich.
Dian fieht ihm an, daß er froh iſt, endlich jo weit zu fein. Wie viele Jahre
mag der Mann ruhelos gelebt haben! Allmählich findet er fih nun aud in
die Rolle des Sündenbodes. Seine Kollegen laſſen nahdrüdlicd betonen, daß
fie in ihm ihren Deren und Meifter geliehen und nie jelbjtändig disponirt haben.
Nur Heinrih Schmidt hat gegen ihn gekämpft und ſchon 1885 gelagt, wenn man
es jo weiter treibe, werde der Weg nad) Moabit führen. Das joll aber nur
eine der bei ihm üblichen Redensarten gewejen jein. Auch Otto Sanden, Eduards
Bruder, wollte längit nicht mehr mitmachen. Er jagts und man darf ihm jo-
gar glauben, denn er galt in der Gejchäftswelt jtets als der folidere Bruder.
Auch den Verfiherungen Buhmüllers, der, wohl auf Wronfers Rath, geltändig
tft, darf man Glauben jchenken. Er ilt der Typus eines getreuen Commis,
der in dem einen Geſchäft groß geworden und deshalb unfähig war, Vergleiche
zu ziehen, die ihn zu vorfichtiger Sfepfis mahnen fonnten. UWeberhaupt hat
man e3 meijt mit Leuten zu thun, denen Sanden nicht nur Brotherr, jondern
auch Lehrherr war. Dieſe Thatſache ift noch nach anderer Richtung wichtig. Die
Angeklagten können den anderen Hypothekenbanken nicht gefährlich werden. Sie
willen nicht, was extra muros vorging. Diejes idylliiche Bild wird der Prozeß
gegen die Direktoren der Pommerſchen Onpothefenbanf nicht bieten. Herr Schulz
foll fi, wie man erzählt, über alle norddeutichen Hypothekenbanken Akten an—
gelegt haben, die er gewiß für jeine Bertheidigung nugbar machen wird; am
Ende läßt er auch die Sanitäträthe, die jeine Bfandbriefgläubiger gekürzt haben,
nicht ganz ungejchoren. Die norddeutichen Hypothekenbanken follten im Bommern-
prozeh bei der Berufung von Sachpverjtändigen mehr Eifer ald diesmal zeigen.
Plutus.
93°
440 Die Zukunft.
Notizbuch.
or neun Jahren, als Bismard in Friedrichsruh vierhundert Bewohner des
Fürſtenthumes Lippe empfing, ſagte er, er habe gehofft, „daß die Landtage
der einzelnen Staaten ſich lebhafter, als es bisher gejchehen ijt, an der Reichspolitik
betheiligen würden, daß die Reichspolitik auch der Kritif der partifulariftifchen Yand-
tage unterzogen werden würde. Ich hatte mir ein reicheres Orchefter zur Mitwirkung
in den nationalen Dingen gedacht, als es fich bisher bethätigt hat, weil die Neigung
zur Mitwirkung in den einzelnen Staaten nicht in dem vorausgejegten Maß vor:
handen war. Wenn Sie nad) Haufe fommen, jollten Sie dafür wirken, daß die Be-
theiligung an der Reichspolitif auch in der Diafpora der Yandtage lebhafter wird.
Es ijt ein Irrthum, wenn Staatsrechtslehrer behaupten, die Yandtage jeien dazu nicht
berechtigt; fie find immer befugt, das Auftreten ihrer Minifterien in Bezug auf die
Reichspolitif vor ihr Forum zu ziehen und ihre Wünſche den Miniftern kund zu thun.“
DerWunfch, die Landtage möchten fich mit der Reichspolitik und mit der Anftruftion
derzum Bundesrath Bevollmächtigten eifriger als bisher bejchäftigen, entiprang nicht
etwa einer Zufallslaune des Fürſten; er hat ihn im Privatgeipräd) oft wiederholt. Der
vierte anzler, dendieBernhardinermeute unermüdlich als neuen Bismarck ausbellt, ift
anderer Meinung. Er verjagt den Preußen das Recht, deſſen Wahrung im Sadjen-
walde den Lippern zur Pflicht gemadjt ward. Als die fonjervative Partei neulich
im Landtag fragte, ob die preußiiche Regirung im Bundesrath für einen wirkſamen
Schuß der landwirthichaftlichen Produkte eintreten wolle, las der Minifterpräfident
eine Erklärung vor, die dem Landtag das Necht zu dieſer Frage beitritt, und verlich
dann mit den Kollegen den Situngjaal. Die Erklärung trug ihm „Ziſchen und
Ladıen rechts’, der Erodus „lebhaften Beifall links“ ein und vielleicht ift derimmer
heitere Herr mit dieſer Wirkung des eifenfarbigen Anjtriches zufrieden. Unſere Libe—
ralen find jobligdumm geworden, daß fie jedesmal jubeln, wenn derpolitijche Gegner
einen; zußtritt befommt, und in ſolchem Schuljungenbehagen alle Grundſätze und echte
gern opfern. Und die Konjervativen braucht fein Miniſter zu fürchten. Zwar hat Herrvon
Heydebrand Zornworte geſprochen und der Freiherr von Wangenheim hat mit danfens-
werther Offenheit gejagt: „Wirmwollen uns darüber garfeinen Illuſionen hingeben : das
Bertranen, das durch Jahrhunderte lange Fürforge des Hohenzollernhaujes und
eine weife Staatsregirung im Yande aufgehäuft worden ilt, das Vertrauen, auf dem
die Stärfe und Macht unjeres Yandes beruht, ift im legten Jahrzehnt in der be:
denklichſten Weiſe vergeudet worden; und wenn e8 fo weiter geht, dann ſehe ich ganz
außerordentlich pejfimiftiich im die Zukunft.‘ Doch den Worten wird wieder feine
That folgen. Zu dem Entihlug, mit dem Mlinijter, der ſie ex cathedra her—
unterpugt und ihnen, wie ungezogenen, muthwillig lärmenden Sclingeln, den
Rüden zeigt, jeden Verkehr brüst abzubrechen, können die ſchwachen, durd) taujend
höfiſche und gejellichaftliche Rückſichten gelähmten Seelen ſich nit aufſchwingen.
Das weis Graf Bülow und riskirt deshalb Grobheiten, die er Stärferen nicht zu—
muthen dürfte. Leber die Sache ſelbſt ijt eigentlich nichts zu jagen. Auch der
hitzigſte Freihändler müßte zugeben, daß die an :Jahl jtärkite Yandtagsfraftion das
Recht hat, jo oft esihr nöthig Icheint, Nechenichaft und Auskunft zu fordern, — da be»
ſonders, wo es fih um eine Yebensfrage der von diejer ‚Fraktion vertretenen Klaſſe
handelt. Der Minijterpräfident aber plaudert über folche Dinge lieber mit Zeitung:
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Notizbuch. 441
machern, denen er jich wahlverwandt fühlt und die vor jeinem Gebieterblid in Ehr-
furdt erjterben. Einem franzöfiichen Interviewer hat er des Bufens Tiefe enthüllt
und die abgelagerten Feuilletonſpäßchen mitgegeben, die er im Parlament nicht
mehr an die Männer zu bringen wagt. Bon Sant und Fichte hat er, nad) übler Er:
fahrung, diesmal nicht geredet, aberdie Deutjchen den Haſen, die Polen den Kaninchen
verglichen, die fichallzu jchnell vermehren. Ueber den Geſchmack läßt fich nicht ftreiten.
Sic; jelbft fieht der Minijter des Schönen Aeußeren in der Rolle des Paris, der be-
rufen ift, der Schönsten Göttin den Apfel zu reichen; die Göttinnen diefes Dirten find
Landwirthichaft, Handel und Induſtrie. Kaum war ihm das Wort entfahren, dagab er
auch jchon den Gedankengang auf und erklärte, erwolle — „Kalchas, Du weißt wohl,
warum! — die „Politik der Diagonale“ treiben, aljo feiner der Holden den Apfel
geben. Das ganze, höchſt unpreußijche, aber auch höchſt undiplomatifche Gerede führtein
Niederungen, die ein Kanzler des Deutjchen Reiches meiden follte. Noch ſchlimmer, zum
Erichreden ſchlimm wirktendie Säße, biedem geſprächigen Herrn einpaar Tage jpäter
in offiziöfen Blättern nachgedrudtwurden. Da rügte er den „Dang zur Schwarzjehe-
rei‘‘,der in Deutichland fihtbar werde und völlig grundlos fei. „Gerade die nüchterne
Beurtheilung des allgemeinen Zuftandes der einzelnen Großmächte müſſe doc) feft-
ftellen, daß feine mit dem Gang ihrer öffentlichen Angelegenheiten, im Innern wie
nad) außen, jo zufrieden fein fönne wie Deutjchland. Der vortheilhafte Abjtand gegen
die Berhältnifje in anderen Staaten jei doch jo bedeutend, daß ein Vergleich ernftlich
faum in Frage fomme. Rußland mit feinen inneren Zudungen, England mit den
Nachwehen des jüdafrifanifchen Strieges, Frankreich, defjen innere Entwidelung nad
dem Rücktritt Walded-Rouffeaus wieder vor einem Fragezeichen ftehe, Defterreich-
Ungarn in feiner ethnographiſchen und politischen Zerriffenheit böten feine Bilder,
die in uns das Gefühl weden könnten, al3 Nation oder als politiihe Macht hinter
ben anderen Großmächten zurüdzuftehen. Ich muB es als geradezu grotesf bezeich-
nen, wenn ein Deutjcher die Zuftände feines Baterlandes troftlos nennen will.“
Alſo jprad Graf Bülow. Andere werden geradezu grotesf finden, daß ein Politiker
zu behaupten wagt, England leide an den Nachwehen des jüdafrifanijchen Krieges,
und nicht jehen will, welche Bortheile Rußland, Frankreich, England während des
legten Jahrzehntes der deutſchen Berjumpfung eingeheimft haben. „Troſtlos“
brauchen jie deshalb die Zuftände im Vaterland nicht zu nennen. Sogar in der be—
trübenden Erfenntniß der Thatjache, daß der erfte Beamte des Reiches in Holz
papiervoritellungen Lebt, ohne Grund und Zweck grobe Worte über die Grenze ruft und
immer wieder beweift, wie gut er zum Chefredakteur des Berliner Tageblattes ge:
eignet wäre, können fie Trojt finden, wenn fie die Rolle des Kanzlers richtig ſchätzen
lernen und fi), ohne noch Länger das Heil vondes Staates Höhe zu hoffen, muthig ent=
ſchließen, jelbjt ihres Schickſals Geftalter, ihres politischen Beſitzes Hüter zu werden.
* *
Einen am ſiebenzehnten Mai — dem Titel „Die Welt als Zeit“ —
hier veröffentlichten Artikel des Herrn Landauer gloſſirt und bekämpft Herr
Paul Mongrö in dem folgenden Brief:
„Sehr geehrter Herr Landauer, Sie jehen das Heil darin, da der Raum
zur Zeit werde; ich möchte dieje Mtetapher auf den Kopf jtellen und den Auf-
jtieg der Erfenntnig von dem Wunder abhängig machen, das dem jtaunenden
Parfifal des Gral Nähe ankündigt: Du fiehjt, mein Sohn, zum Raum wird
442 Die Zuhmft.
bier die Zeit! Ich verjpreche mir gar nichts davon, daß die Leere zwijchen mir
und dem ‚Dinge da hinten‘, die gähnende Kluft zwiſchen Ich und Nichtich aus»
gefüllt werde; ich halte es für eine mächtige Entlaftung der Senfibilität, daß
diefe Kluft aufgerijfen und die Intenſitätſchwankungen meines Binnenlcbens zu
fremden Objekten exteriorifirt wurden. Es muß noch immer mehr Raum aus
der Zeit auskriftallifirt werden, aus den diffus ſchwimmenden Seelenbegeben-
heiten fich ein feſter Niederjchlag abicheiden. Wir müjjen immer mehr noch von
ung ins Außerweltliche verfejtigen und aus den inneren Säften ein jchönes
Stiejelfkelet bilden, wie die neuerdings jo berühmten Nadiolarien; nicht, wie dem
Manfred Byrons, jollen uns Berge ein Gefühl fein, ſondern lieber wollen wir
Gefühle aufeinanderthürmen wie Berge, um wirklich in die Höhe zu kommen
und tajtbaren Grund unter uns zu haben. Leiden wir nicht Alle heute an der
BVerinnerlihung oder, wie Sie jagen, an der Berzeitlihung? Und nachträgliche
Propheten wie Maeterlind verheigen ein ‚Erwachen der Seele‘: ich finde, wir
haben entjchieden Meberproduftion an Seele und follten trachten, dieje an freier
Luft leicht verderblihe Waare jchleunigit loszumerden. Die Zeitkünfte, Muſik
und Lyrik, paden fo viel Seele aus, wie gar nicht beifammen bleiben will; Das
verbreitet fih dann überall im ‚Raum‘ und macht die Fleinen Objekte, die
Tiffanygläfer und japanischen Bronzen, aufrühreriſch, daß fie auch fchon Seele
auszudunften anfangen. Ach, dieje Orgien der freien (im chemiſchen Sinne),
freigewordenen Seele! Ganze fünfaktige Dramen werden als Wafjerjtoffballons
um fo einen Seelenhauch herumgeichrieben; langwierige Nomane juchen mit
Millimeterfchärfe den Punkt zwiſchen zwei Seelen zu beftimmen, wo jede auf
die andere gleich jtarf reagirt. Sie wollen noch mehr Seele, noch mehr Form
der inneren Anichauung, noch mehr ‚Zeit‘? Aber die Beitfünftler ſchmachten
nad) einer Raumkunſt in Klingers Art. Was ift Straufens Zarathujtra und
Heldenleben anderes als ein Verſuch, dreidimenfionale Mufif zu maden, bie
Tongeitalten aus der einfach ausgedehnten Zeitlinie herauszufchrauben und ihnen
plaftiiche Ansladung zu geben? Die Zeit, das überfüllte Gefäß der Seele,
plagt an allen Eden und jpeit ihr Inneres aus: und Sie wollen nit nur
das Bisherige, jondern noch viel mehr in den engen Schlaud zurüdjtopfen?
Was entzüdt uns denn am Raumkunſtwerk, was giebt unjeren Nerven die wohl»
thätige Ruhe, gegenüber den zudringlidhen Boa =: Konjtriktor- Umwindungen der
jeelenhaften Ton» und Redelunft? Das Gentrifugale, die Richtung von der
Seele weg ins Sichtbare, die anftändige Entfernung. Endlich ein Stüd Seele
unwiderruflich abgetrennt und als feites Symbol uns gegenübergeitellt! Wir
athmen auf. Und Ste wollen das Nebhautbild uns wieder als Albdrud ‚menjche
lich näher bringen‘ ? Nicht ohne romantische Sehnfucht malen Sie eine Taftwelt
ohne Gefichtsempfindungen aus, die raumlos nur als Gucceffion von hart, ſcharf,
glatt, geichweift, nad, kalt, als Meolsharfenipiel wechjelnder Ichgefühle verliefe.
Der blinde Seher, die introjpektive Myſtik hat es Ahnen angethan. Aber wir
halten es mit Gottfried Seller: Augen, meine lieben Fenſterlein!
Ich glaube, wir find nicht mehr jung genug, um uns über ſolche Säße
aufzjuregen wie: alle Handlungen entipringen aus Egoismus, alles Gejchehen
ift nothwendig, alle Wirklichkeit ift Bewußtjeinsphänomen. Solche univerjellen
Ausjagen gehen uns eigentlich nicht mehr an, als wir den alljeitigen Luftdruck
Notizbuch). 443
ſpüren, worauf e8 ankommt, find die Abjtufungen innerhalb des jo oder jo be=
zeichneten Sefammtbegriffes. Es ift jo wahr wie eine Tautologie, daß Niemand
- Etwas thut, das ihm nicht Vergnügen madt; aber, Dies einmal fonftatirt,
erweiit es fich doch als zweckmäßig, zu unterjcheiden, ob Einer an Ehrlichkeit
oder Diebftahl, am Geben oder Nehmen Vergnügen findet. Der menſchliche
Wille ift determinirt und eine metaphyſiſche Verantwortlichkeit giebt es nicht;
ader die Gejammtheit aller ‚unfreien* Handlungen wird doch plaufibler Weiſe
‘in Gruppen voller, verminderter und aufgeobener Zurechnungfähigkeit einge
tbeilt. Alle Dinge beeinflujfen einander und fein Sperling fällt zur Erde, ohne
den Sirius aus feiner Bahn abzulenken; aber für mande Paare von Dingen,
wie Sirius und Sperling oder Mond und Wetter, ilt ed doch vortheilhafter,
zu jagen: fie beeinfluffen einander nit. Jedes Zeichen ijt inkongruent mit
dem Bezeichneten; aber ein Zeichen, das eindeutig orientirt, bleibt darum doch
werthvoller als ein irreführendes, mifjweijendes. Die ganze Außenwelt ift meine
Bewußtjeinserfcheinung; aber innerhalb diefer allumfaffenden Sceinbarfeit iſt
es doc) rationell, gewiſſe Dinge als wirklich, andere als eingebildet oder halluzinirt
onzujehen. Der Naum ift eine Projektion aus inneren Erlebnifjen oder, wie
Sie jagen,‘ eine Eigenſchaft der Zeit; aber es ift immerhin merfwürdig, daß
aus dem quallenhaft fließenden Chaos ſeeliſcher Zuftände ſich jo ein Knochen—
gerüft mit permanenten Bejtimmtheiten herausfchälen läßt, und dieje Thatjache
ipricht eigentlich dafür, das Skelet nicht wieder in Gallert aufzulöjen. Auch
die ‚Dinge‘, dieje ontologiichen Ungeheuer und Duidditäten, über die der jpätere
Niegiche fo pyrrhoniſch jpottet und denen auch Ahr Freund Mauthner in jeiner
bewundernswerthen Sprachkritik zu Leibe geht, auch dieje erfenntnißtheoretiichen
Subftantiva, fo wenig fie eriftiren, Taffen ſich doch nachträglich dadurch retten,
daß die Defonomie des Denkens zwedmäßiger Weile jo thut, als ob fie erijtirten.
Freilich Habe ich, ftreng genommen, nichts Anderes als zeitliche Modififationen
meiner Seele, zum Beijpiel Gefihtsempfindungen von grün, zitternd, herzförmig,
Gehörsempfindungen von wilpern, raufchen, Gerucdsempfindungen von Ozon
und aromatischen Delen, Hantempfindungen von Schattenfühle und vorbeijtreichen-
dem Luftjtrom; dazu Erinnerungsgefühle, daß alle diefe Empfindungen im ähn—
lihem Zuſammenſpiel ſchon einmal da waren, ferner ein gewiſſes Gefühl der
Abhängigkeit, da; nämlich diefe Empfindungen nicht verſchwinden würden, jelbjt
wenn id ‚wollte‘, e3 jei denn, daß ich gewilje andere Empfindungen, die Mustel-
gefühle des Augenſchließens oder Kopfdrehens, in mir zu erzeugen vermödhte
u. ſ. w. Sa, Das ift das Einzige, was ic) eigentlich habe; aber wenn ich diejes
fomplizirte Befisthum wirklich ergreifen, handhaben, in Tajchenformat bei mir
tragen will, fo bleibt mir doch nichts übrig, als ein ‚Ding‘ zu hypoſtaſiren
und zu jagen: Das iſt die Linde, die vor meinem Fenſter jteht! Ueber diejes
Ding und Baumjubftantivum zu lachen, ift philofophiicher Laune nicht unwürdig,
zumal wenn ontologiich angelegte Köpfe ſich an diejer ſymboliſchen Chiffre wie
an einer jtarren Wejenheit Beulen ftogen und Schopenhauer die platonijche
Idee der Linde über den Wäſſern jchweben fieht. Aber für den Dand- und
Hausgebrauch werden Sie doch das Symbol nicht wieder ausführlicd; umjchreiben,
das Ding nicht wieder in feine zahllofen Einzelfajern zeripinnen wollen! Dazu
hätten Sie Grund, wenn die Dinge Das nicht leifteten, wozu wir fie erfunden
444 Die Zuhmft.
haben, wenn die Symbole fih nicht jo wählen ließen, daß fie zu allen Zeiten
und für alle Subjefte das Selbe bedeuten, wenn Sie heute einen Komplex
innerer Erlebnifje bei fich fänden, der in neunmmdneunzig Beziehungen ‚Linde‘,
in einer einzigen Beziehung aber ‚Buche‘ ausjagt. Solde Fälle fommen ja
freilid) vor, haben jich aber bisher immer noch unter die Pathologie der betreffenden
Objekte jubjumiren laſſen und unfere leichtfinnige Marime: ‚Ausnahmen be-
ftätigen die Regel‘ nicht umzuftogen vermodt. Und gerade Das unterſchätzen
Sie, wie mir jcheinen will; Sie find nicht dankbar genug für den Glüdsfall, daß die
Natur fich wirklich, im Großen und Ganzen, in unjere armjäligen Symbole ein-
fangen läßt. Es fünnte ja aud) anders jein. Wie viel leijtet allein der Rauın, wie
viel Wirklichkeit umjpannt er, während von vorn herein Niemand dafür bürgen konnte,
daß ein Fiſch in diejes Neg gehen würde. Er ift dreidimenfional; wie viel ift
es aber von einer fompakten Außenwelt verlangt, daß fie überhaupt eine zeit-
weilig bejtimmte Dimenfionenzahl habe und nicht (in der Art, wie ſichs bie
Spiritiften vorjtellen) durch gelegentlichen Hofuspofus eine Ertradimenjion ver-
rathe, die fie wie ein Pſeudopodium bald ausjtredit, bald einzieht? Ferner, daß
dieje beſtimmte Dimenfionenzahl, in die ſich Alles widerjpruchfrei einfügt, mit
der Zeit unveränderlich jei? Weiter: die freie Beweglichkeit, die man jo geneigt
ijt, als ein denfnothwendiges Attribut vorauszujegen, bedeutet doch aud nur
eine freiwillige Selbjtbeichränfung der Natur, an die wir num durd Verjährung
ein Recht zu Haben glauben. Wir drehen und verſchieben unjere Leiber und
jchleudern unſere Kegelfugeln jo unbedenklich, als wäre der Raum verpflichtet,
an jedem Ort gleiche Aufnahmebedingungen zu gewähren und unjere Coof-Tidets
überall unterjchiedlos zu honoriren. Uber es find Räume veränderlicher Krümmung
denkbar, worin eine Figur als jtarrer Körper nur in einziger Lage möglich iſt
und aljo die Wahl hat, entiweder auf ftarre Form oder auf Bewegung zu ver-
zichten; in einem ſolchen Raume wandernd, müßten wir uns deformiren, wie die
Bilder in einem Hohlipiegel oder wie Quedjilber, das durd) Röhren getrieben
wird. Nun könnte zwar, da doch irgend ein Bergleichsobjeft und ‚Normal:
meter‘ gewählt werden muß, jedes Individuum immer noch jeinen eigenen Leib
für unveränderlich erflären oder ſich ein Stüd Eijen anfertigen, an deffen Starrheit
es ariomatijch glauben will; aber dann würden die Räume verfchiedener Indi—
viduen nicht zufammenjtimmen oder der Naum, der für dies eine Stüd Eijen
freie Beweglichkeit gejtattet, würde fie einem anderen, phyſikaliſch gleichberedhtigten
Eiſenſtück verjagen. Auf alle dieje Heimtücden und Störungen unjerer Wijjen-
ſchaft verzichtet die Natur, jo wenig fie fonft unfere bereit gehaltenen Schemata
auszufüllen und die menjchlich-allzumenfchlichen Kategorien des Schönen, Wahren,
Guten zu rejpeltiren pflegt: aber den Naum, diejes doch gar nit bequeme
Panzerhemd, haben wir ihr glücklich umgehängt und fie duldet es ohne Wider-
ſpruch. Finden Sie daran gar nichts zu erftaunen?... Ich habe mich hier, der
Kürze halber, mythologiich ausgedrüdt und von der Natur gefprochen, die fich
Dies und Jenes gefallen liege; jeßen wir ftatt Natur wieder Bewußtſein,
fo bleibt es nicht minder eine Extragefälligfeit diefes Bemwußtjeins, aus jeinem
fluthenden Bilderwechſel eine annähernd ſtabile Außenwelt, mit ‚Dingen‘,
Atomen, chemijchen Elementen, abzulagern, die jich, ohne Ausrenfung und Ver—
fürzung, glatt und ungezwungen in das Profruftesbett des euflidijchen Raumes
EEE LEERE RE EEE ET OT WET TEE TRERWT
Motizbuch. 445
hineinjchmiegt. Und darum dürfte es weder Willkür und zufälliger visual language
jein, daß wir einen Theil des Beiterfüllenden zum Raum erteriorifirt haben,
noch dürfte es im unjerer Macht liegen, dieje erftarrte Abſcheidung im Schmelz-
tiegel wieder zu verflüjjigen, noch endlid) würden wir, wenn es jelbjt in unjerer
Macht läge, zur Bereicherung unferes heiligen Innern irgend Etwas gewonnen |
haben. Was hilft es, den Objekten ewig ihren Uriprung aus menſchlichem Be-
wußtjein nachzutragen? Damit, daß wir in jedes Goldjtüd unferen Namenszug
eingradiren, vermehren wir unjeren Befigitand nit. Auch der jchranfenlojeite
Subjektivismus fann den ganzen Wein nicht auf einmal austrinfen; er muß
Flaſchen und Fäffer füllen und einen Seller zur Aufbewahrung haben. Wenn
ihon unfere Geliebte nichts ijt als die Summe unferer Begegnungen mit ihr,
unferer Borjtellungen von ihr, jo würde e8 doch diefen ‚chgefühlen‘ ihren beften
Neiz nehmen, nicht an ein Subjtrat dahinter zu glauben. Freilich fann der
Wein im Seller jauer werden und die Geliebte hat, als ‚Ding‘ im Raum, drei
Dimenfionen zur Verfügung, um uns durchzubrennen; aber in jolden Fällen
ift die Zeit, ihrer Nichtumkehrbarkeit wegen, eine noch viel fatalere Einrichtung.
Der Raum ift wenigjtens Etwas, das überwunden werben kann. Und im Raum
fan man einen Umweg machen, während man in der Zeit durch den jchwärzeften
Sdlamm mitten durdh muß. Wäre ih Phantajt wie Sie, fo würde ich aus
al diejen Gründen eher für Verwandlung der Zeit in Raum ftimmen; man
würde fein Leben vernünftiger jtilifiren können, wenn man die zeitlichen Er-
lebniife im iüberfichtlichen Nebeneinander jtatt im verdedenden Nacheinander an—
ordnen, aljo gewiſſermaßen um die Ede jehen und außer der Reihe marjdiren
dürfte und nicht, der dummen Eindimenfionalität wegen, nad) dem A jedesinal B
jagen müßte. So weit wage id; meine Bifion einer Ummenjhung des Menfchen
aber nicht zu treiben, jondern glaube einftweilen nur, daß jich noch mancherlei
Beit (nicht alle!) in Raum verwandeln, mancherlei Seelifches zu Dinglichkeit
friftallifiren läßt und daß wir nad) den ewigen Innerlichkeiten und mollusten-
haften ‚Stimmungen‘ der legten Jahrzehnte gut thun, zur Abwechſelung wieder
einmal ung nad der Objeftjeite, in Haren Gejtalten und ſcharf gezeichneten
Bildern, recht räumlich und ſuhanuien MMpnIEDen. e
Herr Wladimir Raffalovich, der Tance im XTransvaal lebte, jchreibt mir:
„Beitatten Sie mir, zu der Kontroverje Henkel-Gentz eine kleine Epiſode, die
für jich jelbjt ſpricht, nachzutragen. Jameſon war bei Pitani-Rooigrond auf Trans»
vaalgebiet eingedrungen und die damalige Regirung rief, als fie von dem Einfall er-
fuhr, jofort zuden Waffen. Ausländer, die bereit waren, mit der Waffe inder Hand den
Freibeutern entgegenzutreten, wurden aufgefordert, fi) ein Gewehr und Munition zu
holen. Als Belohnung wurde Jedem neben anderen Entjchädigungen aud) die jo-
fortige Berleihung des Bürgerrechtes verfproden, jenes Bürgerrechtes, auf das man
ſonſt jieben Jahre warten mußte und das man auc dann nur unter gewijlen Be:
dingungen erlangen konnte. Die Meiften freuten fi), auf billige Weife ein Gewehr
zu erhalten, und es entjtand ein run auf das Bureau des Veld-Kornet, wo die Ver:
theilung jtattfand. Zu einem Kampf famen diefe Ausländerjchaaren nicht ; höchitens
haben Einzelne auf einjamen Kopje um Pretoria Wache gejtanden. Jameſon war
gefangen und das Bürgerrecht wurde verliehen. Zu Denen, die e8 — die dabei ein-
Li Sr
446 Die Zukunft.
geichlagenen Wege kenne ich nicht — erhielten, gehörten auch Yeute, die noch nie ein
Gewehr in der Hand gehabt hatten; Andere, die nach dem Wortlaut der Proflamation
für die von ihnen geleiſteten Kriegsdienſte‘ Anſpruch auf das Bürgerrecht zu haben
glaubten, wurden ſchnöde abgewiejen. Die Bevorzugten aber mußten zuerft auf die
Farben Roth: Weih-Blau-Grün den Treueid leisten. Sie ſchieden in aller Form
aus ihrem bisherigen Staatsverband und wurden Transvaaler. Da beſchloß am
achtzehnten Mai 1899 plöglich der Roltsraad, die Jameſon-Proklamation für null
und nichtig zu erflären, weil einzelne ‚Unmwürdige‘ das Bürgerrecht erhalten hätten.
Die zwei bejonnenen Mitglieder des Raads nannten einen foldhen Beſchluß zwar
illoyal, aber die anderen fünfundzwanzig waren nicht zu beijerer Einficht zu befehren
und die Willlür wurde Gejeg. Das war jelbit dem alten Krüger zu ftarf und er
milderte den ‚besluit‘ in der aın einundzwanzigjten Mai 1899 im Staatscourant
veröffentlihten Proflamation; der Anſpruch auf das Bürgerrecht müſſe, hieß es da,
erjt nachgewiejen werden. Inzwiſchen waren die ‚Jameson-burgers‘ vaterlandlos.
Das war der Dank für ihre Bereitwilligfeit, ihr Leben für die neue Heimath einzu-
jegen. Sogar der ‚Standard and Diggers News‘ und die ‚Volksstem‘ proteitirten
damals gegen das Unrecht ... Die ‚Deutjche Buren: Gentrale‘ jammelt feit einiger
Seit Geld, um das Burenelement in Südafrika zu ftärfen und die Buren, die nad)
Deutid-Südweitafrifa auswandern wollen, zu unterftügen. Am dritten März 1900
ſchon wics ich in der „Zukunft“ auf die Deutichland aus joldem Plan drohende Ge:
fahr bin. Daß dem deutichen Dandel die ‚Stärkung des Burenelementes‘ nur jchaden,
nicht nützen kann, ift klar. Werden die Buren aber auf fremde Ktoften nad; Südweit-
afrika befördert, dann wird Niemand jich mehr darüber freuen als die Engländer.
Niel verrfünftiger wäre es, fleigige deutiche Handwerker und Bauern, denen die
nöthigen Mittel zur Ueberfahrt und zur Begründung der neuen Erijtenz fehlen, zu
unterjtügen. Dann erbielte man in Deutid-Südweftafrifanicht, wiedie Bortugiejen
in Angola, einen indolenten, bedürfnißlojen Volksſtamm, jondern deutiche Anfiedler,
deren Bedürfniffe mit dem Wohlſtand wachſen und zum Bortheil des Mutterlandes,
der Hauptbezugsquelle folder Ausgewanderten, befriedigt werden.“
“x *
*
Herr Dr. Paul Julius Möbtus, der befannte Neurologe, der in Leipzig
(Rofenthalgafje 3) wohnt, wünjcht die Veröffentlichung des folgenden Aufrufes,
deſſen Ziel jedenfall® Beachtung heiſcht:
„Seit 1896 habe id von der Noth der Nervenkranken und von dem
Plan, Nervenheilftätten zu bauen, erzählt. Seitdem ift auf meine Anregung
die Schöne Anftalt „Haus Schönomw‘ in Zehlendorf bei Berlin errichtet worden.
Andere Heiljtätten werden da und dort vorbereitet: in Frankfurt a. M., in der
Nheinprovinz, in Baden, in Holland. Neuerdings jind in Zürich einige Männer
zufammengetreten*), um eine fchweizeriiche Nervenheilftätte zu gründen, die ohne
Anfehen der Nation und des Belenntniffes Nervenkranten aller Stände und
beider Geſchlechter Zufluht und Hilfe bieten fol. Der Verein und die neue
Anſtalt felbft werden ‚Kolonie Friedau‘ heißen. In einer gefunden und ſchönen
Gegend der Schweiz wird ein großes Gut gekauft und dort werden für etwa
— —
*) An der Spitze des Komitees ſteht Profeſſor Bleuler, Direktor der
Anjtalt Burghölzli bei Zürid).
Notizbuch. 447
hundert Patienten und Kurgäfte die nöthigen Einrihtungen geſchaffen werden.
Etwa folgende Gedanken leiten die Begründer bei ihrem Unternehmen.
Daß ınehr und anders als bisher für die Nervenkranken *) geforgt werden
muß, darüber find alle Sadhverftändigen einig. Zwar beſtehen ſchon jegt Nerven—
heiljtätten, Wafjerheilanftalten, Kurorte aller Art für Nervenfranfe, aber fie
find nur Wohlhabenden zugänglich und vielfach nicht jo beichaffen, wie jie jein
jollten. Wenn jetzt ein Menſch, der der Üübergroßen Mehrzahl der jchlecht Bes
mittelten angehört, geiſteskrank wird, jo ift für ihn geſorgt. Staaten, Provinzen,
Gemeinden haben vortrefflich eingerichtete Heilanftalten für ihn. Wird er aber
nervenfranf, jo muß er in vielen Fällen den Geijtesfranfen beneiden, denn für
ihn hat Niemand gejorgt. In rrenanftalten und öffentliche Krankenhäuſer
paßt er nicht, für Anderes aber reicht das Geld erft recht nicht. Das gilt nicht
nur von den Armen im eigentlihen Sinn des Wortes. Auch die dem Mittel :
ſtand Angehörigen find fait eben jo jchlecht daran. Nervenkrankheiten find oft
ſehr langwierig; nur durd). lange Behandlung außerhalb der häuslichen Verhält-
nifje ijt Heilung oder Befjerung zu erreichen. Na, für ein paar Wochen in der
Kuranftalt reihen die Sparpfennige. Aber fo rajc geht es nicht; gerade weil,
der angitvolle Wunſch, nur ja raſch gefund zu werden, den Patienten plagt
fommt er nicht recht vorwärts. Am Ende der Zeit muß er, oberflächlich oder
gar nicht gebeflert, nach Haufe zurüd; und jeines mühſam erworbenen Geldes
und feiner Hoffnungen ledig, ſteht er jchlechter da als vorher. Aber aud) die
wohlhabenden Nervenkranfen finden unter den jeßigen Verhältniſſen in der Hegel
Das nicht, was fie brauchen. Die jeßt bejtehenden Privatanftalten find meijt
nicht alkoholfrei und gewähren nicht die Möglichkeit eines richtigen Lebens mit
natürlicher Thätigkeit. Mit wenigen Ausnahmen find fie halb Kleine Kranken—
häuſer, halb Hotels, mitten hineingeftellt in ein lärmendes, hohles Weltwejen.
Sie jind räumlich beſchränkt und aus beſchränkten Borausjegungen hervor:
gegangen. Auch bei gutem Willen der Leiter fünnen fie den Anforderungen,
die wir ſtellen müffen, nicht genügen.
Durch das jelbe Mittel joll die Hilfe billiger und beffer werden: durch
Schaffung einfacher, natürlicher Lebensverhältniſſe.
Alles, was der Nervenkranke wirklich braudt, iſt an ſich nicht theuer:
Ruhe, Reinlichfeit, Ordnung, reine Luft, einfache, wohlſchmeckende Nahrung
und, wenn der Gejumdheitzuftand es erlaubt, nüßliche Arbeit. Trotzdem kann
er dieje Dinge jet nicht oder nur mit großen Koſten erlangen. Gin darauf
eingerichtete Gemeinwejen aber kann die guten Dinge billig geben und dem
arbeitfähigen Patienten die Möglichkeit gewähren, durch den Ertrag feiner dem
Gemeinweſen gewidineten Arbeit die Yebenskoften zum Theil aufzubringen.
*) Eine genauere Beitimmung des Begriffes ‚nervenkrank‘ braucht hier
nicht gegeben zu werden. Das Wort wird im Sinn des täglichen Lebens ge-
nommen; es handelt jih um Menſchen, die, ohne geiſteskrank oder im gewöhn—
lien Sinn körperlich krank zu fein, zu ſchwach oder zu empfindlich find, um
den an fie gejtellten Anforderungen genügen zu fünnen. Welche Nervenkranfe
für die Kolonie geeignet find: Das iſt eine rein ärztliche Frage und ſie kann
nur im einzelnen Fall richtig beantwortet werden.
448 Die Zutunft.
Das billigfte und das gejündefte Leben ift das Landleben; aber es iit,
wie der wirkliche Landmann es lebt, für den Nervenkranken nit brauchbar.
Die Kolonie bietet gewiffermaßen ein verflärtes Landleben. Das Ganze ijt aus
dein ärztlichen Geift hervorgegangen und feinen Zwecken angepaßt. Er jchaltet
die Noheiten und Unzuträglichfeiten aus und mildert die Anforderungen jo weit,
daß auch der Schwache an der Thätigfeit theilnehmen und an ihr eritarfen kann,
Es giebt Kranke, die eine Zeit lang volljtändig ruhen müſſen; auf die
Dauer aber kann fein Menjch die Thätigkeit entbehren. Jetzt jteht der Schwache
eingeflemmt zwijchen zu viel Arbeit in ber Welt draußen und öder Langeweile
in der Kuranſtalt. Die Einen finden nur harte oder unpafjende Arbeit und
werden immer fränfer, die Anderen füllen ihr Leben mit fogenannten Ber»
gnügungen aus, wie ein Menſch, der ausichlieglih von Zuckerzeug lebt, und
auch fie werden immer kränker. Aus der rechten Arbeit aber wächſt Kraft, Heiter-
feit, Genejung. In der Kolonie kann auch der Schwache fi) an den vielen
verjchiedenen Arbeiten betheiligen; unter ärztlicher Aufſicht findet er die ihm
wohlthuende Beichäftigung in dem für ihn geeigneten Maß. Zugleich aber mit
dem Zuwachs an Kraft und Gejundheit gewinnt er materiellen Wortheil, denn
feine Arbeit wird nad ihrem Werth entlohnt, jo weit es angeht.
Ein modernes Krankenhaus ift eine jehr theure Sache. Der Nerven-
franfe aber braucht fein Krankenhaus; im Gegentheil: die Nervenheilitätte ſoll
einem Krankenhauſe möglichſt unähnlich fein. Die ärztliche Fürſorge beſteht hier
in der Regelung des Lebens, in perjönlicher Zuſprache auf Grund genauer Unter-
juhung, in wenigen und einfachen Arzeneimitteln, in Bädern u. ſ. w.; und für
das Alles braucht man feine künstliche Einrihtung. Zur Wohnung für die
Patienten eignen fi ganz einfahe Häuschen am Meiſten, denn fie bieten Ruhe
und heitere Eindrüde. Je verichiedenartiger die Wohngelegenheiten find, um
fo bejjer, denn der Kranke möge Das wiederfinden, was ihm durch die Gewohn-
heit lieb ift, nur ohne die Störungen, die fih draußen an feine Wohnung
hefteten. In einem Stranfenhaus weift Alles auf Krankheit Hin, hier aber ſoll
der Sinn vom Krankhaften weg auf ein gejundes Leben hingelenft werden. Und
wie die Wohnung, jo ſoll auch die menjchliche Umgebung den Nervenkranten
möglichit wenig an die Krankheit erinnern. Es ijt daher nicht wünjchenswert&,
dab Kranke nur mit Kranken verkehren. Die gejunden Mitglieder der Kolonie
jind auch im Intereſſe der Kranken nöthig. Aber fie werden anders wirken als
die Geſunden draußen, die allzu oft den Schwachen durch Handlungen und Worte
verlegen; denn auch fie jtreben nach dem rechten Leben und der die Kolonie
beherrijchende Geiſt führt Alle auf den ſelben Weg.
An Gefunden wird es in der Kolonte nicht fehlen, denn es giebt allzu
viele der Erholung und Ruhe bedürftige Menjchen, die, ohne eigentlid Frank
zu fein, nad) einer Zuflucht verlangen. Jetzt fönnen nur ganz Reiche fich wirkliche
Ruhe verichaffen; die Meiften müſſen mit Dem vorlieb nehmen, was die Gajt:
bäujer bieten, wo zwar oft Yurus und jchwelgeriiches Leben, Ruhe aber jelten
zu finden ift. Wer vollends jparen muß, wird fajt nie finden, was er will.
Alle Mitglieder der Kolonie find verpflichtet, fi des Genuſſes und der
Einführung alkoholhaltiger Getränke zu enthalten. Daß die Hilfe für Nerven-
franfe mit der für die vom Alkoholismus Bedrohten verbunden werde, empfiehlt
EEE IE TE TERN EEE U
» Fi € .“ * J J
Notizbuch. 449
fh aus verſchiedenen Gründen. Die Sachverſtändigen find darüber einig, daß
für fajt alle Nervenkranfe die Enthaltung von alkoholiſchen Getränken nöthig
jei, daß alfo in einer Nervenpeiljtätte die Abftinenz herrſchen müſſe. Die Nerven-
heilftätte bietet, was der genejende oder angehende Alkoholfranke braucht: eine
alfoholfreie Umgebung. a, er findet gerade an dem Nervenfranten eine Stüße,
weil nad alter Erfahrung die meiften von ihnen gern fich des von ihnen als
Ihädlich empfundenen Altoholes enthalten.
Dod die Kolonie ſoll feine Trinkerheilftätte fein. Wirklih Trunkſüchtige
oder dem Alkoholismus ganz Verfallene werden nicht aufgenommen. Die Ktolonie
fann nur Die aufnehmen, die entweder noch nicht oder nicht mehr der Trinter-
heiljtätte bedürfen. Insbeſondere iſt an die Genejenden gedacht; ihnen wird
die Trinferheilftätte zu eng, fie find wieder der Arbeit und freier Bewegung
fähig, — und doch fann man fie nidht in die alte Umgebung zurückkehren Lafien,
wo ihnen von allen Seiten die Verſuchung droht. Ahnen öffnet ji in der
Kolonie ein ungefährliches Gebiet, wo fie, unter Umftänden mit ihren Familien
zufammen, leben und gedeihen fünnen. Ungefähr das Selbe gilt von den an-
gehenden Trinfern, die den guten Willen haben, fich retten zu lafjen, die aber
der Unverjtand der Umgebung immer wieder dem Alfoholteufel zuführt. Viele
Alkoholkranke find, jobald jie abjtinent leben, tüchtige Arbeiter und fünnen da—
durd) der Kolonie werthvoll werden.
Die Gründung der Kolonie durd Zeichnung von Antheilicheinen *) wird
durch gewichtige Erwägungen gerechtfertigt. Auf Hilfe des Staates oder der
Gemeinden ijt bei der Neuheit der Sade nicht zu rechnen. Die reine Wohl-
thätigfeit aber joll nicht angerufen werden, weil es fid) um eine Sache handelt, die
auf eigenen Füßen ſtehen kann. Natürlich kann durd) eine einzige Kolonie das vor—
bandene Bedürfniß nicht befriedigt werden. Gelingt e8 aber einmal, zu beweijen,
daß der Gedanke lebensfähig ijt, jo wird man auch andersivo Muth faſſen und
durch Gründung ähnlicher Kolonien das Gute fördern. Es wird nicht ſchwer
fein, bei verftändiger Leitung nad einigen Jahren das Kapital mit etwa vier
Prozent zu verzinfen. Beim erjten Verſuch find wir freilich auf den guten
Willen der Unterzeichneten injofern angewiejen, als erjtens die Möglichkeit des
Gelingens noch nicht bewiejen ijt und zweitens der zu erwartende Gewinn nur
gering fein kann. Die Zeichner von Antheiljcheinen müſſen ein Opfer bringen,
weil jie nicht fofort BZinjen zu hoffen haben. Es handelt jich aljo, wenn man
jo jagen darf, um beſchränkte Wohlthätigkeit. Am Bejten wäre e3, wenn ein
paar freigiebige Kapitaliften fich entichlöffen, durdy größere Summen einen feften
Grund zu legen. Um Wohlthätigfeit handelt es ſich aud) injofern, als die Gründer
des Vereins nicht um Gewinnes willen thätig find. ihre Uneigennügigkett Fan
den Zeichnern der Antheilicheine dafür bürgen, daß bedenkliche oder gewagte Hand—
lungen nicht zu erwarten jind. Endlich wird die Wohlthätigkeit der außerordent—
liden Mitglieder angerufen, um Freiſtellen für wirflid Arme zu jchaffen.
Dies Unternehmen ift wahrlich eine gute und hoffnungvolle Sadıe. Ich
*) Man wird Ordentliches Mitglied des Vereins durd; Erwerbung wenigſtens
eines Antheilfheines zu 100, Außerordentliches Mitalied durch einen jährlichen
Beitrag von wenigitens 5 Franes.
Ö— 7
450 Die Zukunft.
bitte herzlich Alle, die Intereſſe dafür haben, mir ihre Adreſſe mitzutheilen.
Ich werde dafür forgen, daß fie die nöthigen Schriftftüde erhalten.“
* *
*
Auf der Marienburg wurde am fünften Juni ein Prunffeft gefeiert. Der
Kaiſer hielt zwei Neden, von denen in den Zeitungen gejagt wurde, fie jeien „jehr
eindiudsvoll‘‘ geweien. Die eine jpracdh den verfammelten Brüdern vom Yohanniter-
orden die Anfgabe zu, „das Werk der Erlöfung derMenjchheit, dem Borbilde unjeres
Heilands folgend, weiter zu fördern‘. Die andere brachte nach Ausbliden ins Heilige
Land plößlic) die Säge: „Polniſcher Uebermuth will dem Deutſchthum zu nah treten
und id bin gezwungen, mein Bolt aufzurufen zur Wahrung feiner nationalen
Güter. Und hier in der Marienburg jpreche id) die Erwartung aus, daß alle Brüder
des Ordens Sanft Johann immer zu Dienjten ſtehen werden, wenn ich rufe,
deutjche Art und Sitte zu wahren‘. Daß diejer Fehderuf bei den öfterreichiichen
Polen, den Herren Eisleithaniens, Aergerniß erregt hat, ijt fein Unglüd; das.
Echo, das aus Galizien herüberjchallt, kann den Werth des noch immer als Frie—
densbürgichaft geprieienen Dreibundes erkennen lehren. Nicht ſo leicht find andere
Bedenken zu verſcheuchen. Der Johanniterorden ift international und weder alle in
gremio religionis aufgenommenen Ritter noch die ausländijchen chevaliersdegräce
werden „immer zu Dienjten ftehen‘, wenn ber Kaijer zum Kampf für deutiche Art
und Sitte ruft. Die Briten, Oejterreicher und Ungarn, die als Gäjte der Ballei
Brandenburg auf der Marienburg waren, werden zu ſolchem Dienjt wenig Luſt
jpüren. Und ift der Oſtmarkenkrieg, für den die preußiiche Regirung ſich jet beſſer
rüsten will, wirklich durch) das Bordrängen polnischen Uebermuthes entfejjelt werden ?
Gar jo übermüthig find die Bolen doch nicht, mag ihre Preſſe auch manchmal gegen
die böjen Preußen toben. Es handelt fi um einen wirthichaftlihen Kampf, der
nur durch geräufchloje Arbeit gewonnen werden fann und in deilen Berlauf man
jedes harte Wort, jo lange es irgend geht, zurüdhalten jollte. Will der König von
Preußen die Berantwortlichkeit für den Ausgang diejfes Kampfes, ftatt fie jeinen
Miniftern zu überlaffen, jelbjt auf jid) nehmen, jo kann fein Menſch ihn daran hin«-
dern. DerMinifter Pflicht aber ift, ihren König darüber aufzuflären, daß der Kampf
gegen jlavische Sejchielichkeit auch dann unvermeidlich geworden wäre, wenn die Bolen
nie ein übermüthig Elingendes Wort gegen Preußen gejprochen hätten.
* *
—
In München-Gladbach hatten Bürger ihrem loyalen Gefühl in einer an den
Kaiſer gerichteten Depeſche Ausdruck gegeben. Sie erhielten die Antwort: „Seine
Majeſtät der Kaiſer und König haben die Meldung von der Grundſteinlegung der
dem Andenken Allerhöchſtihres Höchitjeligen Vaters gewidmeten Kaiſer-Friedrich—
Halle huldvollſt entgegenzunehmen geruht und laſſen der dortigen Bürgerjchaft für
den Ausdrucd treuer Ergebenheit bejtens danken. Auf Allergöchiten Befehl: Der
Geheime Kabinetsrath von Lucanus.“ Der Stildiejes Telegrammes wedt manderlei
Zweifel. Dat die Halle den Grundſtein gelegt? Und warum ift der tote Kaijer
Friedrich nicht des lebenden Allerhöchſten Herrn Allerhöchitjeliger Herr Vater? Es ift
allerhöchſte Zeit, dieje Kurialien nach byzantiniichem oder — moderner — dine-
ſiſchem Mujter zu ordnen, Auf daß fie hinfüro perjönlichem Belichen entzogen feien.
Herausgeber und verantwortuich.r Nedatteur: M. Harden in Berlin. — Berlag der Zukunft in Berlin,
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deutiche Publifum erhält fo zum erften Mal eine
fortefte Ausgabe, die des berühmten Scriftitellers
würdig tft und feinen geiftigen wie wirtjchaftlichen
Intereſſen gerecht wird. €s ift eine nationale Auf
merfjamfeit, daß der erfte Band uns die „deutichen-
Perfönlichfeiten“ vorfegt, eine Reibe forafältiger
Charafterjchilderungen von Männern, die in der
Entwidlung Aanferer Politif, Kitteratur und Staats»
verwaltung eine Rolle aejpielt haben, teilweife noch
ipielen.
Derlag von Albert Langen in München: Zt.
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BR 2 + — ne I» de - — x N IH WE — Ne nu Kor “E 5)
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Berlin, den 21. Juni 1902.
Ex. ae —
Vieux Saxe.
IJ guten Häuſern, deren Ecbauer ſchön wohlhabend war und die ein
Hörtlein vererbter Kultur bergen, kommt um die Veſperzeit manch—
mal noch eine alte Sachſenkanne auf den Tiſch. In Parvenupolis ſtellt man
fie als Prunfftüd in den Glasſchrank, wo die ſeltenen Taſſen um die Wette
progen: Japan, Henri Deur, Delft, Sevres, Nymphenburg, Wegdmwood,
Capo di Monte. Da jteht fie, das zerbredhliche Denkmal einer Epoche, an
die den Befiter feine Ahnentafel erinnert. Er, deſſen Vater vielleicht noch
an der Meichbildgrenze der alten Königsſtadt haufte, hat die Sächſin um
ichweres Geld bei irgend einem Bernheimer eingehandelt und hütet jie nun
ängjtlich vor den Fährlichkeiten des Gebrauches. In den alten Häuſern, die
ihre Gejchichte, ihren Familienftolz haben und ihren Wohlitand nicht dem
Spielernüd einer Stunde danken, fteht fie vor würdigen Gäften auf der
Damajtdede des Kaffeetiiches. Die Mutter gab fie der Tochter, der Braut
des Sohnes oder aud) jpät erjt der Enfelin in die junge Wirthichaft mit und
die Köchin hat das Alter ehren gelernt. Kein Sprung, kein abgeftoßener Rand
ärgert das Auge umd jelbjt der jchlanfe Henkel ift unverjehrt. Ein artig ge-
bogener Henfel, den der Wohlerzogene rejpektvoll, mit höflichem Finger,
anfafjen wird. Und der pusige Truthahnichnabel jcheint krähen zu wollen:
Mehr giebts nicht; und Loft gerade damit zu immer reihlicherem Genuß.
Das ganze Ding fieht patriziſch aus, behazlich und allerliebft unzeitgemäß.
Es ijt entweder aus Böttgerporzellan, voth, mit japaniſch jtilijirten Blüm—
34
452 Die Zukunft
lein oder echtes Meißener, weiß, mit bunten Guirlanden, oben und unten
ein Bischen Nothbraun, das ſich in Tupfen bis unter den Schnabel zieht,
dahin, wo er fich zu einem Porzellankröpfchen baucht; und nie fehlt der
Dedel, die Kannenmüte mit dem dien Knopf. Rokoko; aber deutjches, das
dem Blick nicht dieBilder galanter Tändelei und erotiſcher Schäferjpiele her—
aufbejhwört. An Alchemiſtenſpuk mag man denfen, an die Polafenherrlich-
feit Auguſts des Zweiten und an die wüjten Tyrannentage, wo Auroras
ftarfer Freund feinen meißener Herenmeifter auf der Albrechtsburg als
Strafgefangenen zu höherem Ruhm des Polenkönigs erfinden und Kaolin
machen ließ. Augufts legitimer Erbe fand kein weiches Bett ; und Auroravon
Königsmark iftipäter Pröpftin geworden und hat Kantaten fomponirt. Eine
traurige Gejchichte. Die alte Sachſenkanne hats vielleicht ſchon erlebt. Dod)
ihre behäbige Nundgejftalt läßt Wehmuth nicht auffommen. Seit Auguft
Kronrechte und Landfetzen verſchacherte, iſts ja bejjer geworden ; die Sachſen—
rante ijt grün, ringsum jchnurren Näder, rauchen Schlote und über den
Kaffeekonſum kann man nicht Hagen. Providentiae memor: fo heißt der
Spruch auf dem Hausordensband, das zwei Yeun bewachen. Die Borjehung
wirdzurrechten Stunde Alles zum Guten wenden. In die Zeit mußt Du Dich
freilich ſchicken, auch wenn es böſe Zeit ift, und niemals darfjt Du, unter
feinen Umftänden, den Kopf hängen laſſen. Das lehrt die alte Sächſin.
Kein bejonders koſtbares Schauftüd; aber der Kenner jchägt ihren Werth.
Ungefähr jo, als ein chrwürdiges, das ruhloje Auge tröftendes Erb:
ftüd, das an entjchtwundene Tage wechjelnden Glüdes mahnt, jahen die
nad) 43 geborenen Deutjchen den Sachſenkönig Albert. Seit erin Sibyllenort,
dem Tudorjchloß, das der braunſchweiger Wilhelm ihm hinterlieh, ſich aufs
Kranfenbett ſtrecken und die leifefte Bewegung mit heftigem Schmerz büßen
mußte, la8 man, Alldeutichland blicke in banger Sorge auf diejes Yager und
flehe den Himmel an, Alberts Yebenstag zu verlängern. Das ift Neporter:
geſchwätz, das nicht zu fcheiden, zu unterjcheiden weiß und jedes Menſchen—
gefühls innigen Ausdrud zur läppiichen Phrase fäljcht. Zu den ragenden
Männern, an deren Lebensdauer ein VBolfsichiejal hängt, kann kaum ein
Dienjtbotengemüth den wettiner Albert zählen. Die Sachſen felbft haben
nie mit überjchwingender Begeifterung von ihm geſprochen; nur mit ruhiger
Achtung, wievoneinem redlichen Herrn, mit dem ſich leben läßt. Undhinterden
grün-weißen Grenzpfählen wußte man wenig vonihm. Er jolleinguter Sol-
dat gewejen jein und Moltke hat ihn als Kronprinzen den einzigen Feldherrn
des deutichen Heeres genannt. Aber Moltke konnte, wenn ſichs um Fürften
Vieux Saxe. 453
handelte, recht nad) der Diplomatenfunft reden und wir find, ſeit auch der
Kronprinz Friedrich Wilhelm zum reifigen Helden aufgeputt ward, gegen
den Kriegsruhm hoher Herren mißtrauiſch geworden. Gravelotte, Nouart
und der Mont Apron waren längft vergejjen und als Heerführer wurde
Albert nur nod) in raſch verhalfenden Tafelreden gepriejen. Einen tüchtigen
Haushalter hieß man ihn und an den Stammtiſchen jchlugen die Herzen
höher, wenn erzählt wurde, der König fei ein jeßhafter Skatjpieler, der wie
ein Fuchs im erften Semefter vergnügt fein fünne, wenn er einen Grand
mit Vieren gemacht habe. Skat: Das klingt nicht nach achtzehntem Jahr⸗
hundert. Sonft aber jchien Albert uns Jüngeren deutſches Rokoko. Er
pafte nad) Pillnitz, in die nicht allzu üppige Anmuth einer Gegend, die eine
Hede vor allen Modernifirungverfuchen gejchütt haben könnte. Man ſah
ihn überall gern, — vielleicht, weil man ihn jelten jah. Nur, wo es ihn
nöthig dünkte, zeigteer fi; dann aber ftand er feinen Mann. Ein Monarchen:
typus, den wir nicht mehr jchauen werden, entſchwindet mit ihm unjerem
Blick. Neue Formen find in die Mode gelommen. Auch neue feramifche
Künfte, deren Leiſtung mehr ins Auge fällt als die der Vöttgerzeit. Dennoch
behalten die alten Sachjenfannen ihren Werth. Sie find aus gutem, dauer—
baren Material, wollen nicht feiner jcheinen, als jie jind, und brauchen, wo
eine Tradition fie vor rauhen Griffen bewahrt, den Alltag nicht zu Scheuer.
Ganz leicht war e8 1873 nicht, König von Sachſen zu fein. Johann
Philalethes hatte mit feinem Beuſt und feiner Triasidee fo ziemlic) Alles
verdorben, was an Sachſens deuticher Machtſtellung noch zu verderben war.
Die größte Sünde war freilich lange vorher begangen worden: als Friedrich
August, um feine Eitelkeit mit dem Königsreif Sobiestts zu Frönen, der res
formirten Kirche den Nüden kehrte. Nur als Perſon, als ein Einzelner
wollte er fatholifch werden; doc umgab er feinen Sohn mit klugen Bätern
Jeſu, die dafür jorgten, daß aud) der Kurprinz der Papſtkirche gewonnen
wurde. Damit war die albertinifche Linie dem evangelischen Glauben ent:
fremdet, das Kurfürftengejchlecht vom Weg der Reformation gewichen, der es
zum Ruhm geführt hatte, aufdieHöhedynaftischerMacht führen konnte. Wäre
die Entjcheidung Friedrichs des Weifen und Johanns des Beftändigen gead)-
tet, nicht der Yaunceinesgewilfenlojen Yuftfuchers geopfertworden, dann var
Sachſen als lutheriſcher Vormacht in Deutſchland die Bahırgeebniet, während
es unter fatholiichen Herrichern die Stonfurrenz Defterreichs und Bayerns auf
der einen, Preußensaufder anderen Seite zu fürchten hatte. Immerhin war es
nicht nöthig, 1866 fo blind Partei zu ergreifen. Albert, der Kronprinz, hätte
34*
454 Die Zuhmft
vielleicht anders gehandelt; als Einundzmwanzigjähriger ſchon hatte er gejagt,
nur das Zufammenmwirfen aller deutfchen Stämme lönne die Einigung
bringen, die er erſehne. Siebenzehn Jahre danach mußte er feine Sachjen
dem Corps Clam-Gallas zuführen und mit einem gejchlagenen Heer aus
Böhmen heimfehren. Als erden Thron beftieg, war die Einheit erftritten, das
Reich gegründet; aber er herrjchte über ein Land, wo von je Hundert Ein:
wohnern fünfundneunzig dem Lutherthum angehören. Solcher Glaubens»
zwiefpalt, der fich zwischen Volkund Fürft aufthut, iftimmer gefährlich; und
das Mißtrauen der (utherifchen Sadjeniftnievölligerlofchen. Ein als Kron—
prinz geborener Albertiner müßte, jo grolfen fie, nach alter Verheißung den
reformirten Glauben befennen; doch die römischen Herren haben ganz
heimlich und ſchlau dafür geforgt, daß ſeit dem Lebertritt Auguſts des Starken
fein Erbe der Wettinerfrone mehr dem Mutterfchoß als Kronprinz ent-
bunden ward. Nur Albert altmodifch ficherer Takt konnte Konflikte ver»
meiden und es nad) und nad) dahin bringen, daß der fonfeffionelle Gegen
fat faum noch empfunden wurde. An feinem Hof herrichten die Pfaffen
nicht — wenigſtens war ihre Herrichaft nicht fichtbar — und die Afatho=
lifchen fingen erft wieder zu bangen an, als die fchlechten Nachrichten aus
Sibyllenort famen... Es war nicht die einzige Schwierigkeit, die Johanns
Sohn als König zu überwinden hatte. Erwar im Gefühl feften Zuſammen—
hanges mit Defterreich, angeborener Antipathie gegen Preußen erwachien
und follte nun Bundesfürft in einem Deutjchland fein, aus dem Defterreich
verdrängt war. Im Juni 1566 hatte fein Armeebefehl den Defterreichern
versprochen, fie würden ihn in guten wie in böfen Tagen an ihrer Seite
finden; und nun fonnte er, der dem Kaifer Franz Joſeph perſönlich be:
freundet war, in die Yage fommen, fein Kontingent gegen die Truppen
des Habsburg: Yothringers führen zu müſſen. Doch als Kronprinz jchon
hatte er ſich tapfer in die neue Zeit geſchickt. Fürdiezuverläffige Treue, dieihn
ans Reich band, und für die Bejcheidenheit feines Wejens zeugt lautder Brief,
den er zwanzig Tage nach feiner Thronbefteigung an Bismarck fchrieb. Da
lieft man die Säge: „An wen fönnte ich mich wohl beffer wenden als an den
Kanzler des Deutichen Neiches, der fo oft erflärt, er gehöre allen Bundes:
fürften gleichmäßig an? Mit vollem Vertrauen wende ich mich daher an Sie,
wenn ic) der Dilfe gebrauchen Jollte, wenn ich weiſen Rathes bedürfte. Seien
Siedagegenverfichert: aud) ich werde Alles, was Sie zum Heil des Reichs und
deutſchen Volks unternehmen, jo Fräftig unterftügen, al$ e8 meine geringen
Kräfte erlauben, und hoffe, ein werfthätiges Mitglied, eine fefte Stüge des
es “ — ,
Vienx Saxe. 455
Gebäudes zu jein, das mir mit dem Schwert aufrichten zu helfen vergönnt
war. Jedem ich bitte, diefe Zeilen nicht übel zu deuten, die Sie vielleicht in
Ihrem Tuskulum ftören, verbleibeich Ihr ergebener Albert.” Kein Schwulſt,
feine Phrafe ; der, jchlichteAusdrud eines Gefühles der Unzulänglichkeit und
zugleich der Haren Erfenntniß, wo in Nöthen der ftarfe, bereite Helfer zu
juchen wäre. So ſchrieb der Königvon Gottes Gnaden an den „Handlanger
Wilhelms des Großen“, der Sache an den Erponenten der großpreußifchen
Politik, deſſen Siegerjchritt ihm manche feimende Hoffnung zerftampft hatte,
der Katholif an den Ketzer, dem taufend Priefterzungen in Nom fluchten.
Wir find an die Tonart jolchen Fürſtenbriefes gar nicht mehr gewöhnt ; wie
aus weiter Ferne Klingt fie zu uns, wie das letzte Echo einer verſunkenen
Welt, von der nur die Alten noch in den Ausgedingftuben raunen.
Und der König, der ſich jo beicheiden, jo frei von dem Haß bleiben
fonnte, mitdem legitime Herren faft immer das Genie verfolgt haben, diefer
Monarch des Altväterftils hat die modernste Entwicdelungerlebt. Sein Land
wurde der Hauptfig der Großinduſtrie, die dicht bevölferte Stätte des neuen
Mafchinenproletariates, das Manöverfeldder Sozialdemofratie. Das Alles
war ihm ganz fremd und er hat ſich oft darüber gewundert, daß Städte, wo
die Bürger ihn ſo ehrerbietig grüßten, rothe Revolutionäre in den Reichstag
ſchickten. Aber er hielt ſich ſtill. Nicht etwa, weil erein feiner politifcher Kopf
war und jic) jagte, da esnuneinmal ſtets eine radikaljte Partei geben müjje,
fei die noch am Yeichteften zu ertragen, die an die Allmacht einer Evolution
glaube, jede Gewalt verſchmähe und ihres Sieges fo ficher fer, daß fie nicht
daran denke, ihn zu erftreiten. So hoch hinauf flogen jeine Gedanken nicht.
Nein: er hielt ſich Still, weil Ruhe ihn erfte Königspflicht dünfte. Ein Wort
fonnte erfchnappt, ein Seufzer weitergetragen werden. Deffentlic hat man
ihn nie Hagen, nie drohen gehört. Er verftand die nene Zeit nicht, Fonnte fie
nicht veritehen; doch er Schwieg und wandte das Auge von dem Speftafel,
wenn es ihn allzu tief fränkte. Im Grumd ihres Herzens, mechte er denken,
ſind auch dieRothen recht brave Yeute und gute Sadhjjen ; und ich muß trach—
ten, mir und meinem Haus fie nicht ganz zu entfremden. Sächſiſche Negir-
ungen haben, feit die Geſchwindigkeit der proletarischen Bewegung wuchs
und die Fabriffendalherren in Schreden jagte, oft recht unklug gehandelt;
der König aber hat jich feiner von ihnen engagirt. Er wurde, als Katholik,
von den Lutheriſchen geliebt; er ftand treu zum Neid) und die Bartikulariften
ſahen ihm nicht fcheel an; er ernannte Miniſter, deren ſoziales Verſtändniß
aus der Eiszeit zu ſtammen jchien, und die Schaar der Bedrüdten ſprach mit
456 Die Zukunft.
Achtung, mit zärtlicher manchmal, von ihm und jelbft in Stunden leiden
Ihaftlicher Erregung las man kaum irgendwo einWort, das den König ver:
leten konnte. Dem Knaben war wohl von den dresdener und leipziger Tu-
multen erzählt worden, die denverhakten Grafen Einfiedel geftürzt und dem
Prinzen Marimiltanden Weg zum Thron gejperrt hatten, und der Jüngling
hatte den leipziger Paradeputjch, die Folge prinzlicher Politik, und die bis
hart ans Schloß reichende Wirkung der FFebruarrevolution erlebt. Solche
Anjchauunglehre schlug er nicht in den Wind. Für die Fürſten, fühlte er,
ift8 am Beften, wenn fie hinter dem goldenen Gitter bleiben, das fie von der
Raſerei Hungernder, von den Kämpfen um Macht und Beute trennt, wenn ſie
der Möglichkeit, Unheil zu ftiften, fich entziehen und nur ihr Necht wahren,
Gutes zu thun. Er lieh die Negirung regiren, das Bolt am Wahltag die
Nichtung feiner Wünjche andeuten und freute ſich jeder Gelegenheit, ein Un—
recht tilgen, einem Bittjteller Gnade gewähren zu können. Jagd und Karten
fürzten ihm die Mußezeit; Speife und Tranf mundeten noch, als ihn längft
das jchmerzhafte Blajenleiden heimgefucht hatte, das aud) den alten Wilhelm
plagte; und er vertrug die jchwerften Birginiacigarren. Die Wirthichaft-
interejien feiner Sadjjen lagen ihm am Herzen und er hat, in Gemeinschaft
mit Franz Joſeph, den Saifer für den Gedanken der Handelsverträge ge-
wonnen, die der ſächſiſchen Tertilinduftrie Vortheile brachten. Nie aber
empfand er das Bedürfniß, zu reden, über politiiche Vorgänge feine Meinung
zu jagen. Er jchwieg. Er konnte fchweigen; denn er war der König.
Noch eine Schwere Probe yatte der Greis zu beftchen. Bismard, zu
dem er in unbeirrter Zuverficht aufgeblickt hatte, wurde entlaſſen; und der
perlönliche Wille des Kaiſers trat mit jo jtarfen Jmpuljen hervor, daß man
draußen vom Empereur d’Allemagne zu jprechen begann und kaum noch
der Bundesfürften gedachte, deren erftem mit dem Bundesprälidium der
Titel des Deutichen Kaifers, aber nicht das Necht eines Reichsmonarchen
zuerkannt worden war. Vom Kaiſer, nur vom Kaifer war Tag vor Tag jegt
die Rede. Die Geburt des Reiches war 187 I nur durch den Kaiferfchnitt mög-
lid) geworden, der dem Sorgenkind ans belebende Licht half. Die beiden
Männer aber, denen damals dieSectio Caesarea gelungen war, hatten noch
Preußens Schwarze Tage gefehen; fie fannten die Gegenfäge der deutjchen
Stämme, die in den Yandsmannichaften der Hochichulen fortlebten, und
wurten, welches Opfer dem Selbjtgefühlder fonverainen Fürjtenzugemuthet
wurde, die wichtige Theile ihrer ererbten Nechte dem Sohn eines aus unjchein-
baren Anfängen emporgelommenen Junkergeſchlechtes ausliefern follten.
Vienx Saxe. 457
Wilhelm und Bismardwaren und blieben einig indem Bemühen, den Kaijer-
gedanfen für bejonders ernfte oder beionders feitliche Stunden aufzu—
jparen. In diefe Vorftellung hatten die Bundesfürften fid) gewöhnt —
Andere werden jagen: die freiwillige Zurückhaltung des alten Kaifers hatte
jie verwöhnt — und ein unbehagliches Gefühl mußte ſich einftellen, als es
anders wurde und fie von dem plöglich, bald da, bald dort, aufblinfenden
Leuchtfeuer der Kaijergloriole ihr weniger glanzvolles Mühen verdunfelt
jahen. Niemand fprad) nod) von ihnen, Niemand traute ihnen auf das Ge-
ſchick des Reiches, dem fie doch gemeinjam die Einheit ſchufen, entfcheidenden
oder auch nur mitbeſtimmenden Einfluß zu; ſie ſchienen nur noch vorhanden
zu ſein, um an Feiertagen ſich um den Thron des Einen zu ſchaaren, der
mit ſeinen Worten und Willensregungen die Welt erfüllte und in einem
Lande, deſſen Fürſtengeſchlechter faſt alle einmal mit einander in Fehde ge—
legen hatten, ſeinem Hohenzollernhaus mit raſcher Hand die Schätze geſchicht-
lichen Ruhmes häufte. Eine ſchwere Probe, die ſogar den alten Großherzog
vonBaden aus bequemer Ruhegeſcheucht und zum eifernden Redner gewandelt
hat. König Albert hat ſie beſtanden. Manches gefiel ihm nicht, die Treuſten
ſahen ihn den weißen Kopf ſchütteln und an leiſen Friltionen hat es ſeit 1890
niemals gefehlt, — nicht nur in der Zeit des lippiſchen Erbfolgeſtreites, den
der Sachſe gegen den Wunſch Wilhelms des Zweiten entſchied. Stets aber
blieb er forreft. Er freute ſich, 1892 zu ſehen, wie feſt gerade die Sachſen
an Bismard hingen; doch er jelbft hielt fich zurüd. Er wollte weder die
neue Mode mitmachen noch mit perfönlichem Widerſpruch die Kritik her:
ausfordern: der unangreifbare König für Alle wollte er fein und vor des
Neides langenden Blicken „die Sache halten”, jo lange e8 irgend ging. Ob
man ihn für einflußreic) oder ohnmächtig, für einen Nenner oder eine Null
im Deich) hielt, galt ihm gleich; nur um die Erhaltung der ftarfen Kraft—
wurzeln im heimischen Boden wars ihm zu thun. Da konnte er ftill wirken,
fonnte er, ohne die Zukunft der Dynaftie zu gefährden, in weijer Selbjt:
beihränfung Nüsliches Schaffen. Nie vernahm man von feinen Neigungen,
jeinen Liebhabereien. Providentiae memor! Aud) die Hand, die aus dem
Purpur hervorwintt,hältdieunhemmbarnothwendigeEntwidelung nicht auf.
Nicht einmal auf der ſchmalen Höhe, wo die deutjche Muſe mühſam ihr Xeben
friftet. Alberts Refidenzftadt wurde der germanische Borort modernſterKunſt;
dort lernten wir Meunier und Rodin, Ban de Belde und Zuloaga kennen. Und
der König jchalt nicht, Lie lächelnd Alles geſchehen. Warum nicht? Diegute alte
Sachſenkunſt, deren Brodufte jo patrizijch ausjehen, jo behaglich und aller-
liebt unzeitgemäß, behielt auch neben dem Allerneujten nod) ihren Werth.
v
458 Die Zukunft.
Eine Renaiflance?
Sy" van de Belde hat ein intereffantes Buch über die Renaiffance im
9) Kunftgewerbe . geichrieben; er verteidigt darin mit oft bewunderns—
werther Sicherheit fi und feinen Stil und giebt eine Schilderung der in-
dujtriellen Künfte feit Morris. Ich weiß nicht recht, was den Weiz giebt,
gegen diefes Buch zu jchreiben, fogar aus dem eigenen Lager heraus. Ob
es die fühle Selbitverftändlichfeit ift, mit der diefe Heine Gefchichte Lediglich
sub specie van de Beldes aufgefaht wird, die Dialeftif, mit der er gegen
die Angriffe auf feine Kunſt antwortet, oder die jehr perfönliche Form des
Ganzen. Ich glaube nicht, daß das Bud) für van de Beld: Profelyten machen
wird. Dumme Leute werden es nicht verftehen, Fuge werden ſich darüber
ärgern. GSelbitverjtändlichkeiten und Thorheiten werden darin mit folder
Gelaſſenheit, ja, mit fo viel Pathos behandelt, daR ſich die Oppofition felbit
dann regen würde, wenn der Hauptinhalt des Buches Einem willkommen
wäre. Das Pathos ift das Peinlichite daran. |
Um mas handelt es ſich eigentlih? Der naive Lejer wird, wenn er
das Buch Hinter ſich hat, daS mehr oder weniger unklare Gefühl haben, von
einer Erfcheinung in Kenntniß geſetzt zu fein, die vollkommen unbegreiflicher
Weiſe ihm bisher entgangen war; eine Eulturelle Thatfache von ungeheurer
Wichtigkeit, eine Formel der Modernität, die geeignet ift, die Welt umzu—
ftürzen. In Wirklichkeit handelt es jich, wie der Titel lautet — und man
muß dem Ausländer das ominöfe Wort nachſehen —, um Kunſtgewerbe.
Das ift zu wenig für daS große Pathos.
Kunftgewerbe ift heute jehr beliebt; und die Leute, die es betreiben,
jtehen in dem Anſehen, mit dem man fort nur mit Pathos zu behandelnde hohe
Kunft bedachte. Im Grunde ift e8 ein um nichts mehr oder weniger legitimes
Mittel, Geld zu verdienen, als irgend Etwas. Man macht hübſche Saden,
um fie zu verfaufen; daß man jie gediegen, beſſer als Andere macht, erleichtert
ihre Verkäuflichkeit. Das iſt der einzige moralifche und vernünftige Stand
punkt; nur wenn man Dinge maht, die dem Syſtem von Angebot und
Nachfrage entiprehen fünnen, kann man nügen. Wozu alfo dad Pathos?
Was würde man von dem betriebjamen Schufter jagen, der mit ſolchem
Pathos feine gewerblichen Anſichten affihirte? Auch fo was giebt ed. In
London auf der Bondjtreet hat mih mal ein Schufter drei Stunden lang
gefeffelt mit einem Vortrag über feine einzig naturgerechten Stiefel, die er
im Gegenfage zu feinen Kollegen vorn breit und Hinten chief machte; und
da8 Pathos, mit dem der junge Worth oder Madame Paquin in Paris
über ihre Koſtüme veden, ift nicht weniger feierlich al3 das van de Veldes ...
Nur laffen diefe Leute nicht al ihre Meinungen druden; und wenn fie e3
u ae a ——
Eine Renaiſſance? 459
thun, erreichen ſie nicht dieſe literariſch ganz pojfirliche Aufinerffamfeit. Yan
de Belde glaubt aber, Kultur zu machen und daher zu mehr berechtigt zu
fein als ein Schuiter oder Schneider gleicher Bildung; und darin irrt er.
Wie ein einfchneidendes hiſtoriſches Ereigniß wird das Auftreten der
Belgier in den neunziger Jahren geichildert und mit der Bedeutung der
englifchen Bervegung verglichen. Auch diefe it recht überfchägt worden, aber
fie bedeutet denn doch etwas mehr als die brüffeler Heldenthat. Man färgt
wohl überhaupt nachgerade an, über das künſtleriſche Heldenthum fkeptijcher
zu denfen, zumal wenn ſich damit der Begriff des Märtyrertfumes verbindet;
in den meiften Fällen it das Märtyrerthum des Künſtlers vielmehr eine
Folge der Vernahläfigung gewilfer unentbehrliher Qualitäten rein fozialer
Art als Fünftleriicher Fragen; Künstler, die, ganz abgejehen von ihren
Talent, in den Kampf ums Dafein das Bischen Rebensweisheit mitbringen,
das jeder Schufter oder Schneider eben jo braucht, gehen jelten zu Grunde.
Gerade in dem weniger heldenhaften Auftreten der englischen Künftler der
vorangehenden Bewegung Liegt ihr Uebergewicht. Es war normaler. Es
folgerte aus dem englifchen Empire mit der Sicherheit, mit der in Frankreich
ein Louisſtil aus dem anderen hervorwuchs, und hatte jene latente Popularität,
die nur der Jahre bedarf, um zur wirklichen zu werden.
Co groß in Brüffel das Verdienit des Einzelnen war, jo groß die
Kühnheit, deren es bedurfte, um fo geringer war die kulturelle Bedeutung
diefes Verfuches, weil es ihm an diefer fatenten Popularität fehlte. Ich hoffe,
erflären zu fönnen, wie ich es meine. .
Man kann ſich mit einiger Phantaſie einen Menschen vorftellen, dem
es durch ein äußerſt verjönliches, ganz an feine Exiſtenz gebundenes Mittel
gelingt, die Menfchheit im einer nie gefehenen Weife zu beglüden. Man
denfe an einen Wunderthäter, wie ihn die Neligionfagen hervorgebracht haben,
mit Abitraftion der jittlichen Wirkung, an einen großen Hypnotifeur, der
ich im den Kopf gelegt hat, fein Talent nur zum Guten zu benugen. Mag
ein ſolcher Menfch noc jo viel thun: er bleibt ein Phänomen und feine
Wirfung verfhwindet, praftifch geiprocdhen, wie eine Seifenblafe im Meer
der Allgemeinheit, während der gar nicht phänomenale Dichter, Denfer oder
Künitler, der nichts Anderes thut, als feiner Zeit eine jener latenten Quali—
täten zu offenbaren, die unmittelbar aus ihr folgen und ummittelbar auf fe
weiterwirfen, der Arzt, der innerhalb der Mikrobentheorte etwas enticheidend
Neues entdeckt, der Induſtrielle, der innerhalb unferer industriellen Mittel
ein neues Gebiet aufichlieit, Fulturell unendlich mehr bedeuten. Es kommit
nicht lediglich auf das Geben an; man muß mit der Gabe Etwas anfangen
fönnen; der Befchentte muß das latente Bedürfniß haben, das durch die
Gabe befriedigt wird. In unſerem Falle find es nicht zu überſehende, ſehr
39
— —
460 Die Zukunft.
fomplere Verhältniffe, die diefen latenten Zuftand bedingen. Die meiſten
PBatrioten laſſen ihn von lediglich nationalen Fragen abhängen; ſolche Fragen
fpielen Sicher überall, wo es jih um Stil handelt, mit, aber fie find hier,
in unferem heutigen Yeben, bei der Gemeinfamfeit der Mittel und der Be—
dürfniſſe nicht mehr enticheidend. Es wäre thöricht, van de Velde aus feiner
hiſtoriſchen Zufammenhangloiigleit — er verfucht vergeblid, sie in feinem
Buche durch feine Beziehung zum Rokoko zu überbrüden — einen Vorwurf
zu machen. Man wird die größte Mühe haben, den Jufammenhang des
Bunfen-Brenner3 oder eines Motorwagens von Dion Bouton mit der Ver:
gangenheit nachzuweiſen; und trogdem find es recht nügliche Gaben. Ein
ernithafter Vorwurf kann nur im der Frage des reinen Nutzens liegen.
Ban de Belde hat ſich im feinem Buch zu viel, namentlich aber zu
wenig gethan. Seine Rolle in der belgischen Bewegung iſt eine ganz andere
als die Williams Morris in der engliichen, mit der ein Vergleich nahe Liegt.
Morris ſchloß vorhandene Elemente mehr oder weniger geſchickt zuſammen;
van de Velde jchuf neue Elemente. Er nur allein hat wejentlich neue Ge:
danfen in die Sache hineingebracht. Die Namen der von ihm mit jchägens:
werther Pietät citirten Künftler bedeuten Dem gegenüber gar nichts, Es
wäre nicht fchwer, nachzuweiſen, daß van de Velde eine der größten künſt—
leriſchen Energien dieſes Jahrhunderts it. ES hat felten einen Menichen
gegeben, der jo konjequent jeine Art durchzudrüden verjtanden hat; man findet
dieien Fanatismus des Jndividualitätbewußtfeins ſonſt nur in der Kriegs—
geichichte. Der Schatten, den er in einem darüber zu jchreibenden Buche
werfen würde, iſt gigantifcher, als es jich ſelbſt die treufte Verehrerin des
Künitlers heute träumen läßt. Nur dürfte man ein foldes Bud nicht
aukerhalb einer rein biographiſchen Bedeutung jtelen. Man kann von ihm
in eben fo hohen Tönen reden wie von Millet oder Manet, aber man darf
fich nie einfallen lafjen, zu glauben, dar er für jeinen Kreis eben jo viel
bedeutet wie jene Künstler für ihren. Millet rettete eine große zeichnerifche,
Manet eine grandioje malerifche Tradition. Wohl ift der Wirkungskreis
diefer Leute Klein; er ift das winzige Spezialintereffe eines Spezialfaches, das
leider mit dem Heute unendlich wenig zu thun hat. Ban de Veldes Kreis
iſt viel größer; er liegt — oder foll liegen — zwiſchen den Polen der Noth—
wendigfeit unjeres Daſeins; aber die Holle, die er ſelbſt darin bis heute
geipielt hat, iſt gering, nicht nur praftiich und für den Augenblid — Das wäre
gleichgiltig —, Tondern auch im jeder theoretischen Zukunft; fie ift juft die,
von der er himvegdrängte, die Wolle, die etwa ein genialer Maler im heu-
tigen Leben ſpielt. Und der Fall liegt jo unglüdlich, dar man dem heutigen
van de Velde im Intereſſe der Allgemeinheit wünfchen muß, feinen anderen
Einfluß zu gewinnen. Den Grund findet man in allen Aeußerungen diejes
u -
— — —
in
J Ar —
Eine Renaiſſance? 461
thatſächlich vorhandenen Einfluſſes, von dem zu reden ſich nicht lohnt, und
in der Unzulänglichkeit der Mittel des Künſtlers, ſobald man ſich einmal
ihn ſelbſt wegdenkt. Er iſt eine höchſt intereſſante äſthetiſche Studie; zur
kulturellen Bedeutung aber für die Allgemeinheit gehört gerade das Gegen—
theil Deſſen, auf das van de Velde ſtolz iſt. Kulturell bedeutet vielleicht
der Einfall des jungen bremer Dichters, dem es in den Sinn kam, ſich in
Münden, ohne Nimbus, aber mit jehr viel Geſchmack eine Wohnung ein-
zurichten, die in idealer Form dem Bedürfnig entjpricht, ohne im Mindejten
originell zu fein, mehr als die verblüffende Originalität des belgiichen
Meiſters; und das Verdienft unferes Peter Behrens, dem es allein gelungen
ift, die großherzogliche Austellung von modernen Häufern in Darmſtadt vor
der Yächerlichkeit zu retten, it größer als der Werth der ungleich tieferen
Erfindung van de Veldes. Der viel umftrittene Sag von den Gefahren
des Genies auf den Thronen der Völker jcheint in diefem kleineren Reich
eine bejtimmtere Beitätigung zu erhalten. Wenn man dies Gebiet nicht mit
der Lupe des Fachpatriotismus betrachtet, fcheint hier das ſtarke Genie nur
in geringen Dofen genießbar. Die Emanzipation vom Genie, eine unjerer
größten Kulturaufgaben, viel wichtiger al3 die Emanzipation von dem Geld
und anderen mit Schlagwörtern unſeres Sozialismus bezeichneten Mächten,
it hier die Grundlage jeder vernünftigen Entwidelung.
Der ganze Sozialismus van de Beldes, auf den er zumeilen anfpielt,
icheint Spielerei; er iſt ſicher der ftärkfte der vielen Widerfprücje in diefem
Menſchen; und es ift faſt unbegreiflih, daß sich feine ſcharfe Logik diejer
Thatfache nicht bewurt wird. Kein monarchiicher Abjolutift ift im Inſtinkt
jo antifozial wie der Sozialift van de Velde. Es giebt nichts, was jo
treffend die Symptome ariltofratifcher Einzelerfcheinung trägt wie diefe Kunſt.
Nicht genug damit, daR ſchon umjere ganze gute, moderne Malerei und
Skulptur reiner Kaviar ift: jet wird auch, wenn es nad) van de Velde
ginge, das Gewerbe zum Amateurſport. Nur für Amateure ift Alles, was
er macht, beftimmt, wegen des verwendeten Mittel8 nicht minder al® wegen
der ganzen, äußerſt fpezialiiirten Eigenart. Denn man wird mir, um van
de Veldes Kommunismus zu bemweifen, hoffentlich nicht den berühmten Ein:
fluß entgegenhalten, den van de Belde in Deutjchlaud, Defterreih und in
vielen anderen, ja, den meilten Ländern übt. Wenn e8 irgend etwas noch
Niedrigeres giebt al8 das Niveau, auf dem wir vor van de Velde waren,
fo iſt es das der üblen Kohorte von Fabrifanten, die & la van de Velde
arbeiten und umfere Häufer innen und außen mit den felben Efel erregenden
MWurmlinien überziehen. Unbegreiflich, daß ſich der Meifter, der dieje üblen
Geiſter rief, dagegen nicht wehrt, daß er diefe Banaufen nicht brandmarft,
die zu beweifen verfuchen, dar feine ganze Sache nur Manier it, die aus
35*
462 Die Zutunft.
ſeinen perſönlichen Zeichen die billige Baſis einer Mode zu machen verſuchen;
daß er nicht konſequent genug iſt, zu ſagen: Ich bin allein und muß allein
bleiben. Bei feiner Charafteranlage wäre diefer Wunſch gewiß aufrichtig.
Das iſt die faulite Seite de8 Buches van de Veldes, gegen die jich bei mir
die heftigite Oppofition regt. Mit großer Gefte weift er auf den unfäglichen
Einfluß feiner Ornamentik hin; und da er ihm nicht hindern kann, jagt er
ftrahlend: Dies iſt mein Werk!
Ich hätte Michelangelo jehen mögen, der im einer größeren Sade in
ähnlicher Lage war, wenn man ihn auf den großen Einfluß aufmerfjam ges
macht hätte, der von ihm ausging; etwa auf die heiteren Engeldhen über
den Thüren, die fich bis heute erhalten haben und jegt von den belgifchen
Linien verdrängt werden. ch glaube, er hätte, bei feinem Qemperament,
den umberufenen Kritiker die Treppe hinunterbefördert. Und diefer italienijche
Unfug war denn doch noch etwas Anderes als die brüſſeler Renaiffance.
Ban de Belde konnte jchweigen; oder — Das war fchwieriger —:
abihmwören! Gerade das Gegentheil thun! Nicht beweifen, wie er e8 in un—
begreiflicher Ausführlichkeit verjucht, daß die belgiiche Linie beſſer ift als die
der Blumen oder Gemüſe, fondern zeigen, daß diefe ganze berühmte belgiiche
Linie an ſich fo gleichgiltig it wie der fühne Schwung eines wohlgepflegten
Fingernageld. Ich müßte fürchten, mich auf die allerbanalften Gemeinplätze
zu verirren, wollte ich nachweiſen, daß ein Ornament an fich überhaupt nicht
eriitirt, eben jo wenig wie e8 eine Liebe an ſich giebt; immer gehört ein
Dbjeft dazu. Die Frage, wie dies Objekt fchön herzuftellen ſei, iſt nicht
von der Detailfrage des Ornamentes abhängig; es giebt fehr viele jchöne
Dinge, die gar fein Ornament tragen, und bei folchen, die damit verjehen
find, fommt nicht in Frage, ob das Ornament an eine Blume oder an nıeine
Großmutter erinnert oder überhaupt abftraft (?) ift. Ban de Velde wirft allen
Gewerben, die vor ihm da waren, vor, daß fie die Unwahrheit und Unlogik
in die Gemüther fäten, weil fie uns zwangen, auf Teppichen zu gehen, die
Blumenbeeten glichen, und unfere Wände in Perfpeftiven verwandelten. Das
ift billige Weisheit. Ein Teppich, der feine andere Qualität hat als die,
einem Blumenteppich zu gleichen, oder eine Wanddeforation, die lediglich den
Zweck hat, unſer Auge zu täufchen, kommt hier überhaupt nicht in Frage.
Es iſt denn doch arg naiv, in dem Gewerbe der Vergangenheit nur folche
naturaliſtiſchen Mätzchen zu jehen. Was uns an den guten uns überlieferten
Sachen freut, iſt juft der Stil und das prachtvolle Metier. Die bringen
in den Genuß Elemente mit, die das Sujet diefer Dinge ganz in den Hinter:
grund drängen. Ach muß fagen, dar mir ein guter Gobelin von Watteau
immer noch lieber iſt als ein Schlechtes perſiſches Mufter der felben Zeit.
Es wäre bedauerlich, wenn die endlich errungene Freiheit von alten
Eine Renaijiance? 4653
BVorurtheilen nur dazu dienen follte, uns in neue umd nur noch engere
Theorien zu ftürzen. Wenn e8 aber etwas Umantaftbares auf diefem Gebiet
giebt, jo iſt es das Geſetz der Logik und Konftruftion. Hier, in der fcharfen und
zeitgemähen Erfafjung diejes Geſetzes, iegt die Kultur; nicht in den Schlangen=
(inien. Gerade von diefen Gefegen aber hat jich van de Velde jo weit wie
möglich entfernt. Es giebt nichts Unkonftruftiveres als feine Möbel, die
am Deutlichiten feine Eigenart zeigen. Man jindet eine Unmenge Details
bei ihn, die aller vernünftigen Verwendung von Materialien widerfprechen.
Aber meine Kritik ift Feine Klippſchule. Diefer fcharf umriffenen
Perfönlichkeit, deren fünftlerischer Wille fich elementar aufdrängt, war erlaubt,
wa3 bei Eleineren Verbrechen wäre; und unfer fchöner Perjönlichkeitfultus
jorgte dafür, daß man ihr auch da folgte, wo tie hart an Unmöglicfeiten
grenzte. Sie gab uns dafür, jtatt logischer Befriedigung, ſtarke Impulſe
und [ehrte und auf einem neuen Felde das Wirken der Perfönlichkeit ſchätzen.
Die Anerfennung dafür it nicht ausgeblicben; es wird jelten einen Künftler
gegeben haben, der im fremden Land jo fchnell zur Berühmtheit gelangt ift.
Aber gerade deshalb erwächſt Denen, die an diefer Anerfennung betheiligt
waren, das Recht zur Oppofition da, wo die Wirkung des Erfolges den
Künftler auf Abwege treibt. Groß wäre, wenn van de Velde heute, wo er
ſichs leiſten kann, auf die Fehler feiner Vorzüge verzichtete; denn gerade in
diefen Fehlern hat die banale Welt am Meiſten feine Größe gejehen; wenn
er aufhörte, im Sinne diefer Welt originell zu fein, um im höchſten Sinne
werthvoll zu werden. Das wäre eine befjere Antwort al3 der fünmerliche
Verſuch, ich zum Haupt feiner traurigen Epigonen zu maden. Uebrigens
geht er in der Auffaſſung diefes Epigonenthumes etwas zu weit. Die dresdener
Ausstellung, in der zum erjten Male in Deutichland Werke van de Beldes
zu jehen waren, gab nicht, wie er behauptet, den Anfang zur deutjchen Be—
wegung. Ich zum Beispiel hatte ſchon vorher manche Zeile über deutiche
Gewerbefünftler geichrieben, folglich mußte es ſolche Künstler geben. In
Münden und an anderen Orten regten ſich ſchon manche verfprechende Ver—
ſuche, die nicht3 von van de Velde wußten, und thatfächlich iſt auch heute
der ernfthafte Theil der deutjchen Künftlerichaft von ihm unberührt. Beein—
flußt wurden nur die Leute, die nichts Beſſeres zu thun hatten, die Maife,
die immer einen Beeinfluffer braucht. Auf die Beſſeren war fein Wirken
mehr moralifcher Art; er gab ihnen Muth, e8 in ihrer Art chen jo zu machen.
Auch rein praftifch wird Manches in die mehr oder weniger dauernde Formen—
welt der Gegenwart übergehen. Der rüdblidenden Gefchichte werden dieſe
Details, die der heutigen Fachjchriftftellerei als unendlich wichtig erfcheinen
mögen, als nebenjählih verihwinden. Sie wird unfere Verfehrömittel,
unjere Maſchinen, unfer Handelsgetriebe regiftriren und die künſtleriſchen
’ — Wr —ñ ⸗
464 Die Zukunft.
BVerjuche zur Hebung des Gewerbes als Künſteleien betrachten. Sie wird
erſtaunt fein, dar eine fo fonfequent vorgehende Zeit im häuslichen Gewerbe
nicht eben jo bewußt Fortichritt und des fünitlerifchen Nimbus bedurfte, um
etwas höchſt Selbftverftändliches zu thun. Man wird fi wundern, wie
man über jo einfahe Dinge fo viele Worte machen fonnte, während ich
unfere induftriellen und wiſſenſchaftlichen Erfolge fo klanglos vollzogen, und
man wird fchlienlih im diefer ganzen Aeithetif der vielen Worte nur das
ataviſtiſche Zeichen einer Kafte jehen, die fo thöricht war, von dem Maler,
Bildhauer, Dichter eine Kultur zu erwarten, die auf natürlicherem Wege
längſt entitanden war. |
Paris. Julius Meier-Graefe
nn
Elfte Rangklaſſe.
Sg)" junge Fritz Murmann jah endlid jein langjähriaes Zehnen erfüllt:
er war einem nen gebildeten Departement als feit angejtellter Beamter
zugetheilt worden, mit einem Gehalt von... na, an die Höhe des Gehaltes
wollte er vorläufig lieber noch nicht denken; erſt die Freude der feiten Anjtellung
ausfojten. Es iſt doch ein erhebendes Gefühl, mit ruhiger Zuverſicht in die
Zukunft jehen zu Können, des Worrüdens und der PBenfionberechtigung jicher,
wenn diejer Ausblid jelbjt nur von der Niederung einer elften Rangklaſſe ge:
nofjen wird. Zumal, wenn ınan eine Frau hat. Bei diefen Derrlichkeiten fonnte
er es ſchon in den Kauf nehmen, von den neuen Kollegen wicht jehr freundlich
angejehen zu werden. j
Das thaten fie dern auch gründlid. Ginen „Neuen“, den Niemand kennt,
von weil Gott wo hereinbefommen, ift eben eine böje Sache. Kann man willen,
welcher Protektor hinter ihm fteht?
Fritz Murmann drüdte ſich in die Ede und juchte durch das allerzuvor—
fommendite Weſen die Herren mit feinem Dajein zu verjöhnen. Ihm war
diejes jtreng geregelte Beamtenleben — in jeinem inmerjten Innern magte cr,
es „Kaſtengeiſt“ zu nennen — ganz fremd umd er fühlte jich recht unbehaglich.
Ein Glüd war für ihn, dal; er einen früheren guten Bekannten im Departement
fand, der ihm mit großer ‚sreundlichteit empfing. Sie waren zwar nicht in
einem Zimmer zulammen, da der Freund ſchon ein höheres Arbeitgebiet hatte,
aber es kam doch zuweilen zu einem wohlthuenden Meinungaustauich zwiſchen
ihnen. Auch hatte Fritz Murmann dem Anderen jchon eine Gefälligkeit erweijen
fönnen. Vor dem Schreibtiicd des Anderen ftand ein Sefjel, der an entſprechender
Höhe mehr zu wünjcen übria ließ als an jtilgerechter Unbequemlichkeit, ein
wahres Marterinſtrument fir eine ſtarke Figur unter Mittelgröße, wie jie der
®
Elite Ranaftaiie. i 465
Unglückliche zufällig hatte. Fritz Murmann war groß und, als gqavandter Turner
und Schüchterner Neuling im Amte, minder empfindlich. Gr erbot id), zu tauichen,
und überließ dem Freunde jeinen höheren Seilel.
Eine Weile hatte es Fritz Murmann gefchtenen, als wäre das Benehmen
jeiner Kollegen minder jchroff geworden; doch merkte er bald, daß er jich ge—
täujcht hatte. Geradezu Eiſesluft umwehte ibn. Ueberall begegnete er miß:
trauiſchen Blicken, mehr denn je jah er ſich gemieden. Anzügliche Bemerkungen
wurden hörbar über „Veute, die ſich was Beſſeres dünfen und lieber draußen
bleiben jollten.” Sprachen Zwei und er trat dazu, jo wurde das Geſpräch raſch
abgebrodyen. Am Freundlichſten war noch der Tiener, aber auch nur, wenn ev
ihn allein jah; dann nahte er ihm jogar mit unterthäniger Höflichkeit. Sobald
aber Andere in der Nähe waren, nrachte er einen weiten Bogen um Fritz Murmann
berum und hörte nicht, werin Der ibm Etwas zu jagen hatte.
Der Arme junge Mann war verzweifelt. Womit hatte er dieſe Daltung
verdient? Gr fonnte fich mit gutem Gewiſſen jagen, daß er fleißin, gefällia,
pünktlich und gewilfenhaft war wie Wenige. eine Frau jah ibren Gatten mit
banger Sorge immer verſtimmter und dillterer werden. Das erfte Gehalt empfing
fie mit Thränen, die ihr nicht nur deſſen Stleinheit erpreite. Die mit Freude
begrüßte Stellung war eine U. nelle des Kummers geworden. Yeider war auch
Fritzens einziger Freund, weil er erfranft war, auf Urlaub gegangen. So hatte
der Arme feinen Menſchen mehr, der ihm rathen, ihn aufrichten konnte. Das Ziſcheln
und die mißbilligenden Blicke der Anderen wurden immer unerträglicher.
Eines Tages hörte er den Chef mit Tonneritimme nad Baſtian, dem
Diener, rufen. „Aha, jcehlagendes Wetter heute”, murmelten die Herren.
Bildete ſich Fritz Murmann nur ein, dal fie wieder Alle mach ihm
jaben? Gr jah der Thür am Nächten, jo hörte er auch, wie der Chef den
Tiener anichnaugte:
„Nufen Zie mir den Lümmel vom Tepartement VI.“
Er konnte ji, trog Wochen langer burcaufratiicher Zucht, eines inmerlichen
Yachens nicht erwehren. Alſo beſaß der gute Baſtian ſolche Verſonalkenntniß,
daß er genau willen mußte, wer dev „Lümmel vom Departement VI“ ſei. Welche
Empfindungen hatte er aber, als Bajtian, ohne zu zögern, aeraden Weges auf
ihn zugimg und ihn zum „Geſtrengen“ befahl.
„Was erlauben Zie ſich“, wollte Fritz Murmann rufen; doch zu rechter
Zeit fiel ihm noch ein, daß es „gefräntte Ehre“ in der elften Rangklaſſe noch
nicht aeben dürfe. Alſo binumterichluden. Er hatte doch jchon viel gelernt.
Der Chef empfing ihn äußerſt ungnädig: Fritz Murmann hatte einen
Akt nicht amtsſtilgemäß abaefaßt ;er hatte jich erlaubt, eine eigenmächtige ſtiliſtiſche
Wendung zu gebrauchen.
„Weberhaupt“, fuhr der Ghef ihn an, „nehmen Zie ſich zu viel ‚Kreis
heiten heraus und llebergriffe, ich habs ſchon gehört. Zie jind ein Streber!“
„Ich, ich... weil; wirklich nicht . . .“ Ätotterte Fritz Murmann beſtürzt.
„Natürlich, Tas babe ich ja gleich gewußt, daß Sie nicht „willen“ werden!
Aber wir willen! Wir haben Augen und Thren und Menſchenkenntniß, wir
jehen Ihre geheimen ESchleichwege, den Mangel an Subordination, auch wenn
wir lange dazır Schweigen. Zie jind ein Ztreber: und ſolche Pete können wir
466 Die Zukunft.
hier nicht brauchen! Bier herricht Gerechtigkeit und Ordnung! Merken Ste lid
Das, junger Dann!“
Eine Frau zu Hauſe und Benjtonberechtigung find ein treffliches Beugung—
mittel für Mannesſtolz. Widerfprechen darf man ja nicht, in feiner Rangklaſſe.
Fritz Murmann wankte ſchweigend an feinen Pla zurüd. Aber innerlih war
er verziveifelt, gebrochen. Was jollte er thun? Mußte er nicht doch ſchließlich
jeine Entlajjung einreichen?
Endlich kam jein Freund wieder ins Amt. Auch er war kühler in feinen
Benehmen. Natürlich. Fritz Murmann wunderte ſich über nichts mehr. Gr
faßte aber doc den Muth, ibn um feine Meinung zu fragen; was er begangen
baben könne und was er thun jolle. Der Freund war etwas verlegen. „Ja,
ſehen Sie, da ift Berjchiedenes. Zie find noch nicht von dem richtigen Burean—
geiſt beſeelt. Zum Beiſpiel haben Sie bier eine Dede...“
„Ein Geſchenk meiner rau; was iſt damit?“
„Ja, recht ſchön; aber die Dede iit rorth und in dem Zimmer hat Alles
grün zu jein. Und vor Allem: für die elfte Rangklaſſe giebt es überhaupt nod)
feine Tiſchdecken. Doch Das mir nebenbei. In der Dauptjade ... ich habe
05 bheransgebradht und wollte mich jchen entichuldigen, denn ich kanns nicht
leugnen: da bin ich ſchuld an ‚ihrer ſchwierigen Stellung.“
„Was, Die, Doktor?” unterbrad ihn Fritz Murmann bejtürit; „ja,
ichadet es mir vielleicht, dal; ich mit Ihnen verfehre oder vielmehr Ste mit mir“
„Ich glaube nicht, dat; Ihnen Das gerade jchadet,“ entgegnete der Andere
ernſt, „obgleich es vielleicht, mit Rückſicht auf Ihre Nollegen, beſſer wäre, unjeren
Berfehr etwas fürmlicher zu geitalten. Es ift nod etwas Anderes; eigentlich
überrajcht mich die Sache nicht. Ich bin länger im Amt und hätte es willen
julfen, was für Folgen . . .“
„Nun, was?“ forſchte Fritz Murmann ungeduldig.
„Ja, ſehen Sie, Herr Murmann, Ste hatten die Freundlichkeit, meinen
Seſſel mit Ihrem zu vertauſchen. Mun it Das aber ein Seſſel der neunten
Nangklajie! Zie haben ſich da aljo vor den Anderen, fozujagen, Etwas ange:
maßt, das nicht zu Ihrem NMange paßt. Das iſt Ueberhebung, Rebellion.“
„Um des Dimmels willen,“ jchrie Fritz Murmann, „in meinem Yeben
werde ich bier feinem Menichen mehr aefällig fein! Da, nehmen Sie Ihren
Unglücksſeſſel, ebe ich verrüdt werde! Ich laſſe Ahnen meinetwegen noch ein
Polſter darauf machen, — aus der Tede meiner Frau.“
„Verzeihen Zie, dab ich Ihnen ſolche Ungelegenbeiten bereitet babe“,
entgegnete der Andere janft. „Es thut mir Sehr leid! Das Kolfter nehme ich
mit Tant am; ich kann es Ichon riskiren, ein Bolfter zu haben, und für Sie
its bejler, wenn keine Dede daliegt. Bei uns iſt es einmal nicht anders.“
Arie Murmaunn war gerettet. Einmal wurde er zwar bei einer Vor—
rückung noch übergangen, wahrscheinlich, um fein Streberthum volljtändig zu
unterdrücken, doc allmählich verlor Jich das Mißtrauen. Er gewöhnte jih an
den Dana im Gleiſe der Amtsregeln, der Seſſel des Anſtoßes war aus dem
Wege geräumt. Und aus dem Schwarzen Zchaf wurde ein weißes.
Wien. Helene Migerka.
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S
—mn VR—úßâú—i— ———
Ehryianders Hãndel⸗Einrichtungen. 467
Chryſanders Händel-Einrichtungen.
8 war vorauszuſehen, daß nad) dem Tode des großen Händelforſchers
> Friedrih Chryfander feine Gegner jede Gelegenheit benügen würden,
um sein Werk zu vernichten. Da ich zu Denen gehöre, die durch längeren
periönlichen Verkehr mit dem Verftorbenen als Eingewerhte gelten, und des—
halb vielfach interpellirt werde, jo falle ich noch einmal furz zufammen, was
zu beachten iſt.
Die Art, wie Händel aufzuführen ift, mußte darum ftreitig fein, weil
ſich innerhalb der legten anderthalb Jahrhunderte in ter Muſik die größten
Ummälzungen vollzogen haben und weil die Tradition der händelichen Praxis
verloren gegangen war. Bei der Benugung der OriginalsPartituren
Händels jtellte ſich heraus, dan fie der Ergänzung bedurften. Dieſe
Ergänzung war zu Händels Zeiten etwas ganz Selbftverftändliches und jedem
Muſiker Geläufiges. Ta die Gegenwart nichts Genaue darüber wußte,
begann fie, auf ihre Art zu ergänzen. Nach verfchiedenen Vorgängern, zu
denen jchon Mozart gehörte, war der verdienftvollite Arbeiter auf dem Gebiete
Robert Franz. Sein Fünftleriiches Feingefühl und das inteniive Studium
der alten Kunſt erlaubten ihm, in der Ausfüllung des muſikaliſchen Satzes
im Stil jener alten Meifter, vornehmlich Händels und Bachs, zu verfahren.
Er fand darum die Anerkennung von Männern wie Lilzt und wirkte für
die Wiederaufnahme der alten Werke viel Gutes.
Kun gelang es aber den langjährigen Forſchungen Chryfanders, genau
feitzujtellen, in welcher Weiſe zu Händels Zeit die Werke aufgeführt worden
waren und wie man verfahren müſſe, um fie im feinem Geiſt wieder zum
Leben zu erweden. Und dabei ergab ji, dar die Einrichtungen von Robert
Franz, fo tüchtig fie an jih waren, zu der alten Praxis in größten Wider:
ſpruch ftanden. Sie gönnten nicht nur dem alten Fundament, Orgel und
Cembalo, nicht den Antheil, den fie jchledhterdings haben mußten, jondern
führten auch Inſtrumente wie die Klarinetten cin, deren Klang der Muſik
Händels völlig fremd ift. Dagegen beachteten ſie nicht das Verhältniß, in
dem die Bläferbefegung zur Streicherbefegung ftehen mußte, wußten nichts
davon, dar die Sologefänge der Dratorien nach den Vorfchriften jener Zeit
unbedingt folorirt werden mußten, und verwilchten jo Händels Abiichten in
vielen Fällen bis zur Unfenntlichkiit. Daraus ift jenen Herausgebern fein
Vorwurf zu machen, denn damals eriitirten die Einrichtungen Chryſanders
noch nicht für die Deffentlichfeit. Aber jegt ijt die Reaktion gegen ihn
unkunſtleriſch und unwiſſenſchaftlich zugleich.
Selbitveritändlich it Händel auch in den alten —— nicht
tot gemacht und die „verſchleierte Technik“ iſt kein Unglück, das unerträglich
468 Die Zuhmft.
wäre, wenn man fich ihrer bewuht bleibt. Wo in einer Heinen Stadt das
theure Notenmaterial der alten Bearbeitung da iſt und das nöthige Geld
fehlt, fol man natürlich, ehe man die Aufführung ganz unterläkt, fich mit
der ungenauen Reproduktion begnügen und hoffen, daß man jpäter oder
anderdwo mal eine gute in der Originaltechnit haben fann. Aber unfere
führenden Konzertinftitute und die ernite künitlerifche Kritik follten doch
wiffen, was jie zu thun haben. Und Das wiffen jie eben leider nicht überall.
Wo die Möglichkeit vorhanden ift, Händel in der hryfanderfchen Form auf:
zuführen, und wo man troßdem im alten Echlendrian bleibt, ift einfach eine
Derfündigung am Geifte Händels zu fonitatiren. Das follte ſtets mit
nadten, energiſchen Worten gefagt werden. Was würden wohl die Leute,
die jegt bei Händel ohne Cembalo und mit zwei Oboen wirthichaften, jagen,
wenn ihnen Jemand das Heldenleben von Strauß mit vier erſten Geigen,
drei Hörnern, ohne Harfe und Tuba vorfpielte? Ich denke, man würde e8
einen Sfandal und eine künſtleriſche Berirrung nennen. der wenn Jemand
aus Wagners Bartituren alle erescendi herausitriche oder in Beethovens
Sonatenfägen bei der Wiederkehr der Themen die Melismen fortlieke und
Alles jo fpielte wie beim eriten Auftreten des Ihemas? Man würde ihm
jede fünitlerifche Würde abfprechen. its denn bei Händel anders? Es iſt
mit wiljenjchaftlicher Unfehlbarfeit nachgewiejen, daß die Verzierungen bei
der Wiederholung, die ſpätere Komponiſten ausjchrieben, von Händel unbe:
dingt gefordert wurden, obwohl fie nicht da itanden. Das lernte damals
jeder Sänger. Und da hilft fein Zetern: „Das ift geichmadlos.“ Lernts
lieber erjt einmal ordentlich fingen und hören!
Ich habe vor Fahren Chryjander einmal den Norfchlag gemacht, er
möge drei händeliche Arien mit dem Titel herausgeben: Drei Arien von
Händel mit Verzierungen herausgegeben von Chryfander. Er hats leider
nicht gethan. Wie würde ſich die Kritik über ihm geftürzt, die Arien mit
den vorhandenen Driginalausgaben verglichen und gefchrien haben: „Echt,
jo geht diefer Menſch mit unferem Händel um. Nicht wiederzuerknnen.
Dieje Verunftaltung! Mufikdireftoren Deutſchlands, wahrt Eure heiligiten
Güter.“ Und ein paar Wochen danach hätte der Alte von Bergedorf lachend
aus jeiner Druderei das Fakjimile des händelichen Autographs hinausgefandt;
die drei Arien hatte Händel nämlich felbit in einer Mufeftunde oder auf
Wunjd eines Sängers fo verziert, wie ers haben "wollte. Schade, daß
Chryſander den deutichen Kritifern diefe Blamage eripart hat.
Nun, fie beweifen ja ihre Ummifienheit fo jchon oft genug, wenus um
Händel geht. Der neujte Sport, den fie treiben, ift die Konftruftion eincs
Gegenſatzes zwifchen praftifchem Muſiker und Mufikgelehrten. Chryjander
iſt ein Muſikgelehrter; die Auftührung großer Chorwerfe iſt aber eine eminent
Ehryfanders Händel⸗Einrichtungen. 469
praftiiche Aufgabe, von der der alte Stubenhoder nichts veritand, ergo, —
laßt nur unfere Dirigenten machen! Was dabei herausfommt, will ich Tieber
nicht befchreiben. Aber konftatiren will ich, dar Chryſander mehr von Muſik—
praxis verftand al3 mancher Stapellmeifter; und wenn er feine ſymphoniſche
Dichtung hätte aufführen können, jo war er in technifchen Fragen bei Händel
un fo mehr zu Haufe. Das iſt doch hier das Ausichlaggebende Wenn
freilih Einer, der muſikhiſtoriſche Bildung offenbar nicht hat, heutzutage
Schreibt: „Wie Händel aufgeführt wurde, weiß man nicht; alſo laßt unjere
Konzertpraftifer ihre Erfahrungen benugen und die Werke möglichit jo heraus:
bringen, wie fie jet noch wirken“, jo iſt Das eine fehr unangebradhte Ver:
allgemeinerung. Es ijt allerdings fehr bequem, aus einem bejchämenden:
„Das weiß ich nicht“ ein entjchuldigendes: „Das wei man nicht“ zu machen.
Aber: man wein es eben; Der nämlich, der jich drum befümmert und Etwas
gelernt Hat. Und jo Fonnte mit Recht neulich ein Kritiker, der Chryfander
al3 bloßen Murfifgelehrten bezeichnet umd ihm die fachfundigen praftifchen
Muſiker gegenüber tellte, mit den prächtigen Worten abgefertigt werden:
„Händel und der alten Mujif gegenüber hat man nicht zu unterfcheiden
zwifchen Muſikgelehrten und Fachmuſikern, jondern zwiſchen gebildeten und
ummwillenden Leuten.“
Zu den umwiffenden Leuten, die aber in allen Tingen, befonders aud)
in der Kunft, mit bemeidenswerthem Freimuth Behauptungen aufjtellen und
den apodiktifchen Kanzelton anjchlagen, gehören leider auch fehr viele Theo:
logen. Nachdem e3 jegt ſelbſt bei einigen Univeriitätprofefioren Mode ge:
worden ift, in einer unſachlichen Weiſe, die ſich die übrigen Falultäten ver:
bitten würden, ohme jeden wiffenschaftlichen Ernſt Gegner abzuthun, fann
man fich freilich nicht wundern, wenn die dem wiljenfchaftlichen Betriebe
ferner ftehenden Geiftlichen im Amt ſich gemüßigt fühlen, von ihrer Bered—
jamfeit auch bei Materien Gebrauch zu machen, über die ſie fein Urtheil
haben. So hat jüngft in einer deutjchen Stadt, al3 ein wiſſenſchaftlich vor-
wärts jtrebender Sritifer bei einer Händelaufführung darauf hinwies, daß
man ftatt der benugten Einrichtung von Robert Franz doc die Chryfanders
wählen möge, der dortige erfte Geiftliche in einer Flugfchrift eine Daritellung
de3 Werthverhältnifies der beiden Einrichtungen gegeben, die von feinerlei
Sachkenntniß getrübt war. Man muß gegen diefe Anmaßung theologiſcher
Kreiſe, die von ihren geiftig durchgebildeten Fachgenoſſen felbit aufs Schärfite
verurtheilt wird, einmal um fo energifcher Stellung nehmen, al3 bei dem
großen Einfluß, den ſolche behördlich ſanktionirte Stimmen haben, viel Unheil
aus der Verbreitung ihrer Anjchauungen entitehen fann. Was würden die
Herren wohl jagen, wenn ich etwa über Ritfchls Theologie oder über Har—
nacks Dogmengefchichte, ja, Telbit über einfachere Materien nicht etwa meine
470 Die Zutunft.
eigene Meinung haben, jondern jogar öffentlich gegen Fachgelehrte in einem
Tone reden wollte, der jene Ignoranten befchren jolle? „Fa, Bauer, Das
ift ganz was Andres!” Mein; aud zum fachliden Urtheil über die Händel:
Frage gehört eine ganz umfaſſende allgemein muſilaliſche Borbildung und
langes Spezialitudium; und es ift genau fo unverzeihlih, wenn hier ein
Dilettanıt mit ſeiner Stammtifchweisheit öffentlich gegen die Männer von
Fach auftreten will, wie wenn ein Yaie Pamphlete gegen die moderne Theologie
von Stapel ließe.
Es ift jelbitverjtändlich, dar auch die Flugichrift, die zu diefen An—
merkungen Anlaß gegeben hat, den „Künſtler“ Franz gegen den „Hitorifer“
Chryſander ausfpielt und ſich fogar nicht ſcheut, Mozart, weil er Händel3
Zeit näher gewejen ſei, als beiferen Ergänzer Händels hinzuftellen als Chry-
fander. Als ob micht gerade hier der Grund allen Streites läge, weil die
auferordentlihen Unterfchiede zwifchen der Muſikpraxis Händel und der, in
die Mozart Hineingewachjen war, eben das Mißverſtehen der Intentionen
Händels verfchuldet haben! ine gleich theologifche Beweisführung its, den
gutgehakten Franz Lilzt plötzlich als Autorität zu citiren und fein Lob der
Bearbeitungen Franzs gegen Chryjander auszunügen, der damals mit feinen
Eirrichtungen noch gar nicht auf dem Plan erfchienen war.
Welche Gründe führen nun eigentlich zu einer ſolchen Kampfesweiie ?
In früherer Zeit mögen mancherlei Berlegerintereffen mitgeſpielt haben, per
ſönliche Beziehungen, alte Liebe und ähnliches Menſchliche. Dazu ſchließlich
der Haß gegen alles Neue, gegen alles Wiffenfchaftliche, gegen Alles, was
feinen Schlendrian duldet. ES sind viele üble Elemente, mit denen zu
fämpfen ift. Mögen die deutichen Sonzertinftitute, die auf ihre Würde
halten, mag die deutsche Kritik, die beftrebt it, ſich allmählich zu der Höhe
fachlicher, wifienichaftlih und künſtleriſch gleich durchgebildeter Gründlichkeit
aufzufchtwingen, ſichs nicht verdrieren laffen, immer weiter zu fämpfen und
einzutreten für eine der wichtigiten Errungenſchaften, die die deutfche Kunſt
im legten \Jahrzent gemacht hat. Gegenüber der böswilligen Verdädhtigung
aber, die auch in jener theologischen Flugichrijt fteht, dar wir reflamchafte
Propaganda für Chrylander trieben, verdient fejtgeitellt zu werden, daß der
alte Chryſander nicht mur unglaubliche Opfer an Zeit, Geld und Arbeit:
kraft gebracht, Fondern ich auch jeder Verherrlichung ſtets entzogen hat und
dak wir, die wir feine Schüler find, und dar alle feine Mitarbeiter, mit
einem Manne wie Hermann Kretzſchmar an der Epige, nichts bezweden als
eine möglichſt reine und ftarfe Wirkung des händelichen Univerſalgeiſtes auf
unjere deutiche Kunſt.
Leipzig. Dr. Georg Goehler.
*
Fermente und Altoboigährung. 471
Sermente und Altoholgährung.
SI‘ Lehre von den Fermenten ift eins der interefianteften Kapitel der
allgemeinen Biologie. Der Schleier des Näthjelhaften, Geheimniß—
vollen Liegt über diefen eigenartigen Stoffen, die, mit einer zauberhaften
Kraft begabt, unter den ruhenden Molefularfompleren die größten Ver:
wirrungen anrichten, die gewaltigiien chemifchen Umfegungen bewirken und
ſich jelbit jcheinbar an dieſem Prozeß nicht. betheiligen. Es dünkt uns ein
Wunder, wenn wir fehen, wie eine feite Schicht von Bluteiweiß (Fibrin) ſich
binnen wenigen Stunden unter der Einwirkung eines fauren Ertraftes aus
Magenſchleimhaut auflöſt und in feiner Natur energiich verändert; um fo
wunderbarer, als jolche Eiweißkörper gegen chemische Eingriffe ſonſt ziemlich
reſiſtent ſind. Diefes Ertraft enthält eins der fogenannten Fermente, das
Pepſin; ein anderes finden wir in dem Speichel, ein ganz ähnliches in fet-
menden Gerftenförnern, das Stärke fpaltet, und andere Fermente der ver—
Ichiedenartigiteu Wirkung überall im Thier- und Pflanzenreich weit verbreitet.
Die Gefchichte der Lehre von den Fermenten hat höchſt fonderbare
Wandlungen durchgemacht. Das Wort fermentatio drüdte im Alterthum
zunächſt nur die bildliche Vorjtellung von etwas Gährendem, Wallenden aus
und wurde von den antiken Schriftftellern im Wefertlichen nur für die alfo-
holifche Gährung und im weiterem Sinne auch für Fäulnißprozeſſe ange:
wendet. ALS dann im Mittelalter die geiſtige Klarheit der Alten im einen
Wuſt von myſtiſcher Schwärmeret und unklarer naturphilofophifcher Betrach—
tung verſank, als Jatro-Chemifer und Alchemiften fich als einzige Vertreter
der „Naturwiljenfchaft“ breit machten, da begann auch eine lächerliche Spielerei
mit dem Wort Ferment. Nicht nur wurden alle Vorgänge, die mit Gas—
entwidelung verlaufen, Fermentprozeffe genannt: fchlieplih wurden aud)
allerlei miyftifche Dinge mit dem Wort Ferment bezeichnet. Nur fehr lang:
ſam vermochte die neu beginnende wiſſenſchaftliche Erkenntniß ich durch diejen
Wall von fpekulativem Unfinn Bahn zu breden. Man lernte allmählich
erkennen, daß in der alfoholifchen Gährung, dem Prototyp der Ferment:
prozefie, ein leicht fahbarer chemischer Vorgang, nämlich die Bildung von
Alkohol und Kohlenfäure aus Zuder, zu fehen fei; und Stahl, einer der
genialften Chemifer des achtzehnten Jahrhunderts, machte ich ſchon eine Vor:
ftellung von den Weſen eines Fermentprozeſſes, die, wen auch, dem damaligen
Stande der Kenntniſſe angemeffen, nur in ziemlich rohen Umriſſen präziſirt,
doch unſeren modernen Anſchauungen in überrafchender Weife nah lommt.
Stahl nahm an, daß durch die Fermente in dem zu verändernden Material
Erfchittterungvorgänge eingeleitet würden, die durch ihre Fortleitung von
Ihetlchen zu Theilchen die charakteriſtiſche Umſetzung bewirften. Die näd;jten
472 Die Zukunft.
achtzig Fahre brachten feinen wejentlichen Fortfchritt. Freilich wurden in
diefer Zeit die chemischen Vorgänge bei der Alfoholgährung und einigen ver—
wandten Erjcheinungen durch die klaſſiſchen Arbeiten von Laurent Lavoiſier,
Gay:Luffac und Anderen mit den neu gewonnenen Methoden der exalten
chemischen Meſſung in allen Einzelheiten aufgeklärt; doch lag gerade diefen
Erperimentatoren das Feld der theoretifhen Spekulation fo fern, daß lie ſich
um cine Theorie der Fermente faum Sorge machten.
Ein plögliher Umfchwung trat gegen Ende der dreigiger Jahre ein.
Waren bis dahin nur einzelne Fermentationen befannt: die Allohol-, Efiig-,
Milhjäuregährung u. ſ. w., jo wurden jegt neue, überrafchende Entdedungen
auf diefem Gebiet gemacht. In den bitteren Mandeln fand Robiquet einen
Stoff, den er Amygdalin nennt, und ein darin enthaltenes „Ferment“, das
diefes Amygdalin in eben jo charakteriftiicher Weife zu zerlegen im Stande
ift wie das Hefeferment den Zuder. Unmittelbar darauf fand Schwann im
Magenfaft, Corvifart in der Bauchipeicheldrüfe Fermente, die Eiweißkörper
zerlegen, Leuchs im Mundfpeichel, Payen und Perfoz in Malzkörnern ein Stärke
fpaltendes Ferment. Liebig jtellte zum eriten Mal feit Stahl eine Theorie der
Fermentprozeſſe auf. Er acceptirte im Weſentlichen Stahls Anjicht und feste
nur an die Stelle diefer etwas unklaren Vorftellung einen präziferen Begriff.
Er nahın an, daß eine chemische Zerjegung des Fermentes, auf das Subftrat
fortgeleitet, auch dort die Zerjegung bewirkt. Liebigs Theorie follte für. alle
Fermentationen gelten; doc brachten zwei Umstände fie jehr bald zu Falle.
Erjtens erwies jich Liebigs Vorausfegung einer chemiſchen Zerfegung des
Fermentes ſelbſt als unhaltbar; die Fermente bleiben bei dieſen Umfegungen
unverändert. Zweitens aber wurde durch die Entdedung von Schwann und
Cagniard:Latour, daß die Hefepilze lebende Pflanzen find, Liebigs Theorie
entwurzelt. Namentlih Paſteur und feine Schule haben diefe Anfhauung
auf eine feſte Baſis geftellt und in unermübdlichem Kampf gegen die Schule
Liebigs vertheidigt. Paſteur hält die Alkoholgährung und verwandte Erfcheinungen
einfach für Lebensvorgänge der Hefepilze: Sauerjtoffmangel follte e8 fein,
der die Pilze zwingt, den Zuder zu Alkohol und Kohlenfäure zu verarbeiten.
Damit war eigentlic eine völlige Trennung zwifchen diefen „geformten Fer:
menten“, den lebenden Pflanzen, und den nicht vitalen „unorganijirten“ Fer—
menten gegeben. Bedauerlih it, daß durch Paſteurs Anfturm Liebigs
Fermenttheorie auch für die ungeformten Fermente zu Fall gekommen ift;
denn war auch ihre Grundlage falſch, jo hatte fie doch einen berechtigten
Kern. Es handelt ſich unzweifelhaft bei den Yermentprogefjen um Aus:
löfungen von latenter Energie; die Fermente wirken ausnahmelos jo, daß
fie latente chemische Energie in Freiheit fegen, und meift fo, daß fie aus höheren
Molefularfompleren niedere herjtellen. Niemals können jie Prozeffe bewirken,
Ferniente und Alkoholgährung. 473
bei denen Energie von außen her zugeführt werden muß. Die Wirkungen,
die von Fermenten ausgelöſt werden können, werden im Weſentlichen Pro—
zeſſe ſein, bei denen ſich Wärme entwidelt (exothermale Prozeſſe); dagegen
werden ſie nur in ſeltenen, durch die theoretiſche Chemie genau beſtimmbaren
Fällen endothermale Prozeſſe bewirken können, Prozeſſe, bei denen Wärme
gebunden wird. Es wird ſich im Weſentlichen ſtets um Spaltung- oder Abbau—
prozeſſe handeln, bei denen unter Umſtänden auch noch Einführung von
Sauerſtoff, alſo oxydative Prozeſſe eine Rolle ſpielen können. Auf jeden
Fall kann eine theoretiſche Betrachtung der Fermentprozeſſe nur vom ener—
getiſchen Standpunkt aus geſchehen, vom Standpunkt der Beurtheilung und
Meſſung von Energieumwandlungen, und inſofern iſt der Kern der Theorie
Liebigs doch richtig. In neuſter Zeit iſt man auf der Bahn dieſer Erkennt—
niß durch Oſtwald um ein beträchtliches Stück weiter gekommen. Oſtwald
hat das große Berdienſt, dem alten Wort: „Katalyſe“ den ihm bis dahin
fehlenden Begriff gegeben zu haben. Unter Katalyſe faßte man ſeit Berzelius
eine Reihe von Prozeſſen zuſammen, bei denen die bloße Gegenwart eines
dritten Stoffes zwei andere Stoffe zur Reaktion zwingt, ohne daß dieſes
Wort irgend eine Erklärung einſchloß. Oſtwald hat uns gezeigt, daß Katalyſe
weiter nichts iſt als die Beſchleunigung von chemiſchen Vorgängen, die auch
ohne äußeren Anlaß, aber ungemein langſam verlaufen. Da man nun von
Alters her die Fermentprozeffe zu den Satalyfen gezählt hatte, fo gilt diefe
Erklärung aud für die Fermentprozefje mit. Diefe Erkenntniß reicht aber
nicht aus, um den Fermentprozefjen ihre legten Räthjel zu nehmen. Schon
ihrer Spezifität wegen können die Fermentprozefie ugter feinen Umftänden
als rein fatalytijche bezeichnet werden.
Die von Kühne Enzyme genannten ungeformten Fermente find ſchon
an ſich höchit merkwürdige Körper. Sie jind im ganzen Thier- und Pflanzen:
reich zu finden und treten als Produkte organifcher Zellen auf. Alle Fermente
find thierifche oder pflanzliche Sefrete, Stoffe, die der Organismus produzirt,
um ie phyliologijchen Zwecken nugbar zu machen. Man findet jie alfo in den
Geweben und Körperſäften und kann jie daraus ſehr ſchwer, vielleicht gar nicht
in reinem Zuftande gewinnen. Bis jegt wenigjtens ift diefes Problem noch
nicht über die erften Anfänge hinaus. Zuerſt hielt man die Fermente für
Eiweißkörper; mühfäliger Arbeiten hat e8 bedurft, um es wahrfcheinlich zu
machen, daß jie Eiweihförper, wenigjtend im jtrengeren Sinn des Wortes,
nicht find. Welcher Art aber ihre chemische Natur ift, darüber wiſſen wir jo gut
wie nichts. Nur das Eine: e8 find Körper von auferordentlicher Empfind—
lichkeit, Stoffe, die fchon bei geringfügigen phylitalifchen und chemiſchen Ein:
flüflen ihre Natur jo verändern, daß fie wirfunglos werden. Und mit ihrer
Wirkung verfchwindet jede Möglichkeit, fie zu erkennen und zu ifoliren. Luft
474 Die Zutunft.
und Licht, verſchiedene Gifte, ſchwache Säuren und Allalien, beſonders aber
Erwärmen auf 80 Grad vernichtet ihre ſpezifiſche Wirkſamkeit in kurzer Zeit.
Eins der hervorſtechendſten Phänomene der Fermentprozeſſe iſt die
ſtrenge Spezifizität ihrer Wirkung. Wir kennen Eiweiß verdauende Fermente,
das Pepſin des Magens und das Trypſin der Bauchipeicheldrüfen und ähn—
liche des Pflanzenreiches; wir fennen eine Reihe von Enzymen, die Stärke
und ähnliche Kohlehydrate angreifen und fchlieklih in Traubenzuder über:
führen, jo die Diaftafe des Malzes, die Stärke löjenden Fermente thierifcher
Säfte, die Invertaſe, die die Inverſion des Rohzuckers in Traubenzuder
und Fruchtzuder bedingt, und andere. Wir kennen Fett fpaltende Enzyme
und folche, die ganz beſtimmte Pflanzenftoffe, die fogenannten Glukoſide, im
charakteriftifcher Weife fpalten. Und alle diefe einzelnen Enzyme jind aus:
Ichlieglih auf das Subjtrat wirffam, dem fie angepaft find.
Neben ihrem großen theoretifchen mtereffe find die Fermente aud
deshalb von ungemeiner Wichtigkeit, weil fie eine gar nicht zu überjchägende
biologische Bedeutung haben. ch erwähnte ſchon, daß die Fermente Selrete
find, aljo Stoffe, die der Organisınus zu phyliologifhen Zweden erzeugt
und in feine Säfte ausfcheidet. Die Bedeutung der Enzyme beruht darauf,
daf fie hochmolefulare Nährftoffe, die der Organismus aufnimmt, vorbereitend
verändern, fo dat fie zu nugbaren, aflimilirbaren Produften werden, Bei
höheren Thieren beginnt diefe Thätigkeit Schon im Munde. Die eingeführte,
an ſich unbrauchbare Stärfe wird dort bereit$ verzudert und diefer Prozeß
jegte ji dann im Darm bis zur Vollendung fort. Die Eiweißkörper
werden im Magen Md Darm energiic abgebaut; die Verdauung der Milch
wird eingeleitet durch eine Gerinnung, die das im Magen vorhandene Lab—
ferment bewirkt. Bei niederen Thieren find die Fermente natürlich nicht jo
getrennt, fondern in Mifchungen vereint in den Störperfäften. Doch audı
im Pflanzenreich finden wir Fermente. Zwar braucht die grüne Pflanze
feine Fermente, da ſie ihren Nährftoffbedarf aus der Kohlenfäure, dem
Waſſer der Luft und den anorganifhen Salzen des Bodens zu deden
vermag; wohl aber brauchen die chlorophyllojen Pflanzen die Enzyme gerade
fo gut zur Nugbarmahung ihrer Nährmedien wie die Thiere. So finden
wir Enzyme aller Art in Pilzen, Algen und Bakterien; wir finden fie aber
auch in dem feimenden Samen. Der junge pflanzliche Embryo ift in dem
Samen reichlich mit Nährftoffen verfehen; er liegt eingebettet in eine beträcht-
liche Menge von Stärke, Fett und Eiweißſtoffen. Aber fie alle kann er ſich
zu feinem MWachsthum nur dann nutzbar machen, wenn er fie erft durch
fermentative Prozeſſe vorzubereiten vermag.
Gerade bei dem feimenden Samen ftoren wir auf eine fehr intereflante
Thatſache, die fich bei gemauerer Beobachtung überall in der Organismen
Fermente und Altoholgäbrung. 475
welt fonjtatiren läßt; wir jehen nämlich, daß die Fermente als echte phyſio—
logifche Sefrete nur dann in nennenswerther Menge produzirt werden, wenn
jte gebraucht werden. So lange der Same ruht, enthält er feine Fermente;
jobald aber das Wachsthum beginnt, treten Fermente aller Art auf. Dabei
geht die Defonomie fo weit, daß fich im diefem Fall auch Fermente bilden,
die felbit die Zellwände auflöfen und ihre Celluloſe durch Ueberführung iu
Zuder nugbar machen. Ganz ähnlich finden wir, daß Schimmelpilze, jobald
man fie auf reiner Zuckerlöſung züchtet, feine Fermente bilden, daß diefe
dagegen fofort auftreten, wenn man die Pilze auf Stärke oder Eiweißlöfungen
züchtet, oder au, wenn man ihnen jegliche Nahrung entzieht und fie auf
deitillirtem Wafler wachen läßt. An deu letzten Fall jieht man fo recht,
daß es der Hungerreiz ift, der zur Sekretion der Fermente führt.
Fermentatio (von fervere, wallen, ſieden) nannten jchon die Römer
den Gährungprozeß. Sie griffen alfo ein ganz äußerliches Moment heraus,
nämlich die Gasentwidelung und die dadurch bedingte Unruhe in der gähren:
den Flüſſigkeit. Was da eigentlich chemiſch vorging, davon hatten die Alten
und auch das frühe Mittelalter feine Ahnung. Der Alkohol, deſſen wich-
tigiter Beitandtheil durch einen Gährungprozer aus ftärfehaltigem Sanıen
oder Wurzeln entjteht, wurde erit im neunten Jahrhundert dur den ara=
bifchen Gelehrten Geber in annähernd reinem Zuftande dargeftellt. Aber
aud nachher noch herrfchten über das Weſen der Gährung die Findlichiten
Borftellungen. So glaubte man, in dem zu vergährenden Gemifch fei der
Alkohol ſchon vorhanden; er mahe nur unter der geheimnifvollen Wirkung
de8 Fermentes einen Läuterungprozeß durch und fei erft danach im reinerer
Form nachzuweifen. Diefer Jrrtum wurde erjt durch Sylvius de la Bos
und Lemery widerlegt, die fanden, daß der Alkohol erjt bei der Gährung
entjtehe. Stahl und Becher fanden dann, dan Alkohol nur aus ſüßen
Stoffen bei der Gährung fich bildet. Eine wirklich wiſſenſchaftliche Erfor—
chung der alfoholifhen Gährung begann erſt mit Lavoiſier. Er wies nad),
daß bei der alfoholifchen Gährung Zuder in Alkohol und Kohlenſäure zer-
fält. Allerdings war feine Formel noch falfch; er glaubte außerdem, daß
Effigfäure, die jich bei dem meiften Gährprozefien als unerwünfchtes Neben-
produft bildet, ein normales Produkt der Gährung fei; als Erfter aber hat
er den Verfuch einer eraften Formulirung der Zuderum wandlung in Alkohol
und Kohlenſäure gemacht. Seine fehlerhafte Formel wurde etwa ein Dien-
fchenalter -fpäter durch die Arbeiten von Gay-Luſſae, und Dumas forrigirt.
Dumas wied auch die nebenfächliche Bedeutung der Eſſigſäurebildung nad).
Zu der Zeit, wo Liebig feine Theorie der Fermentationen aufftellte, fiel
auf das Problem der altoholifchen Gährung von ganz anderer Seite her
36
+76 Die Zukunft.
ein helles Licht. Schon mehr al3 Hundert Fahre vorher hatte der berühmte
bolländifche Naturforfcher Leeuwenhoek, der zuerft ſyſtematiſch mit dem Mi:
froffop arbeitete, entdeckt, daß die Hefe aus runden, etwas abgeplatteten
Kügelchen beteht, deren Natur er fich aber nicht erklären konnte. - Seine
Unterfuchungen wurden wenig beachtet und noch gegen Ende des achtzehnten
Fahrhunderts hielt man die Hefe für einen den pflanzlichen Eiweikförpern
minbdeftens fehr nah ftehenden Stoff. Doch tauchte bald darauf die An—
ficht auf, da man es hier mit winzigen Lebeweſen zu thun habe. Dieje
Anfhauung konnte ſich nicht recht Bahn brechen, bi8 von Schwann und
Cagniard:2atour 1837 der Beweis erbracht wurde, daß die Hefe thatjächlich
aus mikroſkopiſch Heinen Pflängchen beſteht. Schwann konnte zeigen, daß
Buderlöfungen abjolut nicht gähren, wenn man fie forgfältig von der Luft
abjchliegt. Das hatte allerdings auch Gay-Luſſac beobachtet, der gerade dar—
auf feine Theorie von der grundlegenden Bedeutung des Sauerftofjes für
die alkoholifhe Gährung gegründet hat. Aber Schwann ging weiter. Er
zeigte, dag man der Luft dabei fo viel Sauerjtoff zuleiten konnte, wie man
wollte, wenn man nur die Luft vorher durch ein glühendes Rohr leitete und jo
jeden Keim organifchen Lebens in ihr vernichtete. Dadurch war bewiefen, daß
der Sauerftoff an fic für das Zuſtandekommen der Gährung belanglos iſt.
Diefe vitaliftifche Fam nun mit Liebigs chemifcher Theorie der Hefegährung
in Konflikt. Liebig verwahrte jich fehr energisch gegen diefen Zufammenhang von
Pflanzenleben und Gährung. Doc) lief fich die Wahrheit der Befunde Schwanns
nicht lange anzweifeln. Wieder war es Pafteur, der in einer Weihe von
klaſſiſchen Arbeiten unwiderleglich nachwies, daß die Alkoholgährung und
einige verwandte Erfcheinungen unzweifelhaft abhängig find von ber Anwe—
fenheit lebender Keime. Er zeigte, dar überall in der Luft folche Keime
zu finden find und daß e8 genügt, ein Gefäß mit einer gährfähigen Flüffig-
keit offen ftehen zu laffen, um nach einigen Tagen die Gährung nachweisen
zu fönnen. Er zeigte ferner, daß auf hohen Bergen, wo die Luft jehr arm
an Keimen tft, die Gährung häufig ausbleibt; er bewies aber feine Anjicht
vor Allem durch einen jehr jchlagenden Verſuch. Er erſetzte das glühende
Rohr Schwanns einfach durch Feine Wattebäufche, duch die er die Luft
hinducchftreichen Tief. Dann blieb das gährfähige Gemifch unverändert; ent:
nahm er nun aber von diefem Wattebaufch Heine Partikelchen, fo löſten
diefe die Gährung aus, Damit war feftgeftellt, daß es Förperliche lebende
Keime fein müffen, die alfoholifche Gährung erzeugen. Daß folche Keime
dabei vorhanden find, konnte nun auch Liebig nicht mehr leugnen, doch fchrieb
er ihnen nach wie vor eine Bedeutung für dem Prozeh nicht zu. So tobte
denn der Kampf noch faſt bis zum Tode Liebigs weiter, obgleich Liebig felbit
in feiner legten großen Arbeit (1870) ſich nur noch ſchwach gegen die Keu—
Fermente und Altoholgährung. 477
Lenfchläge der Paftenr-Schule zu wehren vermag. Er hatte eine chemifch-
energetifche Theorie aufgejtellt, deren Grundlage — die hemifche Zerfegung
des Fermentes — falſch war. Paſteur verfocht zunächft wenigftens nicht
eine Theorie, fondern einfach einen biologischen Zufammenhang zwifchen Gäh—
rung umd Hefepilzen. Nun hatte allerdings auch Pajteur eine Theorie auf:
geitellt, die jih bald als falfch erwies. Danach follte der Gährungprozeß
eine Lebenserfcheinung der Hefe in dem Sinn fein, daß bei Abwefenheit von
Sauerftoff der Hefepilz fich den veränderten Bedingungen anpaffen muß; er
follte alfo eine vie sans air darjtellen. Diefe Theorie war falſch, denn die
Hefe gährt auch, wenn Sauerftoff vorhanden iſt. Von der Theorie bleibt
nur bie unzweifelhafte Thatfache des Zufammenhanges® von Gährung und
Leben der Hefe übrig. Auf diefem Wege fam man nicht weiter. Das
fühlten auch die eifrigjten Verfechter der Anfchauung Pafteurs fpäter jelbft.
Die ftärkiten Köpfe gaben fich nicht zufrieden; befonder8 Traube, Berthelot
und Hoppe-Seyler verfochten immer wieder nachdrüdlich die Anfchauung, daß
mit dem Nachweis des biologijchen Zufammenhanges nichts zu erklären, fon:
dern nöthig fei, auch in den lebenden Hefepilzen ein befonderes Ferment an—
zunehmen, das in diefen Bellen, aber unabhängig vom Leben, feine fpezi-
fiiche Wirkfamkeit entfaltet. Nur dadurch läßt jich die alfoholiiche Gährung
im Zufammenhang mit den anderen Fermentationen erhalten und nur da=
duch können wir zu einer einheitlichen Auffaffung diefer Prozeſſe gelangen.
Dies Ferment nachzuweifen, gelang nicht; und fo blieb die Anjicht, die den
richtigen Kern der Theorie Liebig zu vetten verfuchte, eine unbeweisbare
Spekulation. Allmählich flahhte der Kampf ab; die chemifche Anfchanung
ſchien volllommen bejiegt, die prinzipielle Trennung der „geformten Fermente“
von den ungeformten entichieden.
Mit um fo größerer Wucht fchlug es darım in der wiſſenſchaftlichen
Welt ein, al8 vor einigen Jahren Eduard Buchner das fo lange vermuthete,
niemal3 gefundene Enzym der Hefe nachweifen konnte.
Die Hefe bildet eine ganze Reihe von Fermenten. In ihren Waſſer—
ertraften findet man allerdings nur in geringer Menge ein Stärke jpaltendes
Ferment, die Hefendiaftafe; dagegen enthält ihr Zellleib noch andere Fer—
mente, die er während des Lebens nicht abgiebt. Doc fonnte Emil Fifcher
diefe Fermente dadurch nachweisbar machen, daß er die Hefezellen durch
ſcharfes Trodnen und duch Toluol lähmte; und nun gab das geſchwächte
Protoplasma der Zelle noch diefe anderen Fermente ab, nämlich die Inver—
tafe, die Rohrzuder, und die Maltafe, die Malzzuder zu fpalten im Stande
ift. Nach diefer Methode gelang es aber nicht, das Alkohol bildende Fer—
ment der Hefe zu ifoliren. Doc war es eime geniale Konſequenz Ddiefer
Idee, wenn Buchner dieje relativ wenig eingreifende Mafregelung des Pro:
36° .
478 Die Zufmft.
toplasma8 durch eine viel gewaltigere erfegte, um das fupponirte Enzym zu
gewinnen. Er zermalmte die Hefe mit Quarzjand, jchlug fie in ein Tuch
und preßte fie bei 400 bis 500 Atmofphären Drud aus. Dadurd erhielt
er einen zellfreien Preffaft, der num die Fähigkeit der Alkoholgährung auf:
wies. Trog allen Einwänden jteht heute Buchners Entdedung felſenfeſt. Das
Gerede, daß hier Protoplasmajfplitter und Aehnliches wirkſam fein jollten,
iſt haltlos; denn Protoplasmafplitter, die durch ein Thonfilter gehen, die
von Protoplasmagiften nicht in ihrer Wirkfamkeit tangirt werden, find unter
allen Umftänden kein lebendes Protoplasma mehr, fondern höchitens noch jehr
hoch molekulare, dem Protoplasma in der Struktur noch ähnliche Eimeir-
fubltangen. Und Das ift prinzipiell gleichgiltig. Wir haben unzweifelhaft in
Buchners Preßſaft das Enzym der Altoholgährung vor und. Und damit
ift die alte Streitfrage im Sinn Traube und Hoppe-Seylers beantwortet.
Die Altoholgährung ift nicht einfady ein Stoffwechjelvorgang der Hefepilze,
fondern der Stoffwechjelvorgang hat nur die Bedeutung, daß er bei ihnen
diefe8 Ferment produzirt: die Wirkung des Ferments ift unabhängig vom
Leben zu denfen. Daher it auch die Alfoholgährung wieder in die Kate—
gorie der Fermentprozeffe eingereiht und die von Liebig gefuchte Einheitlich-
feit diefer Vorgänge hergeitellt. Noch haben wir Liebigs faliche Theorie
nicht durch eine richtigere erfegt; aber wir willen, daß die neue Theorie der
Fermente nur eine dynamifche fein kann und dar fie über biologische Zu—
ſammenhänge nad) Art der Hefebetheiligung an der Gährung theoretiih hin—
weggehen muß, um ein einheitliches Fundament zu gewinnen.
Gay-Luſſac hatte, wie erwähnt, den Sauerftoff als Hauptfaltor für
das Zuftandefommen der Gährung angejehen; im Gegenfag dazu fahte Paſteur
die Gährung als eine vie sans air auf und behauptete, daß die Hefe nur durch
den Mangel an Sanerftoff gezwungen würde, ihren Stoffwechſel jo zu ver—
ändern, dar fie Alfohol und Kohlenfäure bildet. Diefe Frage it von
Anhängern und Gegnern PBafteurs, befonder8 von Brefeld und Traube, be-
arbeitet worden. Brefeld bejtätigte Paſteurs Befunde zwar, aber zog aus
ihnen ganz emtgegengefeste Schlüffe. Er nahm an, daß die Hefe zwar
wirflih bei Sauerftoffabichlun gährt, daß aber eben diefe Aenderung der
vitalen Funftion eine Krankheit: und Abiterbeerfcheinung der Hefe jei, während
junge und gefunde Hefe bei Sauerftoffanmwefenheit nicht gährt. Er fchrieb
der Hefe ein auferordentlich großes Saunerftoffbedürfnig zu und meinte, daß
bei gezwungenen Werzicht auf diefen Sauerſtoff die Hefe als krankhaftes
Produkt Alfohol bildet. Diefer Anſchauung trat Traube fehr energijch ent:
gegen; er zeigte, dar die Hefe zwar zu ihrer Vermehrung fehr viel Sauer:
ftoff bracht, da dagegen erwachfene Hefeſtämme auch bei Abwefenheit von
Sauerſtoff ihre vitale Kraft behalten. Heute ift auch diefe Frage ziemlich
entfchieden. Wir willen, daß Hefe fowohl bei Anwefenheit wie bei Abwefen-
TE u ar 0 7 ee zer . ** ———i— — En *
Fermente und Alkoholgährung. 479
heit von Sauerſtoff gährt, daß freilich ein Ueberſchuß von Sauerſtoff den
Gährprozeß beeinträchtigt und daß in dieſem Fall ein relativ großer Prozent:
fag de3 Zuckers direft von der Hefe verbraucht und zu Kohlenfäure und
Waſſer verbrannt wird.
Die ganze Gährfrage ift, vom biologifchen Standpunft aus betrachtet,
ein ſehr intereſſantes Anpafjungphänomen. Außer den echten SHefepilzen
haben nämlich aud einige Schimmelpilze die Fähigkeit, unter ganz beftimmten
Umftänden eine geringfügige altoholifche Gährung hervorzubringen; nämlich,
wenn man jie gewaltiam zum Leben ohne Sauerftoff zwingt. Dann können
fie, allerdings nur eine bejchränfte Zeit lang, ohne Sauerftoff leben und
gähren dabei; fobald man fie aber unter normale Bedingungen zurüdbringt,
geben sie diefe Fähigkeit aud; wieder auf. Daraus fönnen wir jchließen,
daß auch die Hefepilze urfprünglih an ein Leben in Sauerftoff gewöhnt
waren; es giebt auch heute noch Raſſen von echten Hefepilzen, die abjolut
feine alkoholifhe Gährung einleiten können, fondern ausfchlieflih aërob
(eben und den Zuder verbrennen. Die echten Hefepilze find num feit Millionen
von Generationen an dies anaörobe Leben affomodirt und vermögen auch,
wenn man ihnen Sauerjtoff zuführt, ihre Gährfähigfeit nicht ganz abzu—
legen: fie können den Zuder einfach verbrennen oder aber ihn vergähren.
Damit kommen wir mun zu der legten wichtigen Frage: welche Be—
deutung die Alkoholgährung für den Hefepilz hat. Die bei den anderen
Fermenten in die Augen fpringende Bedeutung, die Auffchliefung nicht rejor-
birbarer Nahrungftoffe duch Abbau, fällt hier fort; denn der Zuder ift ein
viel werthvolleres, leicht affimilirbares Nährmedium als der Alkohol, der
fogar ſchon bei geringer Konzentration als Gift auf die Hefezelle wirkt.
Wir müflen hier alfo eine andere Erklärung fuchen; ich glaube, man kann
fie in dem Umſtand finden, daß die Alkoholgährung bei Sauerſtoffabſchluß
einen Erſatz für die verbrauchte Lebensenergie bietet. Im normalen Leben
wird diefe Energie verschafft durch die Verbrennung im Sauerjtoff. Das
iſt bei Sauerftoffmangel unmöglih und die Hefe müßte fchnell zu Grunde
gehen, wenn jie nicht ihr Leben durch die Produktion dieſes Fermentes weiter
friftete. Denn der Vorgang der altoholifchen Gährung ift ein folcher, bei
dem Energie frei wird, umd diefe Energie fünnte e8 wohl jein, die der Hefe
eine weitere Eriftenz ermöglicht.
So kommen wir denn doch wieder zu einer der Paſteurs ähnlichen
phyſiologiſchen Anſchauung; wir nehmen an, daß die Alfoholgährung für die
Hefe ein Erſatz des normalen Lebens it, daR fie alfo die vie sans air er-
möglicht, ohne aber die vie sans air zu fein. Man kann alfo den phyſio—
logifchen Werth der Theorie Paſteurs vol anerkennen und doch jeine theoretischen
Anfichten von einem Zufammenhang von Leben und Gährung zurüdweijen.
Dr. Karl DOppenheimer.
*
480 | Die Zukunft.
Selbitanzeigen. Br
Eine für Viele. Aus dem Tagebuch eines Mädchens. Verlag von Hermann
Seemann Nachfolger 1902. Bierte Auflage.
Das Bud) iſt Fein anjpruchsvolles Kunſtwerk, das Bewunderung fordert.
Es ijt feine joziologiihe Abhandlung, die ftatiftifche Daten, Syfteme und Pro-
grammte durcheinander würfelt. Es ijt aber auch feine lüſterne Darjtellung
ſeeliſcher Nadtheit, die Lockungen ausftreut. Nein. Nichts weiter als ein Bekenntniß
ftürmifcher Ehrlichkeit, das fi, zu einem verzweifelten Nothichrei verdichtet, in
die TCeffentlichkeit gedrängt hat und nun demüthig um einen Schimmer des Mit-
empfindens, um einige Nugenblide verjtehender Ergriffenheit bettelt. Das fleine
Bud will nichts Großes, Gewaltiges, Welterfchütterndes. Es ift eine piucho-
logiſche Studie. Sonft nidts. Der Inhalt it einfach, ſchmucklos und all
täglid. Er jcildert den Kampf in der Seele eines Mädchens, den uralten
Kampf zwilchen der reinen Leidenschaft und dem erdrüdenden Bewußtſein, daß
der Mann ihrer Wahl fi} in dem vorehelichen Gejchlechtsleben — dem die jugend
der Großſtädte rettunglos verfallen iſt — durd) gekaufte Liebe und jeelenloje
Genüſſe entwerthet hat. Sie fühlt, daß in diejer Liebeleeren Hingabe eine Ent»
weihung liegt. An diefer Ganzheitforderung geht fie zu Grunde. Sie verſucht
nicht, in geiltiger Siiyphusarbeit das große Menfchheitproblem zu löfen. Und
troßdem jie in ihrem optimiftiichen Taumel an die Verwirklichung ihres Keuſch—
heitideales glaubt, felfenfeit glaubt, weiß fie doch, daß zu diefem Ziel fittlicher
Größe ein Weg führt, der von einem dichten Geſtrüpp jozialer Hemmniſſe und
ökonomischer Schwierigkeiten überwuchert ift. Aber fie klagt die Gejellichaft-
ordnung an, die die Unfittlichkeit nicht nur duldet, ſondern unterftügt. Die
klagt die Erziehung ar, die die jungen Menjchenfeelen zu Krüppeln ſchlägt.
Und fie wendet ſich auch heimlich gegen die jcheinheilige Heuchlermaske der Bhi-
lifter, die- mit der zur Schau getragenen Tugendhaftigfeit ihre moralifche Fäulniß
übertünden. Es ijt freilich eine große Kühnheit von einem jungen Mädchen,
ein jo „ſündhaftes“ Buch zu jchreiben, — um jo mehr, als ja heutzutage Mäddhen-
bücher nur in jeltenen Fällen nad) ihrem wahren Werth oder Unwerth beur-
theilt werden, jondern meift nad dem Wuſt von Gejellichaftstratih, der das
Bild der Werfafferin umrahmt. Vera.
v
Der Fall Rothe. Eine Friminalpfychologifche Unterfuhung. Mit Bildern.
1901. Berlag von Schottländer. 2,50 Mark.
Das Bud) ift gerade vor einem Jahr erſchienen. Durch die Verhaftung
des Blumenmediums Rothe ift es erſt jet „aktuell“ geworden, ein Beweis, wie
jehr der Erfolg eines Buches von der Gunſt des Inhalts abhängt. Es verfolgte
einen doppelten Zweck; erjtens den, einen Frechen Schwindel aufzudecken, dem
HBehntaufende zum Tpfer gefallen find und der geeignet ift, uns in den Augen
des Auslandes wieder einmal gründlich lächerlich zu machen. Es forderte daher
das Einichreiten der Staatsgewalt. Diefer Zweck ift erreicht. Bemerfenswerth
Bu ae I Fe ur > ee iur - — m —— — — — — ». -.. — 4
Selbſtanzeigen. 481
bleibt allerdings, daß ein volles Jahr verſtreichen mußte, bis es dahin kam.
Zweitens wird der Fall Rothe in feiner Stellung als Symptom gewijjer kultu—
rellen Zuftände unterfudht. Cine Kritif des vulgären Spiritismus und jeiner
Beweismethodif mußte vorangehen, die Piychologie der Zeugenausjage an Bei-
ipielen erörtert werden. Die Eulturgejhichtlihen Bedingungen des Spiritismus,
die friminalpfycologiiche Seite des Mediumismus werden analyjirt. Mein
Buch foll alfo querdurch gehen durch den jpiritiftifchen und antifpiritiftiichen
Unfug und zur wiſſenſchaftlichen Erkenntniß führen.
Breslau. Dr. Erid Bohn.
*
Die Lage der weiblichen Dienſtboten in Berlin. Alademiſcher Verlag
für ſoziale Wiſſenſchaften Dr. John Edelheim. Berlin 1902.
Es war im Hochſommer 1890, als zum erſten Male in großen öffent—
lichen Verſammlungen die Zuſtände, unter denen die berliner Hausangeſtellten
lebten, blitzartig beleuchtet wurden. Dieſe Berſammlungen veranlaßten mid),
die materiellen Lebensverhältniſſe dieſes Berufsſtandes zu ſtudiren. Das geſchah,
von der Einſichtnahme in die wenig belangreiche Literatur abgeſehen, auf dem
einzig möglichen Weg der Enquete. Ich habe deren Reſultate nad) zweijähriger
Arbeit in meinem Buche niedergelegt. ES behandelt das Problem der Dienft:
botenfrage als einen Theil der Arbeiterfrage, und zwar unter jozialpolitijchen
Sefichtspuntten. Das infofern, als ich für eine Dienſtbotenſchutzgeſetzbung und
für eine Bejeitigung der auf dem Prinzip der Rectsungleichheit aufgebauten
Sefindeordnungen eintrete. Nun ift es heute mit jozialpolitiichen Arbeiten eine
eigene Sache. Man dient und nüßt ohne Zweifel dem Stlafjenfortichritt einer
großen Zahl von Arbeitern damit und in diejem Falle jolchen, die bis auf die
neufte ‚Zeit niemals ihre Stimme erhoben, fondern ftumm die Geſchicke ertrugen,
die das Dienftverhältnig über fie verhängte, Solden Arbeitern fonnten die
herrſchenden Schichten Alles bieten, jogar Prügel. Sie konnten unter ein Aus—
nahmegeſetz gejtellt werden, weil fie jelbjt ohmmädhtig waren. Sie mußtendes
fich einfach ohne Proteft gefallen laffen. Wer es nun wagt, dieſen Stummen
eine Sprache zu leihen, Der hat für ſich jelbjt davon am Wenigjten. Gr wird
vielmehr angefeindet und angehaßt oder totgejchwiegen. „jedem, der die berliner
rauen und Prefzuftände kennt, jage ich nichts Neues. Die Frauen haben ſich
zu meinem Bud, öffentlid noch nicht geäußert, wenigftens Die nicht, auf deren
Urteil id Etwas gebe. Kur eine Stimme hat es in einer hamburger Zeitung
als „beinahe gemeingefährlid‘‘ bezeichnet. Die politiiche Tagespreſſe hat die
Normen ihrer Beurtheilung dem Programm der Bartei entnommen, deren Intereſſen
jie vertritt. Die Deutjche Tageszeitung hat jogar die Preſſe gewarnt, mein Bud)
zu beſprechen. Cine Warnung, die von diefer Eeite kommt, dürfte für manche
Leſer der „Zukunft“ eine Empfehlung fein. Aber faft wie Ironie Elingt cs,
daß gerade die Zeitungen, die meine Enquete befümpften und das Sammeln
des Materials auf jede Weije zu erjchweren ſuchten, jet den Vorwurf erheben,
da die jtatiitiiche Bajıs zu jchmal jei. Nun ift zunächſt befannt, daß Bicle
eine Enguete nicht von einer Statiſtik unterfcheiden können. Dem Vorwurf
482 Die Zukunft.
gegenüber aber möchte ich auf eine Bemerkung hinweiſen, die eine volfswirth-
ichaftlich jo gebildete „jrau wie Wally Bepler in einer Kritik madt. Sie jagt:
„Das Buch wird nun vielfach dadurch zu entiwerthen gejucht, daß man bie Zahl
der Antworten für viel zu gering erklärt, um daraus allgemeine Schlüffe ziehen
zu können. Aber der Werth und das Intereſſe der Enquete wie des Werkes
felbjt beruhen gar nicht eigentlich oder doc nicht allein auf der Fyeititellung ganz
beitiimmter Thatſachen, die ſich etwa Überall annähernd glei blieben und jo
bejtimmte Durchſchnittswerthe für Arbeitzeit, Lohn, Beköftigung u. j. w. ergeben
fönnten. Die Lage der häuslichen Angeitellten weit, der ganzen Natur diejes
Urbeitverhältniffes entiprechend, in den einzelnen ‚Fällen nad) jeder Richtung hin jo
graſſe Unterichiede auf, daß eine Darjtellung der Arbeitbedingungen auch auf breiterer
Baſis doch niemals ein eigentlihes Durchſchnittsbild entrollen könnte, ganz einfach,
weil ein ſolches Durchfchnittsbild aud in Wirklichkeit gar nicht exiftirt. Biel-
uchr handelt es jid) darum, an einer großen Zahl typiicher Beijpiele aus allen
Sphären de& Dienftbotenlebens das Dajein diefer noch völlig verjflanten Ar—
beiterinnen mit allen feinen charafterijtiichen Zügen und Schattenfeiten vor uns
zu entrollen; daneben allerdings aud) durch zahlenmäßige Feſtſtellung die Grenzen
zu. bezeichnen, zwiſchen denen Lohn, Arbeitzeit, Beköftigungwerth u. |. w. ſchwanken.
Dieje Aufgabe erfüllt Stillih3 Buch in vollften Maße: es bietet mehr als ge—
nügendes Material.“ Ein Fortſchritt in der Erkenntniß der Materie befteht
jedenfalls darin, dal; in meiner Arbeit nicht mehr die individuell beſchränkten
Erfahrungen des Einzelnen an der Spike jtehen, jondern eine Summe von
Erfahrungen aus beiden Ünterefjentenfreifen. Die alte Methode in der Be-
handlung der Dienjtbotenfrage war rein individuel. Man fannte zehn, zwanzig
oder auch dreißig Dienjtboten und Eonjtruirte ſich daraus ein Urtheil über deren
Beichaffenheit. Will man ein klaſſiſches Beiſpiel für diefe Art der Behandlung
baben, jo höre man einmal den Damen am Kaffeetiſch zu oder lefe die Frauen—
zeitichriften zweiten und dritten Nanges oder die Anfichten, die der neufte Ver—
fechter des Geſchwätzes der typiſchen Durchichnittsfvau hat, ih meine Hirſchberg
in dem die Dienftboten behandelnden Kapitel feines Buches über die Tage der
arbeitenden Klaſſen in Berlin. Es wird jchwer halten, etwas Unzureichenderes
— von Yogif gar nicht zu reden in einem Buch zu finden, das fich ſelbſt
für wiſſenſchaäftlich ausgiebt. Die Eutturgefchichtliche Seite meiner Darlegungen
aber erblicke ich darin, dad fie die Träumereien zeritören, die bi3 heute auf „dem
jendalen Felſen des Vorurtheiles“ ruhten. Mein Buch macht ein Ende mit der
Vorſtellung, daß im häuslichen Dienft fein Elend eriftire, daß es den Dienenden
ganz aut ache, beifer als den Fabrik- und anderen Arbeiterinnen, daß das
patrtardaliiche Zeitalter umfponnen geweſen fei von den Silberfäden menjchlich
ſchöner Beziehungen zwiichen Derrichaften und Dienjtboten, daß das bürgerliche
Dans dem Dienſtmädchen einen beionderen Schutz ihrer höchſten perjönlichen
(Hüter, ihrer Arbeittraft, ihrer Mädchenehre, ihrer Sittlichkeit biete, daß der Preis
der häuslichen Arbeit ein bejonders hober ſei. Solche Legenden zu zerftören,
achört zu den Anfgaben meines, Buches; und wer noch heute an ihnen feithätt,
Der möge e8 lejen, und dann urtheilen. Dr. Osfar Stillid.
4
Borfe und Preife. 483
Börfe und Preſſe.
SR" neunten uni hat das Ghrengericht der berliner Börje im zweiter
Inſtanz den Verweis beftätigt, der mir vor ein paar Wochen von der
eriten Inſtanz ertheilt worden war. Ich fol nämlich über die Dresdener Bank
unmwahre Thatjachen behauptet haben, die geeignet gewejen jeien, den Kredit diefer
Bank zu jchädigen. In beiden Inſtanzen wurde nicht daran gezweifelt, daß
mir eine ehrloje Dandlung nicht vorgeworfen werden fönne. Beide Inſtanzen aber
erklärten fich fir zuftändig und gaben mit meiner Berurtheilung der Dresdener
Bank eine Genugthuung. Der Ausgangspunkt des Verfahrens war eine Notiz,
die ih in dem von mir redigirten Handelstheil der Berliner Morgenpoft im
Januar diejes Jahres veröffentlichte. Da war behauptet, zur Zeit des ſächſiſchen
Bankkraches jei die Dresdener Bank mit außergewöhnlichen Krediten unter
erihwerenden Bedingungen von der Reichsbank und der Sächſiſchen Bant
unterjtügt worden. Das ijt angeblich unmwahr; angeblich, ſage ich, denn zu
meinem Bedauern ift mir der Wahrheitbeweis nicht geftattet worden. Wenigftens
wurde mein Antrag abgelehnt, den Direktor der Sächſiſchen Bank unter feinem
Eid zu vernehmen. Dieſer Beſchluß wurde in zweiter Inſtanz mit der Feſt—
jtellung begründet: die Unwahrheit der von mir behaupteten Thatjache ſei durch
ichriftliche Erklärungen enwiejen, die Neichsbant und Sächſiſche Bank zu den
Alten eingereicht hätten. Nun will ich nicht etwa behaupten, daß die beeidete
Ausjage der Bankdireftoren anders gelautet hätte als die mit ihrem Namen
gezeichneten Erklärungen der Banken. Yag aber eine beichworene Ausjage — iu
weldhem Sinn aud immer — vor, dann war mir die Zunge gelöjt; ich wäre
von der Pflicht, das Nedaktiongeheimniß zu wahren, entbunden gewejen und
hätte dem Ehrengericht den Sachverhalt genau jchildern können. Dann aber wäre
ich ficher freigeiprochen worden. Ich werde mid; trogdem nun bemühen, die Wahr»
heit an den Tag zu bringen; und cs wird jich zeigen, daß id) entweder von
einem Berufsgenoffen mit einer im journaliftifchen Betrieb jeltenen Dreiftigkeit
getäujcht oder zum Opfer eines geſchäftlichen Halunfenftreiches gemacht worden bin,
den ſelbſt meine Skepſis nicht jofort durchichauen fonnte. Porläufig kann ich den
Thatbejtand nicht bis ins Einzelne aufflären; nur einen Irrthum möchte ich
bejeitigen, der auch in große Zeitungen Eingang gefunden bat. Ich ſoll fahr:
läjlig aehandelt haben, weil ich eine mir von einem Anderen überbradjte Nachricht
ohne Weiteres als glaubwürdig hinnahm. Die Sade liegt aber anders. Ich
hatte einen Berichteritatter, dem der Verlag der von mir redigirten Zeitung
Honorar und hohe Spejen bezahlte, mit dem Auftrag nad) Dresden gejchidt, die
Wahrheit über mir zu Chren gekommene Gerüchte fejtzuftellen. In einem
langen Brief theilte mir diefer Herr den Wortlaut eines Interviews mit, das
er mit einer in diefer Sache als Autorität geltenden Perſönlichkeit gehabt hatte.
Ich hatte jchon vorher Gründe gehabt, die Gerüchte über die Dresdener Banf
für wahr zu halten; erit nad) dem Empfang diejes Briefes aber und nad) ge-
willen Andeutungen, die der Reichsbankpräſident in einer Sitzung des Central—
ausſchuſſes machte, veröffentlichte ich die inkriminirte Notiz.
Auch mit dem geltenden Recht jcheint das Urtheil mir unvereinbar;
wichtiger aber als die perjönliche dünkt mich die grumdjäßliche Bedeutung der
484 Die Zukunft,
Sade. Das Verhältnii zwiichen Börſe und Preſſe ift in den Berbandlungen
jo grell beleuchtet worden, daß ein Wort darüber nöthig iſt.
Jeder, der ſich in den Geift hineindenkt, aus dem das Börjengejeg hervor:
ging, muß die Thatjache ungeheuerlich finden, da ein Baragraph dieſes Geſetzes
benußt wird, um der Preſſe die freie Börſenkritik zu beſchränken und dad der Inhaber
eines hohen Reichsamtes dieje Beſchränkung als Richter verlünden kann. Die deut⸗
ichen Börjen waren nie in dem Maß wie etwa die englifchen rein private Veran-
jtaltungen; fie waren eigentlich immer öffentliche Märkte. Doch will ich zugeben,
daß die öffentlich-rechtliche Stellung unſerer Börfe früher nicht ſcharf genug ab-
gegrenzt war. Durd) das Börjengejeß aber ift fie zu einer Einrichtung geworden,
an der nicht nur eine Clique ein Intereſſe hat, jondern die Öffentlich funktioniren ſoll.
Auch hier, wie bei allen öffentlichen Tinftitutionen, muß aljo das Recht der
Kritik unbejchränkt jein. Nun hat freilich der Staatsfommijjar, dem die Kon—
ſequenzen des erſten Urtheiles wohl auch Bedenken erregten, gegen meine Ver—
theidigung eingewandt, es handle ſich nicht um eine Bejchränfung der Kritik;
mein Berjchulden fei darin zu jehen, daß ich unrichtige Thatſachen verbreitet
und — Das falle bejonders ſchwer ins Gewicht — trog dem Dementi der
Dresdener Bank aufrecht erhalten habe. Auch die Richter erſter Inſtanz ſchienen
mein Kapitalverbrechen in der Nachichrift zur Berichtigung der Dresdener Banf
zu finden. Nicht die Verbreitung der angeblich falichen Thatjadhe aljo, jondern
die an die Berichtigung gefnüpfte Kritik hat mich ftrafbar gemadt. Es war
aber mein autes Recht, der Beridtigung zu mißtrauen. Im Urtheil wird ge-
jagt: „Daß der Beichuldigte glaubte, diefer Bank Unaufrichtigfeit in anderen
Dingen vorwerfen zu dürfen, berechtigte ihn noch nicht, die Behauptung ihrer
Berichtigung von vorn herein als unmwahr, dagegen die des Storrejpondenten als
wahr anzuerkennen.“ Das ift nicht viel mehr als eine Hedensart. Ich Habe
in meiner Berufungichrift genau begründet, weshalb ich alle Kundgebungen der
Dresdener Bank als unwahr zu betrachten pflege, bis mir der Gegenbeweis er-
bracht ift. Ich habe fejtgeitellt, daß ich mehr als einmal in der Preſſe mit
vollem Namen der Dresdener Bank Bilanzverfcleierungen vorgeworfen habe,
ohne daß fie auf die ſcharf prägifirten Vorwürfe jemals geantwortet hat; gegen
ein Eeines Berjchen aber wurde der Dementirapparat in Bewegung gelegt.
Auch habe ich auf die jeltiame Art hingewiejen, wie die Dresdener Bank in
Zaden der Hannoverſchen Straßenbahn zu beriditigen pflegte. Gegen Ver—
dächtigungen, die meinen Kritiken unfachliche Motive zujchreiben möchten, brauche
ich mich nicht zu vertheidigen. Seit meinem Eintritt in die Journaliſtik habe
ich die Bilanzen der Dresdener Bank jtets jcharf kritifirt; ich jagte bei der vor-
legten Bilanz voraus, eine Krifis werde die Bank ungerüftet finden. Da alfo
die Meldung des nad) Dresden geſchickten Berichterftatter8 meinen längjt ge
hegten Berdadıt nur beitätigte, war ich zur Wiedergabe der angeblich falſchen
Ihatjachen berechtigt; un dbei meiner Anficht von der Glaubwürdigkeit der Dres
dener Bank konnte mir, wenn ich ihrer Berichtigung mißtraute, der „gute
Glaube“ nicht abgeſprochen werden.
Weniger als der Staatstommilfar waren die mid) richtenden Börjen:
herren — unter ihnen war aud) der liberale Reichstagsabgeordnete Frefe — um
die ‚freiheit der Aritif bejorat. Sie meinten, ein Journaliſt, der an der Börſe
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Borſe umd” Preſſe. 485
verkehre, müſſe ſich hüten, ein an der Börſe vertretenes Inſtitut zu verun—
glimpfen. Das kann doch nur heißen: Es iſt gleichgiltig, ob ſolche „Verun—
glimpfung“ durch die Behauptung wahrer oder falſcher Thatſachen oder über—
haupt durch ſcharfe Kritik bewirkt wird. Der Journaliſt hat eben Alles zu
meiden, was den Börſenleuten unbequem ſein könnte; ſonſt wird er hinaus—
geworfen. Wo iſt da die Grenze zu ziehen? Man ſtelle ſich vor, die Leipziger
Bank oder die Herren Sanden, Schulz und Romeick hätten einige Wochen vor
ihrem Zuſammenbruch einen Strafantrag gegen mich geſtellt: das Börſenehren—
gericht hätte mich verurtheilt, denn ich habe mich ja nicht gehütet, ein an der
Börje vertretenes Anftitut zu verunglimpfen. Zwei, drei Wocden nad dem
Urtheilsiprud; wären dann die Zufammenbrüde gefommen. Die Frankfurter
Beitung rühmt ſich mit Necht ihres Vorgehens gegen die Preußiſche Hypotheken—
bank; Jahre lang aber haben ihre Angriffe diefem Inſtitut nicht das Anſehen
zu rauben vermodt. Herr Sanden hatte nur nicht den Muth, der zur Un—
redlichfeit gehört; jonjt hätte er die Frankfurter Zeitung angeklagt und vor dem
Ehrengeriht wahriheinlid die Werurtheilung durchgefeßt. Die moralifchen
Werthurtheile der Börjenleute richten fich ‚eben nad) dem Erfolg. Als id) die
Treppe zum Börſenehrengericht binaufjtieg, Elopfte mid ein guter Freund auf
die Schulter und prophezeite: „Du befommjt Unrecht, denn die Aktien der
Dresdener Bank find inzwijchen um zwanzig Prozent gejtiegen.“
Mein Glaube, das Urtheil werde überall, aud) da, wo man meine An—
fihten nicht billigt, getadelt werden, hat fich als Irrthum erwiejen. Die Preffe
blieb recht jtill. Am Berliner Tageblatt und, wenn auch mit für mich wenig
jchmeichelhaften Worten, in der Frankfurter Zeitung wurde gegen den Sprud)
proteftirt. Einzelne jozialdemofratiiche Blätter — leider nicht der „Borwärts" —
haben auf die prinzipielle Bedeutung der Sade hingewiefen. Sonft: tiefes
Schweigen im Blätterwald; jelbjt in der Gentrumsprefje, die dod) Grund hätte,
den Standpuntt meiner Richter zu bekämpfen. Vielleicht halten die meijten
Nedakteure die Urtheilsbegründung für jo verfehlt, daß fie eine Wiederholung
jolden Spruches nicht fürdten. Ich bin anderer Meinung. Der Weg ift jeßt
frei und die Inſtitute, die fich in ihren geſchäftlichen Manipulationen geftört
fehen, werden gegen unbequeme Sritifer fünftig öfter als bisher das Ehren»
gericht anrufen. Die Leiter der Dresdener Bank haben ja offen gejagt, fie
fönnten mich vor dem Strafrichter nicht fallen und möchten deshalb ein Forum
baben, vor dem die Grundlofigfeit meiner Angriffe nachzuweiſen wäre. Das
Ehrengericht ift allerdings das dazu geeignetite Forum. Ein journaliſtiſch Sad):
verftändiger war nicht herangezogen; und wenn Kaufleute über Yeitungjchreiber,
die Kritifirten über den Kritiker zu Gericht ſitzen, kann man fi das Urtheil
vorausdenfen. Ein aus Journaliſten zulammengejeßtes Ehrengericht hätte mid)
freigefprochen. Der Verweis, den ich für unberechtigt halte, ift mir gleichgiltig
und ich hätte über den Prozeß gar nichts mehr gejagt, wenn mir nicht darum
zu thun wäre, zu zeigen, mit welden Mitteln man der Preſſe das Net zur
Börjenfritif weit über die vom Strajgejeß gezogene Grenze hinaus zu ſchmälern
verſucht. Solcher Verſuch ift auf diefem Gebiet für das große Publikum doppelt
gefährlih. Denn die allermeilten Tournalijten, die fih mit Börjenvorgängen
befchäftigen, beten in tiefer E&rfurdht die Haute Finance an und die Wafchzettel
486 Die Zukunft.
der Banken jorgen dafür, da die Börjenberihte nad dem Wunſch der Mächtigen
gefärbt werden. Das Ghrengeriht hat ausdrüdlid erflärt: Die Kournaliften
find Gäſte der Börje, die ſich vor der Verlegung des Gajtrechtes zu hüten haben.
Das Schlimmite an diefer Auffaffung ift, daß jie berechtigt jcheinen kann, zwar
nicht nad) dem Börfengejeß, aber nad) der vom Reichstanzler genehmigten berliner
Böeſenordnung, deren fünfzehnter Baragraph jagt: „Die Börfeneinlaßfarte darf
nad dem Ermeſſen des Börjenvorjtandes ertheilt umd wieder entzogen werden:
€. Berichterjtattern der Preſſe.“ Danach müßte ich mich eigentlich noch dafür
bedanken, da man Etwas wie ein Gerichtsverfahren eingeleitet und mich nicht
einfach, als einen gemeingefährlihen Störenfried, aus den Deiligen Ballen ge—
wiejen hat. Soll aber eine Ordnung, die Solches geftattet, zum Schaden des
Publikums auc ferner noch unangetajtet bleiben ? Georg Bernhard,
rn |
Notizbuch.
ie Mona lang werden die Deutjchen nun ohne das weile Walten des Reichs—
tages ausfommen müſſen. Zu ihrer Beluftigung bleibt nur die Zolltarif-
kommiſſion in der Dauptitadt zurüd, das Häuflein der gut bezahlten Männer, die
noch immer einen überflüjigen Mangel an Wig entblößen, um einen Tarif umzu—
geitalten, der niemals Gejeß werden joll. Bor der Vertagung fam es zu einem Ge-
plänkel zwifchen dem Neichsfanzler und dem Abgeordneten Fürſten Bismard. Die
Brüffeler Zuderfonvention, die von den meiften deutfchen Landwirthen für unheilvoll
gehalten wird, wurde in dritter Yejung berathen und Fürſt Bismard hatte einen
Antrag unterjchrieben, der die Geltungdauer des durd) die Konvention gejchaffenen
Zuftandes von der Zuſtimmung des Neichstages abhängig machen wollte. Einen
Antrag alio, der gerade den Demofraten, den Anwälten verjtärfter Barlamentsmacht
gefallen müßte. Der freifinnige Abgeordnete Barth) aber, der fich in der Zeit der Erd—
ballinpolitif jadht ministrable werden fühlt und gern zeigen möchte, daß aud) er und
ſeineFreunde zu „pofitiver Arbeit“ zu brauchen find, höhnte denKollegen Bismarck, weil
ercinen Antrag unterjchrichen habe, den fein Bater ficher verworfen hätte. Der Ange:
griffene eriderterubia,erfönneperen Barth, der den erſten Kanzler ſtets befehdet habe,
nicht als legitimirten Dolmetich bismardiicher Gedanfen anertennen; dem Antrag
habe er zugeftinmt, weil dietonvention ihm „ein Sprung ins Dunfel“ ſcheine; und
wer den Namen feines Vaters hier nenne, dürfe nicht vergeffen, daß andere Zeiten
waren, als Otto Bisinard die deutichen Intereſſen vertrat. Darob erbleihte am
Bundesrathstiſch Graf Bernhard von Bülow. Andere Zeiten? Eben erft hatte
er dod) ins Yand gerufen, von allen Großmächten fei nur Deutſchland in neidens-
werth glüdlicher Yage. Vielleicht war ihm, der nicht mehr allzu feft jigt, die
Gelegenheit willkanmen, mit dem mißliebigen Abgeordneten für Jerichow die
Klinge zu kreuzen. Er habe, ſprach er und wie mühſam unterdrücktes Schluch—
zen klang es durch ſeine Rede, er habe die Vorlage nicht zur Durchpeitſchung
empfohlen, ſondern dem Reichstag Zeit gelaſſen, ihm ein ungeheures Material
Notizbuch. 487
zugänglich gemacht, und wer jetzt noch von einem Sprung ins Dunkel ſprechen
wolle... „An Dem“, ſchrie von links her die Kanzlergarde, „iſt Hopfen und Malz
verloren.“ Fürſt Bismard aber antwortete fühl, das „ungeheure Mtaterial“
liege dem Reichstag noch nicht lange genug vor, um ein jo ficheres Urtheil zu er-
möglichen, wie der ſehr jachverftändige Herr Reichskanzler (‚Heiterkeit rechts’‘) es
ſich wahrjcheinlich gebildet habe; für ihn falle ins Gewicht, daß ungefähr jiebenzig
Zuderfabrifanten fid) gegen die Konvention erklärt haben, deren Geltungdauer er
deshalb bejchränft jehen wolle. Das war das Stichwort für den Diagonalfanzler.
Als erjier Beamter des Reiches, rief er, habe ich nicht die Intereſſen der Zucker—
fabriken, jondern die der Allgemeinheit zu vertreten. Ein Jubelgebrüll aller Cob—
deniten begrüßte die alte Phraje. Mit einer Gelaffenheit, die er früher oft vermifien
ließ, fagte Fürſt Bismard, auch er jei an Zuderfabrifen nicht interefjirt, halte das
Urtheil Sacverjtändiger aber für werthvoll und wundere ji, aus dem Munde des
Stanzlers jo jelbitverftändliche Poitulate zu hören wie das von der Wahrung der
allgemeinen Intereſſen. Jeder Abgeordnete hat das Recht, hat, wenn die Ueber:
zeugung ihn drängt, jogar die Pflicht, in jedem Stadium der Berathungen zu ers
flären: Ich kann diefer Vorlage nicht oder wenigitens nicht für längere Zeit zu—
jtimmen, weil id) die Möglichkeiten ihrer Wirkung noch nicht zu beurtheilen vermag.
Fürſt Bismard war aljo im Net; und es wäre zu wünjchen, daß er öfter mit jo
ruhiger Entichiedenheit jeine Stimme erhöbe. Nur wird über fein Staunen Mancher
geftaunt haben. Graf Bülow hat die berechtigte Eigenthümlichkeit, gern auf Gemein-
plägen zu weilen. Das iſt befannt und deshalb jollte Niemand fich wundern, wenn
er dein Kanzler auf dem Jahrmarkt begegnet, indeflen Buden die allgemeinen Inter—
eſſen angepriejen werben. Die giebt e8 zwar nicht — kaum ein einziges Intereſſe,
nicht einmal das der nationalen Vertheidigung, ift allen Söhnen eines Volkes ge-
meinfam —, aber fie jpielen in der Prefje eine große Holle und ein jo eifriger Zei-
tungleferund Zeitungpolititer wie Graf Bülow weiß, dad fie ihm jtets ein Appläuschen
bringen. Item : wir jind den Reichstag bis zum Spätherbjt [os und können uns den
Sommer hindurd an der Wonne weiden, einen Kanzler zu haben, der erftens „die
Politik der Diagonale‘ treiben, zweitens, wie weiland Herr Paris, der ſchönſten
Göttin denApfel reichen und drittens die „interejfen der Allgemeinheit‘ vertreten will.
* *
*
Der kleine Artikel, den die Malerin Frau Sabine Lepfius im erſten Juni—
heft veröffentlichte, hat eben ſo viel Widerſpruch wie Zuſtimmung gefunden. Aus
einem Brief des Herrn Dr. Edmund Friedeberg ſeien hier einige Sätze abgedrudt:
„rau Sabine Lepfins fragt, mit welchem Recht man dem Menichen, der
gern helfen würde, den Anblid des Berhungernden fernhält, und fie giebt ſich ſelbſt
die ‚offizielle‘ Antwort darauf, daß man Vereinen und nicht Bettlern geben folle.
Ich will verjuchen, diefe offizielle Antwort zu ergänzen. Freilich habe id) nicht etwa
Neues zu jagen. Man läuft immer Gefahr, bei einer Erwiderung auf geiftvolle Pa—
radore in längit gefagte Banalitäten zu verfallen. Ich glaube aber, daß jene Worte
auch hier nicht unwiderſprochen bleiben dürfen, damit man nicht nach einem alten
Rechtsſpruch aus allgemeinem Schweigen auf allgemeine Zuftimmung ſchließe.
Ich war neulich in Taorınina. Bis dorthin it die Deeadence-Wohlthätigkeit
unjerer Zeit noch nicht gedrungen; die Stadt thut nichts für ihre Armen und läßt fie
in maleriſchen Trachten vor dem Eingang des antifen Theaters liegen. Sie bilden
488 Die Zukunft.
gewiffermaßen die Theaterdeloration. Bier kann man fich noch die Perjönlichkeiten,
denen man geben will, nah Luft und Sympathie auswählen, wie Frau Lepfius es
winjcht. Bon diejer Freiheit machen auch die Fremden ausgiebigiten Gebraud. Eine
bejonders ſympathiſch ausjehende alte Frau, die dem Vorübergchenden immer wieder
erzählt, die Luft thue fo wohl und der Hunger jo weh, jteht fich etwa eben fo gut wie
der Beſitzer des Hotels, auf deſſen Stufen fie fißt, vielleicht noch beifer, da fie geringere
Geſchäftsunkoſten hat. Ein graubärtiger Alter mit famojem Charafterfopf und zer-
lumptem Mantel — er foll ſchon von dreitaufend Kodaks verewigt fein — iſt Grund:
bejiger in dem benachbarten Mola und dort einer der höchitbeiteuerten Bürger. Ein
anderer Alter fit neben ihn; er hat feinen Schönen Kopf, feinen malerisch zerlumpten
Mantel, nicht einmal ein Efel erregendes Gebrechen; er ift zwar in Folge eines Un—
falles ganz arbeitunfäbig, aber die Konkurrenz mit der Sympathifchen und mit dem
Kodakmann kann er nicht aufuchmen. Mildthätige Einwohner des Ortes, die die
Verhältniſſe beifer kennen als die vorübereilenden Engländer, laſſen ihm manchmal
Etwas zukommen; jonjt wäre er ficher längit verhungert.
Ic glaube: hier fonnte man die Antwort auf die geftellte Frage finden. Ich
neide nicht der Sympathiichen noch dem Charafterfopf ihre hohen Einnahmen. Sie
verdienen ihr Glück mindeſtens eben jo jehr wie die forpulente Dame, die zwiſchen Ent-
fettungmarſch und Hüftmafjage Frau Yepfius bei der Ausübung ihrer bewunderten
Kunſt ftört. Ich bedaure auch nicht die Fremden, die mit dem ſchönen Gefühl ge
leifteten Wohlthuns das Theater betreten und denen es ziemlich gleichgiltig ift, was
aus dem hingeworfenen Kupfer wird. Sie find zwar jtet3 in der von Frau Lepfius
erjehnten Gefahr, ihr Geld an Unwürdige zu verichwenden; aber dieſe Gefahr wird
ſchwerlich den Reiz ihres Yebens erhöhen, weil fie nie erfahren, ob fie getäufcht worden
find. Nicht fie jind die Hineingefallenen; der ungeſchickte Alte, der es nicht verjteht,
fich richtig in Szene zu jeßen, und feine zahlreichen, zum Bettelhandwerf nicht ge-
borenen Yeidensgenofjen: Das find die Betrogenen! Das heißt in vollswirthichaft-
liher Sprade: das Wohlthätigkeitbudget des Einzelnen wie das der Geſammtheit
ijt bejchränft und jteht nahezu fejt; deshalb wird das Almojen, das der Schwindler
empfängt, dem Bedürftigen entzogen. Troß dem Bettelverbot, das übrigens fein
jo defadent- modernes ijt, Jondern, zum Beifpiel, in England feit 1388 bejteht, haben
wir in allen Großjtädten nod) ein ausreichend entwideltes Bettelwejen, an dem wir
jehen können, weldhe Elemente dabei ausschließlich auf die often fommen. Werſich
dafür interejfirt, wird in Baulians berühmten Bud: ‚Paris, qui mendie‘ amu-
fante Belehrung finden. Paulian hat nicht nur die Verhältniffe Derer unterſucht,
die ihn angebettelt haben; er hat jelbjt das Handwerkbetrieben, ift als Strüppel, als
Yahmer, Blinder und Taubftummer vor die Thitren gepilgert und hat anjehnliche
Summen eingeheimft. Und wir brauchen auf der Suche nicht bis nad) Paris zu
gehen; aud) in Berlin entziehen täglich Hunderte von profejjionellen Bettlern den
Würdigeren die für fie beſtimmten Mittel; ich erinnere nur an den angeblichen Epi-
leptifer, der jeit vielen Jahren in Berlin W. allabendlich um die Dinerzeit juft vor
ben Dänfern ohnmächtig zufammenbricht, deren erleuchtete Frenfter auf den Beginn
eines reichen Mables deuten; oder an den genialen Spradjlehrer, der im legten
Winter auf vielen hundert lithographirten Boftkarten mittheilte, daß er im Begriff
jei, vor Hunger zu jterben, und umfommen müſſe, wenn ihm nicht unverzüglich eine
Kleinigkeit gefandt werde. Die Technik des Bettelbriefjchreibens fteht in unferer
Notizbuch. 489
Zeit mindeftens auf der.Höhe modernen Mafchinenbaues und jelbft unter den armen
Wittwen, für die in Zeitungen öffentlich gefammelt wird, giebt es manche gewiegte
Zudthäuslerin. Sollte der Würdige, der nach Frau Lepfius vor lauter Würde in
feiner Kammer verhungern muß, ſolcher Konkurrenz gewachſen jein? Ich glaube,
wie bei jedem Kampf ums Dajein würde auch im Bettelmettbewerb der Schwächſte
unterliegen. Das aber kann man nicht gerade als das Ziel einer Armenpflege bezeichnen.
Dod ic fürchte, offene Thüren einzurennen. Das Bettelverbot, das längſt
in allen civilifirten Ländern bejteht, bedarf meiner Bertheidigung nicht; auch zweifle
ich, ob Frau Lepſius ernfthaft beabfichtigte, für eine allgemeine Freigabe des Straßen:
und Hausbettelns einzutreten. Sie hat nur ein Problem aufgeftellt, das thatſächlich
noch befriebigender Yöjung harrt: Wie kann die Sympathie, wörtlich überjeßt: das
Mit-Leid, das ung der Unblid Darbender entloct, vernunftgemäß zu ihren Gunften
ausgenüßt werden? Die Löjung wird in anderer Richtung zu fuchen fein; wirklich
moderne Wohlthätigkeit hat fie angebahnt durch die Ausgeftaltung pflegerifcher
Thätigfeit. Wer fi) das frohe Gefühl verichaffen will, Hunger zu ftillen, wer nicht
nur jeinen Namen auf Lilten zeichnen, jondern jelbft theilhaben will an der Freude
des Empfangenden, Der laffe fich von dem Armenvorjteher jeines Bezirkes oder von
einem ‚Verein‘, der wahre Armenpflege treibt (wie die Ausfunftjtelle der Deutjchen
Gejellichaft für ethiiche Kultur in Berlin, die Vereinigung der Wohlthätigfeitbe-
jtrebungen von Charlottenburg, die Centrale für private Fürſorge in Frankfurt a/M.
u. ſ. w.), eine bedürftige Familie überweijen, juche fie auf und verſuche an ihrem
Emporfommen mitzuarbeiten. Nicht durch einfaches Geldgeben, jondern durch ver»
ftändnißvolles Eingehen auf ihre Wünſche und ihre höheren Bedürfniffe. Wer Das
nicht will, weil aud dann Vorſtand und Komitee ihm unüberfteigbare Hinderniſſe
find, Der wird fi) der mühevollen Arbeit des Auffuchens würdiger Elemente jelbit
unterziehen müffen, wird jelbft die ſchwierigen Erinittelungen anzujftellen haben, die
zur Erfenntniß eines Nothitandes nun einmal unerläßlid) find und die ein Verein
ihm gern abnähme. Das dem Straßenbettler geipendete Almoſen und fein ‚Gott
lohns taufendmal!“ genügt nicht; jo billig, fcheint mir, foll heutzutage das Gefühl
erfüllter Nächftenpflicht nicht mehr erfauft werden können.“
* *
*
Herr W. Fred erbittet den Abdruck des folgenden Briefes:
„Verehrter Herr Harden, als ich vor einigen Monaten in der ‚Zukunft‘ das
Wort vom ‚Krach des unftgewerbes‘ wagte, befam ich von ungebetenen Korrefpon:
denten Allerlei zu hören. An die wenigen Briefe der Zuftimmmung fchloffen fich die
vielen verärgerten Zufchriften Jener, deren Gejchäft bedroht ſchien. Mancher Künftler
wußte ſchmerzliche Ergänzungen zu geben. Ein Architekt, deſſen Interieur jet in
der Großen Kunftausftellung zu fehen ift, trug mir den Beweis an, daß er die Aus—
führung jeiner Entwürfe durch allererte Fabrikanten erjt erreicht habe, als er auf
jedes Honorar, jogar auf jede Betheiligung am Gewinn verzichtet hatte. Andere
wiejen auf die verderbliche Wirkung der Preſſe hin, tadelten die Fachpreſſe, die um
des Rechtes zu Abbildungen wegen, die dann als unbezahlte Vorlagen den Eopir-
wüthigen Fabrikanten zu dienen haben, fic des Nechtes und oft der Möglichkeit zur
gewiſſenhaften Kritik entfchlagen müfjen. Ein vielgelobter norddeuticher Künftler
hatte den Muth, von mir zu verlangen, ich folle ihm meine Kritik vor dem Erjcheinen
vorlegen. Der Herausgeber einer weitverbreiteten deutſchen Kunſtzeitſchrift trägt
490 Die Zukunft.
einem Künſtler an: wenn er das Reproduktionrecht für ſeine Arbeiten ertheile, dürfe
er fich den Nezenjenten wählen. Das find Anmerkungen über die Einflüffe der Preſſe
auf die Entwidelung des Kunfthandwerts. Die Kritik der Tagesprejje könnte ein
beionderes Kapitel füllen. Immer wieder liejt und jchreibt man von der Erziehung
des Volkes zur Kunft; die Blätter mit den Maffenauflagen aber thun ihr Beſtes,
um jedes Kunſtgefühl des u zu erjtiden.“
Ort der Handlung: der ———— des berliner Landgerichtes. In
dem für den Angeklagten beſtimmten Raum liegt auf einer Matratze, an die er ge—
ſchnallt tft, unter einer Dede, die jeine Wunden verhüllt, ein Menſch. Nur der blaſſe
Kopf und die unruhig zudenden Hände find fihtbar. Ohne dieje nervöje Bewegung
der Hände, melden die Reporter, fönnte man glauben, daß ein Toter auf dem im:
propifirten Pager ruht; und fie fügen hinzu, nur mit der Hilfe von Schugleuten und
Serichtsdienern habe der Mann fich aufzurichten vermocdt. it das Tribunal zum
Spital geworden? Nein: der leidende Menſch, der da liegt, ift der Ugent Thomaſchke,
der im Unterfuhungsgefängniß gejtern einen Selbftmordverfuc gemacht hat und
der heute in den Schwurgerichtsjaal geihleppt worden ift, um fic gegen die Anklage
zu vertheidigen, einen Wucherergemordet zuhaben. Wäre die Schilderung einer jolchen
Szene aus Rußland oder gar aus Pretoria gefommen, dann hätten die Zeitungen
ihrem Entjegen beredten Ausdrud gegeben. Daß in Berlin ein fiecher, erichöpfter,
der Herrſchaft über ſeinen Körper beraubter Menſch vor Staatsanwalt, Gerichtshof
und Jury um ſein armes Leben zu kämpfen alte, ſchien nicht der Rede werth.
Der Deutſche Kaiſer rügt in einer Feftrede mit weithin fchallender Stimme
den „polniichen Uebermuth“, gegen den alle Deutichen ſich waffnen müßten, und
wird im djterreichiichen Reichsrath von jlavifchen Politikern, die ſolche Generali:
firung ungerecht dünkt, in der dort üblichen rohen Tonart geſcholten. Der Erbe der
Bayernfrone kehrt, nachdem er in Mannheim eine landwirtbichaftlicde Ausstellung
bejehen hat, in Ludwigshafen ein und jagt in einer Tifchrede: „Ich komme heute
von einem jchönen Frledhen Erde, das man uns dor Hundert Jahren gewaltjam
entriffen hat.” Dean: nämlid die zähringer oder hochberger Beherrſcher des Groß—
herzogthums Baden. Uns: nämlid) den Wittelgbachern, denen die einft Eurpfälzifche
Dauptjtadt von den einem Haren verſchwägerten badischen Herren genommen ward.
Ein Dann, dermorgen Jonverainer deuticher Bundesfürjt fein fann, erinnert Öffentlich
alfo an die Zeit des deutjchen Partikularhaders und an den Unglimpf, den feinem Ge
Schlecht eines anderen deutſchen Bundesfürjten Ahn angethan hat. Der Kanzler des
Deutſchen Neiches hält den europäischen Großmächten ein Negilter ihrer Sünden und
Schwächen vor und wird darob in der ausländischen Preſſe geſchmäht und verjpottet.
Fin Staatsjetretär ladet einen engliichen Journaliſten zu einem „Bierabend“. Ein
anderer Staatsiefretär foramirt den Gaſt feines Kollegen beim Bier und befchuldigt
ihn in harten Worten, das qute Verhältniß, das zwiſchen Deutjchland und Groß—
britanien Jo lange beitand, durch jeine Berichte verdborben zu haben. Und biejer
Staatsjefretär ift der im Auswärtigen Amt mwaltende, von dem man ſich bes feinften
Diplomatentaftes verjehen zu dürfen glaubte. Die hier erwähnten Ereignifje haben
ſich in den beiden erjten Juniwochen abgeſpielt. Für vier sehn T Tage iſts genug.
Herausgeber u und verantwortlicher Ne atteı 11: M. Harden in Berlin. - _ — Verlag der Zufunft in Berlin,
Drud von Abert Damde in Berlin-Schöneberg.
= 77
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* — / (% F N\
yE Die Zufunft. | eu
Berlin, den 28. Juni 1902. 4
Moris und Nina.
Kreſſin, Achatius 1902.
Viellieber Bruder und (nicht viel) Senior!
Sy aud) immer Recht behältjt! Sogar mit dem Tretgöpel; worüber
der Herr unjerer Fideilommißwirthſchaft Näheres melden wird, Und
überhaupt. Auf die Dauer wirds eflig. Man traut ich ſchließlich ſelbſt nicht
mehr; und was habe ic) verfchrumpelte Pommeranze noch vom Yeben, wenn
ich mein Urtheil, wie eine ſchiefe Schulter, einem hohen Adel und verehrlichen
Publiko verbergen muß? So oft ic) Deine faum nod) jtandesgemäßen pattes
de mouche auf dem Couvert jehe (jehr oft iſts ja nicht), überläufts mid):
wieder ein Triumphgejang; wieder der Beweis, daß Deine Ergebenjte be—
rufen gewejen wäre, zur Rettung des Kapitol3 mitzuwirken. Ende Februar, |
als id) Diarie bei Euch und anderen Möglichen tanzen lieh (das lange |
Würmchen träumt noch von der partie fine bei Briftol), war id) jo ſieges—
gewiß; und al3 wir, zum Abjchied, in der Nacht vor dem Bismardtag in
Deinem Berliner Zimmer ſaßen, zwiſchen Büfte und Bild des letzten Märkers,
und Deine frühe Probemobilmachung der Kiebitze reſpektvoll anſtaunten, da
habt Ihr mich nicht untergekriegt. Du nicht und Adolf erſt recht nicht. We
Euch damals wimmern hörte, mußte wirklich glauben, Preußen pfeife —
auf dem letzten Loch und Alles, was man aus der Kinderſtube jo in ſeine
grauen Jahre gerettet hat, werde übermorgen unter den Hanımer fonımen,
Aber es jap nicht. Ich war in Form, wie unfere Gentauren ja wohl jagen,
492 Die Zukunft.
und am Ende mußteſt Du der ftörrigen Schweiter einen Knids machen und,
nach einer wehmüthigen Chamade, den Degen einfteden. Hatteſt übrigens
gut gepauft und brauchteft Dir feinen Vorwurf zu machen. Gegen Schwär-
mer (bitte: Schwärmer!) fämpfen Götter jelbft vergebens. Das war mein
Fall; und ic) ſchäme mich nicht mal. Wenn man das Bischen angenehmen
Irrthum nicht mehr hätte, dann Lieber gleic) in die Klappe. Es war meine
bejte Zeit. Ich lieh Adolf grienen, zudte nicht, wenn er hier den Nachbarn
erzählte, mein wohlinformirter Herr Bruder fei anderer Meinung als ich;
und hoffte. Der große Umſchwung mußte fommen. Und id) würde die Auf:
erftehung der alten Preußenherrlichkeit nod) erleben. Zum erften Mal feit
viertaufend Lenzen freute ich mich wieder auf die Frühjahrshüte.
Sonne, wo biſt Du geblieben? Seit Wochen kann man fein anftän-
diges Stüd anziehen; die neue Federboa hat jic von der Durchweichung
noch nicht erholt. Ließe fich ertragen, wenn die innere Stimmung nicht jo
troftlo8 wäre. Im wahrſten Sinn. Wen habe ich denn ? Dem Mädel kann
ich die paar Illuſionen dohnicht aus dem Blondkopf plärren. Und der rothe
Adolf? Nein, danke; je viens d’en prendre. Der gudt mich immer fo
lauernd an, als müßte ich ihm in der nächſten Viertelftunde um den Hals
fallen und rufen: „Du hatteft ja jo Recht, mein hoher Herr!“ Wird aber
nichtS; weder um den Hals nod) Herr. Fehlte mir gerade noch. Er läuft
jchon jetzt rum wie der Hahn auf dem nüglichen Haufen. Und als er vor-
gejtern die Kampherſäckchen aus feinem Majorsrod nahm und auf meinen
fragenden DBli mit liſtigen Aeuglein flötete: „Bülow ift Oberft ge-
worden!” ... Ich fand fein Wort. Der zweite Fall in unjerer Armee, jagt
er; den erften Sprung madıte Bismard in Böhmen. Das ging. Bülows
Berdienfte um dieArmee find mir Thörin fchleierhaft. Und id) fann Deinem
Schwager nicht verdenfen, daß er nicht weiter mitjpielen will.
Warſt Du wenigftens in Bonn? Oder unentwegt Berlin NW, ?
Muß jetst doc) zum Auswachſen fein. Selbjt die eremplarifch geduldige Lotte
ſeufzt brieflic) und weiß nicht, was Did) eigentlich fo lange im Hanfaviertel
fejthält. Die verfchtedenen Raifonnirbuden find ja geichloffen. Die ver-
iprochene Herrenhausrede haft Du Dir aud) verfniffen. Willft am Ende
was werden? Aber jett wirds bi8 Neval ja unpolitiih. Schonzeit für Er-
cellenzen, Gott jei Dank! Denn was die letzte Zeit an Politiſchem brachte,
fonnte Unfereinen auf die höchſten Afazien treiben.
Du haft alfo Necht behalten. Mit den Buren. Mit Bülow. Mit
Zoll, Zuder et le reste. Schließlich, wie ich via Möbelmaple höre, auch
Morig und Nina, 493
noch die Wette gewonnen, daß His Majesty nicht im Juni gekrönt werden
wird. Wir Eriegen Feine anftändigen Handelsverträge und können jehen, wie
wir uns aus der Batjche helfen. Wir find der „arme Adel”, mit dem nichts
mehr anzufangen ift. Soldye Worte follen jegt jede Woche fallen. Glissons
... Kuno (nit Tü-Tü natürlich, dem wohl, troß dem Generalmajor, die
Scheidungsgeſchichte noch böjes Blut macht und der Anfichten überhaupt
nicht risfirt) ſchwört Stein und Bein, diesmal fämen die Liberalen wirklich
dran; der Herr Ballin und Konforten. Daun würden wir erft was erleben.
Ich bin nicht neugierig, halte aber, feit der fanfte Bernhard im Landtag fo
patzig geworden ift, Alles für möglich. Den jchlimmften Stoß hat mir der
Burenfriede gegeben. Woran joll man noch glauben? Die Sache ftand gut,
die engliiche Sippfchaft hätte e8 feine jehs Monate mehr ausgehalten: da
lafjen die Leute fich mit ſchönen Redensarten fangen; oder mit Geld? Weiter
hört man ja nichts mehr. Der gottverdammte Mammon regirt die Welt.
Lächle nur und nenne mich wieder eine jentimentale Dame mit Runfelrüben-
fultur. Ehe ich mich dazu hergäbe, am Tiſch Deiner Mafchinenfrigen und
Geldjuden zu fiten, würde ic) mir als Scheuerfrau mein Brot verdienen.
Wie man ift, muß man verbraucht werden. Englands „Sieg“ ift die tollite
Schande. Und feiner von Eud) Helden hat den Finger gerührt.
Du Schüttelft daS weiſe Haupt, weil ich Trübjal blafe. „Paßt nicht
für Did) Boruſſenwoman.“ Gewiß nicht. Wäre auch gern mit dem Herzen
dabei und habe mir Mühe genug gegeben, Lichtpunfte zu finden. Marien-
burger Rede (Du weißt ja: auf die Polafen hatte id) immer einen Zahn).
Auch Aachen, trogdem ich mit Karl dem Großen, von wegen der Bielweiberet
und der fchlechten Töchtererziehung, nicht3 Rechtes im Sinn habe und mein
gut Iutherijches Herz für den Statthalter Petri feinen Plat hat. Aber es
Hang doch wie eine Abjage an die Waiferpolitif. Und Adolf mußte den Kan-
didaten gleid) alarmiren, damit er das Schöne Glaubensbekenntniß unferes
Herrn in die nächite Sonntagspredigt bringt. Daß der langitielige Thielen
endlic) geht, hat mich auch einen halben Regentag lang vergnügt gemacht.
(Sonft feine Aenderung in Sicht? Schade.) Biel iſts nicht. Ich rüfte ab.
So ſehr Alles mich freut, was S. M. über die glorreiche Zufunftder Deutichen
jagt: Schwarz-Weiß-Roth war nie meine Yieblingscouleur. Für mich muß
es nicht das ganze Deutjchland fein. Und ſchwarz-weiße Hoffnungen bringt
jelbjt meine Unvermüftlichkeit jeit der leiten Enttäufhung nicht mehr auf.
Sieht mar jich auf diefer Erde noch mal? An Berlin habe id) mir
vorläufig den Magen verdorben; theils dieferhalb, teils außerdem. Mit
37°
494 Die Zufumft.
Eurer Oper könnt Ihr feinen Staat madjen und die übergefchnappte Ro—
manpuppe, die der Herr Sudermann für eine oſtpreußiſche Gräfin ausgiebt,
hat mir den Theaterappetit gründlid) vertrieben. WBielleicht im Oktober
Paris, wenns langt. Jedenfalls wollen wir jparen. Höchſtens ein Bischen
Ditiee, die dem Jungen immer anjchlug. Wäre id) Dir nicht die gleichgil-
tigjte Kreatur, dann würde id) Did bitten, Did) geneigteft für ein Weilchen
nach Bommerland zubemühen. Schon um Deinem allmädhtigen Inſpektor
zu zeigen, daß Du nod) lebſt; und man könnte ſich Allerlei von der Scele
ſchwatzen. Aber meine Epiftel wird Dich abſchrecken. Melandpolie ift nicht
Dein genre. Na, im Berfehr mit meinem Kirchenpatronund Nevolutionär
(der grüßt) würdeft Du über Mangel an Heiterkeit nicht zu lagen haben.
Veberlege. Und wenn nicht, Schicke Yotte (mille choses!), die jid) bier
wohler fühlen wird als in Gaftein zwischen Deinen diplomatischen Greifen.
Wir wollen rechtichaffen hausfraulid) jein und die Politik in den Fliegen—
Ichranf jchliegen, E8 wird Zeit. Hätte ichs nur früher gethan! Deine Schuld
wars nicht, jondern die
Deiner noch immer unflugen,
doch nicht mehr vergnügten Schwejter
Nina.
Berlin, am Fohannistag.
Dunfelfte aller Goldreinetten,
Der lieder wars: Johannisnacht.
Kun aber fan \Johannistag!
Er kam wirflih. Und mit ihm der Wunſch, Dich, den Trojt meines
Alters, wieder jo luftig, fo ruchlos optimiftisch zu jehen wie an manchem frü-
heren midsummerday, wo die Welt auch nicht mit Nofen und Bonbons
geprlaftertwar. Komm. Wir wollen unfere Gräber, die Ruheſtätten unferer
Kinderträume, mit Blumen ſchmücken, einen Pferdelopf ins Kohannisfeuer
werfen, ganz heidniſch, und dann ganz chriftlich dem Herrgott danken, day
wir nicht fürs Heilige Römiſche Reich zu ſorgen brauchen. Im Ernit: wir
brauchens nicht. Das vergifieft Du immer. Daher der jtete Wechjel zwischen
himmelhoch jauchzend und zum Zode betrübt. Daher die grimmige Ver:
achtung meiner „Frivolität“. Als obs einen Zweck hätte, ſich zu jchinden,
wenn manohnmächtigiit. Mir iſts auch nicht leicht geworden ; und Xrinmphs
gefühle, wie Dein Groll jie bet mir vermuthet: nicht die Spur. Nichts Efels
hafteres als Recht behalten. Dazu gehört heutzutage gar nichts als ſchlechte
Mori und Nina. 4495
Verdauung und die übletaune, die hartnädig immer auf Zero jegt. Wenn
ic) nicht bis Mitte Yuli durch Gejchäfte hier angefchmiedet wäre — Bauteret,
Hypotheken und andere crux —, hätte id) jofort die Koffer gepadt. Weils
aber nicht fann fein, muß ich den Gichtfnoten wieder mal den Federhalter
zumuthen. Viel Hoffnung habe ich nicht. Denn an Dir fcheitern all meine
Künfte. Konnte Dich nicht befehren, als Du dem Morgenroth zujubelteit
(das ich Schon damals für Bengalfeuerwerf hielt), und werde Dich jett erſt
recht nicht in meinen Kahn loden. Aber in magnis ... Zu Deutſch: jelbit
die älteften Gecken wollen immer noch mehr, als fie fönnen.
Ich gebe Dir Alles zu. Eigentlich unnöthig, denn ic) habe es, weil
ich jo unbändig Hug bin, vorausgefagt. Du bift enttäujcht. Primo von den
Buren, die Du jchon den letsten Tommy am Darın des letsten Minenkönigs
auffnüpfen jaheft. Nun haben fie fapitulirt und Dewet, der Dir faftein kleiner
Bismard geworden war, ermahnt die Dranjebürger, in Treue dem king
unterthan zu fein (der num wohl nicht mehr lange Eduard heißen wird; die
Krönung, an die bei Lloyds ſchon vor Monaten nicht geglaubt wurde, ift
heute aud) offiziell abgefagt worden). Dein Pech, liebes Kind, daß jeder Pa-
pierverderber Dir Jahre lang glaubwürdiger jchien als Dein frere pro-
digue, den Du zu den Britenanbetern in die Wolfsichlucht warfſt. Dahin
gehörte er nicht. Aber er hat die englische Zähigfeit in der Nähe gefehen und
wußte vom erſten Augenblid an, wie die Gefchichte enden müſſe. Den Finger
hater freilich nichtgerührt. Wozudenn? Wir haben das Kriegsfeuer angefacht,
wir mußten undfonnten es löjchen und wären heuteeine hübſche Strede über
70 weg, wenn wir über den Kanal gerufen hätten: Das Ganze Halt! Die
Franzojen wären vor freude aus dem Häuschen gekommen und Väterchen
hätte fich eine neue Friedenspfeife geftopft. Es ſollte nicht fein; und für
hoffnungloje Sachen Stelle ich mich nicht heraus. Daß die armen Kerle, die
von Brüjjel aus belogen wurden, daß die dickſten Balken ſich bogen, nad):
gaben, jobald fie die Wahrheit erfuhren, war vernünftig, wenn es uns aud)
um eineSenfation gebracht hat. Frage mal Deine Bauern, ob fie Luft haben,
ſich für Ideale Schlachten zu lajjen. Ya, wenn man fie mit der Klinge ins
Teuer treibt; et encore! Woran man nod) glauben joll? An Zeitungen
jedenfalls nicht, hohe Frau; da werden die hehren Gefühle verhöfert, wird
immer irgend ein TZugendjüppchen eingerührt, das auch nicht mehr im Min—
dejten jtinft. In der Heimath ift Alles herrlich; aber draußen! General
Mercier, Viscount Kitchener, Bobedonojzew! Das Entrüftungbedürfnif
will Futter; und das wächſt nur fern von den Reichsgrenzen. Cinerlei:
496 Die Zufunft.
Dewet bleibt auch ohne Hintertreppenherois mus ein Prachtkerl. Halte Dir
das Näschen zu, wenn Tu an den Lügenfabriken vorbeigehſt, und ſpare das
Hochgefühl für Gegenftände, die Du fennft, nicht von fremden Leuten auf
Treue und Glauben hinzunehmen braudjft. Und Eduard hat ja den Fohn.
Chez nous hat nichts ſich geändert und Deine Halbmaftftimmung
fommt um jehr viele Poſttage zu jpät. Habe ich Allen gefagt, die hier Trauer:
randmienen (jchlechtefte Epelulation) umhertrugen. Was ift denn? Der
„arme Adel“ doch nicht jeit vorgeftern ausder Eonne. Natürliche und noth—
wendige Konjequenz. Deine — nicht meine — Rarteigenoffen langweilen
SM. „Klagen, nichts als Klagen, Bittjehriften, nichts als Bittſchriften!“
Der fmarte Morgan, den er nach Kiel geladen hat, fann ihm intereffantere
Dinge erzählen. Deshalb halte id) auch nichts von der großen Aftion, die
jetst heimlich verjucht wird, um unjere Leute wieder palaisrein zu machen.
Die befannten Granden an der Spike, von Udo bis zu Guido mit den zwei
Tamiliengrüften. Toutelalyre. Berjöhnung. Diagonale. Los vom B. d. v.
Kanal. Wird nicht zum erſten Mal angeſtrebert. Und zu mehr oder minder rein—
licher Scheidung muß es ja kommen, wenn auch die Blindeſten ſehen, daß der
Hochſchutzzoll vor die Hunde geht. Er iſt ſchon gegangen und würdenicht wieder—
kehren, ſelbſt wenn Bülow nicht an der Spritze bliebe. Was haſt Du plötzlich
gegen den Mann, daß Du ihm ſogar Echnürt od und Wadenſtiefel nicht gönnſt?
Redet ſich heiſer, lieſt alle Zeitungen, reift Hals über Kopf, wenns verlangt wird,
und leiſtet, was man von ihm erwarten konnte. Die Leute, die ſich im Hinter:
grund vorbereiten, ihn zu beerben, würden Dir nicht beſſer gefallen. Pod—
bielski hat mehr praktiſchen Menſchenverſtand, raſchere Auffaſſungfähigkeit
und die ganze Großhändlerei hinter ſich, kann aber die Botſchafter doch nicht,
wie die Kommerzienräthe, nedijch in die Rippen jtoßen oder beim Bierifat
hochnehmen. Und Pofadowsty, der Ernithafteite, Gebildetjte (jeine düſſel—
dorjer Rede war einzige Erquidung), hat feine Ausficht. Liberale Aera?
Möglich, trotdem die Prophezeiung jchon etwas altbaden ift; vielleicht aud)
nur ewige Vogelicheuce. Manche von ung wünschen diefe Probe; Andere
halten, mit Mallet du Pan, jolches Nechnen auf gefteigerte Verwirrung für
falſch. Natürlich krebſen auch die Verföhnlicyen mit dieſem Spuk. Seid
hr nicht artig, jo fommt der Ballin! Hofuspofus. ALS Bülow in Hu-
bertusftod mal, nur halb wohl im Scherz, hinwarf, der jüdiſche Herr der
Hamburg: Amerika - Linie fönne eines Tages ganz gut Miniſter werden,
klopfte S. M. ihn auf die Echulter und fragte: „Warum denn nicht Kanzler,
lieber Bülow?” Seitdem ſitzts in den Knochen. Ach zweifle. Nicht daran,
Mori und Nina. 497
dag man jic) noch den einen oder anderen Möller holt, der ſich dann in Frei—
heit drejjiren und blamiren mag. Aber an liberaler Firmirung. Die Ge—
jellichaft hat nichts Reelles zu bieten, fo lange jie nur ein Häufchen in die
Parlamente jchiet, und wäre mit dem Centrum nicht Leicht zufammenzus
pannen. Das aber tft die Hauptjache. Der reine Blödjinn, immer zu thun,
al3 gäbe es nur Rechts und Links. In der Mitte jigen die Mufifanten.
In Bonn war id) nicht, aber im Herrenhaus, als der Sorquitter die
Häupter der anwejenden Boruſſen, Bandalen pp. zählte. Mir wurde etwas
flau. Dur kennſt mich lange genug, um zu wiſſen, daß ich fein Froſch bin und
mit Wonne den Stürmer heute nod) auf die Platte jetste. Bebänderte Po-
litik aber mag ich nicht und finde unflug, den Demofraten ausdrücklich zu
jagen, wie Unjereiner von der Corps- zur Hofcharge den Weg gemacht hat.
Die Couleur wird jet zu oft gezeigt. Wenn die ungen den hohen Prozent-
fat der arrivistesjehen, geht die Inbefangenheit zum Deibel. Werden jchon
frühgenugdas Scyufternlernen, Einftweilen brauchen jie noch nicht8 Streb-
james zu denken, wenn der Kantus jteigt: Was fommt dort von der Höh’?
So redet Einer, der nad) jeiner Schweiter wohlüberlegter Meinung
„was werden will.“ Heiliger Fridolin! Was denn? Am Ende, wie Bis:
mard nad) 90, Oberjter der Berjchnittenen. Deshalb blieb ich auch unter
den Peers jtumm. Wollte mir nicht die Karriere verderben. Inniges Bei-
leid zu diefer Kateridee. Nein: ich redete nicht, weil ic) nichts zu jagen hatte.
Bon der Leber weg wäre es tant bien quemal gegangen. Aber manjchleppt
die Tradition num ja mal mit ſich, geht nie über eine bejtimmte Grenze hin:
aus, ift an allen Eden mit Zwirnsfäden fejtgebunden. Ziehe id) vom Yeder,
dann jollens feine Lufthiebe fein; vor der Königlichen Staatsregirung in
Ehrfurcht erfterben, ihr zwei Röslein mit drei Dörnlein überreichen: Mahl—
zeit! Höchjt verlodend, das volle Herz vor verfammeltem Kriegsvolk auszu—
fchütten; nachher aber käme man fich doc wie fahnenflüchtig vor. Das felbe
Gefühl (im Kleinen), das den Mann im Sachſenwald zurüchielt und Cha-
miſſos Wort citiren ließ: Die Situation hat für mich fein Schwert.
Hier ift es ſtill und Fottes Ungeduld nur zu begreiflich. Aufgerifjenes
Straßenpflafter, Schlechte Yuft, faum eine lohnende Whiftpartie zuſammen—
zufriegen; und vor jeder Sandfiefer die Schnjucht nad) anftändigem Laub—
wald. Es ift ein Kammer. Zähle die Tage, bis Nejerve Ruhe hat. Politik
hätte mid) nicht gehalten. Nitshewo. Thielen find wir los. Der eine Tote,
ohne den die Seffion nicht mehr fchliefen kann. Yange ſchon Blattſchuß
(kein Glückwunſch zum Siebenzigften); und der Echee mit dem homburger
498 Die Zukunft.
Bahnhof. An Talentfülle ift er nicht geftorben ; der richtige Dukendbureant-
frat, der jich enorm vorfommt, wenn er morgens in den Thiergarten reitet.
Miquel, der ihn uns bejcherte, hatte ihn im Magen; „ich weiß“, jagte er
nach der Entlaffung, „daß ich manchen Fehler gemacht habe: da geht mein
ſchlimmſter“; und wies auf Thielen, der eben den Hut vor ihm z0g. Der
Schwarze Adler fer ihm leicht. Seit Podbielski, ſehr ſchlau, abgelehnt Hat,
war Budde der propidentielle Dann. Auf jeden Fall viel befjere Nummer.
Herr Iſidor Loewe, beidem er mehr als das Doppelte eines Miniftergehaltes
hat, ſcheint ihm beurlaubt zu haben. Wäre nicht übel. Iſt er nad) drei, vier
Jahren verbraucht, dann kann er, mit Minifterpenfion, wieder Waffen fabri-
ziren. „Beurlaubt zur Dienftleiftung als königlich preußifcher Staats-
minifter.“ So muß es fommen, da Induſtrie und Bank ung die brauchbar:
jten Zeute wegfchnappt. Mammon? Stimmt. Mußt es eben leiden.
Deine anderen Lichtpunkte glänzen mir nicht allzu freundlich ins
loyule Gemüth. Fromm war ich nie und Das war mein Berderben; für die
Würdigung chriftlicher Krieger, Elektriker, Torpedojcdjleuderer fehlt mir das
Organ. Polen tft noch nicht verloren, weil man ein paartaufend Koloniften
hinlootſt; die Sache fordert eine andere Tate. Der marienburger Schladt-
ruf hat die ganze Slavenwelt mobil gemacht und ich bin noch jo altfränfijch,
daß ich den Monarchen nichtgern im Getümmel, nicht gern politijch aggreffiv
jehe. Der Glaube an das germanifche Weltimperium ift beneidenswerth,
das öffentliche Belenntnig aber nicht geeignet, uns Trreunde zu werben, zu«
mal man ung fo wie jo ſchon ausfchweifende Pläne zutraut. Uebrigens wird
der Erfahrene ſich hüten, aus Reden Scylüffe zu ziehen. Abwarten und ruhig
Blut bewahren. Das wird der allerlettten Borujfin jchwer und daher die
Thränen. Doc wir „Edelften“ find nicht mehr — verzeih, Neinette meines
Herzens, das anftöhige Wort — der Nabel der Welt. Die Karre geht weiter,
auch wenn wirunterdie Näder fommen. Ihr Schwarz: Weifendenkt: Preußen
jind wir. Das ift vorbei. Die perfönliche Leiftung, nicht der ererbte Beſitz⸗
anſpruch wird heute gewogen. Unangenehme Wahrheit, die aber gejchluckt
werden muß. Augen zu und runter damit! Paß malauf, wie Du Dich dann
wieder des Yebens freuen wirft. Trotz Adolf, dem Philofophen. Uebrigens
fannit Du Did) ja zu den frifirten Yömwen Schlagen. Sit und Stimmezwijchen
Yos und dem nicht tot zu friegenden Alfred. Werde Dirs nicht nadhtragen.
Denn Euer Liebden haben wirklich nod) einen waſſerdichten Vaſallen in
dem um wohlaffeftionirte Geſinnung bittenden Bruder und Jammermann
Morig.
Aus der Zeit der Hörigkeit. 499
Aus der Seit der Hörigkeit”).
ielleicht an feiner Stelle Deutſchlands Tagen fo fchroffe foziale Gegen-
fäge neben einander wie zwijchen Rhein und Wefer. In Kleve-Mark
war die Randbevölferung jo gut wie ganz frei, in Minden: Ravensberg jowohl
wie in Tedlenburg=Lingen zum größten Theil hörig und die Bedingungen
diefer Abhängigkeit waren drüdend genug, mochten fie immerhin meiſtens
fchriftlich firirt und auch infofern erträglicher fein, als der berechtigte Guts-
here nicht noch obenein, wie im Often, ftaatliche Rechte beſaß. Im Ganzen
betrachtet, ftand da3 mindenjche Kammer:Departement dem Dften näher als
die beiden weſtlichen Nachbarprovinzen Kleve und Mark. Der Eigenbehörige,
mie er genannt wurde, hatte dem Gutsherrn die herfömmlichen Diente zu
leiften, unter denen das Geſetz beſonders die Fuhren zwei Meilen weit vom
Hofe des Herrn namhaft machte. Beim Gutsherrn ftand e8, ob er bie
Dienfte in Natura oder ein Aequivalent in Geld nehmen wollte; für die
Dienite jelbit gab e8 feinen Lohn. Hatte demnach der Gutsherr feinen
Bortheil von der vorhandenen Bevölkerung, fo forgte das Gefeg umgekehrt
auch dafür, daß nicht etwa eine Uebervölferung auf dem Hofe entitand.
„Hat ein Eigenbehöriger viel Söhne und Töchter, jo erwachlen und zu
dienen tüchtig fein, fo erfordern nicht allein des Herren, ſondern auch ihr
eigen Beſtes, daß jie die Eltern, ſofern fie derfelben nicht benöthigt find,
von fih thun und bei Fremden innerhalb Landes dienen und zur Arbeit
angewöhnen lafien: als worauf der Gutsherr mit zu fehen hat, damit nicht
unnöthige Leute auf dem Hofe fein und derjelben Unterhalt jolhem zur Lait
falle.“ Dem Gutsheren ſtand gegenüber allen Eigenbehörigen das Necht
der „leichten Züchtigung“ zu. Wollte der Eigenbehörige Geld auf die Stätte
feihen, fo hatte er die Eimwilligung de8 Herrn einzuholen. Die Eigen-
behörige, die unehelich gebar, hatte dem Gutsherrn den fogenannten Bettmund
mit vier, ſechs oder acht Thaler zu bezahlen: eine Abgabe, deren ſich der
Geſetzgeber freilich ſchon einigermaken ſchämte; denn er fügte hinzu: „wo
e3 gebräuchli und dur eine lange Obſervanz hergebracht.“ Wollte fich
ein Eigenbehöriger verheirathen, To hatte er den Konſens de3 Herrn einzu:
holen, ihm „die Perion, welche er heirathen wollte, vorzuftellen und, daß fie
von gutem Leumund, Niemandem mit Eigenthum verwandt, auch die Stätte
durch Fleiß und ein Stüd Geld zu verbeflern vermöge, darzuthun.“ Eben
*) Ein Fragment aus dem Werk ‚Freiherr vom Stein“, in dem ber
göttinger Diltorifer die erjte detaillirte Darftellung der für die Anfänge des
modernen Vreußenjtaates wichtigiten Zeit giebt. Der erjte Band des Werkes,
das im Verlag von S. Hirzel in Yeipzig erjcheint, trägt den Sondertitel „Bor
mu-
der Reform. 1757 bis 1807" und wird in den nächſten Tagen ausgegeben.
500 Die Zufmft.
fo war die Einwilligung des Herrn erforderlich, wenn der Eigenbehörige
Sohn oder Tochter ausfteuern und ihnen den Brautfchag oder fonft Etwas
aus den Mitteln der Stätte mitgeben wollte. Bei der Annahme des eigen-
behörigen Erbes ftand dem Gutsherrn die Abgabe des Weinfaufs*) zu.
Nur der Anerbe jelbit war von ihr befreit, Braut oder Bräutigam aber,
die fremd auf die Stätte famen, hatten fie zu bezahlen; fie wurde um jo
peinlicher empfunden, da ihre Höhe nicht gejeglich feftitand. Zu was für
Ihändlichen Mißbräuchen gerade diefes Recht Anlaß gab, erhellt aus der Ein:
ſchränkung, zu der ſich felbit der den Gutsherren wahrlich nicht abgeneigte
Geſetzgeber veranlaft fah: der Gutsherr müffe ſich billig finden laffen und
den Anerben nicht ohne Noth von der Heirath abhalten; für den Fall, dan
"nah Ablauf von zwei Jahren die Che nody nicht zu Stande gefommen jet
und der Gutsherr fonft wider die Braut nicht3 einzuwenden habe, wurde
der Weinfauf normirt. Nur dem Gutsherrn ftand es zu, Freibriefe zur
ertheilen.. Er nahm dafür eine willfürliche Gebühr, die ojt.jo groß war,
daf fie die Mitgift der Freigelaflenen verichlang; es ift vorgefommen, day
ein Gutsherr von einem hörigen Mädchen, das nichts als fünf Thaler
Brauticeg hatte, für die Fretlaffung mehr als dos Doppelte forderte. Das
graufamite aller Rechte aber war der Sterbfal. Starb ein Eigenbehöriger,
fo fiel die Hälfte feiner fahrenden Habe dem Herrn zu, dem es wieder frei
ftand, die Abgabe entweder in Natura zu beziehen oder ihren Werth ab:
Ihägen zu laflen. Schulden, die etwa der Verſtorbene gemacht hatte, wurden
nicht in Abzug gebradht: was zur Folge hatte, daß die Eigenbehörigen jo
gut wie feinen Kredit befahen; denn welcher Gläubiger hatte Luft, ihnen zu
leihen, wenn er Gefahr lief, mit feiner Forderung auszufallen?
Auch hier, wie bei dem Stapelrecht, handelte es jih um ein Recht,
das nur nod ein hohes Alter für ſich geltend machen fonnte und Tängit
Unrecht geworden war. Die Rechte der Gutsherren hatten einen vernünftigen
Sinn gehabt, fo lange fie dem Hörigen Gegenleiftungen gewährten, namentlid}
ihn durch ihre Waffen beſchirmten. Cie wurden Unfinn und Plage, feit
das Schwert des Ritters eingeroftet, aus dem Nitter ein Rittergutöbeiiger
geworden war und der Schutz nicht mehr von ihm, fondern vom Kandesherrn
gewährt wurde. Nicht lange nach dem letzten Aufgebot der Rittergefchwader,
am Anfang des achtzehnten Jahrhunderts, begannen die agrarıfchen Reformen
in den weitfälifchen Territorien der Krone Preußen. Es liegt in der Natur
der Dinge begründet, daß neue politifche Ideen leichter bei einzelnen hoch
Stehenden Eingang finden als bei Korporationen; der Mächtige erlangt für
*) Sp genannt von dem Wein, der zur Beltätigung des Nertrages ge—
trunken wurde.
Aus der Zeit der Hörigfeit. 501
den Verluſt, den ihm eine Reform auferlegt, bald anderswo einen Erſatz,
den der Chnmädtige und Unbemittelte nur durch fremden Beiſtand geminir.
In dem Etatsjahr 1722/, erfegte Friedrich Wilhelm I. auf feinen Domänen
Weinfauf und Sterbfall durch eine jährliche Abgabe; an die Stelle dır
ungemwiffen, unberechenbaren und deshalb doppelt empfindlichen greßen Leiftung
trat, als eine Art BVerficherungprämie, die befcheidene regelmäßige Leiftung:
höchſtens 22/3 Groſchen, wenigſtens 223 Pfennige von jedem Morgen.
Moechte fie auch nicht ganz gerecht vertheilt worden fein: es war eine unleug—
bare Berbeflerung.
Echwieriger war die Lage bei den Eigenbehörigen der Nittergutsbejiger.
Denn deren Achte, eine nicht unerheblice Einnahmequcle*), galten als un:
antaftbares Privateigenthum**) und außerdem beftand ein fonftitutionelles
Hindernif. Die Etände von Minden, übrigens nur noch aus Adeligen bes
fichend, famen nicht, wie der Landtag von Kleve: Mark, alljährlich zur Prüfung
des Budgets zufammen; immerhin war ihnen, wie wir ſchon ſahen, das
Recht geblieben, neue Stenern zu bewilligen und bei neuen Gefegen mit—
zumirfen: jo bejtimmte «8 der Homagialrezef von 1650, der beim licher:
gang an Brandenburg zu Stande gefommen und feitden, wie alle dieſe
Grundgefege, von jeden neuen Monarchen beftätigt war. So wirkten denn
die Stände mit bei der Eigenthumsordnung, die 1741 für Minden und
Ravensberg erging. Da fie im Wefentlichen das bisherige den Hörigen fo
ungünftige Recht fodifizirte, fo regte ſich bald die Kritik. Dieſe hatte zu:
nädhjft die Wirkung, daß die Gutsherren von ihren Nechten nicht mehr den
äußerſten Gebrauch machten; es findet ſich das Mort, fie feien milder als
das Geſetz. Weiter erflärten fie fich (zuerft die Domfapitularen, dann die
Stände von Minden überhaupt) bereit, die ſchwerſten Laften ihrer Eigen:
behörigen auch geieglich zu erleichtern, indem fie vorfchlugen, nad) dem Vor—
bilde der Domänen die jogenannten unbeftimmten Gefälle zu firiven. Tod
jollte Das nicht geichehen, ohre dar ihmen dabei neue Vortheile zufielen.
An die Stelle des Eterbfalles und des Weinkaufes follte die Hälfte des
*, Es ift jogar behauptet worden, daß die adeligen Herren „ihre Sub-
jiftance faft allein aus den Gigenthumsgefällen zögen“. Spannagel ©. 176
**) Bublilandum, Berlin, fünften September 1794 (Novum Corpus Con-
stitutionum Prussico-Brandenburgensium 9, 2397): „So lünnen und werden
auch ©. K. Viajeität den Gutsherrichaften die von ihren Unterthanen zu fordern
babende Hofedienfte, die ihr Eigenthum find, die jie rechtmäßig erworben haben
und deren fie zur Fortſetzung ihrer Wirthichaften nicht entbehren können, nun
und nimmermehr durch einen Machtſpruch entziehen oder die Gutsherrfchaften
nie nöthigen, auf diefen Dienft Verzicht zu thun oder diejelben wider ihren
Willen in Dienjtgelder zu verwandeln.“
EL ne nn —— ⏑
502 Die Zuhmft.
Neinertrages der eigenbehörigen Stätte treten; beim Freifauf follten 10 Pro-
zent des Brautſchatzes, mindeſtens aber 5 Thaler bezahlt werden; um gegen
Entwerthung geſichert zu fein, forderten die Petenten, daß das Firation-
Duantum in Roggen entrichtet werde; endlich verlangten fie, der Staat möge
den Gutsherren die Gerichtsbarkeit über ihre Hörigen, die er hier — anders
als in den öftlichen Provinzen — felbft ausübte, überlaffen. Das waren
Poſtulate, die in ihrer Gefammtheit das Maß der Billigkeit jo üherftiegen,
dar man faft zweifeln follte, ob jie völlig ernft gemeint waren. Aber es
waren die jelben Stände, die den wahrlich nicht übertriebenen Reformen des
neuen Geſetzbuches, das den preußiſchen Staat vom Gemeinen Recht emanzis
pirte, heftig oppontrten und fih auch fonft durch engherzige Gelinnung un—
vortheilhaft auszeichneten. Weiter erſchwert wurde die Lage dadurch, daß
innerhalb der königlichen Behörden ſelbſt Meinungverfchiedenheiten beftanden.
Ein Theil behauptete übereinftimmend mit einer wiederholt geäuferten ftändifchen
Marime, daß die Sache jich überhaupt nicht zu einer geſetzlichen Regelung
eigne; da es jih um Rechte von Einzelnen handle, fo fönne bie Firirung
nur durch eim gütliche8 Abkommen zwischen Herren und Hörigen erfolgen.
Die „Negirung“ von Minden, wie die meilten Provinzial: Fuftizbehörden
den ſtändiſchen Anfprüchen günftiger als die Kammern, erklärte gar, die
Fixirung ſei überflüfiig. Darüber war nicht nur das neue Allgemeine Gefeg-
bud; vollendet, c3 war auch das Provinzial: Gefegbuh für Minden und
Navensberg in Angriff genommen, das die bejonderen Eigenthümlichkeiten
diefer Provinzen Fodifiziren follte: eine neue Eigenthums- Ordnung wurde
bearbeitet. Der Hörigen bemächtigte fich die Beſorgniß, daß hier ihre ungünftige
Nechtslage verewigt werden möchte, und in der That erflärte der höchſte
Juſtizbeamte de8 Staates, Großkanzler Carmer, es ſei nicht eigentlich die
Abicht, ein neues Geſetz für den Bauernjtand zu machen, fondern nur, die
Dunfelheit und Unvolljtändigfeit der bisherigen Eigenthumsordnung zu*
erklären und zu ergänzen. Gleichzeitig aber rüdten von Weften her Ideen
und Geſetze, die den Freiheitbejtrebungen der niederen Stände günftig waren,
in fait greifbare Nähe und machten überall den tiefften Eindrud,*) Kein
Wunder, dat die Zahl der Abhilfe heiichenden Petitionen, die aus diefen
Kreifen an die Behörden gelangten, beftändig zunahm. Die adeligen Herren
ihlugen felbjt vor, einige Deputirte des Bauernftandes zu hören, und der
*) In der Mltmarf 3. B. verbreitete jich im Sommer 1794 die Nachricht,
dal; der König die Natural-Hofdienfte der Unterthanen aufgehoben habe. Mehrere
(Semeinden, namentlich auf den Gütern der Alvensleben und Schulenburg,
traten zuſammen und beriethen über die Mittel, wie die Befreiung durchzuſetzen
jei; eine Gemeinde fagte den Dienjt geradezu auf. S. die Dokumente im
Novum Corpus Constitutionum 9, 2395 fr.
Aus der Zeit der Hörigfeit. 503
damalige Präfident der mindenfchen Kammer, Steins Vorgänger, pflichtete
ihnen bei. Dem aber widerfegte ſich heftig die mindenjche Regirung, mit
der Wirkung, daß nun auch der Kammerpräſident es bedenklich fand, bei dei
gegenwärtigen Zeitläuften die Hörigen zufanımenzurufen und votiren zu
laſſen. Eben jo wenig wollten die Minijter, Carmer und Heinig, Etwas
von der Idee wiſſen. Carmer erörterte: der Bauernftand habe nun einmal
in Minden feine ftändifchen Rechte; eine Aenderung diefer Verfaffung könne
nur mit der äußerten Vorſicht und nicht ohne Befragung der übrigen Stände
vorbereitet werden; dagegen müſſe man von dem königlichen Behörden voraus:
ſetzen, dar jie eben deshalb, weil der Bauernftand nicht repräfentirt fei, deito
mehr bemüht fein würden, Uebergriffe der anderen Stände abzuwehren. alt
noch ftärker war die Abneigung von Heinig, der nicht einmal zulaſſen wollte,
daß ein Mitglied der Kammer den Auftrag beläme, die Eigenbehörigen zu
repräfentiren.*) Nac dem Grundfag: nichts durch das Volk, aber möglichſt
viel für das Volk, entfchieden ſchließlich — es war die Epoche, da die Franzofen
an den Rhein vordrangen — die beiden höchſten in Betracht kommenden
Kollegien de3 Staates, daß die von den Eigenbehörigen der „Privatguts-
herren“ nachgeſuchte Firirung ihrer ungewiſſen Eigenthumsabgaben erfolgen
jolle. Ueber die Ausführung im Einzelnen feien die zum Korpus der Stände
gehörenden Gutsbejiger zwar zu hören, aber nur im ihrer Eigenfchaft als
Stände, nicht al3 Individuen. Damit fchien nun die Sache erledigt. Aber
in der Konferenz, die auffallender Weife erjt Monate nach wiederhergejtelltem
Frieden ftattfand, wiederholten die Stände ihre alten übermüthigen Forderungen
und Niemand von den anwefenden Beamten des Staates beſaß den Muth,
ihnen entgegenzutreten. Wer anders blieb für die Geplagten übrig als der
Monarch? Als Friedrih Wilhelm II. im Sommer 1797 in Pyrmont weilte,
um dort Heilung zu fuchen für fein in Wahrheit unheilbares Leiden, über:
reichten ihm Deputirte der hörigen Privatbauern, mitten unter den raufchenden
Feſten einer verfchwenderifchen Hofhaltung, eine Bittjchrift, die die Einführung
einer jährlichen Abgabe für die aufzuhebende Leibeigenſchaft, bejonders für
Sterbfall, Weinkauf und Freilauf begehrte.
Göttingen. Profeffor Dr. Mar Lehmann.
*) Er meinte, dab „diefe Art Leute der Erfahrung nad) wähnen würden,
daß fie aufgefordert wären oder jet die Gelegenheit vorhanden jei, mehrere
Rechte oder Nachgebungen, als ihnen zukommen und bewilligt werden fünnen,
zu verlangen oder gar zu erzwingen“.
ur
504 Die Zukunft.
Medizinifche Moden.
SS Weifen finden ſich Heutzutage mit den fich zum Prophetenamt berufen
Glaubenden in dem Gefühl zufammen, dag wir Aerzte in unferer
Kunſt — in umferer Wiſſenſchaft noch nicht jo ganz — wieder einntal dicht
vor einem der Wendepunfte ftehen, an denen unfere Berufsgejchichte fo reich
ft. Da liegt denn Einem, der fo lange mitthut wie ich — ich bin feit
dreißig Jahren Arzt — die Verſuchung nah, einen Rüdblid zu wagen und
fich felbft und dem geringen Theil zuhörender Mitwelt einen Rechenſchaft—
bericht zu eritatten. Aerztliche — oder, wie man heute lieber fagt: medi—
zinifche — Geſchichte ift leider ja ein Liebhaberſtudium geblieben; das Bemühen,
fie kreuz und quer zu durchforfchen, wird wie eine Gelehrtenfchrulle belächelt.
Das ift zu bedauern. Denn wenige Disziplinen hätten jo nöthig wie gerade
die Medizin, aus der Gejchichte zu lernen, ſei e8 auch nur, um mit Fauft, dem
Sohn eines Modedoftors, zu fehen, „daß wir nichts wiſſen fönnen“, und zu
erfahren, wie Huge Leute duch Schaden oft noch klüger geworben jind.
Mer num nicht die Zeit oder die Fähigkeit zum Hijtoriographen hat
— und ih befenne offen, dan Beides mir fehlt —, Der muß fich, wenn er
überhaupt das Wort ergreift, begnügen, die Gefchichte in Geſchichten vor:
zutragen, nicht ſyſtematiſch, jondern aphoriftifch, auf die Gefahr, nicht ohne
eigene Schuld mifverftanden zu werden. Trog den üblen Erfahrungen, die
ich gerade in fegter Zeit wieder einmal mit einer ſeltſamen Art wiſſenſchaft—
liher Vorausfegunglofigfeit und mit einer Ethik machen mußte, die mir oft
einen doppelten Boden zu haben jchien, möchte ich den Verſuch folder Dar:
ftellung nicht fcheuen. Auch in Deutichland wird es noch immer ja Menfchen
geben, die ihren Nächiten nicht nad) den über ihn herumgetragenen Legenden
beurtheilen, jondern vorurtheillos auf Das hören, was er in guter Abjicht
ihnen zu fagen trachtet. Meine gute Abſicht ift, wie die vieler Anderen vor
mir, einft mit dem ftolzen Bewußtſein ausgezogen, das Ungeheuer Publikum
ichnell überwinden zu fönnen. Wie e8 mir dabei erging, wie und wo die
Abſicht ſchließlich landete: davon will id hier Einiges erzählen.
In der Medizin — ich gebrauche das eingebürgerte Wort, ohne es
als eine unfere Berufsthätigkeit dedfende Bezeichunng anzuerkennen — herrſchen
Mode und Methode faſt noch unumſchränkter als auf anderen Gebieten.
Ich bin fein Sprachforſcher, kann mic; weder mit Stumpf noch mit Mauthner
meffen und will deshalb gar nicht erit verfuchen, dem Urfprung diefer beiden
almächtigen Wörter, die mir nicht nur im Klang ähnlich fcheinen, kritiſch
nachzufpären. Was ich darüber jagen fönnte, wird Jeder leicht bei Meyer
oder bei Brodhaus finden.
Wie Moden entitehen? Man follte die Inhaber großer Schneiders
Medizinische Moden. 505
geihäfte einmal darüber in einer Enquete vernehmen. Charalteriſtiſch ift,
daß die Moden fcheinbar ganz unvermittelt und. ohme zureichenden Grund
in die Erfcheinung treten, als wären fie ohne überfommene Entwidelung
und auch nicht aus der ein Ziel fuchenden Erwägung des Einzelnen geboren,
fondern mit einem Schlage der Zufallglaune willkürlich wechjelnden Tages: _
lärmens entfprungen. ch fage: Scheinbar, denn feine Wurzeln, weitabgelegene
Zufammenhänge werden bei eifrigem Suchen immer zu finden fein. Im
eriten Augenblid Klingt es beinahe wie ein Paradoron, wenn man von Moden
in der Medizin fprechen hört. Man kann fih nur fchwer zu der Vor:
jtellung zwingen, daß ein Lebensgebiet, in deſſen Boden fo uralte Wurzeln
ruhen, Willkürlichfeiten ausgefegt fein fol, die aus Illogismen der äußeren
Werdegänge, aus zufälliger Laune einer Epoche ftammen. Heilfunde, ärztliche
Kunft und Wiſſenſchaft find höher differenzirte Aeußerungen altruiftifcher
Triebe, die auf Feldern blühen, wo Schugbedürftigkeit neben Nächftenliebe,
Vernunft neben Humanität, Toleranz bei primitivfter Sittlichfeit dem Boden
vor Neonen urbar gemachten Mutterlandes eutjpriefen. Wenn die Aehren
diefer Felder jedem leiſen Hauch fich neigen, der die atmosphärischen Schwankungen
des Menfchheittages ausgleicht, fo muß man folche Unficherheit beflagen. Nicht
an Reformationen oder Revolutionen denke ich dabei, fondern an die Einwirkung
zufammenhanglojer Willfürlichkeiten ;nicht an Aenderungen der Aggregatzuftände,
fondern an Wallungen, Mafjenverfchiebungen, die dadurch entjtehen, daß aus
mehr oder minder tiefgelegenen Schichten Blafen an die Oberfläche geworfen
werden, Phänomene, denen ein Augenblidsleben beftimmt ift.
DBegeben wir, um im Bergleih zu lernen, ung auf ein Nachbargebiet.
Der Kultus der Furt, die Domäne der religiöfen — jest beinahe auch
fchon der „medizinifchen“ — Bedürfniffe kann uns manches Nügliche er:
fennen lehren. An Naturereigniffen, wenn ich fie jo nennen darf, an Um:
wälzungen aller Art hat e8 hier nicht gefehlt und Grundpfeiler, die man
für unerfchütterlich hielt, find im Lauf der Zeiten geftürzt. Auch Gegen:
fäge, die dem außen Stehenden geringfügig fcheinen, haben zu ernten Kon:
fliften geführt. Die eine Religiongenoffenfchaft giebt ihrer Andacht dadurch
Ausdrud, daß fie, nach ihrem Ritus, das Haupt entblöht, die andere dadurch,
daß fie e8 verhält. Die Einen glauben ſich ihrem Gott näher, wenn fie im
Freien, die Anderen, wenn fie in Paläften ihm opfern. Der braucht Blut,
Diefer Wein, Jener Wein und Brot für den Altardienft. Hier wird der
Sotteöbegriff in Hundert, dort in taufend, da nur im drei Kategorien ge:
fpalten und von einer vierten Seite wird die Einheit gepredigt. Um ſolche
Berfchiedenheiten find langwierige Kriege geführt, Länder verwüſtet wordei;
ganze Epochen haben davon das Gepräge empfangen. Wer aber fieht heute
noch eine zwingende Nothiwendigfeit, die den ‘Prieiter, das ausführende
506 Die Zukunft.
Organ, veranlaffen mürte, eine Monftranz heute mit der rechten, morgen
mit der linfen Hand feiner Gemeinde darzubieten, heute ein langes, morgen
ein kurzes, ein rothes, ein grünes Gewand anzulegen?
Bor ähnlichen Räthfeln ftehen wir in der Medizin. Nochmals: ich
rede nicht von Ummälzungen, auch nicht von Fleinen Korrekturen, die der
Kampf um die Erfenntnif in fchütternden Wehen geboren oder in täglicher
Erfahrung Pfennig vor Pfennig zufammengefpart hat. Nicht einmal der
gewaltige Erbfolgekrieg zwifchen Klyſtier und Aderlaß auf der einen, Chemie
und Sezirtifch auf der anderen Seite ſoll hier erwähnt werden; und von
Mikroſkop, Röntgenitrahlen, Speftralanalyfe will ich jegt nicht reden. Sehen
wollen wir nur, wie das Handeln des Arztes beftimmmt wird durch vermeint-
liche Nöthigungen, die nicht aus logisch entwidelten Wechjelwirfungen er=
ftehen, jondern aus heute geborenen, morgen verworfenen Forderungen.
Betrachten wir die Mode zur’ :Zoziv, die aus taufend befannten und
unbefannten Gründen in dem verjchiedenen Zeitabfchnitten mit verjchiedener
Schnelligfeit wechjelnde Form unferer Kleidung. Es iſt nicht ſchwer, einzu—
fehen, daß ein neu auftauchendes SMeidungftüd, daß oft ſchon der veräns
derte Schnitt der Gewänder Folgen für das Gleichgewicht de8 Organismus
haben und damit den Arzt zu veränderten Anordnungen drängen fann. Das
befanntefte Beifpiel bietet uns das Korſet. Bevor dieſes merkwürdige,
anfangs als ftügendes Gerüft für budlige Weiber erdachte Schönheitmittel
in die Mode fam, war ein Theil jener Vorgänge am weiblichen Eingeweides
traft und Nervenſyſtem unbekannt, die wir heute aus der Schnürleber folgern
zu müſſen glauben, und die damaligen Aerzte mußten viele Erfcheinungen,
die wir heute auf diefem bequemen Wege uns erflären, ihrem Verjtändnig
auf ganz andere Art zugänglich zu machen fuchen. Denn wie gefährlid uns
auch das leidige Mieder fcheint: wir hätten Scheuflappen vor den Augen,
wenn wir glaubten, daß al die Frauenleiden, Blutarnuth, Nervenſchwäche,
Berdauungftörung, die wir oft durch das bloße Korfetverbot befeitigen, vor
der Korſetmode nicht ſchon aus anderen Urfachen beitanden hätten. Das
iſt ein Beispiel für viele. Ale Sleidungftüde, die eine — wenn aud) noch
jo Heine — Aenderung im Blutumlauf veranlaffen: der Gurt, der Hemd:
fragen, der Hofenträger des Mannes, der enge, der jpige, der hochhadige
Schuh, alle auch, die eine plögliche Aenderung im Kontaft der Haut mit den
atmoſphäriſchen Einflüſſen herbeiführen: Hut, Haartracht (Chignon!), Taillen:
ausichnitt, Krinoline, Handichuh, Größe des Sonnenfchirmes, Schleier, ferner
die Größe und Beicaffenheit unferer Wohnräume und Möbel: das Alles
und vieles Andere kann von einem zum anderen Tage den Arzt vor neue
Aufgaben Stellen. Wenn id noch darauf hinweife, dar Moden des gejell:
ſchaftlichen Zuſammenlebens, Zeitdauer und Schauplatz der Gefelligkeit,
ei re urn. —
2 .. —
Mediziniſche Moden. 507
Auſenthalt in geſchloſſenen, gut oder ſchlecht gelüfteten Räumen, Theatern
Salons, Wirthshäuſern, Sportmoden mit Bewegung im Freien, Alpinismus,
Moden im Eſſen und Trinken, Rauchen und Schnupfen, Alkohol, Thee,
Kaffee, Coca, Aether, Morphium und taufend andere jofort ſich kundgebende
oder erſt langſam ſichtbar werdende Beeinfluſſungen des Organismus heute
oder morgen zu bis dahin unbefannten Phänomenen des geſtörten Gleich:
gewichteS führen fönnen, jo habe id Einzelnes von dem Vielen erwähnt,
das die Grenzen ärztlicher Berhätigung immer wieder verrüdt.
Die Abhängigkeit des Arztes vom PBublifum, die im Verkehr mit dem
Kranken des Arztes Stellung herunterdrüdt, hat aber nod andere Folgen
gehabt. In den Tageszeitungen, in Aufſätzen über die Fortichritte der
Hygiene, in ftatiftiichen und nationalöfonomifchen Betradhtungen über gewiffe
Zurusanfprüce, in Gefchäftsberichten induftrieller Unternehmungen findet man
Lobgelänge auf die ins Ungehenre wachfende Steigerung des Bäderbeſuches
und der über die finiteriten Mächte jiegende Menfchengeift wird gepricfen,
weil ganze Orte von Badereijenden leben und die Aktien chemifcher Fabrifen
boh über Pari ftchen. Das mag, al3 eine Förderung des Wohlftandes und
menſchlichen Selbitbewuntjeins, ja aud nicht ohme gewiſſen Nugen fein.
Wer aber mit dem Lichtſtümpfchen Erkenntniß fuchender Vernunft diefe Dinge
beleuchtet, Tieht doch auch mächtige Schatten von all dem Glanz ausgehen.
Es ift damit wie mit den von Tag zu Tag in reicherer Fülle vom Briefträger
Unfereinem ins Haus gebrachten, bald fettleibigen, bald ſchlanken, jtet3 aber
elegant gekleideten Brochuren, den Korintherbriefen, mit denen die Chemifalien-
fabrifen und Droguiſten den Arzt beehren: nicht auf Namen und Kleid,
jondern auf den Inhalt kommt es an. Wie oft handelt es fih nur um die
Mode diefes Jahres, vielleicht diejcs Quartals! Mag fein, daR eine „Heil
quelle* — aud) jo ein blendendes, leeres Wort! — auf den menfchlichen
Organismus einen — nod) nirgends befriedrigend erklärten — günftigen Ein=
flug übt. Man mag auch im Fund einer glüdlichen Syntheſe, meinetwegen
im Antipprin, ein weltgeichichtliches Ereigniß fehen. Wer aber ift jo blind
im lauben, daß er annehmen könnte, diefe oder jene Heilquelle ſei wirklich
in al den Millionen Fällen der unumgänglich nothwendige Faktor für die
Wiederheritellung des Gleichgewichtes, all die geichrumpften Lebern, die ver—
fetteten Nieren und Herzen, verfalkten Gefäße oder Gelenfe Echrten in den ges
wünfchten Zuftand der Integrität zurüd unter dem Einfluß heißen oder ſalzigen
Brunnenwafiers? Solde „Heilung“ follte nur in einem Modebad möglid)
und nicht auch auf anderem Wege zu erreichen fen? Im einzelnen Fall
wird der kluge Skeptiker antworten: ch weils es nicht. Wer aber generell
fagt, gewifje Kranke feien nur au beſtimmten Orten mit Erfolg zu behandeln,
Der danft als Arzt ab. Wir Alle haben in fehr vielen Fällen gefehen, dan
a7“)
38
508 Die Zukunft.
es auch ohne Modebad geht, und in noch häufigeren, daß aud das Modebad
nicht die erhoffte Heilung bringt. Wenn ich an den von Babdedireftionen
und Droguiften aufgeitellten Fetifch glaubte, würde ich lieber heute als morgen
Sozialdemofrat werden; denn eine Geiellichaftordnung, die nur dem Reichen,
der ind Bad reifen und theure „Mittel* bezahlen kann, die Möglichkeit der
Sefundung gewährt, hätte feinen Anſpruch auf längeres Beitehen. Zum
Glück ift aber der Pradtkerl, der in Wildenbruchs „Haubenlerche“ einer
kranken alten Frau predigt, nur wenn fie das Geld zu einer Badereije hätte,
könnte fie gefund werden, eine komiſche Figur. Und fomifch kommen mir
Alle vor, die den Namen der „Krankheit“ fchnurftrads mit dem Namen des
Bades beantworten, das unfehlbar helfen müſſe. So einfach wie im Auto-
maten, der nach der Nideljpende jofort mit der Tafel Chofolade aufwartet,
erledigt ſich die Pflege leidender Menſchen — natura sanat, medicus eurat —
denn doc) felbit heute noch nicht.
Jahrhunderte lang war die damals noch teleologiich geiinnte Menjch:
heit dem Schöpfer des AUS dankbar dafür, daß er im fernen Amerifa einen
Baum gepflanzt habe, deſſen Rinde das falte Fieber „heile“. Nach und nach
aber lernte der Menſch auch diefe „Wohlthat der Natur“ entbehren. Seit
Knorrs PVerfuchen waren wir auf die Geberlaune des lieben Gottes nicht
mehr angewiefen: wir verfchafften uns die Vortheile feiner antipyretifchen
Gaben aus eigener Kraft. Wir konnten jchlieglih fjogar Temperaturen
herunterfegen. Damit aber war der Ehrgeiz de8 homo sapiens noch nicht
befriedigt. Phenazetin, Kairin, Salipyrin, Antifebrin, Laktophenin, Pyra-
midol, Analgefin, Migränin e tutti quanti wurden erfunden. Und als
wir zwanzig Jahre lang Temperaturen herabgejegt hatten, kamen wir dahinter,
daß wir auf dem Holzweg gewefen waren und daß e8 für den Kranken meift
befjer ift, wenn wir feine gejteigerte Temperatur nicht herabjegen; denn wir
haben in diefer Erhöhung der Temperaturgrade eine Steigerung der organischen
Lebensvorgänge zu jehen, die eher zu unterftügen als zu unterdrüden ift.
Nun kann man mir fagen: „Was fällt Ihnen ein, diefes Schwanten,
diefes Hin und Zurüd in unferer Erfenntnig mit Launen vergleichen zu
wollen, die heute Frackſchöße lang wachſen laffen, um fie morgen wieder
zu ſtutzen? Das Beſſere iſt eben der Feind des Guten; und Irren it
menſchlich.“ Ganz ſchön; aber ich frage, wie die Kriminaliſten: cui bono?
Die Erfindung des Antipyrins hat das Chinin jo verbilligt, daß ſountags
jeder Bauer fein Gramm Chinin im Topf haben kann. Jetzt habt Ihr
erfannt, dag Eure Erfindung nicht von der fegenreichen Tragweite ift, die
Ihr geträumt hattet. Habt Ihr nun die praftifchen und wiflenfchaftlichen
Konjequenzen daraus gezogen? Mein: noch immer werden die Fradichöge
heute lang umd morgen furz getragen, wird heute Phenazetin und morgen
Medizinische Moden. 509
Laftophenin verordnet. Kein vernünftiger Arzt kann in diefen Mitteln eine
dauernde, unentbehrliche Bereicherung des Arzeneiſchahes jehen. Jeder aber
bat mit jeinem Mittel „die beten Erfahrungen gemacht“. Und fo läuft
der eine Theil der Aerzte nebft dem Sranfengefolge dem Eulaftol, Eudinin,
Piperazin, Eozojodol, der andere dem Protargol, dem Itrol, dem Argentan
nah. Der Frad wird weiter nad) der Made gejchnitten. Um diefe Be-
hauptungen mit weiteren Beweifen zu belegen, brauchte man nur den Statalog
einer beliebigen chemischen Fabrik vorzulefen. Soll aber die Heilkunde eine In:
duftrie fein und nicht daS Wirken eines Nebenmenfchen für und auf den Anderen?
Soll id) no mehr Moden nennen? ES war Mode, „Medizin zu
ftudiren“ ; dann gehörte es zum guten Ton, „lid als Spezialiften niederzu-
laſſen“; Mancher macht die Mode mit, die Sommermonate hindurd) in einem
Bade zu praftiziren und während des Winters im Lande umberzuziehen, bei
den Kollegen feine Aufwartung zu machen und fie um Lieferung von Patienten
zu bitten. Soll ich von den Apothelermoden fprechen? Oder von der Mode, einem
großen Arzt ein paar Aeußerlichkeiten abzuguden und diefe Errungenſchaft
dann felbftbewurt und marftichreierifch al8 neues Heilverfahren zu verlunden?
Alle Ehrfurcht und Bewunderung, die wir für die wirklich brauch—
baren, wirklich bedeutenden Leiſtungen der Wiflenfchaft hegen, darf ung nicht
abhalten, auf Mißſtände Hinzumweifen und frei von der Leber über Dinge
zu reden, die unferen Stand fchänden, unfere Vertrauenswürdigfeit unter—
graben und nur Denen Nugen bringen, die man — oft mit Recht, doch
nicht immer mit genügender Selbitkritit — „Pfuſcher“ nennt. Nie ift mir
der abermwigige Einjall gefommen, die Wiffenfchaft, der wir unſeres Denkens
Baſis verdanken, herabzufegen. Ich habe felbft viel zu lange ftreng wiſſen—
fchaftlic; gearbeitet — und mid; für folche Arbeit fchon vor einem Piertel-
jahrhundert jogar, woran ich fachliche, nicht ſchimpfluſtige Gegner doch einmal
erinnern möchte, des von Virchow geipendeten Urtheils zu erfreuen gehabt —,
als dar ich daran denfen könnte, mein eigenes Neſt zu befhmugen. Erft
der Flug aus dem Neſt aber lehrt den jungen Bogel die Welt feines Wirkens
kennen. So macht auch die Praris, die täglich die Schulweisheit forrigirt
und individuell anzuwenden zwingt, erft den Arzt. Das Gefchichtchen von
dem Meifter unferes Wiffenfchaftfaches, der feinem Droſchkenkutſcher rieth,
mit der verlegten Hand einen Arzt aufzufuchen, ijt mehr als ein Scherz;
und der Ehrentitel des „praftiichen*“ Arztes will, wenn er auch vorher fchon
auf dem Mefiingichild fteht, erit im Kampf des Lebens gewonnen fein.
Die Medizin, heikt «8, fei eine erafte Wiſſenſchaft. Zum Begriff der
Eraftheit gehört dod) vor Allen aber das vollfommene Aufgeben des Sub—
jeftivismus, gehört die Möglichkeit, eine allgemeine, abjolut giltige Norm
aufzuftellen. Das aber ift in unferer Kunſt nicht zu erreichen. Internationale
38*
510 Die Zukunft.
Konventionen können Gewicht und Maß regeln, den Preis von Gold und
Silber, die Bedingungen der Zuderproduftion fejtiegen, die Kalenderordnung
ändern, die gemeinfame Verfolgung beftimmter Verbrechensarten beſchließen,
neue Ideale aufftellen, alte neu herausitaffiren, Sittlichkeitwerthe prägen und
ihrer Münze das Monopol fichern. Stein Kongreß aber, fein Vertrag und
fein Ufas kann beftimmen, zu welchem präzifen Zeitpunkt eine Gleichgewichts:
ftörung an irgend einem Organ ihre Merkmale jo wechſelt, daß fie aus der
Kategorie der akuten in die der chronischen Affektionen übergeht. Wohl läßt
der Tag fich beitimmen, an dem der Soldat aus Reihe und Glied in die
Nejerve tritt, der Arbeiter Anfpruh auf Imvalidenlohn hat. Aber nicht
einmal für den Eintritt von Sommer und Winter fünnen wir eine ſolche
Verfügung erlaffen, trogdem wir über die fosmifchen Vorgänge doch recht
gut unterrichtet find. Und noch weniger find VBorausbeftinmungen, methodijche
Berechnungen da möglich, wo es fih um Menſchen Handelt, deren individuelle
BVerhältniffe uns felbit bei genauer Bekanntſchaft oft genug noch Räthſel
aufgeben. ch ſcheue mich nicht, offen zu jagen: Die Medizin ift feine
exakte Wiffenichaft und ihre Methoden können nur jo lange auf Eraftheit
Anſpruch machen, wie fie am toten Material ausgeprobt werden. Ja der
Praris verjagen fie jehr häufig und nur fritiflofer Glaube wird auf ſie
ſchwören. Ein Beifpiel. Die Wörter „akut“ und „chroniſch“ follen Zujtände
im Ablauf von Störungen bezeichnen, deren Charafteriftif an ſich befannt
it. Man ift übereingefommen, eine Affektion bis zur Dauer von ungefähr
ſechs Wochen afut, darüber hinaus chronisch zu nennen. Wenn ein Schnupfen
aber vier Wochen dauert, ift er doch wohl fchon chroniſch; und Typhus,
Lungenentzündung, Scharlach find im der achten Woche ihrem Charakter nad)
noch eben fo afıt wie in der erjten. Das zeigt die Unzulänglichkeit einer
Terminologie, die in allen Methoden ja eine große Rolle jpielt.
An dem bequemen Geländer der Methoden findet der praftiiche Arzt
nur höchſt felten einen fejten Halt. Wer fie, für den Gebrauch im Kranken:
zimmer, nicht im Laboratorium, erfinden will, jchöpft ins kede Faß der
Danaiden und darf fich nicht wundern, wenn er in der Fieberhitze fchlieklich
verihmacten muß. Und ſelbſt im reinen Aether der Theorie jahen wir,
wenn ein Pieiler der Gefammtanfhauung ins Wanken gerieth, fo oft eine
ganze, für felfenfeit gehaltene Methodologie zufammenftürzen, daß man beis
nahe Schon von Methodennioden fprechen könnte. Nie aber, ſcheint mir, ift,
feit den Tagen der „Dredapothefe* und der Harnbeichauer, der praktische
Werih der Methoden fo maßlos überſchätzt worden wie heutzutage. Wir
find fo weit gelommen, daß Aerzte, die den Kranken nie geſehen haben, dem
behandelnden Stollegen vorwerfen, er habe gegen das Gefeg der Methode ge=
fündigt. Sie wiſſen nicht, ob die bejfonderen Berhältniffe diefes Mannes,
Medizinifche Moden 511
Meibes, Kindes nicht einen chirurgifchen Eingriff, überhaupt jedes fchroffe
Borgeben verboten; aber fie jagen mit dreifter Stirn: Der hat nicht ge=
fhnitten! Ad bestias! Er ift ein Ketzer, denn er hat gegen die heilige
Methode veritoßen. Der von folhem Bannfluch Getroffene kann ſich dann
nur mit dem Bewußtſein tröften, dar er dem Kranken, jo weit ers ver:
mochte, geholfen hat. Und darauf kommt es ſchließlich doch eher an als
auf den Sadavergehorfam gegen die von der Mode gefrönten Methodologen,
Wer von einer Methodologie redet, macht ſich feiner Uebertreibung
Ihuldig. Die Zahl der Methoden ift Legion: Allo: und Homöopathie, Hydroz,
Elektro:, Drgamotherapie, phyſikaliſche, hypnotiſche, diätetifche Methode, —
wer nennt al die Namen! Hatte die Empirie zuerft, meinetwegen mit Hilfe
der Inſtinkte und Deſſen, was man Zufall zu nennen gewöhnt ift, gelehrt,
wie man Wunden reinigt, verbindet, einen eingedrungenen Fremdförper ent—
fernt, jo gefellte jich bei auffteigender Denfentwidelung das Bedürfniß hinzu,
die Kauſalität zu erfennen, aus der Wirkung auf die Urfahe zu fchließen
und diefe Urjache zu befeitigen oder unfchädlih zu machen. Heute haben
unjere Behandlungmethoden ſich taufendfach differenzirt und unfere Erkenntniß—
methoden haben jchon ihre eigene Gefhihte. Sie fommmen und gehen mit
dem Tage, leiften fait alle gleih Gutes und bleiben alle den an fie ges
fnüpften Hoffnungen einen mehr minder großen Reſt fchuldig. Natürlich.
Denn in jedem einzelnen Fal wäre das von der Methode Empfohlene je
nach dem individuellen Befund zu modifiziren, — und daran fehltS manch—
mal. Nicht die Methode aber, fondern das kliniſche Bild des einen be:
ftimmten, in feinen perfönlichen Berhältniffen abgegrenzten Kranken lehrt
erkennen, warum diefe Urſache hier diefe Wirkung haben konnte. Die Methode
erleichtert den Eclaireurdienſt; doch jie ift vom Lebel, wenn der General:
ſtabschef sie, wie ein für alle Fünftigen Kriege gejchriebenes ftrategifches Nezept,
in die Manteltaſche ſtect. Er muß den Kriegsichauplag vor Augen haben,
die Proviantirung, Munition und die piychiiche Beſchaffenheit des Feindes
feunen, che er die Entscheidung trifft. Alle Methoden können ihn unter
Umftänden zum Sieg führen. Alle Methoden fünnen die Hebung der Kräfte
eines Kranken bewirken. Nicht auf die Methode, jondern auf die Berfön-
lichkeit de8 Arztes kommt es an, der jie anwendet. Men, not measures:
das Wort gilt hier fo gut wie in der Politil. Wenn wir tüchtige Aerzte
heranziehen, die den Muth zur Verantwortung haben und nicht ängſtlich ſtets
nad) dem Speztaliften oder Techniker jchielen, dann brauchen wir die wiſſen—
ſchaftliche Bergfererei nicht, die raftlo8 zur Erflimmung neuer Gipfel treibt.
Sehr oft ftellt fid) dann heraus, daß dieſe Höhen niedriger. find als bie
vorher befannten oder dar man dom ihnen mindeſtens nicht mehr fieht, als
man früher ſchon ſah. Dann wird fchnell wieder heruntergeflettert und im
512 Die Zukunft.
Eilmärfchen geht3 zurüd, — zu den alten Methoden, die man beffer nie
verlafien hätte, weil jie cum grano salis noch immer ganz fchmadhaft find.
Um des Kaifer8 Bart ftreitet, wer mit Feuereifer darüber disfutint, ob die
den Stoffwechjel fördernde reichlichere Blutzufuhr nad einzelnen Korper⸗
theilen durch Veſikantien oder Beſtrahlung, durch einen Spiritusumſchlag
oder ein heißes Lokalbad eher erreicht wird, ob in allen Fällen und in jedem
Stadium diphtherifcher Erkrankung Serumeingefprigt, der Lupus mit chemiichen
oder mechanischen Mitteln zerftört werden fol. Nur vor dem und für den
befonderen Fall können folche Fragen ausreichend beantwortet werden. Alle
Wege führen nah Rom. Bon dem Zwed der Reife, der Ausdauer, dem
Temperament, Gepäd, Vermögen der Neifenden hängt die Wahl des Weges ab.
Zur Vermehrung unferer Erfenntniß trägt viel weniger da8 Beobachten
und Regiftriren der Thatfahen und Phänomene als deren Deutung und die
Einfiht in ihre Zufammenhänge bei. Gerade aber die bloße Beobachtung,
das Regiftriren, Syſtematiſiren, Katalogifiren ift im der legten Epoche der
Medizin zu ſehr in den Vordergrund getreten. Jeder will etwas Neues
fehen, Jeder etwas vor ihm noch nicht Beobachtete8 zum allgemeinen Beſten
beifteuern. Zum Sichten und Afjimiliren bleibt unferer Zeit felten Zeit.
Nur raſch vorwärts zu neuen Methoden! Diefer Drang fann der in den
Laboratorien wirkenden Schaar wiſſenſchaftlich Arbeitender Nuten bringen,
ihren Forfchereifer vor der Erjchlaffung bewahren; im der ärztlichen Praris
aber ermeift er fih nur allzu oft als unheilvol. Er macht Moden und
muß, wenn die Mode jich nach furzer Frift überlebt hat, nach neuen Methoden
ausfpähen, deren Folge dann wieder eine andere Mode iſt. Die novarum
rerum cupidi find nicht zu entbehren, vieleicht auch nicht die Werfmeifter
und Vorarbeiter der kliniſchen Induſtrie, für die fchon ein eigene Handbuch
nöthig wäre. Der Arzt aber fol nicht zum Modiſten werden, der jeine
Kunden mit denn Schlagwort fängt: Das ift das Allerneujte!
Da ift ein Landftrich. Der Eine geht achtlos, der Andere raſtlos darüber
hin, ein Dritter jagt darauf, ein Vierter bearbeitet den Boden und erntet
hundertfache Frucht, ein Fünfter gräbt in die Tiefe und findet werthvolles
Geſtein. Das Land war das jelbe, aber die Verwerthung und bejonders die
Menschen waren verfchieden: daher der verschiedene Ertrag. Auch die
Methoden können jehr verfchieden verwerthet werden. Wichtig, für den ges
gebenen Fal paſſend wird fie nur der Arzt anmenden, der dieſes Namens
würdig ift. An folchen Aerzten fehlt es nicht; aber fie danken ihre Kunft
nicht der Methode. Und wiederum ind die Methodifer, die Anatomen,
Vhyüologen, Mikroffopiter wegen ihrer Wiffenfchaft nod) feine Aerzte. Viel—
leicht ſind fie mehr, — einerlei: die Grenze kann nicht deutlich genug gezogen
werden. Einen Arzt nenne ich Den nur, der, ohne abergläubig auf Methoden
Selbftanzeigen. 513
zu ſchwören und blind nachzubeten, was Andere vorgebetet haben, ohne nach
dem Ruhm eines Diagnoftifers, Spezialiften, Modedoktors zu trachten, gelernt
hat, dar Erkranfungen des Einzelorganismus nicht immer fo verlaufen, wie
die „Krankheit“ im Lehrbuch befchrieben fteht, und der nach gründlicher Er-
forjchung der Gefammtindividualität des Kranken ihr zu geben vermag, was
ihr im Augenblid gerade fehlt. Ein ſolcher Arzt wird die Kranken behandeln,
ih nicht von ihnen behandeln, den Namen des neuften Modebades, Mode—
mitteld, der neuſten Modemethode abtrogen laffen und aufathmen, wenn
nad all den Leuten, die mit einer fertigen Diagnofe, mit dem Namen ihrer
„Serankheit* im der Tafche, in feine Sprechftunde fommen, fi ein natürlich
empfindender Menſch einjtellt, der nach guter alter Weife nicht3 weiter fagt
als: „Mir fehlt Etwas und ich möchte wieder gefund werden.“ Dazu ihm
zu helfen, iſt des Arztes Pflicht. Nichts Anderes. Das jceint ein nicht
ſchwer zu erreichendes Ziel. Aber ein Menfchenleben voll harter Arbeit ift
oft nicht lang genug, um diefe Pflicht in den raſch auf einander folgenden
Wechſelfällen des Tages erfüllen zu lehren.
Sroflichterfelde W. Profeſſor Dr. Ernft Schweninger.
"Ic
Selbitanzeigen.
Falſche Feuer, ein Roman aus dem deutſchen Sankt Petersburg, Hermann
Gojtenoble, Berlin 1902.
Es werden nädjtens zweihundert Jahre, jeit Peter der Große den Schwer—
punkt der rujjiichen Entwidelung aus dem Binnenlande Mostaus an die fumpfige
Küjte der Oſtſee verlegte; zu feinen Helfern berief er vor Anderen deutjche Männer
und deutjhe Kultur. Es ijt deshalb nicht unbillig, daß auch fie ihre Jubel—
bilanz ziehen; und jie werden eingejtehen müfjen, daß fie, aus taujendunddrei
Gründen, heute eine Einbuße zu verzeichnen haben, eine Einbuße am Werth:
volljten, was der Menſch bejigt, an fraftvoller Lebendigkeit und Entwidelung-
fähigkeit. Im Ruſſenthum aufgehen konnten, wollten und follten fie nicht; fie find,
wie faum jonjtwo eine deutiche Kolonie, durch und durch deutjch geblieben. Das
heißt: fie reden deutſch, denken deutich und find jo gut wie ausſchließlich Proteſtanten;
nur dürfen fie gegen nichts protejtiren, können feine neuen Gedanken jcaffen
und haben nichts zu reden als Das, was längjt gejagt worden ift. Es iſt der
ſtrengſte Konjervatismus, aber nicht der einer Weltanihauung, jondern einer
Nothlage. Sie bilden eine ethnologiſche Inſel, an deren zerriffener Hüfte immer«
fort die jlavijche Brandung nagt, und nicht in der Schöpfung neuer, höherer,
lebendiger Werthe wiſſen fie fich zu wehren, ſondern nur durch die granitene
514 Die Zukunft.
Starre grumdjäglicher Selbſtbeſchränkung in allen eigentlich Menſchheit und Welt
bewegenden Fragen: Wiſſenſchaft, Kunſt, Neligion. Dieje Verhältnifje meiner
Naterjtadt, unter denen ich viel gelitten habe, wollte ich zu Nuß und Frommen
aller Deutichen fchildern. Am Faden einer erfundenen Geſchichte reihen fich
all die tupiichen Vorgänge, Menſchen und Kreiſe, die unvergänglich find, weil
wejentlide Kräfte immer wieder fich in diejen Formen verwirklichen; die Per—
jonen kommen und gehen, die Greianiffe braufen vorüber, aber immer wieder
fräujelt jich die Überfläche des Stromes, wo jein Bett uneben ift. Schatten
und Licht trifft daher nicht jo ſehr die einzelnen Geftalten wie eben die Zuftände,
die ich jo mr jchildern konnte, weil id} fie durchlebt habe. Und weil fie eben
der Vergangenheit angehören, fonnte ich dieje Erinnerung frei vom Allzuperjön:
lihen gejtalten. Daß ich trogdem nur Urperſönliches geben fonnte, verjteht
fid) ja eigentlid) von jelbit; woher man aud) die Farben auf jeine Palette nehmen
mag: den WBinjel Führt dod die eigene Dand, der eigene Geift.
Charlottenburg. Dr. Eduard von Mayer.
*
Alpine Majeftäten und ihr Gefolge. Vereinigte Kunſtanſtalten A.G.
in München.
Jeden Monat kommt cin Folioheft zur Ausgabe, das mindeſtens zwanzig
Anſichten von der Gebirgswelt bringt, natürlich zum weitaus größten Theil aus
den bayerischen, jchweizerischen, öfterreichiichen, italischen und franzöjiichen Alpen—
gebieten; gewiſſermaßen zum Vergleich werden aber auch mitunter andere Ge—
birgslandichaften gezeigt: Skandinavien, England, die Pyrenäen, Karpathen,
der Kaukaſus und Ural, Himalaya und Kordilleren u.j.w. Für tadelloje photo
grapbiiche Aufnahmen, feinfte Reproduktion, beftes Stunftdrudpapier und Haren
Druck ift geforgt und die Bilder, die uns in alle Theile der alpinen Welt führen,
ſind jo gut ausgeführt, daß man vicljad jogar die bejondere Art des Berg:
geitins umterjcheiden kann, Jedes Heft fojter eine Mark, jeder Jahrgang (dem
zwölf Deften wird cine kurze populäwiljenichaftliche Beſchreibung beigegeben)
ijt in einem abasichlojfenen Bande käuflich. Wir glauben, in diefem Prachtwerk,
das grüne Matten, Schneelawinen und Gleticher, haſtig zu Thal ſtürzende Bäche
und von Felſen umſäumte Bergfeen zeigt, jeden berechtigten Wunſch erfüllt zu
haben, und entnehmen diefem Bewußtſein den Muth, es den deutichen ai
nicht nur, ſondern allen Naturfreunden zu empfehlen.
München. Vereinigte Kunſtanſtalten A.«G.
Variété des Geiſtes. Leipzig. Hermann Seemann Nachfolger 1902.
Der Autor zeigt bier in Form philoſophiſcher Aphorismen die Wandlung
und Zelbiterziehung — wenn man will: Genejung — einer im Neich myſtiſch—
chriitlicher und pantheijtiicher Anichauungen fozufagen geborenen Seele zu ihrem
Segenfage, dem Heiliges und Unheiliges mit gleicher Ehrfurchtlofigfeit angreifenden
Steptizismus und der Vereinigung diefer beiden Weltanjchauungen in einer
Hofinung: dem harmoniichen Menſchen. Der geiftige Menſch, der das „Geiſtige“
überwindet, ijt die höchſte und lebte Form des Geiſtigen. Nun wird er reif,
wu...
Selbſtanzeigen. 515
den neuen Typus zu zeugen, der alles Gute und Schöne der Menſchheit ver—
einigen ſoll, den harmoniſchen Menſchen. Ohne die herrliche Krankheit Geiſt
wäre der Menſch Thier geblieben. Doch hat uns der Geiſt ſelbſt Mittel ge—
geben, ſeine Schäden zu erkennen, ihrer Herr zu werden. Geiſt bekämpit den
Geiſt, Gegengift tötet Gift. Der Autor will dazu beitragen, die Gefahren und
furchtbaren Schäden unharmoniſcher Geiſtigkeit zu bannen, den Weg, den er
jelbjt gefunden, Anderen weiſen und jie ſtark machen, auf ihm auszuharren. Daß
jo viele geiftige Menjchen unferer Zeit tief leidend jind, weiß man. Woher der
Schmerz? Welhe Mittel zur Gejundung? Der Autor gelangt zu feinen trojt-
lojen MAgnoftizismus, indem er diejen ſchweren Fragen entgegenichaut. An die
Stelle des von ihm Miedergerifjenen ijt er Neues zu ſetzen bejtrebt und zwei
große Aerzte der Seele begleiten und jtügen ihn bei diefem Wagniß: Mar
Stirner und Friedrich Nietzſche.
Wien. Dr. Mar Mejier.
N *
Baldurs Tod. Ein Märchenſpiel in fünf Aufzügen von Paul Schmidt.
Leipzig 1902. Heinrich J. Naumann, Preis 2 ME.
Mein Drama fommt wie der märkiſche Siegfried aus dem reaftionärjten
Lager: es ijt in Jamben gejchrieben und gereimt. Daß die wechjelnden Bilder
des vierten Aftes mit unjerer rüdjtändigen Zwiſchenvorhangs-Maſchinerie nicht
aufgefiihrt werden fönnen, ohne ihren Eindruc ganz zu verfehlen: Deffen bin ich
mir bewußt. Armes Jahrhundert, deffen Maſchinen Wolle jpulen und Garn drehen,
taujenpfündige Yaften heben und Eijenzüge fortbewegen können, aber nicht eines
Dichters Traum zu geitalten vermögen!
Leipzig. Paul Schmidt.
Liebeslieder moderner Frauen. Hermann Coſtenoble, Berlin-Jena.
An Anthologien, auch an ſolchen, die nur Frauenlyrik bringen, iſt kein
Mangel. Was aber meine Gedichtſammlung von ihnen unterſcheidet, iſt der
Geſichtspunkt, unter dem ſie angelegt iſt. In das Bändchen wurden nur ſolche
Gedichte aufgenommen, in denen ſich das Liebesleben der Frau in charakteriſtiſcher
Weiſe ſpiegelt. Es iſt alſo hier ein erſter Verſuch gemacht, einen kleinen Bei—
trag zur Pſychologie des Liebenden Weibes zu liefern, der jedenfalls Anſpruch
auf Authenzität erheben kann, denn man hat es mit Iyrifchen Selbjtbefennt-
niffen aus Frauenmund zu thun. Und zwar moderner rauen, zeitgenöjfiicher
Dichterinnen, die von der altgewohnten, vieltaujendjährigen Scheu des Weibes,
auf den Schauplaß des öffentlichen Yebens redend und handelnd zu treten, frei
geworden jind, ja, die zum Theil mit einer Unbedenklichkeit ihr innerites Ge
fühlsichen bloslegen, die Manchen überrajchen mag.
Dr. Paul Grabein.
*
Totentanz. Verlag von A. Harms, Hamburg. Titelbild von Joſef Sattler. 1902.
Ich beabſichtige weder, mein Buch anzupreiſen, noch, irgend Etwas zu
feiner Erklärung zu jagen. Beides iſt Sache des Buches. Entlaſſen aus der
516 Die Zukunft.
Werkjtatt, it es majorenn und mag für fich felbjt jorgen. Nur der Titel ver-
anlaßt mid — um mit Fritz Reuter zu reden — „tau ne lütte Vörred’, damit
mi fein Nahred dröppt.“ TIotentänze und ähnliche Weiſen find heute modern.
Dies aber ijt fein Modebuch. Ueber die Entitehung der Erzählungen jpannt
ji ein Zeitraum von vierzehn ‚jahren und jelbit die zweitjüngfte von ihnen,
„Sefängnifauffeher Streuber“, haben die Lejer der „Zukunft ſchon vor zwei
Jahren kennen gelernt. Auch hatte ic das Wort Hebdels, das dem Buch zum
Seleit mitgegeben wurde, ſchon als Knabe in mein Notizbuch geichrieben: „Durch
den Todesgedanfen den goldenen Faden des Lebens zu ziehen! ine höchſte
Aufgabe der Poeſie“. Alſo dies (übrigens anjpruchsloje) Bud ijt nicht von
der Mode diftirt, jondern von jener inneren Nothwendigkeit, die unerflärlicd in
uns wirkt, die mandes Kommende vorausfühlt und halb unbewußt darauf hin—
arbeitet. Seltjam genug, daß die meiften diejer Erzählungen unter der Regirung-
zeit des Dejpoten Naturalismus entſtanden find, deffen Aufgaben bei den allgemein
befannten Dingen unjerer Ameijenwelt zu Ende waren, der faum cinmal das
Dajein bis an jeine Grenzen zu verfolgen unternahm und dem graujamen Tanz
von Tod und Liebe auf diefer Erdfrufte nicht ınehr Aufmerkſamkeit ſchenkte als
der gewürfelten Bettdede eines Armenhäuslers. Docd wir verdanken ihr viel,
diejer Zeit der Froſchperſpektive, und wollen ihre Yeute nicht höhnen. (Uebrigens:
De mortuis.... etcetera). Heute aber wird ınan fid) erlauben dürfen, einem
fabulirten Werk der Feder, gleichviel, ob es ein Drama in fünf Alten oder
eine Fleine Erzählung von wenigen Seiten ift, — frei nach Maeterlind — drei
ragen zu ftellen, um es auf feinen Werth zu prüfen. Erſtens: Iſt es in der
Form ſchön? Zweitens: Iſt es mit Leidenschaft und von einer Perjönlichfeit
dargeftellt? Drittens: Fehlt ihm neben dem Untergrund auch nicht der rechte
Dintergrund und Obergrund? Ich meine den Grund, der fih über und hinter
allen Dingen wölbt; der hinaus über den Dunftfreis des roh Thatſächlichen
ein Sinnen und Ahnen wedt von den geheimen Fäden, die das fleine Fragment
eines Menjchenlebeng mit dem Unbekannten verknüpfen, das alle Dinge richtet
und überragt. Joſef Sattler hat, meiner Meinung nad, diejen drei fragen
in jenem Titelbilde Rede gejtanden. In der Form jchön, ift das Bild ſelbſt
von fünftleriicher Yeidenichaft: diefer wilde Tanz Freund Heins auf der Erd»
fugel! Seine Stappe mit der rothen Feder ift im tollen Reigen vom Schädel
geflogen und der große graue Mantel Hinter ihm weht im Schwung ber fid)
drehenden Erde und der Tanzbewegung des Gerippes in mächtigen Serpentin-
linten, deren Ausläufer an die Randformen der ledermausflügel erinnern.
Diefer grane Umhang, in dem fich die gejchwungenen Arme des Tanzenden zit
‚raltenlinien verflüchten, ift unendlich größer als die Erdkugel. Wie ein ge:
waltiger Vorhang, hinter dem die ewigen Näthjel und Zujammenhänge des Seins
verborgen jind, reckt er jich flatternd empor. Das Titelbild, eigentlich zu an-
Ipruchsvoll für das beſcheidene Buch, wird, hoffe ich, auch Die ein Wenig mit
meinem „Totentanz'“ verjühnen, denen der Inhalt des Buches unverjöhnlich mißfällt.
Karl Streder.
Diftelfinten. 517
Diftelfinfen.
Dt umflattern mein Baus. Ein ganzer Schwarm. Den langen
Winter waren fie da. Und wenn fie fi auf die jchwanfften Mejtchen
der jungen Bäumchen jegen, jo neigen fich die Aeſtchen Leicht und ſchaukeln jacht
mit ihrer graziöfen Lajt. Lauter niedlihe, bunte Schöpfungsgedanfen, dieje
Kleinen Vögel. Ich jehe ihnen zu und horche auf ihr leiſes Gezwitjcher; denn
noch fingen fie nicht ; erft wenn der Frühling kommt, der Frühling und die Sonne...
Diitelfinfen umflattern mein Daus, zwitichern mir in Stopf und Derz.
Und ein leijer, wäjlriger Frühſonnenſtrahl ftreicht über das bunte Scheunendach
da drüben und läßt mich Frühling ahnen.
Und eben, als ich das Frühſtück nahm, umfjchmeichelte mich mein drei-
jähriger Blondkopf und that wichtig und geheimnißvoll, als wolle er mir Etwas
verrathen. „Schag, erzähl’ mir was“, jagte ich erınunternd. Und er fing an:
„Da fam die böje Stiefelfönigin zum Schneewittchen und fragte, ob es
Uepfel kaufen wolle. Nein, jagte das Schneewittchen, ich faufe feine. Und da
gab fie ihm doch einen, einen ganz giftigen. Und da hat das Schneewittchen
ein Meſſer genommen und hat alles Giftige abgejchnitten und fortgeworfen und
hats gar nicht gegejjen. Gar nicht! Und da hab’ ich ihm gejagt: Du bift Lieb,
und weil Du jo brav warſt, brauchſt Du auch gar nicht im Eckchen zu ftchen.
Und da famen die ‚Zwerge und haben furchtbar gelacht.“
Hoiho! Das it doch eine liebe Gejchichte, nicht wahr? Mein Blondkopf
mag die Kataftrophen nicht, die durch Menfchendummheit und Menjchenbosheit
herbeigeführt werden, und jo arbeitet er Tag vor Tag mit jeinen lieben Ge—
danfen herum, bis er alle traurigen Ausgänge in liebe und freundliche ver-
wandelt hat. Eher läßt ihm eine Gejchichte keine Nuhe. Wer von uns ganz
gejcheiten Leuten dem Kinde Das doch nachmachen künnte und wollte! Wem
Das doch noch jo innerjter Inſtinkt und heiligftes Herzensbedürfniß wäre!
... Gen Grünwald gings, wo die Iſar raucht. Ein Sommermorgen wars
von herrlicher Klarheit und Pfingitionntag obendrein. Noch lag ih in den
Federn, als es an meiner Scelle raflelte. „Was heit denn Das? Eben erft
halb jehs Uhr! Wer kann da jein?“ ch jprang auf und öffnete.
„Borwärts, ‚sreundchen! Angezogen, raſch, und hinaus in die jchöne
Welt!” lachte es mir entgegen.
Meinen Augen traute ih faum, als ich die hohe Geftalt in langem,
ſchwarzem Talar vor mir jah.
„Was wollen denn Sie jo früh, Herr Doktor?“
„Werdens jchon jehen! Machens zu!”
Bald war id jo weit und wir verließen fröhlich das Haus. Eine Morgens
wanderung in wunderbarjter Friſche. Bor Harlading überkreuzten ıwir auf dem
Stege den Fluß und jchlugen uns auf das rechte Ufer hinüber. Mein Freund,
ein fatholijcher ‘Pfarrer, war in üppigiter Stimmung. Cinige Yeute begegneten
uns mit Gebetbüchern. „Die denken aud, der Schwarze thät' geicheiter, er ginge
heim und läje feine Meſſe in der Kirch’, brummte er. „Uber die ganze Woche,
das ganze Jahr thut Umfereins nichts Anderes. Heute hab’ ich Urlaub, heut’
am Pfingſtſonntag. Da wird hier draußen Meſſ' gelejen.“
DIS | Die Zutunft,
Ich lachte. Wars meinem teufliichen Gemüth doc) viel licher fo.
„Und warum ich jo früh geh’? Einfah: wenn naher der Schwarm der
Münchener mit Kind und Segel herauskommt, ifts nimmer ſchön. Ich mag den
Wald nicht, wern überall Scherben und Papierfegen und Wurjtfelle herumliegen.
Darıım fo früh, Noch war Keiner draußen, noch ift Alles friſch und ſchön, ein
Herrgottsgarten, in dems Einen wohl werden fann.“
An der Menterſchwaige machte er Halt. „Sollen wir? Eine erjte friſche
Mai? Eine halbe?" Er befann jih. Dann eneraiich: „Nein; jonjt bleiben
wir da boden womöglich und gar früh ifts auch mod.“
Alſo vorwärts, dem Ufer entlang, an der großhejelloher Eiſenbahubrücke
vorbei, gen Grünwald. Herrlich, wie fid das Thal verengte, der Fluß in der
Felſentiefe rumorte, herrlich der leife raufchende Wald an Ufer entlang. Mein
Herz war offen und alle meine antifathoiiihen Grobheiten warf ich dem heiligen
Manne neben mir in trauter Gemüthsruhe an den Hopf. „Wenn die Kirche
noch jo handelte, wie Chriſtus lehrte“ ... fing ich an.
„ch, was: laſſen Sie mich aus mit Ihrem Chrijtus!* kam die Antwort.
„Das bejte Nennpfe.d kann man zu Tod jehinden; und was ilts nachher? Was
denn? Gin dürrer Klepper ifts, reif für den Wafenmeijter. Und jo macht Ihrs
nit Eurem Chriſtus; daran joll dann Umnfereiner jeine Freud’ haben, was? Zu—
ftimmen joll er gar? Gehens mir! Sie find doc ſonſt Schon ein Biljel ge-
icheiter und paden das Leben nicht gerad’ bei feiner dürrjten Seite an. Chriſtus
ift and manchmal jpaziren gegangen, und wenns ſchön war draußen, am Yiebjten.
Und das Dümmſte hat er gerad nicht geredt, wenns jo um ihm gebligt und
geleuchtet hat, wie um uns Zwei bier. Das Herz tft ihm voll worden und um
die weijen Hucelmänner drin in den Synagogen hat er ſich den Teufel geſchert.“
„Sie, wenn Sie noc) lange jo fort reden“, fiel ich ein, „Dürfen Sie Ihren
jhwarzen Rock bald an den Nagel hängen.“
„Zofort, wenns fein muß! Aber feine Minute cher, als bis Sie Ihr
Sejellichafttoftüm an den jelben Nagel hängen und die ganze Sippjdaft da drin
das ihre auch. Nachher, wenn eder fo ericheint, wie er ift, thu ich ſchon
mit; umd ich werd’ nicht zu Denen gehören, die fid) am Meiften dabei zu ſchämen
haben. Grad gewachſen bin ich ſchon noch und innerlich iſt auch noch wicht
Alles verhugelt. Aber jo lang mir die Wahrheitmenjchen jo in ihren Wämmſern
vor den Angen herumflunfern wie jett, bebalt’ ich das meinige aud) an und jchaff’
darin, was mir am Bejten fcheint. Dummes Zeug Friegen meine Bfarrkinder
feins von mir zu hören und Bolitif ſchon gar nicht. Aber für quten Humor jorg’
ich und für einen guten Willen, damit was Rechtes geſchafft wird in der Welt.”
„Doktor, was id Ihnen erzählen wollte! Am Mittwoch war der Hooperator
von Sankt Ludwig bei mir. Es drüde ihn ſchon Wochen lang, er müſſe endlich
Klarheit Schaffen, fing er an. Er könne ſich gar nicht anders denfen, als da
ich einmal tief gekränkt worden jei.“
„Der Gjel!“ brummte der Doktor dazwiſchen.
„Und fo folle ich ihm mein Herz einmal eröffnen. Er hoffe ſicher, daß
ich in den Schoß der Kirche zurückkehren werde, wenn erjt diejfe Wolfe aus
meiner Erinnerung vericheucht jet.“
„Haha — ba ha!“ ftand da Einer und lachte. „So cin Wolkenfdhicher!
Diitelfinten, 519
Gekränkt muß Einer jein! Anders kann Ter fi) nichts vorstellen. Na und?
Sie haben ihn doch 'nausgeſchmiſſen hoffentlich.“
„Ich? Nein!‘
„Was? Nicht? Na, was habens denn gethan? Etwa gar mit ihm dis—
kurirt? DO, Sie. . .*
„Na, zuerſt hab’ ich einmal gerade herausgeladht, wie Sie eben.“
„Schr gut. Der wird Augen gemacdt haben!“
„Milde Augen, wehmüthige Augen, wie der Heilige Aloyjius.“
„Ste — redens nicht von Dem! Bon Dem wiljens jo wie jo nichts.
Alfo ohne Aloyfius weiter mit den Schafsaugen!”
„a, na! Er ijt doch immer Ihr Kollege, Ihr Konfrater jo zu jagen.“
„sa, ja, ich weiß: in Chrifto. Berjtanden? Nur in Ehrijto! Aber eben
darum ... Na, was hat er dem gejagt?“
„Nicht viel! Aber ich Hab’ ihm gejagt, er jolle ſich weiter feine Mühe
geben, ich hätte meinen Seelforger ſchon und Der jeien Sie!“
„Wa—a—a—as?! Nein, da hört fi) ſchon Alles auf. Doc jest muß
ic) erſt recht wijjen, was er da gejagt hat.“
„um, nicht gerade was Schlechtes. Er meinte, Sie hätten leider viel
zu viel Philoſophie jtudirt. Er habe ji alle Mühe gegeben, ſich in Ihre An—
ihauungen bineinzufinden. Aber bis jetzt ſei er damit noch nicht durchgedrungen.
Dod wolle er fi) gern beruhigen, da er vorausjege, Sie feien immerhin ein
wahrer Bertreter Ehrijti . . .“
„OD, dieje wahren Bertreter Ehrifti! Sie wiljen doch, was es heißt in
unserer jüddeutichen Sprade. Vertreten ijt jo viel wie Zertreten; umd Das
heißts hier bei ihm.“
„Und jo könne er das weitere Werf meiner Rettung Ahnen überlaſſen.“
Wie vom Blitz getroffen, jtand mein Begleiter. „Ich, Brojelyten machen?
Und Sie glaubens womöglid gar, daß ich jo ſchmutzige Geſchäfte treibe, einen
ehrlichen Kerl von jeiner ehrlidyen Meinung abzubringen? Soldye Yumperei traut
Der mir zu, diefer Herr Konfrater? Wiflens was: Das iſt ſchon zu dumm,
jaudumm. Aber Ejel find wir auch, wir Zwei, daß wir ſolches Zeug mit
daherausichleppen in die pfingitionnige Herrlichkeit. Iſt Das etwa bejier als
Stäjepapier und Wurjtfelle? Gchens zu und jhämen wir uns bis in die tiefjte
Seel’ hinein!“
Schweigend jchritt der Doktor neben mir. Dann ftand er. Ein Fink
jchmetterte jein Lied vom nahen Buchenaſt. „Du weit beſſer, was ſich hier
draußen paßt“, jante der Doktor. „Und von Dir, Du dummes Bich, wie Did)
die Menfchen nennen, können jie Alle mit einander noch lernen. Aud Sie, Sie
Wahrheitmann! Lernens von Dem da!“
Wieder fchritten wir weiter. Die Sonne leuchtete. Der Fink jang hinter
uns her. Die Buchenwipfel raujchten leife. Und vor uns winfte das Yiel —:
Grünwald.
„Wiſſens was?“ ſagte der Doktor. „Ehe ich mit Ihnen da hineingehe,
ſag' ich Ihnen was. Jetzt wollen wir Gottesdienſt feiern. Pfingſtgottesdienſt,
wir Zwei. Wir werden uns eine friſche Maß geben laſſen und ſie mit allem
Wohlbehagen trinken. Weiter nichts! Verſtehen Sie Das?“
520 Die Zukunft.
„Ich ſchon!“
„Alſo weiter! Wenn Sie es nur verſtehen. Die Anderen verſtehens ſo
wie ſo nicht. Saufen nennen ſies. Schlemmen, ſchlampampen in aller Früh
ſchon. Aber wir nennens anders: für cin fröhliches Herz ſorgen! Und ich ſag'
Ihnen, was Ihnen aud Einer daherreden mag, und wenns das Geſcheiteſte
wär’: e8 giebt feinen ſchöneren Gottesdienst, es giebt überhaupt nichts Klügeres
auf der ganzen Welt, als dafür zu ſorgen, daß der Menſch ein fröhliches Herz hat.
Ein fröhliches Herz ift zu allem Guten aufgelegt. Alſo jehe der Menſch, wie
er daran fomme und ſichs bewahre!“
Co jagte mein treuer Seelforger und ich folgte ihn.
Wenige Schritte nur that er in den Wirthsgarten hinein. Dann jtußte
er. Und von einem der nod) einfamen Tiſche her erſcholl es freudig:
‚Wer fommt? Was jeh ih? DO, Ihr guten Geijter!
Mein Roderich!“
„Mein Carlos!" Mein Seeljorger breitete die Arme aus,
Und berüber jchlugs gar prädtig:
„Iſt e8 möglich?
Iſts wahr? Tits wirflid? Bit Dus? O, Du bijts!
Ich drück' an meine Seele Did, ich fühle
Die Deinige allmädtig an mir jchlagen.
O, jegt iſt Alles wieder gut!“
Und ein Gelächter, ein Begrühen, ein Erklären ging los, als hätten wir
uns eine Ewigkeit her nicht gejehen. Und doch: erft den vorigen Dienjtag abend
hatten der Hofſchauſpieler und ich mit unjerem Sceeljorger verphilojophirt. Schelling
war das Thema geweſen; und großartig wars, wie unfer Pfarrer uns nach und
nad; mit diefem Weiſen befannt gemacht hatte. j
„Daß Sie nur auch da find!“ kicherte er nun fröhlid und jchlug dem
Hofſchauſpieler auf die Schulter. „Der da hat fich wieder an meinem jchwarzen
Kittel gerieben. Aber abgefahren ift er. Werd’ mir meinen feinften Rod gleich
fahl ſcheuern laſſen!“
Nun, was jetzt kam, weiß man ja. Wo ſich Drei ſo treffen in München
oder in ſeiner Nähe, da ſchäumts. Und es ſchäumte aus fröhlichen Herzen.
„Mathieu, Du biſt wieder einmal recht ausgelaſſen“, hätte unſer pädagogiſches
Marterfräulein geſagt, wenn fie dabei gewejen wäre. „Geh hinein und fchreibe
fünfundawanzigmal auf Deine Tafel: Alles mit Maß.“ Sie war nämlid
überall jehr mäßig; nur das Spruchichreibenlafien und Knuffen und Beten betrich
fie ftets ohne Mad. Und wenn meine Mutter nicht gewefen wäre, id) glaube,
ich ſäße heute noch vor meiner Tafel und fchriebe, ſchriebe, ſchriebe ...
Diſtelfinken! ch hörte ihr Gezwitſcher und ſah ihr buntbeflügeltes, reizendes
Seflatter. Und alte, bunte Stunden flatterten auf in mir und erzählen von Freuden
und Leiden und hellen Sonnenjtrahlen.
Diftelfinfen! Mein Vater batte in feinem Garten einen jungen Kirſch—
baum gepflanzt, eine Edelkirſche, deren Frucht jo groß fein follte wie eine Kleine
Pflaume. Im nächſten Frühjahr ſchon blüpte das Bäumden; und ſiehe da:
ein Diſtelfinkenpaar ſiedelte ſich in der Krone an und baute fein Neſtchen hin:
ein. Von Weitem ſahen wir den emſigen Vöglein zu und erlebten ihre Freude
Diftelfinten. 521
mit, bis eines Tages eine fünflöpfige junge Gejellichaft die beiden Alten ums
tänzelte auf den ſchwanken Aeſten unferes Kirſchbäumchens. Liebe Kerlchen waren
es alle und fie piepten jo nett und jchlugen jo unbeholfen noch mit den Flügeln,
flogen die Alten mit Futter herbei. Neulich ging ich vorüber und jah den Baum.
Groß und ſtark war er geworden, aber er jtand auf fremdem Boden nun. Und
weiter ging ih; da jtand auch unjer Haus. Dede, grau, verlajien, die Päden
geichloffen, die Wege im Garten mit Gras bewachſen, die Roſen verwildert, mit
braunen, erfrorenen Knoſpen an den jtruppigen Zweigen. Sein Leben mehr,
feine Sonne, feine Farbe. Nichts rührte fih noh. Dody..da.. um das Rojen-
beet ſpitzten Tauſende von Scneeglödcden aus der aufthauenden Erde. Ich
hatte fie einjt gepflanzt, ich jelbjt, direkt unter dem Fenſter, an dem meine Mutter
immer ja. Da jtand ic nun und jchaute über die Mauer in einen Garten,
der nicht mehr mir war und wo doc) jo Vieles mein Eigenthum gemwejen. Ein
Anderer ijt nun Herr unjeres Hauſes und unferes Gartens. Alle Sonnenftrahlen
gönne ich ihm. Und wenn erjt wieder im Garten Blumen blühen und Dijtel-
finfen zwitichern und liebe Kinderjtimmen erjchallen und wenn ein Bube fi
findet mit glänzenden Augen, der meinen felbjtgezimmerten Taubenjchlag wieder
aufbaut und fich an meinen Veilchen erfreut, jo will ich in die Hände klatſchen und
jubeln, da Leben, jonniges Leben da wieder einzog, wo jegt Erinnerung nur mit
grauem FFlügelichlage flattert.
Diſtelfinken: jchnell! Kommt rajch zurüd! Laßt Euch nicht fchreden!
Nur eine kleine Wolfe wars, die eben vorüberzog. Seht: dort treibt fie jchon
bin vor dem Winde, ein flatterndes Segel, — und hinter ihr her ſchießt es aus der
Höhe mit goldenen ‘Pfeilen,
„Mama, bringit Du uns was mit?“ |prudelt mein Blondlopf.
„Nein, heute nicht! Ich hab’ fein Geld.“
„DO, dann komm’ jchnell zum Papa! Der giebt Dir Geld. Der hat
immer furchtbar viel Geld.“
Diejes unerfhütterlihe Vertrauen des Kindes in jeinen Papa! Das
muß doch wirflid ein reiher Mann fein, dem ein Kind jo vertraut! Nicht
wahr? md wie hilft mie der Kleine jchon, wie tröjtet er! Neulich entfuhr es
mir: „Deute nid! Ich hab’ fein Geld!“
„oO, jei nur ruhig! Morgen geh’ ich auf die Poſt und fauf! Dir Geld.
Und dann bring’ ichs Dir, eine ganze Hand voll.“
Morgen! Eine ganze Hand voll! Bei jolden jchönen Ausfichten läßt
jih$ doc) ruhig leben. Und jo überlegen wir heute, was wir morgen mit all
dem Gelde thun. Drüben winken die Taunusberge in wunderbarer Bläue und
rechts davon liegt Frankfurt. Alſo morgen gehts nad Frankfurt zum Onfel
Doktor und dann holen wir den Baul und laufen Alle in den Zoologiſchen Garten.
Morgen! Gelt? Und dann jchen wir Yöwen und Bären und Affen und...
„Die ganz, ganz Kleinen — jo Klein — Aeffchen jehen wir dann“, fällt
mir mein Schatz ins Wort.
Aljo morgen! Und Das wird fein dann!
Diitelfinten! Da fliegt mein bunter Schwarm auf und davon! Laßt fie!
Sie werden ſchon wiederfommen. Und wenn fie fommen, wirds neue Freude geben.
Laubenheim. Mathieu Schwann.
v
522 Die Zuhmtft.
Erner und Genoſſen.
F genau ein Jahr nach dem Zuſammenbruch der Leipziger Bank vollzieht
> ſich an der Pleiße das Strafgericht über die Aufſichträthe und Direktoren
des verfrachten Inſtitutes. Heute wirds Einem beinahe jchon ſchwer, ſich auf
die Einzelheiten diejes Falles zu bejinnen; die ungewohnte Fülle der in zwei
Jahren gehäuften Finanzkataſtrophen verwirrt das Gedächtniß. Und doch war
gerade der leipziger Krach nicht nur das unerwartetejte, jondern wohl aud) das
am Weiteften fortwirfende von allen Ereigniſſen der letzten Kriſis. Daß große
Attienfapitalien nicht vor dem Zuſammenbruch ſchützen, daß die allerjchönften
bilanzmäßigen Nejervefonds wie die Spreu vor dem Winde zerflattern: dieje
alte Erfahrung hat noch jede Schwindelaera erneut. In Yeipzig aber brad) mit
der einzelnen Bank aud) eine ehrwürdige Tradition zujammen und ein Graujen
ging durd die Bureaux. „Weld Haupt jteht feſt, wenn diejes heilge fiel?“
Nach dem Krach habe ich hier Einiges aus der Geſchichte der Yeipziger Bank
erzählt und daran erinnert, daß vor bald jiebenzig Jahren nicht das jpefulative
Bedürfniß des Augenblides, fondern die gebieterifche Forderung der wirthichaft-
lihen Zuſtände zur Gründung diejes Inſtitutes trieb. Seit es ein Deutiches
Reich gab, ſank die alte Leipzigerin jacht zum Rang einer Provinzbant herab.
Immerhin blieb ihr ein Theil des früheren Nimbus und der überlieferte Huhm
wirkte noch jo ſtark, daß die Leipziger Gejchäftsariftofratie jich in den Aufjicht-
rath drängte und viele Groffaufleute der alten Meßſtadt es gewiſſenmaßen
für eine Ehrenpflicht hielten, wenigjtens einen Theil ihrer Geichäfte durd; die
Leipziger Bank zu machen. Das muß man bedenken, um zu verjtchen, welche Ee-
deutung der Sturz diejer Bank für Yeipzig hatte, Die Vaterſtadt wurde pekuniär
von der Statajtrophe natürlich härter als irgend ein anderer Ort getroffen; noch
ihmerzhafter aber war die pſychiſche Wirkung des Stoßes. Die alten Leipziger
fühlten ihre lokale Ehre getroffen; ihr partikulariſtiſches Gemüth war im tiefiten
Grunde verlegt. Das merkt man noch jeßt, wern man mit Leipzigern über
den Prozeß ſpricht. Sogar die Dotelportiers, denen die vielen Säfte, Zeugen
und Sadjverjtändige, die der Prozeß heibeigeführt hat, doc, recht anjehnlichen
Berdienjt bringen, fluchen Deren Exner. Freilich iſt Exner fein Sadıle, für
Klein: Paris aljo, was den Hellenen jeder eyremde war: ein Barbar. Da kann
der Zorn ſich zügellos austoben. Der frühere Direktor Dr. Fiebiger und Exners
Mitdireltor Dr. Gentzſch, deren Vergehen viel milder beurtheilt werden,’ jtammen
aus Sachſen; mit einem Schein von Recht kann deshalb der ſächſiſche Spieß—
bürger ausrufen, er habe ja ftets gejagt, das Gute, Echte, Solide wachſe eben
dod nur im Yande der Wettiner. Die Menge ift zu Eurzfihtig, ur einfehen
zu können, daß Exner jo gefährlich nur werden fonnte, weil jein Tr.iben vom
ſächſiſchen Geſchäftspartikularismus fajt völlig der Kontrole entzogen t.ar; man
konnte ihm von außen ber nicht in die Karten ſehen und jo fand er die Mög—
lichfeit, feine Betrügereien Jahre lang zu verjchleiern.
Intereſſant war in der Serichtsverhandlung zunächſt die Enthöllung der
Gründe, die zum Engagement Exners geführt hatten. Die Bank war greijen-
haft geworden und man bramdıte Friihes Blut. Was aber greijenyaft und
marajtiich Ichien, war zum Theil einfach nur ſächſiſch. Man kann ſich, wenn
Erner und Genoijen. 523
man nicht lange in Sachſen gelebt hat, kaum vorjtellen, daß es außer Mecklen—
burg nod einen deutjchen Bundesitaat giebt, in dem BZuftände, die uns faſt
mittelalterlich jcheinen, ſich im wirthichaftlichen Leben jo lange und jo gut Fon:
jervirt haben. Der gebildete, modern empfindende Sadje klagt und jeufzt jelbit
darüber: aljo muß es wohl wahr jein. Einen fleinen VBorgeihmad befommt
jhon der Fremde, der in einem der beiden erjten Hotels in der Roßſtraße ab»
jteigt. Preiſe, Eifen, Bedienung entipreden wirklid dem Rang eines eriten
Hotels. Die innere Ausjtattung aber ift, werm man von einem Bishen Stud
und weichen Teppichen abjieht, fait noch genau jo, wie man fie vor fünfzehn
Jahren zu jehen gewohnt war. Daneben jind pradhtvolle, modern ausgejtattete
Hotelpaläjte entjtanden; aber die beiden alten Hotels gelten den meiften Leip—
zigern heute noch als die feinjten. Bon dem Segen der freien Stonfurrenz till
der Durchſchnittsſachſe nichts hören. Die Regungen eines allen Fortſchrittswünſchen
mißtranenden Geiſtes jpürte man auch in der Geſchäftsführung der Leipziger
Bank. Als Exner, der in der Deutſchen Bank gelernt hatte, das Gelernte in
jeiner neuen Stellung verwerthen wollte, gefiel den verehrlichen Aufjichträthen
an der neuen Manier jehr Bieles nicht. Bejonders fanden fie, es jet unter der
MWürde ihres Tinititutes, mit allzu vielen Offerten jpefulativer Art an das
Publikum heranzutreten. Ein Aufjihtrathsmitglied jagte in der Hauptverband:
lung aus, die etwas wilde Betriebiamteit Erners jei an dem geſunden Sinn
der Leipziger Bevölkerung jchließlich gejcheitert.
Nicht nur um eine wirthichaftliche, Tondern auch um eine lofalpatriotijche
Angelegenheit handelt es ji alſo in Leipzig. Deshalb ift der Andrang zur
Dauptverhandlung auch viel jtärfer als etwa in Berlin beim Prozeß Sanden.
Man mul auc zugeben, daß die leipziger Angeklagten interejlanter find. zijn
Berlin ift eigentlich nur Eduard Sanden, vielleicht auch noch Eduard Schmidt
pſychologiſcher Beachtung werth; die meilten anderen Angeklagten find geijtig
unbedeutende Dugendinenjchen. Exners Nachbarn auf der Anklagebanf erregen
ſchon deshalb Intereſſe, weil fie den feiniten Nreijen angehören. Unter den
Auffihträrhen finden wir zwei Mittmeilter der Landwehr, einen Nitter des Ei:
jernen Kreuzes zweiter Klaſſe, drei Ritter des Albrechtordens; und die ſchönen
Titel eines füniglichen Kommerzien- oder Stammerrathes ſchwirren an andäch—
tigen Ohren vorbei. Schon jet möchte ich, nadı dem perjönlichen Eindrud,
behaupten, daß diefe Männer wirklich dupirt worden find. Welches Intereſſe
jollte jie zum Beirug treiben? Sie waren reiche, angejehene Leute, find zum
Theil noch jest Inhaber erjter Leipziger Firmen und hätten, um ihren geidhäft-
lichen Ruf zu wahren, ſicher ohne Zaudern ihr ganzes Vermögen geopfert. Sie
wußten vielleicht nicht, in welchem-Umfang ihre Bank jich bei der Trebertrodnung
engagiert bitte. Exner kann jie hintergangen haben. Trotzdem find fie nicht unfchuldig.
Nach den Weſetz iſt „jeder jtrafbar, der in der Wahrnehmung der Aufjichtraths:
geſchäfte die Zorgfalt eines ordentlihen Kaufmanns vermijjen läßt. Gegen
dieje Borichrift Haben die Herren gejündigt. Es iſt lohnend, darauf zu adien,
wie oft die jelben Menſchen, die im ihren eigenen Geſchäften ſich gewiß peits
lichiter Sorafalt befleißen, als Aufjichträthe ihre Pflicht nicht erfüllen. Einen
großen Theil der Schuld trägt die Mißbildung uujeres Aufſichtrathsweſens.
Auch bei der Leipziger Bank gab es eine „Obligokommiſſion“, der allein das
39
524 Die Zufimft.
Recht zuitand, die einzelnen Debetjalden zu prüfen. Wer dieſer Kommiſſion nicht
angehörte, kümmerte fich nicht jelbitändig um diefe Dinge; ja, er durfte und
konnte fich eigentlich gar nicht darum kümmern: denn nicht jedes Auffichtraths-
mitglied ijt ohne Weiteres befugt, die Bücher und Skripturen der GSefellichaft
einzujehen. In Leipzig jcheinen die Uuffichtrathsfigungen oft, jchon che fie be-
gannen, protofolirt worden zu jein. Die Herren ſahen in ihrer Thätigfeit aljo
jelbjt nicht viel mehr als eine Komoedie. Der Auffihtrath hat bei ung ja über-
haupt eine Zwitterftellung; er jol nicht nur für eigene Thaten, jondern auch
für die Anderer haften, deren Geſchäftsführung er doch nicht bis ind Einzelne
zu prüfen vermag. Und je länger Aufjichtrath und Direktion zufammen arbeiten,
vielleicht auch gejelichaftlich mit einander verfehren, um jo jchwächer wird natür«
ih das Gefühl der Kontroleurpflidt. Ein gebeihliches Arbeiten wäre ja nicht
möglich, wenn der Auffichtrath die Direktoren von vorn herein als Schwindler
betrachtete; ein gewijjes Maß von Vertrauen muß er ihnen entgegenbringen.
Thut er Das aber, dann darf man ſich auch nicht wundern, wenn er nicht ohne
Beweisgrund annimmt, die Direktoren könnten ohne die geringite thatjächliche
Unterlage Bojten in die Bilanz einftellen.
In dem leipziger Fall könnte der Auffichtrath übrigens die Perjönlichkeit
Erners als Entlaftungmoment anführen. Man muß Erner vor Gericht gejehen
haben, um zu begreifen, wie er auf feine Leite wirkte. Er hat jtahlharte blaue
Augen und einen prächtigen blonden Vollbart, konnte alfo bei jähfiihen Anti-
jemiten fein Mißtrauen erregen. Er ift ein jchöner, eleganter Mann, weiß mit
den Worten trefflih zu jongliren und bat für die Fnifflichjten Dinge die ein-
fachſten Aufflärungen. Wer je im Gefühl feiner Unſchuld vor Gericht jtand,
bat unter dem Bewußtſein gelitten, daß der auf der Sünderbank Sitende von
vorn herein als jchuldig gilt; der jelbe Menſch würde, wenn ihn die Nobe des
Staatsanwaltes zierte und er in lauten Brufttönen gegen einen Verbrecher
mwetterte, ein tadellojer Ehrenmann jcheinen. So wird denn jegt auch Exner
überall für einen Schwindler gehalten. Aber man denke ſich den vornehmen,
liebenswürdigen Herrn nicht als Angeklagten, denke ihm fich der muffigen Luft
des Gerichtsjanles entrüdt und man wird jofort verjtehen, daß er dem Aufjicht-
rath über jeden Verdacht erhaben ſcheinen mußte. Natürlich können auch diefe
mildernden Umjtände den Auffichtrath nicht völlig entlaften; er hat fi denn
dody allzu lau und nachgiebig gezeigt. Als die Konkurrenz erbittert gegen die
Trebergejellichaft fämpfte, meinten die leipziger Derren, gerade in dieſer Er»
bitterung den Anlaß zu gejtärftem Bertrauen finden zu follen. ‚Denn‘, jagt
einer der Mitangeklagten, der Inhaber der vornehmen Bankfirma Frege & Co.,
„denn es mit der Trebergejelljchaft wirklich jo faul jtand, dann konnte die Kon—
kurrenz doch gar nichts Beſſeres thun als: ruhig zujehen, wie die Trebergejell-
ſchaft ſich jelbjt zu Grunde richtete.” Die Konkurrenten der Kafjeler hatten aber
allen Grund, nicht ruhig zu bleiben. Die Direktoren der Trebergejellichaft hatten,
weniger in betritgerijcher Abficht als unter dem Einfluß wachſenden Größen-
wahres, weit unter dem Marktpreis große Abſchlüſſe gemacht, deren Erfüllung
ihnen nicht möglich war, da fie ſolche Mengen gar nicht produziren Eonnten.
Nicht nur machten fie damit jel"jt kein Geſchäft, jondern fie ruinirten auch nod) den
anderen Firmen den Markt. Die anaeklagten Auffichtrathsmitglieder führen zu ihrer
Notizbuch. 525
Entlajtung aud an: der hohe Kursſtand der Bankaktien habe doch bewiejen, daß
Niemand Mißtrauen gegen die leipziger Bank hatte; weshalb jollten gerade jie da
mißtrauisch werden? Merkwürdig; die Herren gehörten jelbit einem Hauſſe—
tonjortium für Treberaftien an, wußten aljo, wie mans anftellen muß, um den
Aktienkurs und den Schein jtrenger Solidität bis kurz vor dem Zufammenbrud)
aufrecht zu erhalten; und da genügte ihren vertrauenden Herzen ein Blid auf
den hohen Kursſtand der Leipziger Bank? Feitgeftellt ijt ja auch, daß ein Kon—
jortium die Aufgabe hatte, alles Material an Leipziger Bank-Aktien aufzufaufen,
das an die Börje fam. Trotz Alledem wird die civilrehtliche Klage auf Schadens-
erja vielleicht dem Aufjichtrath gefährlicher werden als das Strafgericht, das
ihn wahrjcheinlih nur der Fahrläſſigkeit jchuldig finden wird.
Biel jchlechter fteht Erners Sade. Er wußte, welche Unjummen jeine
Bank den Kafjelern geliefert hatte, und hat — mag er lange auch vom Treber-
ſchmidt getäufcht worden jein — ſchließlich bewußt gelogen und gefälſcht. Auch
des Betruges und des betrügerifchen Bankerottes ift er bezichtigt und man kann
ihm den Groll gegen die großen berliner Banken nachfühlen, die ihn nicht janiren
wollten; fommt er ins Zuchthaus, jo wird er ihrer Weigerung die mittelbare
Schuld zuichreiben. Der Paragraph, der den betrügeriichen Bankerott mit Zucht—
hausjtrafe bedroht, macht die Strafbarfeit von der in gewiſſem Umfang will
fürlich zu jchaffenden oder zu meidenden Thatjache abhängig, da der Konkurs
eröffnet ift oder die Zahlungen eingejtellt jind. In dem leipziger Fall aber
kommt man über dieje Konftruftion leicht hinweg; denn da Erner, wie fejtge-
jtellt ift, da$ Vermögen jeiner Frau und feiner Kinder bei Seite geichafft hat,
muß er fi der Gefahr jeines Treibens bewußt geweien fein.
Man hat für Herren Erner den ſchärfſten Staatsanwalt ausgeſucht. Auch
der Schwurgerichtspräfident gilt als ein jcharfer Herr und guter Juriſt, der,
wie man in Leipzig erzählt, nächitens ins Reichsgericht berufen werden wird.
Entjheiden wird natürlich der Spruch der Geſchworenen. Die Verteidigung
hat ihr Ablehnungrecht benußt, um die Zahl der Leipziger unter den Gejchworenen
möglichit zu bejchränfen. Namentlich die Sejchäftsleute waren ihr unwillkommen.
Wie bei Brandſtiftungprozeſſen die ländlichen, jo werden bei Konkursvergehen
gern die faufmänniichen Geſchworenen von den VBertheidigern ausgemerzt. Das
Scidjal der Leipziger Bank aber hat jedes Sachſenherz bewegt, den Sachſenſtolz
gedemüthigt und idy glaube nicht, daß es jelbit dein jchlauften Kriminalanwalt
gelingen könnte, für diefen Prozeß Geſchworene zu finden, deren Seele von jedem
vorurtheilenden Haßgefühl gegen Erner und Genoſſen frei ijt. Plutus.
Notizbuch.
I N ief erjchüttert, riefen die lärmenden Nekrologe, die dem König Albert von
SIND Sadjjen ins Grab nachhallten, jtehe das ganze deutſche Volk an der Bahre eines
unerſetzlichen Monarchen. Das iſt neudeutjcher Stil. Immer muß es das ganze
deutſche Volk fein; und ohne tiefe Bewegung, tiefe Erfchütterung jcheinen Feierreden
39*
526 | Die Zulunſt.
und Leitartifel nicht mehr zu leiſten. An dieje leere Phraſeologie hat Jeder ſich Längft
gewöhnt und der tragirende Schwäßer, der feine zujammengelejenen Broden mit
großen Grimaſſen unermüdlich vorträgt, wird faum nod) ausgeladht. Die jchönen
Tage, da wir über die Schwagichweifigkeit der Franzoſen jpotten durften, kehren jo
bald wohl nicht zurüd. Natürlich war auch diesmal von einer Erſchütterung nichts
zuipüren. Ein dreiundjichenzigjähriger Derr, der feit Jahren frank war, ift geftorben
und ein anderer alter Derr heißt jet König von Sachſen. Jenſeits von den grün—
weißen Grenzpfählen iſt der Wechſel nicht als ein Greignif empfunden worden und
für unerjeglid haben jelbft die Sachſen ihren alten Albert nicht gehalten. Er
war tüchtig, gewiſſenhaft, hatte Menſchenverſtand, wußte fi, als Greis wie als
ssüngling, weiſe zu bejcheiden und wollte nie als der Protagonift auf dem
Bordergrund der Bühne bewundert werden. Vielleicht ift auf die Verſöhnlichkeit
jeines Gemüthes, auf die raſche Energie nicht genug hingewiejen worden, die ihn
aud mit jchmerzender Erfahrung ſich ſchnell abfinden hieß. Dieje Eigenſchaft wurde
gerade in der Epoche der deutſchen Einheittänpfe wichtig. Die ſächſiſchen Partikula—
rilten hätten den Kronprinzen, der auf Böhmens Schlachtfeldern gegen die Preußen
gefochten hatte, gern zum ‚Führer erforen. Die Stimmungwar damals aud) ineinem
großen Theil der Oberſchicht noch entſchieden antipreußiſch und murrender Groll
empfing jeden Eleinjten Verſuch, VBoruffenfitte nach Zadjjen zu tragen. Als den
ſächſiſchen Seneralen der jchöne Treſſenhut genommen, Artilleriften und Infante—
riſten die Pickelhaube aufgeftülpt wurde, ging ein Stlageruf durch das Rautenreich
und in „Sachſens Nilitärvereinstalender“ las man harte Worte überdenneuenSchritt
zur Uniformirung des deutſchen Heeres; Sachſens erzwungener Eintritt in den Nord-
deutſchen Bund, hieß es da, dürfe doch nurdienächite,nicht diefernere Zufunft des König—
reiches binden. „Gott, der Sachſen durch den Jammer des Siebenjährigen Krieges
und des ruſſiſch-preußiſchenCßHouvernements geführt und zu neuer Blüthe emporgebracht
hat, wird auch diesmal nach finſterer Nacht den ſchönſten hellen Tag anbrechen laſſen.“
Der Abgeordnete Wölfel las am neunten Dezember 1867 dieſe Sätze im Reichstag
vor und fügte hinzu, die Tonart müſſe um ſo mehr auffallen, als der Kronprinz
Albert der Protektor des fächſiſchen Militärvereins ſei. Bismarck konnte anworten,
der Kalender ſei „eine Privatſpekulation“ und es ſei „ganz undenkbar, daß ange—
ſichts der nationalen, patriotiſchen und vertragtreuen Haltung der königlich ſächſi—
ſchen Regirung irgendeine höhere amtliche Stelle im ſächſiſchen Land ſolche Ausdrücke,
wie ſie dieſer Kalender über das Bundesverhältniß enthält, ſanktioniren ſollte.“ Ein
paar Tane danach ſchrieb ihm der Kronprinz von Sachſen: „Verehrter Herr, Graf,
ich kaun mir nicht verſagen, Ihnen meinen wärmſten Danf für die Art auszu«
ſprechen, wie Zie fi) meiner auläßlich des unglücklichen Militärkalenders ange—
nonmmen haben. Ich bramde wohl nicht erft zu verjichern, daß mir die Sache ganz
fremd ift, ja, daß ich die Exiſtenz dieſes Machwertes kaum ahnte. Es tft übrigens
nichts dahinter zu ſuchen als Reminiſzeuzen einer vergangenen Periode. Sie
wiſſen, daß; Dergleiden in den unteren Schichten des Volkes noch zu haften pflegt,
wenn die oberen längit eines Befjeren belehrt jind. Die unteren auf unjeren Stands
puntt zu bringen, iſt jetzt unjere ettrigite Sorge... . Judem ich um die Fortdauer
Ihrer loyalen Geſiunnug gegen mein Baterland und Ihres Wohlwollens gegen mich
bitte, verbleibe ich Ihr ergebener Albert.“ Aus Bismards Antwort find die Sätze
hervorzuheben: „Ich ſehe es als die nächſte Auſgabe der Bundespolitik an, dahin zu
Notizbuch. 527
ſtreben, daß alle Bundesgenojjen Preußens, namentlich aber der hervorragendite
unter ihnen, das Königreich Sachſen, es nicht blos als eine Vertragspflicht, jon-
dern als ein werthvolles Recht anfehen, dem Bunde anzugehören. Dieje Bedeutung
kann der Bund für feine hohen Genojjen nur dann haben, wenn den Souverainen
die Ueberzeugung bleibt, daß fie durch die Gentralifirung eines Theiles ihrer Nechte
in der Hand Eines unter ihnen eine nach menſchlichen Begriffen fihere Bürgichaft
für die Gejammtheit ihrer fonftigen Nechte erworben haben und daß dieſe Rechte
gegen den Drud innerer Bewegung eben jo gewiß geſchützt find wie gegen äußere
Gefahren. In diefem Sinn der Gegenjeitigkeit und Solidarität unter den hohen Ge-
noflen des Bundes jehe ich e8 für eine Pflicht des Bundesfanzlers an, das Anjchen
und die Rechte der fürftlichen Häufer innerhalb des Bundes mit eben jo gewiljen«
haftem Eifer zu wahren wie das des eigenen Landesherrn.“ Statt Albert3 derb
menjchliche Sejtalt greinend ins Weſenloſe zu reden, jollte man folche Erinnerungen
auffriihen. Sie zeigen, welche Stellung der Kaiſer, welche der Kanzler im neuen
Reich haben follte, und liegen uns näher, können uns nüßlicher werden als die
Vhantafieflüge in die verichollene Herrlichkeit der Karlingertage.
* *
*
In dieſe Zeit zieht den Deutſchen Kaiſer des Herzens Sehnſucht. Er möchte,
wie ſein Vater, den Guſtav Freytag darum faſt zornig ſchalt, das neue Kaiſerthum
an das alte kitten. „Aachen“, ſagte der Kaiſer in einer der vielen Reden, die in rheiniſch—
weſtfäliſchen Städten Beifall gefunden haben ſollen, „Aachen iſt dieWiege des deutſchen
Kaiſerthums; denn hier hat der große Karl ſeinen Stuhl aufgerichtet“. Den Stuhl
der alten Kaiſer hatte, als in Berlin der erſte Reichstag eröffnet werden ſollte, der
Kronprinz ‚Friedrich Wilhelm feinem Vater hingejchoben. Freytag wünſchte das aus
dem Urwald deuticher Geſchichte ſtammende Schaugeräth zum ehrwürdigen Trödel
und rief: „Wir haben eine entichiedene Ubneigung, Erinnerungen an das alte Kaiſer—
thum des Heiligen Römiſchen Neiches im Daufe der Hohenzollern wieder aufgefrijcht
zu ſehen. Wir im Norden haben den Kaijertitel uns — ohne große Begeifterung —
gefallen lajjen, jo weit er ein politiſches Machtmittel ift, unferem Volk zur Einigung
Helfen mag und unjeren Fürſten ihre ſchwere Arbeit erleichtert. Aber den Kaijer-
mantel jollen unjere Hohenzollern nur tragen wie einen Offiziersüberrod, den
fie im Dienft einmal anziehen und wieder von fich thun; ſich damit aufpugen
und nad altem Kaijerbrauc unter der Krone dahinjchreiten follen fie uns um
Alles nit. Ihr Kaiſerthum und die alte Kaiferwirthichaft follen nichts gemein
haben als den — leider — römijchen Caeſarnamen. Denn um die alte Staiferei
ſchwebte jo viel Ungefundes, jo viel Fluch und Verhängniß, zulegt Ohnmacht und
elender Formenkram, daß fie uns nod) jet ganz von Herzen zuwider ift. Von Pfaffen
eingerichtet, durch Pfaffen geweiht und verpfuſcht, war fie ein Gebilde des faljcheften und
und verhängnihvolliten Idealismus, der je Fürſten und Völkern den Sinn verftört,
das Leben verborben hat... Heute ijt der Nation das Geremoniell und die äußerliche
Darjtellung jeinesstaijerthumes nur jo weit erträglich, wie das Umwejentliche nicht die
Zeit und den thätigen Ernft jeines Yebens beengt.“ Für das Büchlein, in das diefe
Säge aufgenommen find, hat der Staijer einjt dem Bildner deutjcher Bergangen-
heit gedankt; jegt würde er ihn wohl hart tadeln. Der Glanz der alten Theokra—
tie hat es Wilhelm dem Zweiten angethan. Und der Kaiſer bewundert das blendende
Buch des Herrn Chamberlain, dejfen germanocentriiche Auffaffung der Weltgefchichte
528 Tie Zuhunit.
ihm gefallen mußte. So ift aus jehr verjchiedenen Eindrüden eine Anſchauung ent»
ftanden, deren befremdende Spur in den legten Reden wieder bejonders ſichtbar
ward. Auch die Energie Karls des Großen, hat Yampredt gejagt, vermochte nicht
eine neue germanijch-Hriftliche Kultur aus dem Boden zu jtampfen; „jo ungeheuer
jein Wagniß und jo unbegrenzt jeine Kraft erjcheint: bier fämpfte er gegen den
Genius der nationalen Geſchichte ſelbſt.“ Der Kaiſer blidt zu dem Manne, dervom
Gottesſtaat träumte und dejien Liebling deshalb Auguftinus war, wie zu einer fled-
loſen Idealgeſtalt auf und jcheint zu hoffen, noch heute könne der theofratijche Traum
Wirklichkeit werden. Die Germanen find nad feiner Meinung zur Weltherrichaft prä:
dejtinirt. Noch find nicht zwei Jahre vergangen, jeit er das römiſche Weltimperium pries
und den Wunjch ausſprach: ‚Dem Vaterland möge beſchieden jein, jo feit ge
fügt und jo maßgebend zu werden, wie es einft das römische Weltreich war.‘ est
heit es: „Zerbröckelt und morſch wankte der römische Bau und erjt das Erſcheinen
der fiegesfrohen Germanen mit ihrem reinen Semüth war im Stande, der Welt«
geichichte den neuen Yauf zu weijen, den fie bisher genommen hat.“ Die Deutſchen
jind das einzige Wolf, das noch Ideale hat, das einzige, „wo nod Zucht, Ordnung
und Disziplin herricht, Reſpekt vor der Chrigfeit, Achtung vor der Kirche“; „kein
Werk aus dem Gebiet neuerer Forſchung, das nicht in unferer Sprade abgefaßt
würde, und fein Gedanke entipringt der Wiſſenſchaft, der nicht von uns zuerſt ver—
werthet wirde, um nachher von anderen Nationen angenommen zu werden.‘ Dieje
Behauptung wäre recht ſchwer zu beweijen; und der Politiker könnte, auch wern
fie bewiejen wäre, nicht empfehlen, jie öffentlich auszufprechen. Erfreulider ang
nüchternen Deutjchen, was der Kaiſer über die Aufgaben des neuen Kaiſerthums
jagte: cs joll nicht, wie das alte, „unter der Sorge um das Weltimperium das
germanijche Wolf und Yand aus dein Auge verlieren‘, jondern, „nach außen be
ſchränkt auf die Grenzen unferes Landes“, nad) innerer Kräftigung feines Beſitzes
jtreben. Das tft ein ftarfes Argument gegen den exrpanfiven Imperialismus und
völlig unvereinbar mit dem Wort: „Unfere Zukunft Liegt auf dem Wafjer” ; für den
Kaiſer liegt fie jet im Grenzbereich unjeres Landes, auf den wir „nad außen be—
Ichränft“ find. Und: „die Wurzeln der Kaiſerkrone ruhen im märkiſchen Sand“. Man
muß abwarten, ob dieje Worte wieder verhallen werden oder eine Umkehr anfünden
jollten. Das hohe Ziel ihres nationalen Yebens werden nad) des Staijerd Meinung
die Deutjchen nur erreichen, wenn fie fromme Ghrijten jind. „Ob wir moderne
Menſchen find, ob wir auf diefem oder jenem Gebiet wirken: Das ijt einerlei. Wer
jein Yeben nicht auf die Bajis der Religion jtellt, Der ift verloren.“ Armer Alter
Fritz, armer Goethe, arme Moderne, die Ihr nad) der jchmerzlich vermißten Einheit
in Denten und Dandeln drängt, unter Qualen um eine neue Weltanfhauung ringt:
Ihr feid unrettbar verloren. Wie ein alter Kaiſer, „stellt“ Wilhelm der Zweite
„das ganze Reich, das ganze Wolf unter das Kreuz." Und Niemand erinnert
den frommen Volfsrepräjentanten ehrerbietig daran, daß heute Abermillionen von
der Wurzel jeines Glaubens gelöft find, der fie lange genug in lähmende Wibder-
Iprüche zwischen Belennen und Thun gebannt hielt, und daß feit den wittenberger
Tagen das Berhältnig zu Gott die perjönlichite Sache des Einzelnen geworben ift.
Niemand. Der Statjer, der summus episcopus des preußiichen Proteftantismus,
ipricht von der „großen Zeit der Neformation“ und nennt dennod) den Papſt, wie
der aläubigite Katholif, den „Deiligen Vater” und freut fi) der Anerkennung, die
| Notizbuch. | 529
Leo der Dreizehnte in einem Privatgejpräd dem Zuftand des Deutichen Reiches ge-
Ipendet haben joll. Welche Kraft, muß man, nicht zum erjten Mal, fragen, bleibt
einem Proteftantismus, der gegen Rom nichtmehr protejtirt? Was hindert ihn noch,
die Kluft endlich zu jchließen und den ‚‚Deiligen Vater” von dem ärgernden Anblid
eines Ketzervolkes zu befreien? ..... Wenn der Regirungzeit Wilhelms des Zweiten
einjt ein Angilbert entjteht, wird er melden müſſen: von Jahr zu Jahr jei es den
Aufrechten jchwerer geworden, fi in den Gedankengängen des Kaiſers zurechtzu-
finden; dod) jo ungeheuer jei dazumal im Lande der „Germanen mit deu reinen
Gemüth“ die Macht der Deuchelei und Lüge geweſen, daß der Kaiſer die Wirkung
jeiner Reden beim beiten Willen nicht zu ahnen vermochte und, da ungehemmt fein
Ruf zu ihm drang, mit unerjchütterter Zuverficht an die Auswählung des Voltes
glauben konnte, das ihm die wichtigste Pflichtleiftung, Wahrhaftigkeit, jchuldig blich.
* *
Herr Karl Jentſch ſchreibt mir:
‚Meinem Artilel Induſtrieſtaat oder Agrarjtaar?‘ eine kleine Ergänzung
nachzuſchicken, veranlaßt nid) ein Buch, das ic) erjt jegt gelejen habe: ‚Deutihland
am Sceidewege‘ vom Dr. Ludwig Pohle. Es ift ein vortreffliches Buch und ich bin
namentlich mit Dem einverjtanden, was darin über die Tendenz des Weltverfehres
gejagt wird: daß wir nicht der ungefunden Scheidung der Yänder in Induſtrieländer
und Agrarländer entgegengehen, jondern einem Zujtande, wo alle Staaten Mgrar-
Induſtrie-Handelsſtaaten jein und nicht Agrarprodufte gegen Anduftrieerzeugnifie,
jondern Induſtriewaaren gegen Induſtriewaaren und Bodenerzeugniffegegen Boden-
erzeugnijje austauschen werden, — mit den Ausnahmen natürlich, deren Bejeitigung
die Klimaunterjchiede verwehren. Daß die deutjche Pandwirthichaft im Mugenblid
hohe Getreidezölle braucht, weit Pohle beinahe überzeugend nad); über Das aber,
‚ was in Zukunft, jagen wir nad) dreißig Jahren, werden joll, jet er jich zu leicht-
fertig hinweg, mit Dilfe eines Mittels, das alle Nationalölonomen von Yadı,
ſowohl die agrarierfreundlichen wie ihre Gegner, jede Partei für ihren bejonde-
ren Zwed, anzuwenden pflegen: er umgeht vorfichtig die Bodenfrage. Und Das
veranlaft nun einige Trugichlüffe, die zu intereffant jind, als daß ich mid) nicht
verjucht fühlen follte, wenigftens zwei davon anzumerken. Pohle beweilt, daß es
nicht der Unterjchied der Bodenpreife, ſondern die Verfchiedenheit des Betriebes
ift, was die amerifanijche Produktion wohlfeil und die deutjche theuer macht; in
Amerifa wird die Pandwirthichaft extenfiv, bei uns intenfiv betrieben; ‚hohe
Bodenpreije oder, anders ausgedrückt, ein hoher Stand der Grundrente find meines
Erachtens nicht die Urſache, ſondern umgekehrt die Folge und ein Symptom hoher
Produftionfoften.“ Ja, warum erniedrigen dann nicht unſere Landwirte ihre
Produktionkoſten dadurd), daß auch jie extenfiv wirthichaften? Doch wohl deshalb
nicht, weil zum extendere, zum Ausdehnen und Nusbreiten der Wirthichaft, viel
Raum gehört und wir den nicht haben. Extenfiv wird ſelbſtverſtändlich überall ge-
wirthichaftet, wo man viel Yand hat und fi) ausbreiten kann, und intenjiv würde
nie und nirgends in der Welt gewirthichaftet worden fein, wenn nicht die Boden-
nappheit dazu gezwungen hätte, Deshalb bleibts dabei, daß nur auf ‚reiland‘
wohlfeil gewirthichaftet werden kann. Und da die Steigerung der Öetreidepreije eben
jo wie die Steigerung der ntenfität des Anbaues ihre natürliche Grenze findet,
jo folgt daraus, dai auf immer Enapper werdendem Boden der Zollihuß nur vor-
530 Die Zukunft.
übergehend, aber nicht dauernd helfen kann. Die Bodenpreije können hoch bleiben,
auch wenn die Grundrente fällt oder ganz jchwindet; fie müſſen es bei einem gemiljen
Grade der Volfsdichtigfeit. Denn der Boden ift fo unentbehrlich wie die Yuft, und da
unentbehrliche Süter unbedingt gekauft werden müſſen, jo unterliegt er dein Geſetz von
Angebot und Nachfrage in deilen ſchärfſter Faſſung. Wo in Gegenden mit vorwiegen-
den Klein-und Zwergbetrieb Acker in Parzellen verpadhtet wird, da treiben einander die
Eleinen Befiger zu unſinniger Höhe. Damitijt einzweiter Trugichluß aufgebedt. Weil
die Güterpreiſe in diefen Jahrzehnten der niedrigen Getreidepreiſe nicht erheblich her-
untergegangen find und fein lebhafterBeſitzwechſel ſtattgefunden hat, hält Pohle das Ar—
gument der Gegner fürfalich, daß die Erhöhung der Getreidepreiſe durch Zollerhöhung
der Landwirthſchaft nicht nützen werde, weil fie zugleich den Güterpreis erhöhe. Die
Aufwärtsbewegung der Preiſe wirkt aber ganz anders als der Preisfall. Steigt die
Rentabilität, ſo reißt man ſich (in einem Lande mit einer intelligenten, ſtrebſamen
und ſich raſch vermehrenden Bevölkerung) um Landgüter und auf dem Markterſcheinen
nicht allein die ſtrebſamen jungen Landwirthe, ſondern auch die Güterſpekulanten;
die ſtürmiſche Nachfrage treibt den Preis der Güter über den reellen Werth hinaus.
Ob denn jeder Käufer ſo dumm ſein müſſe, über den Werth zu bezahlen, fragt Pohle.
Dummheit iſt hier gar nicht im Spiel. Man eskomptirt eben die vorausſichtliche
Fortdauer der Steigerung, verrechnet jih dabei wie bei jeder anderen Spekulation
und der muthige und thatkräftige junge Yandwirth muß um jeden Preis zugreifen,
weil ihm die Bodenfnappheit feine andere Wahl läßt: theuer bezahlen oder aus—
wandern. Beim Nüdgang der Nentabilität aber verfauft der Befiger nicht jofort
— ein Yandautijt fein Börjenpapier —, fondern hofftauf beſſere Zeiten; und weilnicht
viele Yandgüter zum Verkauf angeboten werden, können die Güterpreije nicht fallen.“
*
Aus dem Brief einer Mutter, — den großen, Reformen verheißenden
Worten, ſorgend auf die Schulerlebniſſe ihrer Kinder blidt: -
„Der wichtigite Faktor warden Shulreformatoren bisher die Hygiene. Ihrem
Gebot unterwarfen fie ih. Sie durfte befondere Anforderungen jtellen. Sie verlangte
für jeden Shüler ein gewiljes Minimum von Duadratflähe, um ausreihenden
Platz zu bieten, fie jorgte für genügende Ventilation, um den fleinen Lungen aud)
im Klaſſenraum gute Luft zuzuführen, Sie verwarf alte Schultifche und Bänke und
forderte beifere Konſtruktionen, die die Zahl der Verfrümmungen und Kurzſichtig—
keiten mindern jollten. Sie empfahl bejferen Drud der Schulbücher und verbannte
die alte Schiefertafel. Sie jchrieb Yänge, Breite und Höhe der Shulräume vor.
Dre Länge darf neun Meter nicht überichreiten, damit jedes Kind mit normalem
Auge von der le&ten Bank aus an die Tafel Sejchriebenes lefen kann. Die Breite
ſoll nicht mehr als fieben Meter betragen, damit bei jeitlich gelegenem Fenſter auch
die an der Gegenwand ſitzenden Stinder genügendes Yicht befommen. Der Raum
map vier Meter hod) jein. Während man jo den Anjprüchen der Hygiene Rechnung
trug, durch Geſetz und Verordnung fie anerkannte, harrt man da, wo das Eingreifen
der. Hygiene aufhört, wo es fich um geiftige Intereſſen handelt, noch heute einer gründ:
lichen Reform. Man dachte nur an das förperliche Wohlbefinden des Kindes. Das
Züchtigungrecht allein, die unmnichränfte Benußung des ‚gelben Onkels‘ wurde ben
Vehrern genommen, denn die moderne Bädagogif will von förperlichen Strafen nichts
willen. Das iſt aber auch Alles; jonjt gingesimalten Tempowsiter. Nunift abernicht
Notizbuch. 531
Jeder, der ſeine Seminarzeit hinter ſich hat, ſchon ein guter Lehrer. Zum Lehren gehört
das Donum docendi, die Lehrgabe, das Geiſtesgeſchenk, eine beſondere Anlage. Bon
der Lehrgabe hängt der Erfolg deslinterrichtes ab. Wehe demLehrer, der nur nach willen:
ichaftlichen Regeln lehrt, der nur die Natur des Gegenjtandes und nicht Die individuelle
Eigenthümlichkeit des Zöglings berüdjichtigt ! DerLehrer, der zum Methodiker wird, hat
ſeinen Berufverfehlt. Im Allgemeinen holt der Lehrer ſeine Bildung aus dem Seminar.
Seminarium heißt Pflanzenſchule. Kinder find gleich Pflanzen, die auch im Einzelnen
beobachtet werden müſſen und nicht, nad) botanischen Lehrſätzen, alle nach einem
Shema. Da gilt es auch, je nad) Bedarf den Boden zu lodfern, die Pflanzen mit
Stäbhen zu ſtützen, die Raupen abzulejen, zu gießen und andere Arbeit diejer Urt
zu thun. Man hört jo oft: Die beiden Brüder hatten die gleiche Erziehung und doch
ift der eine tüchtig und der andere ein Taugenichts geworden. Woher kommt Das?
Ganz einfach: weil die Erziehung für den einen paßte und für den andern nicht.
Alter frenis eget, alter calcaribus. Der Eine bedarf der Zügel, der Andere der
Sporen. Die Lehrer wollen die Kinder bilden. Ya, ijt denn ein Unhäufen von Kennt—
niſſen, von allerhand Material Bildung? it es nicht fürs ſpätere Leben gleich
giltig, ob ein Kind weiß, daß 1645 die Schlacht bei Nafeby geichlagen wurde, daß
die mittlere Höhe des Thian-Schan 3900 Meter beträgt, dab der Amur aus zwei
Quellflüſſen, dem jüdlichen Kerlun, jpäter Argun genannt, und dem nördlichen
Onon, jpäter Schilfa genannt, zufammenfliegt? Und welche Unmanieren jieht man
mitunter an Qehrern! ‚Das Beiſpiel erzieht‘: diefes Wort jtellt Peſtalozzi als erſten
pädagogiichen Grundfa hin. Die Kinder find fcharfe Beobachter und ihre Erziehung
fordert von dem Erzieher eine ſtete Bervolllommnung der eigenen Perfönlichkeit.
Man jollte mit den Lehrkräften öfter wechleln, die Lehrer zeitiger penfioniren
und jungen Stindern junge Yehrer geben, die fie aud außerhalb des Syntarbereiches
verjtehen können. Lehrer, die nach Prinzipien die Hände falten laffen, wie es nod)
heute in einer höheren Töchterjchule des berliner Weftens vorkommt, müßten ent:
laffen werden. Die Kinder müſſen dort in den eriten zwanzig Minuten der Stunde
die Hände jo auf den Tijch legen, daß nur Zeige: und Mittelfinger der Hand auf dem
Tiſch fihtbarfind. In den nächſten zwanzig Minuten halten jiedie Händegefaltet und
inden legten zwanzig Minuten, auf eingegebenes Zeichen, aufdem Rüden verſchränkt.
Ein anderes Beijpiel, diesmal aus einem Gymnafium der Friedrichſtadt. Die Ober-
ſekunda ijt verfammelt, der Mathematiklehrer wird erwartet. Der Brofefjor kommt,
bejteigt die Katheder und ruft, während er fich entjeßt in die Haare fährt: ‚Körner!
Wer hat Sie denn in die Oberſekunda verjegt, obgleich Sie nicht reif waren?"
‚Wegner! Wer nimmt denn immer Rüdjicht auf Sie, wenn Sie nichts wiſſen?
Und da wagen Sie, die Kreide wieder links von mir zu legen, jtatt, wie ic) jo oft
geſagt habe, rechts! Die Kreide muß auf der Katheder immer rechts liegen, merken
Sie ſichs! Das ift wichtig!" Ein dritter Fall, aus einem anderen Gymnaſium
Berlins. Ein wegen Krankheit zurüdgebliebener Duartaner befommt vom Klaſſen—
lehrer Nachhilfeſtunde. Der Erfolg bleibt nicht aus, läßt aber bald jichtlic) nach. Der
Grund? Der Herr Lehrer benußte die Stunde, um dem Jungen feine Gedichte vor:
zulefen. Der Kleine Bengel konnte fie zum Theil ſchon auswendig und citirte mit
Borliebe ein Gedicht, das den fchönen Titel trug: ‚Weiberhaß‘. Natürlich be-
handelte er Alles, was an weiblihen Wejen im Haufe war, von der Mutter bis zur
Küchenfee, jeitdem mit Nichtachtung. Bierter Fall aus einer Mädchenichule. Die
90
— — — — — — — —
532 Die Zukunft.
Glocke hatte zur Andacht geläutet, aber von Ruhe war no) nichts in ber erſten Klaſſe
zu jpüren. Der Lärm dringt bis in den Vorſaal und die Direktorin jtürzt ins
Zimmer. ‚hr Verwegenen, was jeid hr?‘ Keine Antwort. ‚Sagt: Wir find
Simder.‘ ‚Wo jteht Ahr?‘ Allgemeines Schweigen. ‚Sagt: Auf der unterjten
Stufe der Dimmelsleiter!* Und jo weiter. Warum der apofalyptijche Ton? Weil
heitere Badfifche gelacht hatten. Alfo pajfiret anno Domini 1902. Und mun werfe
man zum Schluß nod einen Blidindas Aufjagheft eines fünfzehnjährigen Mädchens.
Ich fand zwei Themata. Erjtens: Die Großſtadt bei Nacht. Zweitens: Betracht-
ungen über am Schulhaus jtehende Studenten im Klaſſen- und im Yehrerinnen-
zimmer... Meine Beifpiele find nicht erfunden. Viele Eltern und Kinder werben
Aehnliches zu berichten wiffen. Will man nicht endlich daran denken, daß nicht nur
hygieniſche Gefeße zu einer Reform des Schulwejens drängen?”
* 4*
*
In Bonn hat der Kaiſer den Parademarſch des Huſarenregimentes König
Wilhelm J. angeſehen und mit dem Boruſſencorps gekneipt. Auf dem Paradefeld
ſagte der Kommandeur der Königshuſaren: „Unter der Regirung unſeres jetzigen
Kaiſers hat das Deutſche Reich eine nie geahnte Machtſtellung erlangt.” Kurz vor»
her hatte Herr Ballin in Hamburg gejagt: „Unſer Eaijerlicher Herr hat den Stempel
jeiner gewaltigen Perſönlichkeit unferem Zeitalter aufgedrüdt.‘ Während des Bo—
ruſſenkommerſes, dem erpräfidirte, rief der Kaiſer: „Noch nie, jo lange die Geſchichte
der deutjchen Univerjitäten gejchrieben ift, iſt einer Umiverfität eine jolche Ehre zu
Iheil geworden wie am heutigen Tage. Im reife der Schönen Bonns, umgeben
von fürftlichen Damen, ijt Ihre Majeftät die Staijerin erfchienen, die erjte Yandes-
fürftin, um dem Kommers der Studenten beizuwohnen. Dieje beijpielloje Ehre
wird der Stadt Bonn zu Theil und in diejer Stadt Bonn dem Corps der Borufien.
Ich hoffe und erwarte, daß alle jungen Boruffen, auf denen heute das Auge Ihrer
Majeftät geruht hat, eine Weihe für ihr ganzes Leben empfangen haben.‘
* *
x
Graf Bülow hat, wie weiland Bismard, auf der Chrenleiter des Offiziers
eine Rangjtufe überjprungen. Der Major von Bismard wurde auf dent Schladjt-
feld von Königgrätz Generalmajor; der Nittmeifter Graf Bülow ift in Bonn Hujaren-
oberjt geworden. Leber ein Kleines wird er General jein und kann, wenn dann nicht
icon ein anderer Huſar ſich in der erjehnten Holle des Kanzlers verfucht, mit Kol—
paf und Fangſchnüren in den Neichstag fommen und die Abgeordneten den Unter:
ſchied zwiſchen ſchwerer und leichter Stavallerie fennen lehren. Zwei Yejer fordern
übrigens beinahe ungejtüm, ich jolle dem Nanzler zärtliche Worte jagen, weil er die
von den Bahnhöfen verbannte „JZukunft“ offenbar nicht a limine weije. Denn am
einunddreißigſten Mat jtand in der „Zukunft“: „Daß die Provinzen Weſtpreußen
und Poſen mit einer Viertelmilliarde gedüngt werden, ijt fiher gut; nun joll man
jie verwalten, als gehörten jie einer großen, joliden Bant.“ Und am zwölften Juni
jagte Graf Bülow im Herrenhaus: „Ich werde mir ganz befonders angelegen jein
laſſen, darauf hinzuwirken, daß die Anſiedlungskommiſſion praktiſch und geſchickt
vorgeht, nicht vom Standpunkt der Oberrechnungskammer, ſondern vom Stand»
pimft einer qut geleiteten, Eugen und foliden Bank. Dann wird es fidh and lohnen,
daß wir W sejtpreußen und Poſen mit einer Viertelmilliarde befruchten.“
Herausgeber und verantwortlicher Redatteur: an, Harden in Berlin, — Berlag ber Zukunft ü in ı Berlin,
Trud von Albert Damce in Berlin Schöneberg.
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