Skip to main content

Full text of "Die Zukunft"

See other formats


Die Zukunft 


Maximilian Harden 


— Fi #7 «pe an 
a up ee a er wat 


Es 
— 
— 
8 
“m 
8 
= 
S 
= 
* 
bei 
£ 
— 











kn 








Digitized by Google 





Digitized by 





Die Bukunft=- 


Berausgeber: 


Maximilian Barden. 


AD 


Neununddreißigſter Band. 


Berlin, 
Derlag der Zukunft. 


1902 








Aararitaat j. Induſtrieſtaat. 


Alfoholgährung j. Fermente. 





Arbeiterkolonie, in der... . . 352 
Armee, j. Wotizbud 249. 

Ausweifung, meine ...... 398 
Beichtgeheimniß . . ...... 20 


Berliner Sezeffion ſ. Sez eſſion. 

Bilderbüder . ... 

Blumenträume . . —27 

Börje und Prefle ....... 

Brandenburger Zeitung j. Notiz- 
buch 248. 

Bülow, Graf ſ. Notizbud 


258, 440. 
Buren, Die 2»: 22a. 413 
Burghers, onze dappern 156, 403 
j. a. Notizbud 251, 445. 
Gentralfartell, da8 ....... 166 
Chryjanders Händel⸗Ein⸗ 
richtungen......... 467 
Coquelin ſ. Theaternotizen 
171. 
Darm-Üthen .-.....2... 195 


Darınjtädter Kunftausitellung 
j. Darm» Athen. 

Denkmal, das, des alten Fritz für 
Amerika j. Notizbud, 334, 
313. 

Derjelbe, Diejelbe, Dafjelbe . . 348 


Dichter, der verehrte . . . . .. 279 
Diktaturparagraph, der ſ. Notiz. 


bud 329. i 
— 
OD 
er 


I 





Durand, ‚Fräulein j. Theater- 
notizen 171, f. a. Notiz 


bud 374. 
England, j. Achtung. 
Entwidelunasitufen . . .... 139 
Erner und Geuofien . . . . . . 522 
Grportwirtbihaft. ..... . . 244 
Fermente und Alfoholgährung . 471 
Finanzen, Rumänilde . . . . . 365 


Fitger, Arthur j. Wotizbucd 46. 
Frühlin 
Gei enſpieler und Flötenbläſer 


Generalverſammlungen 


Be RE — 





431 
33 


nr... 





* 


Händel-Einrichtungen ſ. Chry— 
ander, 
Herzo 


Ernſt Günther ſ. 





umbug & Go. 
Hymnus EEE 
Juduſtrieſtaat oder Agrarjtaat? 375 
‚sohanniterorden, der ſ. Notiz- 
buch 450. 
Katholizismus 





u ee ee 


ſ. Univerjität. 





Ktatholizisinus, moderner . . . . 2: 


| Kauffmann, Stadtrath ſ. Notiz- 


Stinderarbeit . » 22 2 220. 
Klingers Beethoven 


487798 


Kinderredie 2.2... j 
Stolonialpolitit in den Oſtmarken 
j. Notizbud 372. 
König von Sadien |. 
Saxe, 
König, der, von Spanien. . . . 297 
Krach, der, des Kunftgewerbes . 75 
j. a. Notizbuch 489. 
Kriegsrailot . 2» 2 2 2 202 
Stultur, die, des weiblichen Körpers 
j. Bilderbüder. 
Kulturarbeiten ſ. Bilderbüder. 
Kunſt, moderne. Notizbuch 331. 
Runftausftellung, die große. . . 
ſ. a. Notizbuch 372. 
Ktunitgenuß j. Nervoſität. 
Kunſtgewerbe ſ. Krach. 
Landtag |. Notizbuch 440. 
Legenden, zwei........ 122 
Leo XIII. ſ. Zauberer. 
ſ. a. Notizbuch 251 
Lieber, Ernſt ſ. Notizbuch 45. 
Marten und Hickel ſ. Notiz— 
buch 246. 


Vieux 


342 


Medizinifche Moden, j. Moden . 504 
Meilterfpiele. . . 2222.20. 200 
Mesmet. . 2 0 20er. 303 
Milchkriie 181 
Miranda, Dr., in Konitantinopel 70 
Moden, medizimihe . 2.2... 504 
Moritz und Rina....... 491 
Murom, Ilja von ....... 133 


Nervenheiljtätten ſ. Rotizbuch 446. 
Nervoſität und Kunſtgenuß 102, 144. 


Notizbuch 45, 216, 329, 369, 440, 
486, 525. 

Dieattruit. 325% aaa 200 
SBUEMOBIE ur. 20 % 
Bandynanmismuis. 2 2... 7, 57 
Preſſe j. Börie. 

Prinzeureiſe, Die 2 2 2 222. 82 
Mangklaſſe, elle © 2.2000.“ 464 











Renaiſſance,eine? ...... 45 

Rhodes, Cecil John ſ. Dia— 
mantenkönig. 

Ma Mori 4.00.4008 491 

Rothicild-Yombarden. . ... . 128 


Rumäniſche Finanzen |. 
Finanzen. 
Rußland ſ. Murom. 
Sanden und Genofien . x... 497 
Sciedsgerichte, Kaufmänniſche 153,285 
ſ. a. Notizbud 371. 
Schmoller, Profeſſor Dr. Guftav 
j. Notizbud 369. 
Schweningers Jahresbericht .. 37 
Selbſtanzeigen 42, 86, 126, 164, 207 


240, 361, 395, 435, 480, 513. 
Sezeljion, Berliner ...... 419 
j. a. Wotizbud 331. 
Sonnwendtag |. Theater- 
notizen 169. 
Tadelloſe, die... ..... . 320 
Theater, Wiener . . 2.220. 112 
Theaternotizen . 2.2... : 169 
Trintgeldee 325 
Univerſität und Katholizismus . 173 
Bereeniging - - - 0.0. 335 
Viesuxs Bax6 ae 451 
Waldeck Houlicau . 2.2... 259 
Waldgeſicht 00... 228 
Weg, der, zum Licht |. Theater: 
notizen 140, 
Welt, die, als Zeit . 2.2... 265 
j. a. Notizbud 441. 
Wohlthätigfeit, moderne . 392 
j. a. Notizbuch 48 
Zauberer, der, von Kom . 47 
Holltarifkommiſſion-Sommer— 
diäten ſ. Notizbuch 257. 
Zuckerkönvention ſ. Notizbuch 
486. 
Zulunft diieeee 220 









P E ER tn — ——— 
Re 
i 7 2G —— 






= NA LER; = | 5* R 
—* — = FAT NM: 
EX Kr; My tn I 8* — Alt: te 


D *3— har, ‚bRe ‘> 












Berlin, den 5. April 1902. 


“in 








Der Diamantenfönig. 


SI" eines Tages der große Kolportageroman des Transpaalfrieges 
gejchrieben wird — und er muß, fchon weil ein Vermögen daran zu 
verdienen ift, über kurz oder lang ja gefchrieben werden —, dann wird es 
Cecil John Rhodes übel ergehen. Er ift für die Rolle des Ogers geichaffen, 
derjeiner Habgier Hefatomben jchlachtet, unermeßliche Schätze häuft und, mit 
einem Hohnlachen auf frecher Lippe, über Leichen hinwegichreitet. Ein Uns 
geheuer wirdda der Erdfreis jehen, einen Menjchenfreijer, der ein ganzes Volk 
frommer Bauern vernichten, Kinder megeln und Junfrauen ſchänden möchte, 
um dieWurzeln des Widerjtandes gegen die Macht feiner goldenen Geißel aus⸗ 
zuroden. Und wie fein Leben, jowird aud) jein Tod die Köchinnen das Fürchten 
lehren. Während das Volk, dem erden Untergang ſann, ſich tapfer noch wehrt 
und auf den Trümmern feines jungen Staates neue Zuverjicht ſchöpft, vers 
röchelt der Gewaltige einſam, nach langer Qual, und nicht für einer Stunde 
Dauer kann ihm fein Reichthum das arme Yeben verlängern. Woraus ſich wies 
der einmal die Lehre ergiebt, daß unrecht Gut nicht gedeiht, die Tugend ſchon hie— 
nieden belohnt, das Laſter beſtraft wird. Der Romankann ſehr ſchön werden, 
wenn ein geſchickter Mann die Lieferung übernimmt und Rhodes auf dem 
Hintertreppenfries nicht gar zu klein, gar zu jämmerlich ausſieht. Er hat 
ſich mit drei Freunden ins Lager der vom General Carrington beſiegten, aber 
nicht entwaffneten Matabeles gewagt, die eben einen neuen Rachekrieg plarrs 
ten, und Lo⸗Bengula nebft den anderen Häuptlingen durch feiner Rede Ge: 
walt der britischen Herrjchaft gewonnen. Erift im Reiſeanzug vorden Deuts 


1 


= 


ſchen Kaiſer hingetreten und hat ihn überredet, das vorher über den Jame— 
fon-Raid gefällte Urtheil zurüdzunchmen. Die Matoppoberge und das ber- 
liner Schloß verlieh er als Sieger. Und was heute nur die Phantafie heißer 
Knaben träumt, was den wachen Sinn der Erwadjienen unmöglid) dünft, 
hat er gethan: er hat ein eich gegründet und auf feinen Namen getauft. 
Allein; ohne Heer; ein Bürgerlicher ; ein Eivilift. Ein Reich, deifen Flächen- 
umfang ſechsmal größer it als der Großbritaniens. Selbjt in einem Kol- 
portageroman darf der Mann, dem Solches gelang, nicht die Rolle eines ge- 
wöhnlichen Spekulanten, eines Bontour, Beit oder Barnato jpielen. 

Den Koloffus von Rhodefia und den Capnapoleon hat man ihn ge- 
nannt und damit den Drang, der ihn ins Grenzenloſe trieb, richtig bezeichnet. 
Hätte er fic zu beicheiden vermocht, jein Yeben wäre ruhig und friedlich ge- 
weſen, fo friedlich, wie das Yeben eines Diamantengräbers und Börſenbe— 
berrichers fein fann. Er ftammte von Yandpächtern aus Ejfer ab, wollte 
Theologie ftudiren und juchte in Südafrika Heilung von einem Yurngenleiden. 
Da regte ſich jein Kaufmannsgenie; er erwarb die beiten Claims, ließ ſich 
von den Rothichilds, ohne ihr Dienftmannzumerden, mit der ganzen Haus 
macht jtüten und entthronte nad) rajchem Erobererzug die Barnato und 
Joel. Auf jo gebahntem Weg fonnte er gemächlich weiterichreiten, Schäge 
jammeln und, wenn er genug hatte, in die Heimath zurücfehren und fein 
Leben genießen. So hat es Mancher gemacht, der dann Yord oder Marquis 
wurde und in der nobility als ein Zugehöriger verkehren durfte. Cecil 
Rhodes wollte mehr. Der Reichtum genügte ihm nicht, war ihm immer 
nur Mittel zum Zwed; große Ideen, jagte er früh ſchon zu Gordon, find kei— 
nen Schuß Pulver werth, wenn das Geld zu ihrer Ausführung fehlt. Trieb 
ihn Ehrgeiz oder die Yeidenschaft des Patrioten? Der Wille zur Macht oder 
der Wunjch, den Volksgenoſſen zu zeigen, daß er nicht ein Millionär wie an— 
dere Milfionäre war? Wahrjcheinlich wirkten viele Urjachen zufammen; und 
Ichlieglic, Handelte er, wie er handeln mußte. Er ſchuf die Chartered Com— 
pany, jette mehr als einmal fein ganzes Vermögen aufs Spiel, wurde, ohne 
Auftrag noch Amt, ein Politiker, defien Diplomatie ich über die Grenzen 
des Majchonalandes, des Betſchuanen- und Matabelegebietes hinaus er- 
ftredte, und ſtarb im Kampf gegen die zähe Widerftandstraft der Holländer, 
die ſich der britiichen Hoheit nicht unterwerfen wollten. Allred: Das war 
fein Biel. Nur der Union Jad durfte über Afrifa wehen. Er glaubte nicht 
an vıele Dogmen; an Großbritanien glaubte er. England, jagte er in einem 
Geſpäch mit dem Burenfreund William T. Stead, ift von Gott, deffen Exi- 


2 Die Zukunft. 


4 


Der Diamantenfönig. 3 


ftenz mir zu fünfzig Prozent ficher jcheint, berufen, der Welt das Reich der 
Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens zu bringen, und ich bin auser— 
wählt, der britifchen Erpanfion in Afrika den Boden zubereiten. Herr Stead 
hat ihm nicht ausgelacht. Vielleicht dachte er an Walter Raleigh, an Clive 
und Warren Hajtings, fühlte, dat England ſolche Männer braucht, und 
mußte fich, vor dem politischen Gegner, den er immer bewundert, nie vers 
dammt hat, geftehen: Diejer ift größer als die Konquiftadoren, deren Name 
von danfbarem Stolz durd) die Jahrhunderte getragen wird. 

Er war größer als jie. Wäre er uns nicht jo nah und durch den vom 
Haß gewebten Schleier doch unjerem Auge verhüllt, wir würden nicht zögern, 
ihn einen großen Dann zu nennen. Wir werden uns jacht aber in den Ge— 
danken gewöhnen müffen, daß jo die großen Männer in der Nähe ausjehen. 

ALS fleckloſe Fichtgeftalten wandelten fie ftet8 nur durch die Märchen 
welten der Kinder und Kindervolfheiten; und ein findijches Vergnügen wars 
immer, der nach Moralitäten lüfternen Menge zu zeigen, wie jchlechte Kerle 
die großen Männer des Handelns gewejen jind. Gerade die feinten Geiſter 
haben ſich weistlich gehütet, die im Gewühl des politischen Kampfes Führen 
den mit idealen Forderungen zu beläftigen. Kant: „Noch fein Philojoph 
hat die Grundfäge der Staaten mit der Moral in Llebereinftimmung brin» 
gen und doch aud) feine bejieren, die jich mit der menſchlichen Natur ver: 
einigen ließen, vorjchlagen können.” Goethe: „Der Handelnde ift immer ges 
wiſſenlos; e3 hat Niemand Gewiſſen als der Betrachtende.” Schiller: 
„Wärme mir Einer das verdrofchene Märchen von Nedlichkeit auf, wenn 
der Banferott eines Taugenichts und die Brunft eines Wollüftlings das 
Glück eines Staates entfcheiden!“ Macaulay: „Die Artome der Politik 
find jo beichaffen, daß der gemeinjte Räuber ſich jcheuen würde, fie feinem 
Zuverläfjigften Spiehgejellen auch nur anzudeuten; fich jelbit jogar würde 
er fie nur in fophiftifcher Verbrämung anzubieten wagen.” Wer, als ein 
Betracdhtender, folche Willensmenschen verabjcheut, ift nicht zu tadeln. 
Nur darf er dann nicht Politik treiben, die Frucht politifcher Arbeit genießen 
wollen, ſondern muß fic) in einen janften Anarchismus bequemen. Die 
Heilandgreiche find nicht von diejer Welt. Als Bonaparte aufbrüllte, die 
Geſetze der Sitte und Sittlichfeit jeien nicht für ihn gemacht, ſprach er aus, 
was mancher minder Hochgewachſene empfunden hat. Nicht jeder Staats» 
mann ift aus Ajaccio, nicht jeder Yätitias Sohn; zur Fälſchung von Bank— 
noten und zum Plan einer Hölfenmajchine, die das Bourbonenhaus in die 
Luft iprengen follte, hätten fultivirtere Genies fich am Ende doc nicht Jo leich— 

1* 


4 Die Zukunft. 


ten Herzens entſchloſſen. Aber aud) Bismard, der aus anderem Stoff war 
als der Korje, hat als Politifer Mittel nicht verſchmäht, die er al$ Privat» 
mann weit von ſich gewiejen hätte. Deshalb hat ihn Liebfnecht Jahrzehnte 
langden Depefchenfälicher genannt. Deshalb fol jett, wie ein Schandfleckan 
feinem Weſen, die Thatſache verborgen werden, daß er 1866 Herrn von 
Bennigjen zum Yandesverrath dingen wollte. Denn wir möchten ung die 
ehrwürdige Hhpofrifie bewahren, daß unfer Streben nad) dem Biel langt, 
die Tugend zur Herrichaft zu bringen. Wir find Ehriften, find Altruiften. 
Nietzſche jagt freilid): „Der ganze, Altruismus‘ergiebt ſich als Privatmanns 
Klugheit; die Gefellichaften find nicht ‚altruiftisch‘ gegen einander. Das Ges 
bot der Nächjtenliebe ift noch niemals zu einem Gebot der Nachbarliebe er« 
weitertworden. Der Staat ift bie organifirte Unmoralität.“ Dod) wir fordern 
Politiker von evangelischer Yauterfeit. Fordern wir ſie wirklich? Ya. Könnten 
wir fie brauchen? Nein. Mit Tolftoi als Präjidenten oder Premierminifter 
fönnte man feinen Staat machen; nicht einmal eine Sozialiftengejellichaft, 
die doch auch Icben müßte und ſich fortpflanzen möchte. Wir brauchen Po— 
Litifer, die den Muth zu unferen Begierden haben und bereit find, uns die 
Verantwortung abzunehmen. Doch wehe ihnen, wenn jie ſich ertappen 
laſſen, wenn man dahinterfommt, daß jie feine Säulenheiligen jind! Es ift 
wie mit den Bankdireftoren. Die jollen auch in ſchlechten Jahren für fette 
Dividenden jorgen: jonft find fie unfähig; aber nur ganz jaubere Gejchäfte 
machen: ſonſt find jie Spigbuben. Und ein Staatsmann joll noch tugend- 
famer fein als ein Bankdirektor und unferen empfindlichen Nafen Alles er» 
ſparen, was nad) der Schwarzen Küche des Macchiavellismus ftinft. 
Früher wars immerhin leichter, Herrn Hypokrit zu befriedigen. Noch 
war den Menſchen nicht der Ergen der „Deffentlichkeit” geipendet; der 
Volkschor wurde erft gerufen, wenn die Bühne abgefegt und blank geichenert 
war; und heroiſche Verbrechen entbinden die einbildneriichen Kräfte und 
ſtimmen aud) harte Herzen zu mitleidiger Furcht: fo großes Gefchehen könne 
auch jie aus dem rechten Weg drängen. Ein Staatsmann, der mit Blut und 
Eiſen arbeitet, an jein Unterfangen das Yeben fett und mit Helmbuſch oder 
Degen die Kämpfenden zu fich winft, darf, ſelbſt wenn er bejiegt wird, auf 
mildes Urtheil hoffen. Die napoleoniſchen Keldzüge haben vier Millionen 
Dienjchen ums Yeben gebracht: fie waren dos ſchön, fie Icben im Heldenlied 
und die Söhne de& vom Heinen Korporalentvölferten Yandes preiien ihn mit 
Berangers geflügelten Worten. Graujamfeit fann großartig wirfen; jeder 
heroiſch geführte Kampf wedt die Erinnerung an alte Urftände der Nas 


Der Diantantenfönig. 5 


tur, wo dem Einzelnen wie der Sefammtheit das Schwert die Entjcheidung 
brachte. Aber ein Mackhiavellismus, der mit modernen Mitteln arbeitet! 
Ein in eine belagerte Stadt eingefperrter Politiker, der ſich die londoner 
Minenkurſe heliographiren läßt... Doc aud) in den Gedanfen müſſen wir 
ung endlich ſchicken, daf die Tage der Ritterfitte vorüber find, vorüber, rief 
Burke ſchon, die Zeiten keuſchen Ritterftolzes, der den Schimpf wie eine 
Wunde empfand, das rohe Handwerk adelte und dem Verbrechen die Hälfte 
feiner Schrednijfe nahm ; Sophiften, Oekonomen, Nechenmeifter herrjchen 
heute, wo einst Helden fochten. Das wurde 1790 gejchrieben und ift nad) 
hundertundzwölf Jahren noch nicht in das Bewußtſein der Bölfergedrungen. 

Cecil Rhodes hat in der Rüftung gefämpft, die ihm die Diode und 
das Bedürfniß des Krieges vorfchrieb. Perjönlicher Muth fehlte ihm nicht; 
fonft wäre er nicht ins Matoppogebirge gegangen, nicht von Yondon nad) 
Kimberley zurücgefehrt. Doc er konnte nicht als Ritter Fechten, mußte die 
Mittel anwenden, die für feine Zeit und feinen Zweck paßten. Er fam aus 
einem ganz auf den Export, auf die Ausbeutung noch unfultivirter Yänder 
angewiejenen Händlerreich, das, wenn es ſich nicht im Süden wie im Nors 
den Afrikas jtarfe Stützpunkte jchafft, in Indien bedroht ift. Afrika mußte 
engliſch werden: Das war fein Ziel. Kein Schleichweg, der dahin führen 
konnte, war ihm zu jchlecht, zu ſchmutzig, zu teil. Aus dem Gold und den 
Diamanten, die er aus der Erde grub, jchuf er fich die werthvollſte Waffe. 
Er hat die Breife beftochen, die Hilfe der Parnelliten, als er ihrer bedurfte, 
mit baarem Gelde erfauft und nie gezaudert, eine Menjchheit zu forrums 
piren, die forrumpirt fein wollte. Er wußte, welche Mächte im struggle 
heute den Sieg fichern können. Als jteinreicher Mann ift er noch einmal 
nach Orford gegangen, um feine humanijtiiche Bildung zu ergänzen umd 
die Zufammenhänge der Technik beſſer erfennen zu lernen, Kapital, Preſſe 
und Technif brauchte er; und da fein Schlachtfeld ein großer Zeil des bes 
wohnten Erdfreifes war, mußte er viele Batterien haben und immer wiſſen, 
wie an den Brennpunften feiner Welt in jeder Stunde die Stimmung war, 
Die Matabeles hypnotijirte er mit dem Wort umd den Seiten eines zürnens 
den Vaters; in Berlin ließ er die Hoffnung auf den Rieſengewinn einer eng» 
liſch⸗ deutſchen Minengejellichaft aufleuchten; und zwiſchen zwei Schlachten 
eilte er nad) Yondon, um mit Ingenieuren dem Bau von Eisenbahnen und 
Telegraphenlinien zu berathen und alle Beete zu düngen, denen die Erz 
füllung eines Wunſches entipriehen konnte. Zeine Mittel waren anders, 
aber nicht unfittlicher als die von den großen und feinen Bonapartes 


6 Die Zukunft. 


aller Zeiten angewandten. Wie fie hat er — der pracdhtvolf freche Brief, 
den er aus Kimberley an Lord Roberts jchrieb, beweiſt e8 — die Dutends 
handwerkfer der Bureaufratie und die jchwerfälligen Troupiers veradhtet, 
Wie fie hat er geirrt, hat der Ueberſchwang des Willens ihn ins Unheil 
gerifien. Napoleon wollte bis zum Ganges vorjchreiten und mußte aus 
Moskau heimmärts fliehen. Rhodes wollte die Buren, deren Eigenfinn 
er nicht brechen fonnte, zerftampfen und ftarb, ehe ein entjcheidender Sieg 
an Britaniens Fahne gefettet ward. Er war ein genialer Finanzſtratege, 
Drganijator, Verwalter; aber er hatte die Menſchen jo Hein gejchen, daß 
er an Örößenicht mehrglaubte und lachend gewettet hätte, die Buren würden 
den Kampf wider Englands Uebermadjt niemals wagen. Als er am vor— 
letsten Dezembertag des Jahres 1895 ruhelos durd) die Bibliothek feines 
Landjiges jchritt und auf Nachricht von Jameſon harrte, hat er vielleicht 
gefühlt, welchen Fehler er begangen hatte, da er den Witt billigte, dem Cronje 
ein ruhmlofes Ende machte. Ein einziges Mal hatte er die Mittel der Raub» 
ritterzeit anzumenden verjucht und fich die größte Niederlage feines Lebens 
geholt. Wer hajtig aber mit dem Urtheil bei der Hand ift, Rhodes habe im 
Zransvaalfrieg feinen und Englands ganzen Einjat verjpielt, Der jollte be— 
denen, daß unjer größter Staatsmann gejagt hat: „Dem Auge des unzünf- 
tigen Politifers erjcheint jeder Schachzug im Spiel wie das Ende der Bartie.“ 

An den Britenfrieg gegen die Buren heftet ſich der Haß, weil er der 
erjte mit den Waffen des Großfapitalismus geführte, der erjte unromantische 
Krieg iſt und die Händlervölfer erfennen lehrt, wohin fie gehen. Und Cecil 
Rhodes wird geſchmäht und bejpien, weil die entjegt zufchauende Menfchheit 
ſich nicht geftehen will, daß er der Erponent ihres Wünjchens war, ohne 
wichtiges Amt, ohne hohen Titel der erjte Politiker, der das Arjenal des 
Macchiavellismus nach dem Bedürfniß der Induſtriezeit umzugeſtalten wagte. 
Wir werden noch oft Seinesgleichen erſehnen und froh ſein, wenn ſeine Wils 
lensartvon jeiner Willensfraft bedientwird. DerZagmwirdfommen, wo man 
die Handelnden, die ganze Bölfer von der Verantwortung entbürden und 
den Diuth zu weltgejchichtlichen Vertragsbrüchen haben, nicht mehr nad) ihrer 
moralijchen Beichaffenheit fragt, fondern nad) dem Nuten, den fie der Hei« 
math gebracht haben. Dann werden die Kolportageromane vergefjen fein 
und von dem Mann, den man jett, mit einem aus Neid und Verachtung 
gemijchten Gefühl, den Diamantenfönig nennt, wird es heißen: Er hat ſich 
nicht geicheut, unpopulär zu ſein, und, mit befledtem Gewand, durd) Blut 
und Koth jenem Volk den aufwärts führenden Weg in die Zufunft gebahnt. 

+ 


Pandynamismus, 7 


Pandynamismus. 


Sr giebt einen Typus mittelalterlichen Denkens, der den einzelnen, bisher 
noch jehr wenig erforjchten Abwandlungen mittelalterlihen Denkens 
überhaupt zu Grunde liegt und für die Auffafjung eben fo ſehr noch des 
fünfzehnten wie fchon des zehnten Jahrhunderts bezeichnend it. Man fann 
ihn al3 Typus des Analogiefchluffes bezeichnen. Zum genaueren Verſtändn 
zwei Beijpiele. Ein Biſchof des zehnten Jahrhunderts in ſchon hohem 
Lebensalter betritt, nach einer Gejchichtquelle diefer Zeit, um einem affetifchen 
Bedürfniß zu genügen, abends in bloßen Füßen, nur mit einem härenen 
Gewand angethan, feine Kathedrale und fchläft nachts auf den falten Steinen 
des Bodens. Kurze Zeit darauf ftirbt er. Wir würden geneigt fein, feinen 
Tod als Folge einer jchweren Erkältung zu betrachten. Das zehnte Jahr— 
hundert jchlieft anders. Wie der Herr Mofe gejagt habe, als er ihm im 
brennenden Dornbufh erichien: Ziehe Deine Schuhe aus von Deinen Füßen, 
denn der Drt, den Du betreten wirft, ift heilig: jo habe der Biſchof im 
prophetifcher VBorahnung des Tages, da er zu des Herrn Herrlichkeit eingehen 
werde, jich barfuß in das Haus Gottes begeben, un darauf zu fterben. 
Das andere Beifpiel aus dem fpäteren Mittelalter. Damals war es ge: 
mwöhnlid, den Papſt mit der Sonne, den Staifer mit dem Mond zu vers 
gleichen. Hieraus fchliefen die kanoniſchen Nechtslehrer der Zeit — und 
noch der geiltig fo hoch ftehende Kardinal Nifolaus von Kues wiederholt 
um 1430 diefen Schluß —, daß der Papſt genau um fo viel dem Kaifer 
an Autorität überlegen ei, wie die Sonne den Mond an Größe übertreffe. 
Mas ift das Gemeinjame beider mittelalterlichen Schlüſſe? Sie fchreiten 
von der Parallelifirung zweier Verhältuiffe, die einander in gewilien Punkten 
ähnlich oder auch gleich find, zu deren völliger Fdentifizirung in allen Punkten 
fort und entnehmen diefem Verfahren für das eine der verglichenen Verhältniffe 
gewifje, als völlig logiid betrachtete Folgerungen. Es ift eine Art deg 
Schließens, wie jie auch heute noch bei Kindern und im täglichen Leben oft 
genug vorkommt. Im Mittelalter aber gehört fie dem wiflenfchaftlichen und 
überhaupt dem jtreng überlegten Denfen an: in unzähligen allgemeinen Zus 
fammenhängen dieſes Denfens tritt fie zu Tage. So beruht die ganze Art 
des Mittelalters, geijtreich zu fein, auf ihr. Gseiftreih waren im Mittel: 
alter Räthſelreden; geiftreich war es zum Beifpiel, wenn Kaifer Konrad auf 
bie Meldung des frühzeitigen Todes des Herzogs Eruft von Schwaben, 
feines erbitterten Gegners, die Antwort gab: „ES fcheint, daß das Geſchlecht 
bifjiger Hunde nicht alt werde.“ Hier wie in verwandten Räthſelreden iſt 
es immer das Moment fcharfiinnigen und unerwarteten Analogiefchlufies, 
das den mittelalterlichen Hörer entzüct. In diefem Zinne find daher auch 


8 Die Zukunft. 


bie Predigten angelegt: fie wimmeln von Analogien, die zu beflimmten 
Schlüſſen benutzt werden. So hat noch Luther gepredigt; und noch heute ift 
auf dieſem Gebiet der mittelalterliche Gebrauch des Analogiefchluffes nicht 
völlig verfchwunden. Aber diefer Schluß reicht viel tiefer in die mittel: 
alterliche Theologie hinein: Typus und Antitypus des Alten und Neuen 
Teſtaments, die Gleichfegung etwa der Aufrichtung der ehernen Schlange in 
der Wüfte mit der Kreuzigung Chriſti im vorbedeutenden Sinn und taufend 
andere Sleichjegungen gehören ihm an. Wie er in das Staatsrecht eingriff, 
bat ſchon vorhin ein Beifpiel gezeigt. Und auch in anderen Wiflenfchaften, 
fo weit dieſe nicht auf der bloßen Ueberlieferung der Alten beruhten, zum 
Beifpiel in dem Phyfiologus der Naturgefchichte, dem Lehren von den fonder: 
baren Eigenjchaften der Thiere, herrfchte er im gleicher Weiſe: er war der 
eigentlih charakteriftiihe Schluß des Mittelalters. 

Auf welcher tieferen Grundlage beruht er nun? Er ift nah unferen 
Begriffen voreilig, da er aus dem AZutreffen einiger Vergleichsmomente auf 
das Zutreffen aud) der anderen ſchließt, under ift e8, weil er auf der Grund: 
fage zu geringer Erfahrung gebildet wird. Geringe Erfahrung, enger Hori— 
zont: Das ijt feine eigentliche Vorausfegung. Und von diefer Seite her 
erflärt fih ohne Weiteres auch fein inniger, in dem erften der vorhin er— 
zählten Beifpiele Har zu Tage tretender Zufammenhang mit dem das ganze 
Mittelalter hindurch verbreiteten, wenn auch mit wachienden Jahrhunderten 
abnehmenden Wunderglauben. 

Dem Wunderglauben fteht gegenüber die Annahme, daß alle Dinge 
in ihrem Verlauf durch einen unverbrücdlichen Zufammenhang von Urfache 
und Wirkung verbunden feien. Wie gelangen wir zu diefer Annahme? Das 
Bewußtſein und die Anwendung des Zufammenhanges von Urfache und 
Wirkung ftellt jich bei uns dadurd) ein; daß wir beobachten, wie beftimmten 
Vorgängen de3 Gefchehend immer wieder und ganz regelmäßig oder geſetz— 
mäßig andere beftimmte Vorgänge folgen: eine ſolche regelmäßige Folge ers 
Scheint uns unter dem Geſichtspunkt der Kaufalität, des Zufammenhanges 
von Urfache und Wirkung. Unfer Kaufalitätbewuftfein it alfo gebunden 
an die Erfahrung; mit erweiterter Erfahrung nimmt e$ zu, mit engerer Er= 
fahrung nimmt es ab. Sit es fo weit durchgebildet, daß es weitaus die 
meilten und vor Allem auch die wichtigsten aller Vorgänge ih in erfahrung: 
mäßig Schon gegebenen Zufammenhängen vollziehen ſieht, jo zieht e8 daraus 
den Schluß, daß auch für den Neft der Erfcheinungen ſolche Zufammenhänge, 
Regelmäßigkeiten oder Gefegmärigfeiten des Aufeinanders vorhanden fein 
werden: umd gelangt damit zur Annahme eines die Welt der Erjicheinungen 
unverbrüchlich beherrichenden Zufammenhanges, der das Wunder ausfchliekt. 
Tas abfolute Saufalitätbewuitfein ift mithin ein langfam gezeitigted Er— 


"og 


Pandyramismus,. 9 


zeugniß ausgedehnter Erfahrung, das dem Bewußtſein des Wunders wider: 
fpriht: und im diefem Sinn verftärft es fih im der europäifchen Völker— 
gruppe noch heute von Tag zu Tag. 

Im Mittelalter aber war ein folches Kauſalitätbewußtſein erſt in fehr 
geringem Grade vorhanden. Der geiltige Horizont des Einzelnen war eng, 
die Erfahrungen fchlofjen ſich auch bei den Höchititehenden erft felten zu einer 
folchen Intenſität des Drudes auf das Denken zufammen, daß jie ein mög— 
lichſt ſtarkes Kauſalitätbewußtſein vermittelten: ale Welt lebte daher noch 
im Analogiefhluß und im Bewußtſein der Wunder. 

Nun iſt gewiß auch heute der Wunderglaube noch keineswegs ausge— 
ftorben. Gehen wir aber ins achtzehnte Jahrhundert zurüd, fo finden wir 
ihr noch viel ausgefprochener vorhanden. Männer wie Wald und Wolff, 
der Hiftorifer und der Philofoph, wie Eruiius und Baumgarten, der Piycholog 
und der Aeſthetiker, haben nicht blos an die Nealität der Geſpenſter geglaubt, 
fonbern find auch noch öffentlich für fie eingetreten; und ſelbſt Leſſing hat 
noch über die Gejpenfterfeinde den Stab gebrochen. Aber freilich mußten ſich 
im achtzehnten Jahrhundert die Gefpenfter fchon rar machen. Ganz anders 
dagegen in den beiden vorhergehenden Jahrhunderten. Es iſt befannt, daß 
diefe Jahrhunderte vornehmlich die Zeiten de3 Herenwahnes und der Magie 
waren; und erit der Karteſianer und reformirte Pfarrer Balthafar Bekker, ein 
Niederländer, ift in feiner „Bezauberten Welt“, die 1691 bis 1693 erfchien, 
grundfäglich gegen den Herenglauben aufgetreten. Dafür ward er freilich 
auch de3 Uebermuthes bejchuldigt und feines Amtes entſetzt. Und doc) ver— 
neinte er feinesmwegs ſchon den Glauben an einen perfönlichen Teufel und 
den Geijterglauben am jich, fondern behauptete nur, der Teufel jei nur noch 
in der Hölle zu finden und führe, wie alle Geifter, ein von diefer Welt völlig 
abgefchiedenes Leben. Gehen wir aber von Belfer nur einige Generationen 
zurüd, jo ſtoßen wir auf den völlig befangenen Wunderglauben Melanch— 
thons und die handfeiten Teufelsvoritellungen Luthers. 

Die neuere Zeit ift aljo keineswegs durch ein abſolutes Aufhören des 
Wunderglaubens und damit auch des unvollfommenen Analogieichlufies vom 
Mittelalter getrennt: e8 handelt ſich nur um gradweiſe fühlbare Unterjchiede 
und taufend Fäden verbinden das Denken von heute noch mit dem nicht nur 
des Mittelalters, fondern fogar der Uxzeit. 

Gleichwohl ging am Schluß des Mlittelalter8 und vornehmlich dann 
im fechzehnten Jahrhundert eine Veränderung des Denkens vor fich, die von 
größter Bedeutung it und unmittelbar hinüberführt in das Denken neuerer Zeiten. 

Der Offenbarungsglaube des Chriſtenthums mit feinen Wundern hatte 
bem mittelalterlichen Denken völlig entjprochen: und darum hatte er aud) eine 
allgemeine und gänzlich unbezweifelte Anerlennung gefunden, mochte man auch 


10 Die Zukunft. 


die einfachen Erzählungen des Neuen Tejtamentes anfangs mehr im Ginne 
der deutjchen Epen des fechsten bis neunten Jahrhunderts, fpäter in Hiftorifch 
mehr geflärter Auffaffung verftanden haben. Dem entiprechend war denn 
auch der Dberbau der chriftlichen Offenbarungtradition, das Syſtem der kirch— 
lichen Dogmen, nicht nur im Sinne des Gehorfams gegen fie, fondern in 
dem gläubiger Einfalt hingenommen worden. Und auch am Schluß des 
Mittelalter8 war man noch weit davon entfernt, diefe geiftige Dispofition zu 
verlafien. Allein trogdem ftrebte man doch allmählid nad) einem Verftändnik 
der Erſcheinungwelt auch neben dem SKirchenglauben und außerhalb der in 
aller Fülle nur wenigen Geiftern zugänglichen antifen Ueberlieferung: die erften 
Triebe einer eigenen Gefammtauffafjung des ſinnlich wahrnehmbaren Ganzen 
unferer Umgebung regten fi. Sie traten ein zu der Zeit, da zum eriten 
Male die äfthetiiche Auffaflungsgabe in dem realiftifhen Kontur wie der 
lokalen Farbengebung und Perſpeltive der Malerei des fünfzehnten und 
fechzehnten Jahrhunderts der Außenwelt als eines dreidimenfionalen Ganzen 
innegeworden war: war die äufere Anfchauung gewonnen, jo wurde nun 
der Verfuch gemacht, auch ihre inneren Beziehungen zu beherrichen. Es find 
die erften Anfänge wirklich felbjtändigen wiffenfchaftlichen Denkens in weiteren 
Kreifen; und jie fnüpfen noch an die ausgebildeten Methoden des mittel= 
alterlichen Denkens an. 

Es ijt Har, welche allgemeine Auffaflung das Ergebnik fo zufanmen: 
treffender Umſtände fein muhte. Indem man zu jedem Vorgang der ſinn— 
lichen Erfcheinungwelt eine Analogie im Sinne einer ihn deutenden Thatſache 
auffuchte und dabei durch faft feinerlei Erfahrung gebunten war, deren Aus- 
dehnung fchon den Nachweis von Gefegmäßigfeiten erfordert hätte, gelangte 
man zu der BVorftellung einer geiftigen Welt als einer Analogiewelt von 
Kräften, die hinter der jihtbaren Welt ftehe und fie feite: ein grundfäglicher 
Pandynamismus war die Folge. Sah man ji) aber veranlaft, nun diefen 
Pandynamismus in ein Syſtem zu bringen, die Kräfte zu bemeffen und im 
gegenfeitigen Zufammenhang zu verfegen, die hinter den Couliffen gleihfam 
der Erjcheinungwelt diefe beherrichen jollten, fo waren in der Entwidelung 
des jpäteren Mlittelalter8 eine Menge von Thatfachen gegeben, die diefen 
Drang, abgejehen von den ihm jelbft innewohnenden fachlichen Geſichts— 
punkten, in bejtimmte Bahnen leiten konnten. 

Aus dem Eigenjten der deutichen Entwidelung fam hier vor Allen 
die Myſtik in Betracht. War die enthufiaftifche Myſtik des vierzehnten Jahr⸗ 
hunderts zunächſt darauf ausgegangen, in intellektueller Verzückung wenigſtens 
zeitweiſe eine Vereinigung der Seele mit Gott herbeizuführen, und ſah man 
ſich faſt dazu gedrängt, hinter all den Kräften, die ſich in der Welt der Er— 
ſcheinungen auswirkten, im tieſſten Grunde eine wieder die Kräfte umfaſſende 





Pandynamismus, 11 


und bewegende Urkraft anzunehmen, die da nur fein konnte Gott: fo Tiegt 
auf der Hand, daß im der myſtiſchen Intuition recht eigentlich die willen: 
ſchaftliche Methode diefes neuen Denkens gegeben war, daß allein durch eine 
intellektuelle VBerzüdung, durch ein Aufgehen im die Urfraft und womöglich 
deren Beherrſchen die Möglichkeit eines vollen Berftändniffes der Er- 
ſcheinungwelt al3 gegeben erichien. 

Wie aber dieſe Intuition, dieſe Bezwingung des Geifte8 und der 
Kraft herbeiführen? Auch hier ftellte die Tradition, freilich eine foldhe vor= 
nehmlich nicht heimischen, fondern jüdifch-arabifch-fpanisch:italienifchen Charak— 
ter3, die Mittel zur Verfügung: Alchemie, Aftrologie und vor Allem Magie 
fonnten hier helfen. 

Die klaſſiſche Ueberlieferung aber fügte der Intuition, dem myſtiſchen 
. Hebelpunft des Erfennens, und den Methoden, dieſer Intuition nahe zu treten, 
für den pandynamijchen Drang der Zeit noch ein Weiteres hinzu: ein ganzes 
Syſtem pandynamifcher Auffaflung: die Lehre der Neuplatonifer. 

Plato Hatte, wie jest wohl mit ziemlicher Sicherheit feititeht, aus 
feiner Lieblingswiffenichaft, der Mathematik, Heraus den Begriff der dee 
entwidelt: die geometrifche Methode, der Beweis durch ein Schema hatte ihm den 
Gegenſatz zwijchen Idee gleich Urbild und Ding gleich Abbild jenes Urbildes 
bermittelt.*) Stand aber Hinter der Welt der Erfcheinungen eine Welt der, 
UÜrbilder diejer, fo trat für diefe jenfeitige Welt al3bald das Problem auf, 
wie jie denn entitanden ſei und wie jie auf die Welt der Erfceinungen 
wirfe. Es ift eine Frage, die im Neuplatonismus gelöft worden war durch 
den Aufbau einer geiftreichen Miythologie von Gott als der Urkraft von ihr 
ausgehender Kräfte, die jich in die fichtbare Welt der Erfcheinungen hineinergießen. 

Konnte irgend eine Lehre der Vergangenheit der geiitigen Dispofition 
des fünfzehnten Jahrhunderts entiprechender erjcheinen als diefe? In Italien 
zunächit ſtieg der Kult der platoniſchen Philofophie zu jo bedenklicher Höhe, 
daß das Laterankonzil im Jahre 1512 gegen ihn — und bezeichnender Weife 
nur verftedt — einfchritt; und bald folgte ihm das Studium der Neu— 
platonifer; fhon Marjilius Ficinus (1433 bis 1499) hat nicht nur Plato, 
fondern auch Plotin überfegt. Und von alien verbreiteten ſich Platonismus 
und Neuplatonismus auch nadı Deutichland; überall in dem fortichreitenden 
Denken des jechzehnten Jahrhunderts laſſen ih ihre Spuren erkennen. 
Dennoch haben fie diefes Denken in Deutichland nicht beherricht: fie waren 
nur ein überreifer und raffinirter Beitrag des Alterthumes zur diefem, das die 
Probleme zunächſt viel jinnlicher und einfacher aufgriff und daher nicht fo 
fehr einer pandynamifchen Metaphyif wie einer pandynamiſchen Natur— 
wiſſenſchaft zujteuerte. 


*) Cohen, Platons Ideenlehre und die Mathematik, S. 24. 


Die Zufmft. 


Freilich gefchah Das in enthuſiaſtiſchen Formen. Wie einft die Ritter- 
ſchaft der Stauferzeit in poetifcher Begeifterung der neuen, gehobenen Bildung 
ihres Standes froh geworden war und Vergangenheit wie Gegenwart fidh 
nur in den Formen der Dichtung hatte nahe bringen wollen, von der Epif 
von Veldeles und den Sagen des Artugfreifes an bis zum verfifizirten 
Steinbuch und zur gereimten Tifchzucht, fo waren auch die Geijteshelden bes 
neuen Denfend weit davon entfernt, die Löfung der erften großen Geheimnifje 
der natürlichen Erfcheinungwelt mit Hebel und Schrauben erzwingen zu wollen. 
Schauen vielmehr wollten jie, um mit dem goethifchen Fauft, diefem herr= 
lihften und perfönlichiten Inbegriff ihrer Geiftesverfaffung, zu reden: 


Wie Alles fih zum Ganzen webt, 

Eins mit dem Andern wirft und lebt, 
Wie Dimmelskräfte auf: und niederjteigen 
Und fi) die goldnen Eimer reichen, 

Mit jegenduftenden Schwingen 

Bom Himmel durd die Erde dringen, 
Harmoniſch all das All durchdringen, 


So allen Hoffnungen einer verftandesmähigen Verzüdung lebend, 
glaubten jie an Univerjalmittel der Erfenntnif, die den Menfchen über fich 
hinaus zum Genoffen der fchaffenden Kräfte erheben könnten; und indem 
fie alles Werden von geiitigen, durch fie beeinflußbaren Mächten durchmweht 
dachten, ergaben fie ih im phantaftifchen Bewußtſein erfenntnißtheoretifcher 
Forſchung den Künſten der Magie und der aftrologischen “Praxis. 

Die Heimath einer auf folhe Grundlage geftellten Naturwiſſenſchaft 
ift zunächſt Italien gewefen; und auf dem geiftigen Boden diefer Natur: 
wiffenschaft find hier die großen naturphilofophifchen Syiteme eines Telejto, 
Gampanella, Giordano Bruno, Syſteme einer vollen Metaphyſik, erwachien. 
Denn den Anhängern diefer Wilfenfchaft erfchien in den Kräften der Natur 
das geheimnifvolle Walten Gottes wahrnehmbar und als tiefſte Voraus: 
fegung ihres Denkens ergab jich ihnen ein naturaliftifcher Pantheismus. 

Von Italien her ward die Lehre dann auch in Deutichland aufge 
nommen; eigenes Forfchen, Wirkungen des mittelalterlichen und des täufe 
rifhen Myſtizismus, Einflüfe des Neuplatonismus und aud) der pytha= 
goräifchen Zahlenmyſtik, Anſchauungen endlich der Kabbala verknüpften ſich 
mit ihr in dem Denfen Reuchlins (1455 bis 1522) wie Agrippa® von 
Nettesheim (1487 bis 1535). In eine klarere Form aber brachte diefe 
gährende Maffe wohl erſt Melanchthon, diefer große kompilatoriſche Beherr: 
fcher de8 Denkens jeiner Zeit. Sein Lefebuh der Phyſik, das ji im 
Uebrigen an Ariftoteles anlehnt, fcheidet doch die fubjtantialen Formen des 
Stagiriten aus und behält nur cin buntes Gewimmel von Kräften al8 Er— 


Pandynamismus. 13 


klärungsgrund der Welt der Erſcheinungen zurück: Gott; die Kräfte der 
Geſtirne; die Gegenfäge, die im den Elementen wirken; die Materie, die 
vegetativen, die animaliſchen, die vernünftigen Eeelenfräfte. Und indem e8 
der Nothwendigfeit der Natur ein Reich der Freiheit in Gott und in allen 
guten und böfen Geijtern, ſowie des Negellofen im Fluß der Materie ent- 
gegenſetzt, läft e8 den Zufall unaufhörlic aus der Unruhe der Materie und 
der Freiheit des Geiftes quillen und ich in taufend gefonderten Kräften ausftrahlen. 

War es nun möglich, von ſolchen Prinzipien her die einzelnen Dis— 
ziplinen der Naturwiſſenſchaften verftändig zu entwideln? Je einfachere 
Grundlagen gefucht wurden, um fo mehr trat ihre Unwirflichfeit ans Tages: 
fiht. Nur in einer Disziplin daher, die die Ergebniffe der Naturwiſſen— 
fhaften jeweilig ind Ganze zufammenfaflend nußt, in der Medizin, wurde 
dieſe pandynamifche Naturwiffenfchaft anwendbar und praftifh. Hier wurten 
vor Allem die verworrenen, abenteuerlichen, mit einer Unfumme von Quaf: 
falbereien durchjegten und dennoch eines großes Zuges nicht entbehrenden 
Gedanfenreihen des Theophraftus Bombaftus Paracelfus von Einfluß, eines 
unfteten Gejellen, der, 1493 zu Einjiedeln geboren, ein medizinischer Wanders— 
mann und Allerweltmenjch, eine Zeit lang Profeffor der Chemie in Bafel, 
1541 zu Salzburg geftorben ift. Theophraſtus erſchien das ganze Weltall 
von einer göttlichen Weltfeele durchweht, dem Vulcanus; und die phantaftifch 
gedachten Kräfte diefes Vulcanus durchdrangen dann das Univerfum wie das 
Einzelne. Der Menſch aber war ihm der mifrofosmische Auszug und Ins 
begriff diefes Univerfums; in ihm fpiegelten ſich und wirkten alle Kräfte des 
Ganzen; nur trat zur ihnen, wie für jedes Einzelwefen, noch ein befonderes 
Prinzip der Individuation, ein fpezieller und perjönlicher Geiſt, der Lebens— 
geift, der Archeus. So war ihm die Welt, die Heimftätte des Univerſal— 
geiftes, voll von einzelnen Lebensgeiftern, die einander fördern, anfechten, zu 
vernichten drohen; und die Krankheiten waren Kämpfe folcher fremden Geifter 
gegen den ſpezifiſchen Geift des einzelnen, perfönlichen Lıbens, 

Was für eine kraus und abenteuerlih hypoſtaſirende Gedanfenwelt! 
Und doc wiederum wie vol großer metaphyischer und erkenntnißtheoretiſcher 
Ahnungen, wie angefüllt von aufYänmernden Problemen der Philofophie 
Leibnizens und der Nıichfolger Kants! So begreift man, daß die Lehre des 
Paracelius noch auf Generationen nachwirkte, ohne eigentlich fortgebildet zu 
werden. Eine gewaltige Reihe von paraceliiichen Aerzten und Denfern auf 
naturwiſſenſchaftlichem Gebiet füllt mit Bergen monotoner Schriften, immer 
tiefer in Geheimnikfrämerei verlinfend, das fechzehnte und zum Theil noch 
da3 fiebenzehnte Jahrhundert; aus ıhrer Mitte iſt die einflunreiche Roſen— 
freuzergefellihaft hervorgegangen; und in ten Niederlanden, der Heimſtätte 
bald der größten medizinischen Hortichritte, haben noch die beiden Helmont, 


X 
\ 


14 Die Zuhmft. 


Bater und Sohn, auf der abgeflärteren Gedankenwelt des Paracelfus fortgebaut. 
Für die empirische Entwidelung der reinen Naturwifjenfchaften freilich blieb 
da3 Syftem de3 Paracelfus im Einzelnen eben fo unfruchtbar wie die pan= 
dynamische Naturwiffenfchaft überhaupt. Sie war ein erfter Rauſch, der, 
bervorgehend aus jugendlih emporquellender Ueberihägung der menfchlichen, 
eben erſt zur Freiheit emporfteigenden Erkenntninfräfte, die neu gewonnene 
Möglichkeit ungeftörten Naturerkennens begleitete: fie fonnte die nüchterne 
Theorie allenfalls anregen helfen; fie zu begründen vermochte fie nicht. 

Snzwifchen aber war über das bloße, von den allgemeinen Fragen 
der Philofophie im diefem Falle Freilich befonders unklar und wirkunglos 
geichiedene Reich des Naturerfennens fchon etwas Weiteres emporgewachſen: 
Berfuche der Begründung einer allgemeinen Weltanfhauung auf Grund des 
angeblich gewonnenen Willens. Es find Verfuche von befonderer Wichtiges 
keit. Denn in ihnen zum erften Male zeigt ich, freilich in hartem Ringen 
und felbft im beiten Falle ohne vollen Erfolg, das Beitreben, neben der chrift= 
lichen Offenbarung, deren Weltanihauung die einzige des Mittelalter8 ges 
wefen war, eine andere, von ihr unabhängige Philofophie und Metaphyfil 
zu begründen: es find erfte, ftammelnde Bejtrebungen, die Sprache eines 
eigenen Geiſtes der Zeit zu reden. 

Gewiß verlaufen jie noch nicht im ausgefprochenen Gegenfag zum 
Chriſtenthum. Anknüpfend vielmehr an die mittelalterlihe Myſtik und wie 
diefe bis zu einem gewiffen Grade auferfirchlich, aber nicht auferchriftlich, 
bleiben fie nur, je länger, je mehr, von den allgemein anerkannten Formus 
lirungen der chriftlichen Lehre fern: was fie denn freilich, bei allem Feſthalten 
an einzelnen chriftlichen Gedanfen und an einigen Hauptſtützpunkten der chrift= 
lihen Dogmatik, fchlieklich zur Löfung von der Offenbarungtradition und 
zum Auffuchen eines völlig eigenen Standpunftes hindrängt. 

Es ift im diefer Hinficht bezeichnend, daß die Neihe der hier zu 
nennenden Philofophen in der erjten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts 
mit Nikolaus von Kues, einem Kardinal der heiligen römischen Kirche, be— 
ginnt und mit dem gottjeligen proteftantiichen Echufter Jacob Boehme zu 
Görlig im Anfang des fiebenzehnten Jahrhunderts abſchließt. 

In Kues iſt, bei allen Verſuchen, im Neiche der Erfahrung aud 
empirisch zu forſchen, ein fauftiicher Zug; mehr als Andere leitet er jene 
Periode des Denkens mit ein, da in ungeftümen: Angriff und mit einem Zuge 
erfannt werden fol, was die Welt im Innerſten zufammenhält. In diefem 
Sinn fuht Kues, als Sohn der eriten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts 
noch an den Gegenfag de8 Nominalismus und Realismus anfnüpfend, zus 
nächſt eine höhere Verfühnung diejer Gegenfüge. Gewiß, meint er, habe die 
empiriſche Forſchung vor Allen das Weſen der einzelnen Dinge feitzuftellen 


— *9 


Pandynamismus, 15 


und damit die Erfahrung in unendlichem Fortgang zu bereichern. Aber 
daneben ftehe doch zu gleichem Recht die Aufgabe, das Ganze zu erfennen 
und die Gegenjäge der Welt dem harmonifchen Gedanken eines unendlichen 
Univerfums unterzuordnen; mit etwas flareren Begriffen, als Kues fie hatte, 
ausgedrüdt: die Induktion müſſe durch Deduftion ergänzt werden. Dies 
fönne num freilih nur in dem Gewinn einer höheren erfenntnigtheoretifchen 
Einheit erreicht werden. Wie aber diefe finden? Hier ift der Bunft, wo die 
Lehren des Eufaner3 ind Myſtiſche umfchlagen. Nur in unmittelbarer 
Anſchauung, nur in einer durd) höhere Vernunft beivirkten Intuition, in einer 
comprehensio incomprehensibilis fünne Das gefchehen. Diefe aber fei 
nur auf dem Boden der Kirche verbürgt. Und fo ift Schließlich eine freiere 
myſtiſche Theologie zu leiften berufen, was der Verſtand der BVerftändigen 
nicht vermag. 

Bewegt fih Kues wie eine Heine Zahl umbedentenderer Nachfolger 
während des fünfzehitten Jahrhunderts fcheinbar no ganz auf dem Boden 
der Kirche und bildet er perfönlich im der vollen Ueberzeugung forrefter Kirch: 
fichfeit nur die wyſtiſche Erfenntnißtheorie, nicht aber das myſtiſche Syſtem 
genauer aus, fo werden die Naturphilofophen des jechzehnten, des Jahr: 
hundert3 der reformatorifchen Löſung der Geilter, weit fühner. Und es ift 
fein Wunder, daß wir fie vornehmlich im Lager des Protejtantismus und 
noch mehr in dem des Wiedertäuferthumes und feiner Abzweigungen finden. 

Hier entfalten fie num zunächſt die Vorausfegungen einer jpefulativen 
panentheijtifchen Theologie. Sie betrachten die gefchichtlichen Heilsthatfachen 
des Chriftenthumes wie die aus ihnen emtwidelte dogmatifche Begriffsmwelt 
nicht mehr al3 nur einmal gefchehen und als auf finguläre hiftorifche That: 
fachen aufgebaut, fondern fie nehmen an, daß in ihnen nur der geichichtlich 
fymbolifirte Ausdrud eined allgemeinen, ſich ftetig im jedem Menfchen in 
feinem Berhältnig zu Gott wiederholenden Zufammenhanges vorliege, der 
zeitlo8 und dauernd in der Natur der Dienfchen, der Dinge und Gottes begründet 
fei. Dabei iſt Chriſtus als der die Welt durchwaltende Logos die Grund 
vorftelung und die Methode de3 Denkens ift die hergebrachte der Myſtik. 

In der Nichtung diefer Vorjtellungen hat ſchon Caſpar Schwenckfeld 
gedacht, ein anfangs Luther begeijtert anhängender, ſpäter von der protejtantifchen 
Kirche verfolgter Theologe; mit befonderer Deutlichkeit aber traten fie zum 
eriten Male in Sebaftian Frand, dem geiftreichen Hiftorifer und Pubfliziften, 
hervor. Dem Denken Francks ijt Gott eine „Frei ausgegoſſene Güte, eine 
wirkende Kraft, die in allen Sreaturen weſet“, und feine Offenbarung ges 
ſchieht täglih und ftündlich in uns. In uns lebt Chrijtus und Adam, gutes 
und böfes Prinzip; in ung wiederholt fih der Cündenfall; in uns wird die 
Selbjterlöfung des Menfchen durch) den ihm eimwohnenden Chrijtus und 


16 Die Zukunft. 


die Gnadenwirkung Gottes zu einer ewig erneuten, gejegmäßigen, typifchen 
Thatfache. So ift denn Frand die chriftliche Offenbarung als gejchichtliche 
Thatjache nur Unterlage einer philofophifchen Symbolik; die Heilige Schrift 
ift ihm eine ewige Allegorie und ihre Deutung in diefem Sinne wırd von 
ihm nach myitischer Methode vom Standpunkte des panentheiftifchen Glaubens 
an die Eriftenz allwirfender feelicher Kräfte durchgeführt. 

Frand ift, wie faft alle Seinesgleichen, einfam und verlaſſen dahin- 
gegangen, in tiefem, entfagungvollem Ringen, in äußerer Unraft und Flüchtig- 
feit und in verzehrender Sehnſucht nad einem künftigen Zufammenfein mit 
allen gottfrommen, gutherzigen Dienfchen: „in und bei diefer Kirche bin, zur 
der ſehne ich mic; mit meinem Geiſt, wo fie zerftreut unter dem Heiden und 
Unfraut umfähret.“ 

Die panentheiftifche Theologie Frands und verwandter Geifter vertrug 
nur eine Fortbildung: fie mußte durch volle Einführung des pandynamiichen 
Natuerkennens eines Paracelfus und feiner Nachfolger» zu einer allgemeinen 
fei e8 pantheiftifchen, fei es panentheiftifchen Weltanjchauung erweitert werden. 

In diefer Richtung brachte die Lehre Valentin Weigels, eines Sachſen, 
der 1533 zu Großenhain geboren und 1588 als Pfarrer zu Zſchopau ges 
ftorben ift, den erften wejentlicheren Fortſchritt. Vor Allem wird bei. ihm 
deutlicher als bisher das myſtiſche Erfenntnißprinzip der Verzüdung durch 
das klarere des jubjektiven Erfennens erſetzt: unzweideutig fpricht er es aus, 
daß man willen und verftehen fünne nur Das, was man in ſich trage; daß 
mithin die Welt uns Gegenftand der Erfenntniß nur fein könne, weil und 
infofern wir Mifrofosmen find. In der Anwendung diefes erfenntniß- 
theoretifchen Prinzips aber wandelt Weigel gänzlich die Bahnen des pan— 
dynamischen Naturerfennens: wir erfennen die irdifche Welt, weil unfer Leib 
die Quintefjenz aller weltlichen Subſtanzen ift; wir erfennen die Welt der 
Geiſter und Engel, weil unfer Geift jiderifchen Urjprungs und ein Engel 
it; wir erkennen Gott, weil unfere Seele vom göttlichen Weſen ausgeht und, 
an Gott theilnehmend, göttliche Nahrung erhält in den Safranıenten. Iſt 
in diefer Lehre die Ahnung einer künftigen fubjektivijtiichen Erkenntnißtheorie, 
wie fie voll erſt Kant entwickelt hat, durch die Auffaffung der Saframente 
al3 der Hilfsmittel verzüdıen Schauens noch mit der myftifchen Erkenntniß— 
theorie verbunden, während die panentheiftiiche Theologie zu den Grundlagen 
wenigitens einer allgemeinen panentheiftiichen Metaphyif erweitert ift, fo ſieht 
man doc deutlich nocd die Altes und Neue unausgeglihen zufammen- 
haltenden Nähte und die allgemeinen metaphyſiſchen Piinzipien find noch nicht 
zu einem Syſtem erweitert. Diefe Mängel überwand und damit den Abſchluß 
der ganzen theofophiichen Naturphilofophie des fechzehnten Jahrhundert brachte 
Jakob Bochme. In ihm leben noch einmal alle die Tendenzen auf, die in 


Pandynamismus. 17 


der ſelbſtändigen Philoſophie des ſechzehnten Fahıhunderts zuſammenſtrömen, 
und ſie finden in ihm ihren Hauptrichtungen nach auch einen harmoniſchen 
Abſchluß. Von inniger kirchlicher Frömmigkeit, in der Zeit feiner Wanderungen 
beim brennenden Holzipahn abendlicher Unterhaltungen noch in die legte 
Refte mittelalterlicher Myftif und neueren Wiedertäuferthumes eingeweiht, wie 
fie unter Handwerkern und Kleinbürgern da und dort fortglühten, voll regen 
Wiffensdranges in jene Bücher des Paracelfus umd feiner Genofjen ein= 
dringend, die ihm die fremden „Sngredienzien de3 pandynamifchen Natur: 
erfennend jchon in verarbeiteter Form vermittelten, iſt Boehme, einem 
genialen, ihn unabläſſig vorwärtstreibenden Schaffenstrieb folgend, zum legten 
wahrhaft großen Theofophen unferer Nation geworden und damit zugleich 
zum eriten neuhochdeutſchen Klafjifer der philofophiichen Sprache. Zwar 
hält er ſich noch nicht in dem firengen Schranfen einer mit unverbrüchlicher 
Zangmweiligkeit gebrauchten Terminologie; als ein Dichter und ein Prophet 
wählt er vielmehr feine Worte, wie fie der Geift ihm eingiebt, oft mit 
höchſtem Schwung der Phantafie, oft in fchwerem Ringen mit der ſprachhaft 
zu geftaltenden dee: aber gerade diefem Ringen und diefem Schwung ver: 
dankt unfere Sprache einen ungemeinen Reichtum neuer Wortbildungen, in- 
fofern jie Werkzeug höheren Denkens werden follte. 

Was Boehme fachlich zunächft bewegt, ift das für die ganze Epoche 
jo überaus charafteriftiiche Bedürfniß nad Erlöſung. Von diefem perſön— 
fihen Bedürfniß indefjen fpringt er al3bald über auf den großen Gegen: 
iag von Böſe und Gut, und indem er diefen Gegenjag feiner Entftehung 
nah bi8 zum Urfprung zurüd verfolgt, wird er der folgenfchweren Frage 
zugeführt, wie das Zufammenfein von Böfe und Gut in Gott als dem 
Schöpfer aller Dinge zu denfen jei. Und indem er dann weiter dieſes 
Problem faum anders al3 in der Form evolutioniftiicher Anſchauung lösbar 
erfennt, wird er aus den ethifchen Betrachtungen hinübergetragen in kosmo— 
gonifche: und al3bald verknüpfen jich die Bedürfniffe feines empfindfamen 
und gemarterten Herzens mit den theofophiichen Spekulationen der Naturaliften. 
In Gott waren, wie Licht und Finfternig, die als Gegenfäge auf einander 
angewieſen find und deren eines nicht gedacht werden kann ohne die Vor: 
jtellung des anderen, jo auch Gut und Böfe uranfänglic) vorhanden: ja, 
Gott iſt uranfänglich recht eigentlich die Ausgleihung der Gegenfäge, die 
coincidentia oppositorum. Aber aus ihm, dem Alles und Nichts, dem 
weder Licht noch Finjternig, dem weder Böſe noch Gut, haben fich diefe 
Gegenfäge entwidelt. In welder Form, darüber erdichtet Boehme eine ganze 
ſpekulative Mythologie, in der ſich chriftliche Anihauungen mit anderen Ele: 
menten wunderſam verſchlingen. Das Ergebniß ift ſchließlich eine Welt, 
die al3 Grenzjaum gleihjam eines Reiches der Liebe, des Himmelreiches, und 


5) 


— — — ⸗ 


18 Die Zutunft. 


eines Reiches des Zornes, der Hölle, gedacht wird und in der wir leben, 
in gleicher Weiſe theilnehmend an Liebe und Zorn, an Gut und Böfe. 

Aber diefe Lage trägt in fich Feine Verheifung der Dauer. a, wir 
felbft haben, wie das Bedürfniß, jo die Macht, ſie zu ändern, dem Himmel- 
reich zum Siege zu verhelfen, indem wir das Böfe in und vernichten. Das 
Böſe haflen und ertöten: Das ift darum Ziel menfchlidy=jittlichen Lebens. 
Und dem Frommen gelingt e8. Es ift die Stelle, an der Boehme aus diefem 
Jammerthal emporlieht zu den ewigen Sternen. Er weiß: die Zeit wird 
nahen, da der Kampf der Guten diefe Welt überwindet, da fie nicht mehr 
fein wird, da die Halbheit dem Ganzen gewichen fein wird, da wir eingehen 
werden in das Richt der Berflärung, das Gottes Offenbarung verheigen hat. 
Ein großartiges Bild frommer Gedankendichtung, kehrt Boehmes Philofophie, 
nachdem fie in einer geijtreichen Kosmogonie die Weiten der pandynamifchen 
Naturwiffenichaft durchmeſſen und mit den weſentlichſten Beitandtheilen der 
hriftlichen Dffenbarunglehre durchflochten hat, zurüd zu dem einfachſten 
fittlichen Bedürfnig der Menjchenbruft, wie es feine Zeit in dem Begriff der 
Erlöfungjehnfucht zufammenfagte: ihm allein dient im Grunde feine Lehre. 
Es ift die vollfommenfte Durchflechtung erkenntnißtheoretiſcher und ethifcher 
Forderungen, die vom Standpunkte des Pandynamismus unter leifem Felt: 
halten an den Grundlagen des Chriftenthumes noch erreichbar war. 

So hätte man wohl glauben dürfen, die Philofophie Boehmes werde 
weite Verbreitung finden. In der That machte jie auch anfangs viel Auf: 
fehen. Allein eine große und dauernde Wirkung hat jie nicht gethan. Das 
(ag nicht nur an der gelegentlich nicht leichten Sprache oder an dem Phan— 
tasma ihrer kosmogoniſchen Partien. Der Grund ijt vielmehr, daß die ganze 
gedanfliche Grundlage, auf der Boehme ftand, zur Zeit feiner Spekulationen 
ſchon ſtark erjchüttert zu werden anfing. Boechme ift der legte myſtiſche 
Philoſoph im inneren Deutichland auf lange Zeit gewefen; nur in den Nieder: 
landen hat die miyftiiche Spekulation während des jiebenzehnten Jahrhunderts 
noch fortgeblüht, um dann, unter wejentlich veränderten Umftänden, in Spinoza 
eine Höhe von auferordentliher Bedeutung zu erreichen. Im Uebrigen aber 
wich die Miyftif dem Empirismus, der Bandynamismus der Mechanik, das 
verzüdte Naturerfennen dem Experiment und der mathematifchen Analyie. 
Jene jpefulative Naturwiſſenſchaft, der die naturphilofophiichen Weltanfchaus 
ungen des jechzchnten Jahrhunderts entfproffen waren, verwelfte; auf Kues 
war Soppernifus gefolgt und auf Paracelſus folgten Stevinus und Oalilei. 
Man begann, Natur und Welt von ganz anderer Seite her zu betrachten. 


Leipzig. Profeſſor Dr. Karl Lamprecht. 


an + 


Hymmus. 19 


Dymnus. 
Sp mal im Jahr über dem ewigen Rom 


In einer tiefdunflen Nacht über den Detersdom 
Kommen die Kronen der Welt durch die Lüfte geraufct. 
Dort, in der Kuppel verſteckt, hab’ ih ihr Kied erlaufct: 


Mir find die Kronen der Welt, 
Yralte und junge Berricherfronen, 
Und jind die Kronen über Millionen. 
Dor unferm Leuchten fällt 
So Knecht wie Held 
Dehmüthig nieder vor den Thronen, 
Denn wir verdammen und belohnen. 
Wir find die Kronen der Welt. 
So flingen die Kronen der Welt in einer tiefdunflen acht über 
dem Petersdom. 
Dann aber fhwingen fie jich höher empor in die Luft, höher empor 
über Rom 
Und ihr höheres Kied brauft wie ein ferner Strom: 


Dir find die Kronen der Welt 

Und jind beftellt, 

Don einem Haupte zum andern 

In ewigem Wechſel zu wandern, zu wandern. 
Auf taufend Häuptern zu Fluch und Segen 
Sind wir gelegen 

Und haben die Stirnen, die wir beglückt, 
Hu Boden gedrüdt. 

Wann aber, wann fommt der Held, 

Der allen Kronen vermag zu entfag zen 
Und alle zu tragen? 

Wann fommt unfer Held? 

Mir find die Kronen der Welt! 


So Flingen die Kronen der Welt in einer tiefdunflen Macht über 
dem ewigen Non, 

Dann aber fhwingen fie ſich böber, noch böber empor 

Und in den‘ Wolken verraufcht brauſend ihr mächtigjter Chor .. 


Ye 


— 


20 Die Zutkunft. 


Und die Wolfen ziehn 

Und die Kronen erglühn, 

Taufend Kronen fprübn, 

Taufend Sterne erblühn auf den himmlischen Feld; 
Und es jtrablen fern 

Im Diademe des Herrn, 

In der Krone des herrn 

Mond und Stern. 


Aber ſchon jchwindet die Nacht 
Und die Sonne erwadt. 
Wie ein fröhlicher Held 
Tritt fie hervor aus den Selt. 
Mond und Sterne verglühn 
Und die Sonne, fie lacht über der ftrahlenden Welt. 
Dras. Hugo Salus. 


Beichtgeheimniß. 


—— gaben zu Ehren des ſcheidenden Karnevals eine große Geſellſchaft: 
zuerſt wurden den Gäſten heitere muſikaliſche Vorträge geboten, danach 
folgte das Souper und den Schluß bildete der obligate Tanz für die junge 
Welt. Man war glüdlic” beim Tanz angelangt. Hofraths jüngjte Tochter, 
Fräulein Thekla, die Einzige, die noch zu haben war, wie der hübjche Ausdrud 
lautet, tanzte nit. Sie habe ein Bischen Kopfweh, jagte fie; auch jchmerze 
fie ihr linker Fuß. Die Wahrheit aber war, daß fie weder Kopfweh noch Fuß— 
weh hatte, jondern daß der Tanz ihr fein Vergnügen bereitete. Sie ging auch 
nicht defolletirt, wie die meijten ammwejenden Damen. Auch Das behagte ihr 
nicht. Vielleicht nur, weil fie mager war. Offiziell behauptete fie, es fei ihr 
genirli. Uebrigens war fie eine reizende Erjcheinung mit ihrem überſchlanken, 
feingliedrigen Körper, ihrem pifanten dunklen Köpfchen und den verträumten 
lichten Augen. Und da fie eine beträchtliche Mitgift zu erwarten hatte, fehlte 
es ihr natürlid nit an Berehrern; und es waren ausnahınelos Herren „mit 
ernjten Abfichten“: Das heißt ſolche, die fi) jogar vor der Ehe nicht ſcheuten. 
Mehr kann man nicht verlangen. Doc Fräulein Thekla verlangte dennoch mehr. 
Sie madte fih aus feinem ihrer Courfchneider Etwas und behandelte alle von 
oben herab. Wach der Ehe trug fie fein Begehren. 

Ihr Vetter Fritz, mit dem fie aufgewadjen war und der blos drei Jahre 
mehr zählte als fie, leiftete ihr während des langen Kotillons Gejellichaft. Sie 
jelbjt hatte ihn fich zum Partner erforen, um „vor den Anderen und der dummen 
Hofmacherei Ruhe zu haben“, wie fie freimüthig zu ihm gejagt hatte. Er war 


Beichtgeheimniß. 21 


es zufrieden geweſen und bemühte ſich jetzt, ſie nach beſten Kräften zu unter— 
halten. Das war nicht leicht. Fräulein Thella war ſchwer zu befriedigen und 
entjeßlich jchnell gelangweilt. Er fannte fie genau. 

Sie war feine Kinder- und Jugendliebe gewejen: bis vor drei Jahren. 
Angebetet hatte er jeine Couſine. Dod „kühl bis ans Herz hinan“ hatte fie 
vor ihm gejtanden, fich feine knabenhafte Anbetung gleichgiltig gefallen laſſen 
und ihn wie einen grünen ‚ungen behandelt. Das iſt jehr unangenehm und 
pflegt ſelbſt die heiefte Liebe zu löjchen. Cine Zeit lang mied und hajte er 
Thekla. Dann genas er. Und jeit einem Jahr war er verheirathet und, wie es ſich 
gehört oder doc jein jollte, bis über die Ohren verliebt in feine junge Frau. 

Ad, jeine ſüße, Heine, faum zwanzigjährige Frau! Da ja fie, ihm 
ichräg gegenüber, und jandte ihm hinter ihrem Pfauenfächer zärtliche Blide zu. 
Wie hübſch fie heute wieder war: jo weich und rund wie eine Taube, das volle 
Hälschen wie bei einer Taube nahezu verjtedt, die Schultern und Alles, was 
ſonſt noch zu jehen, blendend wei und das Geſicht jo rund und rofig, das 
Haar jo blond! Sie unterhielt ji immer mit ihm und er brauchte ſich dabei 
nicht einmal anzujtrengen. Seine Kleine, ſüße Erny bewunderte ihn. Für fie 
war cr das Höchſte und Beite auf der Welt. Und wie gefund und flug fie war! 
Das gerade Gegentheil von jeiner Couſine Thekla. Dieje hatte etwas jo Krank— 
und Räthjelhaftes in ihrem ganzen Weſen. War unbequem und verdreht. Ya, 
jie war entichieden verdreht geworden, — wie alle Mädchen werden, wenn fie 
nicht rechtzeitig heirathen. Das war cs. 

Dennoch war er ihr gut geblieben und fie that ihm leid. Wie kann 
man jich das Leben nur jo muthwillig verbauen! Sie hatte ja immer ihre 
Duden und Yaunen gehabt, hatte jtets etwas Bejonderes haben wollen. Aber 
daß fie ſeit fünf Jahren fromm geworden war, jegte doc allem Woraufge- 
gangenen die Krone auf. Das war jchlimmer als alles Andere. Und dauerte 
nun jchon jo lange. Nahm immer größere Dimenjionen an. Tanzen wollte 
jie nicht und defolletiren wollte jie jich auch nicht; über die Männer rümpfte jie 
die Naſe und jagte, daß ſie in ihren Augen nichts Befferes feien als... Nein! 
Er wollte jich lieber gar nicht erinnern, was für ein Wort jie gebraucht, mit 
welchem unſauberen Thier fie die Mänmerwelt verglichen hatte, Es war zu 
beleidigend. Geradezu aufreizend war es. Nur eine Ausnahme Liej; jie gelten; 
natürlid. Das verdroß ihn am Meijten. Die Prieſter waren anders. Nur 
die Briefter. Und als Sonne umter ihnen leuchtete Theklas Beichtvater, der 
unvergleichliche Pater Mar, für den übrigens eine aanze Neihe von Damen 
ihwärmte. Fritz kannte diefen Vater Dar nicht, hatte ihn niemals geſehen. 
Wollte ihn aucd nicht kennen lernen. Gin Bischen Eiferfudt war doc nod 
lebendig in ihm, troß der erlojchenen alten und der heiten neuen Liebe. Es 
war doch zu kränkend, wenn er ſich entjann, wie Thekla gegen ihn geweſen war, 
und wenn er fi dann vorbielt, wie jie über diejen Pater Max jprad). Um 
jie aus ihrer gelangweilten Yethargie aufzurütteln und jie, die immer Theil 
nahmeloſe und Wortfarge, beredt zu machen, brauchte man blos an diejen Gegen: 
jtand zu tippen: jofort war ſie Feuer und Flamme. 

Er entihloß ſich denn auch jegt, während des Kotillons, zum Tippen. 
Thekla jah bereits bedenklich abgeipannt aus. Da hieß es, ob wohl, ob übel, 
zu dem fatalen Pater Mar jeine Zuflucht nehmen, 


22 Die Zutunft. 


„Na, was macht denn Dein Pater Max?“ fragte er mit einer leichten 
Grimaſſe. 

Thekla ſah ihn von der Seite an. „Er iſt nicht mein Pater Max. Er 
gehört Allen und Keinem. Mir nicht mehr als jedem Anderen.“ 

„Schön. Alſo: was macht er?“ 

„Was er immer thut: Seelen leiten und Seelen retten. Ach, Fritz“ — 
und fie richtete jich aus ihrer wie gefnicdten Haltung auf — „ic bin fo traurig! 
Denke Dir: Pater Mar fährt zur Faſtenzeit nach Trieft, um dort die Faſten— 
predigten zu halten.“ 

„Ra, gönne ihm die Abwedyelung“, meinte Fri. 

„Ich gönne ihn den Trieftinern“, entgegnete fie, ihn zurechtweifend. 
„Über ich werde ihn vermiflen. Er predigt fo wunderbar! Und gerade jeine 
Faftenpredigten waren mir jtet3 die liebiten. Und wenn ich während dieſer 
Wochen beichten will, ift er nicht da.“ 

„Beichte mir“, rieth ihr Vetter. „Einmal ijt feinmal,“ 

Thekla lächelte. Es war ein mitleidiges Lächeln. „Dir, mein lieber 
Fritz, würde ich überhaupt nichts mehr anvertrauen. Niemals mehr.“ 

„Weshalb denn nicht?“ fragte er etwas geärgert. 

„Weil Du verheirathet bijt und verheirathete Männer nicht ſchweigen 
fönnen. Weil fie Alles ihren lieben frauen weiter erzählen. Danach gelüftet 
es mich nicht. Deine ſüße Taube ift mir innerlich” fremd und ich habe fein 
Bedürfniß, fie durch Did in meine Geheimniffe einmweihen zu laſſen.“ 

„Aber Thekla!“ Er ereiferte fih. „Halte mich doch nicht für jo albern! 
Ich jelbjt habe zwar feine Geheimniffe vor meiner Frau. Doc wenn es fidh 
um die Angelegenheiten einer Dritten handelte... .“ . 

„sa, ja: jo reden Alle. Aber wenn fie mit der ſüßen Gattin allein 
find und die jühe Gattin recht ſchön bittet...“ 

„Ich gebe Dir mein Wort, daß Du uns verfennit. Du machſt Dir 
überhaupt eine ganz faljche Vorjtellung von uns. Die Männer find unendlich 
viel bejjer und auch klüger, als Du Dir einbildejt.“ 

„Wahrhaftig?”" Gedankenvoll jah fie ihn an. „Und wenn id Dir nun 
wirflid; ein Geheimniß anvertraute: würdeft Du jchweigen können?“ Sie war 
jehr ernit geworden. 

„Mein Wort darauf, Thekla.“ Er war ebenfalls ernit geworden. „Wir 
find doc immer gute Kameraden gewejen. Ich fürchte, Dich quält Etwas. 
Vertraue Did mir ohne Scheu an. Vielleicht kann ih Dir helfen.“ 

Sie jchüttelte den Kopf. „Delfen kann mir nur Gott. Was ich Dir zu 
jagen habe, weiß nod Niemand. Nicht einmal dem Vater Mar habe ich8 gejagt.“ 

„Nicht einmal ihm?“ Fritz fühlte fich geichmeichelt. „Alfo, was ift 
es denn?" 

„sch tauge nicht für diefe Welt, Fritz. Und darum habe id den Ent- 
ſchluß gefaßt, den Schleier zu nehmen und Nonne zu werden.“ 

Fritz ftarrte fie an. „Im Ernie?“ 

„Im vollen Ernſt. Und ich will mir den ftrengjten Orden ermwählen 
und Sarmeliterin werden. Wenn man das Ordensfleid einer Karmeliterin ans 
legt, ftirbt man für diefe Welt. Man ficht Niemanden mehr — aud Vater 


Beichtgeheimnif. 23 


und Mutter nicht —, jchreibt und empfängt Feine Briefe, ift und bleibt abge- 
ichnitten von Allem“... 

„Das ift ja ein ganz entjeglicher Orden, Thekla!“ Er war außer jid). 
„Und dat jo Etwas im zwanzigiten Jahrhundert geduldet wird!‘ 

„In Deinem zwanzigjten Nahrhundert werden viel jchlimmere Dinge 
geduldet: Unzucht, Trunkjucht, alle Yajter,” entgegnete jie kalt. Kümmere Did 
lieber um dieſe Dinge. Die find gefährlidyer.‘‘ 5 

„Mag jein. Na, ... und was thun fie denn, Deine Karmeliterinnen ?“ 

„Sie beten,“ jagte Thefla mit einem nur ihr eigenen unnachahmlichen 
Augenaufihlag. „Beten Tag und Nadıt für die jündige Menjchheit.“ 

„Ra, ſchön müßteſt Du ausjehen im Schleier und Nonnenkleid,“ jagte 
er mit einem bewundernden Blid auf ihr efitatijches Gejicht. „Aber muß es 
denn gerade diefer Orden jein? Und kannt Du denn nicht aud zu Haufe für 
die jündige Menjchheit beten? Die Wirkung würde fi ja wohl gleich bleiben.“ 

„Rein. Hier verjteht mich Niemand, fühlt Keiner wie ich. Unter Gleich— 
gefinnten will ich jein. Ad, Fritz, aucd Du verftehit mich nicht!“ 

„Doc, doch,“ jagte er eifrig. „Sehr gut verjtehe ih Did. Aber warum 
willit Du Dich lebendig begraben lafjen, um Gottes willen!?“ 

Sie beugte ji jeinem Ohr ganz nah. „Weil ich mid) vor mir jelbit 
retten möchte, Fritz,“ ſprach fie murmelnd. | 

„Wieſo denn?“ Er war ſchon ganz verwirrt. „Was ift denn (08, Thefla ?“ 

„sn meinem Herzen wohnt eine Liebe, die zu hegen eine Todjünde ift,“ 
fam es flüjternd über ihre Lippen. 

„Nanu . ..!“ Er haſchte nad) ihrer Hand. „Das, hatte ich immer ge 
fürchtet; und diefen Pater Mar“ ... J 

Sie madte eine Schweigen heiſchende Gebärde. „Still. Solche Dinge 
ſpricht man nicht jo Elipp und Elar aus. Ich gehe nad) Salzburg, wo ein Kar— 
meliterinnenflofter ijt, mache dort mein Noviziat, nehme den Scleier und jterbe 
für alle Menjchen. Auch für ihn. Und er für mid. Jetzt weißt Du Alles.“ 

„Jetzt weiß ich Alles," ſprach er wie betäubt nad). 

„And Du wirft jchweigen?’ fragte jie jehr eindringlich und legte die 
Dand auf jeinen Arm. „Noch muß mein Entjchluß Geheimniß bleiben. Du 
wirjt jchweigen, Fri, nicht wahr? Du haft es mir verjprochen!“ 

„And ich verſpreche es Dir noch einmah,“ jagte er. „Aber was Du mir 
da anvertraut haft, iſt ganz jchredlicdy!“ 

„Nur Eins ift ſchrecklich: die Sünde,“ erwiderte jie ernit. 

Berwirrt jah er fie an. Arme, arme Thekla! ihre Beichte batte ihn 
aufgeregt und er hatte jogar verjäumt, zärtliche Blide mit feiner jungen ‚rau zu 
wecdjeln. Und jo bemerkte er auch jett nicht, das rau Erny in aejpannter 
Lauſcherſtellung daſaß und jcharfe Blicke zu ihm und Thekla berüberjandte, 

...Eine Stunde jpäter fuhr er mit jeiner Eleinen rau nach Hauſe. Als 
fie ihr hübſches Heim erreicht hatten und im Schlafgemad die Oberkleider ab» 
legten, fragte er jie, wie fie ſich amuſirt habe. 

„Gar nicht,’ antwortete jie in flagendem Ton. „Und ich bin jo müde!“ 

Sie ſetzte fih auf die Chailelongue und hielt ihm die runden Händchen 
hin. „Bitte, hilf mir die Handſchuhe ausziehen!“ 


FTTTTT 


24 . Die Zutunft. 


Wie ſüß fie Das fagte! Und immer war es jo, wenn jie von einer Ge— 
ſellſchaft nach Haufe kamen: ſtets war fie jo müde, daß fie fich allein nicht aus- 
zufleiden vermochte. Und da man das arme Dienftmädden nicht weden wollte, 
mußte ihr natürlich der Gatte behilflich fein. 

Er war ihr aud heute behilflich. Kniete vor ihr und knöpfte ihr die 
Stiefelhen auf. Damit fing man jedesmal an. 

Warum haſt Du Did) denn nicht amuſirt, mein Engelchen?“ fragte er, 
zu ihr aufjehend. 

Sie warf ſchmollend die Lippen auf. „Weil Du jo abjcheulich gegen mid 
warjt! Mid gar nicht beachtet haft!‘ \ 

„Wieſo denn abjcheulich und nicht beachtet, Erny?“ 

„a, während des Kotillons. Du weißt Igon! Dieje Bohnenjtange von 
einer Couſine liegt Dir eben noch immer im Sinn.” 

„Warum nicht gar!“ Er war mit den Stiefeletten fertig geworben und 
jtedte weiche Pantoffelchen an ihre ‚Füße. i 

„Ja, ja. Ich weiß, was ich weiß. Und jo verblüht fie iſt — detolletirt 
müßte fie übrigens nett ausjehen —, fie gefällt Dir no immer. Und wie ſie 
mit Dir fofettirt hat! Es war geradezu unanjtändig.“ 

„Thekla Eofettirt überhaupt mit. Niemandem.‘ 

„So? Ach aber jage Dir, dal; jie eine Erzfofette iſt. Hak' mir doch die 
Taille auf!“ rief fie ungeduldig und herriich. „ich bin ja jo ſchrecklich müde!“ 

Er bafte ihr mit einiger Mühe die enge Taille auf und zog fie ihr vom 
Leibe. Ach, wie hübſch jie im mit Spißen bejegten, ſchwarzſeidenen Korſet 
ausjah! Er wollte jie auf die Schulter küſſen. Doch Erny wid) ihm aus. 

„Laß mi in Ruhe“, jagte fie. „sch bin böje auf Did.“ 

„ber weshalb denn, Maus?“ 

Sie legte die Hände an die drallen Hüften. „Weil Du treulos biſt und 
ſchlecht. Alle Männer find jo. Mama jagt es auch. Und fie hat Recht. Und 
ich möchte am Yiebiten fterben.“ 

Wahrhaftig: fie fing zu weinen an. Gr war jehr bejtürzt und zog fie 
an ji. „Mein Gott, was haft Du denn?“ 

„Unglücklich bin ich!“ ſtieß jie heraus. „Das jchlechte Mädchen will Dich 
mir nehmen! Früher hat jie nichts von Dir willen wollen. Aber heute reizeit 
Du fie, weil Du verheirathet bift . . .“ 

„Hätte ich ihr nur nicht gejant, day Thekla meine Jugendliebe war!“ 

achte er. „Warımt fage ich ihr aber auch Alles, id Eſel!“ 

„Ich reize fie nicht im Mindeſten,“ antwortete er der erbojten Kleinen Frau. 

„Nicht? Und was hatte jie Dir denn in Einem fort ins Chr zu flüftern? 
Die Hand auf Deinen Arın zu legen? Sic mit dem ganzen Cherförper auf 
Dih zu legen? Dart genug mag ihre VBerührung jein und id) beneide Dich 
wahrlich nicht darum . . . Aber ihre Schlechtigfeit bleibt fich aleih. Wie fie 
Dich nur angeſchmachtet hat! Es hat blos noch gefehlt, daß fie fi) Div an den 
Hals warf... . Und viel hat nicht dazu gefehlt: fie war Dir nah genug!“ 

„Aber alles Das iſt blanker Unfinn, Ermy. Komm, ic will Dich vollends 
austleiden; dann legit Du Did jchlafen.“ 

„Ich brauche Dich nicht dazu. So müde ich bin: ich werde mich allein 
ausfleiden. Und fchlafen magit Du anderswo. Nicht hier, bei mir.“ 


2 on 


Beichtgeheimniß. 25 


Jetzt wurde er ärgerlich. 
„Sei doch vernünftig, Ermy. Wenn Du wüßteſt, was wir zuſammen 
geſprochen haben!’ 
„Ich weil; es aber nicht. Und Du wirft es mir nicht jagen. Du wirft 
Did hüten!“ 
„Ich gebe Dir mein Wort, daß fie... . nicht an mich denft.“ 
„Ich glaube Dir nicht.” Sie drängte ji) an ihn und weinte aufs Neue, 
Wie fann man nur jo graujam jein und jeine ‚frau jo quälen!“ 
Ihre Nähe machte ihm ganz warm und ihre Thränen marterten ihn. 
„Sie liebt ja einen Anderen, Erny,“ entfuhr es ihm in jeiner Verliebt- 
heit und Bedrängnih. 
Erny horchte auf. „Wen denn? 
„Ach, Einen, den fie nicht lieben darf . . . Es iſt eine unglückliche Geſchichte.“ 
„Und Du ſollſt wohl ihr Tröſter ſein?“ fragte ſie, wieder ſchärfer. 
„Bewahre. Ins Kloſter will ſie, dieſer Geſchichte wegen. Karmeliterin 
will ſie werden. Und davon haben wir geredet.“ 
„Davon!“ Site lachte. „Mag fie ins Kloſter gehen! Dorthin paßt ſie 
mit ihrem Augenverdrehen. Und Der, den ſie liebt, iſt wohl der Pater Max?“ 
„Ja, es iſt der Pater Dar.“ 
Erny lachte noch einmal, fragte noch Allerhand und ließ ſich, während 
er ihr willenlos Antwort gab, ohne Widerrede von ka entfleiden. 


r 


— — — — — — — — — — — — — — 


Freilich: am Morgen war ihm katzenjämmerlich zu Muthe. Und noch 
ſchlimmer wurde es, als ihm Erny eine Poſtkarte brachte. Die Karte war von 
Thekla. Und darauf ſtand in großen, weithin leſerlichen Schriftzügen: „Haſt 
Du geſchwiegen?“ 

Er ſchämte ſich gewaltig. 

Und zwei Stunden ſpäter traf eine neue Poſtkarte ein. Wieder von Thekla. 

„Es war nur eine Probe,” jchrieb fie ihm. „ich bin in den Pater Mar 
nicht verliebt. Ich verehre ihn blos, — ohne Sünde. Ich will audı nicht ins 
Klofter gehen. Nur. beweijen wollte ich Dir, dat ich Euch richtig beurtheile und 
daß Ihr Ehemänner den Mund nicht halten fünnt. Und froh bin ich, daß die 
Kirche, flug wie immer, den Cölibat über ihre Diener verhängt hat. Was würde 
aus dem Beichtgeheimniß werden, wenn auch die Brieiter heirathen dürften! 

Ihekla. 

% ©. Lab Erny beide Karten leſen, wenn ſie es nicht bereits von 
jelbjt gethan hat. Aber wie ich die Ehefrauen kenne, bat fie die Marten vor 
Dir gelejen.‘ 

Sp war e3 aud. Erny wußztte die zwei Boftlarten ſchon auswendig. 
Und jo ſchämte er ſich auch vor ihr, ſeines „Reinfalls“ wegen. 

Doc die Kleine Fran tröftete ihn. „Laß fie ſchwatzen!“ ſagte ſie. „Wenn 
jie einmal einen Dann hat — ich fürchte zwar jehr, daß ſie Meiner mehr nimmt - -, 
wird fie es genau eben jo machen. Taranf faunjt Du Dich verlaiien 


Wien. Emil Marriot. 


>26 ‚Die Zulimft. 


Rinderrechte. 


5 mongolifche Kaifer Dicingis, der die Kindes: und Elternliebe der 
Chinefen kannte, dedte, als er jie befriegte, feine Vorhut mit den 
Kindern und Eltern feiner Feinde. So deden die Antifeminiften mit der 
Mutterfchaft ihre Argumente, um die Invaſion des weiblichen Yeindes in 
ihre Gebiete zu verhindern. 

Trog der Heiligiprechung der Mutterjchaft ift das Kind in der Menſch— 
heitgeichichte noch nie zu feinem Hecht gefommen. Die ungeheure Sterblid): 
keit der Säuglinge legt Zeugniß davon ab. Und es ift das Recht des Kindes, 
zu leben. Generationen von Kindern verrohen, entarten im Gifthauch einer 
entjittlichten Umgebung. Schuß vor Förperlihen und geiftigen Mißhand— 
lungen ift das Recht des Kindes. 

Wer nicht fchaudernd, von grenzenlofem Erbarmen durchglüht, die 
Berichte über das Sinderelend in den englifchen Fabriken gelefen hat, trägt 
ein Herz von Stein in der Bruft. 

Nur von dem Heinen Kinde will ich heute fprechen, von dem Baby, 
für das Andere verantwortlich find. 

Welche Andere? 

Die Mutter? 

Sa, wenn wir an die Mutter von Gottes Gnaden glauben. Die 
Berheiligung der Murterfchaft gehört zu den konventionellen Berlogenheiten. 

Wie? Dieſe Heinen Kinder, die liebende Mütter haben, auch die fänıen 
nicht zu ihrem echt? 

Auch fie — in der Mehrzahl — nid. 

Die Gegner der modernen Frauenbewegung freili fehen in der Mütter 
lichkeit des Weibes die Verbürgung der Rechte des Kindes. Daher ihre 
feindliche Haltung gegen die umjtürzlerifchen- Weiber der Emanzipation, die, 
wie es fcheint, nichts Geringeres planen als einen neuen bethlehemitischen 
geiftigen Kindermord. 

Daß alle feelifchen und phylischen Kräfte des Weibes nur der Mutter: 
ihaft zu dienen haben, daß auf der Meütterlichkeit ihre Genialität beruhe, 
wird neuerdings wieder mit den Zeusgebärden fouverainen Allwiffens der 
Welt verfündet. Wie fih in Wirflichkeit daS Leben der Frau als Mutter 
der Babies abfpielt, will ich zu ſchildern verjuchen. 

Die Mutterliebe ift ein Naturtrieb. 

So recht von Herzen fann ich nicht einmal an diefen faum je be= 
zweifelten Naturinitinft glauben. 

Lege ein fremdes Kind ftatt des eigenen der Mutter, die eben geboren 
hat, in die Wiege und ſie wird das untergefchobene Geſchöpfchen — falls 





Kinderrechte. 27 


ſie von der Vertauſchung nichts weiß — in ihr Herz ſchließen, als wäre es 
ihr leibliches Kind. Ich kenne Fälle, wo kinderloſe Frauen ein adoptirtes 
Kind mit der denkbar inbrünſtigſten Mutterliebe umfaßten. Nicht der Natur— 
inſtinkt ſcheint mir der Grundpfeiler der menſchlichen Mutterliebe; eher iſt 
es das Schaffen und Wirken an dem Kinde. Die Mutter fühlt ſich als 
das Schickſal des kleinen hilfloſen Geſchöpfes, das ihr anvertraut wurde, 
wobei allerdings die Vorſtellung, daß es ihr eigenes Fleiſch und Blut iſt, 
mitwirkt. Die Vorſtellung ſage ich, — nicht die Thatſache. 

Ein Beiſpiel aus meinen eigenen Leben mag das Geſagte erläutern. 
Aus irgend weldem Anlaß wohnte einmal eine Heine Nichte einige Monate 
bei mir. In fkürzefter Zeit liebte ich das Kind, das ich vorher faum ge: 
fannt hatte (die Eltern wohnten in einer anderen Stadt), wie nur eine 
Mutter ihr Kind lieben kann. Seine Gegenliebe bereitete mir Entzüden, 
es war mein Gejchöpfchen, das ich zu behüten, zu verforgen hatte, für das 
id verantwortlid war. Als das Kind mir wieder genommen wurde, ent: 
ihwand es allmählich aus meinem Gedächtniß und aus meinem Herzen. 

Ein noch marfanteres Beifpiel, wober es fich freilich um einen Mann 
handelt, einen älteren Herren und vielbefchäftigten Kaufmann. Diefer Mann 
— ein naher Verwandter von mir. — hatte acht Kinder, denen er keinerlei 
Intereſſe zumandte; höchitens zeigte er an ihren weltlihen Erfolgen einige 
Antheilnahme. Die Kinder gehörten ganz der eifrigen, willensftarten Mutter. 
Der harakterfchwache Bater war eine Null im Haufe. Einer feiner Söhne 
ftarb mit der Bitte auf den Lippen, daß der Bater jich feines verlaflenen, 
unehelichen Kleinen Mädchens annehmen möge. Und diefer trodene Geichäfts- 
mann, der jich um feine eigenen Kinder nie gefümmert hatte, wurde diefem 
Kind ein überzärtlicher Vater. Sein ganzes Gemüthsleben Fonzentrirte fich 
auf die Kleine, die wahrſcheinlich ohne ihm geftorben oder verdorben wäre. 
Es war rührend, zu beobachten, wie er heimlich, fait mit dem Gefühl einer 
Schuld, Tag für Tag zu dem Kinde ſchlich und fih mit Geſchenken und 
zarter Fürforge für die Enkelin nicht genug thun Fonnte. Und das Sind 
gab ihm Liebe für Liebe. Daß es ja in der That aus feinem Blute ſtammte, 
hatte mit feiner Liebe nichts zu thun. 

Es ift eine oft gemachte Wahrnehmung, dar ein Vater feinem ehelichen 
Kinde häufig erjt dann ein echter fürforgender Vater wird, wenn der Tod 
ihm die Gattin, dem Kind die Mutter entriffen hat. 

Zum Beitand der Mutterliebe gehört als wefentliches Clement die 
Gegenliebe des Kindes. Denken wir uns diele Liebe ausgeichaltet, fo dürfte 
die Mutterzärtlichkeit eine ſtarke Abkühlung erfahren. ch Fenne Fälle, wo 
Mütter mit einer zahlreichen Kinderichaar diejenigen Kinder, die fie mit der 
eigenen Milch genährt haben, leidenichaftlich liebten, den Ammenkindern aber, 


28 Die Zukunft. 


die, von der Mutter ſich wendend, nad) der Amme jchrien, abhold waren. Kluge 
und gute Frauen freilich werden es verftehen, fich der Meinen Geſchöpfchen, 
wenn die Amme entlaſſen iſt, zu bemächtigen. 

Welches aber auch der Grund und Urgrund der Mutterliebe ſein mag: 
ſie iſt da, fie wird immer da fein, ſelbſt wenn Titaniden der Emanzipation 
den Himmel diefer Gemüthswelt zu jtürmen fi unterfangen wollten; eine 
Liebe mit leichtem Anklingen an Myſtiſches, das das Kindchen in Zufammen- 
bang bringt mit dem „Woher*? „Wohin“? aller Kreatur, und als ob in 
der Maren Tiefe diefer Fragenden Kinderaugen noch ein Abglanz ruhte von 
einer anderen Welt, aus der fie fommen, — Engelsbilder, die irgendwo 
Flügel verloren. 

Warum aber ſoll diefe Liebe eine jo überaus geniale, da8 Leben der 
Frau erfchöpfende Leiftung fein? Schlechte und gute Frauen lieben in gleicher 
Weiſe ihre Kinder; und fie lieben auch ihre ſeeliſch mißrathenen Spröflinge, 
die vorausſichtlich der Menfchheit Unheil bringen. Und folcher Liebe ein 
Heiligenichein? Wir bewundern doch aud den Künftler nicht, der fein miß— 
lungenes Werk anbetet; eher lächeln wir darüber hinweg, mitleidig, geringichägig. 

Die Zärtlichkeitbeweife, die Lieblofungen, die eine Begleiterfheinung 
der Liebe für die Babies find, machen offenbar der Mutter mehr Vergnügen 
als dem Kinde. Dieje Liebe, die ein jo Heines, hirn- und feelenlofes. Ges 
Ihöpfchen brünftig umflanımert, e8 förmlich in fich ſaugt, in efitatifcher Wonne, 
bezeichnet das ftarke finnliche Element in der Mutterlicbe. Die Kinder vor 
Liebe aufeſſen, ijt eine oft angewandte Nedensart. 

Diefe zärtlihen Muttergefühle immer auf dem Präfentirteller, als 
piece de resistance in der Argumentation gegen die Frauenbewegung, ift 
aufdringlich, abjtoßend. Wie man in feinem Kämmerlein betet, jo liebe man 
daheim fein Kindchen. Aber ich ſehe feinen Grund, Gefühle, die einen fo 
reichen Lohn ſchon im sich jelbft tragen, als ungeheure, Ehrfurcht gebietende 
Qualitäten an die große Glode zu hängen, Heiligenjcheine dafür als Dutzend— 
waare auf den Markt zu werfen, auc für Stirnen, hinter denen nie eines 
Gedankens Gluth geftrahlt, nie ein Funke von Edeliinn auch nur geglimmt 
hat. Mir ift diefes Progen mit der Mutterliebe — eine erweiterte Selbit- 
liebe — widrig. Frauen fönnen ihren Kindern die zärtlichiten Gefühle weihen 
und Sich anderen Kindern, ja, der ganzen übrigen Menfchheit gegenüber herz. 
und gemüthlos erweifen. Das wäre die echte Mutter, die allen Kindern hold ift. 

Viele Frauen haben vielleicht feine anderen Vorzüge, aber gar keine; 
ie können vielieicht nicht einmal kochen: da bleibt ihnen dod immer noch 
die Mutterliebe. Die foftet feine Arbeit, wird nicht erworben, ift von felbit 
da, und je heftiger fie da ift, um jo mehr rückt fie die Mutter in eine ver— 
flärende Beleuchtung. 


Kinderrechte. 29 


Die Mutterliebe entbehrt der Idealität, die man ihr zuſpricht, wenn 
es mir auch fern liegt, zu leugnen, daß es eine Mutterliebe giebt, die rührend 
und ergreifend iſt, eine Liebe, die immer troͤſtet, immer verzeiht, die immer 
giebt und niemals nimmt, die ſelbſt an dem entgleiſten Kinde, das am 
Pranger der Menſchheit ſteht, in unverbrüchlicher Treue feſthält. In Romanen 
fommen dieſe Mütter noch häufiger vor als im Leben. 

In dem Aufſatz eines geijtvollen Schriftftellers las ic) fürzlich, Nouffeau 
habe für die gebildeten Europäer erit das Kind entdedt. „Seitdem wurde 
es Mode, an dem Fleinen Ding Etwas zu finden. Bis dahin fand die 
Mutter jelten den Weg in die Kinderftube. Der Mutter wurde es bequem 
gemacht, nicht dem Kinde. Daher die Schaufelwiege, der Lutſchbeutel, das 
Stedfifjen. Noch heute ijt e3 in der Normandie Braud, den Säugling in 
der Küche an einen Nagel zu hängen. Die Wilden jind fchlechte Mütter.“ 
Die Gewähr für die Richtigkeit diefer Darftellung überlaffe ich dem Autor. 

E3 jind die Heinen hilflojen Gefchöpfe, die Babies, denen die Mutter 
die größte Zärtlichkeit widmet. Der Säugling in der That ift von der Natur 
auf die Mutter angewiefen. Bei der heutigen Beichaffenheit der Frau kommt 
das Säugeamt nur zu oft in Wegfall. Surrogate für die Muttermilch 
mögen in vollflommener chemifcher Zufammenfegung nod nicht vorhanden fein. 
Sie herzuftellen, bleibt der Zukunft vorbehalten. 

Es ift vorauszufehen, daß die Mutter der Zukunft im Stande fein 
wird, ihre Nährpflicht befjer zu erfüllen als die jegige Generation. Die 
Erfahrung widerlegt die Anſicht, daß die Nährthätigkeit auf den geiftigen und 
förperlichen Zuftand der Frau ungünftig einwirfe. Im Gegentheil: viele 
Frauen fühlen fich in diefer Zeit befonders wohl. 

Vorkehrungen zu treffen, daß die Mutter ihres Säugeamtes neben 
einer Berufsthätigfeit walten kann, liegt im Bereich der Möglichkeit. 

Eine ausgezeichnete Schriftftellerin weift auf „die ungeheure pfychologifche 
Bedeutung hin, die die perfönliche Pflege des Kindes für die Mutter habe.“ Die 
perjönliche Pflege und Fürforge ... . Hm! Die Mutter wäfcht, widelt, badet 
Tag für Tag das Heine Kindchen, jie giebt ihm das Fläſchchen und kocht 
ihm das Süppchen, füttert es, trägt oder führt es jpaziren, fingt es in den 
Schlaf, näht und wäjcht feine Kleidchen und beforgt nachts, was zu beforgen iſt. 

Thut fie Das? 

Bewahre! Dazu ift ja die Kınderfrau da. 

Ob eine Pflicht für die Fran beiteht, ihr ganzes Leben den Kindern 
zu widmen, darüber mag man verfchiedener Meinung fein. Dat faum eine 
Frau diefer Pflicht nachkommt, ift fiher; fie kann es auch nicht, ohme ihre 
foziale Stellung, ihre gefellfchaftlihen Beziehungen, ihren Gatten an den 
Kagel zu hängen (ich meine Das bildlich). 


30 . Die Zukunft. 


MWohlgemerkt: ich fpreche hier immer nur von der Mütterlichkeit mit 
Ausschluß des Proletariates, bei dem die Nothlage die Kinderfürforge auf 
ein Minimum herabdrüdt. 

Das Warten der Fleinen Kinder ift außerordentlich angreifend. Eine 
durch lange Uebung erworbene Geduld gehört dazu, Ruhe, ftarfe Arme und 
fogar eine gewilie Freiheit von allzu heftigen Liebesaffeften. Siehe: Klein 
Eyolf. Das Heine Kind bedarf der unausgefegten Beaufiihtigung. 

Ih kenne eine wahniinnig zärtlihe Mutter, die als fie von einer felt: 
famen Sranfheit hörte, die irgendwo unten im Süden ausgebrochen fein 
follte, bei der Vorftellung, daß ihre Lieblinge davon ergriffen werden könnten, 
in beige Thränen ausbrach. Die jelbe junge Frau aber verficherte, fie würde 
lieber Holz haden, als ihre Kinder den ganzen Tag warten. 

In Frankreih und Italien wurden und werden noc heute vielfach die 
Heinen Kinder aufs Land gegeben, theil8 aus hygienischen Gründen, theils, 
weil es eben Landesbraud war. Daß die Mutterliebe in diefen Ländern aus: 
geitorben iſt, bezweifle ih. Die Tage, an denen die Kinder befucht werden, 
find Fefttage für die Familie. In feinem Lande Europas giebt es zärt- 
lichere Eltern als in Italien; ſogar der Vater nimmt dort im volliten Maße 
daran feinen Theil. Und jind die Engländerinnen etwa Nabenmütter? Im 
England it die Pflege der Heinen und Feineren Kinder völlig der nurse 
überlaffen. Die nurse ift eine gründlich und treiflic für ihren Beruf ge: 
fchulte Berfon, die ihre ganz beitimmten, weitgehenden Nechte hat, Nechte, 
die felbft die Mutter nicht anzutaften wagt; und auch nicht anzutaften braucht. 
Ja: eine englifche Mutter ſchickt ihre Kinder allein mit der nurse in be: 
flimmte Seebäder und darf der Leberzeugung fein, daß fie felbit nicht beifer 
für die Kinder dort forgen könnte, als die nurse es thut. Auch bei uns 
in Dentichland find die Kinderfrauen Machthaberinnen; leider jind fie nicht 
annähernd jo tüchtig und geichult wie die englifchen nurses. Ihre Unzu— 
länglichfeit beruht aber doch nicht auf einer Naturnothiwendigfeit. Man wird 
für Inſtitute zu jorgen haben, aus denen Kinderpflegerinnen hervorgehen, 
die den englifchen ebenbürtig find. 

Sch habe verkehrt und verfehre noch in einer großen Anzahl gebilbeter 
und intelligenter Familien. Einige davon find reich, andere arm. In all 
diefen Familien werden die Kinder zärtlich geliebt, oft über das vernünftige 
Mar hinaus, und in al diefen Familien ift der Verkehr der Mütter mit 
ihren Kindern völlig gleih. Die Mutter ijt den Tag über zwei, wenn es 
hoch Fommt, drei Stunden mit ihren Kindern zuſammen. Die Kinderfrau 
(Ipäter das Kinderfräulein) bringt morgens das Kindchen zum Morgengruf 
ins Schlaf- oder Wohnzimmer der Mutter. Die koſt und fpielt ein halbes 
Stündchen mit ihm. Dann zieht fich die Wärterin mit dem Kleinen wieder 


Kinderrechte. 31 


in die Kinderſtube zurück. Iſt das Kindchen noch ganz jung, ſo wird 
Muttchen wohl zu ihrem Vergnügen als Zuſchauer zum Baden eingeladen. 
Nach Tiſch zum Deſſert und nachmittags beim Kaffee präſentirt die Kinderfrau 
abermals das Herzblättchen auf kurze Zeit. Und ab und zu im Laufe des 
Tages steht Muttchen wohl noch flüchtig den Kopf ins Kinderzimmer, mit 
dem Heinen Schag liebäugelnd oder ihn mit vielen, vielen Küffen erftidend. 
"Und liegt Kindchen abends im Bett, fo ruft die Kinderfrau fie zum Gute: 
nadhtjagen und zum Gebet, falld das Muttchen nicht gerade durch Theater, 
Konzerte oder Gejelljchaften in Anjpruch genommen: ift. 

Baby ift Muttchens Zeitvertreib und Spielen und Sofen fein Inhalt. 

Den größten Theil des Tages gehören die Kinder der Sinderfrau 
oder dem Fräulein. Die Mutter ftattet nur Befuche im Kinderzimmer ab, 
das Kind nur Beſuche im Wohnzimmer. So ift 8. Wer aber meint, 
daß hier Wandel gejchafft werden müſſe, damit der Mutter allein „der 
ungeheure pſychologiſche Vortheil der perfönlichen Pflege des Kindes“ zufalle, 
Der trete offen für die Abjchaffung der KHinderfrauen ein, ftatt — wie es 
gewöhnlich geſchieht — diefe breiten Machthaberinnen in der Kinderſtube 
völlig zu ignoriren. 

Die Wärterin meiner Kinder befam Wuthanfälle, wenn ich einmal 
mein Kind jelbit baden, wideln oder im Garten fpaziren fahren wollte. Das 
jet ihre Sache. Sie empfand mein Eingreifen als eine Chrverlegung, eine 
tötliche Kränfung. Und ih, — ich fuchte heimlich, Hinter ihrem Rüden, 
meinem Kindchen beizufommen. Die Defpotin an die Luft zu fegen, wäre 
natürlich vernünftiger gewejen. 

Gewiß hat die Mutter immer und überall die Pflicht zur Oberaufjicht 
über die Kinderwärterinnen. Die Wirkſamkeit der DOberaufjiht aber hängt 
viel weniger von ihrer Liebe und der Zeitdauer ab, die fie diefer Thätigfeit 
widmet, al3 von ihrer ntelligenz und ihrem Charafter. 

Iſt die Mutter als Pflegerin und Erzieherin eine abfolute Noth— 
wendigkeit für das Kind? ft die Umtrennbarfeit von Mutter und Kind ein 
für alle Ewigfeit geltendes Prinzip? Zwei Gelichtspunfte fommen dabei in 
Frage. Erſtens: die Freude und das Glück der Mutter am Sinde; und 
zweitend: das Gedeihen und das Glück des Kindes. 

Die Freude und das Glück der Mutter! Ja, wiſſen denn die Frauen 
nicht felbft, wo ihr Glück, wo ihre Freuden blühen? it das Kind ihr 
größtes Glüd, ihre intimfte Freude, jo werden fie es fich um feinen Preis 
der Welt entreißen laffen, am Allerwenigften aber werden fie jich dieſes Glückes 
freiwillig entäußern. Und es ift ein Luxus der Großherzigkeit, wenn die 
Männer ſich jo feurig für das Glück ihrer Echweftern ereifern. 

Und: die Wohlfahrt des Kindes. Wie? Iſt das Herz der Mutter 


— 
* per, — ⏑ 


32 Die Zukunft. 


nicht ihr bejter Hort? Darauf antworte ih: Das Kind gedeiht da am Beiten, 
wo eine erzieherifch begabte Perſönlichkeit von edler Geſinnung, von Intelligenz 
und Herzensgüte über ihm wacht, e8 leitet umd führt. Beligt die Mutter 
diefe Eigenfchaften: um fo beſſer. Beligt fie fie nicht, dann wird das Kind 
in ihrer Sphäre das bejtmögliche Gedeihen nicht finden. 

Und die heflfeheriiche Kraft des Mutterinjtinttes? Gehört fie doc 
zu den auswendig gelernten ewigen Wahrheiten, die fi) von Geſchlecht zus 
Gefchlecht vererben. Erſt fürzlic) las ich in der Schrift eines warmen Femi— 
niften, daß „felbjtverjtändlich, wie bisher, fo auch in Zufunft die wunderbar 
hellfeherifche Kraft des Liebevollen Mutterinftinktes das Beſte thun wird.“ 
So lange man jich von diefer alteingefejlener Wahnvorjtellung nicht frei macht, 
wird der milden Engelmaderei der Juſtinktmütter Vorſchub geleiftet. Ich 
glaube nit am die Wunderwirkung des Mutterinftinftes; eher fcheint mir 
die Mutterliebe, die nur in Ausnahmefällen nicht blind ift, ein Hemmuiß 
des fruchtbaren Wirkens am Kinde. 

Und das Glück des Kindes? Braucht das Kind nicht Liebe? Gewiß. 
Aber es gilt ihm gleich, von wen die Liebe fommt. Es kann die Mutter fein; fie 
braucht es aber nicht zu fein. Die Liebe des Kindes zur Mutter ift ganz jicher Fein 
Naturinſtinkt. Sein inftinktives Bedürfnik nad) Liebe und Anhänglichkeit fällt den 
Perfonen zu, die ihm Luft bringen, fei e8 dur Nahrung, Spielzeug oder was 
ihm fonft Behagen jchafft. Der Säugling von ſechs Monaten jauchzt der Amme, 
nicht der Mutter entgegen. Bei diefer Kindesliebe ift eben auch die Gewohu— 
heit dauernden Beifammenfeind und das Gefühl der Abhängigfeit von der 
pflegenden Perfönlichkeit ein jtarf mitwirfendes Element. Darauf ift zum 
Theil die merkwürdige Erjcheinung im Sindesleben zurüdzuführen, die mic 
oft mit Staunen und Groll erfüllt hat: daß die Heinen Kinder ihren Wärter- 
innen, auch wenn jie fchleht und ungerecht von ihmen behandelt — 
leidenſchaftlich anhängen. 

Ich betone hier ausdrücklich, daß nie und nimmer ein Gewaltakt das 
Kind von der Mutter reißen ſoll. Was das Recht des Kindes erheiſcht, 
wird ſich in langſamer, allmählicher Entwickelung zu höheren Kulturſtufen 
von ſelbſt ergeben. 

Wenn die Kindchen bei der Aufziehung durch ungeſchulte Kinderfrauen 
und unreife Kindermädchen nicht zu ihrem Recht kommen: der Mutter iſt 
kein Vorwurf zu machen. Sie iſt eben, wie ſie ſein kann. Die Babies 
kommen nicht zu ihrem Recht, weil die Mütter ſelbſt nicht zu ihrem Recht 
gekommen ſind. Das heißt, nicht zur Entwickelung der Intelligenz, die ihnen 
das Verſtändniß für die Pſyche des Kindes erſchloſſen hätte, der Kenntniſſe, 
von denen das leibliche Wohl des Kindes abhängt; wobei natürlich nicht aus— 
geſchloſſen iſt, daß auch eine Frau, trotz aller Intelligenz und allem Wiſſen, 


— a ER 4 ÖA 


Generalverfanmlungen. 33 


wenn ihr die erzieherifche Begabung abgeht oder fchlechte Charaktereigenfchaften 
ihre Geiftesvorzüge neutraliliren, eine ungute Mutter fein wird. 

Die Mutterfchaft fol mehr fein als eine auf felbftifhen Borftellungen 
beruhende, undisziplinirte Gefühlsfchmwelgerei. 

Bisher ift in dem Verhältnig von Mutter und Kind die Mutter mehr 
zu ihrem Recht gefommen als das Sind. Sehr erflärlid. Die Mutter 
redet, da3 Kind nicht. 

Auch die Umwerthung der Mutterfchaft fteht auf dem Programm der 
Beit. Daß jie eine unvergleichliche Vertiefung und Veredelung erfahren wird, 
wenn die Frau erit zu Lebens: und Erkenntniß-Höhen geftiegen ift, die ihr 
bis jegt nicht zugänglich waren, unterliegt für mich feinem Zweifel. Die 
Mutter von heute und gejtern wird nicht mehr die Mutter der Zukunft fein. 

Man vergleicht gern die junge Mutter mit dem Kind im Arm einem 
Madonnenbild. Und Das wäre wohl die rechte Mutter, die, gleich der 
Mutter Maria, mit ehrfürdhtiger Inbrunſt auf das Kind in ihrem Schoß 
blidte, in der Erkenntniß, daß das Sind die Zufunft bedeutet. Das heikt: 
einen Fortſchritt der Menfchheit. Zu ſolchen Müttern verhelfe die große 
moderne Frauenrevolution dem Kinde! 

Die Emanzipation de Weibes ift das Necht des Kindes. 


Hedwig Dohm. 


Generalverfammlungen. 


Sen alter, erfahrener Börfenmann jagte mir einmal: „Lieber Freund, Sie 
mögen gegen unjere Bank jcdhreiben, was Sie wollen; wenn die Kurſe 
ſteigen, iſt doch Alles nicht wahr.“ Den Eindrud, daß Alles nicht wahr ift, 
was früher behauptet und nicht widerlegt wurde, hat man bejonders, wenn man 
die Generalverfammlungen der Banken beſucht. Namentlich bei der Frühjahrs— 
parade der Nationalbank für Deutichland konnte man glauben, Alles, was im 
Borjahr geihehen war, fei längjt aus der Grinnerung entſchwunden. Fünfzehn 
Aktionäre waren anmwejend. Freilich waren noch; mehr Yeute im Saal; aber 
der Eingeweihte erfannte darunter manchen Auch Journaliſten, der jtets, mit 
einer Aktie bewafjnet, in die Verfammlungen zu gehen pflegt. Und unter den 
fünfzehn „echten“ Aktionären, die wenig mehr als 4 Millionen Mark Kapital 
vertraten, bejtand der größte Theil no aus den Angeftellten interejlirter Firmen. 
Neben anderen jahen wir einen Bertreter der Firma Wiener, Levy & Go., deren 
Mitinhaber im Auffichtrathe der Bank ſitzt. Da wird uns immer jehr feier- 
3 





>> Dr 


34 Die Zuhmft. 


lich verkündet, daß bei der Dechargirung Aufjichtrath und Direktion fid) der Ab— 
ftimmung enthalten, wie es das Geſetz verlangt. Gewiß: Herr Levy ſtimmt 
nicht mit; aber der Profurijt der Firma Levy & Co. darf ftimmen. Unſere 
modernen Aktionärverfammlungen trifft mit bitterer Wahrheit das Wort jenes 
Leiters einer franzöfiichen Generalverfammlung, der, als ein Aktionär ſich eine 
Cigarre anzünden wollte, ihm zurief: Ne fumez pas, monsieur! Vous ne voyez 
done pas tous ces hommes de paille? Ferner jaß unter den „echten“ Aktio- 
nären ein Profurift der Firma Hardy & Eo., deren Inhaber, Herr Andreae, 
neu für die Wahl zum Aufjichtrath vorgefchlagen war. Das Intereſſanteſte an 
diejer Berjammlung war das Auftreten des Herrn Generalfonjuls Yandau, der 
feierlich erklärte, zwiichen ihm und der Direktion habe es niemals irgend welde 
Differenzen gegeben. Er habe jeine Stellung als Aufſichtrath der National* 
bank für Deutjchland aufgegeben, als er merkte, daß ihm die Zeit zur Erlebi: 
gung all jeiner Amtspflihten fehle; und niemals habe er gegen den Willen der 
Direktion ein Geſchäft bei der Nationalbank durchgejegt. Das wurde vom Vor— 
ftandstiich her bejtätigt und außerdem erflärt, niemals hätten ernjtere Meinung» 
verjchiedenheiten, als fie unter Ktollegen unvermeidlich jeien, zwijchen den ver: 
jdiedenen Mitgliedern der Direktion geherrſcht. Alles, was über ſolche Diffe- 
renzen verbreitet worden jei, gehöre ins Neid) des Mythos. Befanntlid) waren aus 
den Bureaux der Nationalbank Meldungen durcchgefidert, die ſich weniger friedlich 
ausnahmen. Die Meinungverichiedenheiten zwiichen den lieben Kollegen Peter 
und Stern follten nad) jenen „unmwahren Erzählungen” manchmal jo ernjt ge 
wejen jein, daß aus den Tintenfäfjern der ſchwarze Saft erichredt emporſpritzte. 
Herr Direktor Peter ging denn auch, wie es hieß, „aus Gejundheitrüdjichten“. 
Daß die Demijjion wirklich Feinerlei andere Gründe hatte, wird, nad) den bün- 
digen Erklärungen vom Borjtandstiih aus, jett Niemand mehr zu bezweifeln 
wagen. Uber gegen andere Erklärungen regen fi doch Zweifel. Daß Herr 
Landau gegen den Willen der Direktion Feine Gejchäfte gemacht hat, iſt klar. 
Nur hatte er eben zwei Vertreter in der Direktion und auch die Mehrheit des 
Auflihtrathes zeigte fih ihm jo gefügig, da es wahrſcheinlich feiner bejonderen 
Energie bedurfte, um die Gejchäfte, die er machen wollte, durchzufegen. Iſt 
etwa die Nationalbank nicht von ihm mit der Kleinbahngejellichaft hereingelegt 
worden? Und ift das Kleinbahngejchäft nicht eins der ſtandaldſeſten Gejchäfte, 
die in der vorläufig legten Gründungperiode überhaupt gemacht worden jind? 
Auf diefe heifle Frage ging Herr Yandau nicht näher ein. Es war aud nicht 
nöthig; denn was geſchehen iſt, tit geichehen. Und es joll hier immerhin noch als 
ein achtbares Zeichen perjönlichen Muthes gerühmt werden, daß er überhaupt 
in die Generalverfammlung kam, um den Aktionären Rede und Antwort zu 
ſtehen. Doch hätte er bejjer gethan, diejen guten Eindrud nicht dadurch zu vers 
wijchen, daß er fich plößlich jpreizte und Werth auf die Feſtſtellung legte, er 
habe in den Zeiten der Hochkonjunktur nicht in 37, jondern nur in 31 Verwaltung: 
räthen geſeſſen. Er hätte aud), wenn es ihm irgend möglich war, verhindern jollen, 
daß einer der Aktionäre ein Yoblied auf ihn anftimmte und ihn beinahe flehentlid) 
bat, doch wieder in den Aufiichtrath zurüdzufehren. Ich glaube, der Herr Ges 
neralfonjul thäte gut, wenigitens erjt etwas Gras über die Dinge, die geſchehen 
find, wachſen zu lajjen; und jeine intimften Freunde fonnten ihm feinen befjeren 


Generalverfammlungen. 35 


Rath geben als den: vorläufig lieber hinter den Eoulifjen Banken zu fufioniren, 
als im Licht der Rampe ſchon wieder in Hauptrollen aufzutreten. 

Die Nationalbank» Verfammlung war injofern eine Ausnahme von der 
Regel, als fich ein paar neugierige Aktionäre fanden, die nad Diefem und Jenem 
fragten und ſich jogar jehr jchwer zufrieden gaben, obwohl Herr Direktor Stern 
auf jede Anfrage Etwas — wenn auch nicht gerade viel — zu erwidern wußte. 
Drei Punkte interejjirten befonders. Natürlich) wurden die Beamtenentlaffungen 
berührt. Herr Stern ging mit beneidenswerther Nondalance darüber hinweg; 
nur jungen Leuten, die man nicht brauchen konnte, fei gekündigt worden. Die 
Sade jei in der Oeffentlichfeit aufgebaufcht worden. Mehrere Beamte, die zum 
eriten April feine Stellung befommen fonnten, habe man behalten. Ich habe 
Gier früher über die Beamtenentlafjungen der Nationalbank genaue, mit Ziffern 
belegte Angaben gemacht, die nicht widerlegt worden find. Danad hatte auch 
die oft gejcholtene Deffentlichkeit alle Veranlafjung, ſich über die Entlaſſungen 
aufzuregen. Sogar Leuten, die jeit elf Jahren in der Bank arbeiteten, war 
gekündigt worden. Herr Stern jagte den Aktionären ferner, man werfe ihm 
vor, Beamte entlafjen zu haben, und finde wiederum doch das Unkoſtenkonto 
noch immer zu hoch. a, vergißt denn Herr Stern ganz, daß in dem Unkoſten— 
fonto für das Jahr 1900 210000 Mark Direktorentantieme jteden? Solche 
Bojten dürften wohl von den Aktionären bemängelt werden, nicht aber die Beamten 
gehälter, die nach. meiner damaligen Aufjtellung recht Färglic waren. Dann 
wurde das Banfgebäude monirt. Ein Aktionär meinte, ihm ſei erzählt worden, 
einige Räume jeien jo luxuriös ausgejtattet, daß fein Beamter fie betreten dürfe. 
Herr Stern gab zu, das Gebäude jei in der Zeit der Hochkonjunktur wohl etwas 
luxuriöſer angelegt worden, als es in jchlechteren Zeiten geplant worden wäre; 
troßdem jei es noch billig und man hätte es ſchon mit Nuten verlaufen können. 
Endlich) wurde darauf hingewiejen, daß nocd immer fein dritter Direktor neben 
Herrn Stern und Herm Magnus fungire. Man konnte den Aktionären, ange- 
ſichts der Art, wie Herr Stern die an ihn gerichteten ragen beantwortete, nicht 
verargen, daß fie Sehnſucht nad) einem dritten Direktor empfanden. Auffichtrath 
und Direktion verfiherten, man juche jhon lange nach einem tüchtigen Wann, 
es jei aber jehr jhmwer, einen zu finden, Mit Recht hob ein Aktionär hervor, 
daß man genug tüchtige Leute finden könne, wenn man endlich der Unſitte ent» 
fage, immer nach großen Namen Umſchau zu halten und die untüchtigiten Direktoren 
nur wegen ihrer ſchön Elingenden Titel anzuftellen. 

Die Nationalbank kann trotz Alledem den Ruhm für fi in Anſpruch 
schmen, nod immer bie „natürlichjte” Generalverfammlung gehabt zu haben. 
Wenigitens waren Opponenten da, die allerdings, wenn fie etwa den Ehrgeiz gehabt 
hätten, Anträge zu jtellen, nichts auszurichten vermocdt hätten. Doc macht die 
Anweſenheit ſolcher Aktionäre immerhin nach außen einen guten Eindruck. 

Ganz anders ging es bei der Dresdener Bank zu. Tro Allem, was 
bei diejem Inſtitut vorgekommen ift und was doch mindeftens zu Eritiichen An— 
fragen reihlih Anlaß gegeben hätte, jprad) Niemand mit der Direktion ein 
ernjtes Wörtchen. Bertreten war eine jo auffallend Eleine Aktienfumme, da 
die übliche ntereffelofigkeit der Aktionäre zur Erklärung nicht ausreiht. Man 
tujcelte, die Mehrzahl der Aktien ruhe nicht allzu fern von gewiljen Aufſicht— 


g3* 


36 Die Zukunft. 


räthen als füße Anterventionlaft. Fehlten in Dresden die Opponenten, jo gab 
es dafür begeifterte Lobredner: ein Herr aus Berlin, einer aus Dresden und 
einer aus Münden. Den Dresdener und den Münchener kenne id) nicht, dafür 
deſto befjfer den Berliner. Er iſt Direftor eines großen induftriellen Unter: 
nehmens, bat mit gewiffen Kreijen unſerer Finanzwelt „Fühlung“ und hört ſich 
jehr gern reden. Mit der Dresdener Bank jelbjt will er feine „Fühlung“ haben. 
Diefe Ehrenretter fanden, als artige Aktionäre, nicht einmal nöthig, ſich zu er- 
fundigen, wie es denn eigentlich der Hannoverſchen Straßenbahn und der Firma 
Drenftein & Koppel gehe umd ob fid) die Firmen, die Dresdener Bank: Aftien 
gekauft oder in Report genommen haben, aud) recht wohl dabei befinden. Solche 
frititlofen Lobhudeleien ſchien die Direktion der Dresdener Bank als einen Er: 
folg anzujehen. Iffenbar war ihr das „Forum“ einer jo injzenirten General- 
verfammlung zum Beweis ihrer Tüchtigkeit recht willlommen; wie Herr Gut: 
mann ja aud) jüngſt das Chrengericht der berliner Börje für das „geeignete 
Forum“ hielt, um fich gegen angeblich unwahre Beihuldigungen zu wehren. 

Einen Erfolg hatte allerdings die Dresdener Bank: der Geheime Finanz— 
rath Sende, der am erjten Mai von Krupp jcheidet, und der frühere Minijterial- 
direftor Mice, jebt Direftor der Großen Berliner Straßenbahn, find in ihren 
Auffichtrath getreten. Ich habe der Dresdener Bank nicht zugetraut, daf jie in 
diefer Zeit ſolche Helfer zu werben vermöge. Der Eintritt Jenckes joll haupt- 
ſächlich eine Folge der intimen perjönlichen Freundſchaft mit dem Geheimen Ober- 
finanzrath Müller, dem Direktor der Dresdener Bank, ſein. 

Zur ſelben Zeit wählte die Deutſche Bank in ihren Aufſichtrath zwei 
dresdener Herren: den mit Recht viel angegriffenen Reviſor der Dresdener Kre— 
ditanſtalt, Herrn Kommerzienrath Theodor Menz, und den Direktor der Sächſiſchen 
Bank, Herrn Kommerzienrath Mackowsky. Das iſt in ſeiner Art auch ein Erfolg 
und nicht gerade ein Beweis ſehr freundlicher Geſinnung gegen die Dresdener Bank, 
die ja eigentlich den erſten Anſpruch darauf haben ſollte, dresdener Bank⸗ und 
Induſtriekreiſe an ſich zu feſſeln. Damit ſcheints aber einſtweilen, trotz allen Be— 
mühungen, doch nichts zu ſein. 

Wie weit die Generalverſammlungmache ſchon gediehen iſt, dafür bot ein 
charakteriſtiſches Beiſpiel die Generalverſammlung der Deutſchen Genoſſenſchaft— 
bank, wo die Aufgabe, das Lob der Direktion zu ſingen, Herrn Kommerzienrath 
Hubert Claus zugefallen war. Herr Claus iſt Direktor des Eiſenhüttenwerks 
Thale, einer Gründung der Genoſſenſchaftbank. Welchen Zweck hatte hier die 
Mache? Der Direktion der ſich mühſam ernährenden Genoſſenſchaftbank will 
und kann Niemand etwas Ernſtliches vorwerfen. Aber Direktionen, die noch 
ohne Strohmänner auskommen, ſcheinen ſich jetzt ſchon nicht mehr für voll— 
werthig zu halten. Sie handeln ungefähr jo wie kleine Knaben, die glauben, 
um erwachſen zu jcheinen, müßten fie Cigaretten rauchen. Die Direktionen der 
Kleinen, joliden Banken jollten ſich aber dieje Mätzchen jdhnell wieder abgewöhnen. 
Anftändige rauen brauchen nicht den Ehrgeiz zu begen, ihrer auffallenden 
Kleidung wegen auf der Straße für Cocotten gehalten zu werden, 


Plutus. 
“ 


— — — 


Schweningers Jahresbericht. 37 


Schweningers Jahresbericht. 


Offener Brief an Herrn Profeſſor Dr. J. Schwalbe, 
Redakteur der Deutſchen Mediziniſchen Wochenſchrift. 


3— beſprachen in der Nummer 12 der Deutſchen Mediziniſchen Wochenſchrift 
vom zwanzigſten März 1902 den vom Geheimrath Schweninger veröffent- 
lihten Jahresbericht des Kreisfranfenhaujes zu Groß-Lichterfelde. Wenn heute 
nun ich al3 Erſter von Schweningers Schülern es unternehme, auf Öffentliche 
Herausforderungen öffentlich zu erwidern, fo ijt es wahrlich weder hr Titel nod) 
die Stellung Ihres Blattes, die mich dazu reizen. Es gilt vielmehr, einen 
allgemein beliebten Modus der Parteikritit zu beleuchten, der darin bejteht, 
kühnlich Behauptungen aufzuftellen, zu denen der Muth aus befannten Berhältniffen 
fließt. Ein Eritifirender Redakteur weiß mit einer gewijjen prozentualen Sider- 
heit, daß feine Lejer in den jeltenjten Fällen aus der buchhändlerijchen Fuß— 
note unter dem fritifchen Aufjag Konfequenzen ziehen, um den Gegenjtand der 
Beipredung aus eigener Lecture kennen zu lernen. Zum größeren Theil be- 
jcheidet der Lejer ji mit dem Arbitrium feines Leibredatteurs. Selbit jene Minder— 
heit, die es wirklich noch für nöthig oder interejjant hält, das Beſprochene im 
Original fennen zu lernen, lieft dann meift mit den Augen des Stritifers. So 
ift einer beſchränkten Anzahl von Köpfen — ich jage nicht: einer Anzahl von 
beſchränkten Köpfen — carte blanche ertheilt zum Anfertigen von Urtheils- 
modellen, die bejtimmt find, öffentlich aufgeftellt und zum Privatgebraud) des 
Einzelnen Eopirt zu werden. Nun jollte man meinen, dies Vertrauensvotum 
veranlajje die damit Geehrten, bei Ausübung ihres Amtes bejonders vorfichtig 
und gewiffenhaft zu verfahren. Leider its nicht immer fo. Gerade dieje Frei— 
beit von faſt jeder Kontrole hat ein Gefühl der Selbjtherrlichkeit erzeugt. Wie 
es jcheint, auch bei Ihnen, Herr PBrofejjor. 

Sie jagen zwar, Sie wühten fich völlig frei von irgend welchen perjün- 
lihen Motiven, ſowohl von der Animofität, die viele Aerzte gegenüber Herrn 
Schweninger befigen jollen, als aud) von „dem pridelnden Neiz, eine Perſön— 
lichleit, die — berechtigter oder unberechtigter Weife — im öffentlichen Yeben 
eine Rolle jpielt, unter die Yupe zu nehmen und jie in ihre morphologiichen 
Beitandtheile aufzulöjen“. Die Höflichkeit gebietet, dieje emphatiſche Berficherung 
Ihnen aufs Wort zu glauben. Die Folgerungen, die jich aus Ihrer Kritik ergeben, 
dürfen aljo nur gezogen werden im Hinblick auf Ihre Fähigkeiten und Ihre Eignung, 
Gelejenes zu verjtehen und zu beurtheilen. Ich erlaube mir, aus einigen mir be: 
merfenswerth jcheinenden Aeußerungen Ihres Aufjatzes diefe Folgerungen zu ziehen. 

Sie ſprechen mit jtaunenswerther Sicherheit von Dingen, über die Sie 
nad der Natur der Sachlage nichts wiljen fünnen. Sie meinen, Schweningers 
Brogramm „wurde durch die Berufung eines jelbjtändig urtheilenden und danad) 
auch handelnden Chirurgen erjchüttert.” Was wiſſen Sie, Herr Profeſſor, von 
den Modalitäten, unter denen der Chirurg angejtellt — Sie jagen: „berufen“ — 
wurde? Was willen Sie von diejes Chirurgen felbjtändiger Urtheilstraft und 
Dandlungfähigkeit und was von Ericdjütterungen, die aus Stonflitten diefer Selb« 
ftändigfeit mit Schweningers „Programm“ fich ergeben hätten? Was wiljen 
Sie ferner von Schweningers Haltung im Prozeß gegen die Kurpfuſcherin Minna 


38 Die Zukunft. 


Kube? Nichts! Aus etlichen Berichterjtatterzeilen mögen Sie fid) zur Noth ein 
Bild von dem äußeren Gange der mit Ausihluß der Deffentlichkeit geführten 
Verhandlung machen. Ein Anterefjentenblätthen hat aus der Feder eines Arztes, 
der ſich für objektiv genug hält, in einer Klagefahe Partei, Zeuge und Gut- 
achter zugleich fein zu können, ein Referat gebracht, von defjen Objektivität und 
Genauigkeit die wenigen Augen» und Ohrenzeugen nicht jonderlid viel Rühm— 
liches zu jagen haben. Dazu wieder ein Bischen Kollegen- und Standesvereins- 
Hatih. Das ift Alles. Wenn Ihnen jo dürftige Anhaltspunkte genügende 
Grundlagen zu einer öffentlichen Kritik bieten, jo dürfen Sie es bejjer Unter- 
richteten nicht verargen, wenn fie ihnen Leichtfertigkeit nachſagen. 

Da aber, wo Sie „des Berichtes zweiten und Haupttheil“ jehr rudimentär 
und mit jpärlichem Erfafjen citiren, giebt es der Entgleifungen noch mehr. 

Ad I: Die Statiftil. Ich habe nichts dagegen einzuwenden, wenn Sie 
erklären, daß alle verjtändigen Leute übereinjtimmend mit Schweningers cin» 
leitenden Sätzen „je und je“ Statiſtik getrieben haben. Gegen die verjtändigen 
Leute hat Schweninger nie Etwas gejagt. Die, denen jeine Zurückweiſung gilt, 
find jene unverftändigen Leute, Herr Profeſſor, die fich über das Entjtehen und 
über die Verjchiebungmöglichkeiten von Krankenhausſtatiſtiken im Unflaren zu 
befinden jcheinen und Schweninger implieite des Mordes an unjchuldigen Kind» 
lein bezichtigen. Sie nennen eine „jogenannte Binfenwahrheit”, was Schwe— 
ninger von der Werthlofigfeit einer „tendenziöſen, unvorfichtigen, einfeitigen 
oder optimiftiihen Statiftit ausführt”, Nun ift zwar in dem ganzen Bericht 
nirgends der Anſpruch darauf erhoben, dag Schweninger jid für den Erfinder 
oder Entdeder diefer Wahrheit halte. Sie meinen aber, wenn die zwiſchen den 
von ihnen etwas abrupt angeführten Anfangs- und Schlußzeilen liegenden 
Bemerkungen zutreffend wären, jo wäre der „Statijtif als Wiſſenſchaft und zu- 
mal der Medizinalftatiftit überhaupt der Boden völlig entzogen‘. Sie hätten zu 
beweijen gehabt, daß Schweningers Bemerkungen unzutreffend jeien. Das aber 
haben Sie nicht nöthig, da für Sie „eine Statijtif die Wiſſenſchaft von den 
großen Zahlen‘ bedeutet. Ueber dieje Spezialauffaflung ijt nichts zu jagen. 

Ad U: Bemerkungen über Diphtherie und deren Differentialdiagnoje. 
Unter welden Gefichtspunften Sie diefen Abſatz ‚wiederholt‘ durchgeleien und 
für die Möglichteit Ihres Verſtändniſſes ſich zurechtgelegt haben, ift mir völlig 
unklar. Nach einem Kleinen, ungemein geijtvollen Seitenhieb auf Schweningers 
Selbſteinſchätzung als Diagnoitiler ertrahiren Sie aus fünf bedrudten Quart— 
jeiten drei Sätschen, die ihnen Anhaltspunkte für irgend einen Gedankfengang 
abgeben, deſſen Schlußfolgerung darin zu beftehen jcheint, dag Schweninger bes 
jtimmte oder, wie Sie jagen „abjolut ſichere Merkmale“ für die Erkennung 
der Diphtherie zu befiten glaubt, diefe jeine Kenntniß aber der Welt vorent- 
halte. Wie müſſen Sie gelejen haben, Herr Profejior? Auf Seite 13 des 
Berichtes jteht Klar und deutlich, daß Schweninger von je her nur den breton» 
neaujchen kliniſchen Diphtheriebegriff für annehmbar hielt, zu dem heute bereits 
eine Zahl jehr bemerfenswerther Männer wieder zurückkehrt, Allen voran Beh— 
ring jelbjt. Das fteht da. Und Sie brauchten höchſtens in einem Lexikon den 
Abſchnitt über Bretonneaus Auffaffungen nachzulejen, wenn Sie nicht vorzogen, 
Sciweningers eigene, im Bericht erwähnte Arbeit zu jtubiren. Dann wäre 


Echweningerd Yabresbericht. 39 


Ihnen aber auch nicht gleich darauf das Unglüd paffirt — ich jete immer 
ihre vollite bona fides voraus —, zu jagen: „Für Schweninger gilt im All 
gemeinen eine Rachenaffektion als Diphtherie, wenn ihr Befiger ſtirbt“. Hätten 
Sie nämlich aufmerkjam und richtig gelejen, jo hätten Cie auf eben jener 
Seite 13 den Sab gefunden: „Es gab eine Zeit, wo die pathologiichen Ana» 
tomen ſich gern der Anficht zuneigten, nur jene Fälle als einwandfreie Diph- 
therie gelten zu lajjen, die mit dem Tode des Individuums enden‘; und weiter: 
„Wenn wir auch nicht diefe Erfennungzeichen als die alleinigen gelten laſſen 
wollen‘ u. j. w. In der Mitte dfejes zweiten Sabes beginnen Sie, wörtlich 
zu citiren. Schade, daß Sie nicht etwas früher anfingen. 

Ad III: Ciniges über Krebskranke und deren (operative) Behandlung. 
Sie citiren wieder in einer zur Aufklärung jo wenig geeigneten Weife, daß 
Denen, die ſich belehren wollen, nichts Underes übrig bleiben wird, als den 
Bericht ſelbſt zu lejen. Soll ich noch ausdrücklich verfichern, daf „Schweninger, der 
Feind aller Statijtiten‘, nicht „die abjolute Zahl der Krebsfälle“ mit der „re— 
lativen Krebsmortalität'““ verwechſelt, da er einfach auf die in letter Zeit ganz 
allgemein gewonnene Erfenntnig von der anjteigenden Zahl der Krebserkran— 
tungen und auf die zahlenmäßige, nicht ftatijtiich berechnete Zunahme der an 
Krebs Geftorbenen hinweiſt? (S. 20). Ich führe feine Literaturbelege an, da 
ich mir ja nicht herausnchme, Sie, Derr Profeſſor, belehren zu wollen; ich will 
Sie nur da auf den richtigen Weg leiten, wo Sie in handgreiflihdem Wider- 
jpruch mit den Thatſachen jtehen. 

Sie jagen: „Wenn man aljfo unferem großen Zweifler einen Mann vor- 
führt, dein vor fünf Jahren ein Magenkarzinom durch Pylorusrejettion entfernt 
ijt umd der ſich heute vollfommen gejund fühlt, deilen Karzinom von Yeyden 
kliniſch diagnoftizirt, von Bergmann operirt und von Virchow anatomiſch unter: 
jucht ijt, jo wird Schweninger bedauernd die Achjeln zuden und jagen: Weder 
die anatomische noch die hiltologiiche Unterfuchung genügt mir für die Krebs— 
diagnoje;*) und da der Kranke bisher fein lokales oder allgemeines Nezidiv 
zeigt, auch einjtweilen nod nicht geitorben it, jo kann er von mir nicht mit 
Sicherheit als Krebſiger angejehen werden.“ Sie jind höflichit eingeladen, 
Herr Profeſſor, gütigft den bewuften Mann Schweninger vorzuführen und die 
aus dem erzidirten Tumor von Virchow angefertigten Präparate vorzulegen. 
Schweninger wird fich jehr freuen, wieder einmal eine jener intereflanten Rari— 
täten, von denen bie und da berichtet wird, geſehen zu haben. Er wird 
nicht anjtehen, Ihnen zu erklären, daß er, wie gewiß auc) die Herren von Yeyden 
und von Bergmann, vor einem Dilemma gejtanden hätte, falls er vor fünf 
Jahren zu dem Stranfen gerufen worden wäre, „Denn“ — würde er „ihnen 
lagen — „zu den Pylorusrejektionen bei Magenkarzinom habe ich wegen der 
ımgeheuren Sterblichfeit in Folge der bloßen Tperation und wegen der ver- 
ſchwindend Eleinen Zahl der günftigen Erfolge nicht viel Vertrauen. Es mag 
ja jein, daß bei dem Manne damals die allgemein Eonftitutionellen und lofalen 

*) Das jagt er gar nicht, denn wenige Zeilen vorher citiren Sie felbit: 
Weder die anatomiſchen noch die hijtolontichen Momente „können im Stande 
fein, uns eine Strebsdiagnofe unter allen Umſtänden einwandfrei zu ermöglichen”, 


40 Die Zukunft, 


Berhältniffe am Tumor jo lagen, dat ich jchließlich doc zur Vornahme einer 
Operation durch Herrn von Bergmann gerathen hätte; denn es iſt ein Irrthum, 
Herr Kollege, wenn die Leute jagen, ich liche prinzipiell feinen Strebjigen operiren. 
Leſen Sie, bitte, darüber in meinem Bericht auf Seite 19 nad). Aber, wie 
gejagt, es ijt eine verdammt ſchwere Entichließung!“ 

Und nun zu IV: Die fogenannten jpezififhen Mittel. Sie jagen da 
in einer Anmerfung zu einem Gitat über Schweningers Stellungnahme gegen 
bie forcirte Temperaturherabſetzung beim Fieber, „er jtreite hier, wie an vielen 
Stellen, wider Meinungen der Schulmedizin, die dieje jelbit bereits aus eigener 
Kraft vor Jahr und Tag überwunden hat.“ Dazu ijt der Schulmedizin nur 
zu gratuliren. Auf dem Standpunkte aber, zu dem bier die Schulmedizin fich 
aus eigener Kraft vor Jahr und Tag durdhgerungen hat, jtand Schweninger 
ihon vor etwa zwanzig Nahren und von diefem Standpunkt ift er nicht abge- 
wichen, troß allen Antipyreticis und allen Schwankungen in der Auffaffung 
vom Weſen des Fiebers. Sobald er aber vor Jahr und Tag, als die Schul» 
medizin noch nichts im diefer Frage überwunden hatte, irgendwo feiner dis— 
jentirenden Meinung Ausdrud gab, — wie, meinen Sie wohl, Herr Profeſſor, 
find die Schwalbes von dazumal mit ihm umgejprungen? ch will es ihnen 
verrathen: genau jo wie Sie in den Fragen, bei denen ſich die Schulmedizin 
erjt nach „Jahr und Tag zu Schweningers Standpunkt durchringen wird. 

Sie jagen, nad Schweninger „könne übrigens Chinin jchon aus logischen 
Gründen nicht jpezifiih wirken.“ Auf Seite 26 -des Berichtes ſteht zu lefen, 
daß nah Zuſammenfaſſen des eben Geſagten Alles uns bejtimmen muß, „aud) 
für das Chinin die Frage nad der ihm zugefchriebenen jpezifiihen Wirkung 
mit Nein zu beantworten. Webrigens veranlaßt uns dazu auch jchon der Ein- 
ipruch der Logik.“ Der Einfpruch der Yogik veranlaßt uns, „Nein zu jagen“, 
beeinflußt aber die Wirkung des Chinins natürlih nicht im Geringften. Wie 
fonnten Sie da nod) eigens hinjchreiben: „So wörtlich zu leſen in dem ärzt— 
lihen Berichte Schweningers?" Sie haben ja, abgejchen von dem verzeihlichen 
Mißverſtändniß, einen ganzen wichtigen Sa, der den Einjprud der Yogif er- 
läutert, aus ihrem Gitat weggelajien. 

Und jebt das ſchreckliche Druedfilber! Sie werfen Schweninger mit den 
Antimerkurialiiten zulammen und laffen ihn ex facultate in Gemeinjchaft mit 
dem befannten Dr. Hermann abthun. Auf Zeite 52 des Berichtes ſteht im 
dritten Abjak von oben: „Wir jind feine Antimerfurialiten im landläufigen 
Sinne des unglüdjeligen Wortes’; und weiter: „Dem Queckſilber, was des 
Duedjilbers iſt“; und weiter, immer auf der jelben Seite: „Wir erfennen des 
Queckſilbers ausgeiprohene — wenn aud) unverftandene — Wirkung als inten- 
jiven Reſorbens für alle entzündlichen, von ihm erreichbaren Gewebsveränderun— 
gen au“; und weiter: „Derart belehrt, fteht es unſerem Ermeſſen frei, in uns 
dringend oder ſonſtwie geeignet erjcheinenden Fällen bis zu einer uns richtig 
dünfenden Grenze an das Sueckſilber zu rekurriren.“ Können Sie noch mehr 
verlangen, Herr Profeſſor? Daß Schweninger glaubt, mit jeiner Meinung 
über die Gefahren und die Ueberſchätzung der Queditlbermwirfung nicht hinter 
dem Berge halten zu dürfen, dieſes Recht geitcehen Sie ihm gütigſt jelbjt zu, 
wenn jie im weiteren Verlaufe Ihres Aufiages jagen: „Wir — Das find dod 


——- — — — 


Schweningers Jahresbericht. 41 


Sie — „ſind gewiß die Letzten, die die Freiheit, ja, die Vorurtheilloſigkeit der 
Wiſſenſchaft antaſten möchten.“ Dann aber glauben Sie, Schweningers perjön- 
lie Anjchauung einfach von der Tafel alles Lebenden wegzumijchen, wenn Sie 
ihm durd) Rudolf Virchow jelbjt antworten lafjen. Erſtens braudte Schwe- 
ninger die Worte Virchows gar nicht auf ſich zu beziehen, denn fie galten, als 
jie vor jehsunddreißig Jahren gejproden wurden, den Antimerkurialijten, zu 
denen Schweninger nicht gehört. Zweitens aber glaube ich, es thut der ſchuldi— 
gen Ehrfurdt vor dem Namen VBirhow feinen Abbruch, wenn man in aller 
angemeſſenen Chrerbietung die Frage aufwirft, wie viele Hundert Syphilitifer 
Virhow mit und wie viele ohne Duedjilber behandelt habe, um ſich ein ab- 
ihliegendes Urtheil in der Lues-HG-Srage erlauben zu können. Und Das 
war im Jahr 1859! Rudolf Birdow war damals adjtunddreißig Jahre alt 
und hatte ſich ärztlich wohl nicht allzu viel praftiih bethätigt. Schweninger 
ſteht heute jeit bald dreißig “Jahren in einer Praxis, deren großen Umfang 
wohl jelbjt Sie nicht bejtreiten werden. 

Wie wenig Geiſt nöthig ijt, um über ernithafte Dinge ſich luſtig zu 
machen, beweijen Sie, Herr Profeflor, in reichlichſten Maße. Ich entzog mid) 
daher der allzu leichten Aufgabe, Sie zu ironifiren, und habe das Schwerere 
verſucht: Sie ernjt zu nehmen. Das war wirklich manchmal ungemein jchwer. 
Ihrer Meinung nach dürfte die Unterrichtsverwaltung nicht dulden, daß in der 
akademiſchen Jugend „Vorjtellungen und Meinungen gezüchtet werden, die die 
wijjenichaftliche Musbildung und das daraus entipringende praktiſche Handeln 
der Schüler verwirren und ſchwer beeinträchtigen können.“ Unter den berliner 
jungen Medizinern jollte doc; ein forjcher Kerl zu finden fein, der die Kommi— 
litonen zu einer Verfammlung einruft, um gegen die Auffaſſung zu protejtiren, 
die Sie von den geiftigen Gaben der Studentenſchaft an den Tag legen. In fünfund- 
zwanzig Dörjälen wird tagaus, tagein den jungen Leuten die jelbe „Wahrheit“ 
gepredigt. Und nun erfahren ein paar diejer jungen Yeute zwei- oder dreimal 
wöchentlich in einem jehsundzwanzigiten Hörſaal, dat es neben der „fafulta- 
tiven“ vielleicht auch noch eine andere Wahrheit geben fünne. Denn da wird 
von Schwenniger nicht gelehrt: „Das ijt jo!” „Das muß jo gemadt werden!“ 
Nein: da heißt es immer: „Das kann aud fo jein“ und „Das kann auch 
jo gemacht werden! Uber, meine Herren, denfen Sie reiflih nad) und werden 
Sie aus eigener Ueberlegung jih ſchlüſſig, ob ic Ihnen da nicht vielleicht eine 
autoritative Meinung aufdrängen will!" Sind die Studenten denn Papageien, 
denen man den objekten Lehrſtoff jo lange vorleiert, bis jie ihn am Gramene- 
tage tadellos Herplappern können? Bon jolchen Studenten hätte wohl weder die 
Wiſſenſchaft nod die Praxis Etwas zu hoffen. 

Daß für Sie, Herr Profejjor, Berichte von Patienten — die willen 
ſchaftlichen Referate einer Zimmermannsfrau, eines Gärtners, eines Taglöhners, 
eines Tiſchlers — ergänzende Beweije bilden für Ihre aus der Yecture des 
Berichtes gewonnene Erkenntniß Dejjen, „was im Lichterfelder Krankenhaus tn 
der Krankenbehandlung geleiftet wird”, wundert mich nicht mehr. Am Ende 
aber wäre es doch beſſer geweſen, jih auf dieje Batientenaustünfte nicht zu vers 
lajjen, jondern nach Lichterfelde zu fahren und ſich dort aus eigener Anſchauung 
von den jchredlichen Zuftänden zu überzeugen. Dr. Emil Klein. 


* 


42 Die Zukunft. 


Selbitanzeigen. 


Laotoon. Kunfttheoretifche Efjays. Hermann Eeemann Nachfolger, Leipzig- 


Meine Schrift zerfällt in drei Theile: Laofoon oder Gedanken zu einer 
Lehre vom Kunftihaffen; Laokoon und die klaſſiſche Kunſt; Yaofoon und die 
moderne Kunſt. Während die formale Aefthetif die Kunſtgeſetze begrifflich zu 
entwideln juchte, wird hier von den Gejeßen der Anſchauung ausgegangen. Denn 
da die Kunſt angeſchaut wird, muß fie den Gejegen unjerer Anſchauung unter: 
worfen jein und die Grenzen unſerer Anſchauung müfjen zugleich auch Kunſt— 
grenzen fein. Deshalb werden die Anſchauungformen und die Geſetze der An— 
ſchauung entwidelt und von bier aus die Gejege für die künſtleriſche Darftellung 
gefunden. Unſere Anjchauung vollzieht ji vermöge der Sinne. Für die fünft- 
lerifche Darftellung kommen in Betracht der Gefihtsfinn und der Sehörsfinn. Man 
kann alſo untericheiden zwiſchen den Künſten des Gefichtsfinnes (bildende Kunſt) 
und denen des Gehörsſinnes (Dichtlunft und Muſik). Die Grenzen des Gefichts- 
finnes gelten für die Grenzen der bildenden Künſte, die Grenzen des Gehörs— 
jinnes für die der Dichtkunft und Muſik. In den Zeiten des Berfalles der Kunſt 
wurden dieje Grenzen übergangen und Das, was in das Gebiet der einen Kunst 
gehört, wurde in das der anderen bezogen. Ferner wird gemäß unjeren An— 
Ihauungformen unterfchieden zwifchen Raumfünften und Zeitkünſten. Die Raum- 
fünfte haben es mit Ruhe und, Zuftand zu thun, die Zeitlünfte mit Bewegung 
und Veränderung. Das geeignetefte Beijpiel zur Erläuterung diejer Geſetze 
bildet die Gruppe des Laokoon. Es handelt fi um die Frage, warıım Laofoon, 
wie er in dem berühmten Kunstwerk dargeftellt ift, nicht jchreit. Zunächſt jei 
furz bingewiefen auf den Stand der Frage. Norausjeßung für die Unterfuhung 
des Grundes, warum Yaofoon nicht jchreit, ift der Umftand, daß ein Menſch, 
der einen heftigen phyſiſchen Schmerz erleidet, zu jchreien pflegt. Laokoon wird 
von der Schlange in die Seite gebijjen; trogdem aber jchreit er nicht. Windel» 
mann gab als Grund dafür an: das Schreien ſei ein Ausdrud maßlojen Leidens, 
mafjlojes Yeiden aber vertrage fich nicht mit der edlen Einfalt und jtillen Größe, 
aljo mit dem Charakter der griechiſchen Kunſtwerke. Windelmann jest das 
Schreien als Maflofigkeit dem maßvollen griechiichen Weſen gegenüber. Nun 
ift offenbar, daß, obgleich das griechische Wejen zum güten Theil in der Mäßigung 
liegt und die griehiichen Kunftwerfe im Allgemeinen die Mäßigung zum Aus— 
drud bringen, diefe Mähigung das Schreien al$ einen vorübergehenden Zuſtand 
nicht ausichließt und daß in der That andere Kunſtwerke des maßvollen griechiſchen 
Geiſtes das Schreien dargejtellt haben. So jchreit Philoktet im ſophokleiſchen 
Drama. Das aber it ein poetiſches, der Laokoon ein plaftiiches Kunstwerk. 
Vielleicht wird aljo der Grund, warum Yaofoon nicht, Philoftet aber jchreit, 
darin liegen, daß ſich das Schreien, der Ausdrud maßloſen Leidens, nicht mit 
dem Charakter der plaftiichen Stunftwerfe, wohl aber mit dein der poetilchen 
Kunſtwerke verträgt. Yeifing jagt: Das Schreien ift formlos; das Plajtijche 
aber ſoll formenichön fein; deshalb ſchließt das Blaftifche das Schreien aus. 
Diejer Grund trifft aber den Nagel noch nicht auf den Kopf. Denn aud das 
poetiſche Kunſtwerk ſoll formjchön fein und doc findet man in Dramen und 
Epen das Schreien. Meine Gintheilung der Künjte bringt uns dem Grunde 


Selbftanzeigen. 43 


näher. Die Plaſtik gehört zu den Künften des Gefichtsfinnes, die Poeſie zu 
denen des Gehörsfinnes. Das Schreien kann nur Gegenjtand des Gehörsjinnes, 
niemals aber des Gefichtsfinnes jein. Alfo kann das Schreien von einer Kunſt 
des Gejichtsfinnes nicht zur Darftellung gebracht werden. Der Schrei wird ge— 
hört, nicht geſehen, ein plaſtiſches Kunſtwerk wird gefehen, nicht gehört. Laokoon 
hätte den Mund nod jo weit aufreißen mögen: man hätte ihn niemals jdjreien 
gehört; denn das Wejen des Schreies liegt im Yaut, nicht im Mundaufiperren. 
Der Laokoon hat den Zwed, angeſchaut zu werden; den Schrei aber kann man 
nicht anfchauen; man fann wohl einen offenen Mund anſchauen; ein offener 
Mund aber iſt fein Schrei, wohl aber etwas Häßliches. Aehnliches jagt Schopen— 
bauer im dritten Bande feiner „Welt als Wille und Borftellung‘: „Man konnte 
nicht aus Marmor einen jchreienden Laokoon hervorbringen, jondern nur einen 
den Mund aufreigenden und zu jchreien ſich fruchtlos bemühenden, einen Laokoon, 
dem die Stimme im Halſe jtedten geblieben: vox faueibus haesit. Das Wejen 
und folglid auch die Wirkung des Schreiens auf den Zuſchauer liegt ganz allein 
im Laut, nicht im Mundaufiperren.‘ Man kann im Allgemeinen jagen: Was 
in das Gebiet des Geſichtsſinnes gehört, darf nicht Gegenjtand der Kunſt des 
Gehörsjinnes, umd was in das Gebiet des Gchörsfinnes gehört, darf nicht Gegen- 
jtand der Kunſt des Gejichtsfinnes werden. Der Yaofoon des Virgil, der den 
Zwed bat, gehört zu werden, jchreit, der plaſtiſch dargejtellte Laokoon nicht. 
Freilich Hatte mım der Künſtler der Yaofoongruppe noch die Aufgabe, dem Zu— 
Schauer begreiflich zu machen, warum der Laokoon jelbit, aljo der von der Schlange 
gebifjene Prieſter, den der Künſtler darjtellte, nicht jchreit. Denn der Laokoon 
jelbjt in Perſon, als ihn die Schlange biß, wird doch nicht deshalb nicht ge— 
fchrien haben, weil ſich das Schreien nicht mit der bildenden Kunſt verträgt. 
Nehmen wir an, die Yaofoongruppe jtellte dar, wie die Schlange eben den Kopf 
erhebt, um zu beißen. In diejen Fall wäre das Natürliche gewejen, daß der 
Priejter in feiner Todesangſt geichrien hätte. Und wenn der bildende Künjtler 
dargeftellt hätte, wie die Schlange eben beißen will, das Schreien des Prieſters 
aber nicht dargejtellt hätte, jo wäre er unmwahr gewejen. Der Künftler mußte 
vielmehr aus der Reihe von Momenten, während deren Yaofoon mit jeinen 
Söhnen von den Schlangen erwürgt wurde, den wählen, während dejjen Laokoon 
in Wirklichkeit nicht jchrie oder zu jchreien feine Urſache hatte oder nicht zu 
jchreien vermodhte. Nun gab es in der That einen Augenblid, wo Laokoon 
jelbjt nicht zu jchreien vermochte: nämlich den, two die Schlange ihn in die Seite 
bi. Eine nothiwendige und unausbleibliche Folge des Biljes iſt, daß der Unter: 
leib fich einzieht. Sobald aber der Unterleib ſich einzieht, iſt es unmöglich, zu 
Ichreien, denn beim Screien wird der Unterleib herausgetrieben. in dem Augen— 
blid des Biſſes aljo wurde der Schrei eritidt. Diejen Augenblid mußte alſo 
der Künſtler wählen, wenn cs jeine Aufgabe war, den nicht jchreienden Laokoou 
darzuftellen. Und dieſen Augenblick hat er aud) gewählt... Der zweite Iheil der 
Schrift heißt: „Laokoon und die Kunſt der Nenaijjance”, Bier werden die im 
erjten Theil gefundenen funfttheoretifchen Geſetze an Beijpielen weiter erläutert. 
Das Selbe geihieht im dritten Theil „Laokdon und die moderne Nunft‘, So 
wohl die bildenden Künjte als die Dichtkunft und Muſik werden zur Erörterung 
herangezogen und mein Bejtreben war, nicht trodene logijch äjthetijhe Dogmen 


44 Die Zuhmft. 


aufzuftellen, jondern von der lebendigen Empfindung, die von ber finnlichen An— 
ſchauung angeregt wird, auszugehen und die Kunſt jelbjt als Empfindung aufzufafien. 
- Dr. Heinrih Pudor. 
Philojophie der Kunft von Hippolyte Taine. Erſter Band. Erfte 
deutiche Uebertragumg von Ernſt Hardt. Eugen Diederich8, Leipzig. 

Die Kunftphilojophie Taines bedeutet den tiefjten Vorftoß und die größte 
Eroberung, die bisher die Wiſſenſchaft im Gebiete der Kunft machen durfte. 
Sein großer, vornehmer Geift, der durch feine jchöne Logik und reife Männlich- 
feit ſelbſt äjthetiich berücend wirft wie ein Kunſtwerk, hat es vermocht, diejen 
wifenjchaftlichen Feldzug in einer gedankflichen Klarheit und ſprachlichen Schlidt- 
beit zu führen, die jeden Gebildeten zugänglich find. Die Ueberjegung it mit 
allem Fleiß und aller Gewiſſenhaftigkeit, die der Ueberſetzer in ſich aufzubringen 
vermochte, gearbeitet worden. Ihn leitete der Grundfaß, daß eine Ueberſetzung 
die Aufgabe habe, innerhalb der guten Möglichkeiten ihrer Sprade Anhalt und 
Form jo buchjtäblich genau wiederzugeben und nachzujchaffen, wie es nur denk 
bar iſt. Für das Erſte fann er fid) verbürgen. Was das Zweite angeht, mödte 
er hervorheben, dad, trogdem er ſich nicht ein einziges Mal geftattet hat, den 
Fluß der Gedanken, der ja jeinen Ausdrud im Fluß der Sprache findet, durch 
Satzverſchiebungen oder Satztrennungen umzuleiten oder zu unterbrechen, dennoch 
die Veichtigkeit und Flüffigkeit der franzöjiihen Sprache die Vorftellung, daß 
es fih um ein geiprocdhenes Bud) handelt, bejjer aufrecht zu erhalten vermag, 
als es ihm in der deutichen Sprade gelingen Eonnte. 

Athen. - Ernſt Dardt. 
Kleines Gottfhed-Wörterbuch. Berlin 1902, Gottjched-Berlag, Linkſtraße 5. 
Preis 5 Marf. 


Das von den deutſchen Wortforjchern mit Spannung erwartete Büchlein 
liegt jeßt, als Arbeitausbeute eincs „Jahres, in handlicher Gejtalt vor. Zu meiner 
Freude darf ich jagen, daß es vor einigen Dauptvertretern der Fachwiſſenſchaft 
die Probe gut bejtanden hat. Selbſt der zweifellos bedeutendfte Germanijt unferer 
Tage, Profeſſor Dr. Friedrich Kluge, bezeugte mir, daß meine „mühfälige, aber 
erfolgreiche Arbeit Vieles zur Aufhellung der neuhochdeutſchen Wortchronologie 
leijtet”, daß ic das „bleibende Verdienſt“ für mid in Anfpruch nehmen dürfe, 
„aus Gottſched eine ganze ‚zülle von Nachträgen zum grimmſchen Wörterbudje 
zu Gunſten einer genaueren Altersbeftimmung geliefert zu Haben“. Neben feinem 
fachwiſſenſchaftlichen Werth jcheint mir das Bud) aber auch nod) einen allge 
meinen Werth dadurd zu beſitzen, daß durch die Unmaſſe von fchönen Gitaten, 
zumal aus den Gedichten Gottſcheds, nicht nur die geiltige Perſönlichkeit des 
einzigen Mannes jcharf gekennzeichnet, jondern auch ein klares Bild von dem 
Reichthum der Kraft und Schönheit jeiner Sprache (in Poeſie und Profa) ge: 
boten wird. Aus diefen Grunde darf es wohl aud für ein genufreiches Leſe— 
buch gelten. Da die Kleine Auflage des Buches big auf etwa hundert Abdrüde 
ſchon vergriffen iſt, Liefere ich das Bud, das feine zweite Auflage erleben jo, 
nur noch auf unmittelbare Beltellung. Eugen Reidel. 

» 


Notizbuch. 45 


Notizbuch. 


Sen Lieber, der in den Zeitungen der ‚Führer des Centrums genannt wurde, 
iſt gejtorben. Ob er wirklich, mit der Herrſchergewalt, die man ihm zujchrieb, 
der Führer war? Die Zeit der parlamentarijchen Einzeltyrannis jcheint einjtweilen 
dahin. Nicht nur, weil die jtarfen Perjönlichkeiten fehlen. Auch die Herren Richter 
und Bebel können heute nicht mehr, wie früher, ihren Fraktionen mit Diktatorenmacht 
denn Weg weijen. Die wirthichaftlichen Intereſſen jind jo jtarf geworden, haben in 
jeden fraftionellen Verband jo breite Yöcher geriſſen, daß die Führer, die einit fait 
unumſchränkt herrichten, jeßt die Elügite Kompromißkunft aufwenden müſſen, um 
mwenigitens den Schein der Einheit zu wahren. Für die Erfüllung ſolcher Pflicht war 
der Dr. jur. utr. Zieber geeignet. Eine Dußendintelligenz, die ſich ſelbſt ungemein 
wichtig nahm. Ein langweilender Redner, deffen feierlich gefalbter Ton im eigenen 
Lager oft die Lachluſt reizte. Yon Windthorjt hatte er nicht das Strategentalent, aber 
die unendliche Trivialität geerbt, die Freude an allen Spazirgängen, die über Ges 
meinplage führen. Das ift nicht zu unterihägen. Nur Männer von jolcher geiftigen 
Dispofition können Jahtyehnte lang den Hundetrab unjeres Parlamentslebens mit- 
maden, ohne vom Efel aus dem Schattenreich leerer Wortjchälle getrieben zu werden. 
Lieber hat einunddreißig Jahre lang im Reichstag gejejlen und hätte jich da noch viel 
länger ungemein wohl gefühlt. Warum nicht? Sein Ehrgeiz war kleinſten Stils; 
er war zufrieden, wenn Minijter und Staatsjefretäre ihn mit ehrfürdtigem Eifer 
grüßten, feinen Rath einholten und ihm die Wiöglichkeit gaben, vor verfammeltem 
Kriegsvolf den primus inter pares zu mimen. Im Lauf der Jahre hatte er, der 
als fleißiger Arbeiter galt, ſich eine taktiſche Gefchidlichkeit angeeignet, die vor großen 
Aufgaben wahrjcheinlich verjagt hätte, immerhin aber ausreichte, um das Alltags- 
handiverf des Parlamentarismus zu beherrichen. Daß „unter jeiner Führung“ das 
Gentrum der Regirung näher rüdte und zu größerer Madıt fam als je vorher, war 
nicht fein Verdienjt, jondern die Folge wirthichaftlicher Verfchiebungen und der be- 
fannten Ereigniffe, mit denen die neowilhelminiiche Aera Europa überrajchte. Auch 
in diejer veränderten Welt wäre Herrn Yieber die Verjtändigung mit überragenden 
Staatsinännern ſchwer geworden — ſchon Miguel haßte er mit der ganzen Inbrunſt 
eines engen Philiſterherzens —, doch auf dieje Probe wurde fein Parteiſinn in letter 
Zeit ja nicht mehr geftellt. Sein Tod läßt feine Lüde. Graf Balleftrem oder, 
wenns ein Bürgerlicher jein joll, Herr Borjch wird die Geſchäfte der Parlaments— 
diplomatie mindeitens eben jo gut bejorgen wie der Mann der großen Tiraden, Und 
je Eleiner die Schaar der ftreitbaren Protejtanten wird, die nod laut gegen Nom 
protejtiren, dejto loderer wird auch das Band werden, das Agrarier, Induſtrie— 
feudalijten und ndujtrieproletarier in der Centrumsgemeinſchaft zuſammenhält. 
* * 

Die trefflihen Männer, die in der Bolftariflommiffion des Neichstages ſchon 
fo Rühmenswerthes geleijtet haben, jollen einen Theil des Sommers in Berlin vers 
bringen, damit der Entwurf nicht gar zu jpät ins Plenum kommt, Das wollen 
Viele von ihnen nicht umſonſt thun und haben den Bundesrath deshalb aufacfordert, 
ihnen für die Zeit der Plenarferien Diäten zu gewähren. Zwar wäre es viel ver 
jtändiger gewejen, den Tarif gleich im Plenum zu berathen. Zwar können die in 
die Kommiſſion Gewählten, jo oft jiewollen, fich von Fraktiongenoſſenablöſen laſſen. 


45 Die Zuhmft. 


Thut nichts: fie fordern ihren Tagelohn und die Verbündeten Regirungen jollen 
bereit jein, diefen Wunſch zu erfüllen. Boffentlich machen die Gegner des Tarifes 
durch dieje Rechnung einen diden Strich. Ueber Diäten läßt ſich jtreiten. Nicht der 
winzigite Grund aber jpricht dafür, prinzipiell dem Neichstag Diäten zu weigern 
und die Kommiſſion, die Herr ihrer Entichlüjje tft, den Sommer lang durdhzufüttern. 
Viel wird in der heißen Zeit doch nicht heraustommen. Und eine bezahlte Parla- 
mentsbureaufratie hat uns gerade nod) gefehlt. Bejonders nett an der Sache ift, 
daß der Antrag auf Diätenzahlung nicht etwa von Kleinbauern oder jozialdemofra- 
tiichen Arbeitern ausging, jondern von dem Nittergutsbejiger Gamp, der bisher als 
reicher Dann galt und in Berlin eine herrichaftlihe Wohnung bat. 
* * 


* 

Als der Kaiſer neulich in Bremen war, begrüßte ihn Herr Arthur Fitger in 
einem Gedicht, das den kaiſerlichen Feldzug gegen die moderne Kunſt als eine Helden— 
that feierte. Auf den Wink Wilhelms des Zweiten ſeien die Fratzen ins Dunkel ge— 
wichen. In allen Büchern der Geſchichte ſei zu leſen, „daß Kunſt im Streit mit 
Kron' und Thron, mit Ring und Stab“ nicht gedeihen kann. Das Gedicht iſt jpott- 
ſchlecht; und über die Behauptung, Kunſt bedürfe höfiſcher Gunſt, iſt heutzutage fein 
Wort mehr zu verlieren. Herr Fitger hat als Maler und Dichterwenig Anerkennung 
gefunden, ſein Drama, Von Gottes Gnaden“, das mit einem dem Kaiſer heiligen myſti— 
ichen Begriff jehr unfanft umgeht, ift in Berlin ausgelacht worden und fein verftändiger 
Menſch kann ſich darüber wundern, daß der bremer Künſtler die erften Keime neuer 
Kunftkultur aus ärgerlihem Auge betrachtet. Ueber Fürſtengröße und Fürſten— 
macht hat er früher andersgeurtheilt als jet. Damals „imponirte ihn fein Thron“, 
waren ihm „die Gefrönten die Erjten, bie Natur in Feſſeln zu Schlagen“, wetterte er 
gegen „das goldene Koch“, in dem der Mäcen den Genius hält und ihm Flügel, Fuß 
und Herz bricht. Doc) darf ihm das Recht, feine Meinung zu ändern, nicht bejtritten 
werden. Er darf aud) den Dichter der „Deutichen Mufe*, deſſen trijter Epigone er 
dod) it, an der Greiſenſchwelle einen „ſophiſtiſchen Schwäßer“ fchelten und fic freuen, 
wenn irgend ein Eberlein höher im höfifchen Marktwerth fteht als Klinger. Nur 
brauchte er an Devotion doch nicht mit Ceremonienmeiftern zu wetteifern. „OHerr, 
wirft dem Poeten Du verzeibn, wenn er fich vordrängt aus des Volkes Reihn, ſich 
wagt an Deinen Thron und tief bewegt den Zoll des Dankes Dir zu Füßen legt”... 
Das ijt ein Bischen viel für einen Stadtrepublifaner. Nicht ganz jo viel freilich 
noch wie die Nednerleiftung des Freiherrn von Rheinbaben, der gejagt hat: „Die 
Kunſt iſt die Darftellung des Schönen. Es iſt ein ermuthigender Gedanke, daß die 
düfjeldorfer Kunſt jich genau in der Linie Deſſen bewegt, was Seine Mäjeftät der 
Kaiſer von der Kunſt denkt und wünſcht. Wenn Düffeldorf eine ſolche ideale Kunſt 
pflegt, dann zeigt es fich als treuen Diener feines Kaiſers.“ Schade. Herr von Rhein- 
baben ijt ein guter Finanzminiſter und hat in feiner erſten Budgetrede bewieſen, 
daß ihm die Kunft, das Gerüft eines Staatsetats aufzubauen, nicht nur „die Dar- 
ftellung des Schönen“ ijt. Warum redet er über Dinge, die ihm offenbar ganz fremd 
find? Der Kaiſer bedarf jeiner Hilfe nicht; er hat die Mehrheit für fi. Und wer 
Kunft anders fühlt, von der Kunjt Anderes hofft, Der wird fich fein Gefühl nicht 
durch den Einiprud) eines verärgerten Nomantifers undeines braven Finanzminiſters 
verwirrenlajien, jondern die Nachprüfung biszudem Tage aufichieben, two eines Sad)- 
verjtändigen Stimme dem Fehderuf des Deutſchen Kaiſers weitere Wirkung verſchafft. 


Herausgeber und "verantwortlicher Nedatteur: M. Harden ın Berlin. — Verlag ber Zutunft in in Berlin. 
Drud von Albert Damde in Berlin» Schönchirg. 


— — 


55 
ar Dh 





Berlin, den 12. April 1902. 
—————————— 


Der Zauberer von Rom. 


Main der Neunte lag auf dem Paradebett. In der Pracht feiner Cere— 

N moniengewänder; die Mitra auf dem Haupt, das Kiffen aus Gold— 
tuch ſtützten, mit rothen Handjchuhen und rothen Pantoffeln, die der Gläubi- 
gen Inbrunſt zu füffen drängte. Gejchäftig waltete der Kardinal Pecci des 
Kämmereramtes. Nie hatte man den Achtundjechzigjährigen fo unruhvoll, 
den oft als mild Gerühmten fo ftreng gejehen. Nach Antonellis, feines 
Teindes, Tod war er von Perugia nad) Rom berufen worden und hatte dort 
ſtill für fich gelebt. Er wollte nicht auffallen. Schon war ihm geweisjagt 
worden, er werde Pius auf dem Stuhl Petri folgen. Er war bereit, hatte 
die Zeit der Verbannung nicht ungenügt gelafjen und bebte nun doch im 
Innerſten, da die Entſcheidung nahte. Pius jelbft, deſſen ftarfe Herrennatur 
jich gegen jede Erkenntniß Fränfender Wahrheit fträubte, hatte in feinen 
letsten Xebenstagen einfehen gelernt, wie viel, wie Ungeheures dem Papjt: 
thum verloren und wie nöthig es war, der Kirchenmacht neue, fejtere 
Fundamente zu jchaffen. War jolche Aufgabe nicht am Ende zu jchwer für 
einen hinfälligen Greis, der einmal nur, al3 Nuntius in Brüffel, in ein 
Eckchen des Weltgetriebes geblickt und ſich ſtets mehr als Gelehrten denn 
als ftreitbaren Kirchenfürften gefühlt hatte? Und dennoch: konnte nicht ge— 
rade in dem jchwachen Leib des Carpineters der Herr das Wunder wirken, 
das er dem robuften Siegerbemwußtjein des neunten Pius verfagt hatte? Der 
Kämmerer harrte des Herrn. Ringsum wurde eifrig an dem Geſpinnſt ge— 

4 


48 Die Zukunft. 


arbeitet, das ihn umgarnen, ihn von der Mehrheit im Heiligen Kollegium 
abiperren jollte. Er jchien nichts zu merfen und erwiderte jtichelnde Anden: 
tungen mit dem Hinweis auf feinen nahen Tod. Die Hand, die des toten 
Papites Schläfe dreimal mit dem filbernen Hammer berührte, zitterte nicht 
und feſt Hang die Stimme, die fragte: Schläfft Du, Johannes Maftai? 
Dann aber erlahmte die Nervenkraft. Joachim Pecci wurde von einer Un— 
ruhe ergriffen, die nie vorher an ihm geſehen ward. Erjchliefwenig, tauchte, 
wo man ihn nicht erwartete, plöglich auf und hatte einen haftigen Befehls— 
haberton, der feinem Wejen früher ganz fremd geweſen war. So auf: 
fällig war die Veränderung, daß, als er vor dem Katafalk in der Sir: 
tinijchen Kapelle nad) der Totenmeſſe die Abfolution ertheilte, der Kar: 
dinal Dreglia dem Kardinal Guibert zutufchelte: „Der rührt die Werber- 
trommel!“ .. Das war am fünfzchnten Februar 1878. Am nächiten 
Tage wurde Pius eingefargt; Zannenholz, Blei, Ulmenholz umfingen 
mit dreifacher Hülle den ruhenden Leib, jech$ Siegel verſchloſſen den Sarg, 
der Fifcherring, den der Lebende jo lange getragen hatte, wurde zerbrochen 
undjedes Stüd, als eine koſtbare Reliquie, einem Würdenträger anvertraut. 
Wicder verfammelten fi), als die Rede Pro Pontifice eligendo ver: 
Hungen war, die Kardinäle, wieder riefen fie zum Herrn und flehten, ihren 
Sinn zu erleuchten ; dann ftand jeder, deſſen Name genannt war, auf, fchritt 
zum Altar hin und legte jeinen Stimmzettel in einen Kelch. Acceptasne 
electionem de te canonice factam inSummum Pontificem? Knieend 
richtete ein Dechant die traditionelle Frage an den Kardinal Pecci. Er hatte 
bes Herrn geharrt: er folgte dem Ruf des Herrn. Als man ihn wegführte,- 
ſoll er einer Ohnmacht nah gewejen jein. Doch ehe er ruhen durfte, mußte 
er den ganzen Pomp der Huldigungfeier hinnehmen. Die Diener Heideten 
ihn in weiße Gewänder. Diafone warfen vor ihm Kerzen nieder, daß jie er- 
lojchen, und riefen: Wie diejes Yicht, jo vergehe der weltliche Ruhm! Auf 
Hände und Füße, auf den Saum feines Kleides preßten fich heiße Lippen. 
Bon der Höhe einer Yoggia herab breitete er die Arme aus und fegnete die 
Ewige Stadt, jegnete die Fatholiiche Chriftenheit. Und alsbald ward ver: 
fündet, der neue Papſt werde fich Leo den Dreizehnten nennen, um fid) al3 
einen Verehrer Leos des Zwölften zu zeigen, des ftrengen Herrn, der wider 
Freimaurer und andere Ketergewüthet, im Jubeljahr 1524 eine Bannbulle 
erlaffen und die Jeſuiten zu neuer Macht geführt hatte. 

Das gab eine Ueberraſchung. Der Kardinal: Kämmerer hatte für 
einen milden Mann gegolten und als ein liberaler Papſt, hieß es, würde er 


Der Zauberer von Rom. 49 


das Weihezeichen des Triregnum tragen, Zwar hatte er in heftigen Briefen 
an Victor Emanuel gegen die Bejegung des Kirchenftaates, gegen dic Bes 
läftigung der Kongregationen und gegen die Civilehe protejtirt, Priefter, die 
vom Papſt den Verzicht auf die weltliche Macht zu fordern gewagt hatten, 
mit der Suspenfion a divinis beftraft und Ratazzi hatte ihn einen big zur 
Grauſamkeit unbeugfamen Geift genannt. Dod) das Alles war unter der 
Herrichaft des unerbittlichen Pius gejchehen, in der erften Zeit leidenjchaft- 
lichen Widerftandes gegen den Ufurpator, und andere Stimmen hatten ge- 
jagt, diefer Kardinal, der ein Gelehrter und ein Dichter fein wolle, werde, 
jobald erjelbjtändig handeln dürfe, fich von der natürlichen Sanftmuth feines 
Weſens leitenlajjen. Und nun, wie um jede ſchüchternſte Hoffnung zu enttäu- 
jchen,beider Namenswahlfchon die Erinnerunganden Dann, der die Gefäng— 
niſſe der Inquiſition wieder geöffnet Hatte? ALS Crux de cruce hatte Pius der 
Neunte auf der Kirche gelaftet und abertaujend unerfüllte Wünjche hatten 
auf Peccis Wappenjpruch Lumen in coelo ſehnend geblidt. Sollte der 
Strahl diejes Lichtes die zarten Keime jungen Hoffens wegjengen?... Die 
Meinungen blieben getheilt und das Charafterbild des neuen Oberhirten 
war, von der Parteien Haß und Gunjt verwirrt, lange nicht Har zu er- 
fennen. Er wird uns mit Sforpionen peitjchen, jagten die Einen; die An» 
deren: Auf Betri Stuhl fitt ein Jakobiner. In beiden Yagern juchte man 
Zroft im Anblick jeiner Gebrechlichkeit. Das war nicht Pius, deſſen Geſtalt 
bis ins Greifenalter jtraff geblieben war und defjen fleifchiger Herrſcherkopf 
voninnerer Gluth geleuchtet hatte. Diefes längliche, knochige, bleiche Aſketen— 
haupt mit den dünnen, blutlojen Yippen würde die Tiara gewiß nur furze 
Beit tragen; diejen dürren, fajt diaphanen Yeib würden jie bald auf das 
rothe Totentuch betten. Raum hielt er fich aufrecht. Und jchon am Tage der 
Huldigung, als er, jelbjt weiß und jchlanf wie eine Wachsferze, ſchwankend 
durch das Spalier der Kerzenträger jchritt, wurde in allen Winkeln des Va— 
tifans geflüftert: Ein fterbender Bapft! Seine Heiligkeit wird nicht lange 
unter ung wandeln. Ueber ein Kleines erliicht dieſes blafje Licht. 

Non videbit annos Petri... Ein Vierteljahrhundert ift feitdem 
vergangen; und noch immer hält der nun Zweiundneunzigjährige in ent- 
fleifchten Händen den Hirtenftab, Noch immer jchiwebt er, wie ein weißer 
Schatten, an hohen Feiertagen über den ftaunenden Häuptern der Gläubigen 
dahin. Noch immer aud) rührt er mit unverminderter Kraft für feine Sache 
die Werbertrommel. Eben erjt hat er in eindringlichen Worten der Ketserheit 
gerathen, in den wärmenden Schoß der fatholijchen Kirche heimzufehren. 

4* 


50 Die Zukunft. 


Denn nur da laſſe fich gut fein. Daß Vernunft Unſinn wird und eine mate- 
rialiftiiche Weltauffaffung das Glüd der Menjchheit nicht mehrt, fei Längft 
dod) offenbar geworden. Was habe die Freiheit genütt, die Forſchung, all 
der ſchöne Wahn, der feit den Tagen der Reformation durch die Hirne jpuft? 
Die Moral ift zerrüttet, die Grundmauern der Staaten wanfen: fo ftrafe, 
fo räche der Herr den Abfall vom wahren Glauben. Leo der Dreizehnte hat 
die Encyllifa, in die er jo hart rügende Sätze jchrieb, fein Teſtament ge- 
nannt. Und der Greis, der an der Schwelle der Ewigfeit ſchwachen Menſchen 
ſolchen Scheidegruß jendet, hieß ſeit elf Jahren der moderne Bapit. 

Der Name gebührte ihm und wird ihm, trog dem Tejtament, bleiben. 
" Als Antonelli geftorben und der Blick des Pontifex nicht mehr durch trügende 
Schleier gehemmt war, hatte Pius gejeufzt: „Mein Nachfolger wird von 
vorn anfangen und eine ganz andere Politik treiben müjjen als ih!" Das 
hatte auch Zeo erfannt. Er fand das Papjtthum der weltlichen Herrichaft 
beraubt und war zu Hug, um ſich der Hoffnung hinzugeben, diefen Verluſt 
fönne die Zeit je wieder aus dem Bud) der Gejchichte tilgen. Und diefeinen 
Nerven des Erben fühltennoc ſchlimmeren VBerluft. Die hierarchische Zucht 
war ſtraffer als je; Pius hatte dafür gejorgt, daß der Riefenkörper der Kirche 
dem leiſeſten Druck des Zügels gehorchte. Doch dieje Kirche war in der mo: 
dernen Weltein Fremdling geworden ; nicht den Kegern nur, nein: auch vielen 
Gläubigen. Ueberall mühte fie jich in fruchtlojer Willensanftrengung, Fal- 
lendes zu ftüten, war alles Werdenden Feind und nirgends neuen Wün— 
chen erreichbar. Eine ehrwürdige Ruin, die ſacht verwittert. Wohl galt 
nod immer das ftolze Wort: Stat erux, dum volvitur orbis. Stand 
aber das Pontififat fo feft wie das Heilandskreuz, konnte es ohne in: 
nere Wefenswandlung allen fommenden Stürmen trogen? Yeo hat ſich 
oft als Verehrer des Heiligen Thomas befannt und gewiß im Archiv des 
Klofters auf Monte Caffino, wo das jcholaftiiche Genie des erwachſenden 
Neapolitaners gebildet ward, einmal die weifen Worte gelejen, die Cremo- 
nini, Galileis Freund, jchrieb: Mundus nunquam est; naseitur sem- 
per et moritur. Niemals ift eine Welt; in jedem Augenblid wird fie und 
ftirbt. Ein gutes Yeitwort für Einen, der die Menjchenwelt ewig welfender, 
ewig erneuter Illuſionen beherrjchen will. Nicht an Bergehendes darf er fich 
Hammern. So aber hatte Pius gethan. Der war zufrieden gewejen, wenn 
fein higiges Temperament fich in prachtvollen Unwettern ausgetobt hatte. 
Bon feinem Kompromif, feinem Pakt mit feindlichen Mächten mochte er 
hören. Sein Fluch, darangabes für ihn feinen Zweifel, drang in den Himmel 


— 





Der Zauberer von Nom. 51 


und riefGottes Strafgericht auf der Sünder unreine Seelen herab. Wie Vielen 
hatte er geflucht, die ihrHaupt noch aufrecht trugen und ungebrochenen Muthes 
vorwärts ſchritten! Von einer anderen Methode hoffte Leo Gewinn für die auf 
allen Seiten bedrängte Papſtkirche. Keine fleiſchliche Wallung ſchien über 
den hageren Greis Macht zu haben; nie ſah man ihn zornig, nie kam aus 
ſeinem Munde ein ſchriller Ton. Er nahm das alte Programm der chriſt— 
lichen Platoniker wieder auf und folgte den Spuren des Doctor Angelicus. 
Wie die Kirchenväter ſich bemüht hatten, die Philojophie, die Kulturſchätze 
der Hellenen dem neuen Bedürfniß der jungen Chriftenheit anzupajien, wie 
Thomas von Aquino einen großen Theil feiner Kraft an die Aufgabe ge- 
fett hatte, den ariftotelifchen Geift in das Bewußtſein der Katholiken Hin- 
überzuretten, jo wollte Leo nun Kirche und Welt, Glauben und Wifjen ver- 
jühnen. Allzu lange war die Kirche ein Hemmnig auf allen Wegen der Ci— 
vilifation gewejen ; jie jollte ünftig, gerade fie, der Kultur den rechten Pfad 
weiſen. Was halfen die Flüche gegen den neuen Geift? Man muß fid) mit 
ihm einrichten, ihm Yuft und Licht gönnen und, während die Linke ihn jtrei- 
chelt, mit der Nechten unter väterlichem Zuſpruch ihm die drohende Waffe 
entwinden. Die Menjchheit muß wieder erkennen lernen, daß aud) die 
Wiffenschaft hriftlichen Urfprunges ift und daß feine unüberbrüdbare luft 
den Forjcher vom Gläubigen trennt. Das war das Ziel de8 neuen Papiteg, 
mußte das Ziel eines Mannes fein, der den Mufen nicht minder eifrig als 
feinem Gott diente, Dante zärtlid) liebte und die ciceronischen Perioden feiner 
Hirtenbriefe jo jauber feilte, al$ lange er nad) dem Ruhm eines Yiteraten. 

Der Kirchenjtaat war verloren, jeit am zwanzigiten September 1870 
die italienischen Truppen durch die Porta Pia in Nom eingedrungen waren 
und Victor Emanuel gejagt hatte: Ci siamo, ciresteremo. Noch war die 
Wunde zu frifch, die Gewalt der Tradition zu groß, al$ dag der Nachfolger 
des neunten Pius daran denfen fonnte, mit dem Minderer jeiner Macht 
Frieden zu jchließen. Er blieb der im Vatikan Gefangene und proteftirte, 
wann die Pflicht es gebot, pünktlich gegen den Naub. Doch in der Stille 
mag Yeo ſich oft gejagt haben, daß diejer Raub ein Glück für die Kirche war. 
Jede weltliche Herrichaft wet Haß; und ein leidender Papit ift jtärfer als 
ein im Prunk eines Hofftaates thronender. Eine Kirche, die wirllid) eccle- 
siarum omnium mater et caput jein will, braucht feine Hausmacht 
und wird durd) allzu enge Verbindung mit einem bejtimmten Yande in 
ihrer Propaganda eher gehemmt als gefördert. In einer Zeit, wo in den 
Ranzleien aller Großmächte die Verträge ſich zu Heinen Gebirgen häufen, 


52 Die Zukunft. 


hat Leo fein Bündniß gefucht; ihm ift zuzutrauen, daß er jede Bundes- 
genojjenschaft abgelehnt hätte, felbjt wenn ihm als Preis die Wiederher— 
ftellung des Kirchenftaates verfprochen worden wäre. Wer fic) heute Einem 
ganz hingiebt, hat morgen mindeftens einen Feind; und der Papft will fich 
die Möglichkeit friedlicher Verftändigung mit allen modernen Mächten be- 
wahren. Als am zwölften November 1890 der Kardinal Yavigerie in Al- 
gier das franzöfifche Gefchwader in einem Trinkſpruch begrüßte, in dem ge— 
jagt war, der Katholif könne fich mit jeder Staatsform abfinden, hielt man 
das auf der Zunge eines Kirchenfürften revolutionär klingende Wort fürdas 
Bufallsproduft einer Yaune. Dan jollte bald erfahren, daß e8 jehr ernit ge: 
meint und mehr war als ein Belenntniß perfönlichen Glaubens. Leo hatte 
fi) der Mahnung erinnert, die Toten ihre Toten begraben zu laſſen. Sein 
Biel war nur zu erreichen, wenn die Katholifen unfruchtbarem Groll ent— 
fagten und aufhörten, ſich al8 Gehilfen der Reaktion verhaft zu madyen. 
Schon vor zwanzig Jahren jchrieb er an die ſpaniſchen Biſchöfe, die Behaup- 
tung, die Religion fei an das Programm einer politijchen Partei gefnüpft, 
müfje als Irrlehre befämpft werden. Das dünkt Manchen banale Weis- 
heit; wer aber vergangener — nicht einmal allzu lange vergangener 
— Tage gedenkt, wird fich hüten, jolches Urtheil zu fällen. Ueberall waren 
die Katholiken die Träger oder doch die Schußtruppen der Reaktion. Gegen 
das Schisma, die Reformation, die Revolution, den Kulturkampf baliten fie 
die Fauſt und formten die Entwidelung doc) nicht aufhalten. Rußland war 
dem römischen Priefterfönig nicht zurückzugewinnen; in Frankreich zog fein 
neuer Roy von des Papſtes Gnaden ein ; und das pplitifche Werk Luthers und 
Bismards jpottete ohnmächtigen Zornes. Ein Zuftand, der die Katholiken 
zudumpfer Thatlofigkeit verdammte, durfte nicht dauern. Leo Tolftoi, der Hei- 
land müder Artiften, fonnteden Bölfern predigen, hinterihnen liege das Heil, 
undfiezur Umfehrermahnen. Ein Papſt, der wirken, Welt und Kirche verjöh: 
nen will, darf nicht da8 Dysangelium verkünden lafjen, jeder vorwärts füh- 
rende Schritt fei ein Verbrechen, eine Sünde wider den Heiligen Geiſt. In 
den Köpfen, jelbft in denen oft, dieder Glaube noch nicht floh, wacht ein uraltes 
Mißtrauen; immer regt fich, wenn von den Lebensrechten der Kirche gefprochen 
wird, an deren Mauer die drei Worte universitas, antiquitas, unitas 
lofen und jchreden, die Furcht, die Tage der Gregor und Innozenz könnten 
wiederfehren und die lähmende Macht der Theofratie, die Gräuel der In⸗ 
quifittion zurückbringen. Diefe Geſpenſter hat der Entſchluß Leos des Drei- 
zehnten verjcheucht. Er hat die Katholiken zu politischer Arbeit gerufen und 


Der Zauberer von Rom. 53 


von ihnen verlangt, fich in die Zeit zu ſchicken, jo ſchlimm fie ihnen auch 
ſcheine. Er hat den Bund gebrochen, der die Schickſale von Thron und Altar 
an einander fetten follte. Er hat offen und feierlich Frieden mit der Demo: 
fratie gejchlojien, die fo lange von der Kirche befämpft worden war. 

Der Erfolg hat fürihn entichieden. Als er an Rampolla, der damals 
Nuntius in Madrid war, Ichrieb, die Biſchöfe jollten fich von der farlifti- 
chen Agitation fern halten, als er Monſignore Czadi, den parifer Nuntius, 
mit der Mifjion betraute, zwiichen der Nepublif und der Kurie einen 
modus vivendi zu ſchaffen, jchüttelte mancher Kardinal das Haupt und 
wijperte, das Jumen in coelo habe jich als ein Irrlicht erwiejen. Jetzt iſt 
längjt jeder Zweifel verjtummt. In Aſien und Afrika jind die Quadern 
des hierarchiſchen Gefüges feſter als je gefügt und in Europa iſt die 
Macht des Papſtthums über alles Erwarten gewachſen; jogar mit Rußland 
hat der Eluge Politiker auf Petri Stuhl ſich verftändigt. Im Karolinenftreit 
hat Bismard ihn zum Schiedsrichter erfürt und Wilhelm der Zweite hat 
jeinen Rath erbeten, als der Berfuch gemacht wurde, den Arbeiterfchuß durch 
internationale Gejege zu regeln. So Großes, jo Ungeahntes wurde erreicht, 
troßdem der Papſt offen erklärt hatte, die Kirche werde nicht unter allen 
Umſtänden mehr den alten Dynajtien einen jtügenden Rückhalt bieıen. 

Den Frieden mit der Demokratie hatten Männer wie Diontalembert 
und Yacordaire längjt empfohlen und mit lauterer Stimme als fie hatte La— 
mennais gejprodyen. Erjchufden Bund zur Vertheidigung derreligiöien Frei— 
heit und bemühte jid), von dem ebbenden Strom der katholiſchen Inbrunſt 
zu den modernen Yebensmächten einen Weg zu finden. Die Kirche, jo wollte 
er, jollte im werdenden Bewußtſein des Jahrhunderts fefte Grundlagen fuchen 
und ihre Diener follten jich ohne Vorbehalt auf den Boden der Charte jtellen; 
vor allen Dingen aber ſollte die Kirche vom Staat, der Staat von der Kirche 
frei fein. In allen Zungen Fangen jeine Paroles d’un eroyant über die 
Erde hin und fündeten die Souverainetät der chriftlichen Völker. Der Bann— 
ftrahl, den Gregor der Sechzehnte gegen den unbotmäßigen Briefter jchleu- 
derte, traf fein Biel nicht; die Encyklika Mirari vos ift vergeiien und 
Lamennais lebt in der Gejchichte de8 Katholizismus als einer der ſtärk— 
ften Wirfer des neunzehnten Jahrhunderts. Bor ihm ſchon hatte Saint: 
Simon den Papit als Retter aus jozialer Noth angerufen. Im Nouveau 
Christianisme jtehen die Sätze: „Das wahre Chriſtenthum muß auch für 
dasirdijche,nichtnur für das himmlische Glück der Menjchen forgen. Dem 
Bapit ift die Aufgabe geftelit, die Gejellichaft nach den fittlichen Grundjägen 


54 Die Zukunft. 


des Heilands zu organifiren. Es genügt nicht, den Gläubigen die Gottes- 
findfchaft der Armen zu predigen; die jtreitbare Kirche muß rückſichtlos alle 
Macht und alleDMittel anwenden, um jchnell die moralijche und die phyſiſche 
Lage der Klafje zu bejjern, der die größte Menjchenzahl angehört." Und ein 
Schüler Saint-Simong, der jüdische Bankier Iſaac Pereire, wiederholte 
den Auf des Meifters, als der Kardinal Pecci zum Papft gewählt war. 
„Wie konnte“, rief er, ‚die Kirche bis heute verfennen, daß die Wand- 
lung der Welt nicht ein ruchlofes, antichriftliches Werk ift, jondern von 
der Vorſehung vollendet ward, um den tiefften Gedanfen des Chrijten- 
thumes in feinem göttlichen Glanz zu enthüllen? Nie ward von der Kirche 
die Erfüllung einer ſchöneren, ihres Stifter8 würdigeren Pflicht gefordert. Iſt 
fie nicht zur Mutter derWaifen, zur Schügerin der Unterdrüdten beftimmt? 
Sie hat die Sklaverei der Heidenzeit befeitigt und das Joch der Feudalherren 
gebrochen: fie muß auch den modernen Arbeiter aus den Banden der Hörig- 
feit erlöjen. Nur die ſtarke Organifation der katholiſchen Kirche fichert ein 
foziales Wirken großen Stils. Soldye Wirkſamkeit wird erft möglich, wenn 
über den Gejetgebern, den Gelehrten, den Fabrifanten Apoſtel ftehen, Miſſio— 
nare, die bereit find, ihr Leben dem Heil der Menjchheit zu opfern, unabs 
hängige Männer, die den Muth haben, Allen die Wahrheit zu jagen. Und 
wo wären ſolche Männer zu finden, wenn nicht im Bereich der Kirche?“ 
Wir willen nicht, welche diefer Stimmen bis ans Ohr Leos des Dreizehnten 
drang. Dod) was jie erjehnten, hat er vorzubereiten verſucht. Am fünfzehn— 
ten Mai 1891 erging an die ehrwürdigen Brüder im fatholiichen Glauben 
die Encyklifa De conditione opificum, die mit den Worten begann: Re- 
rum novarum semel exeitata eupidine... Die Neuerungjudt, an der 
feine Borgänger jid) geärgert hatten, war ein ;yaftor geworden, mit dem der 
Papſt rechnete. Bis zu diefem Tag hatte in Rom nur alte Münze gegolten. 

Dft ift jeitdem die joziale Aktion verhöhnt worden, die damals jo ge: 
räujchvolf begann und jo jchnell wieder endete. Bon den überjchwänglichen 
Hoffnungen, die ſich ans Yicht wagten, als der Papft den Pilgerzug der 
franzöfiichen Arbeiter im Vatikan empfing, ward feine erfüllt, fonnte feine 
erfüllt werden. Nur fromme Einfalt verjtieg fich bis zu dem Wahn, der 
Heilige Vater vermöge mit einem Win feines Zauberftabes die Nöthe zu 
lindern, unter deren wechjelnden Formen die Menjchheit ſeit Jahrtauſenden 
ächzt. Dennod) follten die Spötter ihren Wit für beffere Gelegenheit jpa- 
ren. Es war eine große Stunde, die in einem mit der Tiara geſchmückten 
Haupt den Entſchluß gebar, „ins Volk zu gehen“ und die Dynajtien, den 


Der Zauberer von Rom. 55 


ganzen Heerbann der ſich allein legitim dünkenden Mächte ihrem Schidjal zu 
überlajjen.Einft werden jpäteThomiften vielleicht dem aufhorchenden Erdfreis 
fünden, daß in diefer Stunde die Renaifjance der katholischen Kirche begann. 
Die Kirche kann warten; und kluge Päpſte waren immer geduldig: 
patiens quia aeternus. Die Starrheit ift gewichen und in der Gemein 
ſchaft der Gläubigen neues Leben erwacht. Schon wagt man, von Reformen 
zu reden, werden die alten Mauern unterjucht und die Hand, die auf hohle 
Stellen weift, braucht nicht zu zittern. Wer hat ſich früher um die Send» 
ichreiben des römijchen Biſchofs gefümmert? Jetzt werden fie von allen 
Gebildeten gelefen, von Gelehrten und Politikern kritifirt und in der afatho: 
liſchen Preſſe beſprochen. Das Papſtthum iſt wieder eine geiftige Macht 
geworden und mählich Löjen fich nun auch die Märchenjchleier, die dieje In— 
ftitution dem Auge verhüllten. Niemand glaubt heute noch, daß alle Päpſte 
ein orgiaſtiſches Schlemmerleben führen; die Borgia find auch im Vati- 
fan eben jo jelten wie die Hildebrand. Als Gutzkow jeinen Rationaliiten= 
roman gegen den römischen Zauberer jchrieb, ſah er den Papſt noch als eine 
Rieſenſpinne, die Alles ausjaugt, was ihrflatternd naht, alle regfamen Kräfte 
zu umjtriden ftrebt. Und viel jpäter noch, da längſt ichon der Ruhm des 
ungen Deutjchland verblichen war, dachten wir, wenn vom Papit geſprochen 
wurde, an Benedikt den Vierzehnten, der, während er von der Yoggia der 
Betersfirche den Segen jpendete, fich jelbjt den größten Betrüger genannt 
haben joll: „In der Menge da unten betrügt Einer den Anderen; und id) 
betrüge jie Alle!’ Wir jind nüchterner geworden, jfeptiicher, doch auch ge— 
rechter. Wir ftellen uns vor, daß es im Vatikan nicht anders zugeht als an 
anderen Höfen; nur find die Höflinge, ift die Bureaufratie da flüger, nad) 
vernünftigerer Ausleje aufdie Höhe gelangt. Und diejes Gewimmelbeherricht 
nicht die Sucht, die Geifter zu knebeln, der armen Menjchheit ihr Bischen 
Glück zu rauben und alles Licht, alle Yebensluft auszulöſchen. Es find 
Menſchen, die ihre Heinen Gejchäfte machen und meift wohl überzeugt find, 
daß ihr Wirken der großen Chriftengemeinde frommt. Der Greis, dem jie 
gehorchen, wird von Zodfeinden des Katholizismus bewundert, aber faum 
von Einem, der ihm nicht unterthan ijt, gefürchtet. Nom hat den ſchrecken— 
den Nimbus verloren; und Yeo der Dreizchnte ift der moderne Papſt. 
Gebührt ihn der Name wirklich, auch nad) der neuften Encyklifa? 
Auch jie ift von einem gebildeten Manne verfaßt. Wie Yeo, jo haben größere 
Pejiimiften über die „Errungenjchaften der Neuzeit“ geurtheilt; nur haben 
fie den Enttäufchten dann nicht das ältefte Heilmittel angepriejen: die Reli— 


RE ef Seren zur Fir Wei 


56 Die Zukunft. 


gion. Das aber muR jeder Papſt thun, wenn er fich jelbft nicht aufgeben . 
will. Er kann nur gerade jo modern fein, wie e8 der Rang und der Pflichten» 
freis, in den er gebannt ift, ihm erlaubt. Doch folche Grenzen find in der 
Welt der Intereſſen und Leidenschaften nicht nur Päpften geſetzt. 

Der Schüler des Heiligen Thomas jpricht heute nicht anders als 
früher. Schon vor elf Jahren fchrieb er, die Fundamente der Gejellichaft 
jeien erfchüttert, weil jie fic) vom rechten Glauben abgewandt habe. Die 
alte Formel, die jetst nur überrajcht, weil man den Papſt mit moderneren 
Dingen befchäftigt glaubte. An das Ohr des Zweiundneunzigjährigen dringt 
von den wirren Geräuſchen der Welt längft wohl nur nod) ein fernes Braujen. 
Er ahnt nicht, welcher Zwieſpalt fidy in den Gemüthern aufgethan hat; 
und wüßte ers: er vermöchte die Kluft nicht zu ſchließen. Man könnte 
einen Papit träumen, der Jeſu Lehre nachlebte, allem Glanz entjagte und 
mit den Armen als Armer haufte. Erwäre eine interejjante Gejtalt,doch kein 
Papſt mehr, nicht die weithin leuchtende Spike der Pyramide, die in langer 
Säfulararbeit von den feinften, erfahrenften Geiftern aufgethürmt worden 
ift. Ein Bapft mag modern fein, die Zeichen der Zeit erfennen und das Schiff: 
lein Petri vom Ballaſt der Jahrhunderte entbürden: er bleibt der Hüter einer 
Anftitution, die, um zu dauern, fein muß, wie jie ift, wie fieimmerwar. eo 
der Dreizehnte hat durd) Eugen Takt, durch ftille Benutzung aller Konjunk— 
turen erreicht, daß die Gebildeten jeiner Stimme wieder laufchen, ihn ohne 
vorurtheilenden Haß hören lernten. Er hat die jtärkite Organijation, die je 
erjonnen ward, dem Anspruch des neuen Tages angepakt. Seine politische 
Technikwar ganzmodern, jomodern, daß jeder Staatsmann, jeder Großindns 
ftrielle fie mit Nuten jtudiren wird. Da aber endet aud) des Mächtigſten 
Macht. Das Lebenswerk eines ungewöhnlichen Menſchen reichte faum hin, 
um das Daſeinsrecht der katholiſchen Kirche zu fichern, um zu zeigen, daß in 
jedem Staat, mit jedem politischen Glauben ein Katholif dem Dogma treu 
bleiben und jelig werden kann. Nun abernahtein anderer Kampf,dernicht Itom 
allein, jondern die tiefjten Wurzeln der Chriftenlehre bedroht. Yangjam 
dämmert der Menjchheit die Erfenntniß, daß fie wählen, neue Sittlichkeit 
juchen, ich eine neue Geiftesheimath Schaffen muß. Das Gebet, das vonder 
Lippe gelallt und vom Handeln auf Schritt und Tritt verleugnet wird, der 
leere Kult kraftloſer Heuchelei hilft nicht weiter. Der Papft, der diefen Kampf 
zu beftehen und aus den Ruinen die Herrichaft der Kirche ungemindert zu 
retten vermag, wird das größte Wunder der Chriftengefchichte wirken. 


# 


Pandynamismus. 57 


Dandynamismus.*) 


—8 liegen in unſerem Weſen dauernde Vorausſetzungen einer pan— 
— dynamiſtiſchen Betrachtung. Wie unſere Sinnlichkeit der Vereinigung 
mit einer ergänzenden Natur zuftrebt, um in dieſer Vereinigung die Gattung 
ſchöpferiſch fortzufegen, fo ftreden wir fehnfuchtvoll unfere Geiftesarme aus 
nach den erhabenen Geheimniſſen des Himmels und einer jenfeitigen Welt; und 
wo und das Willen bier nicht befriedigt, da möchten wir fo gern unter 
Annahme übernatürlicher Thatſachen beweifen. Und es begreift fich, daß 
Regungen in diefer Richtung vor Allem bei Anbruch neuer geiftigen Zeiten 
hervortreten, da man ahnumgvoll ertrogen will, was an geiftigen Errungen— 
ſchaften erjt einer reichen Abfolge von Gejchlechtern in harten Mühen zum 
Theil zu erarbeiten vergönnt ijt. Und diefe Negungen waren im fechzehnten 
Jahrhundert, einem Zeitalter diejer Art, doppelt erflärlich, da jie mit den 
ungeahntejten Erweiterungen des geiltigen Horizontes der abendländifchen 
Bölfer zufammenfielen, Erweiterungen, die dem verzüdten Blid als die Ents 
ſchleierung jedes Geheimniſſes erjcheinen fonnten. Da ward zu der befannten 
geihichtlihen Welt in der Antike eine neue entdedt. Da reihte jich ein 
geographifcher und ethuographifcher Auffchluß an den anderen; umd die 
Begrenztheit diejer irdifchen Welt und die Kugelgeftalt der Erde erfchienen 
nicht mehr als Hypothefen, jondern als anfchaulic, gewordene Wahrheit. 
Und all diefe Revolutionen, die einer noch niemals möglich gewefenen 
Weitfichtigkeit de3 geiftigen Blides zudrängten, wurden fchlieglich an Wirk: 
famfeit übertroffen durch die heliocentrifche Lehre des Koppernikus. Mer 
hätte das ptolemätfche Weltiyitem in feiner finnlihen Anſchaulichkeit be= 
zweifeln mögen, wie es von der unmittelbaren Realität der wahrgenommenen 
kosmiſchen Bewegungen ausging, zumal alle dagegen möglichen Einwände durch 
eine große Anzahl höchſt finnreicher Hilfshypothefen befeitigt fchienen? Und 
num erſchien das Buch De revolutionibus orbium coelestium, das zwar 
nicht auf Grund erafter Beobachtungen, wohl aber von der einfachen Forde— 
rung her, daß die erhabenften Schöpfungen Gottes nur von einfachiter Sym- 
metrie beherrjcht fein Fönnten, die ganze Syftem über den Haufen warf. 
Nicht die Erde erjchien jest mehr als der Mittelpunft des Weltalls, fondern 
die Sonne; ein dienendes, in Gemeinſchaft mit anderen Körpern in Doppel- 
bewegung um die Sonne kreiſendes Glied des Ganzen nur war unſer Planet: 
aufgegeben werden mußte das bisher faum je bezweifelte Borrecht einer Be- 
trachtung der fernen Weltweiten von geocentrifhem Standpuntt. Wie Hein 
war jegt diefe Erde geworden, — und wie klein gar der Menſch, daß man 
feiner gedächte! „Was ging nicht Alles durch diefe Anerkennung in Dunft 


+, S. „Zukunft“ vom 5. April 1902, 


ö —r ——— 
. R @. v 


58 Die Zukunft. 


und Raud auf: ein zweites Paradies, eine Welt der Unſchuld, Dichtknuſt 
und Frömmigkeit, das Zeugniß der Sinne, die Ueberzeugung eines politiſch-⸗ g 
religiöfen Glaubens.“ *) Es war eine wiffenfchaftliche Erweiterung und zu: 
gleich fittliche Begrenzung des menfhlichen Etandpunftes von folder Uner— 
hörtheit, dar es verjtändlich ift, wenn jich die Welt nur langfam an ihn 
gewöhnte. Auf die heliocentrifhe Hypotheſe des Soppernifus haben die 
Forſchungen Keplers über die Entbehrlichfeit der ercentrifchen Kreiſe und 
Epicyklen zu Gunſten der Annahme einer einfachen Kurve als Bahn der 
planetarifhen Bewegung folgen müffen und auf diefe Galileis Forfchungen 
über die Schwerkraft, che Newton zu jener Hypotheſe über die Bewegungen 
der Himmelstörper gelangte, die, vornehmlich durch die unvergleichlich 
popularilirende Wirkſamkeit Voltaires, der neuen Lehre zur Stellung eines 
unveräußerlichen Beſtandtheils der europäifhen Bildung verhalf. 

Indem aber diefe gewaltige Ausdehnung des menſchlichen Horizontes 
eintrat, wirkte jie fchliehlich doc weniger auf die Erweiterung der Phantafie 
al8 auf die Erweiterung der Erfahrung. Und jo fam das Ergebniß doc 
am Ende nicht pandynamijtischen Anfchauungen zu Gute, wie fie im 
Tiefiten noch auf der Zulaſſung des Begriffes des Wunders und damit 
wieder auf dem Borherrfchen einer Denfmethode ungenügender Analogie 
fchlüffe beruhten, jondern vielmehr einer ganz anderen Auffafiung der Welt. 
Ge mehr jet, unter den verfchiedenartigiten Anregungen, die Erfahrung lich 
verdichtete und zugleich befchied, um jo mehr erweiterte ſich das SKaufalität= 
bewuntjein: nicht mehr nach nur zum Theil zutreffenden Analogien, Produften 
oberflächlicher Beobachtung und unzureichender Erfahrung, fondern nad der 
Kenntniß möglichit ausgedehnter regelmäßiger Zufammenhänge von Urſache 
und Wirfung begann man, die Welt der Erfcheinungen zu ordnen. So 
wurde das Zeitalter einer pandynamiftifchen Naturbetrachtung abgelöjt durch 
ein Zeitalter, daS vermöge der Induktion und Abftraftion in den einfachſten 
Naturvorgängen vor Allem einfachite Negelmäßigkeiten und Gefege aufzu: 
fuchen bejtrebt war, in der Hoffnung, gerade in ihnen, gleichgiltig, welchen 
tiefjten Hinter den Pforten der Natur ftehenden Wirkungen fie verdankt oder nicht 
verdanft würden, den Schlüffel zum Verſtändniß auch der größten Er: 
fcheinungen zu finden. Ein Saufalitätbewuftfein, das fein Wunder mehr 
zulieg, begann, uranfänglich, unbeholfen noch und ahnungvoll, das Kleinſte 
und Größte unmittelbar zu verbinden, und gab ſich der frohen, durch die 
Thatſachen ſchließlich beitätigten Ueberzeugung hin, daß es, indem es den 
Zuſammenhang eben des Gewöhnlichen erforfche, auch das bisher al3 unge— 
wöhnlich Betrachtete zu erklären im Stande fein würde. Das Zeitalter 
naturaliftiicher Naturforfhung 309 herauf. 


*) Goethe, Zur Farbenlehre. 


Pandynamismus, 59 


Vorläufer diefes Zeitalter8 reichen allerdings bis ins breizehnte Jahr: 
hundert zurüd. In diefer Zeit hat ſchon der große Scholaftifer Albertus 
Magnus im Kloſter der fölner Dominikaner feine botanischen Verſuche 
gemacht; und neben ihm bereit8 ijt der Engländer Roger Baco dem Gedanken 
vorausſetzungloſer Naturwifjenfchaft nahe getreten. Bahnte dann Heinrich von 
Langenjtein, ein Heſſe, der feit 1383 in Wien wirkte, durch Bekämpfung des aftro- 
logischen Wunderglaubens den großen vorfoppernifanischen Aftronomen, einem 
Peurbah und Regimontan, den Weg, fo hat der Kardinal von Kues, in 
feinen eraften Forfchungen nicht minder bedeutend als in feinen myſtiſchen 
Spekulationen, recht eigentlich eine Janusgeſtalt zwifchen Mittelalter und 
Neuzeit, neben weſentlichen Berbefjerungen des Kalenders im Sinn der jpäteren 
gregorianifchen Reform vor Allem ſchon unmittelbare Vorahnungen der foppers 
nilaniſchen Hypotheje gehabt. 

Allein diefe Männer ftanden doc; fehr vereinzelt; fie fchufen noch nicht 
aus einem fih aufdrängenden Gefammtbewußtfein der Forſchung ihrer Zeit 
heraus, wenn auch ſtärkere intellektualiftifche Neigungen des ſpäteren Mittel- 
alter8 in feiner-Richtung des Geifteslebens zu verfennen find; und fo drängten 
fie mit ihren meilt nur in unreifen VBermuthungen beftehenden Ergebniffen 
doch nur gegen die Pforten eines Zeitalter8 an, das noch nicht eröffnet war. 
Erft der Individualismus des jechzehnten Jahrhunderts, die Freiftelung des 
Individuums gegenüber dem endlofen Detail de3 mittelalterlihen Dffens 
barungsglaubens und der Unterwerfung, die der dogmatifchen Faſſung diefes 
Glaubens gefchuldet ward, hat die neue Anfchauung völlig entbunden. 

Aber in dem Charakter der neuen Zeit lag freilich zugleich auch der 
Charakter des Berlaufes der neuen Studien befchloffen, wenigjtens fo weit 
fie auf das philofophiiche Gebiet führten und von diefem aus in die wiſſen— 
fchaftliche Praris hinein getrieben wurden. Die Perfönlichkeit des ſechzehnten 
Jahrhunderts zeigte in den Zeiten ihrer vollen Duchbildung, vornehmlich feit 
der Wende des jechzehnten Jahrhunderts, den Typ des Iſolirten, für ſich 
Stehenden, in fih Genügfamen: jie war eine abgejchlofjene Welt im Steinen. 
Es verfteht ji, daß diefe Auffaſſung ihres Weſens nun aud) an den Makro— 
kosmos herangeholt wurde: ohne daß darüber weiter ein Wort verloren wurde, 
erichien diefen Zeiten die große Welt als eine Einheit gejchloffenen Charakters, 
als ein Kunſtwerk de8 Schöpfers. Das war die Vorausfesung der pandy- 
namlſtiſchen Naturwiffenfchaft gewefen. Das blieb aud die Vorausjegung 
des neuen Realismus. 

Traf fie aber zu, fo mußte e3 auch nach der neuen naturalijtiichen 
Auffaffung doch wieder eine Methode der Ableitung al ihrer Geheimnifje von 
einem oberjten Prinzip, von einem PBunfte aus geben. Und nachdem eine 
jolhe Ableitung aus der ftofflichen Hypotheſe eines allgemeinen Kräfte— 


60 Die Zuhneft. 


zufammenhanges im Pandynamismus gefcheitert war, fchien e8 auch nicht 
mehr zweifelhaft fein zu fünnen, wo fie nun zu fuchen war. Wohin man 
auch in den einzelnen Gebieten der Natur und der Gefchichte den Blid wandte, 
da ergab ſich der Erfahrunginhalt in die Begriffe des Raumes und der Zeit 
gebettet. Raum und Zeit alfo mußten vor Allem in ihren empirifchen Be- 
ziehungen in ſich und unter einander begriffen werben, wie jie am Ende ſich 
auf den noch einfacheren Oberbegriff der Größe reduziren ließen: erſt durch 
dieſes Begreifen hindurch, auf einem folchen, rein formalen Wege glaubte man, 
aus dem Ganzen der Erjcheinungen zum Berftändnig des Einzelnen ge= 
langen zu fönnen. 

Als Wiffenichaft der einfachen Größe aber, des Raumes und der Zeit, 
erichien die Mathematif. Sie Fonftituirt, fo wurde der Zufammenhang an- 
geliehen, über dem bunten Getriebe de3 Konkreten und Veränderlichen die 
Lehre von Raum und Zeit al3 eine erafte und abjolute Wiffenfchaft, wie 
fie in ihrem Fortfchritt der Berichtigung durd die Kontrole erneuter Wahr- 
nehmungen der Erfcheinungwelt in feiner Weile mehr bedarf; jie enthält 
damit die Prinzipien einer wahren deduftiven Methode, mit deren Hilfe es 
gelingen muß, von ihrer volljtändigen Entfaltung aus auch das Reich des 
ſinnlich Konkreten zu erklären. Mathematik alfo und durd fie hindurch Ver— 
ſtändniß der Erfcheinungmwelt: Das wurde zunächſt die Loſung. 

Uber auch diefer Gedankengang war im fechzehnten Jahrhundert nicht 
völlig neu. Es iſt Schon an dem Beifpiel Platos zu erkennen, von welchen 
Einfluß die Mathematik bereits auf die Philofophie der Alten geweſen 
ift. Freilich blieben die Alten dabei in der Mathematif der Hauptjache 
nad in das Neich der Dinglichkeit und Anfchaulichkeit gebannt: aus feiner 
weiteren Durchdringung Prinzipien einer rein begrifflichen Lehre von Raum 
und Zeit abzuleiten, lag nicht in der Nichtung ihres Denkens. Dafür war 
dann aber das Mittelalter in der Entiinnlihung der Vorftellungen von Raum 
und Zeit ziemlich weit über fie hinaus gegangen. 

Das mittelalterliche Denken, fo weit e3 ſich auf höhere Probleme ein= 
ließ, war eine Folgeerfcheinung Deffen, was man zu diefer Zeit wiſſenſchaft— 
liche Theologie nannte: nicht eigentlich aus der nationalen Geiftesbewegung, 
fondern aus der chriſtlichen Ueberlieferung der fpäten Griechen: und Römer: 
zeit, unter Einſchluß gewiffer Einwirkungen der heidnifchen Philofophie der 
Alten, erhielt eS feine Impulſe. Es war alfo eine Erſcheinung nicht jelbit- 
gewachjener Kultur, fondern zeitlicher Rezeption aus weltgefchichtlicher Vers 
gangenheit. Dem entjprechend, war es im höchſten Grade abgezogen, ohne 
ftärfere Berührung mit den lebendigen Strömungen der Gegenwart; und 
Dem entfprechend, bildete es mit Vorliebe virtuofe Methoden und gänzlich 
abjtrafte, uniinnliche, gleichſam dünnfchliffige Begriffe aus. Und inden es 


Pandynamismus. 61 


wirklichkeitfremd nur in diefen Begriffen lebte, ſchrieb es der ſyllogiſtiſchen 
Methode almählih Schöpferkraft. und den Begriffen an ſich Nothwendigkeit 
des Seins zu. Die ontologifche Anfhauung, die Auffaflung, daß gedachte 
Begriffe allein wegen der Thatfache, daß ſie gedacht werden, auch wirklich 
feien, iſt das originellfte Erzeugniß, das von dem: jcholaftischen Denken in 
der Geſchichte der Philofophie hervorgebracht worden iſt. 

Eine geiftige Dispojition, wie die der Scholaftif, mußte nun ſchon dazu 
führen, den Borjtellungen-von Raum und Zeit denjenigen begrifflichen Cha= 
rafter zu verleihen, deſſen das fechzehnte bis achtzehnte Jahrhundert für die 
Anwendung der Mathematit als Dentmethode der Philofophie und, wie es 
anfangs jchien, auch der Naturwifienichaften bedurften. In der That findet 
man bei den mittelalterlihen VBorläufern der realiftiichen Naturwiſſenſchaft des 
fiebenzehnten Jahrhunderts ſchon die Verwendung der Mathematik, wein 
auch noch nicht in der vollendeten Art eines Galilei oder Newton. Keiner 
diefer Vorläufer ijt aber in diefer Hinficht wohl charakteriftifcher al3 Roger 
Baco; und feiner ift in diefer Stellung wohl zutreffender gejchildert worden 
als eben Baco von Goethe. *) Baco erfcheint die Mathematik in ihrer 
reinen Form ſchon ausdrücklich als Hauptichlüffel aller wifjenichaftlichen Ver: 
borgenheit, ja, auch aller metaphylischen Fragen: „ES giebt Mancherlei, das 
wir geradehin und leicht erkennen; Anderes aber, das für uns verborgen iſt, 
weiches jedoch von der Natur wohl gelaunt wird. Desgleichen jind alle höhere 
Weſen, Gott und die Engel, als welche zu erkennen die gemeinen Sinnen 
nicht hinreichen. Aber es findet ſich, daß wir auch einen Sinn haben, dur 
den wir Das gleichfallß erkennen, was der Natur befannt ift, und diefer ijt 
der mathematische: denn durch diejen erkennen wir aud die höheren Weſen, 
al8 den Hinmel und die Sterne." Bon diefer Auffaffung ausgehend, wendet 
Baco die Mathematif als eine der Logik weit überlegene Methode an, um 
nicht blos die Naturerfcheinungen im engeren Sinn, nein, auch die pfycholos 
giſchen Erſcheinungen deduftiv zu begreifen: jo wird ihm, zum Beifpiel, die 
Grammatik zur Rhythmik, die Logik zur Muſik. Ya, damit nicht genug: 
auch dem moralijchen und religiöfen Gebiete nähert er ſich auf mathematifche 
Weiſe, indem er die Beziehungen diefer Gebiete mathematiichen Beziehungen 
ſymboliſch gleichjegt. 

Man ficht jogleih: Das find feiniinnige Betrachtungen, keine Schlüffe; 
die Wirkung ift erbaulich, nicht überzeugend. Aber was Baco und jein 
Nachfolger im Mittelalter ahnend verfucht haben: das Begreifen der Welt 
vermöge — und freilich zum größten. Theil noch nach Analogie — der Methode 

*) Zur Farbenlehre (Werke Weim. Ausg. II 3, ©. 151). Der hijtorijche 
Theil der goethijchen Farbenlehre bietet noch heute die am Tiefiten durchdachte 
Geſchichte der Naturwiljenjchaften bis ins achtzehnte Jahrhundert, die wir befiten, 


62 Die Zukunft. 


der Mathematit: Das unternahm das Zeitalter realiftifcher Naturwiſſenſchaft, 
wie e8 dem Panpfyhismus folgte, in feinem allgemeinen Denken nun wirk— 
lich ernithaft durchzuführen und zu vollenden. 

War die Mathematif diefer Aufgabe gewachſen? Sie war es höchſtens 
dann, wenn fie thatſächlich rein begrifflichen Charafters war und wenn, Dies 
vorausgefegt, ihre fpeziele Ausbildung im fechzehnten und jiebenzehnten Fahr: 
hundert auf der Höhe der Forderungen ftand, die man an fie ftellte. 

Nun Hat die Entwidelung de8 Denkens im neunzehnten Jahrhundert 
gezeigt, daß die Mathematik feineswegs die rein begriffliche Wiſſenſchaft ift, 
als die fie eine frühere Zeit anſah, daß fie vielmehr in ihren Grundveſten 
anfchaulich verankert ift. Die Mathematik konnte alfo die ihr im jiebenzehnten und 
achtzehnten Jahrhundert zugerwiefene Aufgabe felbit dann nicht erfitllen, 
wenn fie im Uebrigen, in ihren einzelnen Fortfchritten, den Anforderungen des 
allgemeinen Denfens entfprechend entwidelt gewefen wäre. Aber wenn num 
auch die Hauptabficht des fiebenzehiten und achtzehnten Jahrhunderts: die 
volle deduftive Ableitung der Welt und zunächſt der Naturerfcheinungen in 
mathematijcher Methode, nicht erreicht ward und nicht erreicht werden Fonnte, 
fo war doch der in den eben befprochenen Zufammenhängen liegende Impuls 
zum mathematischen Berftändnig der Welt fo überaus gewaltig, daß ihm 
die größten Errungenschaften auf naturwiſſenſchaftlichem, philofopgifchen und 
auch geifteswiffenfchaftlihem Gebiete zu verdanken find: die Mathematik hat 
ſich thatſächlich als eins der ftärkiten, wenn nicht als das jtärfite Gährung— 
element im Denken vor Allem des jiebenzehnten und achtzehnten Jahrhunderts 
erwiefen. Darum bedarf e8 zum Verſtändniß des Geijteslebens diefer Zeit 
überhaupt einer eingehenderen Betrachtung ihrer Entwidelung. 

Die Mathematik war bei den Alten wohl, wie überall, aus praftijchen 
Bedürfniffen entitanden. Jedes Volk, das voll ſeßhaft wird, bedarf für die 
Auftheilung des Grundes und Bodens einer primitiven Feldmeßkunſt; Feine 
Zeit der Naturalwirthichaft entbehrt fie: e8 find die Anfänge der Geometrie. 
Ihnen aber fügen ſchon die erften entwidelten Zeiten der Tauſchwirthſchaft 
die Arithmetif hinzu; denn wie könnte ſelbſt ein primitiver Handel, nament— 
(ih fo weit er ſich fchon eines Geldes bedient, ohne die Negeldetri be= 
trieben werden? 

Waren fo die Anfänge der mathematifchen Wiffenjchaft bei den Alten 
wohl durchaus praftifcher Natur, fo liegt es im Charakter der antiken Kultur, 
daß auch ihrer vollendeteren Mathematik noch ein in hohem Grade anfchau: 
licher Charakter geblieben if. Gewiß find die Beweife Euklids durdaus 
deduftiv; jedes induktive Moment, das etwa gar auf die Entitehung des zu 
beweifenden Satzes hinwiefe, ift unterdrüdt; aber doc) ift hier, wie ſonſt in 
der Mathematik der Alten, die Abftraktion niemals jo weit getrieben, daR 


Pandynamismus. 63 


über den abftraften Raumformen die Körper, über den abitrakten Zahlformen 
die Zahlen vergefjen worden wären, gejchweige denn, daß aus abjtraften Be— 
griffen von beiderlei-Art bereit3 der allgemeine Größenbegriff entwidelt worden 
wäre. Und ferner ijt bei den Alten für jederlei Größe, wie der Raunız, 
jo der Zahlenwelt das Moment der Stetigkeit feitgehalten worden; — von 
der Anſchauung, daß die mögliche Zahl der Brüche zwijchen zwei Zahlen 
unendlih und mithin der Charakter jeder Zahl unjtetig fei, finden wir eben 
jo wenig Gebrauch gemacht wie von der anderen, daß jeder Körper als 
Träger von Raumformen in Bewegung begriffen und Ruhe nur eine ing 
Gleichgewicht gefegte Summe von Kräften fei, die in Bewegungen zur Er— 
icheinung gelangen. Als die Lehre von ftetigen Größen und al3 folche aller: 
dings reich entfaltet, ging mithin die Mathematik der Alten an die abend: 
ländifchen Nationen über.” Wie aber hätte jie hier, in deren Mittelalter, 
mehr als allenfall3 begriffen, wie hätte fie erweitert werden follen? Wir fennen 
für die deutjche Gefchichte die Entwidelung des äftheriichen Sinnes von der 
Urzeit bis in die Jahrzehnte der Reformation: von der robuften, noch rein 
ornamentalen Bewältigung de3 Umrifjes der Gegenjtände der Erſcheinung— 
welt war man langjam bis zu defjen zutreffender Wiedergabe fortgefchritten. 
Wie hätte eine Zeit, die auf äjthetifchem Gebiet noch um die Wiedergabe des 
Umriffes rang, auf intelleftwellem Gebiet aus eigener nationaler Kraft durch 
das Aeußere der Erjcheinungwelt zu dem Begriff der ihr zu Grunde liegenden 
reinen Größe vordringen follen? Es war kaum denfbar, daß von diejem 
Standpunft aus aud nur die Errungenihaften der Alten in genügender 
Tradition fortgepflanzt wurden. 

Aber wir haben ſchon gefehen: neben dein nationalen Denken ftand 
die Denkkunft der Scholaftif; und die fcholaftijchen Streife haben die Mathe— 
matik der Alten jeit vornehmlich dem dreizehnten Jahrhundert nicht nur bes 
wahrt: jie haben auch die Vorſtellung der mathematifchen Größe al3 Ober— 
begriff über Raums und Zahlengröße fchon leife durchzubilden verfucht. Ganz 
gelungen ift dann diefe Durchbildung freilich erft im fechzehnten und fieben= 
zehnten Jahrhundert. 

Dagegen erfchien noch dem ganzen Mittelalter im Allgemeinen die 
Größe als ftetig. Hier befonders, in diefem Punft, mußte daher die weitere 
Entwidelung de3 individualiftiichen Zeitalterd einfegen; und in der That 
verläuft jie von hier au hinein in die glänzenden Errungenschaften der Funk 
tion= fowie der Differential: und Integralrechnung. Zu Örunde aber liegt diejer 
Entwidelung zunähft im fechzehnten Jahrhundert noch die allgemeine Vor: 
ftellung der pandynamiftiihen Naturanſchauung, die hinter jeder Erjcheinung 
ein Spiel lebendiger Kräfte jah, alfo dem Begriff der Unitetigfeit der Größe 
fehr leicht unmittelbar und intuitiv nahe treten fonnte; und im jiebenzehnten 


> 


64 Die Zutunft. 


Jahrhundert wird für fie die Wechjelbezichung mit den Forſchungen auf dem 
Gebiete der Mechanik wirkjam, die wiederum von der Statik, wie jie die Alten 
faft allein gelehrt hatten, jehr früh zur Dynamik überging und damit den 
Begriff der Bewegung in abgeflärterer Form zur Verfügung ftellte. 

Den entfcheidenden Schritt zur Ausbildung der Funktionrechnung und 
damit zur Löfung des Problems, das gegenfeitige Verhältnig von Größen 
gleichmäßiger Unftetigfeit auf eine für jeden Moment diejer Unſtetigkeit zu= 
trefiende Formel zu bringen, hat Descartes gethan. Er ging dabei von den 
auch den Alten ſchon bekannten Gleihungen aus. Zunächſt war es hier 
Har, daß die Unbekannte jeder Gleichung, da jie unbenannt ift, ſich eben fo 
fehr al3 Raum: wie als Zahlengröße erweifen fonnte: in diefer Unbekannten 
war alfo von vorn herein der Ausdrud der allgemeinen Größe gegeben. 
Wie aber fonnte man nun darüber hinaus, unter der Annahme der gleiche 
mäßigen Unftetigfeit der Größen, zu der Möglichkeit kommen, das Ber: 
hältniß diefer Unftetigfeit der Gröhen zu einander einfach darzujtellen und 
zu berechnen? Auch hier half die Gleichung. 

In Betracht kommt hier der erfenntnißtheoretifche Charakter der Gleichung. 
In der Gleihung wird von der Annahme ausgegangen, daß die zu findende 
Unbefannte eigentlich, wenn aud) unter den Berhüllungen der Gleichung, befannt 
fei; und der Beweis für die Richtigkeit diefer Annahme und damit auch für die 
Nichtigkeit der Gefammtbehauptung wird dadurch geführt, dat in der Auflöfung 
der Gleichung gezeigt wird, wie diefe Annahme in allen Folgerungen, die ſich 
aus ihr ergeben, mit jonjt allgemein al3 wahr befannten Sägen übereinftimmt. 
Die Beweisführung ift alfo indireft. Weil Das aber der Fall ift, weil das 
in der Gleihung angewandte Beweisverfahren von der Folge auf den Grund 
fchlient, fo läßt es, wie jeder Schluß von der Folge auf den Grund, eine 
mehrdeutige Löfung zu. Diefe Eigenart der Gleichung, ſolche mehrdeutigen 
Löfungen zu ergeben, ijt ja befannt genug. Diefe Ihatfache bringt es nun 
aber mit ſich, daß nur außerhalb des Beweisverfahrens liegende Betrachtungen 
ergeben fönnen, welche der denkbaren Löſungen die vorzuziehende iſt. Und 
die Folge diejes Umſtandes wiederum ift es lange Zeit hindurch gewefen, 
daß man allgemein gefahte, alſo willenfchaftlice Aufgaben einem jo mehr: 
deutigen Beweisverfahren nicht hatte überlaffen fünnen. Und fo hatte die 
Gleihung bisher auf dem Gebiet allgemeiner, namentlich auch naturwiljenichafte 
licher Beweiſe feine große Nolle gefpielt. 

Wie aber, wenn es nun gelang, den verfchiedenartigen Bedingungen 
innerhalb der Aufgabe, deren Dafein die Mehrdeutigfeit der Löſung ergab, 
für den Verlauf der Löjung der Aufgabe einen ſolchen Ausdruf zu vers 
haften, dan die in ihnen beruhenden verjchiedenartigen Möglichkeiten der 
Löfung im Schlufergebnig der Rechnung zu vollkommenem Ausdrud gelangten ? 


Bandynamismus, 65 


Dann war offenbar die wiffenfchaftliche Brauchbarkeit des Gleichungverfahrens 
erreicht. Da war e8 nun Descarted, der den Weg zu diefem Ziele zeigte, 
indem er die algebraifche Symbolik einführte: womit den verfchiedenartigen, 
der Aufgabe einverleibten Bedingungurtheilen für den Verlauf des Beweifes 
durh Buchſtabenſymbole ein allgemeiner Ausdrud verfchafft wurde, vermöge 
deren die Bedingungurtheile wieder in Gleichungen umgewandelt wurden. 
Damit fiel jede Mehrdeutigfeit der Ergebniffe: denn nun war durch die 
allgemeine, den verfchiedenen denkbaren Bedingungen entiprechende Bedeutung 
der Zeichen diefer Symbolif das generell Bedingte den Schlußfolgerungen 
jelbft einverleibt, jo dar diefe eine an fich eindeutige Form erhielten. Was aber 
bedeutete nun dies Alles für das Verftändnif der ftetig veränderlichen Größe? 
Es war flar: mit diefem Ergebnig war ein bisher noch fehlendes Mittel 
gewonnen, um Aufgaben zu löfen, in denen bejtimmten, in bejtimmter Weiſe 
veränderlihen Faktoren beſtimmte, in entjprechender Weiſe veränderliche Er— 
gebniffe entfprachen; oder mit anderen Worten: e8 war das Mittel gewonnen, 
dem Begriff der ftetig veränderlichen Größe in ihrem Verhältnig zu anderen 
ftetig veränderlichen Größen gerecht zu werden. Es war jetst möglich, jede 
Mehrheit mathematischer Größen, vorausgejegt, daß deren Verhältniß fich 
unter bejtimmten Bedingungen änderte, in der durch diefe Bedingungen auf 
die einzelnen Größen ausgeübten Wirkung zu verfolgen und für die Durch: 
führung diefes Verfahrens eine allgemeine Rehnungform — man nannte fie 
eine Funktion — aufzuitellen. 

Aber verwandelte ſich damit, daß Died möglich wurde, nicht das bis— 
herige Beweisverfahren in eine Methode der Unterfuhung? Gewiß: eben 
Das geſchah; und dar es geichah, war vielleicht das folgenreichite Ergebniß 
der durchgeführten Neuerung. Denn jest war das neue Verfahren nicht 
mehr blos ein Werkzeug des Beweifes, fondern es wurde zur Analyjis, zur 
Forfchungmethode, die bei dem ihr innewohnenden Zuge vom Zuſammen— 
gefegten zum Einfachen, vom Befonderen zum Allgemeinen eine Fülle von 
Beobachtungen über das Verhalten mathematifcher Größen zu einander ver: 
anlafjen mußte: womit der Anftoß gegeben wurde zur Aufitellung der 
wichtigiten Gefege über das Verhalten von Größen überhaupt in Raum und 
Zeit. Im diefem Sinne wurde die neue Mathematik jegt dem erweiterten 
Kaufalitätstriebe, dem Grundzuge der neuen Zeit, für das Zufällige überhaupt 
feinen Raum zu lafjen, jo weit gerecht, wie es fi um die Bearbeitung von 
Grörenverhältniffen handelte: mit der Durchbildung der Funktionrechnung be= 
gannen alle Größenbeziehungen, unferem Denfen in der felben Weiſe erichloffen 
zu werden, wie das AU immer mehr dem Kauſalgeſetz als einer nun ſtets 
weniger abweisbaren Forderung unſeres Denkens unterworfen erfchien. Doc) 
bedurfte es zur vollen Verwendbarkeit der Funktionrechnung in dem foeben 


5* 


Del u 577 Ba a ar, u 


66 - Die Zuhmft. 


befchriebenen Sinne noch eine® weiteren Hilfsmitteld. Indem man nämlich 
die Abhängigkeit einer Größe von einer anderen oder von einer Mehrheit 
anderer Größen auf dem Wege der Funktion unterfuchte und zu dieſem 
Zwede zunächſt eine oder mehrere diefer Größen beliebig veränderlih annahm, 
fam man zu einem Begriff, der rechnerisch zunächſt faum fahbar erſchien, 
zu dem der jtetigen Beränderlichkeit. Und doc kann, da die Dinge aufer 
uns nicht minder wie unfere Vorftellungen in ftetigem Fluß von Veränderungen 
begriffen jind, Feine größere Beftimmung gedacht werden, die fich diefem 
objektiv wie fubjeftiv gleich zweifellofen Moment entzöge! 

Die Mathematik fann feiner in der That nicht reſtlos Herr werden. 
Aber jie kann es im ihre Unterfuhungen in den denkbar Heinften Fehlergrenzen 
mit einbeziehen, indem jie fich die veränderliche Beziehung in Heinjte Elemente 
zerlegt denkt, in denen diefe Veränderung aufgehoben erjcheint, und dieje 
Elemente mit beachtet. Die Mittel hierzu lieferte in der zweiten Hälfte des 
febenzehnten Jahrhunderts die Fnfinitefimalmethode (Differentialrehnung), 
wie fie Newton in feiner Fluriontheorie, die in den Acta eruditorum de3 
Jahres 1684 erfchien, vom Geſichtspunkte der Bewegung dieſer Heinften 
Elemente, Leibniz von geometrifhen, Euler von arithmetifchen Betrachtungen 
her entwidelt haben: bis Lagrange in feiner derivirten Funktion die vollen- 
detjte der hierher gehörigen Methoden ſchuf. Nun war e3 in der That möglich, 
die gegenfeitigen Beziehungen ftetig veränderlicher Größen in jeder Hinficht zu 
verfolgen, wie aus der Kenntniß eines Theiles diefer Beziehungen oder auch 
einer aus ihnen abgeleiteten Relation das ganze Verhältniß ihrer gegenfeitigen 
Beziehungen durch Integration, Das heißt: durch eine Umkehrung des Differential- 
verfahrens, herzuitellen; und damit war überhaupt das Geheimnig des Ver: 
haltens der Größen, mithin auch der Körper zu einander enthüllt: grundfäglic) 
hatte jet die Mathematik als die Wiffenfchaft der Größen alle Gebiete der 
erfenntnißtheoretiichen Grundlage durchmeſſen und erobert. 

Halten wir hier inne und fragen uns, was denn damit für die philo- 
fophifchen und naturwilfenfchaftlihen Probleme erreicht war. 

Die PhHilofophie mußte bei der ganzen Veranlagung des feeliichen 
Lebens diefer Jahrhunderte fo viel wie möglich an der Deduftion fetzuhalten 
ſuchen: das AU erjchien ihr als Eins, wie das Individuum; und als dies 
Eine, in ſich Har Zufammenhängende, muRte‘e8 von einem Punfte aus ver: 
möge einer einzigen Methode begriffen werden fünnen. War nun in der 
Mathematik diefe Methode gefunden ? 

Die Entwidelung der Mathematik hatte vom fechzehnten bis zum Ende 
des jiebenzehnten Jahrhunderts aus den deduftiven Beweisformen Euklids 
zur Analyis, zur reinen Induktion geführt; immer mehr hatte gerade biefe 
Wiſſenſchaft von ihrem deduftiven Charakter verloren. So war an ihre 


Pandynamismus. 67 


Berwendung zur philoſophiſchen Deduktion der großen Probleme von Gott 
und Welt je länger, um fo weniger zu denken. Aber doc; galt die mathe- 
matifche Beweisform feit dem fechzehnten Jahrhundert, ja, zum Theil fchon aus 
dem Mittelalter heraus al3 allen Syllogismen weit überlegen! Und ihr Ruf 
al3 folche, auf ihre alten deduftiven Elemente begründet, erjtredte ſich noch 
weit bi in das achtzehnte Jahrhundert. Die Folge war, daß die Philojophie 
dieſes Zeitalter fie als Arbeitwerkzeug nicht aufgab, aber freilich je länger, 
je mehr mit einem Inſtrument arbeitete, da8 bei ſtrenger Anwendung zer— 
brach, — oder, anders ausgedrüdt, daß fie die mathematifche Beweismethode 
in einem Sinne anwandte, die dem Charakter diefer Methode und der ihr 
zu Grunde liegenden Wiffenjchaft je länger, je weniger entjprah. Schon 
Roger Baco hatte ſich diefer Methode in einer für unfer Denken fonderbaren, 
bei ihm fehr Mar zu Tage tretenden Weiſe bedient: nämlich nad der Art 
des mittelalterlichen Analogiebeweifed. Er hatte, darin dem Pythagoras und 
feinen Schülern ähnlich, gewiffe mathematifche Berhältniffe in gewiſſen meta- 
phyſiſchen, pſychiſchen, ja auch phyſiſchen Berhältniffen im ſymboliſchen Spiegel- 
bild wieder gefunden: und Das hatte ihm genügt, um diefe Berhältniffe 
jo weit zu identifiziren, dat aus diefer Jdentififation heraus die Wirklichkeit 
der metaphyſiſchen, pſychiſchen, phyſiſchen Verhältnifje behauptet werden konnte, 
weil die Wirklichkeit der analogen mathematifchen Verhältniſſe feititehe. 

Das war nun freilich ein Verfahren, das die Philofophie des Descartes, 
wie fie zunädhft den pandynamifchen Syftemen des fechzehnten Jahrhunderts 
folgte, in gleich jonderbarer Naivität des Analogiefchluffes nicht mehr ein— 
flug. Aber gleihwohl gilt für ihr Verhältnig zur Mathematik noch etwas 
Achnliches. Es ift faſt felbftverftändlich, daß der felbe große Geift, der der 
Mathematik den Weg zur induktiven Analylis wies, fie nicht gleichzeitig als 
tiefer fonftituirende methodologische Triebfraft einer deduftiven Philofophie 
gebrauchen konnte. Galt dem Descartes wie feinem ganzen Zeitalter die 
Mathematik gleihwohl al3 Hebamme jeder Metaphyſik, fo konnte ihre Hilfe 
im Grunde doch nur nod äuferlih und formell beanfprucht werden: 
nämlich fo, daß ihrer Methode die äufere Art der Beweisführung und ihren 
Ergebniffen gewiſſe Analogien der philofophifchen Gedankenbildung entnommen 
wurden. Und über Descartes hinaus ermöglichte diefer befondere Charafter 
der philofophijchen Benugung der Mathematit es noch Spinoza, mit ans 
geblicher Hilfe der Mathematik ein gewaltiges, im Grunde myſtiſches Lehr: 
gebäude der Metaphyſik aufzuführen. 

Im Grunde war aljo auch der Verſuch, nad) dem Scheitern des Pan— 
dynamismus mit Hilfe der Mathematif als eines Univerſalſchlüſſels deduftiv 
eine Kenntnig der Welt generell zu gewinnen, geicheitert. Die materielle 
Borftellung von allgemein bewegenden Sträften und Größekomplexen hatte eben 
fo verfagt wie die formal logifche Miethode der Mathematik. 


68 Die Zukunft. 


Kann man unter diefen Verhältniffen fagen, beide große Bewegungen, 
Pandynamismus und Metaphyfif unter dem Einfluß der Mathematik, feien 
vergebens gewefen? Wie fehr hieße Das Bedeutung und Einfluß großer geiftiger 
Strömungen verkennen! Mit dem Pandynamismus war eine erfte, allgemeinfte 
Hypotheſe des Naturzufammenhanges gewonnen, die in den Naturwifien- 
ſchaften bis heute befruchtend gewirkt hat. Und die Mathematif gab eben, 
indem fie fih aus einem Werkzeug der Deduktion in ein folches der Induktion 
verwandelte — eine Umwandlung, die nur unter dem allgemeinen philo: 
fophifchen Intereffe an ihr fo rafch und entjcheidend einfegte —, den Anlaß 
zur Maren Entfaltung der Mechanik als der Wiffenfchaft von der thatjäch- 
lichen Bewegung der Körper: und damit den Anſtoß zu der unabläfligen, 
bis heute fortgefegten Entwidelung der pofitiven Naturwifienfchaften. Denn 
indem die neue Mathematik daS allgemeine Verſtändniß ftetiger Bewegungen 
an fi wie in bejtimmten Verhältniffen zu einander lehrte, war damit die 
Möglichkeit gegeben, in die Bewegungen der Körperwelt und die ihnen zu 
Grunde liegenden Gejege jorfchend einzudringen: in der Mechanik wurde durch 
Stevin und Galilei neben der Statik der Alten jett die Dynamik entwidelt; 
und Newton verwandte die Kenntnif der neu errungenen Geſetze diefer Dynamit 
zur Erklärung der kosmiſchen Bewegungen. Und alsbald brachte die Kenntniß 
biefer Geſetze auch ein neues Leben in die bis dahin willfürlichen Phantaſien 
anheimgegebener Wiffenfchaften der Phyfif und Chemie, deren Aufblühen dann 
fpäteren Zeiten die Möglichkeit gewährt hat, unter anderen Vorausfegungen 
in die Erforfchung auch der biologifchen Geheimniffe der Natur einzutreten. 

Die Mathematik aber hatte mit diefer außerordentlihen Befruchtung, 
die von ihr auf die Behandlung der philofophifchen Probleme wie die natur: 
wiffenfchaftliche Forfchung vornehmlich des fiebenzehnten und achtzehnten Jahr: 
hundertS ausging, die ftolzeften Aufgaben allgemeiner Art, die ihr zufallen 
konnten, erfüllt. Sie wurde feitdem langfam immer mehr zu einer Wiffen- 
ſchaft neben den anderen Wiflenfchaften und fpielte daneben eine befondere 
Nolle zunächft nur noch im dem Bereich der Naturwiffenfchaften. Es ge: 
ſchah, inden fie ihre generellen ‘Probleme immer mehr denen der allgemeinen 
Logik annäherte, ihre Grundlagen erfenntnißtheoretifcher und pfychologifcher 
Bearbeitung unterwarf und fie in diefer jchlieflic al8 nicht in dem Sinne 
abjolut erfannte, in dem fie die früheren Zeiten des —— als 
abſolut betrachtet hatten. 

Dieſe zweite Bewegung begann ſchon früh. Während nämlich die 
ſpeziellen mathematiſchen Studien ganz in der zunächſt von der Arithmetik 
her erfolgenden Ausbildung der Aualyſis aufgingen und darunter die Eut— 
widelung der fonftruftiven Methoden der Geometrie vernachläfjigt wurde, 
begannen die Philofophen allmählich eingehendere Unterfuchungen über ben 


Pandynamismus. 69 


Begriff des Raumes. Und hier hielt man nun anfangs allerdings im Ganzen 
noch an jenen Vorſtellungen feit, aus denen heraus ji die Auffaflung ge: 
bildet hatte, dar die Mathematif das Vorbild einer deduftiven Wiflenjchaft 
fei, weil in ihr alle elementaren Vorausſetzungen abfolut gegeben feien: ſei 
es num, daß diefe Elemente, wie Punft, Linie und begrenzter Raum, als 
eingeborene, ja transizendente Bejtandtheile unferes Geiftes, als eine myſtiſche 
Ideenwelt hinter der entfprechenden Welt der Erfcheinungen gedacht wurden, 
fei e3, daß man fie als erfahrungmäßige, durch willfürliche Annahmen ent— 
ftandene, doh nun fonjtant gewordene Abjtraktionen aus den Dingen der 
finnlichen Welt entwidelt betrachtete. So hat Descartes auf diefem Gebiete 
noch einen fait platonifchen Realismus gelehrt. So hat Hobbes noch ganz 
an der Meinung von der willfürlichen Feititellung der Begriffe feitgehalten. 
Allein darüber hinaus ging dann jhon Kant. Inden er die Zeit dadurd) 
in den Bereich diefer Betrachtungen mit einbezog, daß er die Zeitanſchauung 
durd ihre Verbindung mit der Kategorie der Quantität den reinen Begriff 
der Zahl vermittelnd dachte, verjuchte er, daS angeborene Bejigthum des 
Geiftes auf die reine Raum- und Zeitanfhauung zu befchränfen. Inner— 
halb diefer Auffafiung waren ihm die mathematiichen Begriffe dann an ſich 
Ergebniffe reiner Anfchauung, aber zur Evidenz gebracht doch erft durch die 
Gelegenheiturfachen der äußeren Objekte: fo daß die Anihauung de3 geomes 
teifchen Dreiecks, an ſich aprioriich, doch erit durch Anſchauung eines ſiunlich 
gegebenen Dreieds in uns hervortreten kann. 

Was bei Kant gegenüber früheren Theorien. gewonnen war, war die 
Auffafjung, dar die mathematischen Grundvorftellungen nicht als begrifflich 
im Sinne etwa von Descartes oder aucd Leibniz, jondern al3 anſchaulich 
zu verjtehen jeien. reilih war diefe Anfhauung nad Sant aprioriic. 
Aber die fpätere Zeit hat jehr bald auch diejen aprioriichen Charakter auf: 
gelöft. Auf Grund der Lehren Humes, unter gelegentlichen Zurüdgreifen bis 
auf Hobbe3, wurde der rein empirische Charakter der Anschauungen behauptet 
in der Art, daß man fie als aus den ſinnlichen Dingen abjtrahirte Hypo— 
thefen, nicht als Gewißheiten betrachtete. Und der Nachweis hierfür wurde auf 
unmittelbar anjchaulihem Wege verfucht, inden man ſich zu zeigen bejtrebte, 
wie im primitiven Bewußtſein durch gedachte Bewegungen eines Punktes, 
einer Linie, einer Ebene zunächſt die geometriichen Gebilde, auf Grund anderer 
Vorjtellungsgänge auch die Zahlenbegriffe als allgemein einleuchtende Hypo: 
thejen entjtanden feien. 

So erſchien denn der Charakter der Mathematif als einer abfoluten 
Wiſſenſchaft gründlich zerjtört. Und gleichzeitig begann auch ihre Auffafjung 
al3 einer beſonders ficheren, über die Logik hinaus abfoluten Methode dadurd 
befeitigt zu werden, dag man fie immer mehr der Logik felbjt einverleibte. 


70 Die Zuhmit. 


Die Entwidelung vollzog ſich hier jehr einfach von dem Momente her, daß 
die Geometrie und Arithmetif ſeit dem fechzehnten und jiebenzehnten Jahr- 
hundert in die eine allgemeine Mathematif der Größen verwandelt worden 
waren. Bon hierher war es leicht, falls die allgemeinen Borausjegungen 
dazır fonft Schon im Denken der Zeit enthalten waren, aus der intimjten Ber- 
ſchmelzung der Zahlen: und Ausdehnunglehre eine abjtrafte Mannichfaltig- 
feitlehre oder Lehre von den Formen hervorgehen zu lafien. Es gefhah im 
neunzehnten Jahrhundert, nachdem feit der verhältnigmärigen Vollendung der 
Analyis im achtzehnten Jahrhundert und im Folge der Jmpulfe der philo: 
fophifchen Studien über den Charakter des Raumes eine neue Blüthe der 
Geometrie eingetreten war: fo daß Analyiis und Geometrie, nun etwa auf 
gleicher Höhe der Entwidelung ftehend, ganz befonders wiederum zu einer 
weiteren Jutegration der ihmen zu Grunde liegenden Begriffe aufforderten. 
Indem aber, feit den vierziger Jahren etwa des neunzehnten Jahrhunderts, 
dieje abjtrafte Mannichfaltigfeitlchre durchgebildet ward, erfchien der Ueber: 
gang der mathematischen Wifjenfchaft in den formalen Theil der Logik vollzogen. 


Leipzig. Profeſſor Dr. Karl Lamprecht. 


— 


Dr. Miranda in Konſtantinopel. 


Ss)“ Sultan, Barend, ijt zweifellos der ärgjte aller Tyranıen. Berfuche 
J nicht, ihn zu vertheidigen. Wenn Du erfahren haben wirſt, wie er mid) 
verfannt und erniedrigt hat, wie er — Du magjt Did) darüber wundern, aber 
ich ſchwöre Dir, daß es die Wahrheit ift — ſich geweigert hat, mir die dreitaujend 
türkiſchen Pfund auszjuzahlen, die wir als Donorar vereinbart hatten, dann wirft 
Du ſicherlich meine Verachtung theilen. 

Es war im Jahr 18.., als mich die Hohe Pforte aufforderte, eine Woche 
vor den großen ‚Falten nad Yildiz-Kiosk zu fommen, um mich dort mit dem 
Peibarzt zu berathen. Ich hatte mich in Konftantinopel in dein europäiſchen 
Riertel als Arzt niedergelafjen, aber ich kümmerte mich wenig um meine Praxis, 
da ich es mir zur Aufgabe geftellt hatte, die Bunde zu jtudiren. Die Bunde 
find dort die großen Stadtreiniger; allen Schmutz und allen Abfall, der auf 
die Straße geworfen wird, jchlingen dieje Ihiere herunter; und ich beganıt nun, 
zu unterfuchen, wie es kam, daß fie nicht frank wurden durch Stoffe, die, in den 
menjchlidien Magen verpflanzt, unmittelbar tötlich wirken würden. Nach vielen 
Experimenten entdedte ic, daß nicht der Magen, jondern die Yeber und namentlich 
die größere Abicheidung der Galle bei den Hunden die Urſache Hiervon ift. Die 
Galle ijt ein antijeptiiches Miittel, die Gallenblaje der große inwendige Des» 
infeftion-Apparat in dem thieriichen Urganismus und nach meiner Erfahrung 


Dr. Miranda in Konjtantinopel. 71 


find die meiften Magenkrankheiten auf eine ſchlecht funktionirende Leber zurüd- 
zuführen. Die offizielle Wiffenjhaft erkennt Das nidt an. Das ijt ja auch 
nicht weiter wunderbar. Du verjtehft: wenn die Aerzte die Magenkrankheiten 
in ein paar Wochen durch eine rationelle Leberbehandlung furiren könnten, fo 
müßten jie auch ihre Liquidation entiprehend verringern; und Das kannjt Du 
mir glauben, mein lieber Barend: die gewöhnlichen Aerzte find faum etwas 
Befleres als Nezepthändler. Je mehr Die Einem anjchmieren fönnen und je 
theurer, dejto bejjer. Mein großes Werk über die Galle wirft Du in meinen 
Bapieren finden, wenn ih mich dem großen, jtillen Freunde Aeskulaps, dem 
Bruder Tod, anvertraut haben werde, und ich denke ſchon jeßt mit Freude an 
all die Kniffe, die der Verleger amvenden wird, um meinen Erben das Honorar 
zu kürzen. Barend, Dir ertheile ich den Auftrag, einen Verleger ausfindig zu 
machen, der jein Fach durch und durch verfteht. Welche erhabene Rache nehme 
ih dann an meinen Erben, indem ich fie einem Verleger ausliefere! Sie jollen 
wiffen, daß fie mid; Zeit meines Lebens verfannt haben all die lieben Nichten 
und Neffen! Sie follen von meinent Ruhm hören und = nicht den geringiten 
materiellen Bortheil daraus ziehen können. 

Alſo ich ging nach Yildiz Kiosk und wurde vom Sultan i ir perjönlicher Audienz 
empfangen. Der große Herr am Goldenen Horn hatte erfahren, mit wie leb— 
haftem Intereſſe ich das Treiben der Hunde beobachtete, und darauf den Wunſch 
geäußert, mit mir über den Gejundheitzuftand der Frauen feines Harems zu ſprechen. 
Drei feiner Favoritinnen waren an den Boden erkrankt, und obgleich es jeinem 
Leibarzt I Mahommed Gazan gelungen war, ihnen das Leben zu erhalten, waren 
die drei Frauen doch podennarbig geblieben. Wie jehr der Sultan aud) die 
Heilkunſt feines Leibarztes bewunderte: er wollte die drei Favoritinnen nicht 
mehr im Harem dulden und hatte fie deshalb an feinen erjten Minifter, feinen 
Staatsrath und feinen zweiten Schaßmeijter verheirathet. SI Mahommed Gazan, 
ber neue Bodenfälle und bejonders auch neue Verheirathungen fürchtete, da er 
jelbjt noch unverheirathet war, hatte dem Sultan von meinem großen Wiſſen ge- 
ſprochen. Das hatte mir die Ehre der Audienz verichafft. 

Ich ſchlug dem mächtigen Beherricher der Gläubigen vor, die ‚frauen in 
jeinem Harem impfen zu lafjen. Diefer Borjchlag leuchtete | Mahommed Gazan 
ein und der Sultan gab feine Zujtimmung. Bis jeßt hatte aber noch niemals 
ein Giaur, ein verächtlicher Franke, die Schwelle des Harems überjchritten und 
der Sultan wollte mir den Zutritt nur unter einer Bedingung gejtatten, die 
ih nicht zu erfüllen wünjchte. Ich beitand darauf, zu den Frauen gelafjen zu 
werden. Ich will es nur ehrlich gejtehen: meine Neugier trieb mich dazu, dieje 
außergewöhnliche Gelegenheit nicht unbenußt vorübergehen zu lajfen. Langwierige 
Unterhandlungen folgten. Die türkijche Diplomatie, die wegen ihres paljiven 
MWiderftandes berüchtigt ift, wandte alle Mittel an, die ihr zu Gebote ftanden, 
um mich zu bewegen, die Frauen zu impfen, ohne den Harem zu betreten. 
Anfangs wünſchte man, ich jolle einen der Eunuchen das impfen lehren, ihm 
die Lymphe verjchaffen und dann die Impfung überwachen. Ich antwortete, daß 
ich mic) als Arzt weder für die Folgen noch für die güntige Wirkung der Impfung 
verbürgen könne, wenn id) die Batientim nicht jelber jähe und unterſuchte. Darauf 
theilte man mir mit, die Frauen würden verjcjleiert und mastirt, jede unter 


72 Die Zukunft. 


der Aufjicht von zwei Eunuchen, eine nad) der anderen zu mir fommen, um im 
meinem Daufe geimpft zu werden. Den Frauen jollte bei Todesjtrafe verboten 
fein, vor, während oder nad) der Operation ein Wort zu jprechen. Ich weigerte 
mic abermals und betonte, daß ein Arzt, der feine Gelegenheit habe, ſich mit 
feinem Batienten zu unterhalten und ihm Fragen zu ſtellen, auch nicht berechtigt 
jei, irgend eine Verantwortlichkeit zu übernehmen. 

Endlih wurde mir die Erlaubniß ertheilt, Fragen zu ftellen; aber die 
rauen jollten verjchleiert bleiben. Ich antwortete höflich, aber beftimmt, daß 
ich ihre Zungen jehen müſſe, um mich von ihrem allgemeinen Gejundheitzuftand 
zu überzeugen und die Stärfe und die Quantität der Lymphe danach einzurichten. 

Die Zunge wurde gejtattet. Man würde in den Schleier eine Heine 
Oeffnung machen, durd die jie die Zunge jtreden könnten. Ich antivortete, 
Das genüge mir nicht; ich müſſe den Puls fühlen und, falls es ſich als nöthig 
erweije, die Patientin auch ausfultiren. Deshalb erbäte ich die Erlaubniß, die 
Patientin jich jo weit entkleiden zu laffen, wie es mit den Forderungen der 
Wiſſenſchaft, der ftrengen, ernften, heiligen Wiſſenſchaft, die nicht mit beſchränkten 
Begriffen von Sitten und Sittlichfeit rechnen könne, in Einklang zu bringen 
jet. Darauf wurden die Unterhandlungen abgebrochen. Aber nur jcheinbar. 
Ich kannte die türkiiche Diplomatie, that, als müſſe id) auf meinen Forderungen 
bejtehen, und fuhr fort, Dunde zu vivifeziren. 

Da befam ich, nach Ablauf von zwei Monaten, den Beſuch des Groß- 
vezierd, der mir hundert türkiſche Pfund bot, falls id die Unterhandlumgen 
wieder aufnehmen wolle. Entrüſtet jchiete ich den Mann fort, nachdem ich ihm 
mitgetheilt hatte, dai wir curopäifhen Aerzte zu hoch ftänden, um uns auf 
„Bakſchiſch“ einzulaffen. Acht Tage darauf kam der erfte Schatzmeifter zu mir 
und bot mir dreihundert türfiiche Pfund, falls ich mid) zu der Impfung ent- 
ihlicßen wolle. Auch diejen Großwürdenträger ſetzte id) an die Yuft, — mo 
er jeinen Bakſchiſchantrag noch auf fünfhundert Pfund erhöhte. ch wunderte 
mic) nicht über dieje Freigebigkeit, da id) wußte, daß es einem türkiſchen Schatz— 
meijter auf ein paar hundert Pfund mehr oder weniger nicht ankommt; er ftedt 
feine Hände eben ein Bischen tiefer in die Tafchen der Steuerpflichtigen. Aber 
Ihon am nächjten Tage erjchienen drei andere Großwürdenträger bei mir, der 
Neis Effendi, der SKiafa Bey und der Terſom Emini, die mir Bakſchiſch an- 
boten, wenn ich nur impfen wolle. 

Bis jegt hatten fie mir Alle bei dem Barte des Propheten geichworen, fie 
fämen aus eigener Initiative; doch der Bart des Propheten ijt lang und ftarf 
und bei dem erjten Dteineid eines Gläubigen fällt ihm noch fein Haar aus. Ich 
vermuthete, der große Padiſchah Habe feinen ganzen Divan beauftragt, mir einmal 
tüchtig auf den Zahn zu fühlen. Dann, nad) drei Monaten, befam ich den Bejud 
von Il Mahommed Gazan jelbjt und der würdige Gelehrte jagte mir, warum all 
die hohen türkiſchen Autoritäten fih um ein jo verächtliches Wejen, wie ein 
fränkiſcher Arzt es ift, jo eifrig bemüht hatten. Die Poden waren wieder im 
Harem ausgebrochen. Il Mahommed Gazan hatte die Patientinnen geheilt, aber fie 
waren podennarbig geblieben und wiederum hatte der Sultan fie an jeine Staats: 
beamten verheirathet. Die aber waren von der hohen Ehre nur halb entzüdt. 
Eine Schönheit aus dem Harem des Großherrn war ihnen in normalen Zeiten 


ch an 4 - . ! 


Dr. Miranda in Konftantinoper. 73 


höchſt willkommen; jegt aber ſchien cs fait, als jollten alle erjten Staatsbeaniten 
mit einer blatternarbigen bejjeren Hälfte beglüdt werden. Die Beſuche dar Be» 
jtecher waren die leßten Verſuche VBerzweifelnder gewejen, die der bedenflichen 
Ehre, Gatte einer blatternarbigen Sultan-Favoritin zu werden, gern entachen 
wollten. Jetzt würde Il Mahommed Sazan jelbjt an die Keihe kommen. Er 
hatte den furdtbaren Augenblid jo lange wie möglich hinausgeſchoben, denn in 
dem Neich des Bosporus weiß man nichts von platoniicher Philoſophie und der 
Sultan verlangt, daß man durd eine große Nachkommenſchaft beweiſe, wie un— 
gemein man die hohe Ehre jchäße, eine Frau zu befißen, die er einjt in Gnaden 
auserkor. Il Mahommed Gazan, der rathlos war, hatte jchon jechs an den Poden 
erfranfte Haremsfrauen, die, falls fie geheilt würden, ihm. als Gattin zugewieſen 
werden jollten, dem großen jtummen Freund aller Aerzte als ewige Braut ge- 
ſchenkt; jo aber ging es nicht weiter. Man ijt nämlich im Reich des Halb: 
mondes praftifcher als in dem angeblich praktiijhen Abendlande. Für jeden 
Patienten, der unter den Händen des Yeibarztes bleibt, wird ihm ein Theil 
feines jährlichen Gehaltes abgezogen; und wenn in einem „Jahr fieben Patienten 
jterben, verliert der Arzt feine Stellung und ihm wird verboten, fünftig über- 
haupt noch zu praftiziren. Es wäre im Intereſſe des YUllgemeinwohles zu 
wünſchen, daß dieje nüßgliche Einrichtung aud in Guropa Eingang fände. Der 
Leibarzt fiel mir zu Füßen und flehte mid) an, id) möge doch nadgiebig fein 
und ihm helfen. Als äußerſte Konzeſſion würde der Sultan mir die Erlaubnif 
gewähren, die Operationen in.den Räumen des Darems zu vollzichen. Die rauen 
würden hinter einem Vorhang ftehen und mir ihre Arme, Beine und was id) 
jonjt noch zu jehen für nötig eradhtete, durd) eigens dazu angebrachte Oeffnungen 
zeigen. Der Arzt folle meine Fragen und ihre Antworten übermitteln und mid) 
über den Allgemeinzuftand der Batientinnen unterrichten. 

‚Und wenn id) mich weigere?* 

Der türkiſche Arzt jeufzte tief und jagte dann: ‚Nur eine rau ift noch 
übrig, die ich zu behandeln habe; wenn ich troß allen Hilfsmitteln meiner. 
Wiſſenſchaft aud) Dieje der graufamen Umarmung des Todes nicht zu entreigen 
vermag, aljo auch nicht der hohen Ehre theilhaftig werden kann, fie zu um— 
armen, die cinjt die Ehre hatte, vom Sultan mit Wohlgefallen angejhaut zu 
werden, dann werde ich ſchmählich weggejagt und die erſte geheilte Pockenkranke 
der neuen Siebenzahl wird meinem Nachfolger als Gattin zugewiejen. Und 
ih fürchte ſehr, daß es mir nicht glücken wird, die ficbente Patientin zu heilen.“ 

Hier ftand aljo das Leben einer Frau auf dem Spiel. Ich habe, troß 
meinem Beruf, wie jeltiam es Dir aud) erjcheinen mag, mir eine große Ehrfurdt 
vor dem menſchlichen Yeben bewahrt und glaube, daß meine Kollegen mir gerade 
deshalb immer einen Stein in den Weg gelegt und mic gejchmäht haben. Hier 
galt es, ein Menjchenleben zu retten, — und jo gab ic) denn nad). 

Wiederum arbeitete ich einen Bericht an den Sultan aus und erhielt 
darauf die Erlaubniß, unter den Bedingungen, die II Mahommed Gazan mir 
mitgetheilt hatte, die rauen im Harem zu impfen. Am feſtgeſetzten Tage er 
ſchien ich in Yildiz Kiosk, wurde nach den Daremispaläften und dort in einen 
Raum geführt, wo ein großer Teppich hing, der mit Löchern der verjchiedeniten 
Größe verjehen war. Die erjte Frau ſteckte ihre Zunge durd eins der Heinjten 


4 Die Zukunft. 


Löcher. Es war eine große, ſchwarze, dide Zunge und ich empfand nicht die 
geringjte Neigung, noch mehr von einer Frau zu jehen, die eine ſolche Zunge 
hatte. Durch das jelbe Loch zeigte fie mir einen Kleinen Theil des Armes; ich 
ſtach mit meiner Yancette die nöthige Anzahl Löcher hinein und impfte dann. 
Die zweite Frauenzunge und der zweite Frauenarm waren nicht weniger häßlich. 
Bei der dritten Frau wünſchte ich, einen Theil der Hüfte zu jchen. Bor einem 
der größeren Löcher wurde ein kleiner Theil der Hüfte gezeigt, einer jehr plumpen 
Hüfte; ich lernte die Berzweiflung der unverheiratheten Staatsbeamten all» 
mählich begreifen. So häßliche, ungraziöfe Weiber, — und noch podennarbig 
dazu: die Ehre einer ſolchen Verbindung ward wirklich gar zu theuer bezahlt. 

So wurden mir zwölf Frauen gezeigt; richtiger: zwölf Zungen, zwölf 
feine Theile des Oberarms oder der Schulter oder der Hüfte. II Mahommed 
Gazan wandte den Blid nicht von mir. Er verfolgte alle meine Bewegungen; 
und als ich jpäter heimfam, bemerkte ih, daß man mir vier mit Qymphe ge 
füllte Glasröhren entwendet hatte. 

Am nächſten Morgen theilte mir N Mahommed Gazan mit, daß meine 
Dilfe nicht mehr verlangt werde, da er Fünftig die erforderlihen Operationen 
felbft vornehmen werde. Der Schurke hatte mir die Handgriffe abgejehen und 
meine Lymphe gejtohlen. Sofort eilte id) zum Sultan und bejchwerte mid. 

‚Hm‘, fagte der Sultan; ‚glaubjt Du denn, daß Du mit Deinen Augen, 
den Augen eines fittenlojfen Franken, jemals meine rauen anfehen durftejt? 
Deine Blide würden fie entweihen.‘ 

‚Srofmächtiger Herr', antwortete ich, zich habe doch ſchon mehr von 
ihnen geſehen als jemals ein Franke vor mir.‘ 

‚Du ierft! Du haft hinter den Deffnungen des Teppich nicht meine 
rauen gejehen, nicht einmal ein Atom ihrer Schönen weißen Leiber. Hinter dem 
Teppich ftanden meine Eunuchen. Du haft ihre Zungen gefehen, in ihre Hüften, 
Arme, Schultern geſtochen . . . Und jest gehe hin, verlafje diefe Stadt binnen 
des Etmals oder der neue Mond wird Did) jehen, wie Du Did) felbjt noch nie 
gefehen haft: ohne Kopf. Du verdientejt eine harte Strafe, Unwiſſender Du, 
der eine Männerzunge nicht von einer Frauenzunge zu unterjcheiden vermag. So 
hat doc; endlich eine Frauenzunge etwas Gutes bewirkt, — freilid nur, weil jie 
eben nicht da war: fie hat Deine Unwiſſenheit offenbart. Aus meinen Augen, 
der Du glaubt, ein Sultan könne Frauen lieben mit Zungen, Armen, Schultern 
. und Hüften, wie die find, die Du geimpft haft!“ 

Das ift der Grund, Barend, warum ich Konjtantinopel verlaffen mußte. 
Wahrlich: die türfifche Diplomatie ijt durchtrieben; denn glaube mir, die eigent- 
liche Urjadhe, warum der Sultan mid fortjagte, war nicht meine geringe Meinung 
von jeinem Geſchmack im Punkte der Liebe, — nein: da er mich jo jchmählich 
aus jeinem Neid) trieb, Eonnte er viertaufend Pfund Donorar in der Tajche be- 
halten. Nicht bezahlen, was man jchuldig it: Das, mein junger Freund, ijt 
im Grumde der Endzweck aller Diplomatie...“ 

An jenem Abend ſprachen wir nicht mehr viel, jondern leerten nur ſchweigend 
unfere Gläjer, er, der große Verkannte, und ich, der große VBertraute, 


Paris. Bernard Canter. 


[> 





Der Krach des Kunftgewerbes. 75 


Der Krach des Runftgewerbes. 


it harten und ehrlichen Worten fol eine Angelegenheit deuticher Kultur 
bier angefaßt werden, die von der allergrößten Bedeutung für die Ent« 
widelung unjerer Lebensformen ift: die Zukunft des deutichen Kunſtgewerbes. 
Allzu lange haben id) die Kritifer begnügt, Ausjtellungen und den Darbietungen 
einzelner Stünjtler gegenüber ihre Stimmungen jpielen zu lajjen, Agitatoren 
eines neuen Stils zu fein, Propheten, die um der Zukunft willen die Gegen» 
wart vergefjen. Nun hat ſich ein Schickſal erfüllt, das zwingt, die vagen For— 
men de3 Wejthetifirens zu verlajjen und fi, auf die Gefahr, dem Einen oder 
dem Anderen ein flüchtiges Unrecht zu thun, mit den unerhörten Schäden 
der neuen Bewegung zu befaſſen. Denn nur jo jcheint es möglidh, den 
großen Banferott der deutjchen deforativen Hunt, der in einigen Jahren nicht 
mehr zu verhüten wäre, abzuwehren. Daß unfere neuen Lebensformen einen 
neuen Rahmen brauchen, daß wir die hiftoriihen Masteraden unierer Woh- 
nungen nit mehr ertragen können, daß die Errungenjchaften der Maler: 
revolutionen in den legten Jahren aud im Dausgewerbe wirtjam, daß nad) 
japanijhem Vorbilde die Gegenjtände täglichen Gebrauches von Kunſt durd)- 
jest werden müfjen, daß es feine Kluft mehr zwijchen Kunſt und Yeben geben 
darf: das Alles hat Jeder von uns umendlic oft gejagt. Schon ijt man vers 
jucht, fi wieder auf den ariftofratifhen Charakter der Kunſt zu befinnen und, 
wie ed ja aud) in England gefchieht, mit’einiger Geringſchätzung auf Nustins 
Ideen von einer Beredlung des ganzen Lebens, des ganzen Volkes herabzujehen. 
Es ift betrübend: nun, da aus dem großen Gelächter, das die herrichenden 
Künftler dem neuen Kunſthandwerk noch vor einigen Jahren entgegengejcht 
haben, nur eine große Mode geworden ijt, da der neue Stil, l’art nouveau, 
new style, Sezejfion oder wie man das Ding beim faljchen Namen nennen 
nennen will, „in den allerweitejten Streifen“ ſich durchgejett hat, — nun jind 
wir glüdlid jo weit, daß die Beſten des Volkes, die Bejten der Künjtlerichaft 
ih von dem Unfug zurüdzuziehen beginnen, den Snobs, der Mode das Feld 
überlafjen; und in wenigen Jahren werden die grünen Möbel, die hellfarbigen 
Stoffe, die neuen Metallgeräthe in den Winkeln der Namjchbazare ftehen. 
Geht man heute durch die Yäden, die ji) mit dem neuen Gewerbe be» 
faffen, jo friftallifirt fi bald aus dem eriten Eindruc einer überwältigenden 
Hülle die Erfenntniß heraus, daß unter all den Schönen Dingen nichts Deutſches 
ift. Ich weiß: ſolche Verallgemeinerung ist ungerecht. Ich weiß, dal; Männer wie 
Dtto Eckmann, Hermann Obrift, Berlepſch, Pankok und Niemerichmied nicht ein— 
mal die Einzigen find, mit denen man zu rechnen hätte. Aber ich weil; aud), daß 
die Werfe diejer Männer im Betriebe nichts bedeuten gegen die Unmenge aus- 
gezeichneter franzöfiicher, englijcher, amerikanischer und öjterreichiicher Objekte 
und gegen den ungeheuerlichen Kram deuticher Ramſchwaare, imitirten und ge— 
jtohlenen Zeugs, das die minder Bemittelten als ‚neue Kunſt“ kaufen Die 
Dinge liegen heute jo, daß dem Bedürfniß des Publikums, jih mit Objekten, 
die aus der neuen Bewegung hervorgegangen find, zu umgeben, eine ſtarke Zahl 
von Künftlern entjpricht, daß eine Luſt am Neuen und, ſchätzt man nad) manchen 
Anfängerarbeiten und dem Andrang zu den Gewerbeſchulen, auch eine pro 
duktive Zeit für keimende Talente gefommen iſt; und dennod) der Zuſammenbruch. 


76 Die Zukunft. 


‚sch Ipreche hier namentlich von Berlin. In anderen Ländern und Städten 
find die Entwidelungen langjam vor fid) gegangen. Die amerifanijche Betrieb— 
ſamkeit der großen Stadt hat viel verjchlechtert; fie hat aber auch das Gute, 
daß man mit flaren Mugen die Gefahren der Entwidelung vorausjchen kann. 
Bor einigen Wochen hat ein flinfer münchener Journaliſt ein Bud über Münden 
als Kunſtſtadt von den verichiedensten Berufenen und Unberufenen zufammene 
interviewt und jich darüber Belchrung zu ſchaffen bemüht, ob denn Berlin num 
wirklich näcdjtens den Nang Münchens einnehmen werde. Aus den verjiedenen, 
mehr oder weniger unehrlichen Antworten jcheint mir nun das Eine herauszu— 
fingen: es ijt unleugbar, daß Berlin eine Gentrale des Berfaufes und aljo des 
Verkehres wird. Das darf man nicht unterjhägen. Die Vereinigten Werf- 
ftätten in München, die bei allen Fehlern der Organijation und bei aller Aermlich— 
feit und Einjeitigfeit mancher ihrer Bemühungen dennod) ern gutes Niveau halten 
fonnten und vor Allem einem Künftler wie Hermann Obrift eine — wenn 
auch beſchränkte — Scaffensiphäre gaben, find doch jchon dadurd) an einer 
weiten Wirkſamkeit gehindert, daß gar fein Kaufbedürfni vorliegt, daß einer 
Produktion von anjtändigem Nang ein lächerlich geringer Verbraud) gegenüber 
fteht. In Berlin liegen die Dinge jetzt noch anders. Nod leben wir in der 
Zeit, da die Nahmenmacher und Blumengeichäfte mühlame Modernität zur Schau 
tragen und die Kaufhäuſer von Seller & Reiner und Dirichwald mit riefigen 
Umſätzen arbeiten. Fragt man aber nad den Erzeugern der Waare, die da 
verſchleißt wird, jo fehlen die Berliner. Niemand bemüht ſich um fie; die wenigen 
guten Leute, die da find, befommen keine Aufträge und der vielgerühmte deutjche 
Patriotismus drüdt ſich höchitens darin aus, daft; man das Fremde beidhimpft, 
während im Yande jelbjt nichts gejchaffen wird. 

Sieht man nun aber davon ab, daß in Berlin jelbjt wenig — jeit Eckmann 
ſchwer darniederliegt, fait gar nichts — geleiftet wird, fchiebt man überhaupt 
für einen Augenblid die ganze Frage des Urjprungs bei Seite und befümmert 
ſich nur um den abjoluten Werth Deſſen, was in Berlin gefauft wird, fo faltet 
man traurig die Hände. Ich fürchte, Alle, die jeit Jahren im Kampf um die 
neue Kunjt jtanden, werden die Zeit noch erleben, da die Geichmadvollften ſich 
wiederum italienische Nenaifjancezimmer nad) hiſtoriſchen Vorbildern getreu fopiren 
lajjen werden, weil es unmöglich wird, ohne den ftärkiten Aufwand von eigener 
Zeit und Straft ein anftändiges Stüd neuen Kunſthandwerkes zu erlangen. Eine 
erichredende Armjäligkeit der Formen und Motive beginnt einzureißen. Jede 
Linie wird totgeheßt, jedes Ornament, das aus dem Charakter der tertilen Kunft, 
um ein Beijpiel zu nennen, herausgewachſen ift und da feinen Werth hat, wird 
von plumpen Händen aufgegriffen, äußerlich als Ornament Erzeugnijjen fremder 
Techniken aufgeklebt, — umd jo geht das Werthoollite an der ganzen neuen Kunft 
allmählich, verloren: die Ehrlichkeit. Zählt man dann aber zufammen, was in 
Europa und Amerika in den letzten Jahren geleijtet worden ift, fo fommt man 
zu dem Ergebniß, es jei ungemein viel. ragt man im Bejonderen nad) der 
Entwickelungfähigkeit, jo jcheint eine reiche Möglichkeit gegeben. Doch foricht 
man in ji) nach den Hoffnungen, die, wird cs nicht anders, in Deutjchland für 
den neuen Stil vorhanden find, jo wird man recht traurig. 

Hier künnte man mir einen Widerfpruch vorwerfen; die Leute vom Fach 


Der Krach des Kunſtgewerbes. e ii 


fogar einen doppelten. Ste werden jagen: das Alles find’ ja nur die Ergebnijle 
einer mangelnden Kraft, die Kampfzeit zu überjtchen, einer Unficherheit. AU 
dieſe Schredinijfe gab es in jeder Zeit neuer Stilbildung. Und mit einem Yächeln 
über den Thoren, der jo pejfimijtiiche Töne anjchlägt, werden fie mir entgegen» 
halten, daß ich ſelbſt jehr oft in den vergangenen jahren von der fünftlerifchen 
Kraft diejes oder jenes Menjchen geſprochen habe und daß ich aud zu Denen 
gehöre, die immer wieder den neuen Stil propagiren. Der Schein des Wider: 
ſpruches ift jchnell bejeitigt. Die Künjtler unterjchägen die Wichtigkeit ökonomischer 
Fragen. So lange es galt, Forderungen zur allgemeinen Kenntniß zu bringen, 
Borurtheile zu zerftören, konnte der Kritiker jeden Anja freudig begrüßen und 
über Abweichungen vom Wege mit leijen Worten binweggehen, da ja das cerite 
Ziel war: die Örundzüge der neuen Art zur Geltung zu bringen. Das ift nun 
geichehen. Jetzt aber bedrängen uns neue Sorgen. 

Es war von Anfang an ein Irrthum einiger Künftler, zu meinen, daß 
man einen neuen Stil aus einer Erkenntniß des Intellektes, aus einer künſt— 
leriihen Sehnſucht heraus mit Bewußtjein Schaffen könne. Ein Stil bildet 
ſich: aus taujend Darbietungen, aus hunderttaujend Emanationen der künſtleriſchen 
Kräfte einer Zeit bleiben die jtärkjten bejtchen, werden die fräftigiten in den 
alten Formenſchatz einverleibt, jegen ſich durch. Was das Weſen eines Volkes 
in einer bejtimmten Zeit am Klarſten ausdrüdt, Das gilt als der Stil diejer 
Beit und herrſcht dann weit über dieje hinaus durch feine fünjtleriichen Potenzen. 
Deshalb find die franzöfiihen Stile jo lange auch in anderen Yändern herrichend 
geblieben. Richtig hatte man erfannt, es jei widerjinnig, ein Yeben von eleftriicher 
Behendigkeit und moderner Nervojität in einem Zimmer zu verbringen, dejjen 
Luft der Hauch vergangener Jahrhunderte ummwitterte. Das wußte Goethe jchon, 
als er zu Edermann jagte, daß die Mummereien ſolcher archaifirenden Wohnungen 
von der verderblichiten Wirkung jeien; denn da fi der Menſch an eine faljche 
Umgebung gewöhnt, neigt er auch dazu, jeinem Charakter Masteraden zu ge- 
ftatten. So war es fiherlid) gut, daß wir am Ende des neunzehnten Jahr— 
hunderts jagen durften: Jedes Yand muß feinen Stil haben, jede Generation 
ihren bejonderen Fünftleriichen Ausdrud, das Yeben jedes Standes jeine Räume 
und jeder eigene Menſch fein eigenes Interieur, das fein Wefen, feine Stimmung, 
jeine Bejchäftigung eben verlangt. Und zu diejer Forderung kam eine zweite: 
der Anſpruch auf Ehrlichkeit des Kunjthandwerfes. Der Bau eines Geräthes 
follte fichtbar, fein Material mehr verfäljcht werden, auch im Detail jollte nichts 
Unehrliches mehr den Menjchen umgeben. So entjtand die Schönheit der Werkform; 
und Künſtler, deren Wejen ſonſt den größten Gegenſatz bildeten, idealiftiiche 
Engländer und jchwärmende Franzoſen, reichten dem fanatiichen Belgier Ban de 
Belde die Hand. Die Entdefung der Farbe war das dritte Element der Frucht: 
barkeit. Wir wagten, eine Volkskunſt zu fordern. Wir wollen fie nod) heute. 
Bücher über die Nenaiffance unferer Zeit wurden gejchrieben; vage Brophezeiungen 
ohne das leijejte Fragezeichen. Von Zeit zu Zeit ſieht man die Abbildungen 
vortrefflicher Wohnräume von dem und jenem Architekten und Maler für einen 
anderen Architekten und Maler oder einen Millionär angefertigt. Eine populäre 
Kunjt aber giebt es nicht. Uber ſelbſt wenn man die nur allzu berechtigte 


78 Die Zukunft. 


Forderung nad einem Stil für den Arbeiter und den Fleinen Mann einen Augen 
blick lang vergißt und nur fragt, ob wir denn auf dem Wege find, ein neues 
Kunfthandwerk für den Bürgerftand zu befommen, jo fällt die Antwort ver: 
neinend aus. Man gehe nur einmal in die Gejchäfte, die in Berlin moderne 
Möbel ausitellen, und frage nach den Preifen. Man erfundige fi) bei irgend 
einem Menjchen mittleren Vermögens nad) den Erfahrungen, die er gemacht hat, 
als er ein modernes Zimmer haben wollte, Ungeheure Preije wurden ihm abver- 
langt; und ſchließlich Hat er beim guten Fyabrifanten ein Kompromißzimmer beitellt. 

Das Wejentlichjte an der ganzen neuen Bewegung war, daß aus billigem 
Material durch füntleriihe Linien und Formen, durd) lichte Farben Gutes ge 
ichaffen werden jollte. Die beiten Werfe diejer neuen Bewegung zeichnen fich 
dadurd aus, daß fie einfach und fpottbillig herzuftellen find. Die neue Bau— 
form hat in vielen Fällen die Kiftentifchlerei zum Worbild genommen. Man 
arbeitet nicht mehr mit jchweren Füllungen, fondern mit leichten Wänden; bie 
neue fonftruftive Technik hat nit nur grazidfe Linien gebracht, jondern aud 
die Möglichkeit, der Berſchwendung des Materiald ein Ende zu maden. Und 
bier fing die Unehrlichkeit an. Dieje mit den billigiten Mitteln herzu— 
ſtellenden Objekte wurden künſtlich vertheuert. Die dünnen Seffel kofteten mehr 
als die jchweren Renaiflance-Stühle, die leichten Papiertapeten, in unferer Zeit 
des vervollkommneten Farbendruckes um ein paar Pfennige berzuftellen, wett— 
eiferten im Preis mit den jchwerjten Erzeugnifjen der Nenaiffance. Die Folge 
blieb nidyt aus. Die Händler ſelbſt, von der Unficherheit der Preije, die der 
Erzeuger forderte, beirrt und verleitet, nannten ihren Kunden wieder Märchen. 
preife. Das Bublitum verlor volljtändig die Schäßung, wußte nicht mehr, ob 
es übervortheilt jei oder nicht, und kam jchlieglid — man kann es ihm nicht 
verübeln — auf den Verdadt: Das Alles jei Spielerei, ein Luxus, nichts, 
was wirklich mit der Gejtaltung unjeres Yebens zu thun hat. 

Ich will die Schuld nicht den einzelnen Fabrifanten und Händlern zu— 
jchreiben, troßdem die Meiften von ihnen jchlimm gefündigt haben. Die un- 
folide Breisbildung ift nidt nur die Folge maßloſer Gewinngier, fondern aud) 
einer thörichten Art, zu produziren und Gejchäfte zu machen. Die wichtigsten Grund— 
jäge des modernen Kunfthandwerfes wurden mißverjtanden und mißbraudt. Die 
Maſchine wurde veradhtet; und gerade fie follte doch dem neuen Stil den Gieg 
erobern. Zu allen Zeiten gab es eine Amateurleidenichaft, die die pi&ce unique, 
den nur in einem Eremplar vorhandenen Gegenftand, bejonders hoch ſchätzte. 
Solde Schäßung eines Kunjtgegenjtandes, an dem noch die Hand des Meiſters 
fichtbar Scheint, ift durchaus berechtigt. Es hatte jeinen guten Sinn, wenn man 
einem Glas Tiffanys oder Gallés nahrühmte, Fein zweites habe die jelbe Form. 
Denn damit war gejagt: nur durd eine bejondere Werbindung von Kunſtfertig— 
feit und Zufall entjteht ein beſonderer Gegenſtand. Es iſt auch nicht unver- 
nünftig, wenn Einer jagt: Ich mill nicht, daß meine Einridtung in einem 
zweiten Exemplar angefertigt wird und irgend einem anderen Menſchen dient; 
denn mein Zimmer ift ein jo getreuer Ausdrud meines Wejens, daß es einem 
Anderen gar nicht dienen kann, daß es für ihn cben jo jehr Mummenſchanz und 
Maskerade ift wie für unfere Zeit im Allgemeinen der Rokokoſtil. Eine Thor 
heit aber ift es, diejes Prinzip aus Geſchäftsgründen, um die Preife zu fteigern, 


Der Krach des Kunſtgewerbes. 9 


nun auf jeden Gegenſtand anzumenden. Wenn es von einer Bronze, die nach 
einem fertigen Modell gegojien und fat immer von fremder Hand cijelirt wird, 
heißt, fie müfje mehr koften, denn fie jolle nur im zehn Eremplaren vorhanden 
jein, jo wird die Unwiſſenheit des Käufers mißbraucht und nicht Kunſtgeſchmack, 
ſondern Proßerei gezüchtet. Aber jeder Händler verfichert, er müfje, wenn zwei 
oder drei Stüde verfauft find, ein neues Modell haben; und jo wird der Preis, 
da ja die Herftellung des Objektes ſehr theuer ift, unfinnig hoch. Und eine 
zweite Folge ergiebt jich fofort. Der Erfinder ift nicht reidy genug, um immer 
Neues produziren zu fönnen. So wird ein Motiv unzählige Male verwerthet; 
geringe Varianten werden gemacht, die Koſten zwar erhöht, das Ergebniß aber 
nicht verbejlert und ftatt einer guten Form beherrichen den Markt zehn jchlechte. 
Das iſt der Nachtheil für das Publitum; auch für den Künftler bleibt er nicht 
aus. Der Fabrikant fommt allmählich zu der AUnficht, daß es mit der Phan— 
tajie und den Einfällen der Künſtler nicht jo weit her ijt; er läßt ſich, mit der 
eigenthümlichen Gefchäftsmoral, die wir troß Patenten und Mufterfchug noch 
immer haben, von irgend einem Kleinen Zeichner jeine Borlagen und Modelle 
rubig weiter variiren und entwöhnt ſich nad) und nad, ein Original zu bezahlen. 
Er hält den Studio oder eine deutjche Kunftzeitichrift und fopirt nun Engliſches 
oder Dejterreichiiches, wie er früher Nenaifjance, Barod und Empire aus den 
Borlagebüchern abpaufen lieh. So werden die Preije, die man dem Künſtler 
zahlt, immer geringer; jchlieglich ift gar fein Verhältniß mehr zwiſchen dem 
Preis des Objektes und dem Werth des Entwurfes. Die jungen Künftler werden 
jämmerlich bezahlt, gerathen allmählich entweder als Fabrikzeichner ins Kitjchen 
oder wenden ſich von dem jchlecht lohnenden Kunſthandwerk ab. Die Welteren 
helfen jih auf andere Weije. Da ein Architekt nicht darauf rechnen kann, jeinen 
Entwurf mehr als einmal ausgeführt und bezahlt zu jehen, diejfer Entwurf troß- 
dem aber ſehr oft benußt wird, jo fordert der Künſtler gleich für die erſte Skizze 
jo viel, daß dur das Arditektenhonorar das Original zu eimem Kaufpreis 
fommt, der weder dem Materialwerth noch dem Kunftwerth entipridht. Dicje 
Behauptung wäre leih zu erweifen. Die Künſtler jpüren auch jchon die 
Wirkung; fie find auf eine Eleine Käufergruppe angewiejen. Nicht Kunft fürs 
Volk, jondern höchſtens Kunft für Millionäre. Und diejes Ergebniß tft tragi- 
komiſch. Denn für jo reiche Yeute ijt noch heute die italieniiche Renaiſſance 
oder einer der franzöſiſchen PBrunkitile ein eben jo paflender Ausdrud ihres 
Wejens und Rahmen ihres Lebens wie manche Neuheit eines Architekten, der 
fih nur mühjam in ſolche Sphäre hineinverjegen kann, da er von den Komfort« 
anfprüchen dieſer Menjchen nur wenig weiß. So entwidelt ji der Stil der 
Parvenus. Dazu aber brauchten wir wirklich feine Revolution. 

Wie fieht es in Berlin aus? Ich habe feine Neigung, einen Rampfzug 
gegen die Händler Keller & Reiner und das Hohenzollern-Kaufhaus von Dirich« 
wald zu führen. Erſtens babe ich gegen den Großbetrich gar nichts und zweitens 
ſcheint es mir immer unklug, von einem Geſchäftsmann zu verlangen, er jolle 
die Kunst fördern. Er will natürlich Geld verdienen; mit Nunfelrüben oder 
mit ſezeſſioniſtiſcher Ramſchwaare. Doch die beiden genannten Firmen beherrichen 
den berliner Kunſtgewerbemarkt; und da ihr Einfluß mir höchſt ſchädlich jcheint, 
fo überwinde ich den Widerwillen, in fremde Geichäfte hineinzureden. Die Herren 


6 


80 Die Zukunft. 


ftellen aus, laden Sritifer zur Befichtigung und dürfen deshalb nicht Elagen, 
wenn jie rückſichtlos Eritijirt werden. Sie find Zwijchenhändler; nicht mehr von 
der guten alten Art der Kunſthändler, die kauften und verkauften, auch nicht 
nad) dem Mufter des Parijers Bing, der mit jeinem Haufe L’art Nouveau 
fi) ganz in den Dienft der neuen Bewegung ftellte, — nein: fie find Kom— 
milfionäre. Was irgendwo geſchaffen, von irgend einem Nezenjenten beſprochen 
wird, Das wird als Fracht- oder Eilgut in die Potsdamer» oder Yeipzigerftraße 
geliefert, da — nad) mir umbefannten Methoden — mit irgend einem Preis ver- 
fehen und wartet nun des Käufers, den die Mode treibt, die ganz imaginären 
Kosten ſolchen Zwilchenhandels zu zahlen. Kommt diejer Käufer nicht, jo wird, 
wem der Erzeuger nod ein Anfänger ift, es jich aljo gefallen laſſen muß, der 
Gegenftand, nachdem er Monate lang herum gejtanden und allen Reiz der Neuheit 
verloren bat, einfach zurüdgejchiet; it die Waare nit in Kommiſſion genom- 
men, jondern fejt getauft, dann freilich muß man nod weiter warten. Vielleicht 
bilfts, wenn man ben ‘Preis abermals erhöht und es mit dem Syſtem des Ter- 
torifirens verfucht; in einer Großſtadt giebt es immer Leute, die faufen, weil 
fie fürchten, für \dioten gehalten zu werden, jobald fie zeigen, daß ein fehr 
theurer, ſehr moderner Gegenjtand ihnen nicht gefällt. Ich habe erlebt, daß 
ber jelbe Gegenjtand bei Steller & Reiner jechs, bei Hirſchwald fünf — oder um— 
gekehrt — und bei Wertheim nur vier Mark koſtete. Ich habe unfinnig theure 
Bronzen gejchen, für die dem Erzeuger recht beſcheidene Summen gezahlt waren. 
Bei Keller & Neiner wurden 250 Mark für eine wiener Bronze gefordert, die 
in vielen Exemplaren bergejtellt wird und beim wiener Detailhändler, der ja 
auch jchon feine Koſten deden und verdienen will, für 200 Dark zu haben war; 
dem Künjtler jelbjt wurden für das fertige Exemplar fnapp hundert Mark be- 
zahlt. Mit den Möbeln ijts nicht anders. Immer wieder die Einbildung, 
glei das erjte Exemplar müſſe Auslagen und Verdienſt hereinbringen. Der 
Einwand: Wir verkaufen eben nicht mehr als cin Gremplar, beweilt rein gar 
nichts; denn man verkauft eben nicht mehr, weil die Preije zu hoch find. Das 
Alles iſt nicht perſönliches Berjchulden der Händler, fondern Ergebniß ungefunder 
Verhältniſſe. Wenn wir heute fein berliner Kunftgewerbe haben, jo liegt es 
nicht daran, daß die Fähigkeiten fehlen, jondern daran, dat die Möglichkeit zur 
Ausführung und zum Vertriebe nicht gegeben ift. 

Dod ich wollte feinen Grabgejang anftimmen. Noch jcheint Hilfe mir 
möglich; aber nur nah Ausichaltung des Zwijchenhandels. Die Schäßung der 
piece unique foll bleiben, doc da nur, wo ſie am Plaß iſt. Bor allen Dingen 
ift zu bedenfen, dat es ſich nicht darum handelt, einen Stil für die Wohnungen 
der reichjten Leute zu finden. Wenn die dekorative Kunſt auf unfer Leben einen 
beilfjamen Einfluß gewinnen joll, müſſen gute Gegenftände billig hergeſtellt 
werden. Noch giebt es feine Kaffeetaſſe und Kein Meier, kein Tiſchtuch und 
keinen Seffel neuen Stils zu mäßigem Preis; und dod) iſt modernes Geräth 
viel billiger als altmodisches herzuftellen. Man muß die Mafchinentechnit be- 
nugen umd eine neue Schönheit auch für die Möbel und Ziergeräthe finden 
lernen, wie man ſie bei den Hochbahnbauten und eleftriichen Betrieben gefunden 
hat. Dan darf auch Theorie und Praxis nicht länger trennen, nicht den Zeichner 
zeichnen und den Fabrikanten ansführen laſſen. Trotz allen jhönen Worten 


Der Krach des Kunſtgewerbes. sl 


wird noch heute am Reißbrett gearbeitet und den Eingeweihten Elingt es oft 
tomiſch, wenn er im illuftrirten Blatt lieft, daß nun der Künjtler dem Hand— 
werfer verbündet jei. Wie häufig fieht der Architekt ſtaunend, was für ein jelt- 
james Ding aus jeinem Entwurf geworden iſt! Gemeinfam muß gearbeitet. 
gemeinjam muß verdient werden, nicht nur am Original, fondern an jeder Stopie. 
Die Wirkung wird fein, daß nicht mehr ſtets das jelbe Thema rein äußerlich 
variirt wird und daß die Liebe zum Objeft, die alle guten Kunſthandwerker ver- 
gangener Zeiten auszeichnete, wieder erwadt. 

Wer von individueller Auswahl jpricht, kann nicht meinen, der Stünftler 
jolle ſich hinjegen, die Seele des Käufers ftudiren und ihm dann erjt einen 
Raum bauen und ſchmücken. Die individuelle Prägung wird ja fchon dadurd) 
Hejtimmt, daß Jeder ſich den Architekten und die Möbelform wählt, die jeinem 
Weſen angemeſſen find, und daß er innerhalb des gegebenen Rahmens durch) 
den Zuwachs, den jeder Tag bringt, feinem Zimmer den Duft des Lebens und 
ſeines Schickſals mittheilt. 

Mir ſcheint eine Organiſation auf neuer Wirthſchaftgrundlage nöthig. 
Sch bin für den Großbetrieb, weil er allein die Möglichkeit zu Experimenten 
bietet und es ohne Experimente nicht geht. Man könnte an eine Stooperativ- 
genojjenihaft von Künjtlern und Kunftinduftriellen denken, die das ganze weite 
Feld zu bebauen hätte. Nur fürdte ich, daß der heute, in der Kampfzeit, nod) . 
Hgerrjchende Fanatismus ein gemeinjames Arbeiten ſchaffender Künſtler erſchweren, 
wenn nicht unmöglich machen würde. Am Ende käme nichts heraus als eine 
. Bereinigung von Künftlern und Gejchäftsleuten, die das mir vorſchwebende Ziel 
mie erreichen könnte. Das Beilpiel der Münchener Werkjtätten ift ungemein lehr— 
rei. Gelingt es aber, die Leiftungen der jüngeren Künſtler, die jet faft immer 
weit vom Weg abirren, mit den Bedürfniffen des Publikums in Einklang zubringen, 
dann werden wir eine jeßt noch ungeahnte Erneuerung der Formen erleben, 

Der Plan der Organijation, die ich erjehne, könnte am Beten von einer 
Zapitalijtiihen Genoſſenſchaft ausgeführt werden, die weitherzig alles künſtleriſch 
Werthvolle aufnimmt, den Künftler anftändig honorirt und am Gewinn be- 
theiligt und dem Publikum, ohne den falihen Nimbus eines ideal gedachten Unter- 
nehmens, zu angemefjenem Preis Gutes liefert. Gerade jegt ift eine neue 
Maſchine erfunden worden, die jolhes Planes Ausführung erleichtern kann. 
Ich ſehe alle Einwände voraus, die man mir machen wird, Idealiſten und 
Realiften werden um die Wette den Plan tadeln — die Idealiſten namentlich, 
da er Kunſt und Geſchäft verquiden will — und Kunſtverſchleißer werden in 
ihm nichts Anderes ſehen als ein Manöver mehr oder minder ſchmutziger Kon— 
turrenz. Einerlei. Mir lag vor allen Dingen daran, einmal offen auszujprechen, 
wie der Efel am „modernen“ Kunftgewerbe zu erklären ijt, der gerade die ge: 
ſchmackvollſten Leute ergriffen hat; er hat nicht äjthetiiche, ſondern ökonomiſche 
Urſachen und kann deshalb auch nur überwunden werden, wenn es gelingt, diejem 
Gewerbe eine neue Wirthichaftbafis zu jchaffen, die dem Künſtler giebt, was des 
Künſtlers, dem Käufer, was des Käufers ift. Wird der Verſuch nicht gemacht, dann, 
fürchte ich, wird man bald allgemein von einem rad) des Kunſthandwerks reden. - 


W. Fred. 


S 


FE — 


82 Die Zukunft. 
Die Prinzenreife*). 


ES des jpanischen Krieges hatte Deutichland allein von allen Mächten 
eine große Schladhtflotte nach den Philippinen gefandt. Admiral Diederichs 
führte den Oberbefehl mit großer Schneidigfeit und nahm feine ſonderliche Nüd- 
ficht auf amerikanische Hühneraugen. Dieje und andere Vorfälle erzeugten in 
Amerifa Berjtimmung. Für die engliiche Diplomatie war Das eine pracht— 
volle Gelegenheit, nach altbewährter Methode gegen den verhaßten Konkurrenten 
Michel zu hegen. Der Erfolg war jo überrajchend, daß die englijche Diplomatie 
ihren hetzeriſchen Wirkungsfreis über die ganze Welt ausdehnte, In Südamerika 
und China malte fie dem leichtgläubigen und eitlen Onfel Sam den braven 
Michel in jchwärzejten Farben als den Störenfried, deffen Hauptvergnügen darin 
bejtehe, Onfel Sam fortgeießt Knüppel zwijchen die dünnen Beine zu werfen. 
Auch damit hatte England Erfolg. Das Feuerchen, das man in Londoneifrig geſchürt 
hatte, begann langjam, zu brennen, fladerte dann aber lujtig. In Waihington 
faßen brave Dandlanger, die mit Inbrunſt Tel in das Teuer gofjen. Da war 
zunächſt der treffliche Yord Pauncefote, der engliſche Geſandte. Um ihn fchaarten 
fich dienfteifrig ſämmtliche Jingos und Deutjchenfeinde der republifaniichen Bartei, 
Kriegsfefretär Root, Staatsjefretär Day, Senator Hanna, Senator Depew, 
Senator Lodge und die jogenannte Marine-Coterie, die nad) neuem und ihrer 
Meinung nad) eben jo wohlfeilen Yorber lechzte, wie ihn der Strieg gegen Spanien 
gebracht hatte. ihnen gejellte ſich noch Mr. Choate, der amerifaniiche Gejandte 
in London, ein erprobter Anglomane. Gegen dieje deutichfeindliche Koalition 
hatte Herr von Holleben, der deutiche Gejandte in Waſhington, einen jchweren 
Stand. Schon tauchte das unheimlihe Wort Krieg in den deutjchfeindlichen 
amerilaniſchen Zeitungen auf. Da entſchloß man fich in Berlin zu den bekannten 
Veröffentlichungen und Prinz Heinrich ging auf die Neije. Es follte ein politiſches 
Ausjtattungitüd von blendender Pracht werden. In Deutſchland arbeitete die 
*) Als der Herausgeber hier zuerst jagte, er glaube nicht, daß die Reiſe 
des Prinzen Deinridy die Beziehungen zwiſchen Deutjchland und den Vereinigten 
Staaten in irgend einem iwejentlichen Punkt ändern werde, da wurde ihm uns 
heilbare Zweifeljucht vorgeworfen und er ein Schwarzieher geicholten, der die 
erhabenen Intentionen deuticher Weltpolitif nun einmal nicht zu würdigen wiſſe. 
Die bitterböjen Dinge, die gerade in den größten amerifanijhen Blättern, 
beionders im Herald, über den politiidhen run gejagt wurden, lad man ent— 
weder nicht oder ging mit etlichen Schimpfreden wider die Jingopreſſe darüber 
hinweg. Und nun vergleiche man, was eigene Anſchauung Herrn Urban gelchrt 
hat und was aud) in diefem Heft wieder Plutus über die amerifanijche Gefahr 
jagt. Beide Herren befennen fi zu ganz anderen politiichen Anfichten als der 
Herausgeber, denten aber nicht daran, der Reife eine irgendwie weiter reichende Be— 
deutung zuzuschreiben. Auch die vor cin paar Wochen noch Beraujchten find allmählich 
wieder nüchtern geworden, — bis zum nächſten Rauſch, in den fie das nächſte 
Spektakelſtück ficher verjegen wird. Iſt es denn wirklich jo ſchwer, einzufehen, daß 
„politiiche Beziehungen‘ durch wirthichaftliche Intereſſen, nicht durch perjönliche 
Urtigkeiten noc durch allerlei liebensmwürdige Yaunen determinirt werden? 


Die Prinzenreife. 83 


offizielle Prefie mit löblichjtem Eifer. In Amerifa lag die Negie in den be- 
währten Händen des Herrn von Dolleben. Ihn unterjtüßte begeijtert Profeſſor 
Hugo Münjterberg von der Harvard-Univerſität, der jeit Jahren als offizidier 
Sriedensengel zwiſchen Berlin und Wafhington ſchwebt und als politifcher Schrift- 
fteller von anjehnlichem Talent die Freundſchaft zwijchen beiden Völkern zu fitten 
fih bemüht. Die Staats- Zeitung war von vorn herein ficher; diejes wichtigjte 
deutjchamerifanische Blatt gehört ja längft zu der Preſſe, die mit Dilfe ihrer 
berliner Bertreter aus dem Auswärtigen Amt „Informationen bezieht. Die 
übrigen großen Zeitungen, namentlid im Wejten, würden — Das wußte man — 
wit Freude Heeresfolge leiften. Raſch wurden noch alle Skeptiker als unver: 
befjerlihe Nörgler und alle Stenner des braven Onkels Sam als furzfichtige 
oder böswillige Amerifafeinde angejhwärzt ; und num fonnte Brinz Deinrich fommen. 

Sein Aufenthalt hat Mancherlei zu Tage gefördert, was nur in Aınerifa 
möglich ilt. Für den Durchſchnittsamerikaner ift es von höchſter Wichtigkeit, 
bei bejonderen zyeitlichfeiten immer zu willen, was jie gefojtet haben. Kaum 
hatte Prinz Heinrich die erjten Feſte mitgemacht, jo hatte ein Blatt ſchon aus- 
gerechnet, wie hoch fi) die Ausgaben beliefen. Die Galavorftellung im Opern- 
Haus, der Pund mit den Dollarfönigen, das Diner mit den Seneralen der Rre fe, 
das Bürgermeijter- Diner, der Fadelzug der Deutjchen, die Yacht-Taufe, die 
Kavallerie: Eskorte, der Sonderzug der Pennſylvania-Eiſenbahn und allerlei 
Dekorationen hatten zufammen ungefähr 109000 Dollars verfchlungen. Damit 
ließ ih ſchoön proßen. Maurice Grau, der Direktor der Oper, geitand mit 
fattem Lächeln, daß er mit feiner Galavorftellung über 40000 Dollars „an 
Prinzen gemacht habe‘. Auch andere Yeute haben ‚an dem Prinzen Geld ge- 
macht‘; und dafür waren fie ihm natürlich dankbar. Bob Evans, einer der 
Sieger von Santiago, erklärte einem Reporter: „Der Prinz ijt ein urgemüthe 
licher Menſch (a royal good fellow). Er ijt Amerifaner, jo weit ein Fremder 
es überhaupt jein kann“. Das it nach der Anficht des richtigen Amerifaners, der 
fich befanntlich für die Blüte der Menſchheit hält, das höchſte Yob. Und der ehren- 
werthe Bürgermeifter von New-York, Seth Low, jagte zu feinen politifchen 
Freunden: „Ich bin während der legten Tage jo viel in prinzlicher Sefellichaft 
gewejen, daß es für mid ordentlich erfriichend ijt, wieder mal unter Vertretern 
eines freien Bolfes zu jein. Und doch: hätte der Prinz das Glück gehabt, in 
dieſem Yande geboren zu werden, jo würde er die Bezeidinung eines höchſt ge 
müthlichen Menfchen (a jolly good fellow) verdienen.“ Dieſes höchſte Glück 
blieb dem Brinzen nun leider verjagt; wenn der Menſch Beh haben fol... 
Dem Gouverneur von Minnejota wird nachgejagt, er habe den Prinzen nach 
der Boritellung auf den Rüden geklopft und ihm fordial zugerufen: „Es würde 
mich freuen, wenn Sie mal nad) Minnejota fämen, Sie und Ihr Bruder!“ 

Der Privz ift, als star des Ausjtattungitüdes, enthuſiaſtiſch begrüßt 
worden; bejonders im Weiten, wo das Deutſchthum dichter, ſtolzer und mäd)- 
tiger ilt als in New-York. Die in Berlin „Maßgebenden“ jcheinen eine Heiden: 
angſt vor einem allzu impojanten Dervortreten des deutſchen Elementes gehabt 
zu haben. Das konnte die „reinen“ Yankees ja verihnupfen! Prinz Heinrich 
Hat aber wohl gemerkt, daß die Deutichen in den Vereinigten Staaten feine 
quantit& negligeable find, und darüber hoffentlich auch feinen Bruder aufgeklärt. 


84 Die Zukunft. 


Seine Mahnung, die Pflicht gegen die neue Deimath nicht zu vergejien, war 
überflüjfig; oft wäre es leider nöthiger, an die Pflicht gegen die alte Deimath 
zu erinnern. Jedenfalls: die Reife hat dazu beigetragen, die Machtſtellung der 
bier lebenden Deutichen zu ftärfen. Und fie hat ferner gezeigt, dab Deutſchland 
den bejten- Willen hat, mit Amerika in Freundichaft zu leben. 

Mehr hat von der Reife Niemand erwartet, der den Amerikaner wirflidy 
fennt. Nur fromme Kindergemüther und die im Solde der Erporteure ſtehenden 
Durrajchreier befamen das Kunſtſtück fertig, al Dauprergebniß der Reiſe eine 
die Freundichaft zwiſchen Sam und Michel zu prophezeien. Sie weilen immer 
wieder auf die glänzende Aufnahme Hin, die der Prinz gefunden habe. Dem 
Kenner von Land und Venten iſt damit gar nichts gejagt. Zunächſt ift der 
AUmerifaner ungemein gajtfreundli und ſtets bereit, jein Haus auf den Kopf 
zu ftellen, um einen Bejucher zu ehren. Wie begeijtert wurden 1893 die In— 
fantin Eulalia von Spanien, die Tante Alfonjos des Dreizehnten, und ber 
Herzog don Veragua, der Nachkomme des Columbus, aufgenommen! Dem 
Herzog wollte man, vor Rührung darüber, daß jein Ahnherr jo freundlich ge- 
wejen war, Amerifa zu entdeden, jogar die Schulden bezahlen. Und doch hegte 
man jchon damals gegen Spanien unfreundliche Gefühle wegen der Mißwirth— 
Ihaft auf Kuba. Nicht minder begeijtert wurde 1860 der Prinz von Wales, 
jegt König Eduard VII. von England, aufgenoinmen. Nobert B. Roojevelt, ein 
Verwandter des Präfidenten, jpäter amerifanifcher Gejandter im Daag, war 
damals Mitglied des Empfangsausſchuſſes und hat neulich erft erzählt, die jungen 
Amerifanerinnen jeien beim Anblid des Prinzen von Wales außer Rand und 
Band gerathen; der Barbier, der ihm die Haare fchnitt, verkaufte ihnen die 
Yoden des Prinzen für fchweres Geld; auch das Waſſer, in dem Albert Eruarb 
fi) gewajchen hatte, wurde auf Flaſchen gezogen und an die Damen verkauft. 
Alles war entzüdt von ihm, genau jo entzüdt wie jetzt vom Prinzen Deinrid- 
Und doch blieb die Stimmung der Amerikaner gegenüber England feindfälig 
bis zum Kriege gegen Spanien. Auch durch die Peiftungen amerifaniicher Nady- 
tiichredner läßt fich der Kenner nicht täujchen. Die Yoblieder auf Alles, was 
Amerika Deutichland schuldet, Haben wir oft genug lächelnd gehört: am Morgen 
nad dem Feſtmahl find fie wieder vergeffen. Der Bejuch des Prinzen war für 
die Menge eine offizielle Anerkennung Amerifas als jüngjter Großmacht und 
wurde als Huldigung gern hingenommen. Und die hiejige Plutofratie jonnt 
fi mit Vorliebe in königlicher Gunft und glaubt, durch den Verkehr mit Prinzen 
zu Wirklichen Geheimen Ariftofraten werden zu fünnen. Den Zeitungen aber 
war der Prinz in erjter Linie news, etwas Neues; die amerifanijhe Zeitung 
heißt nicht umfonft newspaper. Er war ihnen Leſeſtoff, und zwar allerfeinjter, 
für eine ganze Weile. Ein Sdiffbrud, ein Brand giebt höchſtens zwei oder 
drei Extrablätter, allenfalls nod, einige Spalten in der Morgenausgabe; Prinz 
Heinrih: Das reichte für zahllofe Ertrablätter. Das füllte ſelbſt an Sonn- 
tagen die Spalten und bot Gelegenheit zu unzähligen Alluftrationen. Ein 
glänzendes Geſchäft. So Etwas jtimmt aud das wildejte Jingo-Blatt mild 
und faſt deutichfreundlih. Als das Geſchäft nachließ, hatte der Prinz feine 
Arbeit getban und Fonnte gehen. Statt der „Wacht am Rhein“ übte man wieder 
die deutſchfeindliche Jingo-Melodie The Dutehmen be damned! Der Prinz; war 


Die Prinzenreife. 85 


noch nicht in Plymouth angelfommen, da begann die fröhliche Deutichenhege von 
Neuem. Herr von Holleben und Profejlor Minfterberg wurden vom „Herald“ 
ald Spione der deutichen Regirung gebrandmarkt und das „Journal“ hetzte 
fleißig mit. Des Bringen Picbenswürdigkeit, hieß cs, jei nur Komoedie gewefen; 
an Bord der „Deutichland“ ſei er- gleich wieder unnahbar geworden. In Deutſch— 
land hat man auf dieſe neuen Ausbrüche des Hafjes nicht viel Gewicht gelegt, 
Sehr mit Unrecht. Hier ift gerade der Einfluß der jchledhten, der „gelben“ 
Preſſe bejonders groß. Die Politif wird hier mehr als anderswo von der 
großen Maſſe gemadt und die große Maſſe ſchöpft ihre weltpolitiiche Bildung 
hauptſächlich aus den ſchlechten Zeitungen, die unter allen Umjtänden einer 
europafeindlichen ingo-Bolitit das Wort reden. In den Times las man am 
fiebenten März: „Als Nation haben wir den Prinzen gern; und wenn unjere 
Gefühle einer Analyje unterzogen wiirden, jo ergäbe ſich die Thatſache, daß wir 
ihr perjönlich höher jchägen als Das, was er repräjentirt.“ Das ift doc) deut- 
lid) genug. Nicht weniger bezeichnend ift, was Poultney Bigelow am neune 
zehnten März bei jeiner Rückkehr aus England fagte: „Amerika kann ſich auf 
mande Unanuchmlichkeiten gefaßt machen. Der Beſuch des Prinzen Deinrid 
ift ohne Bedeutung. Er wird in feiner Weiſe unfere Beziehungen zu Deutjchland 
ändern und keinerlei Einfluß auf irgend eine Möglichkeit eines Krieges mit Deutjche 
land haben." Dann wies er auf die Gefahren deutſcher Ktolonifirung in Süd— 
amerifa hin umd betonte die Freundſchaft Amerikas mit England, deren inter 
efjen eng mit einander verfnüpft feien. Und Herr Bigelow ijt ein befannter 
PBublizift, der mit Wilhelm dem Zweiten in Bonn ftudirt hat und fich mit 
Borliche den Freund des Kaiſers nennen läßt. 

Seine Auffajjung wird hier allgemein getheilt. Des Prinzen Bejud) war 
ein perjönlicher Erfolg; politiich hat er nicht das Geringfte geändert. Die Blos— 
ftelung des geliebten Kohn Bull durch Dolleben und Bülow hat in Amerika 
gar feinen Eindruck gemadt. Der Plan eines Angeljachien Truſts, der den 
übrigen Völkern die Taſchen leert, verheißt große Profite; umd er müßte ſich 
zuerst gegen Deutjchland richten, den unangenchmiten Konkurrenten beider Angels 
jahjen, der den Engländer auf allen Märkten unterbietet und fich zugleich mit 
der Frage bejchäftigt, wie er der amerifaniichen Gefahr durch Ginfuhrzölle die 
Thür jperren kann. Man darf auch nicht vergeifen, da der Imperialismus 
in Amerifa nicht nur bei den Nepublifanern, jondern beim ganzen Wolf populär 
ift. Und diefer Imperialismus ift ausgeſprochen deutjchfeindlic), gerade wie 
feine hervorragendjten Vertreter im Kongreß und im Kabinet. Ferner ift troß 
allen amtlichen Erklärungen das Mihtranen gegen Deutichlands Abſicht, Süd— 
amerifa zu kolonijiren, nicht gejchwunden. Nad langjährigen Erfahrungen wird 
e3 mir überhaupt jchwer, an freundichaftliche Gefühle des „ſuperioren“ Angels 
ſachſen, fei er cin Engländer oder Amerikaner, für den Deutjchen zu glauben, 
Trotz der Verwandtichaft find der Angelſachſe und der Teutone von heute einander 
innerlih fremd. Ein Franzoſe und ein Deutjcher befreunden ſich cher als ein 
Angeljahje und ein Deutſcher. Nur Eins fünnte vielleicht etwas angenehmere 
Beziehungen zwiſchen Amerika und Deutichland herbeiführen: der Sturz der 
republifanifchen Partei, die von deutichfeindlichen Jingos beherricht wird. 


New: Hort. Henry F. Urban. 


> 


86 Die Zuhmft. 


| Selbitanzeigen. 


Grundriß; des Feftungsfrieges. Sondershaufen. Verlag von Fr. Aug. Eupel. 


Napoleon hat einmal gejagt: Je demanderai s’il est possible de com- 
biner la guerre sans des ‚places fortes et je declare que non. Diejer Aus- 
fpruch gilt heute in höchſten Maße. Der fteigende Neichtyum aller Länder 
drängt troß der von einer Großmacht ſtets anzuftrebenden offenfiven Kriegführung 
mehr als je darauf, feindliche Einfälle mit künſtlichen Mitteln zu erſchweren, 
fi felbjt die eigenen Operationen zu erleichtern. Auch muß mit der Möglichkeit 
taktiſcher Rückſchläge gerechnet werden, befonders im Kampfe gegen einen über: 
legenen Gegner. Nichts erleichtert aber den Kampf einer Minderheit gegen eine 
Mehrheit jo jehr wie zweckmäßig angelegte und verwendete jtändige Befeftigungen. 
Was deren Anlage betrifft, jo wird fie, weil fich der Verlauf eines Krieges nicht 
vorausjehen läßt, nicht auf einzelne Fälle zugejchnitten fein dürfen. Der Gegner 
fönnte auch dann unſere Abjichten vorzeitig errathen und durchkreuzen. Viel— 
mehr muß eine Yandesbefejtigung auf große, dauernde, mit der Grundlage des 
Staates unmittelbar verbundene Berhältniffe aufgebaut werden. Schon um den 
offenfiven Geift von Volk und Heer nicht zu lähmen und die Feldarmee zu 
ſchwächen, werden wenige große Stüßpunkte, wenigstens in Deutjchland, zu ſuchen 
fein, Aus den Veröffentlichungen Bismards, Blumenthals, Hohenlohes, Schlidtings 
und Anderer weil; man heute, wie wenig gerüjtet wir 1870 zum Feſtungskrieg 
waren. Eine Unterihäßung des Werthes der Feſtungen und ein erheblicher 
Mangel an Verſtändniß für den Feſtungskrieg war an allen Stellen des Heeres 
zu finden Ungenügend vorbereitende Strategie im Frieden war die Folge 
folder Auffajjung, die fi dann rächte und nur danf unjeren — aber nicht immer 
zu erwartenden Erfolgen — im freien „Felde feinen Schlimmer Ausgang nahm. Noch 
heute find die Anſichten wenig geklärt, zumal erhebliche neuere Kriegserfahrungen 
fehlen. Generaljtäbler, Artilleriften, Infanteriſten und Pioniere haben oft ihre 
eigene Anſchauung, in der fie natürlich der Waffe, zu der fie gehören oder aus 
der fie hervorgegangen find, den entjcheidenden Antheil meiſt einfeitig zumejlen. 
Auch ein jo dringendes Broblem wie die Neuordnung des Ingenieur- und Pionier: 
corps, deifen Yöjung Fehr weientlih von der Auffajlung des Feſtungskrieges ab- 
hängt, wird durch jolchen Widerftreit der Meinungen ungünftig beeinflußt. Cine 
„Vehre des Feſtungskrieges“, die durch Eritiiche olgerung aus den zuſammen— 
hängenden Erfahrungen aller, namentlich der neueren Zeiten, allgemein giltige 
Wahrheiten und Grundſätze für die Truppenführwig ableitet, um einen geeigneten 
Anhalt, fein Schema, zum Handeln zugeben, darfdeshalb wohl auf Beachtung rechnen. 
| W. Stavenhagen. 

* — 
Lenaus Frauengeſtalten. Verlag von Karl Krabbe in Stuttgart. 5 Mark. 

Das Buch zeigt das Verhältniß Lenaus zum weiblichen Geſchlecht. Von 
Frauen, die in des Dichters Werdegang bedeutſam eingegriffen haben, werden 
gezeichnet: Lenaus Mutter, die umwürdige Bertha Dauer, Lenaus anmuthiges 
Schilflottchen Votte Gimelin), fo genannt, weil der Dichter jeine „Scilflieder“ 
an fie richtete, die wadere Sophie Schwab (Gattin des Dichters Guſtav Schwab‘, 
die treue Emilie Reinbeck, die leidenfchaftliche Sophie Löwenthal, die ſchau— 





Seldftanzeigen. 87 


ſpielernde Karoline Unger, die ſanſte Marie Behrends, Lenaus „ewige Braut“, 
Der Leſer wird in dieſem Buch eine Reihe ungedruckter Lenau-Briefe und ein 
reichhaltiges neues biographiſches Material über den Dichter und über die hier 
geſchilderten Frauen finden. So werden manche neue Beziehungen aufgedeckt 
und Perſonen, die bisher in den Yenau- Biographien nur im Dämmerlicht der 
Epiſode auftraten, werden nun als bedeutfame Faktoren in den Leben und Dichten 
Lenaus erfamnt. Nicht bei vielen Poeten jtanden Leben und Dichten in einem 
fo innigen Wechſelverhältniß wie bei Yenan. 


Damburg. Adolf Wilhelm Ernit. 
® 


Der wirthichaftlihe Ruin des Werzteftandes. Zweite Auflage. Verlag 
von Dr. Eduard Schnapper, Frankfurt a. WM. 1902. 


Die Inſzenirung von Lohnkämpfen, deren Schauplatz unfere Induſtrie— 
und Berfehrscentren in den legten Jahren oft waren, legt dem abjeits jtehenden 
Beobadhter die Frage nahe, welche vis a tergo hier elementariſch gewaltet hat, 
ob rüdjichtlos auf materiellen Erwerb gerichtete Geldgier vder ein thatjächliches 
wirthſchaftliches Elend den ärztlichen Berufsftand zur jozialen Selbfthilfe zwang. 
Das erjte Motiv wird jelbjt der größte Skeptiker leugnen müſſen, wenn die 
anıtlihen Steuerliften ihm das wirfliche Bild von den traurigen Einkommen: 
verhältniffen des ärztlichen Praktikers entrollen. Bon 1747 im Jahre 1892 
in der Reihshauptitadt thätigen Herzten hatten '%/,, ein Einfommen von nicht 
über 3000 Mark; und in Charlottenburg erreichten im jahre 1900 von 307. 
anjäjfigen Aerzten nur etwa 50 nad zehnjähriger, mühſäliger Praxis ein ſolches 
von 5000 Mark. Wenn fi) unter diefen Umftänden ein Stand endlich auf ſich 
ſelbſt befinnt und zeigt, daß er, geeint, eine rejpeftable, wirthichaftlihe Macht 
darjtellt, dann wird es ihm Niemand verargen können. Aber woher jtammt 
denn nun die offenbare materielle Nothlage? Indirekt aus der großen Zahl 
der Werte, deren prozentuale Zunahme allerdings in gar feinem gefunden Ver— 
hältniß zum Wacjen der Bevölkerung ſteht. Der wirkliche Grund aber für den 
Rückgang liegt in der beijpiellofen Berfchlechterung der ärztlichen Erwerbsver— 
bältnifje, wie ſie die Stantsgejeggebung der letzten ‚Jahrzehnte geichaffen hat. 
Die Reicsgewerbeordnung vom Jahre 1869 mit der Novelle vom Jahre 1883 
und das Stranfenverfiherungsgeieg vom jelben Jahre mit der Novelle vom 
Jahre 1892 haben den faſt vollendeten wirthichaftlichen und drohenden ethiichen 
Ruin des deutſchen Aerzteſtandes herbeigeführt. Das Kurpfuichereiverbot wurde 
durd; vollitändige Freigabe des Heilgewerbes aufgehoben. Hierdurch erwuchs der 
wiſſenſchaftlichen Medizin eine Konkurrenz, die gar feines Befähigungnachweiſes 
bedarf und mit Mitteln arbeitet, die der ärztlichen Ethik zumiderlaufen. Die 
gründliche Befeitigung diefes Auswuchſes wird aber zum fategoriichen Imperativ, 
wenn man fi die Semeingrfährlichfeit der Kurpfufcher für die hygieniſch janis 
tären Intereſſen der Allgemeinheit an der Dand gerichtsitatijtiicher Nachweiſe 
vor Augen hält und außerdem bedenft, welche Lücken im Strafgeſetz ihre Ver— 
gehen jtraffrei laffen. Der zweite Hauptfaktor für den finanziellen Ruin des 
Aerzteftandes, das Krankenverſicherungsgeſetz, hat ihm bei mitunter marimalen 
Leiftungen der Krankenkaſſen eine minimale Bezahlung eingebracht und jchuf 





88 | Die Zuhmft. 


außerdem durch die Zwangsarzt-Kaffenpojten ein Anftitut, das auch in ethijcher 
Hinficht durch Erjchwerung der freien Konkurrenz höchſt verderblich werden jollte. 
Wenn nun aud) als Radikalheilmittel nur gejeßgeberiiche Abänderungmaßregeln 
in Frage fommen können, fo ift doc) vorher der einmüthige Zufammenihluß 
aller ärztlichen Bereine zu einem großen Verbande behufs Wahrung der Standes» 
interejfen anzujtreben. Bei der herrſchenden modernen Staatsdoftrin wird nur 
eine „ärztliche Gewerkſchaft“ nachdrüdlich die berechtigten Wünjche eines Standes 
zur Geltung bringen, der in Folge der heute giltigen Gejeßgebung von materieller 
wie ideeller Prolctarifirumg bedroht ift. 

Nebra a. U. Dr. Adolf Haejeler. 

+ 

Jahrbuch der bildenden Kunft. Früher „Almanad) für bildende Kunſt 

und Sunftgewerbe*. Verlag der deutichen Jahrbuch-Geſellſchaft m. b. 9. 

Berlin S.W. 48. Gebunden, Kunftzeitichrifien: Format, 8 Mark. 


Was id) im vorigen „Jahr zur Entichuldigung des „Almanachs für bildende 
Kunft und Kunſtgewerbe“ hätte jagen follen: daß er nur erjt ein Anfang jein 
fann zu einer Negijtratur des lebenden und toten nventars aller gegenwärtigen 
bildenden Kunſt, von Vollkommenheit und Zuverläffigfeit, die nur durch Jahre 
lange Mitarbeit aller Intereſſenten erreicht werden kann, noch jehr weit entfernt: 
Das brauche ich in diefem Jahre von dem nicht nur zum „Jahrbuch“ umge 
tauften, jondern auch wirklich umgewandelten Buch nicht zu verjchweigen. Bin 
ich doch ſicher, daß die Yüdenhaftigkeit der Arbeit durch die Fülle des jonft Ge: 
botenen reichlid) aufgewogen wird und daß in feiner neuen Form das Bud) die 
Hoffnung rechtfertigt, durch feine kunfthiftoriiche Rückſchau auf das abgelaufene 
Jahr, an der die beiten Kräfte unjerer Fachſchriftſteller ſich betheiligen, durch 
die praftiihen Fragen gewidmeten Aufjäße, durch die Nefrologie und Biblio 
graphie des Jahres und endlich durch jeine reichhaltigen Verzeichniffe und fein 
Künjtlerleriton eine bleibende umd der Volljtändigkeit immer näher kommende 
Einrichtung unjeres die bildenden Künfte umfaffenden öffentlihen Lebens werden 
zu können. Dem nicht geringen Aufwand an theils erfreulicher, theils aber überaus 
mühſäliger, trodener Arbeit gefellte fi) der andere: ohne Rückſicht auf materielle 
Opfer dem Bud) einen reihen Schmud zu ſchaffen, jo daß es in feinen fünf 
zehn Kunftbeilagen und in zahlreichen lluftrationen auch anfchaulich eine Fülle 
hervorragender Werfe des legten jahres darbietet. Dabei ijt nicht nur auf das 
künſtleriſch Wejentliche, fondern auch auf die verjchiedenen Arten der reprudu- 
zirenden Technik Werth gelegt worden. Co dürfte das Buch jedem Freunde der 
Kunjt, aber auch jedem Schaffenden auf einem ihrer Gebiete Das bieten, was 
er jucht: die Erinnerung an die durchlaufene Zeititrede, die Anregung zu weiterer 
Entfaltung und — als Handbuch — die auch jegt ſchon zuverläfjigen, von 
Jahr zu Jahr durch Umfragen berichtigten Aufichlüffe über unfere der Kunft 
dienenden Einrichtungen, über Künftler und Kunſtgewerbe aller Art. Herr Ge- 
heimer Kegirungrath Dr. Woldemar von Seidlig in Dresden hat mir als künſt— 
lerijcher Berather und Mitarbeiter die dankenswertheſte Unterjtügung bei dem 
Bemühen geleitet, das Buch in feine jegige Geftalt umzuſchafſen. 


Schmargendorf. Mar Marteriteig. 


* 





n| - 
— — 


Humbug & Co. 39 


Humbug & Co. 


5: Arten, fih ein Haus zu baun, find zwei. Man kanns auf Jlufion- 
fredit hin wagen, auf Wechſel feljenfeiter Zuverfiht. Man kanns auf 
ftimmungvolle Träume gründen, Luftipiegelungen und Sirenenjang. Dieſe 
Worte, die Goldjtadt, der nüchterne Großkauſmann, in Ibſens „Komoedie der 
Liebe“ jpricht, fielen mir oft ein, wenn ich während der legten Woden die 
Börfenberichte las. Die Händler nehmen den Illuſionkredit wieder einmal ein 
Bishen reichlich in Anſpruch. Dieſe Art, ji) Häufer aus Hoffnungen zu bauen, 
erinnert recht unangenchm an Tage, die man nad der großen Kriſis für ent: 
Ihwunden halten durfte. Beute giebt man fi) weder Mühe, die Fundamente 
der deutſchen Wirthichaftlage gewiſſenhaft nachzuprüfen, noch verſucht man, die 
Zukunftausſichten mit klarem Blick zu erforſchen. Man belügt jich jelbit. 

Ueberall, nicht nur an der Börſe, hört man die Behauptung aufjtellen, 
die Ärgiten Tage der Krifis jeien vorüber und die völlige Gefundung unferer 
Berhältnijje jei Schon für die nächjte Zeit zu erwarten. Mit ſolchen Erzäh- 
lungen aber find leider die Ihatjachen nicht zufammenzureimen. So hat eben 
erſt das fiegerländer Roheifeniyndifat feine Produktion abermals um 20 Prozent 
eingejchränft. Die Folge war denn aud) zunöchſt eine ziemliche Berblüffung. 
An dem überrafhenden Eindrud diejfer Meldung kann auch der Umstand nichts 
ändern, daß es fich nicht um eine neue Mafzregel handelt, jondern die ſchon lange 
bejtchende Produktioneinſchränkung jet nur von der Kartellbehörde janktionirt 
worden ift. Die Frage ift, ob man dieſe Einſchränkung vorher in weiteren Streifen 
gefannt und in die Kalkulation der augenblicklichen Wirthichaftlage als cinen 
wichtigen Faktor miteingejtellt hat. Ich glaube es nidt. 

Selbjt von Leuten, die im Allgemeinen geneigt find, Warnungzeichen zu 
beachten, ijt die große Bedeutung der für die fiegerländiichen Hochöfen beſchloſſenen 
Produftioneinfchränfung nicht genügend gewürdigt worden ; die Wirkung erftredt 
fih in diejem Fall ja nicht nur auf die Eifenwerke, fondern auch auf den Kohlen— 
bergbau. Erft kurze Seit ift vergangen, jeit die Hedhendireftoren die inter 
efienten mit der Hoffnung tröfteten, die Thätigleit der Hochöfen werde ſich wieder 
beleben und natürlich auch den Kotsabjaß jteigern. Damit ift es jedenfalls vor: 
läufig noch nichts. Und wie jchledt es auch jonjt gerade im Bergbau ausjchen 
muß, merlt man aus gewijlen Anzeichen allgemeiner Natur. in Beijpiel: im 
Rheinland ſcheint man die Arbeiterjchaft geradezu in den Ausjtand drängen zu 
wollen. Fortwährende Entlafjungen und Herabjetungen der Yöhne, müſſen die 
Yeute ja unzufrieden machen und aufreizen. Wenn man fich erinnert, mit welcher 
jubtilen Rüdfiht die Arbeiter in der guten Zeit von den SKohlenbaronen be— 
handelt wurden, jo fann man wirklid) auf die dee fommen, dab ein Strike 
den wejtdeutichen Grubenbefitern jet jchr willlommen wäre. Solcher Strife 
böte immerhin die Möglichkeit, die Preiſe hoch zu halten und die Schuld daran 
und an ſchlechten Förderrejultaten auf andere Schultern abzumwälzen als auf die, 
denen man ſonſt die Berantmwortung aufzubürden pflegt. Won den vielen Heinen 
Chicanen, mit denen man die Arbeiter ärgert, dringt nur jelten Etwas in die 
Teffentlichleit. So hat man in manchen Gruben — von Krupp wird es be= 
ftimmt behauptet — den Abbau der alten ertragreichen Ildze vorläufig aufge 


90 | Die Zutunft. 


geben und ift dazu übergegangen, werthlojere anzujchlagen. Natürlich fördern 
die Arbeiter, trogdem die Arbeitzeit nicht verringert ift, mun viel weniger als 
früher, jo daß der Gedingelohn beträchtlich finft. Diefe Methode, am Lohn zu 
fnaujern, bat fiir die Verwaltung dabei noch den Bortheil, daß man nach außen 
hin die alten Lohnſätze aufrecht erhalten kann. 

Wer alſo genau zuſieht, merkt ſchnell, daß die Verhältniſſe im rheiniſch— 
weſtfäliſchen Kohlengebiet und in dem um dieſes Centrum gelagerten Eiſenbe— 
trieben ungünſtiger ſind als jemals ſeit langen Jahren. Dagegen ſoll nicht 
beſtritten werden, daß in einzelnen Bezirken der Textilbranche eine Heine Beſſerung 
zu verzeichnen iſt. Es jcheint ich aber immer mehr heranszuftellen — icon 
früher habe ich es hier einmal gegenüber den optimiftiihen Hoffnungen des 
Reichsbankpräſidenten behauptet —, daß dieſe Befjerung einzig und allein auf 
die geftiegene Ausfuhr nach Amerika zurüdzuführen ift. Auch über diefe That- 
fache täujcht man fid) an den Börfen himveg. Und da man annimmt, daß die 
Geſundung im eigenen Yande fortichreite, jo hält man natürlich auch nicht für 
nöthig, die amerikaniſchen Verhältniſſe etwas jchärfer unter die Lupe zu nehmen. 
Ich bin der Anficht, daß die Beobachtung der amerikanischen Berhältniffe heute 
die allerwichtigjte Aufgabe der Börjenmetterwarte jein müßte, Doc jogar von 
Leuten, die grundfäßlicd der felben Meinung find, hört man vielfach noch fehr 
optimiftiiche Auffaſſungen, die das Nejultat folder Beobachtungen fein follen. 
Einzelne geben zu, daß die Verhältniffe in Amerika nicht unbedenklich ausſehen, 
hegent aber die Hoffnung, bis zum Ausbruch des Sturmes werde noch viel Zeit 
vergehen. Die übliche Phrafe, die wir über deutiche Verhältniſſe vor der legten 
Kriſis jo unendlih oft hören mußten, wird uns auch jetzt wieder aufgetijcht: 
Alles ftroge dod; geradezu von Geſundheit; damals in Deutichland, jest im 
Amerika. Und gewiß ficht es wie ein Symptom fejter Gefundheit aus, daf 
Amerifa aus Deutſchland Roheiſen beziehen muß und daß der Direftor der 
Kanadabahn zu Krupp fommt, um Schienen zu befichtigen. Aber haben wir 
denn nicht vor dem Zuſammenbruch genau die felben Erſcheinungen aud im 
deutichen Wirthichaftleben gehabt? Gab es damals Roheiſen genug? Es iſt 
luſtig, zu beobadten, wie genau hüben und drüben die Symptome einander 
gleichen. Viele erinnern ſich wohl noch, wie wejentlich, unmittelbar vor der ge» 
woltjamen Löſung der deutjchen Ueberſpannung, zur Unterftüßung der Danffe- 
orgie der Umſtand beitrug, daß altes Gifen zum Umſchmelzen benugt werden 
mußte, weil die Eiienvorräthe jonft für die Fabrikation nicht ausgereicht hätten. 
Die Preiſe von Alteifen erreichten damals befanntlid eine ungeahnte Höhe. 
Genau das jelbe Schauspiel erleben wir jest in Amerifa. Beträdilihe Poften 
alten Eijens find von ums über den Ozean verfradjtet worden. 

Dod aus diejen rein wirthichaftlihen Momenten gewinnt man noch feine 
richtige Vorjtellung von den amerifanischen Berhältniffen. Die Truftivorgänge 
mu; man beachten, um Elar zu jehen. Der Nupfertruft, ſchon lange ein 
Sdmerzenstind aller Dauffiers, hat wieder bedenklich zu Ipufen begonnen. Seine 
Verluſte bei dem lebten Preisfturz des Kupfers werden auf etwa 10 Millionen 
Dollars geihägt. Man war geipannt, zu hören, welche Dividende nach dieſem 
herben Verluft ausgeichüttet werden würde. Aber jiche da: die Herren Direktoren 
hatten für angebracht gehalten, die Situng vorläufig einmal zu vertagen. Daß 


Humbug & Co. 91 


ſolche Vertagung Fein Zeichen eines befonders guten Gewiſſens ijt, brauchte ich 
faum erjt zu jagen. Noc viel ſchlimmer aber find die Verhältnifje beim Stahl- 
truft. Man will die jiebenprozentigen Norzugsaftien in fünfprozentige Bonds 
umwandeln und motivirt dieſen Plan mit der Zinserſparniß. Einen allzu 
günftigen Eindrud kann aber der Verjud nicht machen, die fnapp zur Ruhe 
gefommene Morganijation ſchon wieder zu beginnen. Merfwürdiger noch ift, 
dag man unter der Hand jchnell 50 Millionen Mark Bonds mehr ausgiebt, als 
Vorzugsaktien vorhanden waren. Woraus alfo zu jchließen ift, daß die Geſell— 
ichaft neues Kapital braudt. Was müßt angejichts folcher Beklemmungen ein 
herausgerechnieter Buchgewinn von 111 Millionen für das legte Jahr? 

Dieje allgemeine Unficherheit der amerifanifchen ITruftpolitit läßt den 
baldigen Eintritt einer Kataftrophe fürchten. Und dieje Unficherheit jcheint mir 
um jo gefährlicher, als allerlei Vorgänge erjt eben wieder gezeigt haben, auf 
wie brüdiger Bafis all diefe Truſts aufgebaut find. Ich jehe noch davon ab, 
dat die Schaffung von 50 Millionen neuer Bonds beim Stahltruft, für die gar 
fein Gegenwerth vorhanden ijt, eine Verwäſſerung des Kapitals bedeutet. Alle 
Truſtkapitalien find jchon im Augenblid der Gründung außerordentlich ver- 
wäfjert. Wie nah dieje Unfitte, das Kapital zu verdünnen, nad) unjeren Moral» 
grundjägen ang Berbrecheriiche grenzt, beweiſt der Schadenserſatz, der jet von 
einem der profejjionellen Gründer von feinem Kumpan Gates verlangt wird. 
Aus den Zeugenausjagen diejes Prozeſſes geht hervor, daß bei der Gründung 
des Stahl- und Drabttruftes das jelbe Werk dreimal in jeden der verfchiedenen 
Berbände eingebradht worden ijt, und zwar jedesmal mit einem recht erheblichen 
Nugen für den Vorbeſitzer. Daß ein auf folcher Grundlage ruhendes Kredit: 
jyftem dem Zujammenbruch entgegentreiben muß, ift klar und fönnte auch den 
deutſchen Börfenleuten nicht zweifelhaft fein, wenn fie ſich überhaupt einen richtigen 
Blick für die Lage der Dinge bewahrt hätten. In Amerika jcheint man fic 
übrigens auch ſchon auf den Krach vorzubereiten. Herr Schwab, der Stahltyrann, 
bat in einer Unterredung mit dem Berichterftatter der Kölnischen Zeitung rund 
heraus erklärt, es jei natürlich und ficher, daß auch jchlechte Zeiten fommen 
mäjjen; in dieſen Zeiten geringeren Anlandsbedarfes werde der Stahltrujt feine 
Ueberproduftion in den deutſchen Abjaggebieten unterzubringen verjuchen.*) 

*) Die Unterredung, die Blutus hier jtreift, muß, nad) den Andeutungen, 
die wir lajen, allerliebjt gewejen fein. Nicht nur, weil der nterviewer an den 
rechten Dann fam, der alle unbequemen oder langweiligen Fragen ohne Zeitverluft 
wegwijchte und ihn mit der ganzen Hoheit des Herrichers von Goldes Gnaden 
behandelte. Auch die Thatjachen, die Herr Schwab reden ließ, waren ungemein 
lehrreih. Unjer Gejammtfapital, aljo jprad) er, beträgt 1374 Millionen Dollars. 
Wir brauden jährlid nur 70 Millionen zu verdienen, können aljo mit einem 
Brofit von 6 Dollars auf die Tonne aut ausfommen; übrigens verdienen wir 
ja nit nur am Stahl, fondern auch an der Kohle, dem Eiſen und an einem 
ausgedehnten Dampferverfehr, der die Binnenjeen jchon beherricht und die Welt: 
meere beherrichen ſoll. Worläufig ijt bei uns der Bedarf jo groß, daß wir nicht 
auf Erport angewiejen find und jogar viel Nohmaterial aus Deutſchland bezogen 
haben. Diejer Zuftand wird natürlich nicht dauern. Läßt der Inlandsbedarf 


92 Die Zukunft. 


Aber die Börje hat jegt viel wichtigere Dinge zu thun. Sie muß be= 
wundern, wie fich die Plebs um den Zeichentijch der neuen Rufjenanleihen drängt. 
Wirklich: viel Plebs war dabei. Die hundertfache Ueberzeichnung iſt nicht allzu 
feierlich zu nehmen. So mander Schnorrer — verzeihen Die, lieber Lejer, das 
harte Wort — hat ſich weit über feine VBerhältniffe hinaus betheiligt. Ich hörte, 
wie Einer zum Anderen jagte: „Neich möcht’ ich fein, was ich gezeichnet hab'!“ 

ferner hält es die Börfe für nöthig, Kleine jpefulative Haufen in Szene 
zu jeßen; vielleicht nur, um fich zu zeritreuen und auftauchende Sorgen zu ver- 
geilen. Bejonders auffällig war die Kursfteigerung des Bergwerks „Nordjtern“, 
von deſſen Aktien man zunächſt behauptete, fie würden in Baris eingeführt werden. 
Dann, ald Das noch nicht genügte, verjtieg man fich jogar zu der immerhin 
fühnen Behauptung, der Norddeutiche Yloyd gedenke, den „Nordſtern“ anzulaufen. 
Aus einer Stelle des legten Gejchäftsberichtes könnte man allerdings jchließen, 
daß der Lloyd nicht abgeneigt iſt, durch Ankauf einer Kohlengrube jih vom 
Syndifat zu emanzipiren. Recht zweifelhaft jcheint aber, ob er zu dieſem Zweck 
fi) gerade das Bergwerk „Nordſtern“ ausfuchen würde, das 20 Millionen Tonnen 
jährlich fördert und etwa 35 Millionen Mark koftet. Denn wenn fich der Lloyd 
auch vom Kohlenſyndikat emanzipiren will, jo will er ihm doch ficher Feine 
Konkurrenz machen und fi als Kohlenhändler aufthun. Die phantaſtiſchen 
Gerüchte erinnerten bedenklich an die vor furzer Zeit iiber Gelſenkirchen in die 
Welt gejegten Lügenmären. Wahricheinlich handelt es fich wieder um ein Kleines 
Spielchen, das am Ende gar in beiden Fällen von den jelben Leuten begonnen 
war. Im Aufjichtrathsregiiter des Bergwerks Nordftern finden wir die Herren 
Leo Hanau, Thyſſen und Kappel, Wie der Zufall ſpielt .. 

An foldhe Scherze verjchwendet die Börje jegt ihre Zeit. Das ift der 
Illuſionkredit, von dent fie zehrt und Luftichlöffer baut. „Wie nennt man doch 
Geſchäfte jo betrieben? Man nennt jie Dumbug, Dumbug, meine Lieben.“ 


Plutus. 


bei uns nach, dann werden wir den Ueberſchuß unſerer Produktion auf die fremden 
Märkte bringen. Wir ſind entſchloſſen, jedes mögliche Mittel anzuwenden, um 
dieſes Ziel zu erreichen. Und wir werden es erreichen, weil kein anderes Land 
ſo billig zu liefern vermag wie wir. Nach Rußland wollen wir hinein; und 
wenn Sie in Deutſchland uns durch hohe Zollmauern den Weg ſperren, dann 
werden wir „Ihnen mindejtens die Gifenausfuhr abjchneiden, zunächſt nach Oftafien 
und bald hoffentlich auch nad) anderen Richtungen. So ungefähr ließ die ftählerne 
Majeftät ji) vernehmen. Die immer lächelnde Exeellenz aber, die Deutichlands 
Politik leitet, hat neulich erft dem Erdfreis verkündet, nirgends fei ein Punkt 
zu finden, wo in abjehbarer Zeit die deutjche und die amerikaniſche Politik feind- 
jälig zufammenftogen könnten. Das fonnte nur ein Diplomat alter Schule be- 
haupten, der die Bedeutung wirthichaftlicher Kräfte und Zuſammenhänge nicht 
ahnt umd zufrieden ijt, wenn er von der Dand in den Mund leben und alle paar 
Wochen fein Appläuschen einheimjen fann. Die Worte des Herrn Schwab müßten 
verltändigen Zeitungjchreibern für Monate Stoff bieten; fie zeigen, welches Un— 
gewitter heraufzicht, und jollten erfennen lehren, daß es zwiſchen den Vereinigten 
Staaten und dem Deutjchen Neid) wichtigere Dinge zu erörtern giebt als die Frage, 
ob cin Prinz drüben mit der nöthigen Begeijterung aufgenommen worden iſt. 


Herausgeber und derantwortli ner Nedatteur: m, derden ın Berlin, — Verlag dei 3utunft ın Berlin. 
Drud von Albert Damde in Berlin» Schöneberg. 


2 ma 


Bi —F 


ER RR #9: 3." 
— „= X 


—— 
—F IE 
ya —— In 


— 
(le x Di N 





Berlin, den 19. April 1902. 
Zr u er? 





Dalinodie. 


WW Friedrich Lehmann wurde wüthend, wenn man ihn einen Achtund— 
vierziger nannte. Er war im rothen Yenz geboren worden, am Abend 
des Tages, wo Friedrich Wilhelm vor der Yeichenparade den Hut ziehen 
mußte. Deshalb aber ift man noch fein Achtundvierziger. Das Hingt heute jo 
höhniſch, fo nad) einer Ehrfurcht, die mühſam das Yadyen verhält. Man denkt 
an einen zottigen Öraubart, an Schaftftiefel, Havelod, Schlapphut, an vers 
witterte Ideale. Und Friedrich Lehmann hielt ſich für höchſt modern. Seit 
er inEngland geweſen war, ging er nie ohne Eylinderhut aus, trug Schnür— 
ftiefel und Kleider nad) modijchem Schnitt, den Bart, der erſt ſacht ergraute, 
aſſyriſch, ganz kurz gefchnitten. Eineleganter Herr in den beiten Jahren. Auch 
ſchalt er die neue Zeit nicht. Manches war freilich anders gekommen, als cr 
gewünscht hatte, und mit den Bismärdern fonnte er ſich nie befreunden; zu 
wenig Ethos; fein Gefühl für die Bedeutung fittlicher Mächte im Völker— 
leben. Damit wars nun ja aber aus und nad) langer Noth der Geilt der 
Nation der Lehre ewiger Wahrheiten wieder offen. Die Zeit des Yiberalis- 
mus nahte und Herr Friedrich Lehmann erbat vom Schiejal nur das 
eine Gejchent: diefe Morgenröthe ihn noch jehen zu laſſen. Auf jedes 
Symptom achtete er und fam in Wallung, wenn irgendwo in der xBelt ein 
Kampf für die Freiheit verfündet wurde. Dabei warer einguter Kaufmann; 
Politik und Geſchäft aber waren für ihm getrennte Gebiete, deren Grenzen 
ein Ehrenmann rejpeftiren müſſe. Nichts founte ihn jo ärgern wie die Nei— 


- 


‘ 


94 Die Zukunft. 


gung jüngerer Leute, bei der Politik ans Gejchäft, beim Gejchäft ar die Po- 
litik zu denfen, Da war jein Neffe Ernſt Meyer. Ein gejcheiter Menſch, ders 
in der Grofinduftrie früh zu einem Direftorpoften gebracht hatte und mit 
dem fid) angenehm plaudern ließ. Wenn er nur nicht gar jo nüchtern wäre, 
fo unfähig jeder Begeifterung! Immer die jelbe Stepfis, die jelbe fühle Ab— 
lehnung aller Emphaſe. Ein Junggeſelle, der ſchon ein Hübjches Vermögen 
eripart hat und doch für Öffentliche Angelegenheiten nicht mobil zu machen 
ift, trogdem er am eigenen Yeibe die Wirkung unjerer Rüdjtändigkeit jpüren 
mußte. Nicht einmalftejerveoffizier war er, als $udenjohn, geworden; und 
hatte jich im Dienft doch redlic geplagt. Wenn in Geſellſchaft die Rede auf 
Militärverhältniffe und Uebungen kam, wurde er verlegen und juchte dem 
Geſpräch eine andere Wendung zu geben. Für den nothwendigen Kampf 
gegen die Neaktion aber war er nicht zu haben. Politik ift Rokoko, ſagte er 
und war jtolz darauf, dager jeit zehn Jahren feinen Parlamentsbericht mehr 
gelefen habe. Ihre Plauderjtunden endeten faft jedesmal mit einer Disſo— 
nanz. Doc) der Onfel mochte diefe Seele nicht aufgeben. Nad) der erjten 
Flaſche Perrier-Jouet ging es gewöhnlich los. Und heute konnte Herr 
_ Friedrich Lehmann jo lange nicht warten. Sein Herz war zu voll, die Ge- 
legenheit zu günstig, einem Verirrten endlich den richtigen Weg zu weijen. 

„Na? Wie denken wir denn über Belgien? Dein Yieblingjag war 
je immer: Induſtrie tft Freiheit. Damit bohrtejt Du ſämmtliche Fracht: 
dampfer meiner Hoffnungen in den Grund. Induſtrie ift Kultur. Nur 
feine politijche Aufregung; Alles fommt von felbjt. Enrichissez-vous! 
Die Neichiten find die Stärfften. Eine neue Mafchine ift wichtiger als ein 
Dutzend Geſetze. Und jo weiter. Ich könnte das ganze Penjum herunter- 
leiern. Fürchte aber, daß die reifere Jugend nicht Recht behält; oder hoffe 
vielmehr, denn ich möchte in Deiner Buſineßwelt nicht leben. Induſtrie giebts 
in Belgien doch genug. Aud) an Geld fehlt es nicht; die StaatSeinnahmen 
haben jid) in den legten zwölf Jahren verdoppelt. Von Freiheit aber merfe 
ic) nicht viel. Wer Augen hat, muß diesmal jchen. Nicht für höheren Yohn 
fämpfen dieYeute. Sie legen die Arbeit nieder, hungern mit Weib und Kind, 
jetsen jich auf der Straße den Uebergriffen der bewaffneten Macht aus, weil 
fie nicht länger in Unfreiheit leben wollen. Sie fordern ihren Theil an der 
Regirung. Und trog allem Gerede von Klaſſenkämpfen marjchiren Bürger 
und Arbeiter hier vereint. Der Drudder Herifalen Derrichaft Laftet jo ſchwer 
auf dem Yande, daß der Wunsch, von ihm befreit zu fein, alle Barteiunter- 
ſchiede verwiſcht. Lange genug hat man diejen armen Menſchen den Himmel 





Valinobdie. 95 


mit Kutten verhängt. Jetzt wollen fie endlich wieder die Sonne fehen, frei 
denfen und die idealen Güter, für die einft die Väter ihr Blut vergofjen, 
wenigfteng den Kindern fichern. Noch ift nicht vorauszufagen, was jie er- 
reichen werden und ob aus den Putjchen eine Revolution wird. Die Führer 
predigen ja Mäfigung. Aber e8 ift ein großes Beifpiel und der beſte Beweis, 
dag die Intereſſenpolitik nod nicht unumfchränkt die Köpfe beherricht.“ 

„Ja ... Die Gejchichte hat ung auch beichäftigt. Zuerſt zogen Kohlen 
an und man glaubte, Friedländer und Arnhold gratuliren zu fönnen. Wenn 
im Borinage acht oder vierzehn Tage nichts gefördert wurde, mußten die 
Preije ordentlich Elettern. Mir ſchien die Rechnung gleich falſch. General: 
jtrife hin oder her: der Ausftand fonntenicht aufdie Kohlengruben beſchränkt 
bleiben. Und jobald er andere Induſtrien ergriff, war wieder feine Kohlen: 
noth zu erwarten. Das hatdie Börje aud) bald eingefehen und den Hauſſiers 
die Mahlzeit verdorben. Immerhin warens eklige Tage. Der Gedanke, 
Belgien könne Wochen lang feiern und ein Bischen Germinal fpielen, ift 
nicht leicht auszudenfen. Gerade vor den franzöfiichen Wahlen. Ein Funke, 
der über die Grenze fliegt, würde den ſchönſten Brand anfachen. Natürlich 
hatte die Sache aud) ihre guten Seiten. In Gejchäften gilt ja faft immer 
das martialiiheWort:Sunt mala, sunt quaedam bona, sunt mediocria 
plura. Je fauler e8 den Belgiern geht, die als Konkurrenten mit allen Hun- 
den gehett find, um jo bejjer für uns. Heutzutage aber fürchtet man jede 
Ueberrafchung und iſt ſchon zufrieden, wenn Alles ruhig bleibt. Wir jchlep- 
pen noch zu viele Leichen mit, um Sprünge wagen zu fönnen. Namentlich) 
jest, wo Seder nur nad) London und Pretoria horcht und die Entjcheidung 
über den Krieg und die jüdafrifanische Zukunft fallen muß, brauchten Cleo- 
pold3 Unterthanen uns nicht noch nervöfer zu machen.“ 

„Und fonft hat Dich an der Sache nichtS interejfiert ?* 

„Do. Zum Beifpiel der amufante Unfug, der mit der Forderung 
des Frauenſtimmrechtes getrieben wurde. Stoff füreinepolitijche Komoedie. 
ALS ich nod) öfter nad) Belgien kam, hörte ich immter, die Arbeiter verlang— 
ten das Wahlrecht, jogar das paſſive, auch für die Frauen, die in Flandern, 
befonders in Gent, in den Gewerfichaften vertreten find, überhaupt in der 
jozialdemofratifchen Organifation eine Rolle jpielen. Le suffrage uni- 
versel sans distincetion du sexe: wie oft bin id) damit gelangweilt wor: 
den! Nun find die Konfervativen — Du kannſt jie, wenns Dir Vergnügen 
macht, auch Klerifale nennen — da drüben nicht auf den Kopf gefallen. 
Nachdem jie den erſten Schred überwunden hatten, jahen jie jid) den radi— 


7* 


— 


96 Die Zukunft. 


falen Vorfchlag genauer an; und die Herren Colaert und Woefte fanden, er 
fei nicht zu verachten. Schließlich find die organifirten Genoſſinnen doc) 
nur eine Kleine Minderheit und die anderen Wahlweiber, die ‚bürgerlichen‘, 
gehören der Partei, die über die Beichtväter verfügt. Vorläufig wenig: 
jtens. Dürfen die Frauen erjt wählen, dann wird man fie natürlich 
dem Prieftereinfluß zu entziehen und unter die Herrichaft modernerer 
Parteibonzen zu bringen juchen. Das dauert aber eine hübjche Weile und 
inzwiſchen fit jich8 vor vollen Schüfjeln ganz bequem. Weißt Du, was die 
Theaterleute eine Verwandlung bei offener Szene nennen? So wars in 
Belgien. Die Sozialdemokraten haben die Forderung des Frauenjtimm: 
rechtes bis auf Weiteres vertagt und die drohenden Buchſtaben S. U. be- 
deuten ihnen nur nod) das suffrage universel des hommes. Grund: 
wenn die Frauen mitwählen, bleiben die Konjervativen am Steuerruder, 
Deine ehrenwerthen Barteigenofjen, die weder die Proletarierinnen noch die 
frommen Beidhtfinder für fich hätten, haben erjt recht Feine Luft, den. Frauen 
politische Nechte zu geben. So treten denn nur die ‚Reaktionäre‘ für die 
holde Weiblichkeit ein. Bleibts bei der Broportionalwahl mit Pluralvoten: 
ihön; wird aber das allgemeine und gleiche Stimmrecht durchgejegt, dann 
werden die Konjervativen ſich alle Mühe geben, es auch den Frauen zur 
fihern. Das haben jie offen erklärt. Famos, nicht wahr?“ 

„HM... Die Macht der Verhältniſſe kann auch den Liberalften zwin- 
gen, eins jeiner Ideale zurüczuftellen. Darin ſehe ich nichts, was Tadel 
oder gar Spott verdiente. Das Frauenſtimmrecht iſt nicht jo wichtig wie 
die Befreiung vom Pfaffenregiment. Deine Gloſſen treffen die Hauptjache 
nicht. Dem großartigen Schaujpiel, dag ein für Freiheit und Recht fech- 
tendes Volk bietet, kann ich mid nicht entziehen. Das aber haben wir hier 
vor ung. Es handelt fic um den Kampf zweier Weltanjchauungen .. .* 

„Gewiß. Das jagen jeit zwanzig Jahren und länger die beiden Par— 
teien, die um den Futtertrog ftreiten. Wenn die Liberalen herrjchen, iſt der 
Bäterehrwürdiger&laube in Gefahr ; und wenn, wie jett jeit achtzehn SKahren, 
die Frommen regiren, wird fchon in der Schule des Volkes geiftige Freiheit 
vernichtet. Mit diefen Späßen haben die verjchiedenen Gruppen der Bour— 
geoijie überall der Maſſe lange die Zeit vertrieben. Das zieht nun nicht mehr. 
Hungernde werden von den wundervolliten Ideologien nicht jatt, Onkel Frig. 
Sieh Dir mal Meuniers Bilder und Bronzen aus dem Schwarzen Yande an 
und frage Did) dann, ob dieſe Schlecht gefütterten Puddler, diefe in härtejter 
Männerarbeitfaftaller Gejchlechtsreizeberaubten Frauen Luft haben werden, 


Palinodie. 97 


für den Hofuspofus Eurer Ideale ihr armes Leben aufs Spiel zu jegen. 
Ihre Yage bleibt unverändert, ob Klerikale, ob Liberale die Staatspfründen 
an fich reißen. Sie fönnen nur jelbjt fich helfen. Das haben fie erfannt und 
ſich deshalb organifirt. An politifcher Freiheit ift in Belgien fein Mangel. Du 
fannft da ungefährdet Reden halten und Artikel jchreiben, für die Du bei ung 
verdonnert würdeſt, daß e8 nur fo frachte. Doch was nügen alfe Freiheiten, 
wenn man ſich faum alle acht Tage ein Stüd Fleiſch leiften fann? Wer in 
ſolcher Noth figt, giebt die Ideale unter dem Selbftfoftenpreis hin. Die 
um die Beute raufenden Parteien müfjen thun, als handle ſichs um die be- 
rühmten heiligften Güter. Wenn wir irgend einen Magiftrat beftochen und 
der Konkurrenz einen Auftrag weggeſchnappt haben, jagen wir auch der 
Generalverfammlung, daß wir ftolz darauf find, der nationalen Arbeit 
neuen Boden erobert zu haben. Ohne Phrafenfchleier mag Keiner in die 
Sonne gehen... In Jedem von ung tet ein Snob; und ic) leugne gar 
nicht, daß die Hoffnung, eine richtige Revolution erleben zu können, mich 
angenehm figelte. So was aber machen höchftens noch die Franzofen; Wal- 
lonen und Vlamen find, glaube ich, dafür nicht zu haben. Der belgijche Ar- 
beiter fordert das Wahlrecht, weiler eingeſehen hat, daß nur politische Macht 
ihm zu befjeren Arbeitbedingungen helfen kann. Strifesfind zu ofterfolglos 
geblieben. Eine Partei, mit der die Negirung rechnen muß, kann Alferlei 
durchiegen. Und über furz oder lang werden die Yeute ihr Ziel erreichen!” 

„Das aljo giebjt Du wenigſtens zu?“ 

„Nicht erjt jeit geitern. Wenn ic) das Geheul über die Yalten der 
Arbeiterverficherung, über den wachſenden Anfpruch auf Yohn und Gejund- 
heitichuß hörte, Habe ich immer gejagt: Abwarten ; fommt überall. Ich bin 
vom Segen der Demokratie nicht allzu feſt überzeugt ; aber auf perjönlichen 
Geſchmack fommt e3 ja nicht an. Die Entwidelung ift nicht aufzuhalten. 
Daher der Sat, den Du mir vorwirfft: Induſtrie ift Freiheit. Allerdings 
erſt nach einer Epoche der Sklaverei. Ich fönnte auch jagen: Induſtrie ift 
Revolution. Die auf der Straße errungenen Siege können unbelohnt, die 
ſchönſten Geſetze auf dem Papier bleiben: der dicht zufammengepferchten, mit 
dem für ihre Arbeit nöthigen Bildungminimum ausgejtatteten Dienge kann 
feine Macht der Erde auf die Dauer ihr Necht vorenthalten. Das tröjtet 
mid; manchmal, wenn ſich die Scham meldet. Sie vos non vobis nidifi- 
catis aves. Eines Tages werden wirja doc) entthront. (Hoffentlich dauerts 
nod) ein Weilchen, denn mein Altruismus ift an gute Nahrung gewöhnt.) 
Ein Staat von der ausſchließlich industriellen Kultur Belgiens kann nicht 


98 Die Zukunft. 


lange oligarchifc regirt werden. Ich fehe nur zwei Möglichkeiten. 
Entweder wird die Verfajfung geändert und das allgemeine Stimmredt 
gewährt: dann giebt es ſtatt der einunddreißig bald ſechzig Sozialdemokraten 
in der Kammer, der Lohn fteigt, die Arbeitzeit wird verkürzt und wir jind 
eine Konkurrenz los, die uns oft genug unterbot. Dder die herrjchenden 
Kapitaliften, fromme und gottlofe, find blind und fträuben fich, bis es zu 
jpät ift: dann fommt e8 zur Revolution und die Koburger fönnen die Koffer 
paden. In feinem Fall ſieht die Zukunft heiter aus. Ueberalf verringert ficdh 
die Zahl der Auszubeutenden. Weite Abjaggebiete, deren Bewohner wir die 
Maſchinentechnik gelehrt haben, verjchließen ſich unſeren Produkten und der 
Arbeiter erhebt den unerhörten Anjpruch, wie ein Menſch zu leben. Neue 
Märkte? Profit Mahlzeit! Diefe Wonnen jpüren wir ſchon in den Gliedern. 
Das wird ein Haufirgeichäftichlimmifter Sorte,bei dem Europa nicht auf die 
Kosten kommen wird... Und da wunderft Du Did) und zürnft, weil id) für 
Eure Politik nicht zu haben bin. Ich könnte mir eine Politik denken, derih 
meine Bequemlichkeit opfern würde. Weltbund gegen Nordamerika, das 
uns ſonſt auffrißt. Rußland muß mit der Furcht vor der ajiatischen Kons 
kurrenz für die Sache gewonnen werden. Frankreich kann über die Pyrenäen 
gehen. Da ift gloire und revanche zu finden. Es ift doch zu dumm, daß 
auf dem kleinen europätjchen Fejtland der verfaulende Staat der Spanier 
geduldet wird. Die würden fid) irgend einen Youbet mindeftens eben jo gern 
gefallen laſſen wie einen Alfonjo oder Don Karl, wenn nur Geld ins Yand 
fäme; zu ernſthaftem Widerjtand reicht ihre Kraft auch nicht. Und die 
Franzoſen wären für hundert Jahre bejchäftigt und fönnten die guten Bilder, 
die jetst in Madrid vergraben find, mit nad) Paris nehmen. Und dann. .* 

„Dann jchicden wir die verbündeten Flotten nach New-York, bom= 
bardiren und verwüjten, was zu erreichen ift, und laſſen ung jo ungefähr 
fünfzig bis jiebenzig Milliarden als Kriegsentichädigung zahlen. Das würde 
jelbft die Yankees für ein Menjchenalter unjchädlid machen. Nicht wahr: 
jo etwa denkjt Du Dir die Politik, die Did) reizen fönnte? Daß Du Ideale 
haft, ijt danach jedenfalls unbeftreitbar. Nur find fie ein Bischen..... ein 
Bischen urwüchſig, mein Junge. Das Heine Wörtchen ‚Recht‘ fehlt in 
Deinem Katehismus. Macht! Macht! Ob die einfachſten Pflichten der Hu— 
manität verlett, die Rechte Fremder Völker gebrochen werden, ift gleichgiltig; 
der Zweck heiligt die Diittel. In meinem ganzen Leben bin ich mir nicht jo 
rüdftändig vorgefommen. Alfo Straßenräuberpolitif. Sid zujammen- 
rotten und Jedem, der vorüberfommt, die Werthjachen abnehmen. Das ift 


Palinodie. 99 


die neue Schule. Meinetwegen. Dann aber weiß ich wirflid) nicht, was 
wir den Engländern vorwerfen. Auc Herr Chamberlain hat dann Recht.“ 

„Natürlich, wenn er die Macht hat, ſich jein Necht zu prägen. Damit 
haperte es aber bis jetzt. Dur thuft, als gäbe ic) mid) für den Erfinder einer 
neuen Methode oder Schule aus. Keine Spur. So ift immer Politik ge: 
trieben worden. Zuerjt für Fürſten, für eine Heine Schaar Privilegirter, 
dann für ganze Nationen. Das ijt doch ein Fyortichritt. Zeige mir einen 
Staat, der unter Wahrung erworbener Nechte entjtanden ift. Das Recht 
hat jich nachher gefunden. Selbjt Deine geliebten Buren haben den Kaffern 
erſt ihr Yand geraubt und die Heimathlojen dann zu ihren Sklaven ge: 
macht. Mit dem Recht der höheren Kultur? Darauf berufen ſich auch die 
Engländer. Ohne Lügen gehts in großen Geſchäften nun einmal nicht. Der 
alteSalisbury hat feierlich erklärt, Großbritanien wolle in Südafrika weder 
Gold noch Land erobern. Die Buren haben hundertmal gejagt, jie würden 
bis zum legten Dann fürihre Unabhängigfeit fechten. Das erjchwert jetst den 
Friedensſchluß. Die Briten wollen Yand und Gold, die Buren haben den 
begreiflihen Wunſch, die Refte ihrer Freiheit möglichft theuer zu verkaufen; 
fie werden nicht tot de bitter end fümpfen, fondern zufrieden fein, wenn fie 
für ihre Farmen und Biehverlufte reichliche Entſchädigung bekommen. Beide 
Völker möchten ‚das Geficht wahren‘, wie die Eugen Chinejen jagen, und 
deshalb ziehen die Verhandlungen fi hin. Wenn fie beendet find, fönnen 
wir die Bilanzen prüfen. Vielleicht Schlieken die Engländer jchlecht ab; dann 
dürfen fie fid) bei ihrem Eduard bedanken, der nichts im Kopf hat als jeinen 
Ceremonienkram und als Friedensfürjt gekrönt fein will.“ 

„Dir jcheint der Schlechte Abſchluß ſchon heute nicht zweifelhaft. Von 
den moralijchen Einbußen will ich gar nicht reden ; ſonſt würdeft Du mic) 
am Ende wieder einen Acdhtundvierziger jchelten. Aber jieh Dir die Ziffern 
der Kriegskoftenrechnung an. Schon war das Parlament gezwungen, einen 
Zoll auf Korn und Mehl zu bewilligen. Schußzoll in England! Wer diejes 
Hägliche Ende der Politif Peelsvorausgejagt hätte, wäre noch vor drei Jahren 
ind Narrenhaus gewiejen worden. Aber Neaktion und Schutzoll gehören 
nun einmal zufammen. Das weiß der jchlaue Chamberlain; deshalb war 
er für eine größere Anleihe und gab erſt nad, als er fühlte, daß Hicks 
Bead) die Mehrheit der Regirungpartei Hinter fich hatte.“ 

„So jtands in der Zeitung. Aber wir find doc) Kaufleute und können 
rechnen. Erreicht England jein Ziel, dann fommt ein boom, wie wir Beide 
noch feinen jahen; alle Börjen des Kontinentes freuen ſich feit zwei Jahren 


100 Die Zukunft. 


darauf und die hohe Minenfteuer, die Rhodes jetzt nicht mehr hindern kann, 
wird den Rauſch Faum ftören. Damit aber ift die Sache nicht abgethan. 
Wenndiebeiden Holländerrepublifen engliſche Kronkolonien werden — einer- 
kei, welchen Namen man dem Kinde giebt —, jo ijt Afrika engliih. Das 
will Etwas jagen. Was bedeutet dancben das Bischen Finanzzoll, das im 
nächiten oder übernächiten Budget wieder bejeitigt werden fann? Ich will 
uns mitdem Beweis, daß politiſche Freiheit und Freihandelnurden Namens- 
Hang gemeinfam haben, nicht den Abend verderben; Franzoſen und Yankees 
find, trog den Schußzöllen, ja wohl nicht gefnechtet. Warum aber braudyen 
wir überhaupt jo große Worte? Perlund Cobden fönnten wir ruhen laſſen. 
Feder Engländer wußte, daß der Krieg theuer wird. Das Yand ijt reich 
genug, um ihn zu bezahlen, und die überwiegende Mehrheit würde aud) 
doppelt jo hohe Koften ohne Murren tragen. Chamberlain, ein Yiberaler, 
dem ohnehin ſchon die Berleugnung der wichtigſten Parteigrundfäte vorge- 
worfen worden ift, jcheute natürlich) das onus, den Yebensmittelzoll vorzu— 
ichlagen. Das paßt beſſer für die alten Tories. Wenn Joe ſich Rojebery, 
dem Kandidaten des Königs, verbündet, kann ihm Kleiner nachſagen, erhabe, 
als demofratijcher Staatsjozialift, da8 Brot des armen Mannes vertheuert. 
Das ift der Zweck der Uebung. Er ift überftimmt worden. So machen wirs 
dod) auch; nur ift für uns, da wir Alles dem Auffichtrath zujchicben können, 
die Sache noch viel bequemer... Siehit Du: diefe Umjtändlichkeiten verlei- 
den mir die Politik. ch will mich wahrhaftig nicht aufipielen. Wer Jahre 
lang gereift ift, um Aufträge zu befommen, und mit Stalienern verhandelt 
hat, ftolpert nicht über eine Yüge. Aber das dumme Yügen, das Kleinen täufcht, 
diefe gräßliche, finnloje Wortmacherei: da kann ich nicht mit.“ 

„Und unter diefem Vorwand entzichit Du Did) der Staatsbürger- 
pflicht und läßt die Dinge gehen. Bis Dein Kricgsplan gegen Amerifa-aus- 
geführt wird, wirft Du nod) ein paar Tage warten müſſen. Giebt e8 in- 
zwiichen nicht zu Haufe Einiges zu thun? Du merfjt doch jelbft, wie die 
Reaktion ung bedroht. Deutjchland jteht vor einer Krijis, die zur Vernich— 
tung jeines Wohljtandes führen fann. Siegen die Junfer diesmal, dann 
werden fie jid) an die Macht flammern, mit ihrer befannten brutalen Rück— 
fichtlofigkeit den Erfolg ausnügen, dem gefejielten Bürgertum den Fuß auf 
den Naden jegen und uns den Reftvon Freiheit nehmen, der uns noch blieb.“ 

„Aber fie fiegen ja nicht. Ste jind ja ſchon bejicgt. Du denkſt an den 
Holltarif. Ich muß geftehen, daß die Sache mid) nicht jehr interefjirt. Seit 
einem Jahr mindeitens wiſſen wir, daß der Export nad) manchen Yändern 


Palinodie. 101 


erjchwert wird. Das ift unangenehm, aber nicht jo ſchlimm wie andere wirth— 
Schaftliche Vorgänge, gegen die wir auch nicht8 machen fünnen. Wir haben 
uns, wie die ganze Induſtrie, darauf eingerichtet, und warten num ab, wie 
die neuen Handel3verträge ausjehen werden. Bei Euch dauert Alles fo 
furdtbar lange. Ein Sieg der Leute, die Du Junker nennt, ift ganz aus- 
geſchloſſen. Das willen fie jelbft. Dan will ihnen nur den Uebergang er- 
leihtern. Reichthümer werden fie auch unter dem neuen Tarif nicht ſam— 
meln. Was joll ich num thun? In Bezirksvereinen gegen den Brotwucher 
reden, die Vortheile des jchlecht reftaurirten Dreibundes preijen oder zu er» 
rathen juchen, warum der eine Minifter dahin, der andere dorthin gereift ift? 
Den Buren ein langjames Berbluten wünjchen, trogdem jede Verlänge- 
rung des Krieges uns Schaden bringt? Bon jolcher Thätigfeit fann ich 
mir feinen Nugen verjprechen. Ihr wollt den Adel aus jeinen Privilegien 
jagen und jucdht ihm deshalb die Yebensmöglichkeit zu ſchmälern. Das ift 
nicht unſer Ziel. Wir wollen die Anderen nicht ärmer machen, fondern 
uns bereihern. Schon der guten Raſſe wegen möchte ich die Junker nicht 
entbehren. Du haft nun mal die Antipathie. Achtundv... Pardon! Schließ— 
lich mußt Du Dich aber doch fragen, was Ihr bisher erreicht habt. Nichts, 
jcheint mir. An Euren Reden liegt e8 nicht, daß die Bourgeoijie ſtark ge- 
worden ift. Das iſt die Folge der großfapitaliftiichen, großinduftriellen Ent- 
wicelung, die heute längft viel zu weit gediehen ift, als daß irgend eine Partei 
oder Gruppe fie dauernd hemmen fünnte. Siehe Nordfeefahrt. Schwanf- 
ungen find möglich; einen Stilfftand kann es auf dem Wege nicht geben, der 
nad) England oder — wahrjcheinlicher — nad) Belgien führt. Nehmen wir 
an, wir wären jchon am Ende. Belgien zwiſchen Dder und Elbe, mit 
Iharfer Konkurrenz, ungeheurem nduftrieproletariat und dem berüchtigten 
‚„plutofratiichen Wahlſyſtem‘“ Würdeft Du Did) dann für das allgemeine 
Stimmrecht begeiftern? Ich nicht; und Deine Parteigenojjen thun es da, 
wo jie nicht zu gewinnen, nur zu verlieren haben, auch nicht. Wir Alle halten 
eben nur die Güter für heilig, deren Genuß uns sicher ift. Als ich nicht Lieute— 
nant wurde, habe ic) mich ſchmählich geärgert und aufdie Reaktion geſchimpft, 
day Du Deine Freude dran hattejt. Doch man wird älter; und wenn man 
die Maſſen nicht Hinter, ſondern gegen fich hat, muß man eine bejondere Taftif 
eriinnen. Wir find Fleiſch von Eurem Fleiſch und haben die gute Sadıe 
nicht ſchnöde verrathen. Aber wirhaben von einem Sänger gehört, der, weil 
er eine Schöne Königstochter beleidigt hatte, mit Blindheit bejtraft ward und 
das Augenlicht erjt wieder erhielt, als er in einem neuen das alte Yied wider- 


rief. Wir jummen nur und haben Eure Sünde dennoch jchon geſühnt.“ 
= 


102 Die Zukunft. 


Nervoſität und Runftgenuß. *) 


Ss: Werthung de3 Kunſtgenuſſes pendelt feit einiger Zeit zwifchen zwei 
deutlichen Ertremen. Auf der einen Seite ijt, wie Kurt Breyfig 
gelegentlich mit Recht bemerkt, der ſozialpädagogiſche Charakter der Kunft 
felten fo ſtark betont worden wie in unferen Tagen. Die Nutzkunſt nimmt 
immer breiteren Raum für fi in Anſpruch. Man will dad Leben, auch 
das der Einfachen, ftilifiven; und beim Kinde fol angefangen werden. Was 
das Kind heute umgiebt, fo hörte ich einft den Darmftädter Georg Fuchs 
empört rufen, iſt Häßlich, nur häklich, und wir wollen, daß unfere Kinder 
in Schönheit aufwachſen. Die erſten Künftler dichten und malen Bilder- 
bücher, in Hamburg werden Kinder in Galerien und Theater geführt und 
man entwirft ftilvolle Kinderſtuben. Berlin folgt darin nad. Auf der 
anderen Seite aber wird lauter und nachdrücklicher als je auf die Gefahren 
einer Aeſthetiſtrung der Erziehung und Lebensführung hingewiefen. Wir 
denken dabei nicht an das Urtheil des PHilifterd, der nad) der offiziellen 
Galerienjagd in feinen brummenden Schädel den Schluß zieht, die Kunſt 
mache doc auf die Dauer die Nerven faput; wohl aber ift es ein bedeut= 
fame3 Symptom, wenn Nervenärzte vom Range eine® Dppenheim, eines 
Binswanger dringend ihre Stimme erheben und die Nervojität der Zeit in 
nahe Beziehung zum äfthetiichen Genuß ſetzen. 

Man darf ja das Urtheil diefer Männer nicht al8 unbedingt unan— 
taftbar hinftellen. Seit Dubois-Reymond Goethe und Bödlin vernichtete, 
wird man im Gegentheil dem Gutachten medizinischer Autoritäten über Kunft 
recht jfeptifch gegemüberftehen dürfen. Es kann Einer ein hochbedeutender 
Neurologe fein, ohne ein inneres Verhältniß zur Kunft zu haben; wer Das 
aber nicht hat, wird über Kunſtdinge ftetS jchief und ungerecht urtheilen. 
Aber freilich: nicht Jeder gefteht Das jo freimüthig ein wie Bismard; ein 
Bishen Familienanſchluß an die Kunſt will Steiner fo leicht miſſen. Ob 
ihr Verhältnig zur Kunſt aber enger oder lojer ſei: Männer von folder 
Bedeutung und folder geiftigen Macht über ihre Sphäre, wie die genannten 
Nervenärzte e8 find, wollen und müſſen gehört werden. Nichts hindert ung, 
ihre Ansicht, thuts Noth, Scharf abzulchnen, Alles aber, fie zu ignoriren. 

Sic mit ihr zu befchäftigen, ift ſchon darum bejonders interefjant, 
weil die beiden Warner auf ganz verichiedenartige Wirkungen des Kunſt-— 
genuffes abzielen. Oppenheim hat vornehmlich das ſinnliche Subftrat der 

*) Der BVerfaſſer hat bisher jeine literarifchen Arbeiten unter dem Pſeudonym 
Ernſt Eyſtrow veröffentlicht; er wird ſie fortan mit jeinem bürgerliden Namen 
zeichnen und legt Werth darauf, die Identität beider Namen fejtzuftellen. 


Nervofität und Kunftgenuf. 103 


äftgetifchen Genüffe im Auge: die Töne, die Farben, die Formen auch, fo 
weit jie elementar jinnlich, etwa jeruell aufreizend wirken. Wir Alle wilfen, 
daß jede intenfive und lange dauernde, dazu häufig wiederholte Inanſpruch— 
nahme des gleichen Sinnesorgans zunächit diefes und jefundär unferen ganzen 
Drganismus in den Zujtand der Ermüdung verfegt. An und für ich fommt 
aljo diefe Wirkung aud jedem Kunſtwerk zu, wenn es eben zu lange, zu 
ſtark und zu oft genofjen wird, welcher Gattung und Zeit e8 auch ange: 
hören mag. Und nur der Beweis, daß die moderne Kunſt mit befonders 
ftarfen und zeitlih ausgedehnten finnlichen Mitteln arbeite, dag fie unfere 
Sinnesorgane lebhafter und länger befchäftige, könnte den Vorwurf recht— 
fertigen, daß fie mehr als die Kunſt vergangener Zeiten unfer Nervenſyſtem 
zu ermüden geeignet fei. Dann würde auch zu folgern fein, daß jie neu— 
ropathijc wirfe. Denn, ob es nun theoretifch richtig oder philijtvös oder 
fonft was ift, praftifch fuchen wir unleugbar Alle — mit Ausnahme der 
Künstler und der Rezenjenten von Beruf — in der Kunſt ein Gegengewicht 
zur AlltagSarbeit. Dieſe aber hat für weite Sreife heute einen Charafter 
angenommen, der das Nervenfyftem ftärfer denn jemals beeinflußt, abnust 
und fchädigt; beſonders durch die unendlichen Berfeinerungen und Verwide- 
lungen, die die perfönliche Verantwortlichkeit in der Fapitaliftichen Geſell— 
Ihaftform erfahren mußte Füllt alfo, nach jolcher Berufsarbeit, unfere 
Erholungftunden ein Kunſtgenuß aus, der ermeislic die Abnugung der 
nervöſen Kräfte fortfegt, ftatt Tie zu paralyiiren, jo fann er von fchweriter 
Mitfhuld an der Nervoiität unferer Zeit nicht freigefprochen werden, zumal 
er, im Gegenſatze zum Beruf, der vermeidliche Faktor in der Urfachengruppe 
diefer Nervoſität ift. 

Ganz andere Seiten des äfthetifchen Genufjes aber will Binswanger 
mit feiner Anklage treffen. Er nimmt die moderne Kunſt im Bejonderen 
aufs Korn. Nicht ihre finnlichen Ausdrudsmittel, jondern ihr intelleftueller 
Gehalt erregt jeine Beſorgniß. Ihre Sudt, das Krankhafte zum Problem 
zu nehmen, der Seele bis in die perverfeften Verirrungen nachzugehen, das 
Jämmerliche interellant und heldenhaft zu machen, endlich, den fchlichten 
Löfungen im komiſchen oder tragischen Sinne auszumeichen, um jtatt Defien 
ihre Schöpfungen in dumpfe Schwüle oder im fchrille Mißtöne ausklingen 
zu laſſen. Auch Hier fegt alſo die Hunt im bedauerlicher Weife Alles fort, 
was das moderne Leben im Beruf als fchwerite und bedenflichite Schäden 
uns zufügt; das Schwanfen aller Normen, der bodenloje Nelativismus, 
der das Widrigſte erlärlih, entichuldbar, ſchließlich berechtigt finden will, 
alles Das quält und zernagt unfere Hirmzellen nun auch noch in den Stunden, 
die dem Ausgleich diejer Schädigungen, der Erholung von den Berufs: 
attaden, der Herftellung des jeelifchen Gleichgewichtes dienen follten. Wie 


104 Die Zuhunft. 


es begreiflich ift, fefielt Binswanger, den Pfychiater, mehr die rein pfychifche 
Seite des äfthetifchen Genufjes; während Oppenheim, dem Neurologen, das 
Nervenigitem in feiner phyſiologiſchen Widerſtandskraft bedroht fcheint. 
Oppenheim bezieht jich bei feiner Beweisführung vor Allem auf das 
moderne Mufikdrama. Ihm ift eine Oper von Wagner Zweierlei: zuerft 
wohl ein äfthetiicher und intelleftueller Genuß, dann aber die Quelle einer 
tiefen Erichlaffung des Nervenfyftemes. Was aus einer folhen Auffaffung, 
die wohl ziemlich Jeder theilt, folgt, ift an ich Mar. Kein Kunſtbedürftiger 
wird wegen der Ermüdung auf den Genuß Verzicht leiiten wollen; wer fich 
zu ſolchem Verzicht entjchlöffe, hätte eben fein zwingendes Kunjtbedürfnif. 
Aber Feder wird ſich jagen, daß es eine Grenze giebt, wo die Ermüdung 
den Genuß vernichtet, und daß es diefe zu refpeftiren gilt. Zunächſt follte 
man hier immer ganz friih an den Genuß herantreten fünnen. Das ift 
ganz im Geifte Wagners, der feine Mujifdramen als Feftipiele dachte. Einen 
Feiertag, an dem Leib und Seele geruht haben, follen diefe Schöpfungen 
frönen, nicht aber einen Werktag abjchliefen, wo man abgehett und müde 
von Arbeitzinnmer ins Theater rennt. Zweitens muß der Genuß felten fein. 
Die Nerven und Sinneswerkzeuge bedürfen immer einiger Zeit, um aus der 
Ermüdung zur vollen Empfänglichfeit zurüdzufehren. ch entiinne mid, 
daß ich in Leipzig als älterer Student einmal eine Konzertwoche „ausgekoftet“ 
habe. Am zehnten Tage überfam mid ein wahrer phyſiſcher Efel vor der 
Muſik; ich war unfähig, Nicofais „Luftige Weiber“ mit anzuhören; ihre 
von mir über Alles geliebte Duverture, meifterhaft gefpielt, trieb mich aus 
dem Theater. ch war vernünftig genug, mir eine völlige Abjtinenz von 
vier Wochen aufzuerlegen. Da erfaßte mich von felbit wieder das Bedürf- 
niß nah Muſik und mit frischer Kraft genoß ich den „Eulenfpiegel“ von 
Strauß, der doc dem Ohr ſchon manderlei Zumuthungen ftellt. Aber ein 
vernünftiges Haushalten im äfthetifchen Dingen, wie ich es ſeitdem ftreng 
geübt habe, wird bei uns in hohem Make erjchwert durch die Abonnements 
auf Theater und Konzerte. Selbſt wo e3 ſich, wie ja meift, nur um Theil: 
karten handelt, bleibt doch der Uebelſtand, daß man ji den Tag des Hunft: 
genuffes nicht frei wählt, ſondern an die regelmäßige Abfolge gebunden ift. 
Und diefe freie Wahl gerade erjcheint mir fo bedeutjam, daß ich am Liebiten 
fogar den Vorverkauf der Billet3 abgejchafft fehen würde. Es ſoll eben ein 
leichter, harmonischer Tag fein, den der Genuß eines Kunſtwerkes abſchließt: 
ob er Das fein wird, vermag ich nach einem alten Sprihwort am Morgen 
noch nicht zu beurtheilen. Höchitens, wenn id; meinem alltäglichen Milieu 
entrüdt bin: in Bayreuth etwa. Aber ein Alltag im Haufe fichert ung, er 
mag noch fo vergnügt ſich anlafjen, für den Abend noch feine Feſtſtimmung. 
Einer unbejchäftigten jungen Bourgeoistochter vielleicht ; dem modernen Kauf: 


Nervofität umd Kunſtgenuß. 105 


mann, Arzt, Politiker nicht; cher noch dem Beamten. Wer jeden Tag um 
die felbe Stunde eine beftimmte Zeit in der Galerie zubrächte, Defien Ver— 
bältniß zur Kunft würde man wohl als jehr offiziell beargwöhnen; beim 
Theater gehört das Selbe, namentlich in den Mittelftädten, in den Refidenzen 
befonders, zum guten Ton. Und nun als Legtes: die Ermüdung darf nicht 
risfirt werden, wo wir des Genufjes nicht Sicher jind, und vor Allem nicht 
da, wo jicher fein Genuß fie ausgleicht: beim Kinde. Aejthetiiche Ueber: - 
anjtrengung it Mord am findlichen Nervenſyſtem, alfo an der Kindesfeele. 
Denn mehr, viel mehr als beim Erwachſenen ift die Pſyche beim Kinde ein 
Spielball nervöfer Einflüffe. Noch fehlen die reich entwidelten Hemmungen, 
durch die wir unſerer Nerven oft Herr werden, noch fehlen die konftanten 
Willensrihtungen, wie Wundt es nennt, noch giebt ji der Organismus 
jedem ſinnlichen Eindrud ohne Widerftand und ohne Schmälerung hin. Aber 
nun fpigt fih unfer Thema eben zur entfcheidenden Frage zu: Mas iſt 
äfthetifche Ueberanftrengung fürs Kind? Was dürfen wir ihm an unit: 
genuß zummthen? Welche äfthetiichen Dofen fönnen, jollen wir ihm viels 
feiht gar verabreihen? Oppenheim hat die Frage radikal beantwortet; 
überhaupt feine. Das Kind bleibe der Kunſt fern. Es ift unempfänglic 
für ihre äſthetiſchen und intellektuellen Schönheiten, empfänglic nur für ihre 
Schäden. Er fagt Das nicht ganz jo unverblümt, aber er meint es fo; 
Das fühlt man. Theater, Galerie, Konzertfaal: fie feien dem Kinde eben 
jo verfchloffen wie Kneipe, Tingeltangel und Ball. 

Damit wäre alfo einer altmodiſchen, kleinbürgerlich-kleinſtädtiſchen An: 
fücht die Approbation einer vornehmen Autorität der Nervenheiltunde ge- 
wonnen. Die Erziehung der Kinder zur Kunſt wäre offiziell verurtheilt: 
al3 im beiten Fall zwecklos, als meijtens ſchädlich. So hat man im guten, 
mittleren Bürgerfreifen bis heute auch gedacht; und ich meine, nicht ohne 
einigen Grund. Es fteht doch wohl auferhalb jeder, Debatte, daß man ein 
Kind nicht vor Probleme ftellen wird, die e3 einfach noch nicht fallen kann. 
Probleme aber find fo ziemlich alle Juhalte der großen fünftlerifchen Schöpf— 
ungen. Denn jelbft wo die Liebe, die ſonſt dominirende, eine nebenfächliche 
Rolle fpielt, wie bei Schiller, der doch vor Allen die großen fozialen erden: 
haften in Handlung treten läßt, jelbit da vermag das Sind vielleicht 
an der Darftellung diefer Leidenschaften ſich zu beraufchen, für ihre innere 
Größe oder Niedrigkeit aber fehlt ihm noch jeder Maßſtab. Der eigentliche 
intelleftuelle Gehalt diefer Werke wird ſpurlos am kindlichen Verſtändniß 
vorübergehen und nur ihre ſinnlichen Bejtandtheile werden zu Ausichlag 
gebender Wirkung gelangen. 

Die Berechtigung der Antwort Oppenheims aber liegt in der That: 
fache, daß die Entfaltung des äfthetifchen Sinnes im Menſchen durchfchnittlich 


106 Die Zukunft. 


mit der der gefchlechtlichen Reife Schritt hält. Durchſchnittlich: es giebt Aus- 
nahmen; befonder8 die Muſik hat feit je her Wunderlinder geliefert; aber 
was bedeuten fie gegen die Maſſe! In der Regel ift das Sind vor der 
Pubertät äfthetifch gleichgiltig. Nur Grelles und Lautes, Glänzendes und 
Raufchendes vermag feine Indifferenz zu ftören. Cine Militärfapelle, ein 
brennender Kronleuchter, ein buntes Bühnenbild erregen vielleicht fein Ent— 
züden; Kammermufif, Gemälde, ein Wallenftein-Monolog verurfadhen ihm 
Langeweile. Aefthetiih, — wohlveritanden; daß es vielleiht an allerhand 
Nebenumftänden Intereſſe finden fann, ift davon zu trennen. Erft mit dem 
anmwefenden Gefühl fürs andere Geſchlecht erwacht auch da8 eigentliche äfthetifche 
Empfinden, beginnt die Entfaltung der dauernden Affelte und Willens- 
äufßerungen. Alles, was voranging, war proviforifch; wie oft wandeln ſich 
mun ftille, verfchüchterte Kinder in aufgewedte, ſelbſtbewußte, wie oft werden 
laute, ungezogene ſcheu und in jich gekehrt. Vor. der Pubertät läßt Feine 
Individualität fih mit Sicherheit prophezeien. Auch nad) der Seite der 
intelleftuellen Begabung hin nicht. Jeder Lehrer weiß, welche überrafchenden 
Wendungen in diefer Zeit ſich oft vollziehen; und die moderne Pſychiatrie 
zeigt und in dem trüben Stranfheitbilde der Fugendverblödung, der dementia 
praecox, wie die heidelberger Schule fie nennt, eine nur allzu häufige Erz 
fcheinung, bei der die Wirkungen der gejchlechtlichen Entwidelung hoffnung: 
vollfte geiftige Anlagen dem langjamen, aber rettunglofen Verfall preisgeben. 

Vor diefer entfcheidenden Wende dem Kinde mit Gewalt äjthetifchen 
Sinn einpflanzen zu wollen, wäre grenzenlofe Thorheit. Diefes Frühbeet 
würde, grob gejagt, ein Miftbeet werden. Man müßte zur Entfaltung des 
äfthetiichen Empfindens das geichlechtliche vorzeitig aufrütteln und ich beneide 
Keinen, der vor diefem Unterfangen nicht zujchredt. Ueber die Fälle des 
aufergewöhnlicd früh erwachten Gefchlechtstriebes öffnet der Nervenarzt feine 
Journale nicht gern. Auch des normalen Seruallebens Vorboten, wie fie 
vereinzelt vom elften Jahre an aufzutreten pflegen, find, ftreng genommen, 
Perverſitäten, Regungen maſochiſtiſcher, fetiſchiſtiſcher, ſadiſtiſcher Nuance; 
ſo weit ſie in der Geſundheitbreite liegen, pflegen ſie mit dem eigentlichen 
Beginn der Pubertät, alſo zur Zeit der Bildung und Ausſtoßung der 
Geſchlechtsprodukte, zu verſchwinden und der natürlichen, auf den Verkehr 
mit dem anderen Geſchlecht gerichteten Sinnlichkeit zu weichen. Wer aber 
dieſen dunklen Gefühlsbewegungen ſyſtematiſch Vorſtellungskreiſe ſchaffen 
wollte, an die ſie ſich heften, an denen fie ſich ausleben fönnten, Der würde 
jeine Schrecken erleben und gar bald cerfennen, daß er die Welt um eine 
Anzahl der ohnehin ſchon Zahlreichen vermehrt hat, die den 8 175 ff. des 
Neichsitrafgeiegbuches zu fürchten haben. Das wäre die fichere Frucht einer 
in diefem Sinne geübten Kumnftpädagogif. 


Nervojität und Kunſtgenuß. 107 


Aber die Sache läßt doch aud eine andere Betrachtung zu. Jeder 
Kunſtgenuß ſetzt ſich, auch rein ſinnlich betrachtet, wieder noch aus zwei 
Komponenten zufammen. Von denen ift die eine angeboren, die inftinktive 
äfthetifche nämlich, und ihre Grenzen vermag unſer Zuthun überhaupt nur 
jehr wenig zu verrüden; von den drei hier vorliegenden Möglichkeiten wird 
am Eheften noc die zutrefien, dat der Geſchmack verdorben wird. Weniger 
ſchon ijt feine VBerfümmerung zu fürchten und faum fann er überhaupt ges 
fteigert werden. Die andere Komponente aber will erlernt fein, jie verlangt 
Schulung; es ift die technische Ausbildung unferer Sinne. Das Vermögen, 
zu hören, zu fchauen. Und diefe Schulung follte wohl die eigentliche kunſt— 
pädagogiiche Aufgabe fein; Kinder follen leſen, betrachten, hören lernen. 

Für diefe Aufgabe fcheinen mir unübertroffen und unübertrefflich die 
programmatifchen Leitfäge jich zu eignen, die Mar Liebermann in jeine 
Anſprache bei der Eröffnung einer berliner Sezeflionausitellung eingeftreut 
hat: „Kunst ift, was die großen SKünftler gemacht haben.“ Ein Sag, den 
Liebermann dem Heiligen Auguftin entlehnte, kunftgefchichtlih und kunſt— 
pſychologiſch ſo anfechtbar wie nur möglich, leicht aus allen Perioden der 
Sunftentwidelung heraus. zu widerlegen; pädagogiſch aber und agitatorijch 
von emimenter Treffiicherheit und dauerndem Werth. Durch ihn feheidet fich 
die neue Kunſtpädagogik verföhnlich von der alten. Unfere Schulen haben 
als Kunſt bisher weſentlich nur Kunſtgeſchichte getrieben. Kunſt war für 
fie: wann die Künſtler — große, mittlere, Kleinere und ganz fleine — ges 
boren und gejtorben, vermählt und preisgefrönt oder verhungert waren; war 
ein Haufe von technifchen Bezeichnungen für jogenannte Stile; war — am 
Allerſchlimmſten! — oft nur ein Lobpreifen der Füriten, unter denen die 
Kunſt gefördert oder doch wenigſtens — was auch ſchon Etwas ift — ges 
duldet wurde. Das Alles hat gewiß auch fein Feffelndes, aber es fommt 
doc zulegt in Betradht; und wenn die Kinder nicht gerade Kunithiftorifer 
werden jollen, ijt e3 gut, wenn lie es, Gott ſei Dank, bald wieder vergejien. 
Dafür fordern wir, daß die Schule von heute dem Kinde vor Allem die 
noihdürftigiten techniſchen Fertigkeiten beibringe, ohne die auch der ſtärkſte 
äfthetifche Inftinkt jedem Kunſtwerk gegenüber hilflos bleibt. Nur dann wird 
ihm fpäter aufgehen fünnen, „was die großen Künstler gemacht haben.“ Auf 
dem „gemacht“ Liege der Ton. Denn auf die Rolle, etwa über die Künſtler— 
größe zu entjcheiden, wollen wir die Kinder lieber nicht vorbereiten. 

Jedes gefunde Kind hat an der einfachen Farbe ſchlechthin ein ſolches 
Wohlgefallen, dag man ihm gar nichts Schöneres bereiten kann, als es mit 
diefem Subſtrat der Malerei zu bejchäftigen. Seine Empfindlichkeit für 
Unterfchiede muß geſchärft, ſein Kontraſt- und Komplenentärgefühl geftärkt 
werden. Und vor Allem jenes höchſte Problen, das exit von den Pleingiriſten 


7 
„rl * 


108 Die Zukunft. 


uns deutlich zum Bewußtſein gebracht worden ift: das Verhältniß zwiſchen 
Farbe und Form, zwifchen Farbengrenze und Kontur, die Wirklichkeit oder 
Unmirflichfeit der Linie. Ich vermag nur anzubeuten, denn nicht über die 
technische Ausgeftaltung, fondern über den neurologifhen Werth diefes Unter- 
richtes will ich Einiges beibringen. Und da denke ich befonderd an Eins: 
laßt die Kinder das Alles dort nachentdeden, wo die Meifter aller Zeiten es 
entdedt haben. Plein air! Hinaus ins Freie! 

Tafeln zur Erziehung des Farbenfinnes, Stidwolle, Spektraltafeln: 
Das find gewiß fchöne und gutgemeinte Sachen. Aber die Beichäftigung 
mit ihnen hält einen der grimmigften Feinde unferer Nervengefundheit in 
beitändiger Thätigfeit: die Altomodation des Auges. Sehen wir bier ganz 
von der anderen Folge diefer Anftrengung, der zunehmenden Kurzſichtigkeit, 
ab, jo giebt es doc faum noch eine Art der Ermüdung, die jo unerquidlic, 
jo mißbehaglich wäre wie die durch fortwährendes Nahfehen erzeugte. Draußen 
im Freien aber ruht das Auge: und gerade wo es die köſtlichſten Farben— 
wunder jtudiren kann, in den entfernteren Streden der Landſchaft, am Horizont, 
da hat es die jicherfte Ruhe. Es fei denn, daß Gligern oder allzu jtarfes 
Sonnenliht im Spiele wären; ſonſt ruht e8 im fattejten Grün, im tiefften 
Dlau, im glühendften Roth. Ein Nervenleidender erzählte mir einft, im 
Stodsburg fei er gejund geworden: das Blau des dänischen Sunds habe 
feine Nerven geheilt. Und warum follten wir zu kläglichen Surrogaten von 
Menjchenhand greifen, die nicht entfernt den Nuancenreichthum auch der 
ſchlichteſten Wiefen- oder Haidelandfchaft erreichen? Die Maler haben auf 
die Akademien gepfiffen, Barbizon und Worpswede find zwei große Stationen 
auf dem Wege zur Entdefung der Natur; follten wir unfere Kinder in der 
Stube zum Farbenfehen erziehen? Und mit den Formen ift e8 nicht anders. 
An einer einzigen märkiſchen Kiefer ift mehr Stil und Linie zu fehen als 
an hundert Ornamenten. Von der Fichte, der Birke gilt das Selbe. Da 
draußen werden die Kinder fpielend lernen; in der Schulftube widermillig. 
Und wenn fie alle Farben zufammengepantfcht haben und alle Stapitelle, 
Sanellivungen und Bogenformen auswendig fünnen: dann werden fie noch 
etwas mehr faput, noch etwas jtärfer überbürdet, noch etwas voller mit 
Halbbildung geitopft fein als heute; durch die Natur werden fie blind wandern 
und vor Dem, was die großen Künftler gemacht haben, werden fie hochmüthig 
jpötteln: „So was giebtS nicht“; und dem blöden Schlagwort, da8 gerade 
Mode ift, rettunglos verfallen. Und fehr viel Nervofität, jehr wenig Kunit= 
genug würde jolcher äfthetifchen Stubenerziehung Folge fein. 

Unfer Klima bannt uns fchon lange genug ind Zimmer, Wie fol 
nun bier fortgejegt werden, was draußen begonnen wurde, wie jollen die 
Gegenstände unferer Umgebung dem bewußten Schauen unterworfen werden? 


Nervofität und Kunſtgenuß. 109 


Die wichtige Frage, wie die Nutzkunſt zum Kinde ſich ſtellen müſſe, rollt 
ih auf. Seit Darmſtadt iſt die Frage jo brennend, daß Keiner mehr um 
ſie herumfommt. Die Arbeit der Ban de Velde, Ehriftianfen, Olbrich, Edmann : 
unfere Wohnung der Geſchmackloſigkeit zu entreigen, ift gewiß eine große und 
verdienftliche. Aber es ift doch nicht zu verfennen, daß diefe „Heimkünftler“ 
weit übers Ziel hinausſchießen. Ich laſſe alles Wefthetifche bei Seite und 
rede immer nur vom Gejundheitlichen. Dat Palaftfenfter und Flügelthür 
in unferen Zonen unhygieniſch jind, daß das einthürige Zimmer mit dem 
breiten, dreigliedrigen Fenfter das Natürlichere und Gefündere ift, verfteht 
ich. Auch gegen Olbrichs ſchmale Treppen wird ſich nicht? Exrnftliches jagen - 
laffen. Mit der förperlichen Gefundheitpflege lebt die moderne Zimmer: 
funft in gutem Einvernehmen. Aber auch mit der nervös-feelifhen? Wir 
. haben Stuben, um in ihnen zu jchlafen, zu efjen, zu arbeiten. Fürs Schlaf: 
und Efzimmer fei immerhin Stilfchönheit geftattet. Aber das Arbeit:, das 
Wohn, das Kinderzimmer? Ich denke, die follten möglichſt indifferent fein. 
Nicht jo geſchmackwidrig wie bisher, aber auch möglichſt ohne abfichtliche 
Stimmung. Denn diefe ewige Stimmung fällt fchwer auf die Nerven. 
Ja, in unferer Zeit kann ich mir gar fein bedenflicheres Unternehmen denken 
als das, dem Menfchen nocd während feiner Arbeit mit Stimmung zu 
fommen. Entweder wird vollends damit fein Gehirn ruinirt oder man löft 
die zunächſt gejunde, aber für die Kunſt fehr folgenfchwere Reaktion aus: 
er wird ärgerlich und gegen Alles, was an Stimmung erinnert, gleichgiltig. 
Unfer Leben ift doch zu zwei Dritteln ehrliche Profa, aus der feine Macht 
der Welt je Poeſie machen wird. Nehmt der Kunſt ihre außergewöhnliche, 
ihre Stontraftjtelung, — und Ihr nehmt fie uns bald ganz. Das gilt aber 
vom Kinde doppelt und dreifach, denn das Kind lebt-in und von Stontraiten. 
Alles, was es dauernd bejigt, wird ihm langweilig, gleichgiltig. Und wenn 
wir Das erjt erreicht haben, fünnen wir die äfthetiiche Kultur, von der wir 
fo viel reden, ganz und gar zu Grabe tragen. Es iſt mindeſtens nuglos, 
die Kinderſtube zu äſthetiſiren. Und es könnte wirklich auch recht ſchädlich 
werden. Suggeftiblen Kindern fünnte das Schöne, auf das ſie ohne Unterlaß 
geftogen werden, zur firen dee ſich auswachſen. Denn bei der bloßen 
Technik des Sehens kann man es im Zimmer nicht bewenden lajien. Im 
Freien feſſelt das Kind fo ziemlich Alles, in feiner Stube jo gut wie nichts. 
E53 würde doch nur auf Tafeln zur Erziehung des Sinns für Farben und 
Mufter, kurz, auf Drill ftatt auf Freude hinauslaufen. Wer es wagt, dem 
Kinde damit die Spielftunden zu verfünmern, mag die Verantwortung für 
das junge Nervenjyitem mit auf jich nehmen. Zweierlei wird er erreichen 
können: er verleidet dem Kinde das Betrachten, weil er es zwingt, Gleich— 
giltiges zu muftern; oder er fonzentrirt den Eindlichen Sinn auf eine einzige 


5 


110 Die Zukunft. 


Neigung und fchädigt damit Nerven und Eeele, die Zerjtreuung brauchen 
Denn Flatterhaftigkeit, Unachtſamkeit find jichere Eymptome des gefunden 
findlichen Organismus. 

Dagegen plaidire id mit Wärme für die Galerie. Nur jcheint mir, 
daß dieſer Fortjegung des in der Natur Begonnenen verhältnißmäßig wenig 
praftijche Bedeutung zufomnt. Es find ja nur ein paar Grofftädte, die da 
mitzählen. Denn Reproduftionen, Kupferftiche, Holzfchnitte oder Fhotographien, 
bereiten in ihrer Farblojigfeit doc ganz andere Schwierigfeiten als Driginal- 
gemälde. Aber Schwierigkeiten find Angelegenheit des Xehrers, nicht des 
Nervenarzted. Das Anſchauen der graphiichen Kunſtwerke zu lehren, ift 
wohl de3 Schweißes der Edlen werth. Und wir Deutjchen find fo glüdfich, 
Meifter der graphiichen Künfte zu beligen, die jedem Etwas zu fagen haben, 
die nicht blos dem raffinirten Feinſchmederthum entgegenfommen. Bon 
Dürer bis Klinger. Neurologifch ift bei ſolchem Unterricht wenig zu ris- 
firen. Iſt der Lehrer ungeeignet, fo werden die Kinder fchlafen. Das ift 
ja ihr ‚göttliches Vorrecht. Ganz anders freilih in der Galerie. Hier ilt 
die Auswahl der Gemälde von entfcheidender Bedeutung. Und die Urt des 
Lehrerd dazu. Denn verfteht Der feine Sache nicht, nämlich, die Kinder 
ans Bild zu fejleln, fo werden fie die Zeit benugen, um andere Gemälde 
anzufehen: Verhängen kann man doch nicht alle. Aber Oppenheim denkt 
ja an einen ganz anderen Galeriebeſuch: die Kinder mit den Eltern, auf 
der Reife etwa. Neifen ift füc die kindliche Piyche an fih Gift. Die taufend 
rafch vorbeieilenden Eindrüde machen das Kind oberflächlich, die Gefpräche 
und Urtheile im Eifenbahnwagen geben den Reft dazu. Uber die Jagd durch 
die Galerien grenzt an Mord. Totmüde und in den geheimften, verbotenen 
Winkeln der Seele gefigelt, fommen die Aermiten heraus. Ich ſah in 
Dresden Eltern ihren elfjährigen Knaben in der Galerie fuchen; er hatte 
fich von ihnen verloren. Kurz danach fanden fie ihn vor Makarts „Sommer“. 
Eine fchöne, ftille Ede befanntlih. Seit einer halben Stunde war er dort... 
Sol ein vorzeitiger Eindrud ift oft genug für die Wendung der eben ſich 
regenden Geichlechtsahnungen zum Allerſchlimmſten entjcheidend geworden. 
Und laßt felbjt die Nerven eine folche Klippe glücklich pafiiren: die Seele 
trägt immer Schaden daran. Um fo ficherer, je aufgewedter das Kind ift. 
Dann merkt es ſich allerhand Namen und Eindrüde, redet Schon über Alles 
klug, kennt Alles, — kurz, ift blafirt. Kein Blaſirter aber heutzutage, der nicht 
der Neurafthenie verfallen wäre. Da kann man mit Oppenheim nur radikal 
fein: fort aus der Galerie. Ich wage, die Polizei anzurufen: Verbietet den 
Kındern die Galerien. In unferer fozialen Zeit follte Keiner ſich einbilden, 
ein Recht auf Krankheit zu haben. 

Bisher war nur immer vom Schauen die Nede; und in der That, vom 


Nervofität und Kunftgenuf. 111 


Hören ift viel weniger zu fagen, denn das Ohr ift minder bildungfähig als 
das Auge. ch Halte den Gefangsunterricht von heute im Allgemeinen für 
ausreichend und eine allzu fubtile Erziehung zur Muſik für gefährlich. Als 
Damm dagegen möchte ich dem Lehrer ein Recht gegeben fehen: den häus— 
lichen Muſikunterricht allen muſikaliſch nicht befonders Begabten zu unter- 
jagen. Die Eltern find leider in dem Punkt die unvernünftigften Quäler 
der Kinder und die thörichten Plünderer des eigenen Geldbeutels. Wie 
viele gute Holzfchnitte gäbe es für diefe unnügen Mufikftundengelder! Wie 
viele gute Bücher, — Freunde fürd Leben! Um den Preis für einen Flügel 
hätte man faft eined jungen Malers Driginal! Und gefunde Kinder. Denn 
die Klavierſeuche fchädigt die Nervenfyiteme unheilbar. 

Das Prinzip bleibt hier wie da: nicht zu äfthetijiren, nicht das Kind 
gewaltfam zum Gefühl für Schönheit aufzurütteln, jondern die Sinne zu 
entwideln, möglichft. unter dem Lachen der naiven, kindlichen Fröhlichkeit. 
Das äfthetifhe Erwachen muR, wenn e8 kommt, Etwas vorfinden, an das 
fich die neu hervorbrechenden Gefühle fofort Hammern fünnen. Sonft fehren 
ſie jih unfehlbar nad innen. Nun wollte ich nicht etwa einer Moderichtung 
das Wort reden, die dem Knaben insbefondere gefchledhtliche Kämpfe mit 
fich felbjt bi8 zur Zerquälung zumuthet, um „rein“ zu bleiben — nebenbei 
gefagt: das gejunde Weib hält nicht einmal viel von folcher Neinheit des 
Mannes —, auch nicht einer anderen, die ohne Kampf dem erwachenden 
Trieb fofort Befriedigung ſichern möchte: in geſchlechtlichen Kämp en erwächſt 
ein gutes Stück fräftiger Perjönlichkeit. Aber fie müſſen auf Dinge der 
Welt gerichtet fein und nicht im ftillen Zimmer nur auf das eigene ch. 
Sie fo zu dirigiren, fol die Erziehung zum Schauen, die ich jchilderte, mit— 
helfen. Sie foll, wenn man es jo nennen darf, das Nervenfyiten trainiren 
für diefe fchweren Fahren der Pubertät. Wie Viele dann der Kunſt treu 
bleiben, it eine andere Frage. Uns ift e8 genug, wenn die Getreuen auch 
gefund dabei bleiben. Ob der alte Fontane Recht hat, wenn er meinte: die 
Kunft fei für die Wenigjten und es würden ihrer immer weniger, oder jene 
Dptimiften, die von äfthetifcher Erziehung der Millionen träumen, von der 
großen äfthetijchen Kultur: Das ift nicht die Frage, die ung fümmert; deito 
mehr die andere, ob wir eine äjthetifche Kultur mi der fozialen Gefundheit 
zu erfaufen genöthigt und berechtigt find. 

Was an neuropathiichen Wirkungen der rein finnlichen Subftrate der 
Kunft denkbar it, wirkt durchs feruelle Medium der Pubertät hindurd). 
Taufend Rathichläge werden täglich ertheilt, wie die Findliche Seele durd) die 
Klippen diefer Jahre zu fteuern fei; man redet da der rüdjichtlofen Ente 
fchleierung aller gefchlechtlichen Dinge eben fo oft das Wort wie der ftrengiten 
Verhüllung. Mir fcheint aber durch alle Serualpädagogif doc ein rother 


8* 


112 Die Zukunft. 


Faden fich zu winden: das Streben, den Gefchlechtsgenuß im weiteiten Sinn 
nicht gefhmadlos und nicht gedanlenlos werden zu laſſen. Im diefer Rich— 
tung bewegt fi) Alles, was auf diefem Boden überhaupt diskutabel ift. 
Denn e8 wird faft noch mehr Undisfutables geſchwatzt. Und ich meine, dar 
hier Gedanfen- und Gefchmadlofigfeit gar eng zufammenhängen. Man wird 
die eine nicht ohme die andere, die fchlimmen Folgen der einen nicht ohne 
die der anderen erörtern Fönnen. Sie fliegen vor Allem auch in einander 
inn Genuß der Kunſtgattung, deren Subftrat das Glück oder Unglüd hat, 
von vorn herein auch immer einen Gedanken auszudrüden: der Dichtung. 
Bei ihr wird das finnliche Problem des Kunftgenuffes vom intellektuelle 
untrennbar. Und davon wäre alſo noch beſonders zu reden. 


Heidelberg. Dr. ®illy Hellpad. 


Fr 


Wiener Theater. 


a. 
Sr ift noch gar nicht lange ber, da war der Glaube verbreitet, die your: 

naliſtik bedürfe feiner Vorbildung. Wenn Einer mit fi nichts Rechtes 
anzufangen wußte, aber zu Allem Talent zu haben glaubte, ging er zur „Zeitung“. 
Diefe Bohemesfournaliften fterben aus. Heute ift man längft zu der Erkennt: 
niß gefommen, daß man eine bejondere Schulung und Kenntniſſe aller Art 
braucht, um ein brauchbarer Journaliſt zu werden. An den Hochſchulen werden 
Kollegien über Journaliſtik und Kritik gehalten” und da und dort find auch jchon 
die Verfuche gemacht worden, eigene Journaliſtenſchulen zu gründen. Es find 
allerdings nur Verſuche, aber fie gehen von der richtigen Annahme aus, daß 
man Journaliſt nur dann werden ſoll, wenn man es fann, nicht nur, wenn 
man es will. Mit den Theaterdireftoren geht es uns aber heute nod jo wie 
der früheren Generation mit den Journaliſten. Wer mit dem Theater zu thun 
gehabt hat, ſei es nun als Schaufpieler oder als Stritifer, glaubt ſich zum 
Theaterlenfer berufen. Gewiß kommt es vor, daß Einer, der fich berufen fühlt, 
auch wirklich berufen ijt; aber in den meiſten Fällen war der Glaube an ſich 
jelbjt ein böjer Jrrthum. Zur Theaterdireftion gehören alle möglichen Eigen- 
ſchaften: ein unbeirrbares Urtheil, Negietalent, tüchtige faufmännijche Bildung, 
Energie, Phantajie, Rückſichtloſigkeit, diplomatiſche Kunſt, ſchauſpieleriſche Fähig— 
keiten und noch vieles Andere mehr. Nur die richtige Miſchung giebt den rich— 
tigen Mann. Dieſer richtige Mann wird die wundervolle Gabe haben, kraft 
ſeiner Phantaſie ein Stück beim Leſen jo zu beurtheilen, als ſähe er es von 
ſeinen Schauſpielern, auf jeiner Bühne, vor feinem Publikum geſpielt. Er wird 
diejes Stüd auch jelbjt injzeniren oder mindeitens die Anfzenirungarbeit des 





Wiener Theater. 113 


Regiſſeurs beurtheilen fönnen. Er wird im Stande jein, einem Scaujpieler, 
der Etwas jchlecht macht, zu jagen, warum es ſchlecht ift, und er wird ihm eine 
Andeutung davon geben, wie er, der Direktor, die Sache meint und anfgefaßt 
wiſſen will. Er wird mit dem Dichter Aenderungen und Kürzungen vornehmen 
und durch jeine dramaturgiihe Thätigkeit gefährdete Stüde retten. Daß er 
die Energie haben muß, jeine Kunftanfchauung durdzufeßen, verjteht ſich von 
jelbft. Beim Theater giebt es nur eine Regirungform: die Tyrammis. 

Warum ich das Alles einem wiener Theaterbrief vorausihide? Weil 
der Mangel an guten Direktoren in feiner Theateritadt jo fühlbar ift wie in 
Wien. Fraft überall figen Dilettanten auf den Thronen, Leute, die ihre Bühnen 
gehen lafjen, wie alle möglichen Winde es eben wollen, und denen der Zufall, 
nicht ihre Einficht die Erfolge beſchert. Sie haben Glück oder Unglüd; aber 
die Kraft, das Glück zu zwingen, haben jie nicht. Und dieje Kraft ift beim 
Theater nidyt nur möglich, jondern nothwendig. Ein gut gezugenes und erjogenes 
Bublitum, das der Direktor feit in der Hand hat, wird ihn aud einen Durch— 
fall oder ein mageres Novitätenjahr nicht entgelten lajjen. Ein Publikum, mit 
dem der Direktor nicht in feſter Fühlung fteht, mit dem ihn feine geiftigen 
Bande verknüpfen, tit unverläßlich und treulos. Dat ein Direktor genug gute 
Eigenſchaften, jo ſchaden ihm aud) ein paar jchlechte nicht. Die beiten Direktoren 
der deutihen Bühne hatten recht jchlimme Eigenjchaften. Wenn man willen 
will, wie ein wirklicher Direktor ausficht, braucht man nur die Thätigkeit Mahlers 
bei der wiener Dofoper zu verfolgen. Auch an Mahler ift Manches auszuſetzen; 
aber er hat verjtanden, die Oper in den Mittelpunft des fünftleriichen Intereſſes 
zu rüden, jeine Perjönlichkeit fenntlich zu machen, das Publifum energijch bei 
der Hand zu fallen. 

Seit ih Ihnen zulegt einen wiener Theaterbrief jchrieb, haben jich die 
Dinge bei uns gründlich geäudert. Das Burgtheater macht glänzende Seichäfte, 
das Volkstheater ijt längjt von der Höhe jeines Glückes herabgeglitten. Herr 
Dr. Schlenther hat in den „Jahren jeiner Direktion, nachdem er Fehler über 
Fehler, Unfinn über Unſinn gemacht, nachdem er unmögliche Schaufpieler engagirt, 
bei der Annahme und Ablehnung von Stüden die unjiherite Hand bewieien 
hat, offenbar eingejehen, daß er nicht die Fähigkeit bejist, ein jelbjtändiger, eigen- 
artiger Direktor zu jein. Uber er iſt Elug; namentlich ſchlau. Gr wagt ſich 
nicht mehr ins offene Meer hinaus, jondern lavirt geſchickt an wohlbefannten 
Küften entlang. Gr hört auf verjtändige Männer und läßt ſich fihere Sadıen, 
die „draußen im Reich” ihre Schuldigkeit gethan haben, micht entgehen; von 
allen direftorialen Künjten hat er die Diplomatentunft am Schnelliten erlernt. 
Mit der „Zwillingsſchweſter“, „see Kaprice*, „Es lebe das Yeben!“ füllte er 
die Häufer und die „Rothe Robe“ that auch in dieſem ‚Jahr noch ihre Schuldig 
feit. Aber auch Neues bradte vr, Funkelnagelnenes: drei Stüde von höchſt 
verjhiedenem Werth: den „Schatten“ von Marie Delle Grazie, den „Apoſtel“ 
von Bahr und Shafejpeares „Iroilus und Creſſida“ in Gelbers Bearbeitung. 

Die Aufführung von „Iroilus und Creſſida““ war jeit vielen, vielen 
Jahren die erjte wirkliche Ihat des WBurgtheaters. Ein Stück Shaleipeares 
ift der Bühne wiedergewonnen, nein: neu gewonnen worden. Es hat die wider: 
iprechendften und wunderlichiten Beurteilungen und Deutungen erfahren. Die 
Einen hielten und halten es für eine Parodie, für einen grotesten Scherz, für eine 


114 Die Zukunft. 


Berhöhnung der trojanijchen Helden, fajt für eine Vorahnung Offenbachs. Die 
Anderen jehen darin ein gemwaltiges Trauerjpiel voll heiligen Ernftes. Yu diejen 
Auslegern gehört aud; Adolf Gelber, der mit höchſter Begeifterung, mit einem 
wahren literariſchen Furor ſeit Jahr und Tag für die Aufführung dieſes Dramas 
[hwärmt und fämpft. Man kann nicht jcharffinniger, aber auch nicht jpißfindiger 
feine Anfichten — oft gegen den Dichter ſelbſt — vertheidigen und durchzuſetzen 
fuchen, als es Gelber that. Er hat gefürzt und zufammengezogen, einen neuen 
Schluß gedichtet (er läßt Troilus fterben), er hat die Stellen, die feinem Bilde 
von den Helden nicht entipradhen, gejtrihen, — Alles nur, um Harmonie in 
das Ganze zu bringen. Aber ein harmoniſches Stüd -zu jchreiben, lag in diejem 
Fall durhaus nicht in Shakeſpeares Abjicht, der die Menſchen und die Welt, 
die Liebe und den Ruhm nie jo verachtet hat wie in der Zeit, da er „Troilus 
und Creſſida“ jchrieb. Um eines Weibes willen kämpfen und bluten zwei Bölfer 
Jahre lang. Was aber ift ein Weib werth? An der Parallelhandlung Erejjida 
wird es gezeigt. Schwachheit: Dein Name ift Weib! Aber Schwacdheit iſt 
nur eine freundliche Umjchreibung für ITreulofigkeit. Mit grimmigerem Hohn 
ward nie über das Weib der Stab gebroden. Und die großen griechijchen 
Helden, die hochberühmten! Wenn man fie näher betrachtet: wel ein elendes 
Pal! Bon fern gefehen, mag der Krieg etwas Heroiſches an fich haben. In 
der Nähe jieht man die Betrügereien, die Roheit, den Meucelmord, die Gemein: 
beit am Werl. Wer das Leben aus der Nähe betrachtet, ficht das Grotesfe 
und das Traurige, die Komik und die Tragif hart an einander grenzen und der 
wahre Realiſt wird das Leben nur tragifomiich jchildern können. Shakeſpeare 
ſchrieb ein realiſtiſches Stüd und nahm fid einen Stoff, den wir gewohnt find, 
idealiftiich verflärt zu fehen. Daher unſer Befremden. Troilus ijt ein Stüd 
voll Disjonanzen, voll der widerſprechendſten Stimmungen und gerade in feiner 
Disharmonie liegt feine Lebenswahrheit und feine Stärfe. Es iſt nicht bloßer 
Zufall, daß gerade jegt diejes Stüd auf die Bühne ftrebt. Wir find in der 
Muſik und in anderen Künſten für die Mefthetif der Disharmonie reif geworden 
und fangen an, zu begreifen, daß die Tragifomoedie das Stüd der Zukunft ift. 
Unfere Dichter ſuchen die neue Form. Und da kommt nun Shafejpeares Stüd 
zur rechten Zeit als leuchtendes Beiſpiel. Es wird Einfluß üben, vielleicht unjerer 
dramatiichen Kunſt, die zu ftagniren droht, neues Gefälle bereiten. So iſt die 
Aufführung von „Troilus und Grejjida‘ am Burgtheater fein bloßes lofales 
Ereigniß, fordern eine That von literarhiftorifcher Bedeutung. Bei der Auf- 
führung wurde Gelbers Bearbeitung zu Gunften Shafejpeares ftarf modifizirt. 
Schlenther hat viele Striche wieder aufgemacht und ein Fluges Kompromiß zwilchen 
der Urform und der Bearbeitung bergeftellt, jo daß der tragikomiſche Charakter 
zur Geltung kam, ohne unfer Gefühl durch allzu heftige Sprünge zu beleidigen. 
Der Erfolg der vier eriten Akte war außerordentlid. Der leßte wirkte aller- 
dings nicht. Aber ich bin überzeugt dat auch er feine Schuldigfeit thun würde, 
wenn man, ftatt fommentatorijch zu ftreichen oder hinzuzufügen, einfach bie 
Urform wiederherftellt und dem Baar Pandarus-Troilus die das Stüd beginnen, 
auch die Schlußworte läßt. 

Im Vorwort zu jeiner Bearbeitung ſpricht Gelber jehr kluge Worte über 
die Mafien auf der Bühne. Weit mehr Mafjenftüd als „Troilus und Erejfida‘‘ 
war aber Hermann Bahrs „Apoſtel“, mit dem Schlenthers alter Eritiicher Feind 


Wiener Theater. 115 


feinen Einzug ins Burgtheater hielt. Es war durchaus nicht der Einzug eines 
Siegerd. Bahr wollte für einen Schaujpieler — für den von ihm glühend ver- 
ehrten Novelli — eine Bombenrolle jchreiben; jo entjtand fein Stüd. Es war 
als Tragifomoedie gedacht, denn der Dichter Hatte die Abficht, den Helden, den 
Apoſtel, den jhwärmerijchen Verkünder und Verfechter der dunfeljten politijchen 
Phrajen, den wohlgemuth auf allen Gemeinplägen der Menjchenliebe und Brüder- 
licheit grajenden Staatshengjt jatiriich zu beleuchten, mit überlegenen Humor 
dem Gelächter preiszugeben. Nie aber ijt eine Abficht ſchmählicher mißlungen. 
Man nahm den Upoftel leider ernft, — und lachte ihn aus. Und als dann 
jpäter Bahr verficherte und durch Geſpräche mit Freunden, die es bezeugten, 
erhärtete, das Ganze fei nur jatirich gemeint gewejen, fonnte, wer das Stüd 
nachprüfte, beim beften Willen nur darüber ftaunen, daß ein Dichter fich über 
feine Fähigkeiten jo täuſchen kann. Weder die gänzlich mißlungene Figur des 
Apoſtels noch) die fadenjcheinige Handlung, eineungejchicdte Bariation über das Nora— 
Motiv, nod) der haftige, unintereffante, faloppe Dialog vermochten zu fnterejjiren. 
Wohl aber interejfirte der zweite Akt, der ein Parlament in voller Thätigfeit 
zeigt. Diefer Alt bot der Regiekunſt Ihimigs Gelegenheit, alle Regiſter zu 
ziehen, und war ein Meifterftücd der Mafjenbewegung. Um diejes Aktes willen 
ging man ins Theater. Schade, daß Bahr mit diefem lächerlichen und elenden 
Stüd und nit mit feinem „Krampus‘ im Burgtheater zu Worte fam. Wie 
ich den „Apoftel‘’ für das jchlechtefte Stück Bahrs halte, jo den Krampus“ 
für fein bejtes. Ueber Mangel an Handlung, über Kurzathmigkeit des Stoffes 
bei aller Breite der Ausführung hilft die Liebenswürdigfeit hinweg, mit der 
Menihen, Zeit und Milieu gejchildert find. Das ift das echte Burgtheaterjtüd, 
das vielleicht nur auf dem Burgtheater Erfolg haben könnte. Mußte Schlenther 
aber juſt Bahrs jchlimmftes Produkt zur Aufführung annehmen? 

Auch Marie Eugenie Delle Grazie wollte mehr und Anderes in ihrem 
„Schatten“ geben, als ihr zu verförpern gelang. Wie ein Schatten huſchte das 
Drama über die Bühne und man erweift der Dichterin, Oeſterreichs größter 
Epikerin, feinen Gefallen, wenn man auf das dunkle, unklare, im Gedanfen- 
chaos jteden gebliebene Stüd noch zurüdfommt. Wie ein unangenehmer Traum 
lajtet es in der Erinnerung. Stein Bernünftiger wird Sclenther einen Vor: 
wurf daraus machen, daß er diejes Stüd, dejjen geringe "Bühnenlebensfähig- 
feit jelbjt ihm von vorn herein klar jein mußte, aufführte. Es war einfad) 
jeine Pflicht, denn Fyräulein Delle Grazie hat unter allen Umſtänden das Necht, 
gehört zu werden. Uber man fragt fich verwundert, warum Schlenther diejes 
Recht ihr zugeiteht und Schnigler entzieht. So gut wie den „Schatten“ hätte 
er aud den „Schleier der Beatrice” aufführen können, aufführen müſſen. 

Das Deutſche Volkstheater ift in fchwieriger Lage. Sein Etat ijt außer- 
ordentlich hoch, und da es ein Privattheater it, muß es an Verdienſt denfen. 
Darin liegt gewiß fein Vorwurf. WBormwerfen könnte man der Bühne nur die 
furchtbaren Laſten, die fie fich aufgeladen hat und die fie num zwingen, den Er: 
folgen um jeden Preis nachzujagen. Das Repertoire ift jo buntjichedig wie 
möglid. Nun ift gar der verjchämte Verjuch gemacht worden (mit Buchbinder- 
Weinbergers „Spaß ‘), der Operette Zutritt zu gönnen. Aber diejes Kofettiren 
mit allen Stilen und Gattungen verdirbt Schaufpieler und Publitum. Dabei 
haben die Berather des Direktors Bukovies eine merkwürdig unglüdliche Hand. 


116 Die Zukunft. 


Vor zwei Jahren wurde der „Brobefandidat” zurüdgewiejen und in diefem Jahr 
ließ man fich das „Große Licht“ entgehen. Fern fei es von mir, für den Probe- 
fandidaten oder gar für das „Große Yicht“ eine Lanze einzulegen. Aber bier handelt 
es ſich um ein Gejchäftstheater, das ſolche Kaſſenſtücke im eigenjten Intereſſe 
nicht zurüdweifen darf. Yiterariiche Bedenken können nicht in Betracht gefommen 
jein, da das Volkstheater Stüde, die noch tief unter dem Niveau des Herrn 
Philippi jtehen, wie „Das Ewig-Weibliche* des Herrn Mich, unbedenklich und 
mit größtem Vergnügen annimmt und fpielt. Einzelne intereffante Stüde, 
Saltens „Der Gemeine‘, Kranewitters „Andre Dofer“, Ludafjys „Goldener 
Boden‘, wurden dem Theater von der Cenſur verboten. So bleibt denn von 
Stüden, die den Berlinern unbekannt find, nichts übrig als der „Neue Simon“ 
von Karlweis. Ueber diefen Dichter werden wir — id) meine Wien und Berlin — 
uns faum verftändigen. Seine liebenswürdige Satire, jein gutmüthiger Spott, 
die herzliche Vertraulichkeit, mit der er zu jeinem Publikum ſprach, kurz, Alles, 
was ihm in Wien Freundichaft und Yicbe eintrug, verjagt in Berlin. Ein 
wigiger deutjcher Theatermann jagte einjt, Karlweis' dramatiſche Laufbahn ende 
bei Bodenbach. Wien aber trauerte ehrlich am Grab dieſes Dichters. 
Beſonders jchlimm tft, dab im Wolkstheater die nervöſe Unruhe des Re— 
pertoires das Enjemble lodert und das Publikum verdirbt. ch bin nämlich 
überzeugt davon, dab ein Direktor mit ausgeprägter Phyſiognomie, mit be- 
ſtimmtem Geſchmack und mit der nöthigen Willenskraft, diefen Geſchmack in 
TIhaten umzufegen, fein ungeberdiges und unverläßliches Publikum in jeinem 
Daufe hätte. Dem Direktor gehts jchließlich wie einem Dichter. Er arbeitet 
für das Bublitum, aber er verliert jofort Halt und Richtung, wenn er, auf die 
wirren Aeußerungen von da draußen hinhorchend, ein treuer Diener diejes lau« 
niſchen Herrn fein will. Das Publikum lädt ſich gern führen, wenn eine Per— 
jönlichteit da ift, die zu ihm ſpricht. Wielleicht wäre Herr Narno an einem 
großen Theater ein joldyer Direktor. Im Theater in der „\ojefitadt fann er jeine 
Fähigkeiten nur von Zeit zu Zeit, wenn er jih den Yurus eines literariichen 
Abends gejtattet, entfalten. An diefen literarischen Abenden bringt er inter: 
eflante Werke ganz mujtergiltig heraus. Das werthvollite diefer Werke war 
diesmal ein Volksſtück, „Franzla““ von Otto Fuchs-Talab, das in der Milien- 
Ichilderung und Sharafteriftif, in jeinem £räftigen dramatiſchen Yeben von ſtarker 
Begabung zeugte. Ein gewiller Hang des Verfaifers zu melodramatifchen Wirt- 
ungen und die Leberfättigung des Publitums mit Elendftüden beeinträchtigten 
den Erfolg. Jedenfalls aber zeigte Fuchs fih darin als einen Mann, mit dem 
unfere Bühnen rechnen dürfen. Im Joſefſtädter Theater jahen wir aud) die 
Matineen des Akademiſch-Dramatiſchen Vereines: Kleifts „Guiskard“, Werners 
„Vierundzwaänzigſter Februar“, Goethes „Satyros“ und den „Herakles“ des 
Euripides. Der Erfolg überftieg alle Erwartungen. Es ijt jehr Elug von den 
Veranſtaltern, daß fie fich bei ihren Darbietungen auf Werfe beichränfen, die 
jenfeits der QTagesfritif jtehen. Cine freie Bühne, die moderne Stüde auf- 
führen wollte, wird in Wien durch die Genfur unmöglich gemacht. Leber unſere 
Zuſtände und Verhältniiie, über Alles, was uns am Nächſten angeht, was uns 
ins Fleiſch jchneidet, darf man auf unferen Bühnen weder lachen noch weinen. 


Wien. Dr. Rudolf Lothar. 
* 


Der Fall Grimm. 117 


Der Fall Grimm. 


Poch immer bejchäftigt fich die Prefle, befonders die des Auslandes, mit 
4 der fogenannten Landesverrathsaffaire des Oberftlieutenants® Grimm 
und ſucht unter Enthüllung fenfationeller Einzelheiten das Laienpublitum 
über daS Ilngeheuerliche des begangenen Verbrechens und über eine Reihe 
wichtiger militärischer Maßnahmen aufzuklären und zu belehren. Das Merk— 
würdigfte an diefen Veröffentlichungen iſt, daß fie felbft bei verftändigen Leuten 
vollen Glauben finden, während doch auf der Hand liegt, daß über den wahren 
Thatbeitand al diefer Dinge nur ein fehr enger Kreis von Eingemweihten 
genau informirt und im der Lage fein fann, zuverläfjige Angaben zu machen. 
Ich will den Kreis Derer, die in das Dunfel des begangenen Verrath3 ein- 
zudringen verjuchen, nicht durch ein vergebliches Forſchen nach vermeintlicher 
Wahrheit vergrößern, fondern mich darauf befchränfen, mit objeftiver Prüfung 
an die bekannt gewordenen Ereignifje heranzutreten und namentlich den Werth 
der „Feldzugspläne* fetzuftellen, die im Zuſammenhang mit der vorliegenden 
Affaire auf Grund unzuverläffigen Material® über die Verwendung der 
enfjtschen Armee im Falle eines Krieges gegen Dentichland und Dejterreich 
in der deutfchen und franzöfichen Preſſe verbreitet worden jind. 

Was Grimm thatjächlich verrathen und an wen er im Einzelnen feine 
Dofumente weitergegeben und verkauft hat: darüber dürften authentifche Mit- 
theilungen wohl ſchwerlich je in die Deffentlichfeit dringen. Aber die Schluß— 
folgerung fcheint doc) berechtigt, nachdem die Verordnung des ruſſiſchen Kaiſers 
über die Außerdienftitelung de3 Angellagten „unter Belaffung in den Liſten 
der Linieninfanterie“ befannt geworden iſt, daß es fich bei jenem Verrath 
nicht um jo ungeheuerliche Geheimniſſe gehandelt haben kann, wie ein Theil 
der Preſſe ihre Lefer glauben machen will. So gewinnen denn aud) die 
Auslafiungen des Generals Puzyrewski, der Grimms direlter Vorgefegter 
und Generalftabschef des warjchauer Militärbezirfes war, mehr und mehr 
an Wahrjcheinlichkeit. Diefer ansgezeichnete Generalftabsoffizier fagt, daß 
Grimm bei der Art feiner Funktionen gar nicht in der Lage geweien fei, 
die Mobilmachungpläne der Armeecorps des warfchauer Militärbezirfes oder 
Dokumente über den ftrategijchen Aufmarſch der ruſſiſchen Armee an der 
deutfch-öfterreichifchen Grenze zu fennen, gejchweige denn, Nie an eine fremde 
Macht auszuliefern. Zugegeben wird nur, day dein Angeklagten in Folge 
der Berichte, die er alljährlich über die materielle Lage der im warſchauer 
Bezirk disfozirten Truppen auszuarbeiten hatte und die, weil jie dem Kaiſer 
vorgelegt wurden, einer befonderen Sorgfalt und eingehender Sachkenntniß 
bedurften, eine Reihe wichtiger Schriftitüde zur Verfügung geltanden haben, 
aus denen Maßnahmen der Vertheidigung und fefrete Anordnungen inner— 





118 Die Zukunft, 


halb einzelner großer Grenzbefeftigungen für den Fall eines Eindringens 
ein‘r deutſchen und öjterreichifchen Armee in Polen erfichtlih waren. Wenn 
nun namentlich die polnische Preffe in Defterreich jih der ganzen Ungelegen- 
heit noch heute befonder8 warm annimmt und faft täglich ihre Spalten der 
nahgerade lächerlihen Mär öffnet, e8 ſei erwiefen, daß nur Deutjchland in 
den Beiig der Geheimpapiere gefommen fei und daß die an der deutfchen 
Grenze gegen Rußland getroffenen militärifchen Mafnahmen den rufjischen 
Generalftab zuerft auf die Spur des Verräthers gebracht hätten, jo muß, 
ohne auf Detail einzugehen, doch feitgeftellt werden, daß zuverläfiige Nach— 
richten darüber vorliegen, der rufiische Militärbevollmächtigte in Wien, Oberft 
Moronin, fei ed gewefen, der auf Grund auffälliger und wiederholter Truppen: 
verfchiebungen im frafauer Militärbezirk zuerft Verdacht auf Preisgabe mili- 
tärifcher Geheimniffe geſchöpft und feine Wahrnehmungen der vorgefegten 
Behörde mitgetheilt habe. Die polnifche Preffe ift bei ihrem lauten Gefchrei 
augenscheinlich berühmten Muftern gefolgt und hat verjucht, dad im Jahr 
1894 in einem ähnlihen Fall verlorene Spiel wiederzugewinnen;. denn als 
in jenem Jahre der in Kiſchenew garnifonirende Dberftlieutenant Gregoriew 
Detail8 über den Aufmarfch rufjifcher Truppen an der Grenze der Bukowina 
und an Galizien Grenze für 20000 Gulden an Vefterreich verrieth, ver- 
ſuchte die felbe Preffe, von der hier die Rede ift, wenn auch vergeblich, die 
Schuld auf Deutſchland abzuwälzen und es fogar verantwortlid zu machen 
für die Störung gut nachbarlicher Beziehungen zwiſchen dem öſterreichiſch⸗ 
ungariſchen und dem ruſſiſchen Reich. 

Hätte nun aber der Oberſtlieutenant Grimm wirklich Mobilmahung- 
und Feltungpläne an eine fremde Macht auszuliefern vermocht: wäre damit 
vom rein mititäriichen Standpunkt aus Rußland ein ſchwer wieder gut zu 
machender Schade zugefügt und dem Staat, der die Papiere erhielt, ein 
außergewöhnlicher Vortheil gefichert worden? Ich glaube, diefe Frage ver— 
neinen zu müfjen, felbft auf die Gefahr Hin, mich mit vielen „Strategen“ 
in Widerfprucd zu fegen, die meinen, daß der Gewinn auf der Hand liege, 
da „die Grundlinien des ftrategifchen Aufmarfches der ruſſiſchen Heerestheile 
nicht mehr verſchoben werden könnten, jelbit wenn man die Mobilmadung- 
pläne jest nach Aufdelung de8 Berrathes verändern wollte; denn Bahn: 
linien, Feſtungen und Diglofation der Truppen ließen fih nicht unichtbar 
- machen und müßten für alle Zeiten eine feititehende Baſis für die Operation: 
pläne bilden“. Zunächſt kann ich diefen Sag, lediglich auf die ruſſiſchen 
Verhältnifje angewandt, nur jür die Feitungen unterfchreiben. Der Verrath 
von Feitungplänen ſchädigt in jedem Fall die Landesvertheidigung, da ſich 
diefe Pläne nicht mit einem Federftrih, oft überhaupt nicht wefentlich 
ändern laſſen. Erwähnen möchte ich dabei, daß, trogdem alfo der Macht, 


Der Fall Grimm. 119 


die die Pläne der großen Grenzfeftungen von Grimm erhielt, ein werth- 
voller Dienft erwiefen worden ift, nicht nur neue und unbelannte Daten 
verrathen wurden; denn viele wichtige Details waren ja längit befannt 
und haben einer feindlichen Heeresleitung die Möglichkeit gegeben, ihre 
Dispojitionen danach zu treffen. Um nur ein Beifpiel herauszugreifen: von 
der Stärke der die Baſis der ruſſiſchen Landesvertheidigung bildenden 
befeftigten Rinie Nowogeorgiewsk-Warſchau mit Segrſh-Iwangorod konnte 
man ſich auch bisher ſchon eine ungefähre Vorſtellung machen, denn man 
weiß, daß die äußerſte Grenze der Vertheidigung Warfchaus eine Ausdehnung 
von 55 Kilometern hat, daß 5 Fort und 3 Zwifchenwerfe in einer Ent: 
fernung von 21/, Kilometer von der Stadt deren Ummallung bilden und 
dat dann auf weitere 5 Kilometer hinaus fih ein Gürtel von 16 Forts 
und 5 Zwiſchenwerken um die Gentrale der ruſſiſchen Defenfivpofitionen 
legt. Auch Nowogeorgiewsk, das, am Zufammenfluß von Bug-Narew und 
Weichjel gelegen, für den Uferwechſel von der allergrößten Bedeutung ift 
und deshalb auf dem rechten MWeichjelufer 3, auf dem linken 4 Fort3 vor: 
geihoben hat, erreicht in feiner vorderjten Vertheidigunglinie einen Umfang 
von annähernd 33 Kilometern. Iwangorod iſt die kleinſte Feſtung der er: 
wähnten Vertheidigungbaiis; aber wenn auch der Fortsgürtel nur eine Aus: 
dehnung von 19 Kilometern hat und im Ganzen nur 7 Forts zu beiden 
Seiten der Weichſel den Schuß dieſes Plates bilden, fo ift doch feine Ber: 
theidigung außerordentlich ftarf zu nennen, weil, namentlich auf der Weftfront, 
ungangbares Gelände die Feftung umgiebt. Auch über Breſt-Litowsk, Bjeloftof 
und Kowno, das, am Niemen gelegen, einen der ftärkjten und modernften 
Stüßpunfte de3 nordweſtlichen Rußlands bildet, fehlt es nicht an Details 
und felbft über das gegen Defterreich gerichtete Feſtungdreieck Ludsk-Dubno— 
Rowno find mehrfach zutreffende Angaben in die Deffentlichfeit gedrungen. 

Ganz ander8 liegen die Verhältniffe bei den ruſſiſchen Eifenbahnen, 
die für den vorliegenden Fall zunächſt in Betracht fommen, und, im Zufammen- 
bang damit, auch bei der Vertheilung der Truppen, auf die im SKriegsfall 
für eine Mobilmahung und den Aufmarfch in erfter Linie zu rechnen ift. 
Kein europäifcher Grofftaat ift zur Zeit mehr damit befchäftigt, fein Eifen- 
bahnneg, bejonders für militärische Zwede, auszudehnen, als Rußland; und 
wenn in der Preffe verbreitet wird, Deutfchland fei für einen Aufmarſch an 
der rufliich-polnifchen Grenze mit 9 Haupteifenbahnlinien und zahlreichen 
Duerbahnen den 3 bis 4 großen Bahnen Ruflands, die nach der Grenze 
führen, erheblich überlegen und die ruffische Armeeleitung fei für lange Zeit 
durch die geringe Zahl diefer Bahnen an die urfprünglichen Grundfäge ihres 
ſtrategiſchen Aufmarſches gebunden, jo beweien die Mitarbeiter diefer Blätter 
eine gefährliche Unfenntniß der thatjächlihen Verhältniffe und ein völliges 


120 Die Zukunft. 


Verfeniien der Gejammtjituation. Das Zarenreich verfügt zur Zeit über 
fünf große, aus dem nern Rußlands kommende und die Truppen nad 
Warſchau führende Bahnlinien, die mit ihren jechs Abzweigungen und Neben 
gleifen unftreitig ein ganz bedeutendes Verkehrsnetz für militärifche Zwede 
bilden und die ruſſiſche oberite Heeresleitung in die Lage verfegen werben, 
weit fchneller mit größeren Maffen an den Grenzen zu erjcheinen, als es 
in früheren Feldzügen möglid war. Dazu werden aud) die an die öfterreich- 
galizifche Grenze durchgehenden drei Linien beitragen, die mit ihren weiten 
Verzweigungen ein jorgfältig angelegtes Bahnſyſtem bilden. Nun begnügt 
ſich aber, wie ich zuverläfiig weiß, die ruſſiſche Regirung nicht etwa mit den 
vorgenannten Eifenbahnen, fondern baut im Gegentheil mit unermüdlichen 
Eifer weiter, fo daß, mit Ausfchluß zweiter Gleife auf ſchon vorhandenen 
Bahnen, zur Zeit die ungeheure Strede von 11000 Kilometern im Bau ilt. 
Unter diefen Linien, die für unfere Betrachtungen von Werth find, ift vor 
allen Dingen die von Warſchau über Lowitſch-Lodz nad Kaliſch Führende 
Dahn zu nennen, die eine direkte Verbindung zwifchen der preußischen Grenze 
und Warfchau heritellt und mit ſolchem Eifer gefördert wird, daß ihre Voll- 
endung noch vor dem kontraktmäßigen Termin des Jahres 1903 zu erwarten 
iſt. Welche militärische Wichtigkeit diefer Bahn auch in Rußland zu: 
geichrieben wird, lehrt der Umftand, dak man ich entjchloffen hat, fie, im 
Hinblick auf die Möglichkeit eines für Deutfchland erfolgreichen Krieges, mit 
ruſſiſcher Spurweite zu bauen, trogdem die Warfchau: Wiener Bahn nebft 
ihren beiden Zweiglinien Skherniewice » Alerandrowo und Koluszkis Lodz die 
einzigen ruſſiſchen Bahnen mit wefteuropäifcher Spurweite find. 

Von grofer Bedeutung für die Konzentration rufjischer Truppen an 
der öfterreichifchen Grenze ift die 440 Kilometer lange Staatsbahn Kijew— 
Soweit, die jchon zu Beginn des nächſten Jahres fertig fein fol und die 
beſonders den nördlich des Azowſchen Meeres dislozirten Heerestheilen nügen 
wird. Diefe Bahnlinie führt durch ſchwach bevölferte Gegenden, fo daß von 
ihr für Handel und Verkehr wenig Vortheile zu erwarten find und der 
jtrategifche Ziwed immer im Bordergrund bleiben wird. 

Das legte Glied in den militäriichen Bahnprojeften Rußlands bildet 
die in jüngiter Zeit vielgenannte Strede Bologoje-Siedlce. Es heißt, daß 
diefe 1100 Kilometer lange Eiſenbahn, die eine Fortfegung der bereits vor: 
handenen Linie Koſtroma-Rybinsk-Bologoje fein und zur Entlaftung der 
beiden großen Bahnen Petersburg: Warfchau und Moskau: Warfchau dienen 
joll, nicht nur mit franzöſiſchem Gelde, jondern angeblich auch auf dringendes 
Betreiben des franzöſiſchen Generalſtabes gebaut wird. 

Schon dieje Betrahtungen zeigen, daß Rußland mit feinem ftetig ſich 
erweiternden Eiſenbahnnetz nicht nur leicht Truppenverfchtebungen innerhalb 


Der Fall Grimm. F 121 


wie außerhalb ſeiner Grenzgebiete vornehmen, ſondern auch Mobilmachung, 
Aufmarſch und Verwendung der Armee nach ganz anderen Erwägungen als 
bisher anordnen laſſen kann. Damit aber wäre den von Grimm etwa aus— 
gelieferten Papieren diefer Art jeder Werth genommen. 

In der Erörterung rufji; her Operationpläne wurde auch gejagt, die 
jtrategifhe Geſammtlage weife die rufjischen Armeen bei Ausbrucd eines 
Krieges Deutfchland gegenüber zunächſt auf die Defenfive an der ftarken 
Weichfelbarriere und auf die Bertheidigung des polnischen Feftungfünfeds 
Nowo-Georgiewsk-Warſchau-Iwangorod-Breſt-Litowsk. Diefe Vorausficht 
jcheint mir, in Verbindung damit, dag Oberftlieutenant Grimm, wenn er 
überhaupt wichtige Aftenjtüde ausgeliefert hat, im Wefentlichen nur folche 
über einzelne Orenzbefeftigungen im warfchauer Militärbezirf verrathen konnte, 
fo bemerfenswerth, daß ich auf Grund zuverläfligen Materials, ohne auf 
das Gebiet der Strategie vom grünen Tiſch aus überzugehen, noch ein paar 
Worte darüber jagen möchte. Dat Ruflands Eifenbahnneg heute noch nicht 
fo leiftungfähig ift wie unſeres und daß deshalb die Mobilmachung des 
ruffifchen Heeres nicht fo glatt verlaufen wird, wie wir es bei ung erwarten, 
dürfte jih auch aus meinen Betrachtungen ergeben haben. Immerhin ftcht 
e3 jedoch mit der Schnelligkeit des Aufmarfches der rufjiihen Armee nicht 
fo fchledht, wie man vielfad) anzunehmen geneigt ift, denn ein mit ben 
Berhältniffen -de8 verbündeten Zarenreiches vertrauter höherer franzöjiicher 
Dffizier hat ausgerechnet, eim ruſſiſches Armeecorps brauche mit allen 
Train vierzehn Tage zu feiner Beförderung auf eine Entfernung von 
1000 Werft und es fei anzunehmen, daß drei Fünftel der europätjchen Streit: 
fräfte des ruffifchen Heeres im achtzehn bis zwanzig Tagen mobil gemacht 
und dem Kriegsplan gemäß fonzentrirt werden könnten. Nun aber hat 
außerdem die rufiifche oberfte Heeresleitung, in richtiger Erkenntniß ihrer 
heute noch nicht hinreichend entwidelten Eifenbahnen, um diefen Nachtheil 
auszugleichen und um Bahntransporte größerer mobiler Truppenmaffen im 
letzten Augenblid möglichit zu vermeiden, mehr al3 zwei Drittel des Friedens- 
ftandes der Armee längs der Wejtgrenze dislozirt und dadurch erreicht, dat 
H1/g Armeecorps mit allem Zubehör an Stavallerie und Artillerie, 2 Schügen- 
brigaden nebſt 2 Kavalleriecorps in centraler Stellung im Militärbezirf 
Warſchau bereit ftehen und nur auf die Marfchordre warten. Ferner ſtehen 
dann je 5 Armeecorps in den benachbarten Militärbezirken Wilna und Kijew 
längs der preußifchen und öfterreichifchen Grenze; und an den äuferiten 
Flügeln diefer Aufitelung find im Militärbezirf Petersburg 3, im Militär: 
bezirt Odeſſa 2 Armeecorps nebſt Refervetruppen zum Eingreifen verfügbar. 
Die weiter öftlich liegenden Militärbezirfe Mosfau — mit 3 Armeecorps — 
und Kaſan haben dabei zur Aufitellung der Nejervearmee und als Hauvt: 


u Ed Dr 


122 Die Zuhmft. 


baſis für den Nachſchub zu dienen. Auf diefe Weile find die an den Meit- 
grenzen untergebracdhten Truppen in der age, felbit in nicht vollftändig 
mobilem Zuftande dem Gegner in fürzefter Zeit nicht nur defenfiv, fondern 
auch offenjiv entgegenzutreten. Und gerade diefe zweite Möglichkeit möchte 
ich, im Gegenfag zu dem vorhin bezeichneten Gedanfengang, in den Vorder: 
grund ftellen. Nach meiner Anficht fpricht die Wahrjcheinlichfeit dafür, daß 
die auf jo verhältnißmäßig engem Raum fonzentrirten Maffen der ruſſiſchen 
Armee ſich bei Ausbruch eines Krieges durch eine Dffeniive Luft zu machen 
fuchen werden, um dadurch die feindliche Mobilmahung nad Möglichkeit zu 
ftören und jich den Unterhalt für ihren ungeheuren Bedarf in Feindes Land 
zu beichaffen. Unterftügt würde ein folcher Angriff durch die auch als Depot- 
pläge eingerichteten großen Weichielfeitungen und durch die ſumpfige Flußlinie 
des Bobr-Narew mit feinen von Oſſowjetz bis Pultusk reichenden Befeftigungen. 
Ganz befonder8 aber fcheint mir für die Nothwendigkeit ruſſiſcher Offenſiv— 
bewegungen das mit Frankreich gefchloffene Bündniß zu ſprechen. In welcher 
Weiſe ſich diefes Bündniß militäriſch im Einzelnen bethätigen wird, entzicht 
fi unferer Kenntniß. Sicher müßte aber Franfreih im Fall eines Krieges 
wünfchen, daß Rußland möglichit viele Kräfte des deutfchen Heeres auf ſich 
zu ziehen verſucht. Das kann nur durch eine thatkräftige und rücjichtlofe 
Dffenfive der ruffischen Armee und nicht durch defenfives Verhalten an der 
Weichfellinie gefchehen. 

Dem Fall Grimm wird wohl allzu große Bedeutung beigelegt. Unfere 
Heeresleitung — Das mögen auch unfere Feinde jich merken — bedarf nicht 
geftohlener Papiere, um Wacht an unferen Grenzen halten zu fönnen. 


Köln. Erik von Witzleben. 


ii 2 


Hwei Legenden. 
Die Helferin. 


9* Pforte des Paradieſes fiel dröhnend zu. Der Engel mit dem feurigen 
Schwert trat vor fie hin; von der brennenden Wehr fprangen noch ein 
paar gliternde Lichter in den himmliſchen Garten, der fih langjam in abend- 
lie Schatten hüllte. Adam lag, vom Schmerz Hingeworfen, zu den Füßen 
des Engels. Stirn und Hände grub er in die Erde, krampfte ſich ſchluchzend 
an die Schwelle jeiner verlorenen Seligkeit. Eva ftand abjeits, da, wo niedrig 
gewachſene Heden einen legten Abjdhiedsblid auf die entihwundene Seligfeit 
veripraden. Sie hob ſich auf die Zchenfpigen, um nod einmal ihren ſüßen 
Garten zu ſehen, aber die Heden hatten fie nur gehöhnt und waren dem Gebote 
Gottes gehorjam. 


Zwei Legenden, 123 


Reinend wollte fie zu ihrem Manne treten, al3 es in den Hecken rajdelte . . 
fnifterte . . Sie erſchrak. Sie wuhte, wer da rajchelte und Fnifterte. Sie wollte 
fliehen. Sie wollte, — aber fie blieb. 

Es war die Schlange. 

Mühſam war fie durch Büſche und Geftrüpp gefrochen, heimlich, damit 
die anderen Paradiejesthicre ihrer Schande nicht fpotten jollten. Nun richtete 
fie fi empor, hing ihren ſchimmernden Leib über die Heden herab, wiegte ihn 
in den abendlihen Schatten. Mit ihrem falten, Elugen Blid jah jie auf die 
mweinende Menjchenmutter. 

„Eva!“ 

Eva jchrie auf. 

„Verführerin, weiche von mir! Hätteſt nicht Du mich bethört, nimmer 
hätt’ ich den Apfel gegeſſen. Weiche von mir, Verfluchte, weiche von mir!“ 

Die Schlange wand ſich noch näher zu ihr heran. Ihre Stimme flang 
leife und lodend, wie der AUbendwind, der über das paradiefiiche Gefild ſtrich. 

„Eva, Keiner hört Dih! Bier braucht Du nicht zu lügen! Hätteft Du 
ohne mid den Apfel nicht gegeſſen?“ 

Schweigen. 

„Bar Dein Sinn nicht jo trädhtig von diefer Begier, daß jie auch ohne 
mich ans Licht geiprungen wäre?“ 

Eva trat einen Schritt zu der Schlange hin. Sich jcheu nad allen 
Seiten umjchend, flüfterte jie mit heißen Augen und Wangen: „Sch wäre an 
ihr gejtorben, hätte ich fie noc, länger tragen müfjen, hätteft nicht Du das 
Wort gejproden . .* _ 

Wieder Schweigen. 

„Du gehit in die Weite, Eva! Du follft draußen Menjchen gebären . .“ 

Ein ſüßes Lächeln huſchte über das verweinte Geſicht der erſten Mutter. 

„Auch draußen werden verbotene Früchte wachjen ... Ob Deine Menſchen— 
finder niemals Begier nad) ihnen jpüren?“ 

Eva rang die Hände. In mweinender Selbjtihmähung: 

„Es find ja meine Kinder!“ 

„Werden fie jo jtarf fein, daß ihre Begier zum Lichte drängt oder wird 
fie ihnen ungeboren im ſchwachen Schoß verfümmern?“ 

„Es jind ja meine Kinder!” 

Adam erhob fi von der Erde und rief jeinem Weide. Einen Athen: 
zug lang bejann fih Eva, dann flüfterte fie in die Deden: „Komm!“ 

Sie lüpfte ein Wenig ihr Blättergewand, das die Yenden deckte. Yaut- 
los glitt die Schlange hinein, legte ſich um ihren Yeib wie ein vierfacher Gürtel. 

. +» Das Menjchenpaar zicht in die Nacht hinaus. Düfter jchreitet Adam, 
in verzweifelter Liebe die Hand jeines Weibes haltend. Sein Sinn denft an 
Verlorenes nnd an den heißen Arbeitstog, für den feine Fauſt erjt die Waffe 
Ihaffen muß. Roſig, lächelnd geht die junge Menfchenmutter. In ihrem Schoß, 
unter dem dunkel geringelten Ewigkeitbilde, wädlt er, dem die Welt gehören 
foll, mit all feiner Kraft und jeiner Schwäche, mit feinen Drängen umd feinen Ent 
fagungen. Seinen erſten Derzichlag fühlt die Schlange, die Verführerin-Erlöjerin, 
die jegenreiche, verfluchte Wehmutter aller Sehnjüchte und aller Erfenntnifje . . . 


124 Die Zukunft. 


Die Eiferne Maske. 


Der Dauphin hatte Gejchichtitunde. Ein junger Brälat, mit ernjtem, 
blaffem Geficht ertgeilte fie. Er ftand am Fenſter, bog den Kopf ein Wenig 
zurüd, als ob er hinter den grauen Wolfen draußen die Sonne fudhte Er 
diftirte; und der Dauphin jchrieb gehorjam: 

Romulus 753 bis 716, 

Numa Bompilius 715 bis 672, 

Tullus Hoftilius 672 bis 640, 

Aneus ... 

Der Dauphin legte plößlich den Kiel weg und fragte ganz unvermittelt: 

„Herr A666, wer war die Eiferne Maste?“ 

„Ich weiß es nicht, Monfeigneur.“ 

„Do! Sie willen es!“ 

„Wie jollte ih, Monfeigneur? Weiß es dod) Keiner!“ 

Der Dauphin beharrte: „Sie willen cs doch! Ich habe jeden meiner 
früheren Lehrer danach gefragt und jeder iſt roth geworden, hat jo verworren ge- 
redet, daß ich genau merkte, er wijje es wirklich nicht. Site aber find nicht roth 
geworden. Nicht einmal gezuckt haben Sie. Sie lädeln nur, lächeln gerade 
jo wie Tante Mtontpenjier, wenn ich fie frage, ob jie mir Bonbons mitgebracht 
hat, und fie dann jagt: Ich weiß; nicht . .“ 

„Sie jind ſehr Scharfjichtig, Monſeigneur.“ 

„Herr Abbe, laſſen Sie mid nur zehn Minuten lang mit den römijchen 
Königen zufrieden und erzählen Sie mir fchnell, wer die Eiferne Maske war...“ 

„Ich weiß es nicht, Monſeigneur. Ich wage aud), zu bezweifeln, da 
Seine Majejtät jehr entzüdt wäre, wenn er den Geſprächsſtoff Fennte, den 
Monjeigneur jocben wählten.“ 

Seine Majejtät hört uns ja nicht,“ " fagte der Dauphin und frigelte 
etliche zujammenhangloje Schnörfel unter die Könige Noms. „Es muß eine 
ſehr mächtige Perſon gewejen jein, diefe Eiſerne Maske”, ſprach er aus feinen 
Gedanken weiter. „Sonſt wäre nicht ſolches Geheimnig um ihn gewejen und 
man redete nicht noch jo lange nach jeinem Tode von ihm.“ 

Er ſchien Antwort zu erwarten; aber der Prälat ſchwieg. Er jah immer 
noch in die Wolken hinein, hinter denen die Sonne ohnmächtig kämpfte. 

„Denken Sie, Herr Abbe, der König jelbft, mein verjtorbener Großvater, 
ift einmal bei Nacht heimlich in der Baftille gewejen, um den Gefangenen mit 
der Eifernen Maske zu jehen.‘ 

„Monjeigneur, ich bin entjeßt, daß ſolcher Yakaienklatich den Weg zu 
sonen fand!‘ 

„Das ijt fein Lakaienklatſch, ſondern Wahrheit. Der König, mein ver« 
ftorbener Großvater, wollte eben einmal das Gejicht des räthjelvollen Mannes 
jchen, der jchon in Sainte-Marguerite gefangen jaß, ald mein Großvater nod) 
ein Kind war. Tb er jein Geſicht dann wirklich gejehen hat, weiß ich nicht. 
Aber man durfte den Gefangenen niemals wieder vor ihm erwähnen.“ Der 
Dauphin ſenkte die Stimme und jah fich fcheu nad allen Seiten um. „Er 
"ürchtete ihn vielleicht ... Denfen Sie nur: mein tapferer Großvater fürchtete ſich 

diefem Gefangenen!‘ 


Zwei Legenden. 125 


Die Sonne kämpfte ſich eben durch die Wolfen und warf zwei leuchtende 
Funken in die Augen des Prälaten. 

„Wiſſen Sie, Herr Abbe, was ich nicht begreife? Daß man wirklich nie, 
nie jein Geficht gejehen haben joll. Man konnte ihn doch im Schlaf belaujchen.“ 

„Er trug die Maske auch im Schlaf.“ 

„Der König hätte fie ihm abreigen können.“ 

„Rein, aud der König war dazu nicht im Stande.“ 

„War fie denn feſtgeſchmiedet?“ 

„sa. Nur Einer konnte fie löjen. Er felbt.“ 

„Er wollte fein Geficht nicht jehen laſſen?“ 

„. . Hören Sie mid) an, Monjeigneur: Ich habe den Mann mit dem 
Eifernen Antliß gejchen; denn was die Anderen Maske nannten, war fein 
Geſicht .. Er wollte nicht, daß die Menſchen ihn erfennen, fein Weſen fafjen 
und mit Namen nennen jollten, wie aud er ihnen nicht nachfragte und feine 
Gemeinjhaft mit ihnen begehrte. Darum hatte er Unbemweglichkeit über feine 
Züge gebreitet, gleich einer Yarve, und Schweigen umfing ihn, wie ein fugel- 
fiherer Banzer. Sie denken nun vielleicht, Monfeigneur, daß er ftumm war 
oder irren Geijtes; aber in jeinen Augen lebte Alles, was jein Mund und fein 
Antlig verſchwiegen. Ein jeltjam drangvolles, forfchendes Leben, das mit den 
Gejtirnen des Tages und der Nadıt Zwieipradhe hielt. Was fie ihm fündeten, 
was er ihnen vertraute: Keiner hat es je gewußt. Einſam, von den Anderen 
durh Maske und Banzer getrennt, lebte er die Jahre dahin. Was fie zu 
ihm herſpülten, was er ihnen mitgab: Steiner hat es je erfahren. In Panzer 
und Maske iſt er dann auch gejtorben und mit ihm fein Geheimniß. Wie glänzend 
oder wie blutig es war: Steiner wird es je fünden. 

. Er hat Söhne hinterlafjen, weit draußen, in der Welt verjtreut, ein 
ftolzes, finjteres Gejchleht, das die Maske im Wappen und vor dem Geficht 
trägt und mit den Geſtirnen Zwieſprache hält. Ohne Freunde, ohne Befenner 
ziehen ſie fchweigend ihre einfame Straße. Aber wo ihr gepanzerter Fuß auf, 
fliret, gafft die Menge. . flüftert . . ſchickt ihnen Fiebermärchen nad. Und die 
Könige bliden unruhig... 

Denn gefährlicher als feindliche Deere find die großen Einfamen. Sie 
hüten ihr Geheimniß zu gut. Man weiß nie: find es Fürſten, die zur Richtitatt 
gehen, oder Verbrecher, die zum Throne jchreiten . .* 

Die Sonne jchien jeßt hell ins Gemach; fie legte ihren Glanz wie eine 
Ktönigsbinde um die Stirn des jungen PBrälaten. Der Dauphin ftarrte ihn an 
und fchrie auf: „Sie. . Sie jelbit find der Mann mit der Gijernen Masfe!“ 

Der Abbe regte ſich nicht. Er legte die Hand an die Stirn, als wolle 
er die Königsbinde bergen. Und mit ruhiger, kalter Stimme jprad) er: „Mon— 
jeigneur, Sie fiebern! Sie jehen, wie Hecht ich hatte, als id) nicht mit Ahnen 
von folhen Dingen jprechen wollte. ihre lebhafte Phantaſie verträgt es nicht. 
Ich muß Sie bitten, zu fich zu fommen; oder wir jchliegen die Stunde und 
ih rufe den Leibarzt Seiner Majejtät.“ 

Der Dauphin beſann ſich, rieb fich die Augen, jah feinen Lehrer an, lachte 
ein verlegenes Stinderlachen, — und das Diktat wurde bei Ancus Mareius fortgeſetzt. 


Münden. Carry Bradvogel. 


% 


126 Die Zulunft. 


Selbftanzeigen. 


Aufgaben der Gemeindepolitif. (Vom Gemeindefozialismus), Vierte 
Auflage. Jena, Verlag von Guſtav Fifcher. 220 Seiten, Preis 1,50 Marf. 
Miguel hat in einem feiner legten Briefe darauf hingemiejen, daß die 
Gemeinde viel mehr als bisher zur Trägerin einer vernünftigen Sozialpolitik 
werden müßte. Und der vielerfahrene Dann hat damit einem Gedanken Aus— 
drud gegeben, defjen Bedeutung in immer weiteren Kreiſen erfannt wird. Aller: 
dings: die billige großtönende Phraſe, das bequeme Schlagwort find in der 
Gemeindepolitif nicht jo leicht mobil zu machen wie in der Neichspolitit. Hier 
ſtoßen hart im engen Raum fich die Sachen. 

In dem bier angezeigten Bud), dejjen frühere Auflagen in der Preſſe 
aller Richtungen, vom „NReichsanzeiger” bis zu den „Sozialiftiihen Monats» 
heften“, freundliche Anerkennung gefunden haben, ift nun verſucht worden, alle 
Fragen, die heute innerhalb der deutſchen Gemeindepolitif ein Gegenftand des 
Streites find, kurz darzuftellen und, darauf ift der Hauptwerth gelegt, durch 
Wiedergabe praktifcher Verſuche zu erläutern. So find behandelt: die Bildung- 
fragen, Arbeiterfragen, Mitteljtandsfragen, Steuerfragen und Gemeindebetriebe. 
Eine bejondere Bedeutung aber meſſe ich der Behandlung des Bodenproblems 
innerhalb der Gemeinde zu, die in den Kapiteln: „Die Zuwachsrente”, „Bon 
Gemeindegrundeigenthum“, „Zur Wohnungfrage” gegeben ijt. Auch hier ijt Feine 
Forderung erhoben, die nicht an irgend einer Stelle ſchon in deutſcher Praxis 
durchgeführt it, feine Forderung alſo, die leichthin als „graue Theorie” abzu- 
weijen wäre. Es ijt meine Abjicht, die ich gern offen zugebe, durch diefes Buch 
wie durch meine gefammte Thätigkeit als Borfigender des Bundes der Deutjchen 
Bodenreformer in unferen 'nbduftrieftädten den Kampf um die „Zuwachsrente“ 
zu entfachen. In ihm liegt ein Stüd Entſcheidung über alle anderen Probleme 
des wirthichaftlichen Lebens. Gelingt es, die ungeheuren Werthe, die alle Tage 
in unferen aufblühenden Gemeinden durch die Kulturarbeit der Geſammtheit er» 
zeugt, aber heute faft überall nod von Terrainjpefulanten ohne jede Arbeit- 
leiftung für fi beichlagnahmt werden, für die Gejfammtheit zurüdzugewinnen, 
jo tft Steuerdrud, Bodemwucher und Wohnungnoth befeitigt und der Weg zu 
jeder durdjgreifenden Neform geöffnet. Ob das Ziel erreicht werden wird? Ob 
jich genug ernſte Menſchen finden, die die fittliche Neife haben, für ernfte Fragen 
ein ehrliches Intereſſe auch wirklich zu bethätigen? Ich will nur eine einzige 
Zahl aus dem Bud; wiedergeben: Am zweiten Dezember 1895, als von einer 
akuten Wohnungnoth nod gar nicht die Rede war, wurden in Berlin gezählt: 
4718 Wohnungen ohne jeden heizbaren Raum, 27160 Wohnungen mit nur 
einem einzigen heizbaren Raum, die von jehs und mehr als jchs Perſonen 
dauernd bewohnt werden. Mehr als 200000 Menſchen haufen aljo allein in 
unferer glänzenden Neichshauptitadt in WVerhältnifjen, in denen ein gejunbes 
‚samilienleben faft unmöglich erjcheint. In anderen deutjchen Gemeinden jteht 
es noch Schlimmer als in Berlin; und Feine Yohnerhöhung, die die Arbeiter jich 
oft mit ſchweren Opfern erfämpfen, vermag ihre Lebenshaltung wirklich zu ver» 
beifern, jo lange die Mtiethiteigerungen die Yohnerhöhungen anfzehren. Wenn 


Selbftanzeigen. _ 127 


es doc erſt ala jelbitverftändliche Pflicht für \\eden, der von der Gejellichaft 
als gebildet anerfannt werden will, gälte, wenigitens ſolche Clementarzahlen 
der deutſchen Volkswirthihaft zu willen! Dann würden wohl nur noch wenige 
Menſchen fi der allerdings bequemen Täuſchung hingeben können, mit Ber- 
einen zum AUlmofengeben, zur Hebung der Ethik, zur Förderung der Kunſt unter 
dem Volk, zur Belämpfung des Alkoholismus u. ſ. w. ihrer fozialen Pflicht 
völlig zu genügen. Das Wohnungproblem, dem allein durch verftändige Gemeinde- 
politit begegnet werden kann, führt wirklich bis zum Grunde des jozialen 
Problems hinab. Mögen meine „Aufgaben der Gemeindepolitif” helfen, hier 
Wege zur Befferung zu zeigen. Der Verleger, der ja auf nationalöfonomijchem 
Gebiet zu den Kundigften in Deutſchland gehört, muß wohl gutes Yutrauen 
haben, jonjt hätte er nicht den Preis des Werkes auf anderthalb Mark feitgeiebt, 
aljo auf etwa ein Drittel des Preifes, der jonft für ein nationalöfonomifches Werk 
gleihen Umfanges üblich ijt. Adolf Damajdfe. 
* 
Die Thüren des Lebens. Prag. Verlag Sympoſion. 
Dieſes Buch erzählt die Geſchichte der Veronika Selig. Wie ihr das 
Leben die Marter bringt, für die ihr Herz zu eng und zu gütig iſt. Wie ſie 
ſich verkriecht vor dem Leben und dennoch den Ton ſeiner Schritte immer wieder 
hört, wenn es an ihren Fenſtern vorübergeht. Und wie ſie am Ende ſich nicht 
mehr helfen kann und ihre ungebändigte Liebe, ihre erſtarrten Wünſche und ihre 
verlorenen Tage noch einmal zu einem Abenteuer ſich zuſammenfinden, das ſie 
doch nun zum Schluß wieder heimkehren läßt in das verrufene Haus, in dem 
das Leben und das Schickſal geſtorben ſind. Es iſt der Roman der paſſiven 
Menſchen. Es iſt ein Gleichniß und die Legende von der Wiederkehr: die Sage 
von den Thüren des Lebens, hinter denen die Schauer und das Wunder wohnen 
und hundert Dinge, die auf uns laſten, die Träume und die Traurigkeit, der 
Hohn und die Gebete eines hyſteriſchen Herzens. 
Prag. Paul Leppin. 

Verſäumter Frühling. Hugo Steinitz, Berlin 1902. 

Web, daß ich meinen jungen Lenz verträumt, 

In Labyrinthen pfadlos mid) verjäumt, 

Indeß der Frühling blühte ... 
„Und daß ich meinen Sommer nicht genoſſen 
Und thöricht meine Sinne hielt verſchloſſen, 
Indeß die Noje glühte . . 


In Spät entfacdhter, bunter Herbitespracht 
Iſt meine arme Seele aufgewadt, 

Nun, da die Nebel wallen . .. 
Was joll mir jet das goldne Purpurlaub! 
Den Farbengluthen fehlt der Blüthenftaub — 

Die Blätter fallen... . 

Jenny Schnabl. 
v 
9% 


128 Die Zukunft. 


Rothichild:Sombarden. 


I: den legten Wochen ift wieder viel Druderfhwärze für Meldungen über 
die Defterreichifche Sübbahngejellichaft verbraucht worden. Zwei Millionen 
Kronen Betriebsverluft, Dedung der Obligationenzinjen aus der ohnehin ſchon 
geringen Obligationenrejerve, Ernennung eines Kurators für alle vorhandenen 
Prioritäten, Vorfchläge zur Hinausfchiebung der Tilgung: Das ungefähr war 
ber Anhalt der Nadrichten, die aus Wien hier eintrafen. Daß die Obligationen- 
befiger darüber nicht gerade jehr erfreut waren, iſt begreiflih; no näher an 
die Haut ging die Sade aber den Aktionären. Die Ausſicht auf eine lange 
dividendenlofe Zeit ift keinem Aktionär angenehm; ganz bejonders ärgerlich 
mußte fie aber den Südbahnaktionären fein, die die Entwidelung fommen jahen 
und jeit Jahren in allen Generalverfammlungen das Bejchreiten neuer Wege 
empfahlen, um dem drohenden Unheil zu entgehen. Jetzt endlich hat die Ver— 
waltung fi zur Annahme eines Theiles diefer Vorſchläge bequemt. 

Wenn Aktionäre gegen Obligationenbefiger fämpfen, jo wendet bie 
Sympathie gemüthvoller Menjchen fich meijt den Obligationären zu. Der 
Aktionär it Iheilhaber des Unternehmens. In den fetten Jahren fieht er mit 
Beratung auf die dummen joliden Yeute herab, die fich begnügen, gegen lumpige 
Sinsverjpredungen ihm die Gelder zu leihen, die nöthig find, um das Unter— 
nehmen zur Blüthe zu bringen. In ſchlechten Jahren ift ber Aktionär ver» 
pflichtet, den Obligationenbefißern Tribut zu zahlen, denn fie find feine Gläu— 
biger, vor denen er, wenn er fie braucht, höflich den Hut ziehen muß. Aber 
wer denkt in den “Jahren des Glüdes und Glanzes an das traurige Ende? 
Kommt dann die fchlechte Zeit, muß Jahr vor Jahr der Aktionär zufehen, wie 
jeine Gläubiger, behaglich ſchmunzelnd, die Zinſen in die Tajchen jteden, jo iſt 
er nur allzu leicht geneigt, jet plöglid mit Anſprüchen an die Obligationen« 
bejiger heranzutreten und von ihnen zu fordern, fie möchten, damit er Dividende 
bekommt, auf einen Theil ihrer Nechte verzichten. Diefe Neigung ijt menjchlich, 
allzu menſchlich. Unſere Sympathie aber gehört den Leuten, die fih in den 
glänzenden Jahren mit dem niedrigen Zinsfuß abfinden ließen, um fi dafür 
das Recht der Gläubiger zu jihern. Nur find ſolche Sympathien an gewifje 
Borausjeßungen gebunden. Dem Juriſten ift jeder Vertrag heilig. Fiat justitia, 
pereat mundus. Dod der Yaie denkt nicht in jo ftarren Süßen. Er fragt aud) 
nad dem „Inhalt und der Geneſis der Verträge. Der Obligationär hat mühjam 
eriparte taujend Mark der Sejellichaft geborgt. Diejer Betrag, jo ward verſprochen, 
joll ihm verzinft und nah Ablauf einer bejtimmten Zeit zurüdbezahlt werben, 
Plöglid) bietet man ihm nur die Hälfte, vielleicht gar noch einen niedrigeren 
Zinsfuß. Das empört uns. So etwa lagen die Dinge bei der Neorganifation 
der Hypothefenbanfen. Da war das Vertrauen der Eleinften Sparer mißbraucht 
worden. Deshalb ftellt das Volksbewußtſein die Sanirung der Hypothefen- 
banken in eine Neihe mit anderen groben Vertragsbrücen der Finanzgeſchichte. 

Der Kampf zwiichen Obligationären und Aktionären der Südbahn be- 
ruht auf einer ganz anderen Vorausſetzung. Die Bahngejellihaft ift von den 
Rothſchilds ausgewuchert worden. Das Obligationengejcäft gilt jonft mit Recht 
als jolid; dody bei der lombardijchen Bahn wurde dieje Solidität immer nur 


Rothſchild ⸗ Lombarden. 129 


vorgetäuſcht. Charakteriſtiſch iſt ſchon der Spitzname der Bahn; ihre Aktien 
ſind unter dem Namen Lombarden ein allen Börſen Europas wohlbekanntes 
Spielpapier. Lombarden: ſo nannte man, ihrer Herkunft nach, im Mittelalter 
die Wechsler, die auf den Meſſen umherzogen. Von den einfachen Holzbänken, 
auf denen fie jaßen, war ein weiter Weg zu durchmeſſen, bis der Kunſtbau des 
modernen Banfgejchäftes erreicht wurde. Dieſe Lombarden, die auf ihre Weije 
der Kultur dienten, waren Leute, die das Vertrauen ihrer Kunden jelten mit 
nüglicher Leiſtung redhtfertigten. DerName Lombardifche Bahn ſtammt von Linien 
ber, die der Südbahn ſchon lange nicht mehr gehören. Als Oeſterreich noch 
über die Yombardei herrichte, war das lombardifche Schienenneß der Südbahn 
auch ein Wahrzeihen von Dejterreihs Oberhoheit. Als dann aber die italte- 
niſche die öſterreichiſche Herrſchaft ablöſte, wurden die lombardiſchen Streden 
an die italieniſche Regirung verkauft. Es iſt wohl nur ein Zufall, daß gerade 
in dieſen Jahren, von 1875 bis 1880, die Aktien zum erſten Mal keine Dividende 
brachten. Bis dahin waren ganz anſehnliche Dividenden vertheilt worden. Schon 
vorher aber war das Unheil geſät, das ſeitdem die Aktionäre ſo oft ſchmerzlich 
ſpüren ſollten. Es gab 160 Millionen Gulden Aktien. Das weiter nothwen— 
dige Kapital wurde nah und nach durch Ausgabe von dreipronzentigen Obli— 
gationen beſchafft. Ich weiß nicht, ob die Aktionäre in dieſem niedrigen Zinsfuß 
einen Vortheil ſahen. Das würde der ländläufigen Anſicht entſprechen. Selbſt 
Miquel war ja ſtolz darauf, daß er in den finanziell ſchwierigſten Zeiten drei— 
prozentige Anleihen aufzunehmen vermochte. Gerade das Beiſpiel der lombar— 
diſchen Bahn lehrt aber, daß billig verzinſte Anleihen mit ihrem niedrigen Aus— 
gabekurs einer Geſellſchaft verhängnißvoll werden können und nur den Kapitaliſten 
nützen, die den Kursgewinn einſtreichen. Die lombardiſche Bahn häufte im Lauf 
der Jahre eine Obligationenſchuld von über 900 Millionen Gulden, für die 
ſie in Wirklichkeit knapp 450 Millionen Gulden erhielt, weil im Durchſchnitt 
der Uebernahmekurs auf etwa 48 ſtand. So mußte eine drückende Laſt ent— 
ſtehen. Ein Kapital von mehr als einer Milliarde Gulden war, dem Nennwerth 
nach, in der Bahn inveſtirt. Die Zinſen aber mußten von dem relativ kleinen 
Aktienkapital — 150 Millionen — aufgebracht werden. Es war alſo nöthig, 
für rund 450 Millionen Gulden eine ſechsprozentige Verzinſung zu ſchaffen. 
Gewiß giebt es Bahnen, die das Anlagefapital viel höher verzinfen, namentlich 
folche, deren Linien durch reiche nduftriegebiete gehen. Aber im Allgemeinen 
ift bei Bahnen eine jechsprozentige Berzinjung nicht zu erreihen; am Wenigiten 
bei der Südbahn, deren weites Schienenneß viele unrentable Streden umfaßt. 
Noch jchwerer al3 die Berzinfung war in diefem Fall der Tilgungmodus zu 
ertragen. Das Berfpreden, einen Betrag, der höher als der empfangene ift, 
zu verzinjen, kann ohne allzır große Bejchwerde erfüllt werden, — wenn aud) mit 
der Höhe der Schuldjumme natürlich die Laſt wählt. Ganz anders liegen die 
Dinge aber, wenn man verpflichtet ijt, mehr, als man erhalten hat, zurückzu— 
zahlen. Solde Bürde fann jelbjt der rentabeljte Betrieb faum tragen. Der 
Staat, der jid aus irgend einem Grunde genöthigt glaubt, billig verzinite An— 
leihen zu niedrigem Kurs auszugeben, kann den Ausiveg der ewigen Renten: 
ihuld wählen; dann ift er von der Nüdzahlungpflicht befreit. Wer aber die 
Ausgabe einer Bahnobligationenshuld vermittelt, muß willen, daß dic lombar« 


130 Die Zukunft. 


diiche Methode die Gejellichaft ins Verderben führt. Das war die Schuld der 
Rothſchilds, deren MWucherjoc die Aktionäre abzuſchütteln juchen. 

Als diefer Verſuch, zuerft von den deutſchen Aktionären, unternommen 
wurde, empfing ihn in Defterreich höhnifches Gelächter. Die Herren der Süd- 
bahnverwaltung waren wohl nur an die jchlaffe Oppofitton ihrer weihmüthigen 
‚Landsleute gewöhnt und rechneten nicht mit norddeuticher Zähigfeit. In Dam- 
burg entjtand ein Aktionärausſchuß, der unter der Führung des Nechtsanwaltes 
Dr. ©. Heymann fräftig zu agitiren begann. Und nun wiederholte ſich all- 
jährlih in den Maiverfammlungen der Südbahn das jelbe Schaufpicl. Die 
deutichen Aktionäre trugen ihre Pläne vor, begründeten fie ausführlid, — und 
die Südbahnherren wielen alle Vorſchläge ab und beriefen ſich emphatiich auf 
Recht und Billigkeit. Sind denn aber die Forderungen der Altonäre fo ungehener- 
ih? Das von ihnen herbeigeichaffte Gutachten eines öfterreichifchen Auwaltes 
beweift haarjcharf, daß von der Berwaltung den Obligationären freiwillig manche 
Konzeffionen gemadt wurden, auf die fie feinen unbedingten Anſpruch hatten, 
deren Rechtsgrundlage vielmehr höchſt zweifelhaft ijt; ich will zunädft nur von 
denen reden, die fi auf Tilgung und Verzinfung beziehen. Die dreiprozentige 
Obligationenfchuld der Bahn war in Silber bezahlt worden, die Bahn aber 
zahlte auch in letzter Zeit, troß den veränderten Werthverhältniffen, die Zinjen 
in Gold. Aud bei der Auslojung wurde der Gegenwerth der ganzen Stüde 
in Gold bezahlt. Das Gutachten des Advofaten Dr. Weißhut läßt gewichtige 
Zweifel darüber bejtehen, ob die Geſellſchaft verpflichtet war, in Gold zu zahlen. 
Die Sidbahndirektion hat fich entichieden geweigert, den Auszahlungmodus zu ändern; 
die Aenderung, hieß es, könne den Kredit der Geſellſchaft gefährden. Diefem Argu- 
ment haben ſich die Aktionäre gefügt. Sie wollen nur noch die drüdende Tilgung: 
pflicht erleichtern. Aber auch hier dachten die deutſchen Aktionäre nicht an einen 
Rechtsbruch. Weißhuts Gutachten zeigt, daß für eine ganze Reihe von Serien der 
dreiprozentigen Obligationen die Verpflichtung der Auslofung zum Nenntverth 
nach einem feiten Plan gar nicht bejteht. Die Konzeffion der Südbahn Läuft 
1968 ab. Bis dahin müſſen alle jeßt umlaufenden Obligationen in Höhe von 
1,91 Milliarden Franes getilgt jein. Doc) ift nicht etwa für die Tilgung der ganzen 
Summe ein einziger Schlußtermin vorgejehen. 82 Millionen müfjen bis 1949, 
eine Milliarde bis 1954, etiva 800 Millionen bis 1968 getilgt fein. Natürlich 
wäre ſchon viel gewonnen, wenn die Endfrift der Tilgung für die ganze Summe 
bis 1968 hinausgeichoben werden könnte. Das verlangen die Aktionäre. Und 
fie berufen fich darauf, daß ein Schade dadurch nicht entjtehen fünnte, weil an 
der Börfe die zu verichiedener Zeit rüczahlbaren Serien die jelbe Kursnotiz 
haben. Das beweijt, wie wenig Werth das Kapitaliſtenpublikum der früheren 
oder jpäteren Rückzahlung beimißt. „Ferner fordern die deutjhen Aktionäre, 
der Geſellſchaft folle erlaubt werden, einen Theil ihrer Obligationen durch Rück 
fauf zum Qagesfurs zu tilgen. Dadurch wäre die Gejellichaft beträchtlich ent- 
lajtet, denn die dreiprogentigen Obligationen jtehen jegt etwas unter 70. Für 
jede einzelne Chligation würde der börjenmäßige Nüdfauf alfo ein Erträgnif 
von rund 150 Franes — gegenüber der Auslofung zum Nennwerth — liefern. 
Auch hier ſoll Niemand geichädigt, fein Hecht verlegt werden; dieweninen Börjenleute, 
die ihre Obligationen theurergefauft hatten, waren ja nicht zum Verkauf gezwungen. 





Rothſchild⸗Lombarden. 131 


Wer den Pariwerth erhalten will, muß eben bis zum Verloſungtermin warten. Auf 
Obligationäre, die zu niedrigemKturs gekauft hatten, war feinefücficht zunehmen ; und 
erjt recht nicht auf die erſten Befiger, die ihre zum wucheriſchen Uebernahmepreis er» 
worbenen Obligationen nod) liegen hatten. Allen Bernunftgründen wurde in 
den Generalverjammlungen jtets mit nichtsjfagenden Ausflüchten begegnet und 
allen Warnungen zum Troß blieb die Verwaltung bei ihrem rudlojen Opti- 
mismus. Jetzt plöglich it fie zu Vorſchlägen genöthigt, die den früher abge: 
lehnten jehr ähnlich jind. Mit einigen Abweichungen im Detail werden die 
‚sorderungen der deutjchen Aktionäre nun aud) von der Verwaltung aufgenommen. 
Sie verjagte ihnen die Anerkennung, jo lange es fich nur um das Intereſſe der 
Altionäre handelte, und fügte fich erjt, als die Obligationäre vor der Gefahr 
des Zinsverlujtes ftanden. Wäre die Südbahnverwaltung nicht jo Eurzfichtig 
gervejen, hätte fie ji jchon vor fünf Jahren zu Reformen entjchloffen, dann 
hätten die Aktionäre allerdings vielleicht eine un 1 oder 2 Prozent höhere Dir 
vidende befommen, die Beunruhigung der Obligationäre wäre aber vermieden 
worden, die den Kredit der Gejellichaft mehr gejchädigt hat, als irgend eine re- 
formirende Maßregel vermöcdte. In den Bublifationen der Südbahn werden fait 
wörtlich die Gründe der Oppofition nad Weißhuts Gutachten angeführt. Haben 
die weijen Herren wirklich erſt jetst eingejehen, daß diefe Gründe ftichhaltig find? 

Der lange Widerjtand der Direktion ift — darüber täufcht fich wohl 
Niemand — darauf zurüdzuführen, da die Rothſchilds in Wien, Paris, Yon- 
don nicht Yuft Hatten, die Sünden ihrer Väter an der Zombardenbahn gutzu= 
maden; ſie wollten die alte Beutepolitif weitertreiben. Aus diejem Lager 
ſtammt auch fiher der Sat, den ich in einem berliner Börjenblatt fand: „In 
den Verhandlungen, die im verfloffenen Herbit zwilchen dem wiener Werwaltung- 
rath der Südbahn und den Mitgliedern des parifer Kommitees in Paris ge- 
prlogen wurden, ijt die Vereinbarung getroffen worden, eine von den deutichen 
Aktionären jchon lange betriebene Nuseinanderjegung mit den Prioritätenbejigern 
erſt dann anzubahnen, wenn die ziffernmäßigen Erträgnifje der Bilanz für das 
abgelaufene Gejchäftsjahr vorliegen und aus diejer Bilanz die unabweisliche 
Nothwendigkeit folder Schritte fich ergiebt.* Das heißt: wir haben beichlojjen, 
bis zur allerlegten Stunde, jo lange, wie es irgend möglich ift, die Kräfte der 
Geſellſchaft für die Obligationenbejiger auszunuben, mag dabei aucd) die Gejell- 
ihaft zu Grunde gehen. So lange nur die leijeite Hoffnung auf vollen Zins— 
genuß der Obligationäre blieb, jträubte man jich mit Händen und Füßen gegen jede Re— 
form. In dem Bericht des erwähnten Börjenblattes, das ein vielleicht ahmunglojer 
Schmock von Wienaus bedient, jtehtabernod Schöneres. Zunächſt wird verſichert, die 
Transaktionjeinatürlich im volliten Einverjtändniß mitden wiener und parijer Häu— 
jern Rothſchild erfolgt. Darın aber heißtes: „Doch mag bei dieſem Anlaß denwider- 
finnigen Unterjtellungen entgegentreten werden, daß das Haus Rothſchild wegen 
feines Prioritätenbefiges die Intereſſen der Mftionäre denen der Prioritätenbe= 
bejiger hintanjeßt. In diefer Beziehurg ift Ihr Korreipondent von maßgeben— 
der Stelle autorifiert, mitzutheilen, daß jeit Jahren der Beſitz der beiden Häuſer 
Rothſchild an Obligationen der Südbahn ein ganz geringer ijt, während die 
beiden Welthäufer allerdings einen jehr bedeutenden Aktienbeſitz in ſich ver 
einigen, durch den ji faum wieder einbringliche Verluſte von vielen Millionen 


132 Die Zuhumtt. 


ergeben.” Ich kann natürlich keine pofitiven Angaben über den Prioritätenbefig 
der Herren Rothſchild machen, da ich leider zu ihnen gar feine perjönlichen Be- 
ziehungen habe. Ich kann auch nicht für die Michtigfeit der Darftellung bürgen, 
die ein freundlicher Zufall mir zugetragen hat. Danach hat das Geſchick der 
dreiprozentigen Südbahnobligationen den inhalt einer Tragifomoebie im Haufe 
Rothſchild geliefert. Zur Ausftener einiger Töchter aus diefem Haus hatten 
itarfe Posten öfterreichifcher Südbahnobligationen gehört und jede Zinsverfürzung 
könnte recht böjen Familienzwiſt herbeiführen. Das mag eine der vielen Le— 
genden jein, die wiener Phantafie erjonnen hat, meinetwegen auch ein ſchlechter 
Wit. Die Methode aber, die von den Rothſchilds und ihrer Prefle angewandt 
wird, verdient Beachtung. Der Aktienbejig der Familie Rothſchild fol Millionen 
betragen. Das glaube ih; aud, daß auf diefen Aktien vielleicht Verlufte ruhen, 
deren Höhe minder bemittelte Leute in den Konkurs treiben könnte. Die Frage 
ift nur, ob es fich hier nicht am Ende um Berlufte Handelt, die man durch Ge— 
winne auf der anderen Seite, namentlich. bei der Berzinjung und Tilgung der 
Obligationen, wieder einzubringen hofft. So oder ähnlich muß es fein; jonft 
wäre der Verlauf der bisherigen Generalverfammlungen, bie ganz unter Roth: 
ihilds Einfluß ftehen, überhaupt nicht zu begreifen. Man braudt übrigens 
nur einen Blid auf die Statuten ber Südbahn zu werfen, um das Streben zu 
merfen, den Aktionären alle Rechte zu verfümmern. Erſt der Befiß von vierzig 
Aktien gewährt das Recht auf eine Stimme. Niemand darf mehr als höchſtens 
zehn Stimmen für fih und zehn Stimmen mit Nollmadt vertreten. Nur 
Aktionäre dürfen die Vertretung fremder Aktien übernehmen. Dieje Beſtim— 
mungen haben das Gros der Aktionäre völlig ausgeichloffen und den Rothſchilds 
und deren Strohmännern alle Macht geſichert. Thatſächlich iſt man von je her 
übel mit den Aktionären umgegangen. Wegen einer geringfügigen Konzeſſion— 
verlängerung hat man die fünfprozentige Dividendengarantie in die Garantie 
eines Bruttoerträgniffes umgewandelt. Und 1899 hat die Generalverfammlung 
beichlojjen, die bis dahin beitchende Pariauslofung für die Aktien zu juspen- 
diren; dieſer Beihluß bradte die Aktien um ihre letzten Chancen. Wer joll 
denn glauben, eine unbeeinflußte Generalverfammlung, die wirklich nur Aftionär- 
interejjen vertritt, könne ſolche Beſchlüſſe faſſen? Nein: im Berwaltungrath 
figen Yeute, die Rothſchild am Draht lenkt, und die Generalverfammlungen 
find von Rothſchild infzenirte Komoedien. Der Betriebsleiter, Herr Eger in 
Wien, trägt zwar den Titel eines Generaldireftors, hat aber nad) dem Statut gar 
nichts zu jagen. DerBerwaltungrath herrfcht und der Berwaltungrath ift Rothſchild. 

Auch im Gejchäftsleben ift Macht des Nechtes Schöpferin. Wenn alfo 
die Rothſchilds eine durch ihre Finanzpolitif an den Rand des Abgrundes ge- 
bradte Geſellſchaft noch weiter ausbeuten wollen, ſo wird jchmwerlid; Jemand fie 
hindern fünnen. ur jollen fie uns dann wenigftens mit ihren ethijchen Redens— 
arten verjhonen und uns nicht vorjammern, wie viel fie an den Lombarden 
altien verloren haben. Der Egoijt, der den Muth jeiner Skrupellofigkeit hat, iſt 
zu ertragen; jentimentale Wucherer aber find kaum noch in Melodramen möglich. 


Plutus. 








Herausgeber und verantwortlicher Redaf:cur ; M. Harden in Berlin. — Berlag ber Zukunft in Berlin, 
Drud von Albert Damde in Berlin- Schöneberg. 








— — — 














— 5F — 5 — ——— © 
pn” a : - | 


u. * 
fen 8 — * = Er 
— 2 





PN 


fan 
e 3. u F 





= * * — 
ta 
Berlin, den 26. April 1902. 
— — ñ— — 





Ilja von Murom. 


urch die Bylinen, die Volksepen der Moskowiter, ſchreitet mit ſchwerem 

Tritt ein frommer Held, dem im Niejenförper das Herz eines Kindes 
jchlägt: Ilja aus Murom, eines Bauern Sohn. Dreißig Jahre lang faherger 
lähmt aufeinem Fled und die Eltern fürchteten ſchon, ihr großer, ungeſchlachter 
unge werde Arme und Beine nie mehr rühren lernen. Eines Tages aber, 
da er allein in der Hütte war, klopften zween Pilger, baten um Einlaß und 
riethen ihm, der jich auf die Yähmung der Hände und Füße berief, ruhigen 
Muthesnuraufzuftehen und ihnen das Thürchen zu öffnen. Er thuts, wird 
von den Pilgern mit Wein gelabt und ift von diejer Stunde an der ftarfe 
Dann, dem die Gemwaltigiten nicht widerjtehen fönnen. Selbjt ſchmiedet er 
ſich die Waffen, badet nächtens jein plumpes Bauernfüllen im Thau, daß es 
eines Rıtters würdiges Streitroß werde, und zieht, mit der Eltern Segen, der 
Häuſer bauet, dann hinaus in die weite Welt. Des Yandes Bedränger 
wirft er in den Staub, Räuber und böje Niejen, jchlägt ein Tatarenheer 
in die Flucht und wird der Schüger der Schwachen. Sironen und Schäbe 
und Schöner Frauen Gunſt verjchmäht er, der nicht Macht noch Genuß 
jucht, jondern im Dienst des gequälten Bolfes hriftlic) Handelt und wandelt. 
So ofter die Erde berührt, wächſt feine Kraft; und faſt vierhundert Jahre 
währt jcyon jein Leben, als Engel ihn vom Roß heben und nad) Kiew ins 
Höhlenklofter tragen, auf daß er an Heiliger Stätte ſterbe. Yange wurde den 
Reiſenden dort jein Örab gezeigt. Im Lied aber lebt nod) heute der nationale 

10 


134 Die Zukunft. 


Held, den nicht Hang zu Abenteuern, nicht Rachjucht noch Diachtbegier aus 
der Enge trieb. Alte und neue Dichter Haben ihn als den Mythengeniusdes 
ruſſiſchen Volkes verherrlicht, das nicht zu bejiegen fei, wenn es zur rechten 
Stunde widerdie Herrſchaftder Bosheit aufjteheund dem Gebot desChrijten- 
gottes gehorche. Und immer, wenn im finjteren Ruſſenreich der Drud uner- 
träglich wurde und gebundene Kräfte die Eifenketten zu jprengen drohten, 
hujchte ein Flüſtern über die ſchwarze Erde, ein angjtvolles Hoffen: Sit 
Ilja, der Muromer, von der Yähmung erlöft und wird er die ungelenten 
Riejenglieder endlich nun, endlich zur Befreierthat regen ? 

Wieder geht, feitaus den Hauptjtädten jchlimme Kunde in die Dörfer 
drang, die alte, oft in jternloje Nächtegejeufzte Frage durch dasYand. Oben, 
in der dünnen Schicht der Gebildeten, gährt es; und die afademijche Jugend 
iheint zum äußerjten Wagniß entſchloſſen. Bor einem Jahr wurde der Chef 
der Unterrichtsverwaltung von einem Studenten getötet; und jett iſt Sſip— 
jagin, der Minifter des Inneren, von einem Studenten ermordet worden. 
Zwiſchen den beiden Thaten liegen Studentenfrawalle und Straßenfämpfe. 
Dan hat die jungen Yeute niedergeichoffen, nad) Sibirien verdickt, ausge- 
peitfcht und unter die Soldaten geftedt: nichtS hat geholfen. Schon wird 
in Europa von dem nahen Ausbruch einer ruſſiſchen Revolution geiprochen 
und der Weihe Zar beſchworen, ehe es zu fpät wird, fein Selbftherricher- 
recht zu opfern; er jet jung, offenbarguten Willens und könne die Nothwen— 
digkeit liberaler Reformen nicht länger verfennen. Was er thun joll, ward 
ihm bisher nicht gejagt. Einem Bolfvon Hundert Millionen Analphabeten, das 
auf einem Gebiet von mindejteng zweiundzwanzig Deillionen Quadratfilo- 
metern lebt, eine Berfajfung nad) europäiſchem Muſter geben? Zwei Jahr: 
zehnte find vergangen, jeit Nikolais Großvater auf dem Wege zu diefem Ziel 
den eriten Schritt that. Am dreizehnten März 1851 — alten Stils — 
hatte Alexander der Zweite, bevor er zur Parade fuhr, dem von ihm zum 
Miniſter des Innern ernannten General Yoris Melikow befohlen, im Re— 
girungboten am nächiten Morgen den Ukas zu veröffentlichen, der die Ver— 
treter der Provinzialitände und der Stadtgemeinden zu einer Nepräfentan- 
tenverjammlung in die Dauptitadt rief. Während der Erlaf, der zwar feine 
Berfoffung, doch den Beginn eines politischen Yebens brachte, in der Reichs— 
druderei gejett wurde, warfen Kibaltſchiſch und Sofie Perowskij am Katha- 
rinenfanal ihre Bomben und der Zar wurde jterbend ins Winterpalais ge- 
bracht. Yoris Melifowlieh nachmittags deutrauernden Sohn des Gemorde: 
ten fragen, ob der Ukas erfcheinen ſolle; gewiß, war die Antwort: gleich morgen 


Fıja von Murom. 135 


ſoll das Bolfdas Teftament meines Vaters lefen. Mitten in der Nacht fam der 
Gegenbefehl: die Veröffentlichung ſei aufzufchieben. Ein paar Tage jpäter 
war Katkow in Petersburg und Alerander der Dritte erklärte in feinem erften 
Erlaß, er werde die Autofratie, der Rußlands Größe zu danken ſei, unge- 
ſchmälert aud) ferner wahren. Dieſes Gelübde des Vaters hat der Sohn er- 
neut. Er könnte, nad) der Ermordung Carnots, Umbertos, Mac Kinleys, 
fragen, ob der Modeparlamentarismus denn ein fpezififches Mittel gegen 
Attentate jei, und die aufdringlichen Mahner an Gocthe weijen, der gejagt 
hat: „Für eine Nation ift nur Das gut, was aus ihrem eigenen Kern und 
ihrem eigenen allgemeinen Bedürfnig hervorgegangen ift, ohne Nachäffung 
einer anderen. Denn was dem einen VBolf aufeiner gewiſſen Altersftufe eine 
mwohlthätige Nahrung fein kann, erweift fich für ein anderes vielleicht als ein 
Gift.” Eine Konjtitution ift in Rußland nicht nur unmöglich: fie wird von 
der Mafje der Muſhils aud) gar nicht erjehnt. Heute noch find die Worte 
aus der Denkſchrift Karamſins wahr, die der Ausgangspunft der jlavo: 
philen Bewegung wurde, und jeder gewijjenhafte Würdenträger im Zaren- 
reich muß !die Warnung beberzigen, Fünftlich im Yande des Palaeologen- 
adlers Bedürfnifie zu Schaffen, die der befte Wille nicht beiriedigen fann. 
Die Gebildeten, die Europas Kultur beleckt hat, haben dieſer Mah— 
nung nie gelaujcht. Auf dem Thron der alten Shane vertrat fie der erjte 
Alerander, der befanntefte Typus des gebildeten Ruſſen: weich und dennoch 
brutal, eifrig im Erfinnen ausgreifender Pläne und jchlaff in der Ausfüh 
rung, eigenfinnig und doch leicht bejtimmbar, wie alle Menichen, die ihres 
Wollens Ziel niemals Har vor jid) jahen. Wer weit, was aus Rußland ge- 
worden wäre, wenn Speranstijs genialischer Sprudelgeift längerden ſchwan— 
fenden Sinn des Kaiſers gelenkt hätte, der Yaharpes Schüler bleiben und der 
Frau von Krüdener doch die Treue halten wollte? Ohne Karamſins rauhen 
Eingriff, der neue gefährliche Proben hinderte, hätten die Defabrijten viel- 
leicht mehr Anhang gefunden. Yange blicb auf der Oberfläche dann Alles 
ruhig. Nikolaus herrjchte, ein Ruſſe vom alten Schlag, ein Mann ohne 
Nerven, ohne flatternde Phantafie, doc) unbeugiamen Willens, der nie weit 
vorausichaute, das nächte Ziel aber deutlich erkannte. Schon regte jichs 
überall in Europa ; Rußland nur ſchien noch zu jchlafen. Wie in den nor- 
dischen Flüſſen unter der dicken Eisfrufte aber daS Yeben aud) im tiefſten 
Winter forttrömt, jo zudtees unter der nifolattischen Uniform auch durch die 
Glieder des Niefenreiches. Sacht wurden neue Gedanken, neue Zwangsvor— 
ftellungen im Dunkel über die Grenze geſchmuggelt. Das war die Zeit, wo 
10* 


136 Die Zukunft. 


der Student ins politijche Yeben trat. Puſchkin hat Einen aus diefer Schaar 
geichildert: Wladimir Penstkij, Onjegins Freund, den jchönen Jüngling mit 
den langen Poden und der Göttingerfeele, der im deutſchen Nebellande die 
Freiheit lieben und Kant bewundern gelernt hat. Diefer Yenskij ift noch un: 
gefährlich; ein Enthufiaft, der fi) an Schillers Dichtung beraufchte und 
den Ehrgeiz des Poeten heimmwärts trägt. Nach ihm aber fommen Andere, 
deren Leidenschaft fich nicht in Gedichte Löft. DieWerfe von Hegel und Feuer: 
bad, Proudhon, Fourier, Saint-Simon werden eingejchleppt, die jungen 
Leute fangen an, die Nationalöfonomie des Weftens zu jtudiren, das Ge— 
Ichlecht reift, da8 Turgenjews Novellen die Helden gab. Bazarom jieht 
anders aus als Lenskij. Er liebt nicht, ſchwärmt und bewundert nicht; Feiner 
Autorität beugt er fich, fein Dogma, fein Sittengefeg ift ihm Heilig. Staat, 
Volk, Religion? Nitshewo. Alles Unfinn. Alles muß anders werden. 
Das neue Evangelium hatte gewirkt. Der demofratiiche Sozialismus wurde 
bier, wo er einem Herzensbedürfniß und dem Trieb der Raſſe entiprach, mit 
heißerer Inbrunſt aufgenommen als in Europa. Bjelinsfij wurde zum un— 
erbittlichen Kritiker des hiftorisch gewordenen Rechtszuftandes, Herzens 
„Glocke“ läutete mit weithin jchwingendem Ton durd) das Yand, Bakunin 
predigte die Propaganda der That und pries, als commis voyageur der 
Revolution, die Zerjtörerwuth als eine Schöpfermadht. Die ganze gebildete 
Jugend war mit den Empörern. Natürlich: fie jah ein geiftig hilflofes, in 
wirthichaftlicher Noth verfümmerndes Volk, fühlte den furdtbaren Druck 
einer unbarmherzigen Theofratie auf fich laften und wähnte, nur der Re— 
girenden böfer Wille halte das Neich in den lähmenden Banden der Knecht— 
Ichaft zurüd... Dem verhaften Zarismus wurde damals der nahe Zu: 
ſammenbruch prophezeit. Aber der Rieſe aus Murom rührte ſich nicht. 
Wie oft hat fich im Yauf der ruſſiſchen Gejchichte dieſes Schaufpiel 
wiederholt! Das Yand, das drei Jahrhunderte lang das Tatarenjoch trug 
und deſſen Mittelalter noch fortwährte, als in Preußen das Frigenregiment 
zu Ende ging, follte mehr als einmal jchon von einem zum anderen Tage 
mit Europäertünche geftrichen werden. Die ſchlimmſten Folgen hatte Peters 
hajtiger Verſuch, mit afiatiichen Mitteln — nad) Koftomaromws den Kern 
treffendem Wort — fein Reich zu europätfiren. Diefem Selbjtherricher, den 
man nicht unter die großen Negenten rechnen ſollte, fehlte jedes intime Ver- 
ftändniß für die Yebensbedingungen ſeines Volkes; er glaubte, die Moderni— 
jirung werde vollendet fein, wenn er das halb priefterlidye Gewand feiner 
Ahnen mit einem bunten Militärrod und den biblifchen Zarentitel mit dem 


Yıja von Muront. 137 


Namen eines Kaijers vertaufche, den Männern den Kaftan, den frauen 
den Schleier verbiete und dem Yand eine neue Hauptitadt aus den Süm— 
pfen zaubere. Von tatariichen und byzantinifchen Traditionen hat er das 
Reich befreit, doc es im Innerſten geichwächt und den Keim des gefähr- 
lichſten Dualismus in die ruhig hindämmernde flavische Seele geſenkt. Jo— 
jeph de Maiſtre hat diefen verhängnißvollen Fehler richtig erfannt, als er 
an einen rufjischen Freund fehrieb: Pierre vous a mis avec l’Etranger 
dans une fausse position. Nec tecum possum vivere nee sine te: 
c’est votre devise. Noch heute ift die Nachwirkung diejes glänzenden Irr— 
thums zu fpüren. Dem gebildeten Rufen bringt jeder Tag unbequeme Be- 
läftigung. Die Zeitungen werden gejchwärzt, verdächtige Bücher von will— 
fürlich jchaltenden Eenjoren dem Käufer vorenthalten. Jedes unbedachte 
Wort, jede Denunziation eines Feindes fann zu adminiftrativer Maßregel- 
ung führen. Und nirgends, jo weit man das Auge jchiekt, das Frühroth 
hellerer Zeit. SelbftdieSapadniti, die Bewunderer weitlichen Weſens, wiſſen 
feine ausreichende Antwort auf die Frage, was denn gejchehen folle. Sie 
ichämen fi) vor Europas jpöttifchem Blick, — aber das Yand ift zu groß, 
die Bedürfniffe der Maſſe find von denen der ſchmalen Oberjchicht zu ver: 
ichieden, als daß man hoffen dürfte, eine Allen genügende Wandlung zu er: 
leben. Der Zuftand wäre unerträglich, wenn das nationale Temperament ihn 
nicht ertragen hülfe. Der Ruſſe ift reich an Ideen undeinbildnerischer Kraft, 
aber jein müder Wille rüftet jich jelten zur That; er nimmt fich viel vor 
und führt wenig aus, taumelt von tieffter Melancholie in dionyſiſche Luſt 
und vergißt morgen, was er heute fein Yebensziel nennt. Er jchätt den 
Werth des Dafeins fo gering, ift jo gewöhnt, im Rauſch der Sinne oder 
des Intellektes um Kopf und Kragen zu jpielen, daß der Gedanke an den 
Tod ihn kaum noch ſchreckt. Kein Anderer, jagt Anatole Leroy-Beaulieu 
in jeinem Buch über das Zarenreich, weiß zu leiden und zu jterben mie 
der Nufje; dans son tranquille eourage «devant la souffrance et 
la mort il y a de la resignation de l’animal blesse ou de Indien 
captif, mais relevee par une sereine convietion religieuse. 
Daher die Fülle der jungen Menjchen, denen die Wimper nicht zudt, 
während jie dem Henker entgegenichreiten. Rußland iſt Falter Orient. 
Das Gehirn diefer Menichen arbeitet nicht fo ruhig und pünktlich wie das 
mohltemperirter Europäer. Ein Fünkchen, ein über Nacht hereinbrechender 
rujfiicher Frühling, der den eben noch jtarren Boden mit Blumen beitidt: 
und Jünglinge und Mädchen werfen Alles weg, was ihnen das Yeben bisher 


138 Die Zukunft. 


ſchmückte, rennen ins Klofter oder ins Lazareth, ſchneiden jich die Pulsadern 
auf oder morden einen Minijter, werden Bauern oder Straßenfänger, Sama- 
riterinnen oder Proftituirte. Warum? Aus Verzweiflung, aus Alltagsefel, 
in elſtatiſcher Sehnsucht nad) unbelannten Wonnen, und wären es die ſchmäh— 
lichjter Erntedrigung . . . Nietiches Piychologengenie hat in Doftojewstijs 
Werk die Achnlichkeit mit der Tabilen Welt der Evangelien gefühlt. 

Der Herr allerReußen mag oft jetst des Wortes denken, das Puſchkin 
den Ujurpator Boris Godunom Sprechen lieh: Schwer drückt die Krone des 
Monomadjos! Nikolai Alerandrowitic) ift vor die Aufgabe geſtellt, ein 
Millionenvolf zu Selbftändigfeit und geiftiger Meife zu erziehen. Er möchte 
helfen und muß auf Schritt und Tritt doch die Ohnmacht des Autofraten 
empfinden. Ein Jahr ift vergangen, feit er den alten General Wannowskij 
zum UnterrichtSminifter ernannte und ihm auftrug, das ganze Schulwejen 
im Sinn liebevoller Fürſorge zu reformiren. Die Jugend hat jic der guten 
Abſicht nicht dankbar gezeigt; zu hart ift der Drud der Ketten, zu eindring- 
lich mahnt der in die Ferne jchweifende Blid, den Kampf für die Befreiung 
der Öeifter zu wagen. Die revolutionäre Ruth der Akademiker wird, wie jo oft 
ſchon, nach kurzem Auffladern wieder verglimmen. Unten aber hungert das 
Volk, hungert und ftöhnt und kann die Öliedernichtregen. Das ift die Gefahr. 
Der Europäerhochmuth, der feinen engen Berhältnijien die Norm für fremde 
Kulturen entlehnt, vergikt immer wieder, dat Rußland ein von der Wurzel 
unlösbarer Iſlam it, der jeine Zukunft in Aion zu fuchen hatund dem der 
modijche Firniß nicht nützen kann. Die winzige Deinderheit, die nad) poli- 
tiicher Freiheit langt, ift heute nod) leicht zu bändigen und gegen fie würden, 
auf Batjuſhkas Ruf, die Bauern in Schaaren aufjtchen. Doch dieſe aſiatiſche 
Großmacht braucht Geld, braucht, um endlich die ungeheuren Bodenſchätze 
zu heben, eine Induſtrie, der die Technik Entbinderdienjt leiften muß. Dieje 
Nevolution ift zu fürchten, fie ganz allein. Wenn die Wilfenfchaft fich dem 
von der Scholle gerificnen, in Stadthöhlen gepferchten Muſhik verbimdet, 
ihm von Menichenrechten fpricht und die fommuniftischen Inſtinkte der Raſſe 
aufitachelt, kann der Balacologenthron leicht ins Wanfen gerathen. Nod) 
fitst, ob e8 im Dachgebälk auch ſchon Fniftert, Jlja aus Murom regunglos 
auf feinem Plat, ein gelähmter, zum Kampfunfähiger Rieſe. Nicht der Pilger 
Witte wird ihn diesmal erlöjen ; aber die Stunde wird fommen, mo die Noth 
ihn aus der morjchen Hütte in die Fabrik treibt. Und dann wird der täppiiche 
Held ichnell das Gehen und des Waffenichnieds Handwerk lernen. 


* 


Entwidelungitujen. 139 


Entwicelungjtufen. 


5) arf ich den im vorlegten Heft abgeſchloſſenen hiftorischen Ausführungen noch 
einige methodologijche Worte hinzufügen? ch glaube, daß ich meine er— 
fenntnißtheoretifche Mauferungzeit hinter mir habe, — wenn ſolche Zeiten nicht 
etwa den Charakter der Periodizität aufweilen. Wie Dem nun aud) fei: mein 
Freund Breyſig ift jest augenscheinlich in einem Entwidelungmoment begriffen, 
in dem er das lebhafte Bedürfnig der Erörterung geſchichtlich-methodologiſcher 
Kontroverjen hat und auch öffentlich zur Geltung bringt. Das ift fein 
gutes Recht und ich bin der Legte, es nicht anzuerkennen; folgen aber möchte 
ih ihm auf feine wiederholt gegebene Anregung hin doch nur bis zur der 
Grenze, daß ich feinen Ausführungen in diefer Zeitfchrift gegenüber hier 
einige Säge zufammenitelle, die mir das Ergebnik langer Erfahrung find. 

Das Beftreben, geſchichtliche Thatſachen und TIhatjachenreihen zu ver: 
gleichen, ift jo alt wie daS Beftreben, den geichichtlichen Verlauf überhaupt 
wiffenichaftlich zu erfaflen: beide Verſuche find im Grunde identisch und 
reichen bis in die erfte Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts zurüd. Seitdem 
beginnt ein neues Zeitalter oder vielmehr das Zeitalter der Geſchichtforſchung; 
und die Unterfchiede find biß auf den heutigen Tage nur gradmäßig, fo fehr 
je, von dem Standpunkte eines engeren Zeitabichnittes aus betrachtet, als 
abjolut empfunden werden mögen. 

Im Berlauf diefer vergleichenden Beitrebungen tritt nun der Gedante, 
die Entwidelungsgänge der einzelnen Bölfer an ſich, alfo abgejehen von ihrer 
Stellung in dem Beitablauf der abſoluten Chronologie, in ihren gegenfeitigen 
Verlaufäftufen zu parallelijiven, jchon früh auf. Der Moment diejer Auf: 
faſſung ijt gegeben, ſobald die Verſuche der Pdentitätphilofophie aufhören, 
den Gang der menſchlichen Geſchicke als einen im fich ftetig Fortentwidelten, 
ohne Unterbrehung höhere Stufen erreichenden zu begreifen. Wer dann 
zum erjten Mal ein griechifches Mittelalter mit einem germanifch-romanifchen, 
eine Neuzeit des römiſchen Kaiſerthumes mit der Neuzeit der modernen 
Jahrhunderte verglichen hat: ich weit es nicht. Perfönlich ift mir erinnerlich, 
dar ſich Rofcher diefer Vergleiche in feinen Vorlefungen der zweiten Hälfte 
der fiebenziger Fahre als eines gewöhnlichen Darſtellungmittels bediente. 

Handelt e3 jich Hier um die Vergleihung von Zeitaltern als Ganzes, 
jo ijt die im engeren Sinn fo genammte vergleichende Geſchichte andere Wege 
gezogen. Bekanntlich wird jeit Beginn des neunzehnten Jahrhunderts die 
Aufarbeitung des ungeheuren Stoffes der geichichtlichen Ucberlieferung immer 
mehr getheilt: an die damal3 vorhandenen praftifchen geiſteswiſſenſchaftlichen 
Disziplinen der Theologie und Jurisprudenz hatten fih Schon längſt Kirchen— 
geſchichte und Rechts- und Verfaſſungsgeſchichte angeichloffen; darauf kamen 


140 Die Zukunft. 


in buntem Reigen Literatur: und Kunftgefchichte, Wirthſchaft- und Literatur: 
geichichte u. f. w. Diefe Entwidelung hat ihre großen Bortheile gehabt und 
hat fie noch; daR fie volle Erfolge nur erreichen kann, wenn die Theilung 
durch eine rationelle Arbeitvereinigung ergänzt wird, ſieht heute erjt eine 
Minderzahl der Forfcher ein. Einftweilen alfo beftand und blühte die Theil: 
forfchung. Und in ihrem Bereicd wurde man nun vergleichend: es entitand eine 
vergleichende Berfaflung: und Rechtsgeſchichte, eine vergleichende Religion- 
geichichte, eine vergleichende Literaturgefchichte u. ſ. w. 

Die Frage ift, was damit gewonnen war. 

Dit Nugen vergleihen fann man nur einfache Erfcheinungen; bei 
fompleren Erfcheinungen ftehen die identischen Momente neben nicht identi- 
ſchen; und fo liefert die Vergleichung wohl vage Analogien, aber feine wiljen- 
ſchaftlich Klaren und brauchbaren Ergebnifje. Fit die Bergleihung ein Moment 
des induktiven Schluffes, jo muR zu der Induktion die Abitraktion, die 
Iſolirung kommen, fol fie wirklich fördern. Ein Beifpiel; und eins der 
einfchneidenditen. Im fechzehnten Jahrhundert, als Neigungen wirklich eigenen 
wiljenschaftlihen Denkens, nicht nur das gelehrte Beftreben, die antife Tra— 
dition weiter zu überliefern, bei den europäischen Völfern erwachten, trat jofort 
das Bedürfnig auf, die natürliche Welt der Erfahrungen einheitlich zu ver— 
jtehen. Wie fahte man die Aufgabe an? Man fuchte das Jdentifche in der 
Summe der Einzelerfcheinungen und man fand die Kraft. Gewiß ein jchon 
vecht hochitehendes VBergleihungrefultat. Aber half es wifjenfchaftlich weiter? 
Die Ergebnifje waren, wie ich zeigte, die naturphilofophiichen Pantheismen 
eine3 Telefto und Giordano Bruno, eines Weigelt und Bochme und die natur= 
willenichaftliche Methode eines Theophraitus Bombaftus Baracelfus. Geblieben 
ift und aus der ganzen Bewegung als dauerndfter Niederichlag bis heute 
nur das Wort Bombaft. Aber auf die Alles auf einmal umarmenden Enthu= 
taten folgten Stevinus und Galilei: fie gingen auf die Elemente, die 
den komplexen Naturerfcheinungen zu Grunde lagen, und die Lehre von der 
ichiefen Ebene und die Fallgefege forcirten den Eingang zur modernen Medanif, 
Phyſik, Naturwiſſenſchaft überhaupt. 

Das Beiſpiel giebt gegenüber den Alles vergleichenden einzelnen Geſchicht— 
disziplinen zu denken. Wie ſollen bei der Bergleihung fo komplexer Erſcheinungen, 
wie es jede Neligion, auch die niedrigfte, und jeder Staat, aud) der elendefte, 
find, einfache Ergebnifje herausipringen? Nur vage, oft gewiß fehr geiſt— 
reiche Analogien werden zu Tage gefördert. Und das Selbe gilt von ver— 
gleichender Literaturgefchichte und einigen verwandten Disziplinen: der Kultur: 
ausichnitt, den fie als Objekt haben, ift in feinen VBerurfachungen und 
Miotivirungen viel zu verwidelt, als daß ein Vergleich vom Ganzen her 
wirklih genügende Ergebniſſe liefern könnte. 


— 


Entwickelungſtufen. 


Den Elementen muß ſich die vergleichende Geſchichtwiſſenſchaft zuwenden, 
will fie Erfolge ſehen. Den Elementen, wie fie in den einfachſten pſycho— 
logiſch- geſchichtlichen Thatſachen, der Anſchauung, dem Begriff, dem Trieb 
zur Erhaltung und der Förderung der Lebensluſt u. ſ. w. gegeben ſind. 

Auf der Unterſuchung der geſchichtlichen Entwickelung dieſer Elemente 
iſt meine Deutſche Geſchichte von Anbeginn — Das heißt: ſeit den aus— 
gehenden ſiebenziger Jahren — aufgebaut worden. Der Frage zugewandt, in— 
wiefern ſich die Entwidelung der angegebenen Elemente induftiv werde auf: 
finden laffen, begriff ich jehr bald, Das werde nur in der Durcharbeitung 
der hijtorifchen Ueberlieferung einer ganzen Nationalgefhichte möglich jein 
und hierfür biete die deutſche Gefchichte bei ihrer überaus weit zurüdreichenden 
Meberlieferung befonders günftige Ausfichten. Und ſchon früh habe ich auch 
induftiv die Stufen diefer elementaren ſozialpſychiſchen Entwidelungen ge: 
funden: bereit3 der erſte Band meiner Deutfchen Gejchichte (1891) fpricht 
völlig Ear und unzweideutig von einem fymbolifchen, typifchen, fonventionellen, 
indivibualiftifchen und fubjektiviftiichen Zeitalter und theilt nach ihnen den 
ganzen Berlauf der Entwidelung ein. 

Man jieht aus dem bisher Erzählten, daß es in der ganzen Intention 
diefer Vorgänge von vorn herein befchloffen war, Entwidelungftufen des 
Seelenlebens aufzufinden, die jeder großen menjchlihen Gemeinfchaft, jeder 
Nation gemeinfam waren. Ganz etwas Anderes aber war die Frage, wann 
es möglich fein wirde, für dieſes Problem den induktiven Nachweis einer 
günftigen, bejahenden Löjung zu führen. ch jedenfalls habe die für die Ge- 
ſchichte des deutſchen Seelenlebens gefundenen Entwidelungitufen nicht als 
allgemeine hinftellen wollen, ehe ich dafür nicht den abjolut ficheren Beweis 
in der Hand hatte: und fo verhielt ich mich zu dem ‘Problem, immwiefern 
etwa die in der deutichen Gefchichte gefundenen piychiichen Entwidelungftufen 
allgemein giltig jeten, nach außen hin im der Hauptjache indifferent. 

Aber innerlich und in zunächit privaten Studien Hat es mich fortwährend 
beihäftigt. Und da ergaben fic für die Löfung Schwierigkeiten, die in der 
Hauptfache denn doch nicht blos im der richtigen Stollenführung hinein in 
die enormen Stoffmaffen der geichichtlichen Ueberlieferung begründet lagen. 
Enthielt denn die deutſche Geſchichte alle Entwidelungitufen? Bekanntlich 
bricht fie, wenn fie auch in hohes Alterthum hinaufführt, doch fchon in den 
Zeiten der relativ weit entwidelten Kultur der caejarifchen und taciteifchen 
Periode ab. Was lag vor ihr? Die Antwort auf diefe Frage fonnte in der 
Geſchichte feines anderen fogenannten Kulturvolfes gefunden, fie mußte vielmehr 
völferfundlich gefucht werden. So fam es darauf au, den ungeheuren Stoff 
der Ethnographie in Berioden relativer Chronologie, in Stufenfolgen feelifcher 
Lebensäußerungen zu zerlegen. Lid wenn Das gelang: Wie weit führte wieder 

11 





142 Die Zufunft. 


die Völferfunde? Bis zum „Anfang“? Dan kennt die Kontroverſen zwifchen 
Baitian und Nagel und das Problem primitiver Verfallsfulturen: war hier 
zu einem Ende zu gelangen? Nur die Kinderpfychologie fchien die Möglich: 
feit einer ungefähren und hypothetifchen Entjcheidung zu bieten. 

So waren es mannichfache Studien, die hier allein fördern konnten. 
Ic habe jie, in einigen entfcheidenden Zügen, aber keineswegs vollendet, 
hinter mir; und e3 wird noch Fahre dauern, ehe ich mit ihnen an die Deffent: 
[ichkeit treten kann. So viel aber erlauben fie mir doch ſchon mit Sicherheit 
zu jagen: die gefundenen Zeitalter feelifcher Entwidelung find nad vorn nur 
noch durch eim einziges neues — ich hatte viel mehr erwartet — zu ergänzen, 
das ich das phantaitifche nennen möchte; und ihr Verlauf wiederholt ſich 
ausnahmelos in den großen menſchlichen Gemeinschaften der Geſchichte. Dies 
aber auszusprechen, lag mir bei der Ausgabe einer neuen Auflage meiner 
Deutichen Gefchichte deshalb am Herzen, weil mir erjt von diefem Stand- 
punkte aus die Nennung der jozialpfochiichen Zeitalter auf dem Xitelblatt 
der neuen Auflage und damit die unmittelbarjte Einführung der denfenden 
Zeitgenofjen in die neue Eintheilung gerechtfertigt erjchien. | 

Wie ftellt fih nun zu Alledem Breyſigs Syftem? Ich denke, es läßt 
fich, wenn auch mit unvermeidlicher VBerfchärfung und Vergröberung der 
Hauptlinien, mit wenigen Worten jagen. Denn wiederholte, höchſt Lehr: 
reiche Aufſätze Breyſigs haben die Lefer gerade diefer Zeitfchrift ſchon nicht 
wenig in das Verſtändniß der Ideenwelt Breyſigs eingeführt. Breyſig wendet 
die vergleichende Methode nicht auf die elementaren, fondern auf die fompleren 
Erfcheinungen der gejhichtlichen Entwidelung — nocd neuerdings fogar auf 
die fomplerefte von allen, die politiichde — an. Er thut Das mit Scharfiinn 
und Geijt und die Ergebniffe find nicht gering. Uber es läßt fich nicht 
leugnen: bei dem einmal gewählten methodologifchen Standpunkt bleiben diefe 
Ergebniffe im Ungefähren, nicht völlig Umfchriebenen teen: fie liefern nur 
Näherungwerthe. Und noch mehr. Wer bis in die Erforfhung der Ent: 
wickelung der elementaren pſychiſchen Werthe vorgedrungen ift, überzeugt ſich 
bald, daß es auf ſeeliſchem Gebiete Zweierlei giebt, nämlich erſtens Gejege 
einer pſychiſchen Mechanik, die zu allen Zeiten gelten, wie das Geſetz des 
Stontraftes, wonad Luft und Unluft, Freude und Leid, Enthuiiasmus und 
Niedergefchlagenheit jtändig in uns wechſeln, und zweitens Entwidelungs= 
geiege, wie das Gejeg der Entwidelung der Anſchauung aus ornamentaler 
Wiedergabe der Erſcheinungwelt zu deren typischen, fonventionellem, indi- 
vidualiſtiſchem, ſubjektiviſtiſchem Erſaſſen. Es ift genau wie in der Biologie 
überhaupt: neben den Entwidelungsgefegen des pflanzlichen oder animalifchen 
Lebens ftehen, ste bedingend, aber nicht beherrichend, die Geſetze der ich in 
diefen abjpielenden phyſikaliſchen und chemischen Prozeffe. Und wer Das 


Entwidelungftufen. 143 


findet, Der wird ſich auch alsbald Har: nicht die Gefetge der pſychiſchen Mechanik, 
wie das Kontraftgefeg, find die eigentlichen Erponenten des hiltorifchen Lebens, 
fondern die Gefege der Aufhauung:, Begriffs: und Triebsentwidelung u. f. w. 

Wie ftellt jih num Breyiig zu diefen Dingen? In der Durddringung 
der fompleren Erfcheinungen ift ihm der Unterfchied der pſychiſch-mechaniſchen 
und pſychiſch-biologiſchen Geſetze nicht Far geworden; und er wendet die 
pſychiſch⸗ mechaniſchen Gefese, vor Allem das Geſetz des SKontraftes, zur 
Beriodenbildung an: durch eine bald mehr individualiftiiche, bald mehr 
fozialiftifche Haltung foll der Wechſel der einzelnen Zeitalter gefennzeichnet 
werden. ES ift die Stelle, wo nach meiner bejcheidenen Auffaflung Breyſig 
ſterblich ift: hier liegt ein fchwerer logischer und alſo methodiicher Fehler 
vor. Denn fo richtig e3 ift, daß der Uebergang von einer Entwidelungitufe 
zur anderen ji ganz — aber feinesmegs immer — unter den Erjcheinungen 
des pſychiſchen Kohtraftes vollzieht — man wird des alten Zuftandes müde und 
ſtürzt jich umter deutlicher Abweiſung des alten in ein neues Seelenleben —, jo 
wenig wird durch diefe Begleiterfcheinung der biologische Fortichritt an ſich 
erfiärt oder motivirt oder im irgend einer Weife dem Berjtändnig näher ge- 
bradt. Es ift, als wollte man auf naturgefchichtlihem Gebiete die Wachs— 
thumserfcheinungen rein nur aus Gejegen der Phyſik und Chemie erklären. 

Man fieht hier, was Breyfig und mich trennt: Differenzen der Methode. 
Diefe Differenzen aber bleiben nicht ohne ſchwere Folgen, fobald das metho: 
diſche Werkzeug zu arbeiten beginnt. Die Ergebnifje find ſchließlich außer— 
ordentlich verichieden; und ſchon aus diefem Grunde kann von einem prius 
oder posterius unferer Ergebniffe nicht wohl die Nede fein: fie jind an ſich 
infommenfurabel. 

Wer von uns Beiden „Recht“ hat? Nicht wir haben es zu enticheiden, 
fondern der fpätere Verlauf der Forfhung. Wir tragen unfer Tröpflein in 
das große Meer der wiffenfchaftlichen Entwidelung: «8 vereinigt ſich mit ihren 
Wäſſern; und wer weiß, an welchem Orte, unter welchen Bedingungen es 
wieder auftauchen und wirkſam werden wird? Es fteht nicht in unferer Hand: 
in der fteht nur, ehrlich und wahrhaftig zu arbeiten: Caetera deus pro- 
videbit. Das aber mag, namentlich für ferner Stehende, betont fein: im 
diefer Weife wahrhaftig zu arbeiten, iſt nicht jo ganz leicht; deun über Dinge, 
wie die hier vorgetragenen, nachdenken und urtheilen, heißt an ſich jchon, 
viel angeftrengter arbeiten, al3 der gewöhnliche hijtorifche Studienbetrieb es 
verlangt; und Die fich auf diefes Gebiet wagen, find vorläufig noc Kämpfer 
ohne Ruhe und Raft; fie ftehen jeden Morgen von Neuem auf dem Schlacht— 
felde; und für fie giebt e8 feine Manövertage, jondern nur den unabläffigen 
Ernſt des Kampfes. 


Leipzig. Profeſſor Dr. Karl Lampredt. 


Er 11* 


— 


144 Die Zukunft. 


VNervoſität und Runjtgenuß*). 


Ayreietuet Inhalte find der urfprünglichiten Kunftentwidelung fremd. 
Didtung und Muſik gingen hervor aus dem Arbeitgefang, den die 
rhythmiſchen Bewegungen der arbeitenden Glieder und der daraus folgende 
Rhythmus der Arbeitgeräufche weten. Bis zu Sophofles fteht der Rhythmus 
im Bordergrunde der Poeſie. Längft zwar find nun Gefühle und Leiden: 
haften Gegenftand ihrer Schilderung geworden; aber der befondere Gedante, 
die grübelnde Frage, da8 Problem fett eigentlich erſt mit der Auflöfung 
der „klaſſiſchen“ Tradition, mit Enripides, ein. Der Träger des Rhythmus, 
der Chor, tritt zurüd und fpäter finden wir als feinen Erben eine andere 
Macht, die Mufit. Sie ift die Negation des Gedankens in der Kunit. 
Mit einem Zufammenflang oder einer Abfolge von Tönen verbindet 
ſich zunächſt niemals etwas Intellektuelles. Was jene hervorzurufen ver: 
mögen, find Gefühle, Stimmungen. Alles Weitere iſt ſekundär. Indem 
die Gefühle eingegliedert ſind ins Temperament und dieſes eine gewiſſe kon— 
ſtante Richtung unſerer Affekte bedeutet, indem die Affekte wiederum Kom— 
plexe aus Gefühlen und Vorſtellungen ſind, leitet jede Stimmung ſchließlich 
zu gewiſſen Aſſoziationketten hinüber. Aber zu welchen? Das hängt, um 
mich eines Wortes von Wundt zu bedienen, von der geſammten Bewußtſeins— 
lage ab, die für jeden Einzelnen eine befondere it. Daher fommt c8, daß 
ZTolftoi vor dem Unberechenbaren der Muſikwirkung graut und Hanslid gegen- 
über der Veredlung durch die Tonkunſt auf deren „weites Gewiſſen“ hinweift. 
Die neuropathifche Wirkung der Muſik fönnte alfo — fofern wir von 
der rein finnlichen Zerrüttung abjehen — nur darin liegen, daß bei Dem 
oder Jenem durch fie Stimmungen erzeugt werden, die immer wieder auf: 
regende Problemitellungen, Gedankenreihen nad vich ziehen. Ic kann mir 
vorstellen, daß die Eroifa einen grübelnden Geift ins Nachdenken über den 
Kontraft und Konflikt elementarer Größe mit leichter Alltäglichkeit förmlich 
hineinzwängt; und ich kann mir nicht mur vorftellen, fondern es ift einjach 
Thatſache, daß Einer mit folhem Grübeln jeine Nerven ruiniren kann. 
Aber an Alledem ift die Eroifa, it überhaupt jede Muſik unfchuldig. In 
Hunderten wird diefe Symphonie ganz andere Gedankenreihen auslöfen; und 
der heute noch unentjchiedene, eben nothwendig unentfchiedene Streit über den 
Sinn des unſterblichen Scherzo beweilt, wie verfchieden auch die Kunſt— 
empfänglichiten hier reagiren. Auch die Tannhäufer-Ouverture, der Liebes— 
tod, der Zarathuftra vermögen nichts darüber hinaus. Die zu ihnen ge- 
hörigen nterpretationen, Texte, Programmbücher wohl; nicht aber fie feibit. 


x Pe} 


) S. „ntunft“ vom 19, April 1902, 





Nervofität und Kunſtgenuß. 145 


Es giebt feine intelleftuellen Reihen, die unbedingt am ihren Genuß ji 
fnüpften; und die ganze Muſik, von den hebräifchen Eymbeln und griechifchen 
Flöten über Paleftrina und Beethoven und Wagner bis zu den Jüngften 
und Problematifcheften herab, ift an jich neuropathifch völlig indifferent, wird 
es fir ewige Zeiten fein. 

Dagegen ift die Poeſie feit ihrer Löfung aus dem Rahmen des 
religiöjen Tanzes die eigentliche Trägerin der Gedanken geworden; und die 
germanischen Völker haben ihr, nicht feit Shafeipeare erſt, fondern jeit 
Wolfram von Ejchenbach mindeſtens, die emdgiltige Richtung aufs Grübelnde, 
Problematifche, auf3 im tiefiten Sinn Intelleftuelle gegeben. Nicht, als ob 
alle Dichtungen der lateinischen Stämme in graziöfer Epif ihr Höchftes ge- 
leistet hätten; Ausnahmen find überall zu finden; aber wenn es wahr bleiben 
jollte, was die neufte Forſchung nahelegt, daß Dante einer ziemlich raſſe— 
reinen langobardiichen Familie entjtammt, jo wäre eine der größten Aus- 
nahmen jchon befeitigt. Für die Germanen hat ein ſchöner Zufall es gefügt, dat 
von ihren drei großen Stanmeseinheiten jede einen umwälzenden Dichtergeift 
hervorbringen durfte. Die Angelfachien gaben Shakeſpeare; aus dem deutfchen 
Volk jtieg Goethe empor; vom ffandinaviichen Norden aber rüttelte dag 
träge gewordene Jahrhundert Ibſen. 

Und Ibſen, der unergründliche Näthjeliteller, ift immer wieder als die 
vollfommenjte Verkörperung Deſſen angegriffen worden, was in der modernen 
Dichtung ungeſund, verwirrend, neuropathiich fein fol. Bon Nerven- 
ärzten iſt am fchärfiten Möbius, auch wieder einer unferer Allererjten, gegen 
ihn aufgetreten. Einmal ſpricht er von „gräulicher Problemfchriftitellerei“ ; 
an einer anderen Stelle apojtrophirt er den Norweger als „Apothefer-Dichter“, 
bei dem man nie wille, was er wolle; und gar bis zu der Bitte verfteigt 
er jich, ein gütige8 Gejhid möge uns von der „nordiichen Lazarethpoejie“ 
erlöfen. Das find feine Originalitäten; wir haben Dies und Achnliches 
taufendmal unterm Strich kunftfonfervativer Zeitungen und Journale gelefen; 
bezeichnend ift nur, daß ein Nervenarzt von Möbius’ Range, der oft genug 
bizarr wird, nur um nicht die ausgetretenen Wege, fondern feine eigenen 
zu gehen, dieje Bejhuldigungen einfach wiederholt. Daß er es nicht gedanken 
[08 thut, fondern nach guter leberlegung, jegt wohl ein Jeder vom Berfajier 
des „Pathologifchen bei Goethe“ voraus. 

Ibſens Lebenswerk it die Darjtellung jener fchrillen Disharmonie, 
die im Menfchen umferer Zeit durch die Zerftörung der alten Welt» und 
Lebensanfchauung erzeugt wird. Einft hatten wir Normen; mit denen ift 
e3 nun aus, Der Traum vom Ewige Menjchlichen ift vorüber. In ung, 
um uns, vor und; Alles iſt relativ; und an die Stelle des frommen 
Abhängigkeitgefühles tritt das kritiſche, ins Einzelne jpürende Abhängigkeit 


146 Die Zuhmft. 


wiſſen. Die „Rerhältniffe“ werden zu einem erbarmunglofen Ungeheuer, 
das Alles erdrüdt. Wir vermeinten, die ftärkften Naturkräfte gebändigt zu 
haben; aber indem wir fie beherrfchen lernten, verſtlavten wir uns täglich 
mehr den wirthichaftlihen Kräften, die aus ihnen hervorwuchſen und deren 
Leitung und immer vafcher entgleitet. Diefe Erfüllung des trübften Goethes 
worte8, daß wir „jcheinfrei denn, nach manchen Jahren, nur enger dran, 
als wir am Anfang waren“, find, fie it des großen Riſſes Urfache, der 
durch unfer Empfinden geht. 

Dazu kann die Dichtung in zweierlei Weife Stellung nehmen. Sie 
fann fich flüchten in vergangene Zeiten oder in eine Welt des fchönen Scheines, 
der jchmeichelnden Gefälligfeit; romantisch lann fie fein oder afademifch- 
äjthetifch. Sie kann fid) aber auch mit beiden Füren in die Zeit hineintellen, 
den Kampf fchüren, den wir im Leben kämpfen, all dies Zweifeln und Ringen 
fich zu eigen machen. Wie wirft Jenes, wie Diefes auf, unfere Nerven? 

Der Angelpunft unferer Nervofität ift das durch die Fapitaliftiiche 
Wirthſchaftordnung unermeßlich verfchärfte Gefühl der Verantwortung; oder 
noch richtiger: der Kontraſt zwiichen dem Gefühl, daß man als ver- 
antwortlih gilt, und dem Gefühl, daß man gar micht verantwortlich 
fein kann, weil die „Verhältniſſe“ herrichen. Die Zunft feflelte, aber fie 
ihügte auch. Heute fpült mich vielleicht die Welle mit fort, die irgend 
ein geringfügige Ereigniß in einem entfernten Erdtheile wirft. Mit 
jolchen Gedanken den Kampf ums Dafein zu führen: Das reibt auf. 
Und darum find aud Alle, denen dies Loos gefallen ift, die typiſchen 
Neurafthenifer unferer Zeit. Nicht etwa, wie der Laie oft glaubt, die 
Seiftesarbeiter im engeren Sinn, die Gelehrten. Uebermäßige Gedanken— 
arbeit führt zu pfychiatrifchen Bildern, die von der Nervofität ſich fcharf unter: 
ſcheiden. Die Erfchöpfungpfychofen, war Allem das Kollapsdelirium, jind 
die Folge ſolcher Ueberanftrengung; fie laffen ſich experimentell durch 
Uebermüdung — fortgefettes Addiren einen Tag und eine Naht lang — 
leicht nachahmen. Wo Gelehrte eigentlich nervös werden, da find, jieht man 
‚genauer zu, faft immer gemüthliche Aufregungen mit ihrer Arbeit verknüpft: 
übermäßiger Ehrgeiz, Enttäufchungen, Zurüdjegungen, folgenjchwere Irrthümer. 
Sobald jedoch die Verantwortung, vor Allem im der Geftalt jener befchrie- 
benen zwiefpältigen Negungen, in den Vordergrund tritt, da heftet jich die 
Nervofität an ihre Ferfen. Der Arzt, der Richter ift feit je her leicht nervös 
geworden. Aber erjt die befonderen Formen de3 modernen wirthichaftlichen 
Kampfes mit ihren befonderen Variationen der Verantwortung haben die 
eigentlich moderne Nervofität geichaffen. Und die iſt eben darum auch in 
den Ständen am Gröften und am Meiften verbreitet, in deren Händen die 
wirthichaftlichen Funktionen, Produktion und Austanfch, liegen. 


Nervofität und Kunftgenuf. 147 


Wer von quälenden Kämpfen jpricht, wird vielleicht als Antwort 
hören, dar die weitaus meiften Mitglieder dieſer Klaſſen ſich des tieferen 
geiftigen Inhaltes ihrer wirthichaftlichen Rolle kaum bewußt jind. Sie wollen 
Geld verdienen, um gut zu leben. Das Legte trifft aber gar nicht zu; am 
Wenigften auf die Großunternehmer. Solide Lebensbehaglichkeit war das 
deal des alten, heute fait ausgeftorbenen Patrizierd: T. D. Schröter in 
Freytags Kaufmannsroman. Lurus, Komfort ift dem modernen Unternehmer 
längjt eine Selbitverftändlichfeit, auf die er faum je achtet. Was ihn zu 
einer Arbeit von ſolcher Intenſität, dan fein Gelehrter und fein Proletarier 
fie ihm abnehmen würde, anjpannt, ijt ein Kompfer ganz verworrener, halb- 
dunkler Gefühle; vor Allem die hinter ihm lauernde Unficherheit, der er ich 
nur durch fortgefegte Steigerung feines Betriebes entwinden zu können meint. 
Wie weit alles Das unter den philofophifchen Begriff des Nelativismus fällt, 
darüber ftellt er natürlich Feine Betrachtungen an. Aber num fommt er ins 
Theater; und wie ein Funfe ind Pulverfaß fchlägt da in fein Gefühlsdunfel 
ein, was die moderne Dichtung ihm fagt. Bon ganz anderen Dingen 
zwar ift dort die Rede; aber die Gefühlstöne, die fie begleiten, treffen un— 
mittelbar mit denen zufammen, die fein Sorgen und Haften fennzeichnen. 
Es jind im Grunde die ſelben Konflifte; nur werden jie hier rückſichtlos 
ausgefprochen, fonfequent abgewidelt. 

Und Das fol den Nerven den Reſt geben. Wirklih? Wenn der jelbe 
Mann nicht Ibſen, fondern Fulda hört; wenn in graziöfen Verſen ein leicht: 
geichürztes Getändel ihm zwei Stunden lang gezeigt wird, — mein Gott 
ja, es werden vielleicht zwei Stunden der Erholung, des Vergeflens für ihn 
fein. Vielleicht, wenn wohlflingende Grazie die Gefühle einzufchläfern ver— 
mag, die einen ganzen Tag, vielleicht auch fchon eine Nacht und einen Tag 
lang das Gehirn zerarbeitet haben. Hoffen wir, daß fie e8 vermag. Aber 
bei der Heimkehr? Glaubt Jemand an Nahwirfungen? Dem Zubettgehenden 
ſtellt ſich Schon wieder der näcdjite Tag vors Auge. Um zu vergefien, brauchte 
er feine Kunſt, wenigitens feine, die ernithaft genommen fein will. Vor— 
ſtadttheater, Wintergarten, Weinftube, Cafe, ein üppiger Frauenleib: Das 
ift Vergeffen. Man fagt: Ganz richtig; aber das Alles geht noch viel mehr 
auf die Nerven. Gut denn; jo fann der nervenheilende Werth der ſchönen 
Scheindichtung mit ihren vergangenen oder erfundenen Leidenschaften, Stolli: 
fionen und Löfungen über Null doch nie hinausfommen. Dieje Kunſt it 
neuropathiſch indifferent. 

Die andere aber ift der Weg von der Dunfelheit zur Slarheit. Cine 
Alltagsweisheit jagt, nichts fei aufreibender als die Ungewißheit. Nichts tft 
quälender als das Erleben von halblichten Gefühlen, über deren Urjprung 
und Grundlage wir ung eigentlich feine Nechenichaft zu geben vermögen. 


14R Die Zukuuft. 


Ich habe einmal bei verfchiedenen Menſchen, die fonzentrirte geiltige Arbeit 
feiiten, gefragt, welche Störung ihres Schaffens fie am Meiften fürchten. 
Und bei Allen Fam es auf das Selbe hinaus: jene Verftimmungen, die ung 
plöglich befallen, ohne daß wir zunächſt ihre intelleftuelle Grundlage feftitellen 
fönnen. Sie lähmen fchlechthin, sie koſten Tage und Nächte, fie zerrütten, 
wenn fie von langer Dauer oder häufig find. Und darım kann ich mir 
für den modernen Menfchen gar nichts Heilfameres denken, als ihn heraus: 
zureißen aus dem Dunkel disfonirender Gefühle ins Flare, wenn auch falte 
Licht der Erkenntniß. Daß er als lieder in Zufammenhängen erblickt, 
was er für unberechenbare Launen hielt, ift der erfte Schritt, ihm zu einer 
MWeltanfhauung zu verhelfen. Und wer die erſt bejist, braucht die Nervo= 
fität nur noch halb zu fürchten. 

Diefe Aufgabe aber Löft gerade Ibſen durch jenen Charakter feiner 
Kunft, den man ihm als „ſymboliſtiſch“ bald vorgeworfen, bald gepriefen 
hat. In feinen Menſchen leben und wirken Mächte, die Mächte unferer Zeit, 
leben und wirken in ihrer ganzen Größe. Oder erhebt ſich nicht in John 
Gabriel Borkman der Kapitalismus zu hinreifender Gewalt? Wo wäre die 
Brutalität des Induftrieherren je jo erhaben geadelt worden wie hier? Um: 
fließt ihm nicht die Glorie des Tragifchen? In all dem Ningen und 
Unterliegen, das uns fo Hein und peinlich dünft, die große .Tragif auf: 
zuzeigen, es damit aus dem Zeitlichen ins Ewige zu heben: Das ijt die 
Grofthat der modernen Dramatif, der nordifchen in erfter Linie. Den, der 
in den „Geſpenſtern“ nur die paralytifche Demenz ficht, mag Lazarethluft 
daraus anwehen; aber ift nicht das Stüd, im Ganzen genommen, ein furdht- 
bares Mene Tefel von der erbarmunglojen Tendenz zur Gejundheit, die in 
der Raſſe lebt und alles Angefaulte auszujäten drängt? 

Freilich: um Das zu fühlen, mug man Dichtungen hören gelernt 
haben; ſonſt werden jich leicht die dunfelfarbigen Einzelheiten, aus dem 
großen Ganzen herausgelöft, bedrüdend aufs Gemüth legen. Und hier ift 
eben der Angelpunft unferer ganzen Frage. Wenn auf viele Menfchen die 
moderne Dichtung neuropathiich wirkt, jo liegt ed meift an ihnen, — oder. 
beſſer: an ihren Erziehern, die nicht verftanden haben, ihren Geift auf folche 
Kunſt hinzulenken. Es ijt der ganze unfinnige Klafiikerfultus unferer höheren 
Schulen mit feinem bodenlos verlogenen Pſeudo-Idealismus, wie er im 
Gejchicht: und im Deutfchelinterricht feine famofejten Blüthen treibt, der der 
nervöſen Zerrüttung unferer beften Perfönlichkeiten die Wege ebnet. Bon 
Darwin und Taine darf auch in Oberprima noch nicht geſprochen werden, 
wohl aber von Scherer und Ranke, deren Auffafjungen als die giltigen feſt— 
gelegt find. Und es fteht zu befürchten, daR die Sache noch ſchlimmer wird. 
Noch mehr als bisher follen in Gefchichte und Deutſch Kirchlichkeit und 


Nervofität und Kunſtgenuß. 149 


Dynaſtizismus, Jambenbegeiſterung und Vergangenheitkult gepflegt werden. 
Tote Welt- und Lebensanſchauungen ſind es, die den ideellen Gehalt einer 
ſo verbildeten Jünglingsſeele ausmachen; woher ſoll da die Möglichleit 
kommen, die harte Lebenswirklichkeit ideell zu begreifen? Mit der Bibel und 
dem Lied von der Glode läßt jich unfere Zeit nicht mehr faffen, fo wenig 
wie unfere Kunſt mit dem Laofoon und der Hamburgifchen Dramaturgie. 
Das Einzige, was der ind Leben Tretende mit diefem geijtigen Belig an: 
fangen fann, ift, ihn möglichit bald zu vergeffen, fanımt den ſchwülen Sonn= 
tagsabenden, an denen er Auffäge darüber fchreiben mußte. Aber gelingt 
dies Vergeſſen auch noch fo raſch, fo ift Eins vorher ficher erreicht: der Weg 
zum Berſtändniß des modernen Lebens ijt verfperrt. 

Wie wenig aber diefe faufale Verkettung erkannt ift, zeigen die End— 
forderungen einer an ſich höchſt verdienfilichen Bewegung, die wir in jüngfter 
Zeit erlebt haben. Die geiftige Nahrung, vor Allem die literarifche, unferer 
Jugend ward umterfucht und ein vernichtendes Urtheil über die verflachende 
und verjimpelnde „Sugendichriftitellerei* der Hoffmann, Nierit, Karl May 
und Genofjen gefällt. Ihre Machwerfe follten jeden höheren geiftigen Flug 
von vorn herein lähmen. Zwiichen gehaltlofen, unwahren Rührfäligkeiten, 
mit fyrupdider Moral verfüht, und den rohen Schaudergeicjichten der ameri= 
fanifchen Prairie pendle hin und her, was unferen heranwachſenden Kindern 
geboten, von der Schulbibliothek eingehändigt, von den Eltern auf ten 
Weihnahtstifch gelegt werde. Bis dahin war die Sache fehr beachtenswerth. 
Aber nun kam die Kehrſeite. Man verlangte die Abſchaffung der befonderen 
Jugendlecture überhaupt. Für das Sind ſei das Beſte gerade gut genug 
und ihm dürfe nichts Anderes gereicht werden als die Perlen der Dichtung; 
freilich nicht alle, fondern eine „Auswahl“. 

Ih geftehe, daß ich nicht recht weih, wer durch diefe Forderung mehr 
verhöhnt wird: die Jugend oder die Hafjifche Dichtung. So lange wir es 
nicht fertig Friegen, gejchlechtsreife Kinder auf die Welt zu bringen, wird 
auch nicht3 daran zu ändern jein, daß exit die Pubertät der Schlüflel zu 
den höchſten affeftiven und intelleftuellen Erlebniſſen der Menfchenfecle iſt, 
wie doch unfere weimariſche Dichtung gerade jie zum Gegenitande hat. Ich 
bin wirklich fein Optimift in der Beurtheilung unferer Schulen, aber die 
Leſebücher für die unteren Klaſſen, auch noch für die mittleren, fcheinen mir 
kaum einer Verbeſſerung bedürftig. Der unhcilvolle Abrutſch zum Klaſſiker— 
monopol vollzieht fich erft oben in Sefunda und Prima. Und Nierig, May 
und Genofjen in allen Unehren: aber ich gedenfe hier eines Knabenjahr— 
Buches, deſſen Anregungen mid bis heute begleiten; Franz Hofimanns „Neuer 
Deutfcher Fugendfreund* ift es, in dem freilich auch manches Werthlofe jteht, 
aus den ich aber geradezu Perlen einer für die Jugend geeigneten Dichtung 


150 Die Zukunft. 


hervorfuchen könnte. Die fosmopolitifche Abgeflärtheit der weimarifchen Zeit 
ift für einen Knaben einfah unfaßbar und darum langweilig bis zur Qual; 
tauſend Refonanzen aber finden wir in der jungen Seele für die Romantik 
deutfcher Vergangenheit; und diefe Nefonanzen zu weden, halte ich gerade 
gegenüber dem umerquidlichen neupreufifchen Sedandauvinismus für cine 
erzieheriiche Pflicht erften Ranges. Denn find erft diefe Töne angefchlagen, 
dann können wir dem Yünfzehnjährigen die Akkorde der Freytag und Fontane 
bieten und dem Primaner werden Kleiſt und Hebbel fchon genug zu fagen 
haben; und da jind wir ja im Vorzimmer der modernen Dichtung, einen 
Schritt vor Ibſen. Wer verläßt denn heute die Schule mit Liebe im Herzen 
für die Klaſſiker? Daran ift aber nicht die vielgefcholtene Methode jchuld, 
fondern die klaſſiſche Dichtung am ſich, eben weil fie niemals eine deutiche 
achtzehnjährige Seele ausfüllen fann. Aber theilt jie fich in den Plag mit 
Kleift, Freytag, Hebbel, Fontane, dann wird auch die Liebe nicht ausbleiben, 
und ift. dem Füngling eine Ahnung aufgedämmert von der wundervollen 
Linie, die von Gellert und Claudius über Goethe bis zu Hebbel und zur 
Gegenwart führt, dann wird er den Faden nicht fo leicht verlieren, der ihn 
auch im Leben an die Kunſt fnüpft. Dazu gehört noch ein Geihichtunterricht, 
der nicht dynaftifche Jahreszahlen, fondern Kulturquerfchnitte giebt, der die 
Zufammenhänge zwifchen den wirthichaftlichen Grundlagen und den feinften 
Geiftesblüthen einer Zeit aufzeigt. Dann wird der Drang, auch die Lebens- 
wirflichkeiten, die man am eigenen Leibe verfpürt, ideell zu erfallen, eine 
Weltanfdauung zu finden, in der fie Platz haben, ummwiderftehlich werden. 
Natürlich nicht bei Allen, aber doch bei viel mehr Menſchen als heutzutage. 

Dann fehnt fi wohl auch Der, den die Wirbel des modernen jozialen 
Lebens den Tag über gefaßt und gerüttelt haben, gerade nad) einer Stätte, 
wo er diefe Erlebnifje nicht vergißt, fondern ihren tieferen Sinn erfennen 
lernt, fie eingliedert in die Nothmwendigfeit des Seins und des Werdens. 
Und ob er dann die grandiofe Epik Zolas, die gütige Nejignation Fontanes 
oder die tiefgründige Symbolik Ibſens auf ſich wirken läßt: immer wird ihm 
ein Weg ſich zeigen, der ihn hineinführt in die größeren Verkettungen umd 
damit hinauf vom Endlihen ins Unendliche. Stets bleibt aber eine der 
größten Wahrheiten das Wort Schleiermachers: Neligion fei Sinn und 
Geſchmack fürs Unendliche; und wenn von Theologen heute mit Eifer die 
Neligiojität al3 das jicherjte Heilmittel gegen die Nervojität gepriefen wird, 
fo weifen, unbewunt freilic, die DOrthodoren dem denfenden. Menjchen den 
Weg von ihnen fort zu den Verfuchen moderner Weltanfhauung Kunſt 
it nicht Religion und fann fie nie erſetzen. Das fol fcharf betont und 
der gedanfenlofen Umbdeutung eines mihverftandenen Goethewortes entgegenz 
getreten jein; aber wenn eine Macht die neue Religion, nach der unfer 


Nervofität und Kunſtgenuß. 151 


Sehnen geht, vorbereiten half, jo iſt es unſere Kunſt, befonderd unfere 
Dichtung geweſen. Sie ift die wahre Trägerin des Einnes und Geſchmackes 
fürs Unendlihe; und damit fchleift fie uns, weit entfernt, neuropathifch zu 
wirken, im Gegentheil die beſte Waffe gegen die Neurafthenie. 

BVielleiht hält man mir hier voll JIronie die ſichtbaren Thatſachen 
entgegen und weilt auf das "Premierenpublifum unferer Theater und die 
Stammkundſchaft unferer Leihbiblinthefen als wahre Blüthelejen entnervter, 
neurafthenifcher Gefchöpfe. Nun gehören aber neun Zehntel des Keihbibliothefen- 
beftandes zum literarischen Schund, mit dem ji vornehmlich unfere Töchter 
und Frauen in ihrem meift völlıg verdborbenen oder auch embryonal gebliebenen 
fünftlerifchen Geſchmack füttern, um die reichliche Mufezeit ihres arbeit- 
und gedanfenlojen Dafeins auszufüllen. Faſt alle Männer empfinden vor 
der äußenen Beichaffenheit diefer Bücher einen gewiſſen Efel — die Ekel— 
gefühle pflegen bei Frauen überhaupt fchwächer zu fein — und die faljche 
Sparſamkeit des Deutfchen, der Sich eben nur ſchwer entſchließt, ein Buch 
zu kaufen, thut ihr Uebriges. Die ITheaterpremiere aber it durch unfere 
literariſche Reklame, durch die Zuſtände unſerer Zeitungskritik und den ganzen 
verdorbenen Geiſt unſerer ſogenannten vornehmen Theater einfach zu einer 
pikanten Senſation geworden, die über den inneren Werth oder Unwerth 
einer dramatiſchen Schöpfung längſt nicht mehr entſcheidet. Auch fällt die 
Nervoſität dieſer Theaterbeſucher meiſt unter ein anderes Kapitel. Im 
Deutſchen Theater herrſcht die weſtberliniſche Hochfinanz jüdiſchen Blutes; 
und über deren Nervoſität hat einer ihrer beiten Stammesgenoſſen, hat gerade 
Dppenheim jich unzweideutig geäußert. Sie ift die natürliche Kranfheit eines 
durch Inzucht geihwächten Volkes, defien unfinnig verkehrte Jurgenderzichung 
alles noch Geſunde in phyſiſcher und feelifcher Beziehung zu eritiden anges 
than ift: phyſiſch durch eine umglücliche Verzärtelung und Gewöhnung an 
rafjinirte Behaglichfeiten, piychiich durch Erweckung eines krankhaften Chr: 
geizes und Eigendünfels und durch Eintrichterung einer rein äufßerlichen, 
renommiftifchen Bildung. Daß eine fo tief wurzelnde Nervofität durd) die 
denfende Einfiht in die Zufammenhänge der Welt und des fozialen Lebens 
mit unferem ch verhütet werden könnte, wird natürlich fein noch jo großer 
Dptimift erwarten. 

Wenn die moderne Dichtung unausgejest der Gegenftand von Ans 
griffen ift, fo theilt fie zunächit damit nur das Geſchick aller früheren Poeſien. 
Selbfl in den großen äjthetifchen Zeitaltern, im athenifchen und florentiniichen, 
im verfaillifchen und weimariſchen iſt es nicht ander3 gewejen. Die Nüd: 
wärtSfchauenden, denen die Gegenwart Heiner ſcheint als die Vergangenheit, 
werden auch unter den Denkenden nie ausiterben. Ihre Anichauung er= 
wächit auf einer befonderen Hirnzellenbejchaffeuheit, deren Geheimniß wir 


152 Die Zukunft. 


noch nicht gelüftet haben. Unbeirrt durch fie aber geht die Kunft ihren Weg; 
und was Großes an ihr ift, ringt fi zu bleibender Bedeutung dur. Der 
modernen Dichtung alſo fchaden auch die Nervenärzte nicht, die fie verfolgen. 
Wohl aber Denen, in deren Intereſſe fie zu ſprechen meinen: den Nervöjen. 
Denn fie treiben fie nur in äußerliche Genüffe, in gehaltlofes Getändel hin— 
ein, das dem Leiden feine Beſſerung fchafft, weil es mit deſſen Urſachen 
gar feine Berührung hat. Zehn Stunden aufreibenden Kampfes laſſen fich 
nicht durch zwei Stunden graziöjen Geplauderd da8 Gleichgewicht halten. 
Das Wort: Similia similibus eurantur, duch die Homöopathie etwas 
disfreditirt, ift, in tieferem Zinn verftanden, doc jchlieglih der Schlüffel zu 
aller erfolgreichen piychifchen Behandlung. Und faltes Wafler allein thuts 
eben nicht, Sondern die Piychotherapie iſt das Hauptitüd alles nervenärztlichen 
Hei.vermögend. Hier aber jollte die Hilfe nicht zurüdgewiefen werden, die 
dem Arzte die Kunſt, insbefondere die Dichtung, zu leiten vermag. 

Zwar gehöre ich nicht zu den Schwärmern, die von äfthetifcher Kultur, 
Erziehung der Maffen zur Kunſt und ähnlichen Utopien träumen. Die 
großen äfthetifchen Kulturen find nie gemacht worden, fondern über die Völker 
gekommen, man weiß oft nicht, wie. ch fühle mich weit entfernt davon, 
die Nolle der Kunſt im Leben des Einzelnen wie der Gefammtheit zu über= 
ſchätzen. Ich glaube, dan es ſehr gefunde, fehr tüchtige, ja, wirklich große 
Perfönlichkeiten geben kann, denen alle Kunſt völlig gleichgiltig ift, und halte 
die erzwungene Aejtheiifirung eines Volkes für ein im beiten Fall nuglofes, 
vielleicht aber bedenkliches Beginnen. Die. beim Nervenarzt Rath fuchen 
gegen Neurafthenie, find nicht immer, aber doc) zum größeren Theile intelligente, 
oft außergewöhnlich befähigte Menfchen, um jo häufiger, je mehr wir 
uns der Grenze zur hyſteriſchen Veranlagung nähern. Bei ihnen muß 
fi die Suggeftion, die fie felbft fuchen, der feineren geiftigen Mittel be- 
dienen. Eich zu amufiren, um ihre Leiden zu vergefien, kann jedes alte 
Weib ihnen anrathen. Es gilt eben, gerade an Das zu Enüpfen, was geiftig 
den Haupteinfchlag im Gewebe ihrer Sorgen bildet. Die Entſcheidung, ob 
die Kunſt dazu den geeigneten Faden abgeben fann, muß vom Nervenarzt 
erwartet werden; aber wo er davon überzeugt ift, kann es jich beim modernen 
„Nervöfen“ nur um die moderne Kunſt handeln. 

Wirkſamer als alle Therapie iſt freilich die Prophylaris, hier die Art 
der geiltigen Erziehung. An deren Neform haben, wenn e8 wirklich ſchon 
ein Wenig beſſer geworden iſt, die Aerzte leider ſehr geringen Theil; und 
fie Scheinen ihn eimjtweilen auch nicht vergrößern zu wollen. Binswanger 
bezeichnet e8 einmal al8 eine der wichtigiten öffentlichen Aufgaben des Arztes, 
den meuropathifchen Einfluß der modernen Dichtung lahmlegen zu helfen. 
Heute ftehen die meilten Aerzte ſolchen feingeiftigen Fragen theilnahmelos gegen- 


Kaufmännifche Schiedögerichte. 153 


über. Das ift gewiß fein rühmlicher Zuftand; aber fajt möchte man fein 
Fortdauern wünfchen gegenüber der Möglichkeit, daß insbefondere die Nerven— 
ärzte mit ihrer großen geiftigen Macht über Hunderte von Gebildeten jener 
Loſung folgten. Man könnte nur wehmüthig jagen: Sie wiffen nicht, was 
ſie thun. Das aber ift ein ſchwacher Troft; denn die richtende Geſchichte, 
auch wir Aerzte follten e8 nicht vergeflen, hat das milde Wort vom Kreuz 
noh nie al8 Entlaftung der Schuldigen gelten laffen. 


Heidelberg. Dr. Willy Hellpad. 


— 


Raufmännifche Schiedsgerichte.*) 


De durch das Reichsgeſetz vom neunundzwanzigiten Juli 1890 für die 
SV gewerblichen Arbeiter bejondere Gerichte zur Enticheidung der aus dem 
Arbeitverhältnii entipringenden Nechtsftreitigfeiten (die Gewerbegerichte) geichaffen 
worden waren, regte fich bei den Dandlungsgehilfen mädtig der Wunjch nad 
ähnlichen Einrichtungen. Sämmtliche Gehilfenverbände nahmen die Forderung 
faufmännijcher Schiedsgerichte in ihr Programm auf und immer lauter ertönten 
die Rufe nach Sondergerichten zur Enticheidung der Prozeſſe aus dem kauf— 
männiſchen Dienjtvertrag. 

Gegenüber dem Drängen von taufend und abertaufend ſtimmberechtigten 
Bürgern konnten die politiihen Parteien nicht gleichgiltig bleiben. Ohne Aus» 
nahme fuchten fie fi den Wünſchen der unabläfjig petitionirenden und raijo- 
nirenden Handlungsgehilfen gefällig zu zeigen und Centrum jo gut wie Sozial» 
demofraten, Nationalliberale wie Antifemiten brachten beim Neichstage Initiativ— 
anträge ein, in denen die Errichtung kaufmämniſcher Schiedsgerichte begehrt 
wurde. Auch die Stonferpativen und die Freiſinnigen wollten natürlich in dieſem 
Wettlauf um die Gunst der Wähler nicht zurücdbleiben; und jo erklärten fie 
denn bei jeder Gelegenheit, fie brächten den Beitrebungen der Dandlungsgehilfen 
das größte Tnterejje entgegen und würden gern einem Schiedsgerichtsgeſetz ihre 
Stimme leihen. Nur Einer unter den 397 Erkürten lieh ſich durd die un— 
gejtümen Bitten nicht beirren: Karl Ferdinand Freiherr von Stumm war jelb: 
jtändig oder ftarrfüpfig genug, ſich jehr entichieden gegen die geplante Neuerung 
auszufprehen. Ein Erbe ift dem Gewaltigen nicht geboren. Als in den legten 
Tagen des Januar der Reichstag abermals die frage disfutirte, wurde ein 
Widerſpruch von feiner Seite vernommen. Auch die Negirung, die der Cache 
in früheren Jahren jtets eine dilatorijche Behandlung angedeiben lich, it jetzt 
nachgiebig geworden. Jüngſt haben Graf Poſadowsky und fein Wertreter die 


*) Nachdem ich meine Auffaſſung des Planes, kaufmänniſche Schieds— 
gerichte zu ſchaffen, in einer jurijtiichen Fachzeitſchrift « „Archiv für bürgerliches 
Recht“, Band 20, Heft 8) erörtert habe, jei es mir gejtattet, fie nun aud) vor 
einem größeren Leſerkreiſe kurz darzulegen. 


154 Die Zukunft. 


feierlihe Erklärung abgegeben, das Hohe Haus werde in naher Zukunft den 
gewünjchten Gejegentwurf erhalten. Un der Einführung faufmännischer Scieds- 
gerichte ijt danach nicht mehr zu zweifeln. 

Welde Organijation den neuen Gerichten gegeben werden joll, iſt noch 
nicht befannt. In der Dauptjache find zwei Vorſchläge aufgetaucht, die in Frage 
fommen fönnen. Von ihnen empfiehlt der eine eine Angliederung an die Amts— 
gerichte, während der andere die Schaffung bejonderer Kammern an den Gewerbe: 
gerichten oder bejonderer Gerichte nach Art der Gewerbegerichte fordert. Jenem 
begegnen wir im Antrage Bafjermann, diejer ift im Antrag Raab enthalten. 
Welchem der beiden Borjchläge die Negirung den Vorzug giebt, hat man bisher 
nicht gehört. Auch über die Fragen der Bejegung der Gerichte (mit zwei oder vier 
Beiligern?), der Normirung der Berufungsgrenze (HZuläffigfeit bei einem Streit» 
gegenjtand von 100, 300 oder 500 Mark?) und der Gejtaltung der Berufung» 
inftanz herrjchen unter den Freunden der faufmännifchen Schiedsgerichte Meinung- 
verjchiedenheiten; einig dagegen find alle Anhänger in der Forderung, daß die 
Richter, die als Beifiger mitwirken jollen, aus freien, von den Geſchäftsinhabern 
und den Angejtellten getrennt vorzunehmenden Wahlen hervorgehen müßten. 

ragt man nad den Gründen, die für den Aniprud auf Einführung 
faufmännifcher Sciedsgerichte beitehen, jo pflegt in erjter Linie der Umftand 
genannt zu werden, daß der zur Entjcheidung der Streitigkeiten zwiſchen Prinzipalen 
und Dandlungsgehilfen jegt offenjtehende ordentliche Brozefjweg zu lang und zu 
koftjpielig jei. Nun haften die Mängel der Yangmwierigfeit und Koftipieligkeit 
unjerem heutigen Gerichtsverfahren ganz unzweifelhaft an. Aber da man dod) 
nicht jagen kann, daß hierunter allein oder auch nur hauptjächlic die im Handel 
Angejtellten zu leiden haben, jo fehlt diefem Grunde die Beweiskraft. Jene 
Mängel können wohl das Verlangen nad) einer Beſchleunigung und Verbilliging 
der Prozeßführung überhaupt begründen; zur Rechtfertigung gerade kaufmänniſcher 
Sondergerichte vermögen ſie nicht zu dienen. 

Sondergerichte werden nothwendig, wenn der Richter zur Beurtheilung 
der Mehrzahl der Streitfälle beſondere Fachkenntniſſe beſitzen muß, wenn feine 
juriftiiche Vorbildung bei der Nechtsfindung regelmäßig nicht ausreiht. Im 
Ernſt läßt fi) aber doch num nicht behaupten, daß zur Entfcheidung der Prozeſſe, 
die die Handlungsgehilfen und Lehrlinge mit ihren Brinzipalen auszutragen haben, 
faufmänniiche Fachkenntniſſe erforderlich jeien. Dieſe Streitigkeiten drehen fich 
um den Antritt, die Fortſetzung oder die Auflöſung des Dienjtverhältniifes; 
um die Ausjtellung oder den Inhalt eines Zeugniſſes; um die Leiftungen und 
Entjhädigunganjprüce aus dem Arbeitverhältnig; weiter um die Rüdgabe von 
Zeugniſſen, Yegitimationpapieren und Stautionen, die aus Anlaß des Dienſt— 
verhältniffes übergeben worden find; endlid um Anſprüche auf Zahlung einer 
Vertragsitrafe wegen Nichterfüllung oder nicht gehöriger Erfüllung der ein- 
gegangenen Verpflichtungen. Ueberall find es Nechtsfragen, Fragen der Auslegung 
von Geſetzes- und Bertragsbeftimmungen, die der Entjcheidung harren, und äußerſt 
jelten nur wird der Nichter Gelegenheit finden, ſpezifiſch kaufmänniſche Kenntniſſe 
zu verwerthen. Mit der Unfähigkeit der ordentlichen Richter zur Beurtheilung 
der einichlägigen Verhältniſſe wird man aljo nicht operiren dürfen. 

Eben jo wenig nber erjcheint die Forderung nad kaufmänniſchen Fach— 


ci rk rn Y 1? 


Kaufmänniſche Schiedsgerichte. 155 


gerichten wirthichaftlich gerechtfertigt. Die Zahl der Streitigkeiten zwiſchen 
Geihäfteinhabern und ihren Angeſtellten ift nämlich nur jehr gering. In ganz 
großen Städten fommen ſolche Prozeſſe ja nicht jelten vor; in mittleren und 
kleinen Städten jedoch begegnet man ihnen nur jo vereinzelt, daß hier für kauf— 
männijche Schiedsgerichte fein Raum ift. Nun behaupten die Freunde der 
Schiedsgerichte allerdings, an der Seltenheit der Rechtsftreitigfeiten trügen die 
Mängel des gegemvärtigen Berfahrens die Schuld; die Angeftellten nähmen aus 
Scheu vor der Umjtändlichkeit und Stojtjpieligfeit der Nechtspflege lieber viele 
thatfädhliche oder vermeintliche Unbilden ruhig hin, als daß fie fi) an die ordent- 
lien Gerichte wendeten. In einzelnen Fällen mag Dergleihen ſchon vorge: 
fommen fein. Das ftumme Dulden bildet aber gerade in unjerer Zeit ganz 
jiher nicht die Regel. 

Wäre das Bedürfnis nad kaufmänniſchen Schiedsgerihten wirklich jo 
dringend, wie ihre Anhänger behaupten, jo würden doch wahrjcheinlich die in 
Deutjchland bejtehenden fafultativen kaufmännischen Sciedsgerichte ftarf in 
Anſpruch genommen. Das ift aber durchaus wicht der Fall. So wurden bei 
dem in Dannover bejtehenden Fachgericht im Jahre 1900 nur achtzehn Prozeſſe 
anhängig gemacht. Das Schiedsgericht in Braunfchweig konnte im Anfang 
feines Bejtchens manchmal als Bermittelungamt in Thätigkeit treten, wurde in 
der legten Zeit aber gar nicht mehr angerufen. Beim kaufmänniſchen Schieds- 
gerit in Osnabrüd wurde im Verlauf eines jahres ein einziger Streitfall 
angemeldet; und das Schiedsgericht in Stolp, das mit Beginn des Jahres 1900 
ins Yeben trat, ijt bisher überhaupt noch nicht angegangen worden. Kann man 
es, angeſichts diejer Erfahrungen, der augsburger Handelskammer verdenfen, 
wenn fie den ganzen Lärm um die faufinännifchen Sciedsgerihte für „eine 
reine Modeſache“ erklärt? | 

Zu Gunjten der kaufmänniſchen Schiedsgerichte wird endlich noch ange- 
führt, ihre Einrichtung werde in jozialer Beziehung erfreulich wirken; die gemein: 
ſame Thätigfeit von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, bei der beide Theile gleich— 
beredtigt einander gegenüberjtänden, werde dazu Führen, die. gegenfeitige Werth: 
ſchätzung zu erhöhen. Allein auch diejer Hoffnung wird die Erfüllung verjagt 
bleiben. Im Gegentheil ift zu befürchten, daß die Einführung der Scieds- 
gerichte — von der man jich ja eine Vermehrung der Prozeſſe verjpricht und 
die den Kampf eum die Wahl der Beijiger heraufbeſchwört — nicht zur Ver 
föhnung beitrag n, jondern erjt recht Zwieſpalt jchaffen und vergrößern werde. 
Bezweifeln wird man aud müjjen, daß kaufmänniſche Schiedsgerichte, deren» 
Beijiger durd Wahlen bejtimmt werden, die nöthige Gewähr für eine unpar— 
teiiiche Rechtſprechung bieten. Gin Beiliger, der aus ſtürmiſchen Wahlen her- 
vorgegangen ilt, leidet an Boreingenommenheit und Befangenheit. Er wird nicht 
das Recht zu finden, jondern die Sonderinterejjen jeiner Standesgenojfen zu 
fördern verjuchen und darum niemals ein quter, ein gerechter Nichter jein können. 

Bedenkt man endlich, dat durch die Schaffung kaufmänniſcher Scieds- 
gerichte der Grundſatz der ordentlichen Serichtsbarteit abermals durchbrochen wird, 
fo wird man fid), troß dem Neichstag, für die Neuerung ſchwerlich begeiftern fünnen. 

Ghemniß. Landricter a. D. Ernit Mumm. 


—— 


156 Die Zutunft. 


Onze dappern burghers*). 


Greift an das Werk mit Fäuften! 
Das Rechten Hilft nicht mehr; 
Ihr Beiten, ihr Getreuften, 

Zur That, zur Gegenwehr! 


18 die beiden Eleinen Burenrepublifen dem gewaltigen Albion den Fehde— 

handſchuh hinwarfen, „entichlojien, für ihre ‚Freiheit und ihr Necht zu 
fänpfen bis zum legten Mann‘, „tot de bitter end“, da fannte die Begeifterung 
in Deutfchland feine Grenzen. Die alten Märchen von der zähen Tapferkeit 
der Buren, ihrem glühenden Freiheitdrang, ihrer heißen Baterlandliebe, ihrer 
tiefen Gottesfurdht und vorbildlichen Neinheit der Sitten wurden wieder auf: 
gefriicht. Kein Wunder, daß viele Hunderttaufende „Yu den Waffen!“ riefen 
und daß einige Hundert ihr Wort in die That umjegten und über das Meer 
eilten, um mit den bedrängten „Itammverwandten Brüdern“**) Schulter an 
Schulter gegen die Mordbanden der Chamberlain und Eecil Rhodes zu kämpfen 
und zu bluten. Haben doc die Deutſchen zu allen Heiten zahlreihe Refruten 
für die Deere um ihre ‚Freiheit fämpfender Bölfer gejtellt. In den deutjchen 
Offiziercorps war die Striegsluft jo groß, dal eine „Allerhöchſte Kabinetsordre“ 
nöthig ſchien, die allen Offizieren die Theilnahme am Kriege unterfagte. Troß- 
dem umd troß den offiziellen Dementirungen haben viele aktive Offiziere unter 
diejer oder jener Begründung ihren Abjchied erbeten und in den Neihen der 
Buren mitgefämpft; der größere Theil der im Burenheer fämpfenden deutjchen 
Offiziere war freilich fchon früher ans dem Armeeverband gejchieden. 

Die Transvaalregirung hatte öffentlich erklärt, day fie feine Werbungen 
beabjichtige, dal; ihr aber freiwillige Mitkämpfer willlommen jeien, Wie jehr 
es ihr damit ernjt war, geht daraus hervor, daß allen Ausländern ohne Unter- 
ichied, die die Waffen für die Nepublif aufnahmen, das volle Bürgerreht ge— 
währt wurde. Leyds ſchrieb aus Brüſſel an deutiche und öſterreichiſche Offiziere, 
die ihm um nähere Auskunft über ihre Ausfichten in der Transvaalarmee baten, 
ſehr diplomatijch: daß er zwar feine bejtimmten Zufagen in irgend einer Hinficht 
machen könne, daß jie aber der Transvaalregirung in jedem Falle jehr willfommen 
jeien und in entiprechenden Stellungen in der Burenarmee Berwendung finden 
würden. Dieſe entiprechende Verwendung bejtand darin, daß man ihnen, vom 
altgedienten Obersten und ‚Führer eines deutichen Neiterregimentes bi8 zum jungen 
Lieutenant, ein Gewehr und einen Gürtel mit jehzig Patronen umhängte und 
ihnen fagte: „Loop, schiet*! Das heit: Du darfſt mitſchießen, haft im Uebrigen 
aber bier nichts zu jagen und Did; in unsere Angelegenheiten nicht einzumiichen. 
Wenn von den unglaublichen Zuftänden in der Burenarmee und der unwürdigen 

*) Eins mans red iſt eine halb red; man joll die teyl verhören bed: nach 
dem guten altdeutjchen Spruch wird auch dieje zunächſt befremdende Darftellung 
ſüdafrikaniſcher Kriegszuſtände jelbitändig denfenden Leſern willfonunen jein. 

**) Einige der weiteſtverzweigten Burenfamtilien find; die Joubert, Du Toit, 
Du Blefiis, De la Rey, De Wet, Theron, Malherbe, Dlivier, Marais, DePilliers, 
Rouſſeau, Fourie, Malan, Fouche, Ye Roux, De la Groir u. ſ. w. 


Onze dappern burghers. 157 


Behandlung der freiwillig mitfämpfenden Ausländer jo wenig in Deutjchland 
bekannt geworden ift, fo liegt der Hauptgrund wohl darin, daß es nur wenige 
deutijche Zeitungen gab, die den Muth achabt hätten, ihren Pejern cine wahr- 
baftige Schilderung der Zujtände zu geben, auf die Gefahr hin, neun Zehntel 
ihrer Abonnenten zu verlieren. Ueber die Stimmung der aus allen Erdtheilen 
herbeigeeilten Freiwilligen ift in Deutjchland jehr wenig befannt geworden. In 
ssohannesburg erjchien während des Feldzuges eine internationale Anfichtpoitkarte, 
die die Wappen jämmtlicher in den Freiwilligencorps vertretenen Nationen trug 
und unter jedem Wappen einen entiprehenden Kernjprud. Der für die allge 
meine Stimmung jehr bezeichnende Spruch der Deutjchen lautete: 

„Uns bat ja nicht die Yicbe (zu den Buren), 

Uns bat der Haß vereint“ (gegen die Engländer). 
Die Begeifterung war bei Denen, die ihre Sympathien für das Burenvolf nicht 
nur durch Abfingen der Volkshymne und durch Maffenverfammlungen befundeten, 
jondern mit den Waffen in der Hand dem bedrängten Volk zu Hilfe geeilt 
waren, jehr bald erlojchen. Nach den offiziellen Lijten ftanden etwa 6000 Deutſche 
im Burenheer; etwa 1500 davon waren aus Deutjchland, Oeſterreich, der Schweiz, 
Rußland, Amerika herbeigeeilt. 

Ich hatte, als ich meinen Abſchied nahm, „um als Kriegsberichterjtatter 
der Täglihen Rundſchau nad) Südafrifa zu gehen”, meine Erwartungen jehr 
niedrig geſchraubt; trogdem jollten mir große Enttäujchungen nicht erjpart bleiben. 
Wir deutjchen, Öfterreihijchen und jchweizer Offiziere auf dem Dampfer „Bundes. 
rath“ waren gleich. begeijtert für das tapfere Wolf der Buren, deſſen Heldenthaten 
nad) allen Berichten die eincs Leonidas in den Schatten ftellten. In Deutid-Oft- 
afrika, an deſſen Küfte der ‚„‚Bundesrath‘‘ einige Tage verweilte, erhielten wir 
unjere erjte Abkühlung. In Dar-csjalaam leben viele Deutiche, die ji im 
Transvaal aufgehalten haben. Sie Alle hatten für die Buren wenig übrig 
und machten uns gegenüber daraus fein Hehl. In Durban, wohin ung die 
Engländer unt®r dem Verdacht jchleppten, da der „Bundesrath“ Kriegscontre— 
bande an Bord babe, hatten wir zum eriten Mal Gelegenheit, die „gänzlich 
verwahrlojten, aus den niedrigften Bolksichichten refrutirten und von Sportsmen 
und anderen Civiliften in Uniform geführten engliihen Truppen’ aus nädjiter 
Nähe kennen zu lernen. E3 waren die VBerjtärkungen, die für Buller zum Entjaß 
von Ladyjmith angelommen waren und in aller Eile auf der Bahn nach dem 
Kriegsidauplag entjandt wurden. Es waren meijt aftive Negimenter und ich 
fann ihnen nur das Zeugniß ausjtellen, daß ich feinen Unterjchied zwiſchen einer 
Eijenbahnverladung deutjcher Truppen während der Herbjtnanöver und diejer 
zur. Front abgehenden Truppen bemerkt habe, — ausgenommen vielleicht den, 
daß Alles mit geringerer Anjtrengung der Stimmbänder vor fich ging, als wir 
es in Deutichland gewohnt find. Eine jonderbare Fügung wollte, daß id} dieſen 
felben Truppen wenige Wochen jpäter im heftigen Feuer auf dem Blatcau des 
Spionfops mit dein Gewehr in der Hand gegenüberliegen jollte. Der in Durban 
gewonnene gute Eindrud verwandelte ſich in Hochachtung, als id am Morgen 
nach der Schlacht die engliihen Scüßengräben aufjuchte, in denen nad) Fort— 
Schaffung der Verwundeten noh Mann bei Dann lag, jo daß fajt auf jeden 
Meter Graben ein Toter fam. Dieje Truppen waren nicht verwahrloft, trogden 
fie ſich aus den „niedrigſten“ (joll wohl heißen: ärmſten) Volksklaſſen refrutiren. 


2 « 


158 Die Zukunft. 


Nah elftägigem unfreiwilligen Aufenthalt in Durban gelang es mir 
endlich, die Erlaubnig zur Rüdreife nad) Delagoa-Bai zu erhalten; ich war 
genöthigt, ein engliiches Schiff, den „Umtali”, zu bemugen. Man munfelte 
damals — und die Cap- und Natal- Zeitungen beftätigten es — viel von Deutjchen, 
die als Burenjpione auf englifhen Schiffen verhaftet worden feien, und ich war 
deshalb bei meiner Einjchiffung nicht ficher, ob ich nun ohne weiteren Zwiſchenfall 
zur Burenarmee gelangen würde. Ich reifte mit einem jchweizer Dragoneroffizier, 
der jeinen Schnurrbart abrajirt hatte und dauernd aus einer kurzen englijchen Pfeife 
ranchte, um für einen Engländer gehalten zu werden, jo dat ihm ſchließlich ganz 
ſchlechtwurde. Da wirvom Englijchen beide nicht viel verſtanden, ſprachen wir fran= 
zöſiſch mit einander, um ung nicht einem zufällig ammwejenden Detektiv als Deutiche 
zu verrathen. Ich muß geftehen, daß ich damals von dem „Schuß des Deutichen 
Reiches“, unter dem ich angeblich jtand, einen eigenen Begriff befonmen habe. Wir 
gelangten ohne weiteren Zwifchenfall nad) Delagoa-Bai. Nach vielen Scwierig- 
keiten erhielten wir hier endlich für viel Geld und viele gute Worte portugiefiiche 
Päſſe, für noch mehr Geld und unter noch mehr Schwierigkeiten die ebenfalls 
nothwendigen Päſſe von dem englifch geſiunten Konſul der Transvaalregirung, 
Herrn Pott, und jahen im Zuge nad Pretoria, neugierig, wie man uns bei 
den Buren aufnehmen werde. Wir hatten inzwiſchen ſchon Vieles gehört, was 
jehr, jehr wenig ermuthigend Klang; ein Herr, mit dem wir im Zuge befannt 
wurden, jagte, man werde uns behandeln „wie einen Hund in der Stegelbahn.‘ In 
Komati Poort, an der Transvaalgrenze, wo wir uns als Freiwillige für die Buren- 
arınce zu erkennen gaben, wurden wir von dem Kommandanten, der einen deutichen 
Namen führte und zum Ueberfluß nod eine goldene Brille trug, aber nur hol— 
ländiſch Sprach, herzli empfangen. Er fuhr eine Strede mit und ftellte in 
diejer Zeit jehr viele Fragen an uns. Leber die Art, wie wir in der Buren- 
armee verwendet werden würden, hatten wir jchon merkwürdige Dinge gehört; 
unfer Begleiter jagte, wir würden dem Stabe eines Burengenerals zugetbeilt 
werden. Den Bohn, der darin lag, jollte ich erjt jpäter begreifen lernen. Als 
er uns endlich verließ, gab er uns einen jungen Buren mit, der uns bei Allem 
behilflich fein jollte, da wir als Fremde uns wohl jchwer allein zuredtfinden 
würden. Diejer junge Mann nahm fi ſehr freundlich unfer an. Er war jtets 
wm uns bemüht, folgte uns auf Schritt und Tritt, — und entpuppte fih jchlich- 
lid) als einen Scheimpolizijten der Transvaalregirumng. 

In Pretoria ſuchte ich, nad) einem Bejucd beim deutichen Konjul, den 
Staatsjefretär Neiß auf. Der oberfte Staatsbeamte der Nepublit — und wie 
zu jeiner Ehre gejagt jet, and) der ärmite Beamte der Nepublif und der einzige, 
der nicht geitohlen oder betrogen hat — empfing mic äußerſt liebenswürdig. 
Er jprad) ziemlich fließend deutjch, bat mid) jedoch, ihm meine Empfehlung- 
ichreiben jelbjt vorzulejen, da ihm das Leſen des Deutſchen Schwierigkeiten 
mache. Auf meine Frage, wie id) in der Armee verwendet werden jolle — daß 
es Schalt, Löhnung, Kriegsjold, oder wie man es nennen will, nicht gab und 
man gefülligit aus feinem eigenen Geldbeutel zu leben hatte und da diefer 
recht inhaltreich jein mußte, wem man nur einigermaßen anftändig durchkommen 
wollte, hatte ich auch ſchon vorher erfahren —, erwiderte er etwas verlegen, 
darüber habe der „Kommandant Generaal“ allein zu beftimmen, in deſſen Be: 


= — uns BEER 


Onze dappern burghers. 159 


fugnifje einzugreifen er nicht berechtigt jei. Uebrigens jei es allen Ausländern 
freigeſtellt, welchem Kommando fie fi) anſchließen wollten. Er gab mir jedoch 
ein Schreiben mit, in dem er mich Joubert warın empfahl. Warum ich diejen 
Empfeblungbrief niemals an Joubert abgegeben, jondern mir als Kurioſum auf- 
gehoben habe, wird Jeder verjtehen, der die Verhältuiffe und den alten Noubert 
fannte. In den folgenden Tagen, in denen ich, um ein Pferd, Musrüftung und 
Maffen zu erhalten, Stunden lang mit einem Stüd Bapier in Bretoria herum: 
laufen mußte, nachdem ich, um diejes Bapier zu erhalten, Stunden lang vor 
den Bureaux untergeordneter Beamter hatte antichambriven müflen, wurde ich 
von Stameraden, die ſich die „Schweinerei“, wie fie es ſehr bezeichnend nannten, 
jhon einige Zeit angejehen hatten, jchonend auch noch des leuten Neftes meiner 
Illuſionen entfleidet. „Sie wollen uns gar nicht haben; fie betrachten uns als 
das fünfte Nad am Wagen und gejtatten uns gnädigſt, mitzulanfen, da fie es 
Anitands halber nicht gut verhindern können.‘ 

Eben hatte der Januar begonnen. Die fiegreihen Buren jtanden in 
Natal und der Capkolonie. Ladyſmith, Mafeking und Kimberleg waren von 
ihren Heeren eingejchloffen, die Engländer überall aus dem Felde geichlagen. 
Der Hochmuth gegen die Ausländer kannte feine Grenzen. „Da ſeht hr, was 
Eure europäiſche Kriegskunſt werth iſt“, hieß es; man lachte uns ins Geſicht. 
„Ihr könnt bei uns viel, jehr viel lernen.“ Ein holländijcher Arzt, alſo dod) 
ein gebildeter Mann, verficherte allen Ernſtes, man werde über furz oder lang 
aud in den europäilden Armeen die veraltete Gefechtsweile fallen laffen und 
zu der der Buren übergehen müſſen. Da er ein würdiger alter Herr war, jo 
widerſprach ich ihm nicht. Wohl aber habe ich oft Buren, die mir mit dem 
felben Unfinn kamen, gefragt, worin denn nad) ihrer Meinung die großen Vor— 
züge ihrer Kampfesweiſe bejtänden. Sie nannten meift die einfachiten Lehrſätze 
unjerer europätjchen (deutjchen, ruſſiſchen, franzöjiichen) Felddienſtordnungen, die 
zu Dauje jedem Nefruten geläufig jind. Wenn ich dann erwiderte, daß man 
Das in allen niodernen Armeen — zu denen man bei uns die enaliiche aller- 
dings nicht rechne — genau jo mache, oder gar fragte, aus welder Kenntniß 
europäifher Armeen denn die Derren ihr weqwerfendes Urtheil über alle europäi: 
ſchen Heeresverhältnijje herleiteten, jo gingen fie gewöhnlich fort, um das jelbe 
Thema mit irgend einem Deutich- Afrikaner zu verhandeln, der vielleiht im 
jeinem Leben nie einen deutſchen Soldaten geichen hatte, 

„Welchem Kommando werden Sie fid anſchließen?“ fragte ich in den 
erften Tagen nach meiner Ankunft in Pretoria einen mir befannten Ulanen: 
offizier, den ich mit geichultertem Gewehr in Khaki auf der Straße traf. Er 
nannte den Namen eines Burengenerals und fügte hinzu: „Der joll nämlich 
von Allen noch am Wenigjten deutichfeindlich gefinnt jein.“ Der größte Deutichen: 
Hajjer im ganzen Transvaal war der alte ehrliche Joubert. Er haßte die „Lit: 
landers“, vor Allem aber die Deutjchen, die jeine verrätheriichen Abjichten mehr 
als einmal durchkreuzt hatten, *) von ganzem Derzen und behandelte bejonders 

*) Koubert war ein Gegner des Krieges und verjuchte mit allen Mitteln, 
zu denen aud) die verrätheriiche Aufgabe der Belagerung von Ladyſmith gehörte, 
in biefem Sinn auf den Bräfideuten Krüger und den Nollsraad einzuwirken. 


12" 


160 Die Zukunft. 


die deutſchen Offiziere ſchlecht. Dem in Geylon gefangen gehaltenen Oberſten 
von Braun, der als einer der erften deutichen Offiziere bei Ausbruch des Krieges 
nad) Transvaal ging und fi bei Joubert meldete, jtellte der alte Herr die 
wenig fchmeichelhafte Frage, was er eigentlich wolle; und als Braun enviderte, 
er fei gefommen, um in der Burenarmee gegen die Engländer zu fechten, cr- 
widerte ihm Joubert paßig: Dan fat een roor en loop schiet (Dann nimm 
ein Gewehr und geh ſchießen). Die deutſchen Berichterjtatter meldeten damals 
gewifjenhaft an ihre Heitungen: „Oberft von Braun ijt den Stabe des Ober— 
fommandirenden zugetheilt worden.“ Joubert mußte dafür aber auch manche 
iharfe Erwiderung auf jeine deutjchfeindlichen Aeußerungen einjteden. Jeder 
Bürger hatte bekanntlich nad dem Striegsgejeh, wenn er eine Anzahl Wocden 
im Felde geitanden hatte, das Hecht, vier Wochen auf Urlaub zu gehen; da die 
meijten Urlauber e3 aber mit dem Wicderfommen nicht ſehr eilig hatten, be— 
gannen ji die Kommandos bei Ladyſmith jo bedenklich zu lichten, dab die Be- 
urlaubungen eingejchränft werden mußten. Damit waren aber die burghers, 
denen der Krieg jchon langweilig wurde, nicht zufrieden und Manche von ihnen 
famen auf den Gedanken, ſich ſelbſt leichte Berwundungen beizubringen, um auf 
diefe Weije nah Haufe oder wenigſtens ins Hoſpital zu kommen, wo fie fich 
aud ganz wohl fühlten. Solde Fälle famen damals in allen Yagern vor. Als 
eines Tages ein Deuticher fich bei Joubert meldete, um für zwei am QTugela 
verwundete Landsleute die üblichen Pälle zu erhalten, meinte Joubert verächt- 
lich, die Beiden hätten fi) wohl auch jelbjt verwundet, um Urlaub zu befommen; 
worauf er die prompte Antwort erhielt: „Nein, General, es find feine Buren.“ 

Trotzdem ich von Jouberts ſchlechter Behandlung der deutichen Offiziere 
ihon gehört hatte, wollte id) die Betätigung dod) licher aus eigener Anſchau- 
ung haben und meldete mid im Dauptlager von Padyjmith bei dem Oberfom- 
mandirenden. Als ich auf die Frage» Wat will Gij? ermwiderte, ic) jei deutfcher 
Offizier und wolle in der Burenarmee gegen die Engländer kämpfen, verzog 
fich fein von einem ftruppigen grauen Bart umrahmtes Geficht zu einem fröß: 
lihen Grinjen und fein zum Frühſtück (oder Kriegsraad — genau wars nicht 
zu unterfcheiden —) verfammelter, aus einem Kreiſe wohlgenährter, langbärtiger 
Buren bejtchender Stab brach in ein höhniſches Gelächter aus, während Einer 
von ihnen ſelbſtbewußt jagte: „Unſere Sriegführung muß doch ſehr gut jein, 
daß jo vicle deutihe Offiziere hierherfonmen, um von uns zu lernen!“ Ich 
hatte achört, was id) hören wollte, bejtieg meinen Gaul wieder und trabte in 
der Nichtung auf das Yager des deutichen Corps weiter. Während des einſamen 
Nittes auf der jtaubigen, von der glühenden Januarſonne ausgedörrten Straße 
hatte id Zeit, darüber nachzudenken, was ih nad dem bisher Erlebten und 
Gejchenen noch in der Burenarmce wolle. Durchgeritten, müde, hungrig und 
verjtimmt langte ich genen Abend im Lager des deutjchen Corps an. Auch bier 
war Manches anders, als es fein jollte, und Alles anders, al$ man es in den 
deutjchen Zeitungen leſen konnte. In dem befannten Kampf um den Spion- 
fop am Tugela erhielt ich meine Feuertaufe und zugleich Gelegenheit, die kriege- 
rijche Tiüchtigfeit der Buren aus nächſter Nähe zu bewundern. Wie alle zur 
Gernirungarmee vor Ladyſmith gehörenden Langer hatte aud das deutiche 
Corps einen Theil feiner Mannſchaft zum Schuße der Tugelalinie gegen die 


Onze dapperun burghers. 161 


Entſatzverſuche Buller3 abgegeben. Am dreiundzmwanzigften Januar lief abends 
iin Lager vor Ladyjmith die Botichaft ein, ein Angriff der Engländer jtche am 
Tugela bevor. Ich ritt am nächſten Morgen früh los und langte gegen Mittag 
am GSpionfop an. Unterwegs hatte id von einigen Buren, die nad) ihrem 
Lager zurüdritten, gehört, daß die Engländer in der Nacht den Spionkop 
geitürmt hätten und daß „Alles verloren“ je. Bon Weitem jchon hörte ich 
SKanonendonner und heftiges Gewehrfeuer, untermijcht mit dem furzen, ſcharfen 
Knall der Marim-Gejhüge. Als ich, über die von zu hod) gehenden englijchen 
Scdiffsgranaten bejtrente Ebene galoppirend, mich den Höhen näherte, auf denen 
gelämpft wurde, bot fich mir ein Anblid, den ich nie vergejien werde. Aengitlich 
zulammengedrängt, einzeln und in £leineren und größeren Klumpen unter dem 
Schuß des Bergabhanges-fich verfriehend, hodten Hunderte und Aberhunderte 
von Buren, während oben am Nande des Plateaus eine jehr dünne Buren- 
linie, in der recht viele Ausländer waren, auf dreihundert Meter den englijchen 
Schützengräben gegenüberliegend, ein heißes Feuergefecht führte. Sein Yureden 
und fein Drohen, fein Appelliren an ihr Ehrgefühl vermochte die im jicheren 
Verſteck Sitenden in die Feuerlinie zu treiben. Eine grimmige Freude bereitete 
es mir jpäter im Verlauf des Gefechtes, als einige der für uns beftimmten 
engliihen Granaten, mit denen wir oben auf dem Plateau reichlid bedacht 
wurden, in einen ſolchen Haufen von „Drüdebergern“ am Bergabhange ein- 
jhlugen. So jchnell habe ich die Buren im Yauf des ganzen Krieges nicht 
wicder laufen fehen, troßdem fie auch jpäter darin Ziemliches leijteten. 

Am Abend räumten die Engländer den Spionfop. Sie hatten furdt- 
bare Berlufte erlitten. Der Ruhm des Tages gebührt in erjter Linie der Buren- 
Artillerie, diejer vorzüglichen, von deutichen und franzöjischen Offizieren gefchaffenen 
und nad) der veradhteten europäiichen Methode einererzirten und bisziplinirten 
Truppe. Als die Engländer über den Tugela zurüdgegangen und abgezogen 
waren, ohne daß die Buren, ihren Sieg ausnügend, fie verfolgten — denn in 
der Bibel, die ihre Felddienſtordnung ift, Steht: „Einem flichenden Feinde joll 
man goldene Brüden bauen‘ und Joubert hatte verboten, „von hinten“ auf die 
Engländer zu Schießen, weil es unchriſtlich ſei —, da war die Freude groß. Onze 
dappern burghers fonnten einander nicht laut genug zu ihrer Tapferkeit beglüd- 
wünjhen. Wohl hörte man auch hier und da ein anerkennendes Wort über die 
Deutichen, die einen hervorragenden Ylntheil am Kampf genommen und ver- 
hältnigmähig große Verluſte gehabt hatten; viel häufiger aber konnte man 
Aeußerungen hören über die „ Dummheit‘ der Deutjchen, die nicht zu „Fechten“ 
veritänden und deshalb jo große Verlufte im Vergleich zu den Burenfommandos 
gehabt hätten. Zwei Buren jtritten nad der Schlacht über die Frage, wie viele 
von „unjeren Leuten‘ an einer Stelle der Gefechtslinie gefallen jeien. Der Eine 
behauptete: Bier. ‚Nein, jagte der Andere: ‚Drei; der Eine war nur (‚net‘) 
ein Deutſcher.“ Ich jelbit hörte einen alten Buren vergnügt über den gewonnenen 
Sieg ausrufen: „Erit jagen wir die Engländer aus dem Lande, und wenn wir 
damit fertig find, dann ſchmeißen wir alle Ausländer raus.” Gin Bur, den 
ich fragte, warum er nicht mit ins Gefecht gegangen fei, meinte treuherzig: 
„Mensch hat doch zijn leven lief*. (Man bat doch jein Leben lieb.) Den Meijten 
fehlte jedes Verſtändniß für ihr Flägliches Benehmen vor dem Feinde und des- 
halb hatten fie auch für die Tapferkeit der Ausländer keine Anerkennung. 


162 Die Zukmft. 


Als id am Morgen nad der Scladht mit einem anderen Dentichen 
wieder auf das Plateau des Spionkops ftieg, um den am Tage vorher gefallenen 
Lieutenant von Brüſewitz zu begraben, fand ich jeine Leiche volljtändia aus— 
geraubt und mit nad außen gekehrten Nod- und Hofentajchen; er war eben „nur 
ein Deutjcher‘‘. Die dappern burghers aber waren auch eifrig bei der Arbeit, 
die engliichen Toten auszuplündern. Da ihnen das Umdrehen der Tajchen zu 
umjtändlid und bei den meiſt ſtark mit Blut bejudelten Yeichen auch zu unſauber 
war, jchnitten fie gemwöhnlidy nur die Tafchen von außen auf und entlcerten jie 
jo ihres inhaltes.*) Es war ein widerlicher, efelhafter, empörender Anblid. 

Ich habe dann cine Woche darauf in dem viertägigen Kampf bei Pot— 
gietersdrift am QTugela und ſpäter in Bothas Armee im Oranje- Freiftaat in 
vielen Gefechten mitgefämpft. Ueberall aber war es das jelbe Bild. 

Die Volksstem, das offizielle Organ der Transvaalregirung, das mit 
größter Gewiljenbaftigkeit jede Deldenthat ihrer „tapferen Bürger‘ unter großem 
Aufwand der abgedroſcheuſten Phraſen über Heldenmuth, Freiheitliebe und Gottes» 
furcht verzeichnete, erwähnte mit feiner Silbe die zahlreichen Fälle, wo ſich die 
Ausländer-Eorps ausgezeichnet hatten. Stets hie es: Onze dappern burghers... 
Wenn fie dagegen den Hat gegen alles Nichtholländiiche jchüren fonnte, that 
fie es gar zu gern. Als die deutiche Abtheilung von dem vereinigten Ausländer- 
corps des franzöfiichen Oberſten de Billcbois nach allen Negeln des Kriegsrechtes 
Pebensmittel auf einer Farm requiriren mußte, da fie trog wiederholtem An— 
juchen von der Negirung nichts erhielt, berichtete die Volksstem entrüjtet über 
die „Blünderung einer Bırenfarm dur die Deutſchen“. Diejes Blatt hatte 
die Unverichämtheit, dem deutſchen ‚sreicorps unter Oberſt Schiel die Schuld 
an der Niederlage bei Clandslaagte in die Schuhe zu jchieben, unter Hinweis 
auf die veraltete, den Anforderungen des jebigen Krieges nicht gewachſene Fecht— 
weile der Deutjchen, die den ungünjtigen Ausgang verjchuldet habe. Thatſächlich 
wurden die 85 — fünfundachtzig! — Deutjchen, die nach einem jcharfen Ritt 
am jpäten Nachmittag auf dem Schlachtfelde erjchienen und tapfer in das bereits 
verlorene Gefecht eingriffen, von den Buren ſchmählich im Stich gelajfen. Leider 
hat die von der Volksstem verbreitete Yesart nicht nur in allen Burenlagern 
Gehör gefunden, ſondern ift aud in viele deutjche Zeitungen übergegangen. 

Der Rückzug der Buren durch den FFreiftaat und über den Vaalfluß war 
eine einzige Alucht. Brachten die tundichafter die Meldung: „De Engelsche 
kommen“, dann gab es fein Halten mehr. In fünf Minuten war das Yager 
abgebrochen und von der ganzen Burenarmee auch nicht ein Pferdeſchwanz mehr 
zu jehen. Das deutiche Korps ”*) bildete während des ganzen Nüdzuges durch 
den Freiſtaat die unfremvillige Arrieregarde von Bothas Armee, da es, auf 
ſchlechten Pferden beritten gemadt und häufig Scharmüßel mit den engliichen 


*) Es giebt zwei photographiiche Aufnahmen vom Scladtfeld auf dem 
Spionkop, die auch im deutichen illujtrirten Zeitſchriften erjchienen und auf denen 
man deutlich an den Uniformen der gefallenen Engländer die Spuren des Leichen- 
raubes erfennen fa. 

**) (Ss,gab drei deutiche Korps: eins in Natal, eins im Oranjefreiltaat 
und eins im internationalen Korps Billebois. 


Onze dappern burghers. 163 


Avantgardentruppen liefernd, jtets einige Tagemärſche hinter den Burenkom— 
mandos zurüd war. Hatten dieje dann auf der großen Netirade wieder einmal 
Halt gemacht und wir famen auf unjeren ausgehungerten Pferden und ſelbſt oft 
Mangel leidend im Laager an, dann hatten fie die inzwilchen angefommenen 
Proviantvorräthe gewöhnlich brüderlich unter fich getheilt und für uns war nichts 
übrig geblieben. Den anderen Ausländercorps, jo weit ſie noch exijtirten, ging 
es nicht bejjer. Im Gefecht, wo man fie nicht entbehren fonnte, jtellte man jie 
vornan; im Uebrigen aber behandelte man jie als die „dummen llitlanders.“ 
Es ijt daher fein Wunder, da anf dem weiteren Nüdzuge fi in Johqnnes— 
burg das deutſche Korps auflöjte und ein großer Theil der zerjtreut unter den 
Burenfommandos fechtenden Ausländer in Johannesburg und Pretoria zurück— 
blich. Zu Dunderten waren während des Rückzuges die Buren auf ihren ‚Jarmen 
zurüdgeblieben und übergaben jich den Engländern, jo dat Botha von den zehn— 
taujend Mann, die er am Sand-River nocd unter jeinem Kommando vereinigte, 
beim Durchmarſch durch Bretoria feine Tauſend mehr hatte, — Mebellen aus 
der Capfolonie und Natal, Ausländer und Buren aus dem von den Engländern 
noch nicht otfupirten nördlichen QIransvaal. Als am fünften Juni 1900 die 
Engländer in ‘Pretoria einrücdten und den wüften Plünderumgizenen, die ſich in 
den lebten Tagen vor der Einnahme der Stadt dort abjpielten, ein Ende machten, 
da wollte das Öurragejchrei der Bevölterung fein Ende nehmen; von der eiligen 
Ruhe, mit der die Eimwohner die einziehenden Truppen empfangen haben jollen, 
war nichts zu merten. Als die Engländer jpäter ein weitverzweigtes Spionage— 
ſyſtem einrichteten, ijt ınehr als ein Ausländer, der gegen die Engländer im 
Felde geftanden hatte, von Buren denunzirt worden, die ſich damit einen Neben: 
verdienjt madıten, Die zahlreichen Deutichen, die in Pretoria von den Engländern 
ins Gefängniß geiperrt wurden, hatten unter der jchlechten Behandlung viel zu 
leiden ; die Gefängnifjwärter, geborene TIransvaaler, die der Queen den Treu: 
eid geleiftet hatten, juchten ihre nun plötzlich „loyale* Geſinnung durch ruppige 
Behandlung der gefangenen Ausländer zu beweijen. Als eines Tages — id 
theilte mit einem anderen deutichen Offizier eine Zelle auf dem Hof zum 
Antreten und zur Arbeitvertheilung gerufen wurde, blieben wir ruhig in unſerer 
‚Zelle, jicher, daß unſere Abweſenheit bei der großen Zahl der Gefangenen nicht 
bemerkt wurde. Ein junger Bur, der aud) Kriegsgefangener war, ging an unſerer 
Thür vorbei und rief uns zu, wir mühten hinausgehen. Wir erwiderten, er 
möge fid nur um jeine eigenen Angelegenheiten kümmern. Wenige Minuten 
Ipäter fehrte er mit einem Gefängnißbeamten zurücd, dem er uns angezeigt hatte. 

Inzwiſchen hat fich Vieles geändert. Der zähe Widerjtand, den die leiten 
Hejte der noch fämpfenden Buren leiften — und dem Niemand die Anerkennung 
verjagen fann —, hat die eine Weile wohl etwas abgefühlte Burenbegeifterung in 
Deutjchland wieder angefacht. Der Abſchluß des ſüdafrikaniſchen Trauerſpiels 
aber — denn ein joldhes iſt es für beide Larteien — jollte uns Dentichen gleich— 
giltiger jein. Die Engländer verdienen gewil; nicht, dal fie die Früchte ihrer 
Raubpolitif ungeftraft genießen. Den Buren aber jollten wir nicht vergellen, 
daB fie die Opfer an Leben und Freiheit, die jo viele deutiche Männer ihren 
brachten, hier in Afrika nur mit Spott und Verachtung belohnt haben. 

Keetmanshoop. Lieutenant a. D. Gentz. 
- 


164 Die Zukmft. 


Selbftanzeigen. 


Sommernäcdte. Berlag von Ludolf Beuft. Straßburg 1902. 


Erſt hatte ich die Abjicht, meinem Iyrifchen Erjtling eine Vorrede vor« 
auszujchiden. Dann wollte ich einige Stritifen abwarten, um meine Anfichten 
und Abſichten ſich klären zu laſſen. Bor Allen würde es fih um die Form 
gehandelt haben. Was ijt denn im legten Grunde die Form einer Dichtung? 
Das, was für den Muſiker der „Takt“ ijt; und auch Wagner kennt den Takt, 
obwohl jeine Melodien über alles Konventionelle hinwegbraujen. „Melodie“ 
im Sinne der alten Oper iſt nicht überhaupt die Muſik. So iſt auch ein Unter- 
fchied zwijchen „Lied“ und „Gedicht. Die Stimmungen der „Sommernädte‘‘ 
fonnten gar nicht in Liedform gebradht werden; fie brauchen nur den Rhythmus, 
den jie felbjt bedingen; und wie die Form des Liedes eine mufifalifche „Ein— 
theilung“ it, jo mußte es mir darauf ankommen, eine der Stimmung ent« 
Iprechende Kadenzirung zu finden: das Gewand mußte fi) ganz eng anjchmiegen, 
das Gewand mußte jchon in jeinen Linien Muſik, Harmonie fein. Die Holzianer, 
die ja auch die Neimdufelei verwerfen, kennen nur eine „Form“ für den Berftand 
und das Auge; das Gedicht joll aber innerlich Plaſtik jein, Elingende Plaſtik, 
der jede Äußere Schönheit geopfert werden muß. Eben fo verfehlt tft der achadte 
Tonfall, dem wir heute häufig begegnen. Wir dürfen nicht vergejfen, daß das 
(geichriebene) Gedicht aus der mufifaliihen Stimmung geboren wurde, aus dem 
Bedürfniß, das Unbeftimmte in Worte zu drängen. Bittert aber fein Ton in 
den Worten, jo haben wir Proja oder Rhetorik. Ich wollte feine Theorie auf- 
jtellen, jondern einige Anregungen geben. Nicht eine Schalmei träumt mehr 
in unjerem Lied: ein Orcheſter umraufcht uns mit ſchwerem Flügelſchlag. Nicht 
das grüne Thal durchzieht der fröhlich wandernde Burſch in unferen Gedichten: 
der Geiſt fliegt durch den Weltenhimmel. Der Kosmos ijt „Heimath“ geworden. 
Wir fühlen uns als Pflanzen, die leben, aus Sommernädten der Sammlung 
der Sonne zujtreben, der höchſten Entfaltung ihrer Gluth und Pradt. Das ift 
unfere einzige, unfere gewaltige Miſſion. Und fie ift nicht Yaft: wir find ja 
eins mit der ungeheuren Welt der Sterne, in allen Adern brennt die Sonne, 
fie iſt Gott, ſchöpferiſcher Geiſt. Unſere Kultur, Fabriken und Maſchinen find 
auch nur „Natur“, Ausflug und Stonzentration, potenzirte Aeußerung der Natur. 
Auch ihr Lied dröhnt in dem großen Hymnus der Kraft, der Sonne. Und Alles 
wird zur Symphonie. Unjer Ohr bat fid) an die Disfonanz gemöhnt. Sie 
„beleidigt* nicht mehr. Wenn in nocd jo geringem Maße: die Ahnung diejer 
Weltenſymphonie jhwingt in unferem Dichten in blendenden Sonnenfarben. So 
gehen wir dem Reiche des Lichtes entgegen. In ihm werden wir endlich unjere 
„Beſtimmung“ finden und verjtehen lernen. „Nichts ift herrlicher als die Sonne!..“ 


Straßburg. Rene Scdidele. 
* 
Wanderungen. Kommiſſionverlag J. Littauer, München. Preis 3 Mark. 


Das Buch iſt mit der bekannten holtenſchen Type ſehr ſchön auf echtem 
Van Geldern gedruckt und wirkt auf jedem Büchertiſch vornehm; namentlich, 
wenn man es nicht aufſchneidet. Sogenannter Buchſchmuck fehlt. Der Schmuck 





Seldftanzeigen. 165 


meines Buches iſt die Drudanordnung. Es enthält dreiundzwanzig Gedichte, 
darunter zwei längere epiſche. Bon ihnen ericheinen mir heute drei Iyriiche Ge— 
dichte gut, das eine epiiche interejiant; von den übrigen ſechs als gute Mittel: 
waare, dreizehn als mißlungen. Einzelne meiner Freunde urtheilen anders. Wer 
willen will, weſſen Urtheil richtig ift, muß das Bud nicht nur faufen, jondern 
auch aufichneiden. Ich gebe hier nur noch ein Citat: 


Mas iſt es, das uns in der Sceideftunde 
An dieſen Blit auf Strom und Hügel bannt? 
Was, das aus diefer Thäler erniter Munde 
Im Schweigen uns den Arm entgegenjpannt ? 


Die Sonne fintt, die Wolfen jtehn in Flammen, 
Aus grünen Tiefen eine Stimme raunt: 

„Was zögert Ihr? Im Meer der Zeit entihtwammen 
Die Stimden längjt, die Ihr noch müd bejtaunt. 


Seht hin, jhon ſenken ſich die Nebeljchatten, 
Seht hin, Schon ſchwindet all die bunte Pracht, 
Seht, wie fih Licht und Finſterniß begatten, 
Sie zeugen die geheimnißtrunfne Nacht. 


Seht chweigend, geht! Was joll das matte Yaudern? 
Ihr ſchwindet auch, wie diejer Tag entſchwand“ ... 
Wir ftchn noch immer, ‚stehn im großen Scaubdern, 
Ich fühl’ in meiner Deine falte Hand. 


Münden. Felix Paul Greve. 
+ 
Die wiffenihaftlihen Grundlagen der Graphologie. Mit 31 Tafeln. 
Verlag von Guſtav Fifcher, Jena 1901. 

Bum erften Mal werden hier in ftreng willenfchaftliher Weije die Be- 
ziehungen zwiſchen Handſchrift und Charakter auseinandergejett. Die Schreib- 
bewegung wird al3 eine Stombination von willlürlicen und unmwillfürlichen Be— 
wegungen dargeftellt. Wie in jeder Dantirung, jo kommt auch in ihr zunächſt 
die individuelle Bewegungphyſiognomik zur Geltung: Ausgiebigkeit, Geſchwindig— 
feit, Nahdrud, Gleihmäpigkeit der Bewegung, Grad des Spannunazujtandes 
der Muskulatur, Neigung zur Stredung oder Beugung, Borwiegen mehr ediger 
oder mehr abgerundeter Bewegungformen u. j. w. Indem ich nun zeige, wie 
dieſe phyfiognomifchen Eigenarten in der Handſchrift zur Fixation gelangen, und 
den Zujammenhang zwiſchen ihnen und bejtimmten Charaktereigenichaften auf 
dede, gelingt es mir, damit eine wichtige Brüde zwiichen Handſchrift und Cha- 
rakter herzuftellen. Zur Veranſchaulichung diefer Ableitungen und zur Sicherung 
der Beweisführung werden Schriften Geijtesfranfer aus gejunder und franfer 
Beit mit einander vergliden. Auch die mehr willfürlihen Faktoren, die die 
Form der Scriftzüge beeinfluffen, find bejtimmten Sejegen unterworfen. Dieſe 
— beſonders die von den Pſychologen gewonnenen Ergebniſſe über die Ab— 
bängigfeit des individuellen Formengeijhmades von beftimmten Charaktereigen- 
ſchaften — und eine Neihe jonjtiger Erwägungen dienen dazu, weitere hand- 


166 Die Zukunft. 


Schriftliche Eigenarten dem wilfenfchaftlichen Verſtändniß näher zu bringen. Bon 
unbegründbaren Spekulationen und von der in der Graphologie bisher herrichenden 
Pjeudoempirie habe ich mich ganz ferngehalten. Die Sprade ift allen gebil- 
deten Yaien verſtändlich. Dr. Georg Mener. 

* 
's Re'ment. Verlag von Heinrich Minden, Dresden. 

Wenn die Falten des Lachens und Weinens ſich feſter ins Antlitz des 
Menſchen einzugraben beginnen, erſcheint ihm die Jugend wie ein goldener 
Traum, von dem er gar gern nur eine kurze Spanne wieder ſein eigen nenuen 
möchte, — je nachdem: um jie noch einmal zu durchfojten, oder, um fie bejler 
aussunugen. Die jugend denkt leichter über Das, was fie hat, ſie giebt ihre 
Zeit mit vollen Händen aus, ohne an Sparen zu denfen, und vielleicht gerade 
deshalb ijt die jugend jo ſchön. Sie hat ja jo endlos viel Zeit; das ganze 
Leben mit all jeinen Bergen, Thälern und weiten Ebenen liegt ja noch vor ihr! 
So denken auch die jungen Yieutenants in meinem Roman, die Kameraden des 
„Re'ments“. Bon ihrem Jugendübermuth, ihren tollen Streichen handelt er. 
Aber auch von ihrem treuen Zuſammenhalten, von ‚sreundjchaft bis zum Tode, 
von Heiliger und unbeiliger Yiebe, von Genießen und Entjagen, von Sünde und 
Ueberwinden. Mir Schienen dieje kraftvolle Skrupellofigkeit und diefer Humor, 
dem nichts heilig ift, doch auch dieje einzigartige Kameradichaft und diejer heilige 
Ernſt, diefe rüdfichtlofe Genußſucht neben findlichem Frohſinn der Schilderung 
werth. Und zwar einer Schilderung ohne Vorurtheil, einer künſtleriſchen Ge— 
jtaltung „mit dem Anjchein äußerſter Naturwahrheit“, wie es einmal in dem 
Buche heit. Ein Bilderbud) des Yebens in bunten Farben, lichten und düjteren, — 
allerdings nur für Große. 


Schlendorf, Felix Freiherr von Stenglim, 


* 


& 
Das Eentralfartell. 


—8 artelle aller Branchen, vereinigt Euch!“ Dieſe Variante des weltberühmten 
"DIL Yeitjages, den Marx der internationalen Arbeiterorganijation auf den 
Weg gab, konnte an den Wänden des berliner Saales prangen, in den neulich 
die Bertreter aller Umternehmerverbände Deutjchlands berufen waren. Die jelben 
Lente, die jonjt nicht laut genug gegen jede von Proletariern geichaffene, beſſere 
Arbeitbedingungen anjtrebende Wereinigung wettern fonnten, bemübten ſich bier, 
eine Koalition der Umternehmerverbände ins Yeben zu rufen. Den Vorjik führte 
Herr ‚sende, der einſt im jächjtichen Miniſterium Geheimer Finanzrath war und 
am erjten Mai nun aus der Yeitung der Firma Krupp jcheiden wird. Das 
Dauptreferat war Herrn Bueck anvertraut, dem Generalſekretär des Kentral« 
verbandes Deutjcher nduftrieller, den die Arbeiterprejje mit dem jelben Recht 
den bezahlten „Hetzer und Agitator” der Unternehmer nennt, mit dem Ddiejer 
Vorwurf von ihm und jeinen Yenten den Führern der Arbeiter entgegengejchleudert 
wird. Es war eine richtige Gewerkichaftverfammlung; nur tagte fie nicht am Engel— 


Das Centralfartell. 167 


ufer oder in der Prenzlauer Allee, jondern am Wilheimsplag im Hotel Kaiſer— 
hof. Und dem feinen Nahmen entiprady die bejondere Art diefer Gewerkſchaft— 
mitglieder. Jeder Zoll ein Millionär. 

Im New-HYork Herald wurden nad) der Verſammlung der Kartellver: 
treter weitausſchauende Betrachtungen über den, 3weck der Uebung angeitellt. 
Diejer Zwed, hieß es da, jei ein gemeinjames Vorgehen aller Kartelle gegen die 
Auslandsfonkurrenz. Der Verfaſſer diefes viel bemerften Artikels wandelt in 
Morgans Spuren; er ficht vor feines Geijtes Auge ein Gentralkartell, das weniger 
die nationale Produktion als vielmehr den gejanımten nationalen Erport leiten joll. 
Kein Wunder, daß im Kopf eines amerikanischen Journaliſten, der von einer Zus 
jammenfunft der Bertreter aller deutjchen Kartelle hört, der Gedanke an jo groß— 
artige Pläne auftauchte. Aber diejer ipefulative Amerifaner überjchäßt die Kraft 
unjerer Wiillionäre, die vorläufig jolche Niejentransaltionen, wie fie einem Morgan 
möglich find, mit der Ausſicht auf Erfolg noch nicht wagen dürfen. Den Aus: 
länder mag in dem Einladungjchreiben ein Sag, deſſen Grundgedanke in Buecks 
Reden mehrfach wiederfehrte, zu jeinem Irrglauben verführt haben. Da wurde 
nämlich gejagt: die geplante Vereinigung aller Syndikate jolle die gemeinjamen 
Intereſſen aller Kartelle wahren. Nun fordert ohne Zweifel ein großes, allen 
Startellen gemeinjames Intereſſe, das Ventil des Erportes offen zu halten. Nur 
haben die Kartellherren bisher jich noch nie über die Mittel zu einigen vermocht, 
mit denen diejes Ziel ihrer Schnfucht erreicht werden könnte. In Aufſchwungs— 
zeiten iſt allenfalls nod) eine Einigung möglich. Als aber die eriten Symptome 
des Niederganges fihtbar wurden, brach — die Erinnerung daran iſt noch friſch — 
zwilhen den Zymdifaten der einander ergänzenden Branchen Noble und Eiſen 
lofort ein Streit über die Gewährung von Erportprämien und ähnlichen Vor— 
theilen aus. Die Megiffeure der Berfammlung meinten mit den „allgemeinen Inter— 
ejlen der Syndikate“ denn auch ganz andere Dinge. Der wirkliche Zweck der 
faijerhöfiihen Beranftaltung giebt uns das Recht, fie einen Sewertichaftfongrei 
der Unternehmer zu nennen. Nicht einem ausländiichen Feind galt der Kampf; 
eher fah es aus, als folle die Demonstration auf die eigene Negirung wirken. 
Die Furcht vor dem Kartellgeſetz hatte die Unternehmer nad Berlin getrieben. 
Den mädtigen Derren jcheint nad) und nad die Ueberzeugung zu dämmern, daß 
die gejegliche Regelung und Ueberwachung der Kartelle jih zwar noch eine Weile 
binausjchieben, auf die Dauer aber nicht hindern läßt. Diele Gewißheit it in 
erjter Reihe wohl durch die Zuckerkonferenz aejcdhaffen worden. Deutſchland hat 
in Brüfjel Vorſchlägen zugejtimmt, die, wenn jie vom Neichstag angenommen 
werden, den Zuſammenbruch des Zuckerkartelles herbeiführen müſſen. Dan weiß 
ja bei unjerer Negirung nic, woran man iſt; alle paar Wochen mwechjelt der 
Kurs und in wirthichaftlichen Dingen jind von Tag zu Tag die mierbwürdigiten 
Wandlungen zu erwarten. Wiclleicht ſitzen in der Regirung — der vperantwort— 
lichen, meine ih — Yeute, die mit der ganzen Jubrunſt ihres ſchutzzöllneriſchen 
Herzens beten, der Reichstag möge die brüsjeler Beſchlüſſe ablehnen. Vielleicht 
aber wird gerade jetzt, da der Jude Ballin mit hohen Orden deforirt wird und 
der Staifer die Händler Löwe, Arnbold und Bleichröder zu einer Nordjeefahrt 
eingeladen bat, mehr, als man glaubt, auf einen neuen Neichstag gerechnet, der 
die Handelsverträge annehmen und dem Inckerkartell das Lebenslicht ausblaſen 





168 Die Zulunft. 


joll. Jedenfalls jchwebt das Kartell in Gefahr. Und dieje Gefahr muß alle 
Kartelle jchreden, weil jie zeigt, daß jelbjt in einem perjönlich regirten Staat 
wie Preußen die Klagen über eine rüdjichtlos ausbeutende Kartellpolitif bis an 
die höchſte Stelle gelangen können. 

Der Gentralverband Deutjcher Induſtrieller Scheint das Fürchten gelernt 
zu haben, troßdem alles bisher Geichehene dazu feinen Anlaß bietet. Graf 
Pojadowsty hat Erhebungen über die Kartelle in Ausjicht geitellt und das 
Reichsamt des Innern hat auch wirklich die Bundesregirungen aufgefordert, jich 
über die Entwidelung des Kartellwejens in ihren Neichsgebieten zu äußern. 
In allen Ländern, wo man die Löjung wirthichaftlicher Probleme ernjthaft ver- 
fucht, in England und jelbjt in Amerika pflegt man in ſolchen Fällen Eontra- 
diftoriiche Enqueten zu veranftalten. Die Ginberufung des Wirthſchaftlichen 
Ausſchuſſes Hat, bei den Vorarbeiten zum HBolltarif, gezeigt, daß aud bei uns 
diejes Verfahren gewählt wird, wenn man den Schein gründlichſter Sadlidh: 
feit wahren will. Ich weil; nicht, wie die vom Neichsamt des Innern gejtellte 
Frage in den anderen Bundesitaaten behandelt worden ilt. In Preußen trat der 
Handelsminifter und Unternehmer Möller in Aktion. Denn da das Reichsamt 
des Innern dem preußiichen Minijterium nichts vorzufchreiben hat, muß man wohl 
annchmen, daß die gewählte Mtethodedem „hellen Kopf“ des Herren Möller entftamınt. 
Der Minijter veranftaltete nicht etwa eine Enquete; er wandte fi aud nicht 
an die Vertreter der Unternchmerkartelle, der Dandelsforporationen und Gewerk— 
ihaften, fondern an die Regirungpräfidenten, im Grunde aljo an die Polizei, 
die man in Preußen für wirthſchaftliche und fozialpolitiiche Erhebungen ja be- 
ſonders gern in Anſpruch zu nehmen pflegt. Ich bin neugierig, das auf diejem 
Wege gejammelte jhäßbare Material feımen zu lernen. Den Sartellen wird 
es jedenfalls nicht gefährlic) werden; fie haben in der Negirung noch immer 
gute, zuverläfjige Freunde und Herr Möller it Fzleifch von ihrem Fleiſch, Um 
jo merfwürdiger ift die Kaiſerhof-Verſammlung. Muß man daraus nicht folgern, 
daß im der Negirung zwei Anſchauungen um die Herrfchaft ringen und daß die 
Ktartellfreunde gethan haben, was man in der Verbrecherſprache „pfeifen“ nennt? 
Dieſe Freunde, die „Schmiere ſtanden“, fönnten ja gepfiffen haben: „Gefahr im 
Verzug!" Das wäre wenigjtens eine Erklärung der überrajhenden Demonftration, 

Intereſſant ift die Art, wie fich die Herren den Widerjtand gegen die 
Staatsgewalt — ad nein: das Kartellgeſetz — denken. Kann das Geſetz nun 
einmal nicht verhindert werden, jo will man wenigjtens für eine möglichſt milde 
Form jorgen, will man, wie in der Berfammlung ſo ſchön gejagt wurde, ver- 
juchen, „es mit den Intereſſen der Startelle in Einklang zu bringen.” Der 
Rede Sinn it nicht ſchwer zu verjtehen. Noch ijt ja unvergeſſen, daß einjt das 
Reichsamt des Innern zur Agitation für das Zuchthausgejeg zwölftaujend Mark 
vom Gentralverband Deuticher Induſtrieller erbat. Der Centralverband felbjt 
hat jeine Agitation bisher aus eigenen Mitteln betritten. Sollten die für jolche 
Zwecke nöthigen Ausgaben jeßt jo groß geworden fein, daß fie nur noch durch 
die vereinigten Millionen ſämmtlicher deutichen Kartelle gededt werden können? 
Schon die erjten Schritte auf dieſem abſchüſſigen Weg verdienen Beachtung. 


Plutus. 
> 


Theaternotizen. 169 


Theaternotizen. 


SR ine „Tragoedie braverYeute“ hat Herr Karl Schönherr jein einaftiges Drama 
I „Die Bildjchniger“ genannt. Auch auf fein neues, größer gedachtes Wert 
würde die Bezeichnung paffen. In den fünf Akten des „Sonnwendtag“ lernen wir 
feinen fchlechtensterl kennen; lauter bravePeute. Wir find wieder im öfterreichiichen 
Tirol, in der Heimath des jungen Dichters. Da lebt, in einem Wallfahridorf, der 
Rofnerbauer mit Frau und Mutter. Denen ifts jhlecht gegangen. Um Lichtmeß 
hat eine Echneelawine ihr Häuschen nebjt Stall und Vich in den Abgrund gerifjen 
und den Bater, der im Altentheil ſaß, getötet. Doc) das tapfere Paar lieh fich vom 
Schidjal nit umwerfen. Der Bauer hat jein letztes Stüd Wald der Gemeinde 
verfauft und will von dem Erlös die Baukosten der neuen Hütte zahlen. Er und jein 
Weib arbeiten von früh bis jpät und dürfen hoffen, dem Kind, das fie erwarten, ein 
ſchmales Behagen zu Schaffen. Härter hats die Mutter getroffen. Ihr Troft ift der 
zweite Junge, der Hans. Dem hat der alte Dorfpfarrer ein Gemeindeftipendium 
ausgemwirkt. Und jest hat der Hans in der Stadt das Abiturienteneramen löblid) be- 
ftanden und joll ins Priejterfeminar; jo Gott will, wird die Mutter ihn noch 
als Geiftlihen jehen. An diefe Hoffnung klammert ſich das fromme Weiblein, 
das fich auf der Kommode ein Hausaltärchen aus Pappe und Goldpapier errichtet 
bat, und ahnt nicht, daß der Hans in der Stadt dem Kinderglauben entfremdetwarbd. 
Wilde Neden hat er gehört, ſchlimme Mären von Pfaffengräueln; und die Luft am 
geiftlichen Weſen haben Hunger und Schuljchinderei ihm ausgetrieben. Noch wagt 
er das jchwere Bekenntniß nicht, will der Mutter, die jo viel durchgemacht hat, nicht des 
legten Wunſches Erfüllung rauben; im Innerſten aber ijt er entjchloffen ‚nicht 
Priefter zu werden. Nun fügt fihs, da am felben Sonnwendtag, der ihn zu furzer 
Ferienraft in die Deimath führt, Pfaffenfeinde ins Dorf kommen, Radikale, die durch 
das Land ziehen, um die Unzufriedenen aus träger Ruhe zu jcheuchen und eine neue 
Zeit vorzubereiten. Den Führer des Nugendfähnleins, den Jungreithmair, kennt 
Hans aus der Stadt. Ein ftarfer, harter Gejelle, der Weib und Kind daheim 
betteln läßt und ſich als Apojtel fühlt, als Diener gottlojer Wahrhaftigkeit, die 
den zagen Menſchen das Heil bringen joll. Die eigen und Pauen will er rütteln, 
bis ihnen der Muth wächſt, und das Sonnmwendfeuer joll das leuchtende Zeichen 
fein, das die Schwachen aus frummen Gäfchen und niedrer Gewöhnung auf die 
Höhe ruft. Doc die Fromme Gemeinde wehrt ſich gegen den Feind ihres Glau— 
bens; kein F5ledchen giebt der Gemeinderath für das Sonmvendfeuer frei und feinen 
Mann, jo ſchwört der Dorftyrann, darfder Aufiviegler uns verführen. Zwiſchen den 
beiden Fanatismen fteht ſchwankend Dans Rofner. Er hat die Fremden auf feine 
Bergwieſe geführt und schleppt zu ihrem Sonnwendfeuer jelbjt Reifig herbei. Da fällt 
ihn der Bruder mit Bitten an. Wenn Hans nicht Prieſter wird, muß die Familie 

das Stipendium zurüdzahlen und das Kind des Nofnerbauern wird heimlos ge: 
boren werden. Daran joll Hans denfen; aud) an die Mutter, die der Schlag tüten 
kann, und an Alles, was das gequälte Kaar ſchon gelitten hat. Din und her wird 
der arıne Junge gezerrt. Mit den Freig möchte er gehen, den rüftigen Befreiern, die 
zum Kampf gegen Pfaffendrud und Hörigfeit rufen, und feinen Leuten doc, die 
fo viel für ihn ıhaten, das Schwerſte eriparen. Als Jungreithmair ihn einen 
Feigting nennt, der einer großen Sache nichts opfern wolle, wallt des Knaben Blut 









170 Die Zufunft. 


auf: er iſt nicht fein, er wird bleiben, — mögen die Seinen zu Grunde gehen. zn 
finnlojer Wuth erichlägt ihn der Bruder. Die Nofnerin hält fich aufrecht; fie wird ihr 
Kind aufziehen und warten, bis der Mann die Strafe abgebüßt hat. Die Mutter 
jteht thränenlos an der Bahre des Jungen, den der Meltere ihr gemordet hat, und 
merkt kaum, dab die Gendarmen den Mörder fortführen. Nicht mit Menjchen hadert 
fie: nur mit Gott; mit ihrem Gott, dem jie ein Leben lang treu gedient und der ihr 
Vertrauen jo getäufcht hat. Den Mann zuerft und num beide Kinder nahm er ihr. 
Langſam räumt fie, auf wantenden Beinen, den ganzen Altarfchmud ab: den friſchen 
Rosmarinſtrauß, die fünftlihen Blumenftöde, die Mejlingleuchter mit den Wachs— 
ferzen, das Spigentud, das den Bappaltar deckte. Dann löſcht fie das Oellichtlein 
im vothen Ampelglas, „jet fi nah dem geplünderten Altärchen auf einen 
Stuhl, jtüßt die zittrigen Hände auf den Krüdjtod und ftarrt mit weit offenen, 
grauen Augen jtumpf vor ſich hin.“ Das iſt das Ende... Lauter brave Leute ſahen 
wir, Leute, die jich im Nedht wähnten und um ihren Glauben rangen. Das kleine 
Bild eines eng begrenzten Stulturfampfes hat Perſpektive; e8 ift das Werk eines 
ftarfen, männlichen Talentes. Im wiener Burgtheater, wo es zum eriten Mal auf- 
geführt wurde, foll der Direktor, Herr Schlenther, den Dichter gezwungen haben, 
auf den fromme Gemüter ärgernden Schluß zu verzichten. Das wäre ein echtes 
Schlentherſtückchen, würdig eines Deren, der, um verjorgt zu fein und ein ruhiges 
Yeben zu haben, die früher jo laut befannten Slaubensjäge in die Rumpelkammer 
verpadt hat. Mit dem Schluß verliert das Drama feinen tiefjten Sinn ; denn es ift 
die Tragoedie eines greifen Menjchentindes, das die abjterbenden Wurzeln ftöhnend 
vom alten Glauben löjt. Dan joll den Namen Anzengrubers nit unnüglich im 
Munde führen, Deren Schönherr nicht heute ſchon dem einzigen großen Dramatiker 
vergleichen, der jeit Debbels Tode im deutichen Spradhgebiet lebte. Noch fehlt dem 
jungen Tiroler die Größe und ‚sreiheit der Weltauffaffung, noch ſieht man jeinen 
Menſchen nicht jo tief ins Herz wie denen des Meifters Yudrwig und feinem Pathos 
hat der Humor ſich noch nicht gejellt. Aber er kann viel, er fühlt, wo in der Heuchel- 
kultur unſerer Tage die ſchmerzlichſten Konflikte zu finden find, und geftaltet fie mit 
dem Temperament eines in feiner Schule verfümmerten Dramatifers. Er ijt eine 
Hoffnung; und felix Austria mag fich freuen, da ihr nad) dem feinen Stadtherrn 
Arthur Scnitler nun diejer kräftige Bauerndichter geboren ward. 
* * 


* 

Im Deutſchen Theater iſt „Der Weg zum Licht“ aufgeführt worden; ein 
Märchendrama, das Herr Georg Hirſchfeld zu ſchreiben für nöthig hielt. Zum Licht 
führt der Weg Den, der ſündigen Trieben entſagt hat. Der Sündenbegriff iſt hier 
nicht zu entbehren; denn wir find in der Couliſſenwelt judendpriftlicher Borftellungen. 
Dahngikl, ein ſchwarzelbiſcher Zwerg, der im Allgemeinen jalzburgiichen Dialekt, im 
geſteigerter Stimmung aber hochdeutſche Verſe jpricht, iſt ein weithin geſchätzter 
Juwelier. Er macht köſtliche Geſchmeide und bat einen Geheimfonds aufgeſpeichert, 
der ihm die hübſchen Weiber kirren ſoll. Aber die Wildfrauenwollen von ihm nichts 
wiſſen, trotz den Ketten und Ringen und Armbändern aus Gold und Edelgeſtein; 
er iſt gar zu häßlich. In dieſem Wodansreich muß es ganz anders ausſehen als in 
der Menichemvelt; für ein paar Brillanten kann bei uns der garſtigſte Kommerzien— 
rat) appetitliches Fraueufleiſch kaufen, und wenn er ohne Knauſerei ins Zeug 
geht, ſchwören ihm jchöne Iheatermädchen vom erjten Fach, daß fie den Mann 


Theaternotizen. 171 


in ihm lieben. Herr Hahngikl hat es jchlechter und jehnt jich mit allen Sinnen 
doch nad) brünjtiger Wonne. Mama hat Mitleid mit ihm. Hier, jagt fie, iſt ein 
Tränflein, das Du der wunderjchönen fiechen Tochter des Vfalzgrafen bei Rhein 
eingeben follft, wenn fie vorher gelobt, den Heilfünjtler bräutlich zu umfangen. Der 
Zwerg madt ſich aufden Weg. Die Grafentochter wird gefund, doch der Ritter, dem 
fie fich zum Weib gab, überredet Hahngikl zur Nazarenerentfagung. Das geht jehr 
ſchnell. Aus dem Schwarzelb wird ein Lichtelb, aus dem verfrüppelten Zwerg ein 
ſchlanker Jüngling im weißen Engelhemdcen, den die Wildfrauen gern auf ihr 
Lager lodten. Jetzt aber, wo er die Liebe umſonſt haben könnte, ijt er gegen Anfech— 
tung gefeit... Das Stück ift fchnell entſchwunden; day es aufgeführt und zu Ende 
geipielt werden konnte, muß man im Gedächtniß bewahren. Nie ijt ein talentlojeres 
Machwerk auf eine große Bühne gefommen. Der Grundgedante eine läppiſche Tri- 
vialität; feine Spur einer Märdenftimmung; Feine auch nur in flaren Konturen 
gezeichnete Geftalt; nicht einmal ein Theatereffeft. Und die Berfe! Herr Hirſchfeld 
fühlt das Bedürfniß, ein Baterumfer zu dichten, und läßt fein Bfalzgrafenpaar ee. 

Unjer Bater Du im Himmel, 

‚sa, Dein Name jei gepriefen. 

Daß Dein Wille ſich auf Erden 

Wie im Himmel groß erwiejen. 

Daß Dein Neid) im Herzen währet, 

Sieb uns Brot, das ewig nähret! 

Sieb uns Gnade vor Gericht 

Und verjuch uns, Water, nicht! 
Ein begabter Quartaner würde es bejjer madıen. Es ift Schade um Herrn Dirichfeld. 
Jahr vor Jahr zeigt er, daß er nichts kann, nichts zu jagen hat und nur die eigene 
Familienmiſere mit leidlihem Gelingen zu jchildern vermochte. Nachgerade muß er 
jelbjt doc empfinden, daß es jo nicht weiter geht. Wielleicht dämmert ihm nad) der 
neuſten Niederlage im Schmeichlerkreis jegt die Erfenntnig. Der erjte Saß jeines 
Märhens war ein Zmwergenjeufzer: „Wer mühte ſich nicht umſunſt in feiner lieben 
Kunſt?“ Herr Dirichfeld jollte jic wirklich nicht länger umſunſt bemühen. 

* * 


* 

Vor ein paar Monaten, als Herr Coquelin zum erſten Mal nach Berlin kam 
und ein Fräulein Durand de la Comédie Frangaise mitbrachte, hieß es: Das alſo 
jind die Sterne der berühmten Comedie? Die glänzen ja nicht jo hell wie unjere 
Eouliffengeftirne. Fräulein Durand ift eine alternde Dame, die in Hauſe Molicres 
nie einen Rang hatte und jeit Jahren mit der Dilfe eines ihr befreundeten Millionärs 
die Frrauenzeitung La Fronde herausgiebt. Sie it weder als Spielerin noch als 
Journaliſtin der Rede werth: und daß jie hier in Rollen der Bartet aufzutreten wagte, 
beweiſt nur, wie gering der berliniſche Theatergeſchmackin Baris eingeichäßt wird. Die 
erfahrene Dame hatte, bevor fie ſich auf der Bühne zeigte, der Breije ein Champagner- 
frühſtück angerichtet und man muß es als eine rühmliche Leiſtung verzeichnen, daß ſie 
trogdem fänftiglich getadeltwurde. Immerhin wurde ihr dreiſter Verſuch nicht jo ſchroff 
abgelehnt, wie die Selbſtachtung einer Großſtadt es gefordert hätte. Jetzt ſpielen die 
Franzoſen im Neuen Theater Poſſen und wieder heit es: So gut können wirs and. 
Madame Cheirel vom Palais Noyal ſteht an der Spitze der Truppe, Eine routinirte 
Spielerin von robufter Yuftigkeit. Nein Menſch hält jie in Paris für einen star: 


172 Die Zukunft. 


und fie jpielt den Berlinernnod) dazu Rollen vor, die ſie in Barisniegefpielt hat. Bon 
den guten parijer Komikern iſt fein einziger mitgefonmmen. Wozu aljo der Jubel 
darüber, da unjere Mimen nicht noch Schlechteres leiften? Die Aufführungen, die 
Coquelin und Frau Cheirel uns boten, wären an der Scine nicht möglid. Da 
wird wirklich jehr gut geipielt, bei Antoine jogar befjer als inirgend einem Schauipiel« 
haus mit modernem Repertoire. Die Inſzenirungen find Torgfältiger und mit 
ſichererem Geſchmack vorbereitet, als wirs je gewöhnt waren. Paris ijt nod) immer 
die Stadt der feinjten Theaterkunſt. Was wir zu fehen befonmen, ijt jchlechte 
qualit& d’exportation, find zufammengewürfelte Truppen brotlojer Dijtrionen. 
Im Hoftheater treibt eine franzöfiiche Operngejellichaft ihr Unwejen. Die löb— 
lihe Generalintendanz fordert für diefe Aufführungen, die nad) allgemeinem 
Urtheil erbärmlic find, erhöhte Eintrittspreife und die Kritifer rufen wieder: Diefe 
Boritellungen find mit denen unſeres Opernhaujes nicht zu vergleichen. Ein Ver— 
gleich würde doch erſt möglich, wenn die Große oder die Komische Oper mit ihrem 
Enjemble aus Paris zu ung kämen. Wer die Meifterjinger, Sarmen mit der Calvé 
oder Charpentiers Louise — die der Herr Graf von Hochberg no immer nicht auf- 
geführt hat — drüben hörte und jah, weiß, daß dieje VBorftellungen die Konkurrenz 
von Barvenupolis nicht zu ſcheuen haben. Uns aber jervirt man die Rejte. Sogar 
Herr Paulus, dejfen Glanz in Paris längjt verblichen iſt, darf hier als roi des 
chansonniers vorgeführt werden und die Berliner halten den alten Tingeltangler 
am Ende wirklid) dafür. DerWerth einer Volkheit und einer Bolkskultur wird nicht 
durch ihre Theaterleiſtungen beftimmt und es ift feine Schande für Deutſchland, 
wenn gejagt wird, daß die Franzoſen befjere Komoedianten haben. Statt aber nad) 
unzulänglichen Broben über den Rhein zu brüllen, daß wir auch in diejer Induſtrie 
heute den Wettbewerb wagen können, follten die Wortführer deuticher Kultur die 
Nachbarn lieber daran erinnern, dag Mimen, die in Bordeaux und Marjeille nur 
eben geduldet würden, für Berlin denn doch nicht gut genug find. Auch die franzöfiichen 
Stüde werden häufig ganz faljch beurtheilt, weil man nicht nad) ihrer Herkunft fragt. 
In den Folies Dramatiques, einem Vorjtadttheater, das der ?zremde faum fennen 
lernt, wird von galliihen Spaßmachern die Poſſe Le billet de logement aufgeführt. 
Der Direktor Yautenburg läßt fie Schlecht und recht überjegen, die Cenſur tilgt die 
ſaftigſten Zoten, und als der entftellte ME unter dem Titel „Einquartirung” auf 
der Bühne des Nefidenztheaters erjcheint, runzeln weile Männer ob der Entartung 
des Vaudeville die Denkerſtirn. Dem einjt jo luftigen Genre geht es jeßt wirklid) 
Ihleht; immerhin follte man nicht vergeffen, dai die meijten Exemplare, die uns - 
gezeigt werden, von ganz fleinen Bühnen ftammen, von Bühnen im Nang unjeres 
Thalia», Metropol= und Herenfeld- Theaters. Der Amport joldier Waare ijt über- 
flüffig; jo werthvoll wie der Kleine Kohn und der Fall Blumentopf find aber jelbjt 
die Ichlechtejten parifer Schwänfe. Was würden wir jagen, wenn die Römer das 
ihnen zugedachte Werk des Herrn Eberlein als Beweis für den Tiefjtand deuticher 
Plaſtikerkunſt nähmen und dem Yande, dem Klinger lebt, höhniſch zuriefen: Das 
fönnen wir bejier? Genau jo ungerecht aber urtheilen wir, wenn wir uns höherer 
Bühnenkunſtkultur rühmen, weil uns fajt immer nur die albernjten Stüde und die 
ausgedienten Bretterhelden Yutetias vorgeführt werden. 


Herausgeber uad oerantmortlicer Nedal.cıı: M. Hardın ın Beriin, — Verlag der Zulunft in Berlın, 
Drud von Albert Dauce in Berlin⸗Schöneberg. 


Narr SR — — 


| OR —— 


* E + 
u — 
a 

2 wat 
Z —* re 
«ts — — 
N = 

% 

} 


% ei * 9 J 
bi j; ; hg 
KR) TR 





Berlin, den 5. Mai 1902. 


— 
vir 








Univerfität und Ratholizismus. 


EA ein philofophifch und hiftorifch gebildeter proteftantifcher Theologe 
wie Lisfo die Gründung des römischen Papftthumes bedauert, fo De: 
deutet Das einen Rüdjchritt, den ich bedaure.. Daß auf dem Boden der 
alten Kirche die Ueberwindung der auguftinifchen Auffaſſung der Weltgeichichte 
sicht möglich war, gehört zu den Dingen, die den großen Abfall nothwendig 
gemacht haben, der den Namen einer Kirchenreform nur in fehr beichränftem 
Sinne verdient, und es ijt ein unjterblicher Nuhmestitel der proteitantifchen 
Wiſſenſchaft, daß fie das Verſtändniß der Weltgefchichte erſchloſſen hat; ein 
Ruhmestitel der proteftantiichen Wifjenichaft, nicht etwa der Reformation, 
die nur Chriſtus und Belial ein chasse-croise vollziehen lieh. Nachdem 
Leſſing und Herder die lebendigen Kräfte der hiltoriichen Entwidelung aufs 
gededt hatten, haben Geichichtichreiber wie Johannes von Müller, Friedrich 
von Raumer, Heinrich Leo, die beiden Menzel, Gieiebrecht (auch Ranke darf 
man wegen der Einleitung zu feiner Deutjchen Geſchichte im Zeitalter der 
Neformation hierher rechnen) dem Mittelalter und dem Papſtthum gerecht 
zu werden und Beide als hijtorifche Nothwendigkeiten begreiflich zu machen 
verftanden; fogar die proteitantiiche Kirchengefchichtichreibung hat Das, wie 
Karl Hafe beweift, vermoct. Und populäre allgemeine Welrgeihichten haben, 
von der Beders bis zu der meuften von Spamer, die verminftige Auffaſſung 
zum Gemeingut der Gebildeten gemacht. Dürfte man die Rücklehr Yiskos 
auf den Standpunkt der Genturiatoren als die perfönliche Verirrung eines 
einzelnen, im Uebrigen verdienten Gelehrten anfehen, fo wäre darüber weiter 
kein Wort zu verlieren. Leider aber fcheint fie Symptom einer Maſſen— 


13 


174 Die Zutunft. 


bewegung zu jein. Bon anderen Eymptomen, die ich feit Jahren beobachtet 
habe, nenne ich nur zwei. Zunächſt, daß ein Philofoph von der Bedeutung 
Paulfens das werthlofe Buch von Hoensbroech, das die Skandalchronik des Papit= 
thumes für deffen Gefchichte ausgiebt, in der wiener „Zeit“ empfichlt. Und ein 
zreites, viel wichtigere Symptom war die von Mommfen in Fluß gebrachte 
Profefforenbewegung. Die hat ja nun der Herausgeber der „Zukunft“ ganz 
in meinem Sinne behandelt. Höchſtens würde ich nod) daran erinnert haben, 
daß kein proteftantifcher Profeflor an der ftatutenmäfigen Sonfefltonalität der 
Univerfitäten Noftod, Halle und Königsberg Anſtoß zu nehmen fcheint, und 
einige weitere Proben von VBorausjegungloligfeit beigefügt haben, zum Bei— 
fpiel die folgende. Die peſſimiſtiſche Weltauffaffung ift zweifellos wiſſen— 
Ihaftlich berechtigt. Sie wird manchem „VBorausfegunglofen“ durch die Er: 
fahrung aufgedrängt. Nun kann nicht Jeder gleich Schopenhauer die bittere 
Pille des Peſſimismus dadurch geniehbarer machen, daß er fie, in ein gutes 
Diner gehüllt, Hinunterfchludt; und die Umftülpung des eudämoniftifchen 
Peſſimismus in den evolutioniftifchen Optimismus bei Hartmann ift weiter 
nicht8 als eine verblümte Verleugnung des Peſſimismus, alſo für den echten 
Peſſimiſten gar nicht vorhanden. Die unabweisbare Konfequenz des Peſſi— 
mismus hat jüngft ein Mann gezogen (ihn nennen, hieße, eine Denunziation 
verüben), der lehrt: fittlich böfe ijt jede Zeugung und jede Handlung, die 
zur Zeugung führt, fittlich gut ift Alles, was der Zeugung vorbeugt, Alles, 
was Leben vernichtet und die Entftchung neuen Lebens verhindert. Wenn 
diefer Mann fih habilitiren will und die Negirung ihm felbjtverjtändlich den 
Zutritt zum Lehrftuhl verfchlieft: werden da die Profejjoren entrüftet pro— 
teftiren? Harden erwähnt in feinen Professores Julius Wolf und Rein— 
ho!d im Gegenfag zu Sombart, Schmoller und Wagner. Das follte Einen, 
der das Material beifammen hätte, zu einer umfaflenden hijtorifchen Arbeit 
veranlaften. Seit beinahe zchn Jahren wird von fehr einflußreihen Leuten 
im Reichs- und Yandtag und im der Preffe gegen die „SKathederjozialiften“ 
gehegt. Zwar ift ſchon der Name eine Lüge, denn Seiner der Männer, die 
man meint, it Sozialiſt; und Brentano, Echulze-Gaevernig, Wagner, 
Schmoller, Sombart vertreten fo verfchiedene Nichtungen, daß es einfach 
Unſinn ift, fie mit einer gemeinfamen Bezeihnung zufammenzufoppeln; aber 
Jeder von ihnen hat irgend einmal irgend Etwas gefagt, was irgend einem 
Unternehmer nicht paßte, und die Regirung ift feit Jahren Öffentlich gedrängt 
worden, die fogenannten Stathederfozialiften durch Männer zu erjegen, die 
jich bereit finden würden, eine dem augenblidlihen Intereſſe einer kleinen 
Unterncehmergruppe dienende Nationalöfonomie und Sozialwiſſenſchaft vorzu— 
tragen. Haben Das die Profefforen nicht als einen Angriff auf die Freiheit 
der Wiljenfchaft empfunden? Es fcheint nicht; in der Deffentlichkeit wenigftens 
hat man nichts davon gefpürt. - 


Univerfität und Katholizismus. 175 


Das Klüngelwejen der Univerfitäten ijt feit Jahren jo oft von un- 
glüdlichen Privatdozenten bejammert und in der Deffentlyhkeit verfpottet 
worden, daß die Herren Ordinarii eigentlich einen Ausbruch allgemeiner, Heiter: 
feit befürchten mußten, wenn fie als die Nitter der Vorausfegunglofigkeit in 
die Arena herabjtiegen. Aber freilih: in dieſem Fall waren fie ziemlich 
fiher vor Spott; wenn die Freiheit der Wiffenfchaft fo viel bedeutet wie den 
Ausschluß der Katholifen von akademischen Aemtern, dann jubelt die liberale 
Prefie Jedem zu, der fie auf feine Fahne jchreibt, und auch die konſer— 
vative legt vorfichtig ein gutes Wort für die Freiheit ein. Am Liebſten 
möchte man die Katholiken nicht blo8 von den Univerfitäten, fondern aus 
der ganzen Gelchrtenrepublif ausſchließen. Als ich vor einem Vierteljahr: 
hundert einmal im altfatholifchen Deutjchen Merkur fagte, katholiſche Ge: 
fehrte fänden nur, fo weit und fo lange jie jih al3 Sturmböde gegen Rom 
gebrauchen ließen, bei der proteftantifchen Gelehrtenwelt Anerkennung, ihre 
pofitiven Zeiftungen aber ignorire man, da rief mein Freund Mar Loßen, der 
das gelehrte Zunftwefen genauer fannte als ich: Das war gut! Das mußte 
endlich einmal gejagt werden! Der Rüdfall der proteitantischen Gelehrten- 
welt in die Parteilichfeit, die mit Hilfe der Philofophie und des hiſtoriſchen 
Duellenftudiums3 fchon überwunden war, hat mancherlei Urſachen, von denen 
nur drei angedeutet werden follen. Segel hat die Objektivität zwar gefördert, 
aber ihr eine Falle geftellt, indem er jede große hiſtoriſche Erjcheinung nur 
für einen beftimmten Zeitabſchnitt vernünftig fein läßt, dann aber fordert, 
daß fie in ihrer Nachfolgerin aufgehoben werde. In Wirklichkeit verläuft die 
Entwidelung weder in der Natur noch in der Gefchichte jo, daß immer Eins 
das Andere verdrängte, fondern das Neue ftellt ſich neben das fortbeitchende 
Alte, aus dem es geboren ift, und gerade in der wachjenden Mannichfaltigs 
feit und Fülle, die fo entjteht, hat man den Fortfchritt zu Juchen, wenn es 
denn durchaus einen geben fol. Aber die hegeliich gerichteten Geiſter er: 
warteten, dat das Mittelalter, dem man fein Necht gegönnt hatte, ſich nun 
begraben laſſen werde, und wurden tief verftimmt durd feine Auferjtehung 
in der Romantit. Und die Auferftandenen beeilten fich, den proteitantijchen 
Unwillen zu rechtfertigen, indem fie beim vernünftigen Statholizismus der 
Sailer, Hirfcher und Möhler nicht ftchen blieben, fondern zur Vigotterie, 
zum graffeften Aberglauben, zum Fanatismus, zur mittelalterlichen Philo— 
fophie fort oder vielmehr zurüdjchritten und die Stataftrophe von 1870 her— 
beiführten, die dem vernünftigen Katholizismus in Deutſchland vorläufig 
mundtot machte. Diefe verderbliche Rıchtung des Neufatholizismus zu bes 
fämpfen, war die proteftantifche Gelchrtenwelt fogar verpflichtet; aber für 
einen Siegespreis von zweifelhaften Werth ihre koſtbarſte Errungenjcait, 
die objektive Auffaffung der Weltgefchichte, preiszugeben: Das war nicht Flug. 


13* 


176 Die Zukunft. 


Damit taufchte man für den zweifelhaften Sieg einen unzweifelhaften Ver: 
luſt ein, denn jene Auffaffung der Weltgefchichte preisgeben, heit, die fchon 
geichlagene Brüde zur BVerftändigung zwifchen den Konfeſſionen abbrechen, 
die das Element der Schwächung Deutfchlands in ein Element der Krait 
verwandeln würde; eine Vielheit der Konfeflionen ift an fih ja geiftiger 
Reichthum und daher eine Sraftquelle. Und indem man die Katholiken von 
den Univerfitäten ausfchlieft, verfperrt man ihmen die einzigen Orte, an 
denen ich die Verftändigung vollziehen kann und an denen jie ſich vor fünfzig 
Jahren ſchon bis zu einem gewiflen Grade vollzogen hatte. 

Dei diefer Ausfhliefnng wirkt nun freilich ein ſehr ſtarker Beweg— 
grund mit, der aus einer dem wifjenfchaftlichen Intereſſe ganz fern liegenden 
Gegend ftammt. In meinen Lebenserinnerungen habe ich berichtet, wie 
unbequem den Proteftanten vor fünfzig Jahren die damals entftehende 
Emanzipation der Katholifen geworben ift; denn als folche darf man bie 
Bewegung bezeichnen, die gegen den grundjäglichen und thatfächlichen Aus: 
ihluß der SKatholifen von Staats: und Gemeindeämtern gerichtet war. 
„Selbitverftändlih“, fage ich dort, „waren die Proteftanten von biefer neuen 
Erfheinung nicht weniger al3 erbaut. Aucd bei ihnen handelte es fich 
feineswegs blos um das lautere Evangelium oder auch nur um die Auf: 
Märung, fondern um die Behauptung der errungenen geiftigen und fozialen 
Uebermadht und um das Aemtermonopol. Gewiß hat ji) Das feine der 
beiden Parteien eingejtanden (Das wäre mit Beziehung auf die heutige 
Univerlitätfrage ins Präfens zu überjegen); fie lämpften aufrichtig eine jede 
für Das, was fie die Wahrheit nannte, aber unbewußt wirken jene ſozialen, 
politiichen und materiellen Nüdjichten fehr kräftig mit in den Kämpfen um 
religiöfe wie um weltliche Grundfäge und Ideen. Ueber ein paar Somvertiten 
freut ſich natürlich jede Kirchengemeinſchaft; aber wenn ſich eines fchönen 
Tages ſämmtliche deutichen Katholiken zum Eintritt in die evangelische 
Landeskirche Preußens meldeten, jo würden ſich die Proteftanten nicht weniger 
unangenehm überrafcht fühlen als etwa die franzölifchen Republikaner durch 
die Bekehrung ſämmtlicher Monarchiſten zum Republifanismus, die fie zwingen 
würde, mit der allen Franzoſen offen ftehenden Republik (fo lautete vor ſechs 
Jahren die herrfchende Phraſe) Ernſt zu machen, indem fie ihnen den haupt: 
jählichiten Vorwand zur Beichränfung der Konkurrenz um die höheren 
Staatsämter raubte.“ 

Die grundjäglichen Bedenken gegen die Zulaffung von Katholiten zu 
den afademischen Lehritühlen hat Harden jchlagend widerlegt. Weil aber 
diefe Bedenken, namentlich ſeit 1870, nicht ganz unbegründet find, iſt es 
nothiwendig, genau anzugeben, wie weit in diefem Gebiete die Gleichberechtigung 
der Katholiken geht und wie weit ihre wiffenichaftliche Freiheit wirklich durch 


Univerfität und Katholizismus. 177 


ihren Glauben eingefchränft wird. In den Naturmwiffenfchaften find Kollifionen 
zwifhen Glauben und Wiſſenſchaft gar nicht möglich. Die Verfolgung 
Galileis ift von den Vertretern der aritotelifchen Philoſophie ausgegangen 
und diefe kann nicht mehr lebendig werden, aljo auch die Kirche nicht mehr 
beherrfchen. In dem Kampf zwifchen den gläubigen Chriften und einigen 
Bertretern der Naturwiflenfchaften handelt e8 ſich nicht um Phyſik, Chemie, 
Phyiiologie, Aftronomie oder irgend eine erafte Willenfchaft, fondern um 
Hppothejen, und zwar um folche zweiter und dritter Ordnung. Die Atom— 
lehre nenne ich eine Hypotheſe erfter Ordnung, weil fie unentbehrlich und 
ihre Zuverläffigfeit durd das Ergeriment erwiefen if. Und nur fo weit, 
wie das Erperiment reicht, reicht die erafte Wiffenfchaft; die Atomlehre bleibt 
Hypotheſe und fann niemals felbft exakte Wiffenfchaft werden. Vom erfenntnif= 
theoretifchen Standpunft aus gehört das Atom in die felbe Kategorie der 
unwahrnehmbaren, unvorftellbaren und unerfennbaren Dinge, der auch Gott 
angehört. Die biologifchen Hypothefen aber find Hypothefen zweiter Ordnung, 
weil ihre Verwendbarkeit zur Erklärung der Erfcheinungen noch nicht durch 
das Erperiment nachgewiefen if. Sie in ihrer jegigen Form anzunehmen, 
verbietet die erafte Wiſſenſchaft, denn auf Grund von Thatſachen haben viele 
religiöß gar nicht voreingenommene Forfcher gegen fie proteftirt, von Karl 
Ernjt von Baer, dem Begründer der Embryologie, anzufangen bis auf die 
Zoologen und Botaniker Eimer, Driefh und Reinke. Nur gegen die Geftalt 
haben jie proteftirt, die Darwin, Hacdel und Weismann der -Entwidelung: 
Lehre gegeben haben; dieſe jelbit ift fo alt wie die Philoſophie und als den 
Regulator de3 Entwidelungprozefles haben ſchon Empedofles und Epikur 
die Auslefe durch das Ueberleben des am Beiten Augepaßten erfannt. Noch 
weiter von der exakten Wiflenfchaft entfernt und daher als Hypotheſe dritter 
Ordnung zu bezeichnen ift die Anjicht, daß der Prozeß ohne eine leitende 
Intelligenz verlaufe. Dieſe Anjicht hat Niemand entichtedener zurückgewieſen 
al3 Hartmannn, der jcharfjinnigfte aller Denker, die nach Kant gelebt haben. 
Wenn alfo die fatholifchen Gelehrten diefe Hypotheſen ablchnen, fo ift Das 
fein Grund, fie von den Lehrjtühlen der Biologie auszuſchließen. Ob jie 
fie aus religiöfen Gründen ablehnen? Danach zu fragen, hat man fein 
Recht, weil die wiflenfchaftlihen Gegengründe zur Ablehnung hinreichen. 
Wie der Kirchenglaube das Studium der Philologie beeinträchtigen fol, ift 
nicht einzufehen. Das Selbe gilt von allen Staatswiſſenſchaften; wie follte 
die Finanzwiſſenſchaft, die Statiftif, die Nationalöfononte mit einem Dogma 
follidiren können? Wenn ein gläubiger Chriſt aus Religioſität fich weigert, 
die Selbſtſucht als die einzige wirthichaftliche Tugend, das Hecht des Stärkeren 
und die Berechtigung der Staatsallmacht anzuerkennen, jo ijt er theoretiſch 
nicht zu widerlegen und dient praftijch dev Freiheit. Dan unjere Rechts— 


178 Die Zuhmft. 


pflege von ihrer Schönheit Etwas einbüßen könnte, wenn fi Katholiken in 
ftärferenı Maße an der Rechtswiſſenſchaft beteiligten, glaubt doch wohl Niemand. 
Mas die Philofophie betrifft, fo läßt man ja wohl jeden Kandidaten durch— 
fallen, ber die vorhandenen Syfteme nicht richtig darzuftellen vermag; ein 
eigene Syſtem zu erfinden, ift zum Glüd fein Ordinarius verpflichtet, 
und daß der katholiſche Philofoph alle Syfteme widerlegt, kann darum nicht 
ſchaden, weil ohnehin jeder Philofoph alle feine Vorgänger widerlegt. Die 
Logik ift der einzige exakte Theil der Philofophie, — und die ift gerade bie 
ftarfe Seite der jcholaftifchen und der jefuitifchen Philofophie. In der 
Piyhologie freilicd, ift vom Erbfündendogma ein ungünftiger Einfluß zu 
befürchten, aber Das gilt den Lutheranern gegenüber erft recht; fogar Sant 
hat ein radifal Böſes angenommen. 

Ernftlihe Schwierigkeiten ergeben fih nur auf zwei Gebieten. Eine 
Brofeffur der neueren deutichen Literatur follte man einem Satholifen nicht 
einräumen, denn der Gefahr darf man deutjche Fünglinge nicht ausfegen, 
daß ihnen von unferen Großen Zerrbilder gezeigt werden, wie fie der Pater 
Baumgarten 8. J. gemalt hat. Und die Univerfalgefchicdhte vorzutragen, 
ift ein gläubiger Katholif nicht fähig; er fann aus dem Rahmen der Civitas 
Dei und der Civitas diaboli, in den Auguftinus den Weltlauf eingefperrt 
hat, nicht heraus. Dagegen find katholische Dozenten der Partikulargeſchichten 
zur Ergänzung und Berichtigung einfeitig proteftantifcher Darjtellungen nicht 
allein für die Fatholifchen Studenten, jondern auch für die proteltantischen 
geradezu nothwendig. Es ift eben nicht wahr, dar die reine unbefangene 
Wahrheitliebe (Vorausjegunglofigfeit iſt Unſinn) in der proteftantijchen Ge— 
ſchichtwiſſenſchaft allgemein herrfche; e8 giebt, um nur Eins anzuführen und 
von der gefährlichen Neformationgefchichte ganz zu ſchweigen, Eleindeutjche 
Geſchichtbaumeiſter und Hofhiftoriographen. Daß Solden, zu denen übrigens 
fomifcher Weife auch Spahn zu gehören jcheint, Katholische Hiftorifer groß— 
deuticher Richtung an die Seite treten, muß im ntereffe der unparteiifchen 
Wiſſenſchaft dringend gewünfcht werden. Hier wird der Konfeſſionalismus 
und Antiborufiianismus Pflicht, denn die zwei einfeitigen Bilder, die von 
den beiden Parteien gemalt werden, geben erſt zufammen das richtige Bild. 
Und wenn die Negirung den Klüngel, der feine Katholiken hineinläßt, durch— 
bricht, jo erfüllt fie nicht allein die Pflicht der Gerechtigkeit gegen ihre 
fatholischen Unterthanen, fondern dient auch der Freiheit der Wiflenjchaft. 
Wie in der Politik, fo wird aud in der Wiſſenſchaft die Freiheit niemals 
verbürgt durch die Parteien, die den fchönen Namen des Himmelsbildes zu 
ihrem PBarteinamen wählen, fondern nur dur eine Vielheit der Parteien, 
die es jeder einzelnen unmöglich macht, die übrigen zu unterdrüden. Wenn 
in Straßburg unter fiebenzig Profefforen nur vier Fatholifche find, ſo kann 


Univerfität und Katholizismus 179 


Das nicht von der katholifchen Inferiorität kommen; fo arg ift die wirklich 
nicht. In Breslau find eine geraume Zeit hindurch Jahr für Jahr die 
Preisaufgaben der evangelischen theologischen Fakultät von katholifchen Theologen 
gelöft und die Bearbeiter des Preifes würdig gefunden worden. Sofern die 
Inferiorität in dem geringeren Prozentfag der Studirenden befteht, rührt fie 
daher, daß die Katholiken durchſchnittlich ärmer find als die Proteftanten 
(während die Juden reicher und daher an den höheren Lehranitalten mit dem 
höchſten Prozentſatz vertreten find); daneben aber ift gerade die geringe Ausficht, 
die fie im Staatsdienft hatten — jetzt fcheint es ja damit befjer zu werden —, 
daran ſchuld. Wenn wenige Juden Philologie ftudiren, fo beweiſt Das doch 
nicht, daß die Juden Fein Talent für Sprachen hätten, fondern ift nur Folge 
de3 Umftandes, dar fie feine Ausficht haben, an Gymnaſien angeftellt zu 
werden. Damit will ich nicht leugnen, daß die zur Herrichaft gelangte 
ultramontane Richtung und die wachjende geiftige Abjperrung den deutjchen 
Katholiten eine Menge Bildungquellen verfchlofjen, ihren Geſichtskreis verengt 
und dadurch wirllich eine gewiſſe Inferiorität verfchuldet haben. 

Im „Vorwärt3* wurde vor ein paar Monaten gegen ben Inder ges 
wüthet und dabei gefagt: „In einer Zeit, da man im Volke der Dichter 
und Denker jich anfchiet, dem Centrum, der vegirenden Partei, zu Liebe die 
Univerjitäten zu Elerifalifiren, ift e8 ganz nüglih, daran zu erinnern, wie 
die fatholifche Kirche das Necht der Geiitesfreiheit handhabt.“ Die Klerilali— 
firung der Univerfitäten ift ein Unſinn, über den man achjelzudend hinweg: 
fieht. Was jedoch das Inſtitut des Inder anbetrifft, jo find ja die römiſchen 
Monfignori zur Beurtheilung deutfcher Geiftesprodufte ungefähr fo befähigt 
wie berliner Schugmänner zur Cenſur von Werfen der bildenden und der 
redenden Sünfte; aber gegen das Inſtitut felbft ift nichts einzuwenden. Es 
geht aus dem Triebe der Selbiterhaltung hervor, der jedem Gejellichaft: 
organismus innewohnt. Evangelifche Pfarrer pflegen ihren Konfirmanden 
nicht die Lecture von Möhlers Symbolik oder Döllinger8 Reformationgefchichte 
zu empfehlen und die Sozialdemokraten legen in ihren Bereinshäufern wahr: 
fcheinlich weder die Kölnische Volkszeitung noch den Neichsboten aus. Die 
päpftliche Inderfongregation thut ganz das Selbe, was der preußiſche Staat 
thut, wenn er den deutichen Boccaccio verbietet und alle Schriften, die geeignet 
find, in der Maſſe Zweifel an der Vortrefflichkeit der preußischen Negirung 
und der preufijchen Staat3einrihtungen zu erregen. Nur ein Unterfchied 
beiteht: der preußifche Staat kann feine Verbote in einem gewiſſen Maße 
durchführen; er vernichtet alle verbotenen Drudichriften, deren er habhaft 
wird, und hält von feinen Kaſernen jogar viele nicht verbotene fern; die 
Inderkongregation dagegen hat feine Exefutivgewalt. Eben deshalb kann jie 
fi) das Vergnügen geftatten, Alles und Jedes auf den under zu fegen, weil 


180 Die Zuhinft. 


ſie weiß, daß ihr Verbot praftifch werthlos und ein rein akademifcher Akt 
ift, dejlen beliebige Ausdehnung ihr nicht fchadet. Die Cenfur des Staates 
dagegen ift wirkſam und daher muß fe fi innerhalb der Grenzen halten, 
in denen fie durchgefegt werden kann. Die Regirung würde fehr gern die 
Hälfte aller modernen Romane, alle jozialdemofratifchen und etliche Fatholijche 
Zeitungen nebft vielen jozialiftifchen Büchern verbieten, einfchlieklich derer 
von Fichte, für den der Herr Reichsfanzler ohne jegliche Gefahr öffentlich 
Ihwärmen darf, weil er weiß, daß fein Menſch mehr den alten Johann 
Gottlieb lieſt. Aber ſolche Herzenswünſche müffen unbefriedigt bleiben, weil 
die Regirung zu einer jo durchgreifenden Reinigung der Vorrathslammern 
de3 Nutrimentum spiritus die Macht nicht hat, jo dat fie jich durch einen 
Inder vom Umfange des römifchen blamiren würde. Wenn man fagt, dem 
Papft erjegten Kanzel und Beichtituhl die Erekutivgewalt, fo fennt man bie 
wirklichen Zuftände nicht. Die Geiftlichen donnern wohl zumeilen gegen 
die Schlechte Preffe und warnen davor; aber daß ein Beichtvater fragte, ob 
der Pönitent Kant oder Hegel oder Rouſſeau gelefen habe, dürfte ſchwerlich 
vorfommen. Mic hat nie ein Beichtvater danad gefragt und ich habe nie 
an einen Pönitenten ſolche Fragen gerichtet. Gleich nachdem ich meine erite 
Kaplanſtelle bezogen hatte, habe ich um Dispens vom Inderverbot gebeten, 
fie umgehend in einem freundlichen Brivatichreiben des bifchöflichen Offizials 
erhalten und von diefer Stunde an Alles gelefen, was ich zu lefen Luft hatte. 
Das Fatholifche Volk würde vom Juder gar nichts willen ohne die proteſtan— 
tiſche und altfatholifche Polemik dagegen. Für den Univerfitätlehrer verficht 
jich) der Dispens von jelbit; das Inderverbot eriftirt gar nicht für ihn. Er 
belommt den Inder nicht offiziell zugeſchickt und ift gar nicht verpflichtet, zu 
willen, welche Bücher darin stehen. Erfährt er es zufällig, fo fann er ja 
in einen Gewiſſenskonflikt gerathen, — wenn er nämlich die Anfichten eines ver- 
pönten Autors theilt. Sichtbar werden wird der Konflikt nur in den aller- 
jelteniten Fällen, denn dazu gehören zwei Bedingungen: der Manı muß die 
verpönte Anficht öffentlich vertreten haben und er muß Priefter fein, was 
außerhalb der theologischen Fakultät fait niemals der Fall ift. Ein Gewifjens: 
konflift ift ja nun freilich ſchlimm genug, — für Den, der hineingeräth; aber 
für die Freiheit der Wiſſenſchaft ind die Gewiſſenskonflikte weit verhängnif- 
voller, in die eine der Staatsregirung mißfällige Ueberzeugung verwidelt. 
Was der Leberzengungtreue in einem folchen Falle zu thun hat, ift klar 
und Harden hat es am Schluß feines Artifel3 ausgefprocen; die Freiheit 
it eben eine Göttin, die gleich den Göttern Epifurs in feinem Kosmos, 
fondern nur in den Intermundien Raum findet; ins Praftifche überfegt: 
wer frei fein will, muß auf jedes Amt, auf jedes fichere Brot verzichten. 
Neiſſe. Karl Jentſch. 


Milchkrieg. 181 


Milchkrieg. 


I" Jahrzehnt 1870 bis 1880 betrug der den märfifchen Milchproduzenten 
vom berliner Mithhandel gezahlte Preis fünfzehn bis fechzehn Pfennige 
für das Liter frei Berlin. Mit diefem Preis konnte der Produzent gut aus- 
fommen, fo gut, daß noch fein ernftlicher Widerjtand erwuchs, al3 die ver: 
bündeten Händler begannen, den Preis um einen Pfennig, dann um zwei 
Pfennige herabzudrüden. Aber der Handel blieb dabei nicht ftehen, fondern 
ermäßigte, je nad den Konjunfturen und YFutterernten mehr oder weniger 
gierig, bei neuen Abjchlüffen den Preis immer wieder um einen Viertel-, 
halben oder ganzen Pfennig, bis fo im Jahre 1899 der Tiefitand von elf 
Pfennigen frei Berlin erreicht war. Daß inzwifchen die Koften der Milche 
produftion durch Steigerung der Futtermittelpreife und der Löhne jich erheb- 
lich erhöht Hatten, ift befannt. Zum Vergleich fei hier nur bemerft, daß die 
Produzenten, um einen ähnlichen Bortheil zu haben, wie ihn der Preis von 
fünfzehn Pfennigen vor zwanzig Jahren übrig lie, heute etwa fiebenzehn 
Piennige dafür einnehmen müßten. 

Der berliner Konfument hat aus der vom Händlertfum bewirkten 
Preisfenfung einen Vortheil nicht gezogen. Zum Beweis dafür fann an die 
Wiſſenſchaft der berliner Hausfrauen appellirt werden: fie haben in den legten 
Jahren genau fo, je nad) der Stadtgegend, 18 bis 20 Pfennige für das Liter 
Milch bezahlt wie vor zwanzig Jahren ſchon. Aber fie jind bei dieſem gleich 
hohen Preije vielfach noch infofern übervoriheilt worden, als ein großer Theil 
der Milhhändfer zulegt nicht mehr Vollmilch, fondern nur Halbnıild) lieferte, 
Das heißt: Milch, die dur Zuſatz entiprechender Diengen entrahmter Milch 
(Magermilch) jo weit „verlängert“ worden war, daß der Feltgehalt, der bei 
unverfäljchter Milch zwifchen 2,7 und etwa 3,5 ſchwankt, bis auf 2 Pro— 
zent herabgedrüdt war. So fonnte ein Händler, der Bollmild mit 3,5 Fett 
für elf Pfennige vom Bauern faufte, durch Zufag eines Drittel Magermild,- 
die fünf Pfennige koftet, jich eine Milch herſtellen, die noch reichlich 2 Prozent. 
Bett hatte, aljo als Vollmilch für 18 bis 20 Pfennige untergefchoben werden. 
fonnte, ihn aber im Folge jener Manipulation nur etwa neun Pfennige 
foftete. Die Milcheentrale hat im vorigen Sommer in 1800 berliner Milch: 
geihäften 3660 Milchproben angelauft, von denen ſich bei der Unterfuchung 
duch die gerichtlichen Sachverſtändigen 2912 Proben als in der eben ge 
ihilderten Weife verfäljcht erwieſen haben. Tie Händler haben, als die 
Milchcentrale diefe Thatſache veröffentlichte, furchtbar gelärmt und gedroht, 
den Leiter der Eentrale ob folder Verleumdung vor den Etaatsanwalt zu 
bringen. Aber obwohl die Voſſiſche Zeitung inzwischen fehr oft an diefe 
Strafanträge fogar unter der Androhung erinnert hat, fie werde, wenn fie 

14 


182 Die Zuhmft, 


aun nicht bald geftellt würden, fchlierlich felbjt an die Wahrheit der Gejchichte 
glauben, ift Herrn Ring: Düppel bisher leider die Gelegenheit noch nicht ge= 
boten worden, dent Kadi fein Entlajtungmaterial unterbreiten zu dürfen. 

Der im Jahr 1899 erreichte Preistiefitand veranlafte endlich die 
märfifchen Milhbauern, unter der Führung des Herrn Wing (der in feiner 
Wirthſchaft feine Milch produziert) zu der „Milchcentrafe“ zufammenzus 
treten, einer Genoſſenſchaft mit befchränfter Haftpflicht, deren alleiniger Zwed 
ift, den märkiſchen Milchproduzenten für unverfälichte VBollmilh von num 
an einen Preis von 131/, Pfennigen frei Berlin zu ſichern. Diefer Preis 
bringt feinen Gewinn, fondern dedt nur gerade die Selbitfoften. Ich fünnte 
mich für diefe Behauptung auf detaillirte Nachmweife berufen, die der Pro: 
feffior Howard aus den genau geführten Büchern von 63 Gütern hierüber 
veröffentlicht hat, Aber ich muß gewärtigen, daß ein „agrariſcher“ Profeflor 
bei einigen Leſern ſelbſt der „Zukunft“ als nicht ganz vollgiltiger Zeuge 
angefehen werden möchte. Darum lieber drei aud für folhe Richter gewiß 
einwandfreie Zeugen: Magiftrat und Stadtverordniete hieliger Föniglichen 
Haupt: und Reiidenzitadt, den verftorbenen Bankdireftor von Siemens umd 
die Nationalzeitung. 

1. Magiftrat und Stadtverordnete von Berlin beichloffen vor fünf 
Zahren: AngejichtS der ungeheuren, auf Hunderttaufende ſich belaufenden 
Berlufte, die bei den in Berlin geltenden Milchpreifen in der Milchwirth- 
ſchaft der ſtädtiſchen Riefelgüter trog rationellſtem Moltereibetrieb unver- 
meidbar entjtehen, wird der Betrieb der Milhwirthichaft gänzlich eingeftellt. 

In Parenthefe: die Milhhändler haben jih, um den „Mildring* zu 
brechen, neufih an die Stadtverwaltung mit der Bitte gewandt, auf den 
berliner Riefelgütern die Milchwirthichaft wieder einzuführen. Zur diefer 
Petition jagt die Voſſiſche Zeitung: „In der Stadtverordnnetenverfammlung 
wird diefe Eingabe die wärmfte Befürwortung finden. Es ift ja aud ein 
Unding fchier fondergleihen, daß die Verwaltung der Stadt Berlin durch 
den Verkauf des Riefelgrafes der Milcheentrale die Mittel zu dem Verſuch 
bietet, da8 Volk Berlins in der Mildfrage auf die Knie zu bringen. Die 
Milchwirthſchaft mag rechnerisch der Stadtverwaltung nicht zufagen, allein 
fie hat zu bedenken, daß die Verfechtung prinzipieller Punkte feine kauf: 
männiſchen Betrachtungen zuläßt.“ Iſt Das nicht allerliebſt? Die Ver: 
waltung der vor den Thoren Berlins gelegenen ftädtifchen Güter kann bei 
den beitehenden Milchpreifen ohne große Verluſte nicht produziren, obgleich 
gerade diefe Güter wegen ihrer Rage dicht neben dem Hauptmarft und wegen 
ihres Futterreichthumes für die Milhwirthichaft prädeftinirt find. Die Stadt 
foll aber aus ihrem großen Steucrfad einen Verluſt von Hunderttaufenden 
bezahlen, nur, um die Bauern zu zwingen, eine notoriſch- Verluſt bringente 
Produktion zu Gunſten der berliner Händler aufrecht zu erhalten. 


Milchkrieg. 1383 


2. Herr Dr. Georg von Siemens veröffentlichte bei Beginn des 
„Milchkrieges“ die Erklärung: die Buchführung ſeiner märkiſchen Wirth— 
ſchaften beweiſe, daß man bei beſteingerichtetem Betriebe nicht im Stande 
ſei, die Milch billiger als für 131/, Pfennige nad) Berlin zu liefern. Jeder 
geringere Preis bringe Verluſt. Die von der Milcheentrale beanfpruchte 
Theilung: zwei Drittel (131/, Pfennig) dem Bauern, ein Drittel (61/, 
Pfennig) dem Händler jei eine „faire Iheilung“. 

3. Eine inhaltlich gleiche Erklärung veröffentlichte zur felben Zeit der 
befannte, gut liberale Baurath Böckmann in der Nationalzeitung. Er wies 
aus den Büchern feiner eigenen Wirthichaften und aus denen befreundeter 
Landwirthe nach, daß die Differenz zwifchen dem befiehenden berliner Milchpreis 
von elf Piennigen und der nun von den Bauern erhobenen Forderung von 
131/, Pfennig genau dem Berlujtbetrage entipreche, der auf den erwähnten 
Gütern bei der Milchproduftion entitanden ift. 

Sch glaube, dieſe Zeugniffe für das gute Recht der märfifchen Bauern 
werden auch liberalen Leſern genügen. Vielleicht ftimmen fie fogar darin 
mit mir überein, daß es kaum al3 „fair“ zu betrachten ift, wenn der Händler 
ein volles Drittel für eire Mühewaltung einftreichen fol, die ſich darauf 
bejchränkt, morgens die Milch am Bahnhof in Empfang zu nehmen und 
fie innerhalb einiger Stunden an die Konſumenten zu vertheilen, während 
der Produzent ein volles Jahr brauchte, um den mit der erſten Pflugfurche 
und der Düngerfuhre fürs Zutterland beginnenden Produftionprozeh zu 
Ende zu führen. 

Die märfifchen Bauern hatten von Anfang an nicht und haben aud) 
heute noch nicht die Ablicht, den berliner Milchhandel überhaupt auszuschalten. 
Die anders lautende Darftellung der Händler iſt bewußte Ummwahrheit. Die 
Händler hatten ihre Jahre lang fortgefegte Preisdrüderei ftetS mit der „Milch: 
ſchwemme“ begründet. Im Frühjahr, wenn die Kalbezeit vorüber und das 
erſte kräftige Grünfutter da iſt, fteigt die Milchproduktion — vorübergehend — 
erheblich über den normalen Frifchmilhverbraudh Berlins. Die Kontrafte 
lauteten dahin: daR die Händler auch diefe überjchüfjige Produktion abzu— 
nehmen haben, die jie natürlich nur unter Berluft (durch VBerbuttern u. ſ. w.) 
unterbringen fonnten. Hierauf fußend, drüdten fie den gefanımten Jahres— 
durchſchnittspreis in der gejchilderten Weife herab. Bei Sachfennern beftand 
fein Zweifel darüber, dag diefer Verluſt, für den ganzen Jahresdurchſchnitt 
berechnet, nur Bruchtheile eines Pfennigs betragen könne, nicht aber fo viele 
ganze Pfennige, wie die Händler mit Berufung darauf im Laufe der Jahre 
vom reife abgebrödelt hatten. Der einzelne Produzent war aber gegen- 
über dieſem Gebahren machtlos; er kann nicht die zeitweiligen Produftions 
überjchüffe zurüdbehalten und zu Haufe verwerthen. Das erjte und zunädjt 


14* 


un 


154 Die Zukunft. 


einzige Ziel der im der Centrale geichaffenen Organiſation der Produ— 
zenten war: ben berliner Händlern anzubieten, die Milchſchwemme dadurd 
außer Wirkung zu fegen, daß die Centrale jich verpflichtet, fämmtliche im 
Friſchmilchkonſum nicht verbrauchte Milch wieder von den Händlern zurück— 
zunehmen und für gemeinschaftliche Rechnung der Bauern in einer berliner 
Meierei zu verbuttern. So war den Händlern der einzige Grund genommen, 
den jie bisher mit einigem Anfchein von Recht für ihre Preisdrüderei geltend 
machen Fonnten; fo ergab fich aber auch, dar dieſes Motiv nur vorgeipiegelt 
worden war: die Händler erklärten plößlich, die Miſchſchwemme fei der Uebel 
größtes nicht und ſie wollen überhaupt nichts mit der Gentrale zu thun haben. 

Ihre Zuverſicht war: einige Bauern giebts nirgends, am Wenigſten 
auf märkiſchem Sande; wo ihrer zwei beifammen find, werden gewiß drei 
Meinungen vertreten. Wielleiht wäre diefe Händlerfpefulation richtig ge- 
wefen; aber die Leiter der Gentrale haben auch nicht Stroh im Kopf. Feder 
Möglichkeit, Uneinigkeit und Fahnenfluht in der Gentrale anzuftiften, war 
dadurd vorgebeugt, daß nicht ein Lofer Verein oder Verband, dem Jeder 
nah Belieben wieder den Rüden kehren konnte, fondern eine Genoſſenſchaft 
mit Haftpflicht gegründet worden war. Das hatten die Milhhändler über- 
jehen; umfonft zogen fie nun als Nattenfänger mit fabelhaft hohen Preis- 
angeboten durch die märkifchen Lande. Erſt weit über die märkifchen Grenzen 
hinaus, in Oſt- und Weſtpreußen, Polen, Medienburg, Pommern, Hannover 
fanden jie Zulauf. Und die felben berliner Milhhändler, die ich weigerten, 
mehr al3 elf Pfennige für die märfifche Milch zu bezahlen, haben feit dem 
eriten Dftober bis heute fortgelegt fechzehn, jiebenzchn, achtzehn Pfennige für 
den Milchbezug aus anderen Provinzen gegeben. Das war bitter, um fo 
bitterer, al3 e8 unnüg verlorenes Vermögen ift, denn da3 Biel, dei märki— 
ſchen Bauern niederzuringen und dann die Berlufte wieder aus ihm heraus- 
zuquetfchen, ijt nicht erreicht worden. Fett fteht der Sommer vor der Thür 
und die fommenden Wärmegrade werden gerade die theuerite, am Weiteften 
hergeholte Mil zur ſauerſten mahen. Dies Geihäft muß alfo bald auf: 
hören; und damit wird der „Milchkrieg“ zu Ende fein. Ich meine: auch 
für die öffentliche Disfuflion. Denn in Wirklichfeit haben drei Viertel der 
Händler ihren Separatfrieden mit der Centrale längit geichloffen: ihr Corps— 
geift langt nur dazu noch aus, die öffentlichen Kriegstänze mitzumachen. 
Biele von ihnen hatten überhaupt nicht geftrifet, fondern ſchon feit Beginn 
des Krieges, ſeit dem erjten Dftober, ihre Milhmunition vom Milchringe 
bezogen; te haben cin ſchönes Stüd Geld dadurch geipart. Andere wurden 
erjt ipäter Flug; al3 vorläufig Legter hat num aud) Herr Bolle den Friedens: 
vertrag unterzeichnet, genau nad dem Schema der Eentrale; die Anderen 


werden nadyjolgen — oder jterben. 
— | 





Milchkrieg. 185 


Der normale Milchverbranc Berlins betrug beim Erlaß der „Sriegs- 
erklärung“ durdjichnittlich täglich 550 000 Liter. Hiervon waren vier Fünftel 
in der Hand der Centrale. Das Kriegsgeſchrei der Händler und ihr that: 
fähliher Mangel an Munition bewirkte einen Rüdgang des Verbrauches 
um etwa 100000 Liter. Die Centrale fette von ihren 400 bi3 450000 
Kitern anfangs die Hälfte, fpäter zwei Drittel direft und durch ftille Ver— 
mittlung der offiziell gegen fie jtreitenden Händler in den Trinkkonſum ab; 
der Reſt wurde verbuttert. Heute iſt der direfte Verbrauch bereit8 auf drei 
Viertel des Geſammtquantums geftiegen; das Sommermwetter wird durch 
Abdrängung der weiten Zufuhr auch dem letzten Viertel den Abfag eröffnen. 
Dann iſt das Ziel der Bauern erreicht: 131/, Pfennige dem Produzenten, 
der Reft, wenns wirklich 61/, Vfennige fein müfjen, dem Händler. Damit 
der Händlerantheil aber nicht zu Ungunften des Konſumenten nod höher 
werde, wird die Gentrale auch nach offizieller Beendigung des „Krieges“ 
ihre berliner Einrichtungen nicht aufheben, fondern auch künftig hier Voll: 
mild für achtzehn Pfennige im Laden und zwanzig Pfennige frei Haus an- 
bieten. Sonjt würden die Händler für den dem Produzenten nothgedrungen 
gewährten Preisauffchlag ſich fehr bald beim Publikum ſchadlos halten und 
man würde dann in allen Zeitungen leſen können: O dieſe habgierigen Agrarier! 

Ein Wort noch über die neue Polizei-Verordnung, die, ſo las mans 
in der Boſſiſchen Zeitung, die Agrarier „über Berge von Kinderleichen“ zum 
Siege führen folle. 

Bisher durften nach der alten Polizeiverordnung über den berliner 
Milhhandel verkauft werden: Vollmilch mit wenigftens 2,7 Fett, Halbmild 
mit wenigſtens 1,5 Fett und Magermilch mit beliebig niedrigem Fettgehalt. 
Die neue Verordnung befeitigt num den Handel mit Halbmilch und jchafft 
neben der Vollmilch noch den Begriff „Marktmilch“, die einen Mindeitfett 
gehalt von 2,7 haben muß. Ueber die Wohlthat der Befeitigung der Halb: 
milch ijt fein Wort zu verlieren. Gerade diefe bisherige Zulaffung öffnete 
dem Betrug im Milchhandel Thor und Thür. Die vorhin erwähnten 
2912 Betrugsfälle jind ausnahmelos ſolche, in denen den Käufern, die aus- 
drücklich Vollmilch verlangt und dafür 18 bis 20 Pfennige bezahlt hatten, 
Halbmilch mit weniger al3 2,7 Prozent Fett verabfolgt worden war. Diefem 
Unfug ift durch daS. jegt erfolgte generelle Verbot, ſolche Milch überhaupt 
feil zu halten, der Boden entzogen; denn nun fann jtrafrechtlich eingefchritten 
werden, wann und wo die fontrolirende Polizei folche Milch bei einem 
Händler vorfindet. Ein Bedürfnin für die Feilhaltung folder Mifchungen 
ift offenbar nicht vorhanden; jede Hausfrau fann, wenn fie Halbmild haben 
will, diefe Mifchung Sich felbft herſtellen. 

Anders ftehe ich zu der Einführung der Bezeichnung und des damit 


186 Die Zutumft. 


verfnüpften Begriffes Marktmilh. Vollmilch ift, vulgär, eine „Mil, wie 
fie von der Kuh fommt“, alfo Milch, der nichts zugefegt und von der nichts 
abgenommen iſt. Marftmilc dagegen im Sinn der neuen Polizeiverorb: 
nung iſt eine Milch, der ein höherer Fettgehalt fortgenommen oder Mager— 
milch zugelegt fein darf, wenn fie nur immer noch 2,7 Fett (den Mindeſt— 
fettgehalt unverfälichter Kuhmilch) behalten hat. Hiernach darf alfo Jemand, 
der Milch von dem hohen Fettgehalt von 3,5 produzirt oder als Händler 
gelauft hat, entweder 0,8 Fett (zur Verbutterung) abrahmen oder zwanzig 
Prozent Magermilch zugießen und die fo erhaltene Milch als „Marktmilch“ 
teil halten. Daraus jieht man, daß mit der Befeitigung der Halb: 
milch doch das Prinzip nicht völlig befeitigt ift; man hat nur den Mindeſt— 
gehalt von 1,5 auf 2,7 erhöht, ohne die Möglichkeit gänzlich zu bejeitigen, 
dar immerhin Mifchmilch verkauft wird. Ich halte Tas grundfäglih für 
unzuläfiig und füge, da ich „Agrarier* bin, für Skeptiker noch gleich Hinzu: 
Diefe Vorſchrift fchädigt auch die Landwirthe. Die einzige Möglichkeit für 
die Händler, aud im Sommer jich aus fernen Gegenden Milch zu beichaffen, 
ift durch die Eismilc gegeben. Haltbare und im Geſchmack nicht leidende 
Eismilch läßt ſich aber nur herjtellen, wenn der ſtark gefühlten Vollmilch 
noch extra Milcheis (au gefrorener Magermilch beſtehend) zugeſebt wird. 
Dieſer Milcheiszuſatz iſt aber nach der vorhin gegebenen Definition nicht bei 
Vollmilch, ſondern nur bei Marktmilch geſtattet. 

Die Händlerpreſſe hatte die unwahre Mittheilung verbreitet: die, Markt— 
milch“ ſei auf Betreiben der Milchcentrale in die Berordnung aufgenommen 
worden. Der Vorjtand der Centrale hat hierauf das Protofol der Sitzung 
veröffentlicht, in der die Gentrale zu dem ihr vorgelegten Entwurf der Ber: 
ordnung ſich gutachtlicy zu äußern hatte. Der einftimmig gefaßte Beihluf 
lautet: „Die Erlaubnif zur Feilhaltung von ‚Marktmilch‘ iſt abzulehnen. 
Die Staatöregirung ift zu bitten, daß der bisherige Begriff der Vollmilch 
aufrecht erhalten bleibe, der Berfauf nur unverfälichter Kuhmilch geftattet, 
der Halbmilchverfauf gänzlich unterfagt werde." Warum nun — abgefehen 
von der Rüge, die Centrale habe die Einführung der Marktmilch verſchuldet — 
überhaupt das Gefchrei der Händler gegen diefe neue Verordnung, die, wie 
das Gefagte beweiit, unter Umftänden — wegen der Eismildlieferung — 
den Landwirthen direft fchaden kann, in feinem Fall aber ihnen, die ja fon: 
traftlich zur Lieferung von Vollmilch verpflichtet find, irgendwie nüglich ift? 

Ich habe dafür nur die eine Erklärung: auf die Marktmilh jchlägt 
man und den VBerluft der Halbmildy meint man. Es iſt wirklich ein Schau— 
jpiel für Götter: der jelbe Handel, dem nachgewiefen ijt, daß er in drei 
Vierteln aller Fälle Halbmild von weniger als 2,7 Prozent Fett für Vollmilch 
ausgab, diefer felbe Handel entrüftet fih nun darüber, daß die Polizei die 


Frübfing. 187 


Mindeftgrenze für die neue Art Halbmilch wenigftens von 1,5 auf 2,7 hinauf 
gerückt hat. est ruft man alle Mütter auf die Schanzen zur Bertheidigung 
von Leib und Leben ihrer Kinder gegen diefe verruchte Marktmilch, die doc), 
fo viel ich auch felbit an ihr auszufegen habe, immerhin genau doppelt fo 
gut ift wie die von diefen Händlern jo lange vertriebene Halbmild. 

Einem Unfug hat die Polizei zum Glück ſehr ſchnell das Ende be 
reitet. Die Händler hatten ſich nicht genirt, die Lüge unter daS Publifum 
zu werfen: die neue Polizeiverordnung verbiete überhaupt den Berfauf une 
verfälichter Vollmilch und zwinge jeden Händler, die von ihm gepachtete bejfere 
Milch beim Wiederverfauf bis auf den Fettgehalt von 2,7 zu verfchneiden. 
Es fand fi fogar ein bei dem berliner Gerichten zugelaffener Anwalt, der 
in öffentlicher Berfammlung erklärte: eine ſolche Verordnung fei einfach 
ungefeglich; feinem Menichen dürfe verboten werden, gute, unverfäljchte 
Waare feilzubieten, und man werde daher bei der eriten Kontravention das 
gute Recht ehrlicher Milhhändler bis zur legten Gerichtsinftang verfolgen. 
Der Tropf wurde am nächſten Tage fchon von feinem verdienten Scidjal 
ereilt. In der jelben Zeitungnummer, die den Bericht über feine Rede brachte, 
(a8 man die leider unangebracht höfliche Erklärung de3 Polizeipräſidiums, 
die diefem Treiben entgegen trat. 

Warum bie Polizei nicht ganze Arbeit gemacht, jondern neben der 
Vollmilch nun noch diefe Marltmilch zugelaffen hat, dafür Habe id) feine 
Erklärung. Jmmerhin ift e8 ein erheblicher Fortfchritt, daß wenigjtens die 
bisherige thatjächliche „Marktmilch“, diefes Halbgemifch von 1,5 bis 2 Pro— 
zent Fett, befeitigt ift. Ganz fo hoch wie bisher werden alfo fünftig die 
Kinderleichenberge in Berlin fich nicht häufen. Edmund Hlapper. 


* 
Frühling. 
8 eißt Du: 


ich glaub', es geht mit Allem ſo! 


Man wartet und man freut ſich wie ein Kind 
den ganzen endlos langen Winter, 

und wenn es friert oder regnet und ſchneit 
und mitten am Tage trüb wird und Naächt.. 
man mummelt fih in den Mantel und ladıt: 
je tiefer die Wege draußen verfchnein, 

um fo früber muß es vorüber fein! 


188 


Die Zukunft. 


Und wenn es dann ganz leife kommt, 


"ganz leife mit wieder hellerem Schein .. 


wie will man ſich darüber freun! 
wie will man auf der Kauer ftehn, 
um ja das erfte Keimchen zu fehn, 
das irgendwo ſich regt, zu jprießen, 
und jauchzend jedes Deilchen grüßen 
und felber o! ganz Frühling fein! 


Und dann... 

dann kommt der große Regen, 

der immer fommt, vor jeder Erfüllung... 
der Regen, von dem man fagt: o ja! 
doch jobald er vorüber, ift es da! 


Und jo wirds März und wirds April... 

wie fputet man fich, aufzuräumen 

in jedem Winkel, um in Ordnung zu fein 
und wenn es dann da ift, um Seit zu haben: 
fih zu freun! 


Und eines Morgens wachſt Du auf 

und ſtehſt und ftaunit 

und trauft den eigenen Augen faum: 

als ob ein Wunder wär gefchehn, 

ift Alles o fo grün, fo grün 

und ringsumbher 

ein Sprojjen und ein Blühn und Glühn, 

als ob es fchon feit Wochen, 

feit Wochen Frühling wär! 

Und jenes erfte heimliche Werden, 

das Du fo köſtlich Dir geträumt... 

Du bajts nun dodh.. 

verſäumt! 

Ich glaube freilich, Das iſt immer fo... 

bei jeder Erfüllung, auf die man fich freut! 
Caeſar Flaiſchlen. 


+ 


Achtung vor England. 1849 


Achtung vor England. 


V⸗e Deutſche iſt ein lenzesfroher Geſell und es zieht ihm mach" dem 
fonnigen Süden. In das gefchäftige Niflheim jenfeitS des Kanals, 
wo angeblich überall der naffe Ruß an den Wänden niederfidert, wandert 
der Commis und der Kellner, der Gebildete aber fpart feine Groſchen für 
die große Reife feines Lebens nah Ftalien auf. Aucd Sole, die e8 „dazu 
haben“, englifche Hoteliers zu bezahlen, gehen nicht über® Waller. Die 
wiener und berliner Bantiersfrauen jpülen ihre Winterfünden in Blanfenberghe 
ab; in Brighton hört man kaum ein deutſches Wort. So kommt es, daß 
der Deutjche nur feinem Leibblatt die Kenntniß englifchen Weſens entnimmt. 
So fommt es, dar der Engländer fih in unferer öffentlichen Meinung wie 
in einem Zerrſpiegel erblidt. Entweder trifft er auf einen lärmenden 
Chamberlain-Spudnapf: Beiiger, der von der politiichen Perſönlichkeit des 
Kolonialjefretärs vor 1899 nicht die leifejte Ahnung hat, oder aber auf einen 
mweltfremden alten Doktrinarius, der den liberalen engliichen cant in kritik: 
lofer Begeifterung für höchſte Offenbarung nimmt. Der Eine fchimpft, der 
Andere ſchwärmt. Irgendwo aber bei jtillen Leuten, die England fennen 
und feine Gefchichte, hauft die Wahrheit. Nur rührt fie ſich nicht. Sie 
fönnte Sich erfälten. 

Die Engländer waren Menfchenalter lang durch den Anblid verwöhnt, 
den unfere Preſſe in der Poſe des ſchmachtenden Jünglings bot. est 
aber will auf einmal faum ein Echriftiteller mehr die Brüden fehen, die 
hinüber und herüber führen. Und es find deren doch fo viele; Gutes und 
Sclimmes geht über den Kanal ein und aus; der Zufammenhänge giebt 
es unzählige. 

Daß auf deutjchen Bühnen Ehafejpeare häufiger zu Wort fommıt als 
Schiller und Goethe zufammen, belegt mit untrüglichen Zahlen die Repertoire— 
ftatiftif; fein Fremder hat deutjches Weſen jemals fo in feinen Tiefen erfaßt 
wie Garfyle, der Herold de3 urdeutfchen Gedanfens der Organifation; unfer 
modernes Kunſthandwerk hat feine erjte Anregung von England empfangen, 
wo eine reiche Nitterichaft den Stil vornehmer Lebensführung prägt; umge: 
fehrt hat Jan Hagels Matrofengejchmad bei ung die Olympia: Scentel: Paraden 
im Tricot aus den music halls von drüben bezogen; der größte Abnehmer 
und beite Zahler für unfere Exrportinduftrie iſt Großbritanien mit feinen 
Kolonien; an Drummonds Traftaten verwällern unfere Stillen im Lande ihr 
handfeites Lutherthum und immer noch iſt auf dem Erdenrund England die 
Vormacht des Protejtantismus, im Gegenfaß zu den Patres aus den Yande 
der reges christianissimi. 

E3 giebt alfo doc noch einen gemeinfamen Pulsſchlag. Nur ſuche 


190 - Die Zuhmit. 


man ihn nicht in der Politik. Das ift der Fehler Derer, die uns von drüben 
wieder die Hand reihen möchten. 

Einft wurden bei uns die liberalen Reize Britanias gepriefen. Mit 
ängstlich erfrorenem Lächeln erinnert fie darum heute wieder den ungetreuen 
Liebhaber an ihre „Freiheitlichen Inftitutionen“, nach denen die unferen ge: 
ichaffen feien. Aber zu ihrer Beſtürzung muß fie hören, daß wir dieſem 
Märchen längft nicht mehr glauben. Die Freiheit ift nicht durch englijches 
Beifpiel, fondern durch die franzölische Revolution dem Kontinent begehrens- 
werth geworden; fie ift uns auch nicht gejchenkt, jondern von uns erfämpft; 
das allgemeine Wahlreht in Deutichland iſt eine Folgerung aus der allge 
meinen Wehrpfliht. Das haben die Engländer in unferen „führenden“ 
liberalen Blättern freilich nicht gelefen. Laut Moffe und Leſſings unfäglichen 
Erben jeufzen wir unter dem Militarismus, fehnen wir. und nad lauter 
Kommerzienräthen auf der Minifterbank, werden von ein paar Agrariern 
bi8 aufs Blut gepeinigt und entrüften ung bei jedem Pitolenfuall und noch 
einmal ertra vor dem Quartalwechſel über den Duellzwang, den allein das 
glüdlihe England in feiner ungemeinen Sittfanfeit nicht fenne. _ Und fo 
glaubt der Better ſchließlich, Deutichlands Herzenswunſch müffe fein, eine 
englifche Provinz zu werden. Um fo unbegreiflicher ift ihm feit zwei Jahren 
die plößliche Anglophobie; dahinter, denkt er, kann nur der Doltor Leyds 
mit feinen Beitehungsgeldern fteden. 

Aus der Heinftaatlichen Geneſis unferes Liberalismus ift e3 erflärlich, 
daß der Spiebürger früher über die „Soldatesfa* zu fuurren für freiheitlich 
hielt. In dem jegigen gejchäftsfrohen Zeitalter machen aber überaus frei- 
finnige Leute den Imperialismus mit allem Drum und Dran freudig mit. 
Wenn die Weltgefhichte zum Kampf um die Futterpläge wird, dann brauchen 
die Völfer Hauer und Klauen. Ohne Kanonen feine „Konzeflionen*. Wenn 
der große Magen des Weltmarktes ſich zu fträuben beginnt, dann foll die 
Armee mit ihren ſtarken Fäuften das Nudeln übernehmen. England ging 
nach Transvaal nicht, um, wie der Stammtifchphilijter jteif und feft glaubt, 
dem Ohm Paul feine Goldminen zu nehmen — denn die find Privat- 
eigenthum der Shareholder der ganzen Welt —, fondern, weil Südafrika, 
diefer riefigite Imduftriemagen der Zukunft, den drohenden Unterkonium 
englifher Waaren ausgleichen fol. Genau die jelben Gedanfengänge birgt 
das Hirn unferer von Tag zu Tag loyaleren Händler. Das Gros diejes 
Liberalismus hat mit dem Militarismus längst feinen Frieden gemacht. 
Das Geſchäft geht fo befler. Der Umſchwung liegt ſchon Fahre lang zurüd: 
an der Wende ließ Rickert fih von Caprivi auf die Schulter Hopfen. Mit 
dem Eingjang gegen den Militarismus erwerben ji die Engländer alfo 
feine Freunde mehr bei uns. Bei den Preußen von altem Schrot und Korn 


Achtung vor England. 191 


natürlich erſt redjt nicht. Denen ift das Heer nit eine Schußtruppe der 
Erporteure, jondern die geordnete phyfiihe Kraft der Nation, auf der im 
letzten Grunde alles Dafeinsrecht des Volfes beruht. 

Auch die Duellreinlichkeit Albions zieht nicht. Die deutfchen Duell- 
gegner willen wohl, dat in England auf ritterlichen Zweifampf die felbe 
Strafe fteht wie auf gewöhnlichen Totſchlag. Aber ganz gewiß ift nicht 
eine abjonderlich zarte Moral in Bezug auf das fünfte Gebot daran Schuld. 
Bornehme Hubs drüben erfreuen fich noch immer an dem bezahlten Gladiatoren= 
jpiel des profefjionellen Boxens; und ein Totjchlag dabei wird nur mit milder 
Haft beitraft, wie auch bei uns der „kommentwäßige“ Waffengang. ch 
zweifle, ob dabei für die Engländer ein erhebliches moraliſches Plus bleibt. 

Schon unfer Begriff vom Staat umterfcheidet ſich grundjäglicd von 
dem engliichen. Die englische Berfaffung, die der jeweilig herrichenden Partei 
die Rojinen aus dem Suchen zumeilt und dem König nur die Nolle des 
deforativen Thürftehers beim Schmaus, befäme uns übel. Der Staat iſt 
uns mehr als eine bloße Erwerbsgenoflenfchaft der Privilegirten; er ift ung 
eine ſittliche Inſtanz, nach Fichte der Erzieher der Menichheit. Dar feine 
Lenker „Lönigliche* Beamte find und „interefielo8*, ohne Anfehen der Partei, 
wirfen follen, ift unjer Stolz. Der Brite dagegen hat in jeiner Beamten 
hierarchie offiziell einen patronage secretary, der die Memterchen an die 
Freunde der Partei vertheilt, und findet an geſchickten gefchäftlichen Speku— 
lationen feiner Minifter fein Arg; ja, Addiſon beiingt ſogar begeiltert das 
ethifche Prinzip der Vetternwirthichaft, während wir an dem Echwiegervater 
des Herrn von Boetticher nie fonderliches Wohlgefallen empfanden. Jeder 
bejigende Unterthan fol drüben Theilhaber der Firma Staat werden und 
die Einrichtung der Pfundaktien ermöglicht dem kleinſten Sparer das Mit: 
ihwimmen im großen Strom des Geſchäftes. Wie im Defterreich jeder 
Hausfnecht Lotto fpielt, hat in England jeder Hausfncht Shares. Wer auf 
Ehamberlain baut, hat Meinung für Dynamitakıien, und wenn ihretwegen 
den regirenden Bäuerlein in Pretoria der Spieß auf die Bruft gejegt mird, 
fo freuen jih baß Hunderttauſende. Daher ijt es ja auch ein thörid) er 
Schnickſchnack, wenn bei uns behauptet wird, nur Chamberlain, Rhodes, 
Milner und Genofjen trügen die Verantwortung für den Krieg; die Verant— 
wortung trägt daS ganze Voll. Das haben die legten Wahlen mit ihrer 
riefigen imperialiftiichen Mehrheit gezeigt. Das zeigt Chamberlains Bolts- 
thümlichfeit, zeigt der Sturm gegen Pro:Buren: Berfammlungen, zeigt die bes 
herrſchende Stellung der Jingo-Preſſe. Unter den Blättern mit befannten 
Namen rudern nur noch „Morning Leader”, „Daily News’, „Mancheſter 
Guardian“ dem Strome der öffentlichen Meinung entgegen. Wer fchliehlich 
noch an die Stellungnahme der Geiſtlichen der High Church denkt, fann jich 
nicht mehr verhehlen: der Krieg it Herzensfache der ganzen Nation. 


192 . Die Zukunft. 


Wir Deutjchen verftchen feinen Spa, wenn uns gegenüber an Dinge 
getaftet wird, die wir wirflih „mit ganzem Gemüth“ betreiben. Und um— 
gekehrt find wir Fremden gegenüber darin ſtets erſt recht taftvoll gewejen. 
Warum nun der Ingrimm über den Burenfrieg? Um diefe Kernfrage fommen 
wir nicht herum. Ihre Beantwortung foll den Engländern zeigen, welches 
der einzige Weg ift, auf dem fie die Hochſchätzung ihrer Vettern wieder er: 
werben können. 

Der tiefite Grund der allgemeinen Britenverdammung in Deutſchlaud 
liegt nicht etwa in der Graujamfeit der Sriegführung. Der Deutiche it als 
Soldat — und welcher Deutiche wäre Dad nicht? — praftifcher Erfolgs 
anbeter, jo jeher er ſonſt auch zum Doftrinarismus neigt. Er jagt fi 
mit Recht, daß es im Krieg nicht jo ſehr darauf ankommt, ob man mild 
oder hart handelt, fondern darauf, ob man zweckmäßig oder unzwedmäkig 
verfährt. Durch Härte einen Krieg beenden, ift milder, als durch Milde ihn 
hinziehen. - Hätte jchneller Erfolg die Art britiſchen Kriegsbetriebes gerecht: 
fertigt, fo wären bis auf feine Fdeologenfreie die Ankläger verftummt. Als 
nad) der Einnahme von Bloemfontein die Freiltaater, auf Roberts’ Brofla- 
mationen hin, in Maffen die Waffen niederlegten, da wid, das Intereſſe an 
den Buren überrafchend fchnell Fühler Nüchternheit. Den Zeitungen, die von 
vorn herein, ohne in Anglophobie zu machen, doch auf Grund ihrer Kenntniß 
englifchen Heerweſens prophezeit hatten, die Buren würden nicht überwältigt 
werden, wurde es im Sommer 1900 unendlich ſchwer, ihre Leſer bei der 
Stange zu halten; ich fpreche da aus eigener Erfahrung. Exit die erneuten 
Bureniiege im Dezember 1900 ließen die Begeifterung für die Buren und 
den Zorn gegen die britifche „Sraufamfeit* wieder aufflammen. Nur in 
rein militärischen Sreifen, auch wo von einem Einfluß englifher Gattinnen 
nicht die Nede fein fan, gab man vielfach nach wie vor auf die englifchen 
atrocities fehr wenig; um jo jchirfer aber wurde die Kritik der englifchen 
Erfolglojigfeit. Dieſe Mißachtung der englifchen Armee wird durch die Er— 
zählungen der aus China heimgefehrten deutichen Soldaten nur noch ver: 
ftärft. Beim Zuge des Bataillons Förfter gegen Tfefingkuan ift nicht ums 
fonft das ſchnell geprägte Berschen zum geflügelten Worte geworden: „Meldung 
von den Shiks: Bom Feinde willen wir nir!“ 

Wenn es aber auch die Graufamkeit nicht ift: wo liegen dann die 
Wurzeln der Anglophobie? Wie kann man fie wieder bejeitigen ? 

Nicht einmal die Erklärung it ftihhaltig, daft es die Sympathie für 
den Kleinen fei, dem von der Uebermacht Gewalt angethan werde. Der Deutfche 
würde jich feinen Wugenblid beinnen, wenn es das Lebensintereſſe des 
Neiches erheijchte, eine winzige Nation zu züchtigen. Die Zauberformel, die 
Altes erhellt, Liegt vielmehr in dem einen Worte: der Söldner. Ueberall 


— —— 


Achtung vor England. 193 


regt fich wilder Grimm gegen die „bezahlten Kerle“ der englischen Armee. 
Das ift e8, mas feine apologetiihe Brodure von Conan Doyle dem 
Deutſchen verreden fann. 

Wenn einit die Bauern unferer Altmark bei der Schwedenwadht auf 
den Elbdeichen ihre Fahne mit der unbeholfen rührenden Inſchrift entrollten: 
„Bir find Bauren von geringem Gut und dienen unjerem gnädigiten Kur— 
fürjten und Herrn mit Gut und Blut!“, jo ſprach ji darin fchon die ur- 
deutfche Auffaffung aus, dar man für feine Herzensjache nicht nur mit feinem 
Gelde, fondern auch mit feiner Perfon einzutreten habe. Das hat jich bei 
uns feit 1814 erft recht eingegraben. Und Das ift e8 aud, was uns fo 
befonnen madt. Ein Bolf der allgemeinen Wehrpflicht ftürzt ſich in un: 
bändiger elementarer Kraft auf den Feind. Uber ehe es ſich dazu entichlicht, 
muß e3 in feinen tieljten Tiefen empört fein. Sabinetöfriege find da nicht 
möglih. Kapitaliftiiche Cliquenkriege eben jo wenig. Wir waren einft das 
fampffuftigite Volt der Erde, find im Kriegshandwerk die Lehrer aller Nationen 
geweſen und find es noch ji; deutiche Schwerter klirren durch alle Jahr— 
hunderte und durch alle Länder, unter den Mauern von Athen und auf den 
Hügeln Roms, in der Gluthjonne Spaniens und im Nebel der Erinsinfel, 
ja, fie fchlagen die Schlachten der Engländer jenſeits des großen Waſſers. 
Aber heute, nach fnapp Hundert Fahren der allgemeinen Wehrpflicht, find 
wir das eigentliche Friedensvolf Europas, das während der einunddreifig 
Fahre feiner geballten Kraft noch niemals freventlich gegen fremde Ehre aus: 
gefallen ift. Erſt in dem jiebenziger Jahren folgten Frankreich und Rußland 
unferem Beijpiel, nad) ihnen andere Völfer; erſt im vorigen Jahr hat 
Holland den Heeresdienſt obligatoriich gemacht und bald wird der ganze 
Kontinent unfer Syſtem durchgeführt haben. Das ijt eine weit größere 
Friedensgarantie als eine noch jo weltbürgerliche Verfaflung. Einft glaubte 
man, die Republik fei der Friede. Heute trauen nur noch die freiiinnig Vers 
michelten dem Nattenfängerlicd von dem Fortichritt der Menichheit zum 
Taujendjährigen Friedensreih aus eigener Vervollkommnung. Kriege wird 
es immer geben. Aber wie auf dem wirthichaftlichen Kriegsſchauplatz meijt 
die unorganiliıten Arbeiter und nicht die Gewerkichaften die wildeiten Strikes 
beginnen, jo jind auch im Völferleben die Milizheere und Eöldnerarmeen 
ber Republifen und Parlamentsftaaten eine weit größere Gefahr als das 
Bolksheer einer Monarchie. Eine Regirung, die nicht mit Miethlingen arbeitet, 
fondern das ganze Volk zur Schlachtbank führen muß, eine Regirung, die 
weiß, dag im Moment der Mobilmachung eine Schwere warth haftliche Krife 
hereinbricht, weil Ader und Werkſtatt und Kontor veröden, eine ſolche Re— 
girung Ihredt vor der Verantwortung zurüd, die eine Kriegserklärung ihr 
aufbürdet; e8 müßte denn fein, daß es ſich wirklich um die heiligiten Güter 


= 


TR - 
® 


194 Die Zukunft. 


der Nation oder um die Grundlagen ihres. materiellen Dafeins handelt. Wenn 
in Grofbritanien jeder Mann im Alter von zwanzig bis zu vierzig Jahren 
unter die Fahnen müßte, ob er auch Vetter eines Miniſters, Befiger eines 
Majorates, Großaktionär, Gelehrter, Schiffsrheder, Künstler, Landrichter oder 
Zeitungfchreiber fei, wenn fo die ganze Nation ihre Haut zu Markte trüge, 
ftatt nur einen Haufen von Prügeljungen (abgejehen von den Volunteers) 
auszufenden, dann müßten wir, auch wenn wir hundertmal den Krieg für 
ungerecht hielten, vor diefer überzeugenden Wucht nationaler VBollfraft ritter- 
(ih den Hut lüften. 

Haß oder Liebe kann dem Briten gleichgiltig fein. „Dor lach if öwer!“ 
Über die Achtung unter den Völkern darf eine Nation nicht verlieren, muß 
fie wiedergewinnen, wenn jie ſie verloren hat. Wollte Gott, daß die angel: 
ſächſiſchen Vettern ich auf ihr deutjches Blut befännen, in germanifcher 
Wehrhaftigkeit ihr Heil fähen, dem Schwerte ſich wieder vermählten, der 
Knechtſchaft des Coupons entrännen! Dann erſt fönnte man als treu Ges 
fippter wieder fein befünmert gejenftes Haupt erheben. Dann würde England 
nicht nur als Kriegsmacht, jondern auch fittlich weit höher gewerthet werden 
und al3 Freund jo willfommen wie als Feind gefürchtet erfcheinen. Wenn 
es aber aus feinem fchleichenden Afrifafieber nicht diefe Lehre entnimmt, 
dann redet Chamberlain feine pangermanifchen Gedanken in den Wind. Der 
Mann ijt wirklich Deutjchenfreund; er jchägt die deutſche Zuverläſſigkeit fo 
hoch, daß er ſich fogar in feinem eigenen Haushalt mit deutfcher Dienerfchaft 
umgiebt. Aber ihm fehlt jeder Begriff für den tiefem jittlichen Unterſchied 
zwifchen Wehrmann und Söldner. 

Schon werden Stimmen laut, die die Briten ik ein niedergehendes 
Volk erklären, obgleich es noch gar nicht fo lange her ift, daß Graf Gobineau 
fie die Blüthe ariſchen Menſchenthumes nannte; fchon fagt man, es fehle nur 
noch der Zufammenftoß mit einem Rom, um diefes Karthago der Händler 
vollends zu entwurzeln. Wohlan: wir erwarten den Gegenbeweis. Das 
Paradigma in der Weltgeihichte dafür it vorhanden. In der Nacht zum 
fünfzehnten Dftober 1806, in der Nacht nach Jena, wurde dem erft ſieben— 
undzwanzigjährigen Friedrich Ludwig Jahn das Haar eisgrau; die felbe feelifche 
Erjchütterung rüttelte das ganze Volf wach und die Antwort war die allgemeine 
Wehrpfliht. Fit der Weg von Colenfo bis Tweeboſch nicht die eine Nacht 
werth? Bielleiht hat England jest die legte Gelegenheit, diefen Weg der 
nationalen Renaiffance zu bejchreiten, den die Kontinentalmächte längit vor 
ihm eingefchlagen haben. Ehe es zu ſpät ift. Ehe die zwölfte Stunde 
ſchlägt, wo die „hölzernen Mauern“ Englands verfagen, weil das Waſſer 
aud für die Feitlandsvölfer jegt Balken hat. 

Frankfurt a. M. Adolf Stein. 
> 


— — — 


Darm⸗Athen. 195 


Darm-⸗Athen. 


— „Dokument deutſcher Kunſt“ wie die darmſtädter Künſtler ihre Aus— 
ſtellung genannt haben, erweiſt ſich beim Schluß der Vorſtellung, die 
einige Monate die Augen der Kulturbedüftigen auf ſich zog, als eine un— 
bezahlte Rechnung, deren Koſten, wie es ſcheint, die Künſtler zu tragen haben. 
Das iſt der bittere Humor von der an Ueberraſchungen reichen Geſchichte; 
der Humor aller verſtedten, aber deshalb nur um ſo tieferen Konſequenzen. 
Denn wie Alles außer der erſten Veranlaſſung in Darmſtadt modern war, 
ſo iſt auch dieſer Schluß von zeitgemäßem Gepräge; es war ein ſchöner, 
altmodiſcher Traum, der die Sache ind Scheinleben rief, und es iſt ein nadter, 
vernünftiger Realismus, der fie zu Ende führt. 

Wer hätte gezögert, dem Ruf des Fürften zu folgen, der im groß— 
müthiger Gebelaune beſchloß, feine Reiidenz zu einem Darm: Athen zu 
machen? Ich möchte willen, wer eigentlich die erfte dee fuggerirte. Sicher 
fam fie nicht vom Fürften felbit; er ijt dafür zu großmüthig. ch vermuthe, 
es war ein Konſortium von Leuten älterer Kunftrichtung, die ganz richtig 
fpefulirten, da auf diefem ungewöhnlichen Weg eine Anzahl bedenklich moderner 
Künftler mit Sicherheit Falt zur ſtellen ſei. Merfwürdig, daß man nicht 
radifuler vorging und nicht noch viel mehr moderne Künſtler beftimmte, 
ihre Penaten nah Darmitadt zu tragen; man fonnte fo ganz Deutichland 
entmoderniliren. Die legten offiziellen Dekrete in Kunftfachen laffen meitere, 
tiefere Zufammenhänge ahnen. Warum ſollte der Bundesrath in diefem 
einen PBunft uneinig fein? Jedenfalls: es it erreicht. 

Ich ſehe Peter Behrens heute noch vor mir, wie er in dem Fleinen 
Schweizer Hotelfaal, wo wir uns trafen, dröhnenden Schritte® auf und ab 
wandelte und von neuem Mäcenatenthum ſprach. Fürftenfultur, das Heil 
im Scönheitfiegerfranz . . . Du ahnt es nicht... . Und ich fam mir, wie 
gewöhnlich, niedrig und gemein vor. 

Ich hatte aber doch eine Ahnung; freilich ging fie nicht fo weit wie 
heute die Wirklichkeit. ch zweifelte an den fachlichen Faktoren, an der prak— 
tischen Möglichkeit, aus einem Städtchen ohme Induſtrie und Handel mit 
geringen Mitteln eine Stätte gewerblicher Bedeutung zu machen. Denn heut: 
zutage muß jo Etwas jehr fchnell gehen oder es geht gar nicht. Von all 
den glüdlihen Mmftänden, die früher, als man zu folchen Entwidelungen 
noch Zeit hatte, mitwirkten, fchien diesmal einer außer Frage: der gute 
Wille des Füriten; man hatte feit hundert Jahren wieder einmal einen 
Mäcen. Das war viel. Ich geftehe, dan ich gern dabei gewejen wäre. So 
peſſimiſtiſch verfuöchert ift Keiner, der ein Bischen KHünitlerblut in den Adern 
hat, dag er nicht an gewiſſe Hoffnungen glaubte, die durch jo perjönliche 


196 Die Zututft. 


Momente gefeftigt find; fie gehören zu den Epefulationen der Seele, bei 
denen man verfucht it, jedes andere Erfahrungmah außer Beachtung zu lafien; 
man weiß nicht, warum; wohl, weil die Gründe, die ſolche Hoffnungen zu 
UÜtopien machen, ferner liegen und nicht mit jener Schärfe entjcheiden, die 
anderen Gejegen der Logik eigenthümlich find. Santos: Dumont ift Fein ſtarler, 
wiffenichaftlicher Geift, fondern Etwas wie ein Mar Nordau der Techuil, 
jonft würde er nicht mit feinen Mitteln, die prinzipiell verkehrt find, die 
Löjung des Problems der Ballonlenkbarfeit verfuhen. Seine Erfolge ver: 
hüllen nicht die Thatfache, dan er auf falfchem Wege ift. Das find Trug: 
ſchluſſe von materieller Art; vor ihnen fann man ſich ſchützen. Das äjthe- 
tiiche Gebiet enthält viel gleinendere Verſuchungen und die logifche Vorher: 
beſtimmung ift ſchwer, weil hier inmmer taufend Jmponderabilien mitjpielen. 
Mit abfolutefter Eicherheit war voraus zu berechnen, dan die Ahnenallee im 
Thiergarten ſehr häflich fein würde; e3 war mathematifch nicht anders 
möglich, aucd wenn andere Kräfte, auch wenn die allerbeiten mitgethan hätten, 
weil unfere Kunſt für folche Wirkungen nicht geihaffen if, — wenn über: 
haupt je eine fünftlerifche Realiſirung folcher Pläne gedacht werden fann. 
Hier war es ein ähnlicher, faſt mathematifcher Irrthum mie bei Santos: 
Dumont; und die Eıfolge, die der Patriotismus dabei errungen hat, dürfen 
nicht über die äfthetifche Thatſache wegtäuſchen. 

In Darm=Athen lag die Sache komplizierter. Warum follte heute 
fein Mäcen im Sinn des guten Behrens möglicd fein? Gerade weil man 
fo viel Häßliches durch fürftlichen Eigenwillen entftchen ficht, liegt der Schluß 
nah, auch Werthvolles könne einmal aus folhem Wollen hervorgehen. Aber 
es iſt Schließlich immer nur wieder der felbe Mangel an logijcher Schärte, 
der jo denkt; ganz wie bei Santos: Dumont. 

Nein: es kann heute feine guten Mäcene mehr geben, wie e8 feine guten 
Feen mehr giebt. Umd es ift gut fo. Die felbe Entwidelung, die uns der 
fünftleriichen Wohlthaten eines Medicäerthumes beraubt hat, hat uns von 
fehr viel unangenehmeren Dingen der felben Quelle befreit, deren peinliche 
Wichtigkeit heute ganz anders empfunden würde als damals, wo ſich ihre 
Alluren des künftlerifchen Faltenwurfs bedienten. Und das Merfwürdige an 
diefen vergangenen Mäcenen war nicht die Seltenheit ihres künftlerifchen Ge: 
ſchmacks; jie ftanden im äjthetifcher Hinſicht ſchwerlich höher über dem Durch— 
ſchnitt als heute unfere heutigen. Sie konnten, wie jener fchnurrige Ungar 
beim Flohfang, nicht daneben greifen, fie fanden immer, weil jie nicht zu 
ſuchen brauchten. Es hilft num einmal nichts: die beſſere fünftlerifche Leiſtung 
ift heute nicht nur ihrem Grade, fondern ihrer ganzen Art nah Ausnahme 
und entjpringt periönlichen Jmpulfen, die durchaus nicht in der Maffe wurzeln, 
ja, von den Inſtinkten der Maſſe als entgegengejegt und — faſt muß man 


Darnı » Atben. 197 


jagen: oft mit Recht — als feindlidy empfunden werden. Die Völfer haben 
heute, gerade heute, ganz Anteres zu thun, als ſich mit der Kunst, ſei jie 
num angewandt oder abjtraft, bewußt auseinanderzufegen. Bei der abſtrakten 
Kunst fpringt es in die Augen; ein Volk, das von Berftändnik für unfere 
vornehmjten Kunjtblüthen, jagen wir: für Whijtler, Degas, Liebermann, ganz 
durchdrungen wäre, müßte dem Verfall nah fein. Diefe Situation mag 
wohl einmal hier oder da die nadte Annäherung zwiſchen Fürft und Stünitler 
gejtatten, niemals aber die friedliche Auseinanderfegung der Beide begleitenden 
Nebenfaftoren, ohne die jich in Kulturländern nicht mehr die Perjönlichkeit, 
und jei jie auch noch jo allein, denken läßt. Ein hochentwideltes Mäcenaten- 
thum, wie e3 ſich die Darmjtädter dachten, wäre heute nur bei einem ganz 
unentwidelten Volle, etwa in Rußland oder Afghaniftan, möglich. 

Denfen kann man ſich zur Noth, dag ein Monarch heute feinen Willen 
durchſetzt und Skulpturen oder Bilder von der Maſſe unverftandener werth- 
voller Künftler erwirbt; er ftellt oder hängt jie in feine Privatgemächer. 
Man kann fi allerlei pathologiihe Phänomene und fo auch einen jungen 
Kaijer vorftellen, der vor zwanzig Jahren Bödlin oder Liebermann gefauft 
hätte. Schon dazu gehört viel Phantajie; aber es ift ganz beträchtlich Leichter 
denkbar als das Vorgreifen eines Monarchen auf gewerblichen Gebiet in jo 
weithin fichtbarer Weife, wie e8 in Darmftadt provozirt wurde. Auch wenn 
es jih bei dem VBorgreifen nur um eine geringe Spanne Zeit handelt, aud) 
wenn heute jchon Sicher ift — was ih im Hinblid auf Chriftianfen jchon 
im Voraus herzlich und nachdrüdlich bedaure —, daß die Maſſe ähnliche 
Formen, wie man jie in Darmftadt zu jehen befam, binnen Kurzem als 
etwas höchſt Gewöhnliches, höchſt Natürliches und höchſt Anftändiges betrachten 
wird. Es ift weniger die Sache jelbit al3 der Widerftand der Maffe gegen 
ungewohnte Symptome und hat Etwas von der Abneigung eines Bundes- 
jtaates, die Briefmarken eines anderen anzunehmen. Gut jituirte Fürsten 
fönnen einander heute befriegen, fie können ihre Kolonien plündern oder ihre 
Länder überfteuern. Das jind bis zu einem gewillen Grade vom Brauch 
geheiligte Eigenthümlichleiten. Aber heute fol mal einem Fürjten einfallen, 
einen neuen Hofenjchnitt ganz aus eigener Machtvollkommenheit zu verfügen! 
Der auf diefem Gebiet verdientejte Fürft, der König von England, hat feine 
unbeitrittenen Erfolge doch nur in einem beichränften Neffort der Toilette 
errungen. Seine glänzendite Leiftung war die zehn Fahre lang mit Geſetzes— 
fraft geltende Sitte, den legten Senopf der Wejte offen zu laſſen. Gewiß nichts 
Geringes, da ja feititcht, daß diefe That einzig und allein feiner Initiative 
entiprang; aber man vergelfe nicht, daß er ſich auch darin auf eine "rt 
Tradition fügte und es jo machte wie die Pompadour bei der Einführung 


der Sitte, den Fiſch mit der Gabel zu eſſen, oder eim anderer Mäcen bei 


15 


198 Die Zukunft. 


der Schöpfung des Schnupftuches: ſcheinbar unabiichtlich, zufällig, ſcheinbar, 
ohne ſich was dabei zu denken. Und dann vergefje man nicht: c8 war der 
Prinz von Wales, der iiberhaupt originell war, nicht der König von England, 
nicht der Negent*). it es etwa Zufall, daß jest alle Männer befjerer Stände 
die MWefte wieder geichloffen tragen? Hätte der Großherzog fcheinbar aus 
Berjehen die Villenkolonie auf der Mathildenhöhe geichaffen, hätte man darin 
eine jener von dem biographifchen Gefühl der Maſſe jo verehrten charmanten 
Unabjichtlichleiten ahnen fönnen, fo wäre vermuthlich ganz Heflen im Etil 
Ehriitianfens unigebaut worden. Et encore! 

Das Ulles konnte man ſich jchon am eriten Tag der Ausſtellung ſagen. 
Ich ſehe noch den General, der ſo entſetzlich bei der Feierlichkeit ſchnaufte, 
dem die innere Wuth mehr noch als ſein Fett den Schweiß aus allen Poren 
trieb. Und die Generalin, eine nicht minder dicke Generalin, die achtungvoll 
den freundlichen Blicken des Mäcens folgte, der eigenmündig die Vortheile 
der Schöpfungen Chriſtianſens erklärte, und die jungen Herren Lieutenants 
und die älteren Herren Räthe, dieſe ganze wohlgefügte, verbindlich lächelnde 
Sippe... . Es ging einen Tag, den Tag der Eröffnung, der offiziellen 
Feierlichkeit, an die fie gewöhnt jind und die fie hochhalten, ob es ſich nun 
um die Einweihung eines Bismarddenfmald oder einen Trinffpruch auf einen 
Mameludenprinzen handelt. Sie waren natürlich nicht jo ordinär, an dem 
ſchönen Sonnentag dem lieben, armen Fürſten vor allen Leuten ins Geficht 
zu lachen. Sie haben überhaupt nicht gelacht, fondern ihr Werf figend und 
ſchweigend verrichtet. Ibſen, Goya, Thomas Theodor Heine! Keiner von 
Euch hat die kompakte Majorität, diefe ſchwarze Maſſe auf der Bruft des 
Eritidenden, diejes Ewig-Lächerliche jo kompakt, jo ſchwarz, fo lächerlich ge— 
jehen wie ich an jenem goldenen Vormittag in Darmftadt. 

Wenn Leute wie Behrens, Olbrich, Ehriftianfen, um nur diefe Drei 
zu erwähnen, Künſtler, über deren Werth hier nicht geftritten werden ſoll, 
ihre vecht erjpriegliche Erwerbsiphäre in München, Wien und Parts aufgeben, 
um nad) einem unbedeutenden Provinzjtädtchen zu ziehen, jo thun fies in 
der Hoffnung, dort mindeftens .einen gewiſſen materiellen Erfolg zu finden. 
Sie wurden Profefjoren und erhielten einen bejcheidenen Jahreslohn. Damit 
fonnten jie leidlich zufrieden fein. Der geſchätzte Titel erhöhte die Verfäuf: 
lichfeit ihres Signums, nichts Hinderte fie, nach wie vor ihre Modelle zu 
machen und zu verfaufen; ihre Gage war eine Art Wohnungentfchädigung. 
Das Abkommen war mit der Privatichatulle des Großherzogs getroffen... 
Künitler, hütet Euch vor der Privatichatulle! Die Zeit der mit Brillanten 


*) Man halte mir nicht das naheliegende deutjche Beijpiel des ſenkrecht 
in die Döhe gebrannten Schnurrbarts entgegen, das in diefer Ausdehnung nur 
durch militärische Suggejtion möglich wurde. 


Darm» Athen. 199 


bejegten Schnupftabakdofen ift vorüber. Man fchnupft heute nicht mehr jo 
gediegen. Die Geften haben ich geändert; die Allure ift immer noch die 
felbe, aber der Effekt ift anderd. Der Inhaber der Schatulle ift ein ſchwer 
definirbarer Privatmann. Schließe Kontrafte, fchöne, regelrechte Kontrafte 
mit dem Staat! Den fönnt Ihr verklagen. Alles Andere ift Unjinn. 

Im Anfang ging Alles gut. Man lebte vergnügt und in Unfrieden, 
wie ſichs unter Künftlern gehört. Da entiteht eines Tages das Projeft der 
Häufer-Ausitellung. Es war eine auferordentlich fuggeitive und im jeder 
Hinſicht werthvolle Idee. Künſtlern braucht man nicht lange zuzurathen, 
wenn es gilt, Flächen zu bemalen, zu behauen oder zu bebauen. Je mehr, 
deſto lieber. Man hätte ſie auch ohne Mühe dazu gebracht, ſich eine eigene 
Kathedrale zu bauen. Der Platz wurde ja gepumpt und der Platz iſt auch in 
Darmſtadt ſchon der halbe Weg zu einem Hausbau. Dagegen pflegen die anderen 
Ausgaben dem Bauherrn befanntlich ſtets die rührendſten Ueberraſchungen zu 
bringen. Diefe hatten hier befonders pifanten Reiz, da fih in den Künſtlern 
neben den mannichfachiten Thätigfeitstrieben auch die widerftrebenditen materiellen 
Impulſe wohl oder übel vereinen mußten, Impulſe, die, wie die Erfahrung lehrt, 
nur durch eine wohlthätige Arbeitsteilung zu ihrem Recht fommen. Bauherr, 
Baumeifter, Künftler und Ausiteller in einer Perfon: Das ift zu viel für 
ein Portemonnaie; der Erfolg war natürlich eine Tragoedie. Statt 50 bis 
60000 Marf, was mir für ein vor den Thoren Darmſtadts gelegenes Wohn- 
haus ſchon ganz rejpeftabel erjcheint, Fofteten mande Häufer da8 Drei- und 
Vierfahe. Die Schatulle fah zu. Die Ausftellung regt ein halbes Hundert 
Schriftiteller jeder Gattung zu intereffanten Abhandlungen in einem halben 
Hundert illuftrirter Zeitfchriften an, alle Fachleute find voll von der Aus- 
jtellung, aber die Portemonnaies der Ausjtellee werden immer leerer. Die 
berühmten Aufträge, die in riejigen Ihattenhaften Umriffen das Unterbewuft- 
jein der Künſtler bevölfert hatten, bleiben, wo jie find, und in den Seelen 
der Frohgemmuthen dämmert die Ahnung eine Rieſenreinfalls. Wenn fie 
wenigſtens die Häufer jelbjt bewohnen könnten! Aber eritens beginnen jegt 
ich Symptome zu zeigen, die den Sünftlern die Reize eines bleibenden 
Aufenthaltes in Darmftadt in zweifelhaften Licht erfcheinen laflen, und dann 
find die Häufer mit allen Ehicanen ausgeftattet und erfordern eine zahlreiche 
Dienerichaft, einen Haushalt, der eine recht behagliche Wohlhabenheit vor: 
ausjegt. Das Fazit: die Künstler find glüdliche Beliger von Käufern, die 
fie nicht bewohnen können und die etwa die Hälfte des Werthes ihrer Baar: 
auslagen darjtellen. Site jchulden der Schatulle hübjche runde Sümmchen 
für die Baupläge. Behrens hat, glaube ich, 18000 Mark dafür zu bezahlen. 
Und num verfchwindet plöglic die Schatulle. Die Angelegenheit wird vom 
Staat übernommen, der ſie zunächſt einmal „ordnet“, ich nad) den Kon— 


15 


200 Die Zukunft. 


traften erkundigt und dann ein langes Geſicht zieht; die Künftler machen freilich 
noch längere. Da die vereinbarten Jahre zu Ende gehen, werden die Künitler 
nüchtern und eindringlich gefragt, was fie jet zu beginnen gedächten. 

So fteht die Sache. Yuriftifch genommen, ift nichts dagegen zu jagen. 
Warum bauen fi) die thörichten Künſtler Häufer, die fie nicht verfaufen können? 
Kein Menſch hat fie dazu gezwungen. Natürlich reiben fie ſich heute die 
Stirn und wundern fi, wie das Alles jo gefommen, und finden, daß fie 
furchtbar dunm waren, dar jehr ungerecht ift, was ihnen widerfährt, und 
wo denn nun eigentlich der Mäcen bleibe. Der aber ift mit anderen Dingen 
bejchäftigt und bedauert. Natürlich find fie ſelbſt fchuld; wie alle rechten 
Künftler, haben fie nicht zufammengehalten. Während der Eine dem Füriten 
Dies oder Jenes erzählte, fchrieb der Andere ihm juft das Gegentheil. Ein 
Dritter verfucht, die Kollegen zu einer Palaftrevolution zu reizen, läuft aber 
gleichzeitig zum Fürften und fhwört ihm, er fei nur nach Darmftadt gefommen, 
um fih mit Seiner Königlichen Hoheit über die Ziele modernen Gewerbes 
zu umterhalten... Sentimentale Leute meinen, der Fürſt hätte nicht an— 
fangen dürfen; habe er A gejagt, jo müſſe er auch B fagen. Künitler jeien 
unverantwortliche und in gefchäftlichen Dingen unmündige Sinder, denen 
man feine materiellen Intereſſen anvertrauen dürfe, nicht mal ihre eigenen. 
Für diefe Leute ift der Fürft immer noch der Mann mit dem langen Bart 
und der fchönen SProne, der eine ewig gefüllte Schnupftabakdoje in der Hand hält. 

ch bin nicht diefer Anſicht und finde, daß die darmftädter Poſſe von 
großem Segen für die Menjchheit ift. Ein guter Mäcen kann uns nicht für zehn 
andere entjchädigen; darum Lieber überhaupt feine. Steh auf Deinen eigenen 
Beinen und ſieh Did um! Heute haben die Fürſten getade fo ihre rein 
gefchäftlichen Intereſſen wie jeder Bierbrauer oder Handihuhmaarenfabrifant 
und jollen fie haben. Und Künſtlern iſt mit der beiten Begabung nicht ge: 
holfen, wenn jie ſich im gefchäftliche Dinge mifchen, ohne Etwas davon zur 
verjtehen. ch glaube, dar einen Augenblid das fünftleriiche Intereſſe beim 
Mäcen fo groß war, wie es bei heutigen Mäcenen überhaupt fein Fanıt. 
Aber tout passe, tout lasse. est höre ih, dak man das darmftädter 
Theater umbauen will und dafür 800000 Mark auswirft, von denen 
300000 Mark von der Schatulle bezahlt werden; und diefer Bau ſoll nicht 
Dlbrih, nicht Behrens, feinem der Darmftädter, fondern einer beliebigen 
Routinierfirma übertragen werden. Das iſt ein Bischen hart, aber gefund; 
denn es reinigt. Ich fehe noch die Vorftellung am Eröffnungtage in dem 
modernen Künitlertheater, mit der modernen Bühne, der modernen Spielerei 
und dem gänzlich unmodernen Publifum. Der Fürſt ſaß ernſt und jchaute 
und alle Anderen ſaßen ernit und fchauten, betrachteten feierlih und ver— 
ſtändnißvoll den gänzlich unverjtändlichen Vorgang auf der Bühne Mir 


Stoffen. 201 


war angjt und bang. Heute ift mir wieder wohl; es giebt feine Gefpeniter, 
feine vierte Dimenſion, auch feine Kunſt mehr, die für Fürjten da ift; und 
noch weniger ein Gewerbe. Es wäre die wunderlichjte Jronie, wenn unfere 
gewerbliche Nenaiffance von Mäcenen gefördert werden fönnte; dafür ift fie 
zu bürgerlich. Sie bricht ja gerade mit Dem, was an Fürjtenhöfen ges 
macht wurde, und ift eine der vielen wefentlich fozialen Evolutionen unjerer 
aufitrebenden Zeit, — und jicher nicht die unbedeutendite, 

Die Schatullen werden kommen, wenn erſt das liche Volf will. Ich 
fehe ſchon alle Throne Europas mit Chriftianfens Linten und Farben ge= 
ſchmückt. Heute geht es micht mehr von oben, jondern von unten; und 
darüber follten wir Alle uns freuen. 


Barıs. Julius Meier-raefe. 


* 


Gloſſen. 


Sy man nicht noch heute vielfach der Anficht, daß die Deutichen als 
Eſſayiſten und Feuilletoniſten nicht eben den erſten Pla in der Welt» 
literatur einnehmen? Dieje Anjiht hat unter den Deutſchen jelbjt jedenfalls die 
meijten Anhänger; im Grunde eine jtolze Selbjtwürdigung. Man hielt und 
hält dieje und verwandte Scriftgattungen nicht für erjten Nanges; nicht für 
geeignet, die Seele eines tiefen, jchöpferiichen, ſchatzgräberiſchen Geiſtes aufzu— 
nehmen. Die Dandvoll Schriftiteller, die als Eſſayiſten und FFeuilletonijten 
Ausgezeichnetes geleijtet-haben, find auf Umwegen in diefe von den Zünftigen 
aller Werthgrade mit faum verhüllter Verachtung behandelte Yiteratur gelangt; 
und jo jtarf lajtete diefe Geringichäßung auf ihnen, daß fie ſelbſt nur refignirt, 
nur als Enttäuſchte, wie mit einem heimlichen Neid auf die Erfolge erftbeiter 
Lindenblüthenlyrifer im Herzen, fich gefallen ließen, was fie als Afterruhm 
empfinden mußten. Und die Stärkiten unter ihnen (ich denfe an Die um und 
nad Wilhelm Scherer), jprudelnde Birtuojenteinperamente, deren Begabung in 
der Bildfraft der Sprade, im anregenden Bermittlertfum, in phantafievoller. 
Kombinationthätigkeit liegt und die nur ſchwer zur Andacht vor dem Detail ſich 
zu erziehen vermögen, die aller Wifjenichaft Anfang it, fie wurden unter dieſem 
lähmenden Drud der öffentlichen Schägung verführt, ihre natürlichen Neigungen 
zu überwinden und zur Buchform zu greifen, die ganz zu erfüllen, die Plaſtik 
- ihres Denkens wieder nicht ausreicht. Anders ijts bei Franzoſen und Engländern. 
Die’ Franzoſen pflegten jogar jeit Jahrhunderten mit zärtlichjter Liebe den 
Aphorisinus, die auf die kürzeſte, zierlichjte, bündigite Formel gebrachte perſön— 
liche Ueberzeugung, den mit dem ganzen Nebel einer momentanen Stimmung oder 
Laune behafteten Einfall, und wanden ihren Marimenichreibern, ihren in Pensdes 
und Apergus fid) ausgebenden „Eleinen Mloraliiten‘‘ Kränze. Ya Nocefoncauld, 


202 | Die Zukunft. 


Pascal, Chamfort, VBauvenargues find Klaſſiker geworden; bei den Deutichen 
icheint dagegen der angeborene Hang zur Grimdlichkeit, zur gewiſſenhaften Er— 
örterung der Gedanken, zur Kontrole des Temperamentes durch die logische Zucht 
die Scheu erzeugt zu haben, philojophijche, willenjchaftliche und kritiſch literariiche 
Probleme irgendwie anders als lehrhaft, umständlich, polemifirend(oderdenungzirend ?) 
und demonjtrirend, furz: jahgemäß zu behandeln. Die perjönliche Färbung 
des Ausdrudes, dort berechtigt, wo die Einfiht noch nicht endgiltig iſt oder end» 
giltig nie werden kann, ift verpönt und macht verdächtig. Perſönlich zu werden, iſt 
höchftens Dem erlaubt, der den Beweis feiner literartjchen Kompetenz durd eine 
umftändliche Leiſtung erbracht hat. Aber wir werden für unjere Tugenden be= 
ftraft: der Bücher werden immer mehr ımd fie werden nicht bejler. Und doch 
wird das Vorurtheil gegen den Eſſay, das ‚Feuilleton und den Aphorismus nur 
langjam loderer; gelehrte Yettelfäde, die nie ein Gedanke entzündet, verfchreien 
fie immerfort als Baftarde. Bejonders ſchwer hat Niegicdhe, vielleicht der größte 
Aphorismenſchreiber aller Zeiten und Völker, unter dieſem Vorurtheil zu leiden. 
Der Aphorisinus gilt nad) wie vor als Aſyl für die literariiche Chnmadt, was 
freilich oft zutrifft. An den Ejjay hingegen hat man fich allmählid) doch ge- 
wöhnt: allein jhon die Quantität der Leiſtung, die beredhenbare Zeitmenge 
Geduld, Ausdauer, Sitfleiich verjöhnt. Auch haben herrliche Veiftungen jeiner 
Anerkennung vorgearbeitet, ihn legitimirt: die Eſſays von Derman Grimm, 
die Aufiäße von Wilhelm Scherer, F. Ih. Viicher, Karl Hillebrand, Heinrich 
von Treitichfe (der ſich nur leider als zur Wiffenichaft gehörig betrachtete), Eduard 
Danslid, Nichard Muther und noch jo manden rüjtig Scaffenden rechne ich 
hierher. „immerhin blieb — oft genug wurde man daran erinnert — der Eſſay 
eben nur geduldet; doch entlud jich, was in den Inquiſitionrichtern der Yiteratur 
(wie Goethe fie nannte) an Groll gegen ihn fih anhäufte, zeitgemäfer gegen 
feine Ywillingsjchweiter, das Feuilleton. 

Nun: angefichts des ganz auffälligen Reichthumes an Effayjaınmlungen, 
die in den legten Jahren den Büchermarkt überfluthen und unter allerhand ge» 
juchten, graziös verjchnörfelten Namen die Aufmerkjamfeit zu feſſeln juchen, 
müßte man von einem bemerfenswerthen Wandel im literariihen Geſchmack der 
Deutſchen jprechen dürfen. Soll mans glauben? Sind wir weltmännilcher ge 
worden? Iſt das Naffinement der Kultur bei uns jo geitiegen, daß wir dem 
Ernft, der Tiefe (der guten Abfiht nadh!), der Sründlichkeit und Gewiſſenhaf— 
tigkeit, Allem aljo, was wir als deutjhe Tugenden zu verehren gewohnt find, 
die Grazien des Ausdrudes vorziehen? Daß diefe uns mehr loden als der Sinn 
der Sache? Ich jpreche hier nicht von den Sammlungen wifjenichaftlicher Auf- 
fäße und Vorträge, durch die die Gelehrten aller Disziplinen die Ergebnifje 
ihrer Forſchungen einem größeren, nicht durchaus fahmännijc gebildeten Publikum 
näher bringen wollen; aljo nicht von den bekannten und populären Arbeiten 
der Helmholtz, Mad, Zeller, Wundt, Windelband, Wilamowig- Möllendorf, 
Curtius und anderer Profefjoren. Belchrung it diejer Gelehrten Endzwed. 
Die künstlerifche Wirkung des Vortrages mag ſich als ungemwollter Nebeneffekt 
ab und zu einjtellen: aber ſie iſt nicht beabjichtigt, ijt zufällig. Unfere neujten 
Eſſayſammler aber jind Artijten. Ihre Sammlungen find auf unfere Gemüths— 
bedürfniffe berechnet. Die Kritiker, Nezenjenten, Referenten, Ausfrager, Yeit- 


Stoffen. 203 


artifler, Börjengrachen, die Schmods jeder Gattung und beiderlei Geſchlechts, 
fie Alle, die bisher mit vielem Fleiß und „nicht ohne Talent“ fich, ihre Familien 
und obendrein noch ihre Verleger ernährt haben, fie, die doc) täglich, ſtündlich 
beinabe Gelegenheit haben, ihr überflichendes Derz in die Kanäle der öffentlichen 
Meinungen ausjtrömen zu laſſen, die ihrer Machtinjtinkte in den Be- und Ver- 
urtheilungen der gelammten literarijchen und fünjtlerifchen Produktion des Yan- 
des fid) entäußern können, die ihrer Yujt, zu fabuliren, einen unerhört weiten 
Spielraum gewähren dürfen, — fie fühlen fich trotzdem undefriedigt, wohl, weil 
jie das Zutrauen hegen, in jedem Augenblid Gwigkeitwerthe zu prägen, und 
können dem bejcheidenen Drang nicht widerftehen, ihre Würdigungen zu ſammeln 
und mit ihren Sammlungen die deutjche Yiteratur zu beſchenken. Schmock be= 
ichenft die arme deutſche Literatur: Das ift, Scheint es, das Neufte. Und wenn 
‘Bapier, Typen, Zierleiſten, Pignetten, Finalſtöcke, VBorjagblätter, Eindband- 
zeichnung, kurz: der künftleriiche Zubehör modernen Burhdrudes und Buchſchmuckes 
den Yiteratunwerth des Werkes bejtimmen, dem er dient, dann dürfen wir zu 
der neuften „Evolution“ des deutichen Schriftthums uns beglüdwünicen. Su 
eine ‚zeuilletonfammlung präjentirt fid nicht jelten mit der ganzen Anmakung 
eines modernen Kunjtwerles; aber oft hüllt ein wirklich geihmadvoller Einband 
den dürren Yeib Schmocks ein. Wunderlich gekräuſelte Yinien umjchlingen auf 
dem Titelblatt jeinen Namen; und vor dem ins Bedeutſame gejteigerten Ge— 
jammttitel der Sammlung, den goldene Yettern auf buntjarbigem Dintergrunde 
verfünden, mag ihn jelbjt das Gefühl feiner Kulturnothwendigkeit durchſchauern. 
Dann wird das Buch beiprochen, gewürdigt . . . Aber man erjpare mir das 
Weitere; es ijt zu ſchmerzlich. 

Man könnte jagen: diejes von Ungeſchmack triefende Literaturgeſchwätz 
jei in jeiner Nichtigkeit jo greifbar, bejonders die aroßthuerifchen, Schmods 
philojophiiche Schmerzen sub specie eines hinter ihm orafelnden Modegötzen 
ausladenden Borreden jeien in ihrer Dohlheit jo durchlichtig, daß Dem Recht 
geichehe, der davon ſich verlocken laſſe. Man könnte eimwenden, dab literariich 
jein wollende Zünftler in bedrohlichem -Umfange der Mode buldigen, ihre ver 
jtreuten, ganz ohme ideellen Zujammenhang entjtandenen Auffäge und Ab: 
bandlungen bei Gelegenheit irgend einer Tages, Jahres: oder \ahrhundertwende 
als Weltanfchauungproben der Mitwelt aufzjudrängen ſuchen und diefem Unfug 
eben jo wenig gefteuert werde. Das iſt nun freilich ſchlimm genug. Aber ein 
Unfug hebt den anderen nicht auf; und der von den Profeſſoren verübte ijt der 
harmlojere, da troß aller Stilaffettation, troß aller Ejpritfucht, um den „Eifay“ 
fünftleriih auszupugen, die in langer Arbeit erworbene Denkzucht meiſt vor 
völlig nuglojem Gerede behütet; meilt wird doch wenigſtens gekärrnert: nicht 
nur behauptet, jondern bewieien, zu beweijen gelucht; und fait immer wird ein 
reeller Denkzweck verfolgt. Mit dem Eſſay als Kunſtwerk mit eigenen Stil» 
aejegen, wie er ji) unter den Händen der Meifter, von Miontaigne und Bacon 
bis herab zu Emerjon, Garlyle, Macaulay, Sainte-Benve und Herman Grimm 
gejtaltet hat, iſt es freilich jo gut wie nichts; dazu fehlt der Betrachtung alles 
Freilicht, aller ſchöne Wagemutb der Stepfis, alle Freude an den „Abentenern 
der Erkenntniß“ oder in Fällen, wo diefe Gaben vorhanden find, der an Ge- 
jege gebundene, durch fünftleriichen Geſchmack vor Ueberſchwang bewahrte Gebrauch 


204 Die Zukunft. 


der Phantaſie. Aber it darum die Kunſt des Eſſay- und Feuilletonſchreibens 
bei unſeren Kritikern und Journaliſten bejjer aufgehoben? ich meine jene Kunit, 
die Anſpruch auf dauerndere Geltung und ein Recht hat, mit der Augenblids 
wirkung fich wicht zufrieden zu geben? Selbjt die vielen Talente, die unter ihnen 
ich regen und, wenn auch meijt nad) berühmten Muftern, anregend, wißig, geiſt— 
reich, urtheilsfähig und zu urtheilen berufen jind,. vermögen jich dem Eſſay oder 
Feuilleion als Kunſtwerk doch nur von fern zu nähern, weil ihnen die auf 
eigenem Grunde ruhende Berfönlichkeit, weil ihnen die reizvolle, auf Andere 
übergreifende Impreſſionabilität, das echte, auch ins Kleinſte und Nebenſäch— 
lichjte übergreifende Denker: und Dichterthum abgeht. Wenn fie jich aufs fleizige 
Beobachten und Berichten beichränten, ſich vor den Fralljtriden billiger SPara- 
dorie in Acht nehmen, dem Selbjterlebten kritiſch Erhörtes und umfichtig Er- 
lejenes beimengen ımd ihren Stil nachträglich von den vielen unjchönen, uns» 
keuſchen Zuthaten jäubern, die der jo oft in Angſt und Noth und Gewifiens 
pein vollbradıten QTagesichriftitellerei nothwendig anhaften, dann dürfen fie ſich 
„Sammeln“ ; dann fommen jo brauchbare, jo lejenswerthe, weil belehrende Werke 
wie Goldmanns Ghinabud oder Guſtav Fr. Steffens’ Buch über England als 
Weltmacht und Kulturſtaat zu Stande. Aber, wie gejagt, verhältnigmäßige 
Dauer kommt ſolchen Büchern doch auch nur wegen ihres lehrhaften Kernes zu; 
die Subjektivität ihrer Verfaller, intereffant genug, einem ihrer Feuilletons cine 
ſchöne Augenblickswirkung zu jihern, reiht zu mehr nicht aus. Wer diejes 
Mehr will, muß es aud) können; muß die Macht und Breite der Seele habeı, 
winzige Erlebniſſe, Iheater- und Bilderemotionen zu vergeijtigen, zu vertiefen, 
zu verallgemeinern, an allgemeine Einfihten zu Emüpfen; mit Goethe zu reden: 
‚auf das Niveau der ewigen Eriitenz zu heben. Und Die es konnten, die Leſſing, 
Diderot und Sainte Beuve, deren Scele hatte Schidjal, hatte Geſchichte. Kann 
aber jeder Schmock Soldyes von ſich jagen? 
* * 
* 

Ich Iprady eben vom Aphorisnus und mußte dabei Niegiches gedenken. 
Mußte? Wie viele Deutjche danten ihm denn, daß er in diejer kleinſten Pite- 
raturgattung Srößtes geleiftet und der deutichen Sprade Töne von ungeahntem 
Klangreiz abgelodt, dab er oft bei geringſtem Wortverbraud bisher Unaus— 
geſprochenes zu jagen verftanden hat? Noch jcheint die Zeit der Erfüllung für 
ihn nicht gekommen. Bor rumd adıtzehn ‚Jahren jchrieb er: „Daben wir uns je 
darüber beflagt, nicht veritanden, verfannt, verwechjelt, verleumdet, verhört und 
überhört zu werden? Gben Das it unjer Yos, — o für lange no! Sagen 
wir, um bejcheiden zu jein, bis 19015 es iſt auch unjere Auszeichnung.“ ber 
nod heute affektiren die Zünftigen, abgejehen von der Ablehnung des Inhaltes, 
was ihr gutes Necht ijt, die gründlichite Verachtung für die Form diejes jtiliftijchen 
(Sejchmeides, für diefe unerbörte Fähigkeit, jede, auch die leijejte, heimlichite 
Regung des Gedankens, jede, jelbjt die ganz nad) innen bohrende Wallung der 
Affckte in Worte zu fallen, die, troß aller Glätte und Plaftik, ihren Seelen— 
nachklang doch nicht verlieren. Zugleich aber wächit unter den Literaten das 
Heer jeiner ungeſchickt tölpelhaften Nachmacher über alles verdaulide Maß. 
Neides, Verachtung und Nachahmung, it nur zu begreiflid. Der Zünftige ver: 
mißt die befonnen demonftrirende Vortragsweiſe, die bequem fontrolirbare Methode 


Gloſſen. 205 


im Aufbau der Gedanken, die wiſſenſchaftliche Schablone in Konstruktion und 
Mittheilung. Er wird, er darf, nad) Gewöhnung und Gigenart, nicht zugeben, 
daß cin philofophiicher Gedanke nicht gebrochen zu jein braucht, wenn er in 
Bruchſtücken fi mittheilt. Er wird und darf nicht zugeben, da mit dem Ge: 
danken zugleich auch jeine Geburtwehen veräußerlicht werden, und muß dieje 
Verquickung von Sadlichem und Berjönlidem für einen Abweg ins Dilettons- 
tiiche, für einen unerlaubten Zwitter halten. Bücher, die in der „Sprache des 
Thauwindes“ geichrieben find, Bücher voll Uebermuth, Unruhe, Widerjprud) 
und Aprilwetter cheinen dem nationalen Temperament zumider; ihm imponiren 
nur maſſive Bauten, in denen die „Erkenntniffe” wie Quaderſteine jich in cin= 
ander fügen und aus denen die freie Willfür im Geftalten und der in immer 
nennen Anjägen fich entladende Erkennerdrang verwiefen find. Aber muß darum 
der Mann jchlimmer behandelt werden als ein „toter Hund“? Muß darum von 
Kanzeln und Kathedern gegen ihn mit immer fteigendem Lärm unfläthig gehetzt 
werden, als ob jeder Angriff auf die Form unferer Kultur (oder Unkultur) ſchon 
ein Berbrechen jei, als ob jede Verwirrung eines Schwachkopfes, dem jeder unge- 
mwohnte Gedanke, jede Baradorie die Kapſel jprengt, den Verkündern neuer An— 
Ihauungen zur Yajt gelegt werden darf? Man befämpfe Nietzſche. Man wider- 
lege ihn, wenn man kann. Man weife nad, daß er bejjer gethan hätte, die 
bewährten Gleije ſchulmäßigen Philojophirens nie zu verlajien. Man bedaure, 
mit dem fieler Philoſophieprofeſſor Deußen, nachträglich, daß Niegiche das Ehe: 
glück und den Kinderſegen verſchmäht habe; man erinnert fi, daß der zweite 
Theil des „Fauſt“ nicht gejchrieben wäre, wenn Goethe, von Du Bois-Neymond 
berathen, dem Heinrich die Grete Firchlich vermäblt hätte. Aber man hoffe doc) 
nicht, den Glauben verbreiten zu können, Bücher madten cin Yeben wirr und 
fraus, das vorher fräftig und gejund geweien jei. Und wenn es Büchern ab 
und zu gelingt, jieches Leben jchneller zum Berwelfen, morſches Gemäuer jchneller 
zum Einjturz zu bringen, jo haben jie ihre Schuldigfeit getban; es hat ihrer 
nie viele gegeben. Weder heute noch früher. Und weder heute noch früher find 
Bücher von folder Wirkung jajagende, beichwichtigende, die eben geltende Norm 
verherrlihende, die Zuſtimmung der Mehrheit erichmeichelnde gemejen. Das 
follten jich auch unjere afademijc gebildeten Yehrer jagen können, wenn fie — 
ein Novum‘ — in den Yebensläufen ihrer Abiturienten über den Namen des 
Bielgeihmähten ftolpern. Sie follten fih jagen: Won den Büchern, die wir 
als Heiligthümer zu verehren anleiten, giebt es nur wenige, deren Berfaſſer zu 
Lebzeiten den Galgen nicht wenigitens geitreift, am Giftbecher nicht wenigitens 
die Yippen genebt haben. Won Blato, der heute von nicht Wenigen als der 
gute Senius Europas belobigt und dazu mißbraucht wird, allerhand mitter- 
nächtige „Intelligenzen wadzurütteln, bis auf Kants „Alles zermalmende* Ber: 
nunftkritif, bis auf Bismards Neuausgabe von Macdjiavellis Bud über den 
Fürſten ſteckt Alles voll Tücken, voll dialektiicher Seniffe, die den Normalverjtand 
foppen und jeinem Scäferfrieden gefährlidy werden könnten, wenn er. 

ja, wenn er begriffe, was ihm eben nicht ergreift: nämlich ihven unverjöhnlichen 
PBrotejt gegen jeine Denf- und Yebensformen. Und deshalb jollte man ſich 
fagen: Was die Gefahr ſolcher jerweilig moderniten Bücher paralyfirt, ijt die ſieg— 
hafte Straft des Lebens, das von allen gedrudten Proteſten ſich das Wefentliche, 


206 Die Zukunft. 


den Kern, die Seele aneignet und einverleibt, alles Andere aber als Schall und 
Rauch von ſich abſtöäßt. Darum auch mühten Takt und Klugheit die wirklichen 
Aufklärer, als Anleiter zum Gejunddenfen,' die fie doch jein wollen, verpflichten, 
die Widerjacher erjt ganz verjtehen, ja, den advocatus diaboli jpielen zu wollen. 
Der Nachlaß Nietzſches erleichtert diefe Rolle ſehr weſentlich. 

Sein Reichthum ijt erſtaunlich; und ohne Uebertreibung kann gejagt 
werden, daß der aus dem Nachlaß veröffentlichte fünfzehnte Band der Werke 
Nietzſches dem Verſtändniß feiner Gedanken ungeahnte Stüßen bietet. Manche 
Seite lieſt man wie die Grlänterungichrift eines Fremden: jo wechſelnde Stand- 
punkte tauchen bei der Behandlung philoſophiſcher Wertbhfragen auf, jo frei 
ericheint die Stellung des Berfafjers, der ſich jelbft einen Argonauten des Ideales 
nennt, gegenüber feinen eigenen, zähen Idioſynkraſien. Es iſt das Wert, das 
Nietzſche am Schluß der „Genealogie der Moral“ (Sommer 1887) als „Der 
Wille zur Macht, Verſuch einer Ummerthung aller Werthe” anfündigt. Wie 
es vorliegt, mit unjäglider Mühe aus den Manujfriptbüchern des Verfaſſers 
von den Brüdern Horneffer entziffert, oft flüchtig andeutend, wie um den rajend 
ichnellen Flug der Gedanken mit Bleiftift oder Feder feſtzuhalten, oft in breiterer, 
die ſyſtematiſche Meiſterung des ungeheuren Problemes anftrebender Darjtellung, 
bat es in feiner äußerlichen Umvollendung den Anſpruch, neben „enfeits von 
Gut und Böfe* und der „Genealogie der Moral“ als Hauptquelle für die 
Lehre Niegiches zu gelten. An vielen Punkten erjcheint die Kritik des europäiſchen 
Nihilismus nicht jo hoffnunglos unverſöhnlich wie jonft: die herrſchenden Nieder— 
gangswerthe jtellen ſich manchmal dod als Erhaltungwerthe dar, nur maskirt, 
nur für den Gebrauch des intelleftuellen Durchſchnittes bemäntelt, als eine Art 
morality made easy. Und dann leje man, um fich von dem Werthe diefes 
nachgelaffenen Bandes eine Vorſtellung zu maden, die Bemerkungen über Ber- 
brechen und Verbrecher: daß fie jo tief in die phyfiologiichen Beitimmungsgründe 
der menjchlichen Pſyche eindringen konnten, danken wir der Vorliche Niegiches 
fir den Ausnahmemenſchen und die Ausnahmezuftände im Normalmeniden. 
Jeder wird zugeben, da bier die Yiebe das jo bequeme Mitleid überwindet. 
Auch wird die aus Unverftand oder gehäſſiger Abſicht geihürte Vorftellung, als 
jet das Wort und die Borjtellung vom llebermenjchen der höchſte oder gar 
einzige Gedanke, bis zu dem fich dieje vieljeitige Natur erhoben habe, hier auf 
Schritt und Tritt widerlegt. Aber ich thue Unrecht, auf Einzelheiten hinzus 
weijen; Kenntniß des Ganzen ift nöthig, zur Bekräftigung der Ueberzeugung, 
daß Niegiche, der jo gern mit feinen Meinungen ſpielte, es nie mit feinen Ge— 
jinnungen that. Die Stimmung ift meijt, im Vergleich zu jpäteren und gleich— 
zeitigen Schriften, wundervoll ruhig, der Ton nur jelten überfteigert, überreigt, 
vielmehr wie durd die Rückſicht auf die willenjchaftliche Unterfellerung der Yehre 
gemäßigt. Als ob Niegiche für diefes „ſyſtematiſche Hauptwerk“ ein Eritijches, 
ein mit Obren, die durch die Norurtheile des Marktes nicht verftopft find, 
bürendes Auditorium ins Auge gefaßt hätte. 


Dr. Samuel Saecuger. 


it 25 


— Een — 
er j . ——— 


Selbftanzeigen. 207 


Selbitanzeigen. 


Chriſta Ruland. €. Fiſchers Verlag, Berlin 1902, 


Das Innenleben einer reich veranlagten Frauennatur in feiner Ent— 
widelung aus den Zeitjtrömungen heraus wollte id in „Chriſta Ruland“ dar: 
itellen; einer Frau, die fich auseinanderlebt, jtatt ſich auszuleben, die fich kometen— 
haft zeriplittert, weil fie inmitten einer Zeit Iteht, die für die „rau eine Welt- 
wende bedeutet, weil jie cin Uebergangsgeſchöpf ift. „Wir, die junge Frauen» 
generation”, jagt ihre freundin Maria, „itehen Alle noch wie auf einer Brüde; 
die Brüde ruht nicht auf fejtgefügten Pfeilern, darum ſchwankt fie; und fie hat 
auch fein Geländer und wir jchwanfen mit; und wer nicht jicher auftritt und 
nicht ſchwindelfrei ijt, ftürzt leicht hinab; und am Ende der Brüde ift eine Sphinx. 
Es iſt ein Zwieſpalt in uns Werdenden zwijchen dem Altererbteu und dem 
Neuerrungenen. Was feit jo vielen Generationen Recht und Brauch war, hat 
ji unferer Gejinnung einverleibt; es ijt beinahe Inſtinkt bei uns geworden. 
Wir haben noch die Nerven der alten Generationen und die Intelligenz und 
den Willen der neuen.” Das von allen früheren Frauengenerationen erworbene, 
aufgehäufte Spezial» Weibthum heftet ſich als eine Art milder Furien oder Me— 
dufen an die Sohlen der „Neuen ran“, ihren Willen und ihr Walten lähmend; 
die Theofophen nennen es Karma. Und diejer Zwieſpalt, in dem die Gegen 
wartfran hin und ber gezerrt wird, iſt Chrijta Rulands Tragit. Sie hat aber 
auch vollen Antheil an dem Geift ihrer Zeit. In der Gegenwart gehört fie 
einem Typus an, als deſſen Neinzud)t der jchwärmerijche Aſket Daniel Rainer 
gedacht ift, dem Zeittypus, der von einer fiebernden Sehnſucht nad) einer vierten 
Dimenjion erfüllt ift, aber auch von anardijtiichen Negungen edlen Stils, die 
jelbit vor den Naturgejegen nicht Halt machen. Es jind Yeidende, an ji Ber- 
gehende, die ji von Gott und Neligion losgejagt haben und mit frommer Gier 
in fi ein nenes höchſtes Wefen juchen. Chriſta fühlt, daß fie nur ein dürftiges 
Reis ift jenes jtarfen Stammes verwegen phantajtiicher Denfer. Ihr fehlt es 
an Berjönlichkeit. An Jahrtauſende lang währender Einjperrung bat das Weib 
die Flugkraft, da es fie nicht brauchte, eingebüßt. ihre Vergangenheit greift 
in ihre Gegenwart hinein. Ein unjichtbares, myſtiſches Band vereint die rau 
von heute mit ihren Scwejtern aus ferner Zeit. ‚ihre Flügel jind lahm, weil 
jie ein weltgeichichtliches Karma tragen. Hedwig Dohm. 

* 
Gedichte. Kaſſel 1902. Carl Bietor. 


Ein Freund ſagte einmal zu mir: „Deine Gedichte haben keinen ſtarken 
Ellbogen nöthig, um ſich durch das Dichtergedränge hindurchzuarbeiten.“ Ich 
habs gewagt. Man zürne mir erſt nachher. 

München. Guſtav Adolf Müller. 
* 
Gebt uns die Wahrheit! Ein Beitrag zu unſerer Erziehung zur Ehe. 
Leipzig 1902. Hermann Seemann Nachfolger. 

In der Arbeit, die ich nun den Yelern vorlege, habe ich jenes gefährliche 

Wageftüd unternommen, vor dem jelbit einem alten Teufelstumpan wie dem 


20 Die Zukunft. 


Doktor Fauſt heimlich graute: Ich bin zu den Müttern hinabgeſtiegen. Die 
Mädchenerziehung iſt von je her eine heiß umſtrittene Frage geweſen. Alle 
Damen, alle Herren haben darüber höchſt löblich und leidenſchaftlos geſprochen 
und nur uns ſelbſt, den Hauptperſonen in dieſer beliebten Farce, wurde jede 
ſelbſtändige Willensregung einfach abgeſchnitten. Wir blieben ſtumme Träge— 
rinnen unſerer naiv-ſentimentalen Rollen, die uns im legten Akt die nothwendige 
Luſtſpielldſung bringen mußten. Das iſt im Grunde einfache Logik der Ihat- 
ſachen. Ein nach den Regeln der Geſellſchaft gedrilltes weibliches Weſen ver— 
gißt nur zu raſch, über ſich und feinen Entwidelungsgang nachzudenken. Als 
junge Dame hat jie weit wichtigere Funktionen zu erfüllen, als ihr Innenleben 
einer Betrachtung oder gar einer Kritik zu unterziehen. Auf Grund, wie ich 
fühn behaupten darf, ehrlicher pfuchologiicher Forſchung verjuchte ic, in meinem 
Buch eine Darftellung jener gefährlichen Mijchung der äußeren Welterzicehung 
und der geheimen Selbjtenthaltung zu geben, die ſpäter jo jchädigend auf die 
Entwidelung Anſerer phyſiſchen und pſychiſchen Kräfte zurüdwirft. Steine jrivole 
Abjicht, nicht die Sucht, mit der Perneinung des Althergebrachten modern zu 
wirfen, hat mich dazu beitimmt. Doc) das Ausjprechen gewiller Thatjachen wirkt 
in unjeren an keuſchen . . . Ohren fo reicyen Geſellſchaft immer weit verleßender 
als deren Ausübung. it Einer von uns ein unangenehmes Abenteuer paflirt, 
jo breitet die Welt unter falbungvollen Reden den fadenjcheinigen Mantel ihrer 
Nädjitenliebe darüber. Denn Das kann jeder Mutter Kind gejchehen. Aber jpricht 
Eine von uns darüber, jchreibt jie durchlebte, durchlittene Gedankentragoedien, die 
das Leben in taufend und abertaufend ‚Fällen zur Wirklichkeit macht, gar nieder, 
dam giebt es Skandal, — und die Steine fliegen, Denn da ijt man mwohl 
licher: Des braud)t wirklich nicht ‚jeder zuzufonmen. Möge denn das Büch— 
lein feinem Scidjal entgegengehn; vielleicht wird mein eigenes Geſchlecht zuerft 
wider mid) aufjtchen; auch jene ganz Meinen, für die es in lichterfüllten Stunden 
niedergejchrieben murde. 
Elje Kerujalem-Kotänyt. 
- 


Wunderheilung und Gottesglaube. Karl Dunder, Berlin 1902. 


Der zuerſt von Niegjche in jeiner ganzen Tragweite erfaßte Saß, daß 
die Stärfe der Suggeſtionwirkung eines Glaubens niemals einen Mapitab 
abgeben kann für dejien Wahrheitgehalt, erhält durch die von der Scientijten- 
Sekte vollbradhten Deilungen eine Beitätigung, wie fie entichiedener gar nicht 
gedacht werden fan. Cine Metaphyſik für Dintertreppe und Nodenftube heilt 
Mondjüctige und Gichtbrüdige, während Herr Stoeder, der ohne Frage im 
Beſitz des wahren Gottesglaubens ijt, fich bejcheiden muß, die glücdlicheren Klone 
kurrenten zu beneiden, ihnen ihre Gewinnſucht vorzumerfen und, was jeine eigene 
Berjon betrifft, zu lagen, dal die ſchönſten Wunder, die er thun möchte, un: 
gethan bleiben, weil nach einem unerforjchlichen Rathſchluß die Gnadenhilfe von 
oben verjage. Darin ftimmt mein Zchriftchen mit Herrn Stocder überein, dat 
die deutiche Kolonialpolitik viel grokartiger daltände, wenn, zum Beijpiel, die 
Lues der Chineſen bei blogem Dandauflegen unjerer Miſſionare ſofort verſchwände. 


Karl Troit. 
* 


Der Ozeantruſt. 209 


Der Özeantruft. 


Doch gar nicht lange ift es her, da jtanden die Frachtraten in der ganzen 

Eu Welt jo hoch, day der Außenhandel der einzelnen Länder gefährdet ſchien. 
Damals, als die eriten Befürchtungen wegen der amerifanijchen Gefahr in Deutjch- 
land auftaudhten, wurden die ängitlichen Gemüther mit dem Hinweis beruhigt, 
cin rationeller Export nad) Deutjchland jei Schon deshalb unmöglich, weil die 
Frachtpreiſe viel zu hoch ſeien. Allerlei Umftände hatten eine außerordentlich 
günftige Konjunktur gejchaffen. Dann famen der jpanijch.amerifaniiche Krieg, 
der Transvaalfrieg und die chineſiſchen Wirren. Durch dieſe politiichen Ereig— 
niffe wurde der verfügbare Sciffsraum weit über das gewöhnliche Maß hinaus 
in Anſpruch genommen, jo daß die Transportkoften ſich in Folge der gefteigerten 
Nachfrage beträchtlich erhöhten. Wie es aber in der regellojen fapitalijtiichen 
Wirthſchaft nun einmal zu gehen pflegt: die Nhedereien wollten nit einjchen, 
daß es fi nur um vorübergehende, außerordentlihe Erſcheinungen handle; ie 
glaubten, die hohen Frachtpreiſe würden fic) dauernd halten. Man baute wild 
darauf los, um neuen Schiffsraum in Konkurrenz bringen zu fönnen. Jnter— 
eſſant ijt in diefer Dinficht die Statiftil des Germanijchen Lloyd für das Jahr 
1901, aus der hervorgeht, daß an Dandelsdampfern im Bau waren 1899: 543 000, 
1900: 584000, 1901: 624000 Tons Brutto. Dieſe rege Bauthätigfeit beweijt 
deutlid, daß man, genau wie in der Waarenproduftion, auch in der Schiffahrt 
den durd) die Konjunktur erhöhten Bedarf für dauernd gefichert hielt und danach die 
Erhöhung der Produftionfähigfeit einrichtete. 

Natürlich) mußte fich dieje Uebereilung rächen; und fie rächte jid) früher, 
als ſelbſt vorfichtige Yeute angenommen hatten. Noch vor dem Erlöjchen des 
Transvaalfrieges drückte die jchlechte wirthichaftliche Lage die Frachtſätze her— 
unter; und nun wurden die Aufträge jeltener und die Konkurrenz wurde jchärfer. 
Der Verſuch, eine Neihe größerer Gejellichaften international zu vereinigen, um 
jo die Breije zu erhöhen, iſt alſo begreiflid. Nur jollte man nicht jo tun, als 
ob unabwendbare Naturereignijje zur Koalition zwängen. Die Hauptſchuld an 
dem plötzlichen Berfall des Frachtengeſchäftes trägt der frühere Uebermuth. 

Nachdem die große deutjch-engliich-amerifanische Dampferkoalition befannt 
geworden war, bemühte fid) die englijche Brejje, an ihrer Spige die Times, 
die Nothwendigfeit der Kombination aus gewillen natürlichen Umftänden abzu- 
leiten und dem Publikum vorzureden, es werde aus der neujten Morganijation 
den Hauptnutzen haben. Die Sciffsbautechnif, hieß es, habe fich ungemein 
verbejjert; aus den Berjonendampfern jeien im Yauf der Seit mehr und mehr 
ihwimmende Baläjte geworden; jede Linie juche durch vorzügliche Verpflegung, 
durch elegantere Ausitattung der Kabinen und Salons das reilende Publikum 
heranzuziehen. Abgejehen von den Schaaren der Zwiſchendeckpaſſagiere können ja 
nur ſolche Leute fi) den Lurus einer größeren Ozeanreiſe leijten, die über viel 
Geld aus eigener oder fremder Tajche verfügen und größere Anſprüche jtellen 
als andere Reiſende. Die Nhedereien haben es aljo wirklich ſchwer; und Die 
Konkurrenz bringt es mit fih, daß an diejen Yuruspaflagieren nicht leicht mehr 
viel zu verdienen ift. Dennoch bliebe die Bereinigung der Linien eine zu tadelnde 
Mapregel. Dem Publikum nübt eben nur Konkurrenz; jedes Monopol führt 


210 Die Zulunit. 


zur Beriumpfung. Schließt fih um die internationale Schiffahrt der Ring, 
jo muß das Publikum die Zeche zahlen. An erhöhte Sicherung des Trans- 
portes, an Steigerung des Komforts, der Fahrtſchnelligkeit wird nicht zu denken jein. 

Neben diejer Schattenjeite der neuen Kombination tritt allerdings auch 
eine LVichtjeite hervor; die Trufts find ja überhaupt modernere Wirthichaftgebilde 
als konkurrirende Einzelbetriebe. Die Konkurrenz zwingt jede einzelne Geſell— 
ihaft, ihren Berkehr nad allen Windridtungen Hin ſelbſt dann voll aufrecht 
zu erhalten, wenn man faum für die Ausreife, gejchweige denn für die Rück— 
fahrt Yadung genug hat. Während jeßt vier, fünf jchlecht bejeßte Schiffe ver- 
ichiedener Gejellichaften auf den jelben Linien mit Verluft fahren, würde, nad) 
der Vereinbarung, ein Schiff fahren, voll bejegt fein und rentiren. Daher war 
vom Standpunkt der betheiligten Aftiengejellichaften aus der Abſchluß des inter- 
nationalen Truſts nöthig. Anders aber jieht die Sade aus, wenn man jie nicht 
vom Standpunkt des um feine Dividende bangenden Aktionärs oder des über die in 
Ausficht ftehende Frachtvertheuerung verärgerten Bafjagiers, jondern als Volks— 
wirth im Hinblid auf den ſich anbahnenden ſcharfen Konkurrenzkampf zwiſchen 
Deutjchland und Amerika betrachtet. Ein Urtheil ijt da ſchwer zu fällen, weil 
wir über des Trufts Art und Organijation vorläufig noch nicht allzu viel Sicheres 
wiſſen. Genau unterrichtet find wir nur über die Theilnehmer. England und 
Amerika jtellen die White Star-Pine, die Dominion-Pine, die American-Line, die 
Atlantic Transport- und die Ned Star-Line. Dazu find dann noch die meiften 
Aktien der Holland: Amerika-Linie erworben. Die Gunard- und Alan-Line haben 
fi vorläufig nicht angeſchloſſen. Deutjchland ſchickt feine beiden Seeprunkſtücke, 
den Norddeutihen Yloyd und die Damburg-Amerika-Linie, ins Bündnif. 

Die anglo-amerikanischen Sejellihaften werden einen Truſt bilden, der 
mit 800 Millionen Mark finanzirt werden joll, und zu diefem Truft treten die 
beiden deutichen Geſellſchaften, durch Verträge unter einander gebunden, in ein 
Bertragsverhältnig, das zwanzig Jahre gelten joll, aber nad zehn Jahren ge- 
Löft werden kann. Jede der beiden Gruppen ilt „an den finanziellen Erfolgen 
der anderen bis zu einem gewiſſen Grade interejfirt“; doch foll „der Erwerb von 
Aktien der deutjchen Gejellichaften dem Syndikat verboten“ fein. In das leitende 
Komitee jenden die Deutſchen und das Syndikat je zwei Vertreter. Die Hamburger 
Padetfahrt und der Lloyd haben die Einberufung einer außerordentlichen General- 
verſammlung angefündet. Weshalb aber zögerte man jo lange? Siegeszeidhen 
pflegt Jeder doch möglichft früh zu enthüllen. Die Truftichiffe dürfen nicht in 
deutiche Häfen kommen, die Deutichen „ihren Verkehr nicht über ein gewiſſes Maß 
erweitern.“ Mit Stolz wird darauf hingewiejen, daß den deutichen Sejellichaften 
die nationale Unabhängigkeit gewahrt worden ſei. Aeußerlich fichts ja auch jo aus. 
Denn die deutjchen Sejellichaften find nicht, wie die engliichen, im Trust, jtehen ihm 
vielmehr als freiestontrahenten gegenüber. Ein Blid auf die Vorgeſchichte der Sache 
genügt, um uns die wahre Natur der deutichen Unabhängigkeit erfennen zu lehren. 

Der Vater der neuen Kombination it natürlich Bierpont Morgan, der 
ja jegt nie fehlt, wenn es gilt, ein Truftjeuchen zu machen. Aber es hat Yahye 
langer Stleinarbeit bedurft, bis das Projekt zur Ausführung reif war. Auch 
ein Truſt wird nicht an einem Tage gebaut. Seit die Dandelspolitit Amerikas 
darauf zugejchnitten tft, von der Urproduktion bis zu der fertigen Waare Alles 


Der Ozeantruſt. 211 


in einer Hand zu vereinen, haben jich die amerikanischen Eijenbahngejellichaften 
bemüht, nicht nur bis zur Hüfte die Waare in ihrer Obhut zu behalten, jondern 
fie jelbjt auch auf den Erportweg zu begleiten. Wie ic mir gerade vorliegenden 
- Notizen entnehme, mißlang nod) vor fieben Jahren der Verſuch der Benniyl- 
vaniabahn, einen Sciffsdienjt nah Europa einzurichten. Aber ſchon ein Jahr jpäter 
führte ein Gejchieterer den Berjuc zum Erfolg. Mr. Hill von der Great Northern 
Bahr begann mit dem Schiffsverkehr nad Oftafien. ‚je mehr die einzelnen großen 
Bahngeſellſchaften ihre Selbjtändigfeit verloren, um jo eifriger wurde ihr Streben, 
gut eingeführte Rhedereien zu erwerben oder neue Linien einzurichten. Wenn wir 
von den gemeinjamen Linien der Union Pacific und Southern abjehen, die 
der Bollendung erit entgegenreifen, jo giebt ein gutes Bild von der herrichen- 
den Entwidelungtendenz die Thatjache, daß die Baltimore und Ohio, die Bofton 
und Main, die Southern Pacific, die Cheajepeaf und Obio, die Norfolf und 
Weitern, die Grand Trunk einzeln „der mit anderen Pinien gemeinjam an 
transatlantiihen Dampferlinien interejfirt find. 

Dieje Entwidelung wurde mit yankeehafter Energie 'gefördert. Hinter 
den Goulijjen leiteten die großen Finanzleute das Geſchäft, die jelben Yeute,- 
die an den großen induftriellen Truſts betheiligt waren. Schließlich war man 
in Amerifa fertig. Aber nun blieb das Ausland, deſſen Schiffahrtlinien in dem 
Augenblick befonders wichtig werden mußten, wo des wirthichaftlichen Niederganges 
erste Zeichen in Amerika fihtbar wurden. Es fam nun darauf an, den Erport 
der amerifaniihen Truſts zu fteigern, und um darin den anderen Nationen 
überlegen zu fein, mußte man die Herrſchaft auf dem internationalen Frachten— 
markt erobern. Zunächſt faufte man Englands Flotte. Die Juman Line, die 
Blue Funnel und endlid — der Stolz von Albions Söhnen — die Ley— 
land Line fielen an Amerika. Fett konnte auch Deutichlands Schiffahrt von 
den Dollarmilliardären aufs Korn genommen werden. Was konnten die Maßregeln 
ſchaden, die verhindern follten, daß deutſche Schiffahrtaftien von Amerifanern ge— 
fauft würden? Das war Dumbug, im beiten Falle Selbjtbetrug. Und wie will man 
die Amerikaner hindern, geräufchlos Aktien der deutichen Gejellichaften zu kaufen > 
Es ſchien eine Weile jchon, als ſeien Morgan und feine Yeute drauf und dran, die 
Aktien des Lloyd und der Badetfahrt zu kaufen. Die Höllenangſt, die fie dadurd) 
in Deutjchland erregten, zeigte ihnen aber, daß fie ihr Ziel jchneller erreichen konnten. 
Ihnen lag ja nichts an dem Aktienbefig, Alles an der Herrichaft über die Linien. 
Konnte man Geld fparen und ohne Aktien den jelben Effekt erzielen: tant 
mieux. Man jhlug den Deutjchen ein Startell vor. Grleichtert athmeten Bal- 
lin und Wiegand auf. Das war doch wenigjtens nad außen ein Erfolg. Diefe 
Stimmung erklärt denn auch, dab in den Hamburger Nachrichten zu lejen war: 
„Bir wiffen nit, ob es wahr ift, daß Englands ftolze nordatlantiiche Rhe— 
derei dem amerikanischen Kapital verfallen iſt: jo viel aber wiſſen wir und find 
nad) einer Unterredung, die wir heute an fompetentejter Stelle zu führen Ge» 
legenheit hatten, in diejer Ueberzeugung noch bejtärkt, day die Konventionen, 
die in New-York verhandelt werden jollen, die Unabhängigkeit umd die Natio 
nalität unjerer beiden großen Nhedereien im feiner Weije berühren.“ 

Nach langen Berhandlungen wurden Herr Geo ‘Plate und Herr Ballin 
nad) New-York beitellt. Was jollten fie gegenüber der in Ausſicht jtehenden 


212 Die Zukunft. 


mörderiichen Konkurrenz thbun? Die mußten dem Pool beitreten. Auf diejem 
Wege gab es für den Aktionär höhere Dividende und für die Plebs blich 
die Glorie der nationalen Selbjtändigkeit gewahrt. Doch ein Schiff fährt 
nicht nach dem Willen der Flagge, jondern nad) der Weifung des Kapitaliften, 
der den Kapitän bezahlt. Und ob die deutichen Stapitaliften fünftig noch weiter 
fo weijen dürfen, wie fie wollen: Das wird man erjt beurtheilen können, wenn 
über die Leitung des Pool völlige Selarheit gefchaffen ift. Wahrſcheinlich iſts nicht. 
Für Herrn Morgan hat der Pool doc nur dann einen greifbaren Ywed, wenn 
der Gebieter die Frachtpreiſe der Welt jo feſtſetzen kann, wie er in feinem Intereſſe 
und im Intereſſe des Stahltrujts es für nöthig hält. Man ſollte nicht vergeflen, 
dab nad Mr. Schwabs Eingeftändniß der Stahltruft ſich für ſchlechtere Zeiten 
rüftet. Der Erport nad Deutſchland und deſſen Abjagebieten ift jein nächites 
Biel. Eine Etappe auf dem Wege zu diefem Ziel ift die internationale Verein- 
barnng, die, obwohl die deutiche Tonnenzahl beträchtlich überwiegt, vielleicht bald 
zur Anerkennung der amerifanifchen Oberherrſchaft gezwungen fein wird. *) 
Plutus. 


) Das verächtliche Lächeln über die amerikaniſche Gefahr, deren Schrecken 
ja maßlos übertrieben ſein ſollten, wird den Europäern nächſtens wohl vergehen. 
Außer dem von Plutus hier betrachteten Symptom ſind noch andere ſichtbar. 
Der Ankauf der däniſchen Antillen mag uns einſtweilen unbeträchtlich ſcheinen. 
Schon aber hört man, daß ein anderer Morgan, der Beherrſcher eines ſtarken 
Truſts chemischer Fabriken, die Eroberung der deutjchen Kaliwerke plant und 
bereit3 Hure und Aktien namentlich jolcher Werke erworben hat, die dem Kali: 
fyndifat nicht angehören. Da die Bereinigten Staaten feine Kalilager, aber 
einen großen Berbraud an Kali haben, war der amerifanijche Markt bisher ein 
werthvolles Abjaggebiet für die deutſche Industrie. Das jah Morgan der Zweite 
und fagte fih: Wenn ich zunächſt die nicht Fartellirten Werte kaufe oder mir durch 
Attienkäufe die Herrſchaft über ihre Gejchäftspolitif fichere, dann breche id} die 
Macht des Kartells und kann es durch unerträgliche Konkurrenz mürb maden; 
und dieje jchledhte Zeit der Kaliinduftrie werde ich benußen, um auch in den 
Startellbereich meine Minen zu legen; babe ich im Startell erit die Mehrheit 
der Stimmen, jo erlebt das deutjche Monopol feinen legten Tag, wir reißen 
die Kaliproduftion an uns und brauchen uns nicht länger mehr mit dem dürftt- 
gen Zwilchenhändlergewinn zu begnügen. Es ijt immer die ſelbe Geſchichte, 
deren Ausgang, bei der unangreifbaren Ueberlegenheit des amerifanischen Stapitals, 
faum zweifelhaft jein fann. Cine Weile wird das Syndikat Widerſtand leijten, 
früher oder jpäter aber zu einer Verjtändigung mit den rückſichtlos fonkurrirenden 
Yankees gezwungen fein, die ſich von der dem ftolzen Ballin, dem „Umjpanner 
des Erdballs“, aufgedrängten nicht weſentlich unterjcheiden wird. Neben dieſem 
Schauspiel eines wirthichaftlihen Niefenfampfes verblaßt der Kleine politische 
Hader, der lärmend durd) die Breife der europäiſchen Neiche tobt. Wenn das Yand 
des Sternenbanners Guropa erft den ‘Breis der Frachten, des Eiſens und Stahls, 
der Kohle und chemijchen Produkte vorjchreibt und die Widerjpenjtigen -auf allen 
Märkten unterbietet, wird man erfennen, wie ungemein flug es war, die Wirth: 


\ 


ihaft erwachſender Völker mit voller Wucht auf den Waarenerport zu jtellen. 














Drud von Albert Damde in Berlin-Schöneberg. 


7 — ec F y FASER TR ARBEIT 
BAR —* — Ve A — BT IR a” —*5 


—————— — — TÜR 
[hi —— — Ki F — ar — 


—8 TR 
Kann * 
hd 

f 3 a 3 





Berlin, den 10. Mai 1902. 
— — > 





Hofjuden. 


Se" Kinder, ich war da. Ganz einfach, weil die Gejchichte mir ſchließ— 
lic) langweilig wurde. Seit Monaten liegt Ihr mir in den Ohren. 
Alles Unheil fomme von dem jewish people, das fich jetst oben breit machen 
dürfe. Unerhört in Preußen, daß Juden in der Hofgejellichaft jolche Rolle 
ſpielen. Selbjt der Schwefelgelbe, dem Ihr nie recht grün wart, habe feinen 
Gerſon Bleichroeder doch nur mit Vorjicht jervirt; und den Heinen Cohn 
— ic meine das deſſauer Baronchen — hat man höchſtens bei großen Hof- 
fütterungen mal flüchtig gefehen. Der wirkte mit feinem unausrottbaren 
Jargon im Werken Saal jehr luftig, fühlte jic) im Gejpräch mit Unjereinem 
aber ftet3 als gefnufften Schugjuden;; blieb, troß Titel und Millionen, fönig- 
licher Kammerfnedht ; immer drei Schritt vom Yeibe. Die Zeit ift vorbei. Jetzt 
lieft man alle paar Tage, irgend ein fauler Semit jei zur Audienz befohlen oder 
auf die Lifte der mit S. M. Einzuladenden geietst worden; und wenn mans 
nicht Fieft, ſickert es durch die Bortieren. Die Yeute dringen in den intimften 
Kreis, werden jogar jchon aufs allerhöchite Waſſer mitgenommen, gegen das 
dieſes Heilige Volk doc) vom Nothen Meer eine eflige Antipathie nad) Europa 
gebracht haben follte. Der preußiiche Adel könne nachgerade ergebenft auf 
jeiner Schoffe boden; Konkurrenz mit der Sippe, die Mojes und die Pro» 
pheten hat, weder jtandesgemäß noch durchführbar. Kommt von uns mal 
Einer ran,dann erreicht er auch was; ſiehe Putlig und Graf in der Spiritus> 
choſe. Nur in Jubeljahren aber noch möglich, das ſchwarze Spalter zu durch— 
16 


214 Die Zufimft. 


brechen. Podbielsli hat die Diode angefangen. Bei Victor Apoftata, dem 
großen Milchhandelsmann, wurden die Leute vorgeſtellt, wahrſcheinlich, nad) : 
dem er am Slattiſch des Königs erzählt hatte, fie ſeien nicht jo ſchlimm wie 
ihr Ruf; und nun haben fie ſich warm eingenijtet. Natürlich werden da 
Anfichten apportirt, die allen Traditionen altpreußiicher Wirthichaft wider- 
fprechen. Obendrein hat aud) der Kanzler via Tauſſig Beziehungen zur 
haute finance. Daher der Angitfchrei in der Herrenhausrede des Sor- 
quitters, der jonft wohl nicht aus dem Bau gefrochen wäre. Und er ift nicht 
der Einzige. Ueberall eine Heidenangft; und ſpaßhafte Wuth gegen die 
Gelben Jaden, die den Anfturm der Eifelirten nicht rauh abwehren. Onfel 
Polte, der hebräifche Studien für zeitgemäß hält, prophezeit in langen 
Sendichreiben die Herrichaft des Kahal, der Kehilla oder Kille (wo— 
runter, wie mir fcheint, das Volk Iſrael zu verftehen ift). Drumont habe 
jeit Jahrzehnten Alles vorausgejagt; jet fomme auch für ung die Stunde 
der letzten Schlacht. Siegen wirnicht, dann: Gute Nacht! Finis Borussiae. 
Und fo weiter... Na,ichbin nicht leicht ins Bockshorn zu jagen. Habeaud) 
ftet8 vor Uebertreibungen gewarnt. Einftweilen fommen auf jeden Juden 
oben noch hundert Junker; und bei ſolchem Prozentjag läßt ſichs leben. 
Die Eindringlinge find auch nicht ausschließlich Kinder Jehovahs. Induſtrie 
und Technik ohne Unterſchied der Raſſe, oft freilich mit jüdischer Oberleitung 
im Dintergrund, Item, ich wollte mal jehen. Daß id) nad) dem Geſtändniß 
für Eud) ein räudiges Schaf bin, verfteht fich am Rande; aber man möchte 
jeine Erben doch fennen lernen und Ihr habt mir outsider fo wie jo nie über 
den Weg getraut. Nicht feſt genug im Glauben; nicht ſchwarzweiß bis in 
die Knochen, Der neue Schmerz wird Sippen und Dlagen nicht niederwerfen. 

Die Einladung hatte id) bald. Ein richtiger Graf und Ritter hoher 
Orden hat da noch Marktwerth. Ich gab eine Karte ab — Das genügevoll- 
fommen, hatte Kuno gejagt — und fünf Tage danach baten Monsieur et 
Madame auf jehr anjtändigem Papier um die Ehre pp. Zu einfachen 
Abendeſſen. Wir hatten feinen von den großen Löwenkäfigen gewählt, weil 
ich mid) erjt alflimatifiren wollte. Beſſere Bankſache ohne Ausficht auf 
Dioabit. Man muß nicht von Allem haben. Alfolos; mitdem feiten Entſchluß, 
unterfeinen Umftänden aus der dankbaren Rolle des bon prince zu fallen. 

Was find Hoffnungen, was find Entwürfe? Nach Mitternadht ſaß 
id) mit einem Herrn, dejfen Name mir um Neun bei der Vorftellung in die 
Glieder gefahren war, einträchtiglich in einer Kneipenede und amufirte mich 
an dem Entjegen zweier Generalftreber, die mich erfannten und ob jolcher 


Hofjuden. 215 


Gejellfchaft ihren Augen nicht trauten. Der Mann hatte mirs mit nett ver- 
packten Bosheiten angethan. Irgend ein Doktor, juris oder jo was, der ſich 
bei näherem Bejehen als avancirten Sozialiften entpuppte, aber ’ne jchwere 
Menge gejehen und gelejen hatte und famos ſprach. Wenigjtens für Unjer- 
einen, dem die Sorte jonft nicht vor die Flinte fommt. Um Zwei waren wir 
jo ungefähr ein Herz und eine Seele. Und ich hatte mit etlichen Bechern 
Pilſener die Geſchlechtschronik faſt all der mehr oder minder ehrenwerthen 
Leute genojfen, die mit mir im TIhiergarten zu Gaſt gewejen waren; nebjt 
Vorjtrafen, Scheidungen, Ehebrüchen und anderem Komfort der Neuzeit. 
Woraus denn wohl zur Genüge zu erjehen ift, daß der bon prince fich nicht 
lange auf fteiler Höhe gehalten hatte, „wo Fürſten ſtehn“. 

Zunächſt wars ja ein Bischen unheimlich) geweſen. Aus allen Eden 
äugte alttejtamentarijches Vollblut. Pompös aufgeichirrte Weiber; meiit 
nicht ganz in Form, mit gelblichen Charcuterien, die alfoholifche Neigungen 
in mir aufjtiegen ließen, aber Aufmadjung erjten Ranges. Seit dem Cafe 
de Paris und der Ermitage hatte ich nicht jo viele gute Steine und Perlen 
zujammen gejehen. Etwasreichlicd) für ein einfaches Abendeffen (daß getanzt 
werden jolle, erfuhr ich) erft nach dem Fiſch). Einzelne auffallend hübjche 
Mädel mit abenteuerlichen Frijuren und höchſt raffinirten, aber Hleidfamen 
Dedvlättern. Die Neize der Männer wären in orientaliichen Gewändern 
wohl zu bejferer Geltung gefommen. Doc) jehr korrekt in weißen Frad- 
weiten mit Soldfnöpfen; die jüngere Generation jogar mit felddienjtfähigen 
Figuren. Immerhin: wenn plöglic) eine Chriftenverfolgung ausbrad), war 
ich verloren ; nur die Diener fonnten mich dann vor dem Schächtmeſſer ret- 
ten. So ſchien mirs wenigjtens, ehe ich warın geworden war. Kuno, der 
Schlingel, der den introducteur fpielen wollte, hatte im legten Augenblid 
abgejagt und mic) allein auf Batrouille gelafjen. Nachher... Nein, Kin: 
der: ich fiel aus fämmtlichen vorhandenen Wolfen. Entre nous thun bie 
Knaben immer, als hätten fie, außer beim Querjchreiben, noch nie einen 
Raſſengenoſſen des Heilands in der Nähe gefehen, und nun tauchte eine 
ganze Suite auf, mindefteng je ein Mufter aus allen Stleinzeugfapiteln des 
Gotha. Jeder erft leije genirt, wie wenn er eine von den Damen am Arm 
hätte, die man nicht mit dem Hut grüßt; bald aber kreuzfidel und entzüct 
von der angenehmen Temperatur des Hauſes. Ihr rümpft die Naje und 
denkt: Die zicht das Futter, die Sehnſucht nad) Schloßabzügen, vielleicht die 
Hoffnung auf einen unbefrifteten Pump. Kommt aud) vor; und ficher nicht 
jelten. Das Futter war wirklich gut; jo ungefähr Alles, was die Saiſon 

16* 


— ren N 


216 Die Zukunft. 


nicht Liefert; mir wurde weder Knoblauch noch Mazza zugemuthet. Und Wein 
und Cigarren weit über unfere Gewöhnung. Ein Moſel, der verhärtete Anti- 
jemiten vor Gewiſſenskonflikte geftellt hätte. Trogdem: die Viktualien finds 
nicht allein. Sch ſah namhafte Führer, Säulen der Partei, Yeute, die ſich 
jelbjt einen ordentlichen Happen leiften und ihn ohne Reue mit dreiundneuns 
ziger Pommery begieken fönnen. Es ift eben nod) was Anderes. Ich habe 
mid) zwar nicht gerade wie die Prinzen und Grafen des tüchtigen Herrn 
Sudermann benommen, die in fremden Häufern Schreibtijche bejchnüffeln, 
mich aber umgeguct wie auf dem erſten Rekognoſzirungritt meines Lieutenant⸗— 
lebens. Donnermwetter: wohnt die Gefellichaft! Feder Schranf, jedes Glas 
cheint ung ein Heines Wunder. Dabei nicht überladen, wie ic) gedacht hatte, 
jondern mit einem gewilfen Talt auf einen Ton geftimmt. Wir haben doch 
auch Kerle, die im Jahr ein dickes Padet brauner Scheine verpugen. Wo 
aber jiehbt man bei Denen ein gutes Bild? Hier jo ziemlich Alles, was in 
letter Zeit von fic reden gemacht hat. Bronzen, Poterien aller Stile, Ra- 
dirungen, Skulpturen und Bücher, — Bücher, daß einem rechtichaffenen 
riftlichen Germanen angst und bang werden fan. Na,. Ihr kennt meine 
Puſchel. Aber geht erjt hin, ehe Ihr ſchimpft. Und bildet Euch ja nicht ein, 
man werde Euch wie den lieben Herrgott anjtarren. Keine Spur. An adeligem 
Verkehr fehlts nicht mehr. Ein neuer Name von Klang ift immer will: 
fommen; aber man legt jich vor ein paar Ahnen nicht aufden Bauch. Ueber- 
haupt iſts ganz anders, als wir uns vorjtellen. Der Typus Cohn und Bleich— 
roeder jtirbt aus und die heranwachjende Generation kann fid) jehen laſſen. 
Stramme Bengel, die reiten, turnen und Tennis fpielen, Huge Mädchen 
mit der Sicherheit aus engliichen Penfionen first rate. Das hat mit acht— 
zehn Fahren Alles kennen gelernt, was unſer Erdtheil zu bieten vermag, 
und weiß auf den verichiedeniten Terrains Beſcheid. Als ich gejtehen mußte, 
ich ſei noch nie in Rom gemwejen, glaubten die schwarzen Ilſen und Öreten, ich 
wolle einen jchlechten Scherz machen. Junge Kultur, aber Kultur, Kinder. 

Seid friedlich: ich ſchwärme nicht; fällt mir gar nicht ein. Bin auch 
nicht jo mit Blindheit geichlagen, daß mir die Heinen und großen Yächerlich» 
feiten entgingen. Zu viel Pantomime, zu wenig Ruhe in den Vorderpfoten, 
die der Europäer zum Reden nicht braucht, faft immer zu viel Affekt und zu 
viel Geräuich. So zwiſchen Dlarjeille und Port Said. Das giebt ſich. Yänger 
wird es dauern, bis die Diener nicht mehr vornehmer aussehen als die Herr— 
ſchaft. Einjtweilen guet foldyer lange Yümmel, der in Potsdam feine zwei 
Jahre runtergerijjen und als Burjche Manieren gelernt hat, mit feinem 


Hofjuben. 217 


ſchmalen Blondkopf manchmal recht fonderbar auf die fommerzienräthliche 
Slate herab. Und auf dem Lande... Ich war nämlich ruchlos genug, auch 
einer Einladung auf das Rittergut meiner neuen Freunde zu folgen. Wollte 
die Agrarier von übermorgen mal in vollem Glanz ſehen. Da haperts noch 
böfe. Natürlich ift Alles da; nicht wie bei armen Leuten. Mafchinen, daß 
Einem jchwarz vor den Augen wird, meliorirt auf Deibelholen, Vichitälfe, 
für die ich meine ganze Klitiche hingäbe, und vom Feld auf Automobilen 
ins elektrijch beleuchtete Schloß, das jo feudal aussieht, als hauſte ein alter 
Burggraf drin. Die Leute geben fich auch alle Mühe; aber das Kleid des 
country-gentleman fitt nod) nicht. Der Kutjcher grinft, wenn der Herr 
Direktor ihm jagt, wie die Pferde zu behandeln jind. Und trogdem Madame 
jede Kuh beim Namen kennt und vor dem Diner pünftlid) noch nach den 
Fohlen jieht, merkt man auf Schritt und Tritt doc), daß ihr lieber Papa 
nicht Körner gebaut, jondern mit Diamanten gehandelt hat. Die Sache geht 
aljo noch nicht, wird vielleicht noch in der nächſten Generation für unfere 
Begriffe nicht klappen. Wobei die Hauptjache aber nicht zu vergejien tft: 
daf dem armen Boden die Düngung mit Gold vorzüglich befommt. 

Ich bin alfo nicht blind. An manchen Stellen iſt der Yad dünn auf— 
getragen umd jpringt, bei der Haft diejer Raſſe, leicht ab. Nur Hilft fein 
Mundipisen: die Yeute find nicht mehr zu verachten oder gar auszulachen. 
Ihre Stärke ift die bejfere Rüftung für die moderne Lebensſchlacht. Wir 
müſſen uns höllifch zufammennehmen, jonft liegen wir platt unter dem 
Schlitten. Was lernen wir denn, Hand aufs Herz? Armee, Landwirthichaft, 
allenfalls noch Bischen Verwaltung oder jogenannte Diplomatie. Bücher 
werden nichtgefauft und für Bilder langtsnicht. Technik, Naturwiſſenſchaft 
ift ung ein Buch mit fieben Siegeln, jeder Bankier ein Gauner, und wenn 
ein Standesgenojje den Sinn des Wortes Arbitrage erflärt haben möchte, 
fragen wir ihn, ob er unter die Einbrecher gehen wolle. Pit, Kinder: es iſt 
jo. Die paar Edelleute, die in Induſtrie, Technik, Handel was vor ſich ge- 
bracht haben, eine Bilanz lejen fönnen, in der weiten Welt ſich den Wind 
um die Naje wehen lafien oder diejes mit Recht geichätte Organ in 
Bücher ſtecken, ändern nichts an der Negel. Im Allgemeinen wiſſen wir 
Nepoten nichts von Alledem, was heutzutage wichtig ift. Künftler, Gelehrte 
dringen nicht in unjeren Dunfikreis und die Meiſten von uns ahnen nicht, 
wie ſich der ſtädtiſche Induſtriearbeiter vom Aderfnecht und ländlichen Tage: 
Löhner unterjcheidet. Folge: wenn Einer aus diefer Schicht entgletjt oder 
verarmt, kann er mit Policen auf die Walze gehen oder drüben Kellner 


218 Die Zukunft. 


werden; weiter reichts gewöhnlich nicht. Andere Folge: Furcht vor jedem 
struggle und Groll gegen die Hohen und Hödjften, die fich die Parvenus 
nicht vom Yeibe halten. Mir war regis voluntas niemal3 suprema lex 
und id) bin eher preußifch als kaiſerlich; aber hier fann id) nicht mit. Wir 
haben den berliner Hof nicht gepachtet; und wenn von den neuen Yeuten mal 
Einer ranfommt, entjpricht8 nur dem veränderten Stärfeverhältnig. Dieje 
Gentry von vorgejtern hat Yeiftungen aufzumeijen, die aud) dem Staat ge: 
nüst haben, und kann dem König allerlei Intereſſantes erzählen. Ich habe 
fie von allen Seiten betrachtet. Der jehnlichjte Wunsch ift, ihre Yoyalität 
in der Sonne jpaziren führen zu dürfen. Die demofratijchen Ideale wer den 
unter dem Selbftloftenpreis verramicht. Wir haben oft genug im Glashaus 
geiejfen, wollen die Steine aljo lieber liegen lafjen. Irgendwann wirds ja 
zu einer Reibung fommen, die vielleicht ein Feuer anfacht; denn Induſtrie 
ift ne Kulturform, in die gewiſſe altpreußifche Ideen nicht hineinpaffen. 
Gegen Boltes Finis Borussiae ift nicht8 einzumenden; nur hatte diejes 
Ende jchon längft angefangen, als der Erfte von Denen, die Ihr verächtlich 
Hofjuden nennt, mit Lackſchuhen die Schwelle des Schlojjes betrat. 

Mein Doktor (Der vom einfachen Abendejlen her) hatte fich in den 
Ausdruck vernarrt und betheuerte, nirgends würden die Hofjuden unbarm— 
herziger verhöhnt als in ihren Kreifen. Er rik die runden Augen auf, weil 
ich jagte, der Hohn jei im Grunde thöricht und nur durch Neid zu erflären. 
Mancher, der früher die Möglichkeit, von einem Hohenzollern angeſprochen 
zu werden, fo fern wie die Wiederkehr des Chafarenreiches ſah, mag jett ja 
den Kopf verlieren, wenn ein Deutfcher Kaiſer ihn als Geſprächspartner 
einem Mandarinen vorzieht. Von der Sorte, die lang liegt, jobald eines 
Prinzen Blick fie trifft, haben wir aber auch noch hübſchen Vorrath. Des 
Doftors Hände ſprachen erft Zweifel an meiner Aufrichtigfeit, dann Zu— 
verjicht aus; und ſchließlich Iprudelte das kluge Kerichen einen Triumph» 
gejang hervor. Er jei zwar Sozialijt (unabhängiger natürlich) und made 
fich nichtS aus Faxen. Aber die moderne Entwidelung führenun mal durd) 
den Kapitalismus, aljo müſſe man wünjchen, daß er ſich auslebe. Ich habe 
nicht Alles fapirt. Nur, daß mit den Thiergartenleuten jehr gut zu regiren 
jet; ihre Moral ſei von der anderer Menjchentinder faum noch verjchieden 
und fie haben aufgehört, lächerlich zu wirfen, jeit dichöhere Kultur die Kluft 
zwiſchen Schein und Sein ausgefüllt habe. Dabei zappelte er, dat die Pin- 
cenezgläfer auf dem Höder unruhig wurden und ich fürdhtete, num werde er 
zum tötlicyen Streich gegen die Junker ausholen. Als ein Mann von feiner 
Kultur erjparte er mir für diesmal aber den landesüblichen Schmerz. 


Hofjuden. 219 


Einerlei. Was er jagte, jtimmt aufs Haar. Kinder, wir find furcht— 
bar zurüd. Wir fennen die Erdfugel nicht, wiſſen nicht, was hinter unſeren 
ftandesgemäßen Scheuffappen vorgeht. In Frankreich, England, jogar in 
Oeſterreich iſts anders; da hat ein großer Theil des Adels ſich modernifirt. 
Man findet in den Schlöjjern berühmte Bilder und gute Bibliothefen, unter 
Gelehrten und Künstlern alte Namen. Wir find anjtändig geblicben, aber 
nicht recht vorwärts gefommen. Daß es an Talent nicht fehlt, zeigt das Bet: 
jpiel vieler Offiziere, die auf den verjchtedenften Tyeldern zu Haufe find. Die 
Luft fehlt, die Berührung mit einer Welt, die unſere Privilegien nicht mehr 
anerkennt, die Nothwendigfeit, ich fürWettfämpfe zu trainiren und inBe- 
reitichaft zu halten. Fett droht uns eine Gefahr, wie fie ärger fein gewalt- 
jamer Umjturz der Staatsordnung bringen fönnte. Die Yeute, die einmal 
ans Licht hinaufgelangt find, werden ſich oben feftbeißen und mit zäher 
Schlauheit Alles verſuchen, um von perjönlicher Gunst zu politischer Macht 
aufzufteigen. Ihre Waffen jind nicht von Bappe; und jie fönnen jich leicht 
unentbehrlid) machen. Erjtens, weil fie in die Welt pafien, die nicht mehr 
mwegzufluchen it, und über alles in diefer Welt Wichtige auf Anhieb Ausfunft 
zu geben wijjen. Zweitens, weil ihr Intereſſe mit dem der berühmten Welt: 
politik fich eine gute Strede vertragen fann, Friede, Flotte, Märkte, Er: 
panjion und wie der Kram jonjt noch heißt: das Alles läßt ihren Weizen 
blühen, während unferer dabei vor die Hunde oder vor die Argentiner geht. 
Qui vivra, verra. Mitdem homburger Bahnhof, wo der Muth in der Bruft 
unjererBieledlen und Getreuen jeineSpannfraft übte, hatsangefangen. Bald 
wird es dicker fommen und fchlieglid) werden wir zur allerunterthänigften 
Dppofition genöthigt fein und uns nicht rühren dürfen, wenn irgend ein 
Herr Singer uns Vorleſungen über Bafallenpflicht hält. Hat auch gar feinen 
Zwed, mit feinen Dlittelchen entgegenzumirfen; die Cache fommt doc und 
die Konventilelweisheit ijt nur jchnöde Zeitvergeudung. Sehen Sie ſich mal 
drüben den Kleinen an, ſagte mein Doktor; da unterdem Yeiftifow, Warum 
ſoll Der nicht Handelsminijter werden? Die Sache verjteht er aus dem ff, 
iit lange drüben in New:Morkgeweien, hat hier aus 'ner Spelunfe ein Rieſen— 
geichäft gefingert, mit einer Organijation, die Ihre ſämmtlichen Oberpräji- 
denten nicht fertig brächten, und mauſchelt nicht im Geringſten mehr. 
Stimmt. Und diefer Typus wird dag Nennen machen; einerlei, ob er aus 
der Gegend des Sinai oder vom Wupperthalftammt und ob wir ihn Konzefjion: 
ſchulze oder Hofjude ſchimpfen. Es hat Neun gejchlagen. Angenehme Ruhe! 


% 


220 Die Zufunft. 


Die Sufunft.*) 


3 ift im gewiſſer Hinficht ganz unbegreiflich, daß wir der Zufunft nicht 
kundig find. Ein Nichts würde wahrſcheinlich genügen, ein anderer 
Verlauf der Hirnfafern, eine andere Richtung der Hirnwindungen, ein Fleines 
Nervengefleht mehr, — und die Zukunft würde ji mit der ſelben Deutlich- 
keit, der jelben majeftätifchen und unerfchütterlichen Fülle vor unferen Augen 
entrollen, wie die Vergangenheit ih nicht nur am Horizont unferes perſön— 
fichen Lebens, fondern auch an dem der Gattung, der wir angehören, entfaltet. 
Es ijt eine eigenartige Schwäche, eine fonderbare Beſchränkung unferes Geiles, 
die uns in Unwiſſenheit darüber läßt, was uns begegnen wird, obwohl wir 
doch wiffen, was uns begegnet ilt. Von dent abjoluten Standpunkt aus, 
zu dem unfere Borftellung ich erheben kann, obwohl fie nicht auf ihm zu 
(eben vermag, liegt fein Grund vor, warum wir nicht fehen follten, mas 
noch nicht ift, weil Das, was in Bezug auf uns nod nicht ift, doch noth— 
wendiger Weile fchon vorhanden fein und ji irgendwo Fundgeben muß. 
Sonft müßte man ja fagen, daß wir in Hinficht auf Alles, was die Zeit 
betrifft, den Mittelpunkt der Welt bilden, daß wir die einzigen Zeugen find, 
auf die alle Ereigniffe warten, um das Recht zu haben, in die Erfcheinung 
zu treten und im dev ewigen Gefchichte der Urſachen und Wirkungen mit: 
zuzählen. Aber es wäre eben jo widerjinnig, Das für die Zeit zu behaupten, 
wie für den Raum, jene andere, etwas weniger unbegreifliche Form des 
doppelten Myfteriums der Unendlichkeit, in dem unfer ganzen Leben ſchwebt. 

Der Raum ift uns vertrauter, weil die Zufälle unferer organischen 
Beichaffenheit uns in unmittelbarere Beziehung zu ihm jegen und ihn uns 
greifbarer machen. Wir fönnen uns in mehr als einer Hinficht darin ziem- 
lich ungebunden vor- und rüdwärts bewegen. Desha'b wird auch fein Neifender 
die Behauptung wagen, daß die Städte, die er noch nicht befucht hat, erit 
mit dem Augenblic zur Wirfichfeit werden, wo er lie betritt. Und doch iſt 
Das fait das Selbe, wie wenn wir uns überreden, daß ein noch nicht ein= 
getretenes Ereigniß noch fein Dafein beligt. 


*, Ein Fragment aus dem neuen Wert Maeterlinds, das, unter dem 
Titel „Der begrabene Tempel“, in den näditen Tagen bei Eugen Diederichs in 
Leipzig erfcheinen wird. Der Ueberjeger, ‚Freiherr von Oppeln» Bronitomsti, 
fagt in einer Vorbemerkung, der Titel bezeichne „den begrabenen Tempel in ber 
Menſchenbruſt, das unbewußte, transjzendentale Ich, aus dem alle Götter her- 
vorgegangen find und in das jie jetzt wieder zurüdtehren“, und nennt das Buch 
eine Bhilojopbie des Unbewußten, die fi den Gedankengängen Dartmanns 
nähere. Diejer zehnte Band der autorifirten, von Diederichs jehr hübſch aus— 
geftatteten Gelammtausgabe der Werke Maeterlincks koſtet 4,50 Marf. 


ee | 


Die Zukunft. 92] 


Aber ich habe nicht die Abficht, mich nach Erörterung fo vieler anderen 
in das unlösbarfte aller Räthſel zu vertiefen. Wir wollen weiter nichts 
fagen, al3 daß die Zeit ein Myſterium ift, das wir willfürlich in Vergangen— 
heit und Zukunft getheilt haben, um zu verfuchen, Etwas davon zu begreifen. 
An fich ift es fo gut wie ſicher, daß fie nur eine ungeheure, ewige, unbe: 
wegliche Gegenwart ift, in der Alles, was gefchehen iſt und noch gefchehen 
wird, unerfchütterlich befteht, ohne daß das Morgen fich, aufier in dem Kurz: 
lebigen Menfchengeift, vom Geſtern oder Heute unterfchiede. 

Faft follte man annehmen, der Menſch habe ftets das Gefühl gehabt, 
daf eine einfache Schwäche jeines Geiites ihn von der Zukunft trennt. Er 
weiß fie lebendig, vollftändig und wirkſam hinter einer Art von Wand, die 
er jeit den erften Tagen feine Erjcheinens auf der Erde ımabläfjig um— 
freift hat. Oder vielmehr: er weiß fie im fich und einem Theil feiner felbit 
befannt, ohne dar diefe bedrüdende und beunruhigende Erkenntniß durch die 
zu engen Kanäle feiner Sinne bis zu jeinem Bewußtſein empor zu dringen 
vermag, das der einzige Ort ift, wo eine Erfenntnig Namen, nugbare Kraft 
und gewiffermagen menfchlihes Bürgerrecht erwirbt. Nur mit ungewiſſem 
Schimmer, durch zufällige und vorübergehendes Durchſickern, gelangen die 
fünftigen Jahre, die ihn erfüllen und deren gebieteriiche Realitäten ihn von 
allen Seiten umgeben, bis in fein Him. Er wundert fih, daß ein merk: 
twürdiger Zufall diefes Hirn gegen die Zukunft, im die es doch fait ganz 
eingetaucht ift, fo hermetiſch abſchließt wie ein verliegeltes, in einem endlofen 
Meer ſchwimmendes Gefäh: das Meer drüdt und reizt, quält und liebkoft 
es mit feinen Wogen, mit denen der Inhalt des Gefäßes ſich doch nie miſcht. 

Zu allen Zeiten hat der Menfh nah Epalten in diefer Wand ge: 
fucht und ji) bemüht, das Waller durch diefes Gefäß durchſickern zu Laffen 
und die Wände zu durchbrechen, die feine Vernunft — die fait nicht? weis — 
von feinem Inſtinkt trennen, der Alles weiß, ſich ſeines Wiſſens aber nicht 
bedienen kann. Wie e8 fcheint, hat er mehrfach Glück damit gehabt. Es 
gab immer Hellfeher, Propheten, Sibyllen und Zauberinnen, bei denen durch 
eine Krankheit, durch ein von Natur oder durch Kunst hypertrophiiches Nerven: 
fyitem ungewöhnliche Verbindungen zwiichen dem Bewußten und Unbewuhten, 
zwifchen dem Leben de3 Einzelwefens und der Gattung, zwifchen dem Menfchen 
und jeinem verborgenen Gott gefchaffen wurden. Sie haben von biefer 
Möglichkeit eben fo unwiderrufliche Zeugniffe hinterlafien wie irgend ein 
anderes hiſtoriſches Ereigniß. Doc waren dieſe feltfamen Deuter, diefe 
großen geheinmißvollen Hyiterifchen, in deren Nervenbahnen Gegenwart und 
Zukunft im diefer Weife freiiten und ſich vermifchten, eine Eeltenheit und 
darum entdedte man empirische Methoden — oder glaubte, fie zu entdecken —, 
um das ſtets gegenwärtige und bedrohliche Näthiel der Zulunft auf fait 


222 Die Zukunft. 


mechanifchen Wege entziffern zu fönnen. Man fchmeichelte fich, jo die uns 
bewußte Weisheit der Dinge und Thiere zu befragen. Daher jtammt die 
Deutung des Vogelfluges, die Weisfagung aus den Eingeweiden der Opfer: 
thiere, au$ dem Lauf der Sterne, dem Feuer und Waffer, den Träumen, daher 
ftammen al die Arten von Wahrfagefunft, die uns die alten Schrift: 
fteller überliefert haben. 

E3 hat mich gelodt, feitzuftellen, auf welchem Standpunft die Wiffen- 
haft von der Zufunft heute fteht. Sie hat nichts mehr von dem Glanz 
und der Kühnheit früherer Tage. Cie gehört nicht mehr dem öffentlichen 
und dem religiöfen Leben der Volker an. Die Gegenwart und die Ver— 
gangenheit enthüllen uns fo viele Wunder, daß jie genügen, um unferen 
Durft nah dem Wunderbaren zu befriedigen. Wir witrden abgelenft durch 
Das, was ift oder war, und haben jo gut wie ganz darauf verzichtet, Das 
zu befragen, was fein könnte oder fein wird. Trogdem: diefe altehrwürdige 
Wiffenfchaft wurzelt tief im dem untrüglichen menfchlichen Inſtinkt und ift 
von ihm noch nicht aufgegeben. Sie wird allerdings nicht mehr am hellen 
Tage geübt. Sie hat ji; in die düſterſten Winkel, im die vulgären umd 
leichtgläubigen, unwiffenditen und verachtetejten Kreiſe geflüchtet. Sie benust 
alberne oder Findlihe Mittel; und trogdem hat auch vie eine gewifle Ent: 
widelung durchgemacht. Ste vernachläffigt die meiften Methoden der primi— 
tiven Wahrfagefunit und hat dafür andere gefunden, die zum Theil wunder: 
lich, zum Theil lächerlich find, und fie hat ih einige Entdedungen nusbar 
gemacht, die keineswegs für fie beſtimmt waren. 

Sch habe fie bis im ihre dunkelſten Schlupfiwinfel verfolgt. Ich wollte 
ie jehen, nicht in den Büchern, fondern in ihrer Wirkſamkeit im wirklichen 
Leben und im Kreis ihrer bejcheidenen Getreuen, die Vertrauen zu ihr haben 
und alltäglich ihren Rath einholen oder ich von ihr ermuthigen laſſen. Ich 
bin mit redlicher Abſicht Hingegangen, ungläubig, aber bereit, zu glauben, 
ohne VBoreingenommenheit und vorgefaßtes Lächeln; denn wenn man fein 
Wunder mit blinden Augen zugeben fol, jo ijt die lächelnde Blindheit noch 
fchlimmer. In jedem hartnädig feftgehaltenen Itrthum birgt ſich gewöhnlich 
eine vortreffliche Wahrheit, die ihrer Geburtitunde harrt. 

Wenige Städte hätten mir eim weitere und fruchtbareres Feld der 
Erfahrung geboten als Paris. Hier ftellte ich alfo meine Beobachtungen 
an. Zum Beginn wählte ic den Augenblid, wo ein Vorhaben, deſſen Aus- 
gang nicht von mir abhing, das aber von großer Tragweite für mich fein 
munte, gerade im der Schwebe war. ch will nicht auf die Einzelheiten 
diejer Angelegenheit eingehen, die an ih ganz belanglos ift. Es wird ge: 
nügen, daß um diejes Vorhaben viele Ränke gefponnen waren und mehrere 
mächtige Gegenwillen fich dem meinen widerfegten. Die Kräfte hielten ein= 





Die Zulunft. 293 


ander das Gleichgewicht und nach menſchlicher Logik war es unmöglich, vor 
auszufehen, wer da8 Uebergemwicht erlangen würde. Ich hatte der Zukunft 
alfo fehr bejtimmte Fragen porzulegen. Das ift eine nothwendige Vor: 
bedingung; denn wenn Viele jich beflagen, fie fagte ihmen nichts, fo Liegt 
Tas oft daran, dan fie jie zu einer Zeit befragen, wo ſich am Horizont 
ihres Weſens nichts zufammenzieht. 

Ich fuchte alfo nach einander die Aftrologen und Chiromanten auf, 
die heruntergefommmenen, uns wohlbefannten Eibyllen, die fich einbilden, die 
Zukunft in den Karten zu lefen, im SKaffeefag, in der Form, die ein im 
einem Glas Waſſer aufgelöftes Eiweiß anninımt, und fo weiter. Denn 
man darf nichts unterlaffen, und wenn der Apparat mandmal wunder: 
lich ift, jo kommt es doc vor, daß fih ein Körnchen Wahrheit auch 
unter den tollſten Praftifen verbirgt. ch ſuchte namentlid die berühmteiten 
unter jenen Prophetinnen auf, die unter den Namen von Sommambulen, 
Hellieherinnen, Medien ihr Bewußtfein mit dem Bewußtſein und felbit 
einem Theil der Unbewuntheit der fie Beiragenden vertaufchen und, im 
Grunde genommen, die unmittelbaren Erbinnen der alten Zauberinnen find. 
Ih fond in diefer aus dem Gleichgewicht gekommenen Welt viel Schurferei, 
Heuchelei und grobe Lüge. Doch ich hatte auch die Gelegenheit, gewiſſe ſeltſame 
und umbejtreitbare Phänomene in der Nähe zu ftudiren. Sie genügen nicht, 
um zu enticheiden, ob es dem Menfchen gegeben ift, den Schleier der 
Illuſionen zu lüften, die ihm die Zukunft verbergen, aber fie werfen doc) 
ein ziemlich feltfames Licht auf die Vorgänge an jenem Ort, den wir für 
den unantajtbaren halten; ich meine das Allerheiligfte des verichütteten Tempels, 
in dem unfere innigften Gedanken und die unbefannten Sträfte, aus denen 
fie erwachſen, ohne unfer Wiffen kommen und gehen und taftend den ge= 
heimnißvollen Weg ſuchen, der zu den fünftigen Ereignifien führt. 

Es würde zu weit führen, wenn ich Alles erzählen wollte, was ich 
bei diefen Prophetinnen und Hellfeherinnen erlebte. Ich will nur furz von 
einem der fchlagenditen Experimente diefer Art berichten. E3 ſchließt übrigens 
die Mehrzahl der übrigen ein und die Piychologie iſt bei allen ungefähr gleich. 

Die Somnambule, die ich meine, ift eine der berühmteften in “Paris. 
Cie behauptet, in ihrem hypnotiſchen Zuftande den Geiſt eines unbefannten 
feinen Mädchens, das fie Julia nennt, zu infarniren. Sch mußte mid) jo 
an einen Tifch jegen, dat er zwiichen ung war, und jie empfahl mir, Julia 
zu duzen und fanft mit ihr zu reden, wie mit einem Kinde von lieben oder 
acht Jahren. Dann verzerrten ji ihre Züge, ihre Augen und Hände, ihr 
ganzer Körper einige Sekunden lang in unangenehmer Weile; ihre Haare 
löſten jih auf und ihr Gelichtsausdrud war völlig verändert. Er wurde 
naid und findlich und aus dem großen Körper Ddiejer reifen Frau drang 


224 Die Zukunft. 


eine fcharfe, Eare Kinderftimme, die mich etwas ftotternd fragte: „Was 
willit Du? Haft Du Verdruß? Kommft Du Deinetwegen oder für einen 
Anderen, um mid zu jehen?“ „Für mid.“ „Schön; willit Du mir 
helfen? Führe mich in Gedanken an den Ort, wo Dein Verdruß iſt.“ 
Sch konzentrirte meine Gedanken auf den Plan, der mir am Herzen lag, 
und auf die verichiedenen handelnden Perfonen diejes feinen, noch unaus- 
gefrielten Dramas. Allmählich drang fie, nad einigem Hin= und Hertaften, 
und ohne daß ich jie mit einem Wort oder einer Gefte unterftügt hätte, 
wirklich in mein Denken ein, las darin wie in einem von dünnen Schleiern 
bedeckten Buch, bezeichnete genau den Ort der Handlung, erfannte die Haupt: 
perjonen und zeichnete ie ſummariſch mit Kleinen, edigen, kindlichen Strichen, 
die aber wunderlich richtig und zutreffend waren. „Sehr richtig, Julia“, 
fazte ich in diefem WAugenblid; „aber das Alles weiß ich ſchon; nun möchte 
ich erfahren, was daraus entftehen, was noch fommen wird." „Was noch 
fommen wird? ... Sie wollen willen, was noch fommen wird; aber Das 
ift jeher Schwer zu fagen . . .* „Aber wie wird die Sache ſchließlich enden? 
Werde ich gewinnen?“ „Sa, ja, ich fehe es; fürchte Dich nicht, ich werde 
Dir helfen; Du ſollſt zufrieden fein...“ „Aber der Verdruß, von dem 
Du mir erzählit; der Mann, der mir Widerſtand leiftet, und der andere, 
der mir Böfes thun will . . .“ „Nein, nein, er will Dir nicht? thun; es 
ift wegen einer anderen Perſon ... ch fehe nicht, warum . . . Er haft 
fie... D ja, er haft fie, er haft fiel... Und gerade, weil Du fie 
fiebjt, will er nicht, daß Du für fie thuft, was Du thun möchtet... .“ 
(So war es au!) „Aber fchlieglich“ (ich bejtand auf meiner Frage) „wird 
er bi8 and Ende gehen und nicht nachgeben?" „O, Das fürdte nit... 
Sch fehe, er iſt Frank, er wird nicht mehr lange leben.“ „Du irrſt, Julia; 
e3 geht ihm ſehr gut; ich habe ihm vorgeftern gejehen.“ „Nein, nein, Das 
macht nichts; er ift franf .. Man fann e8 nicht fehen, aber er ift fehr 
krank . . . Er wird bald ſterben . . .“ „Aber wann denn und wie?" „Es 
it Blut auf ihm, um ihn, überall ...* „Blut? Etwa ein Duell?" (ch 
_—  Artte einen Augenblick daran gedacht, eine Gelegenheit zu fuchen, um mich 
mit meinem Öegner zu fchlagen.) „Ein Unfall? Ein Mord? Eine Rache?“ 
(Er war ein ungerechter, ffrupellofer Menfch, der vielen Leuten viel Böfes 
zugefügt hatte). „Nein, nein! Frage mich nicht weiter, ich bin jehr müde... 
Lan mich gehen . . .“ „Nicht, ehe ich weiß . . ." „Nein, ich fann nicht 
mehr jagen... Ach bin zu müde... Laß mich gehen... Sei gut, 
ih will Dir auch helfen... .“ 
Der ſelbe Krampf, der den Körper im Anfang verzerrt hatte, trat 
abermals ein und die Kinderftimme fchiwieg; die Geſichtszüge der Vierzig- 
jährigen traten wieder auf daß Gejicht der Frau, die aus einem langen 


— — — 





Die Zukunft. 225 


Schlaf zu erwachen ſchien. Brauche ich hinzuzufegen, daß wir uns vor 
diefer Begegnung nie gefchen hatten und daß wir ung eben fo wenig fannten, 
wie wenn wir auf zwei verſchiedenen Planeten geboren worden wären? 

Aehnlich, wenn auch mit weniger charakteriftifchen und zutreffenden 
Einzelheiten, waren im Ganzen die Nefultate bei den Hellfeherinnen, bie 
wirklich eingefchlafen waren. Um eine Art Gegenbeweis zu führen, ſchickte 
ich zu der Frau, die „Julia“ zu ihrer Dolmeticherin erwählt hatte, zwei 
Perfonen, deren Berftand und Nechtichaffenheit mir befannt war. Sie 
hatten der Zukunft, ganz wie ich, eine wichtige und präzije frage zu ftellen, 
die nur ein befonderes Glüd oder Schidfal beantworten fonnte. Der Eine be= 
fragte fie über die Krankheit eines Freundes; Julia jagte feinen baldigen Tod 
voraus. Ihre Weisfagung wurde durd) die Thatfachen beftätigt, obwohl in dem 
Augenblid, wo jie ausgeſprochen wurde, die Heilung ungleich wahrfcheinlicher - 
war als der Tod. Der Andere fragte fie nach dem Ausgang eines Pro— 
zefles: fie gab ihm eime ziemlich ausweichende Antwort; dagegen bezeichnete 
fie ihm ohne Aufforderung die Stelle, wo ein für den Fragenden fehr werth: 
voller Gegenftand zu finden fei, der oft vergebens gefucht worden war und 
an den der Frager felbit nicht mehr dachte. Was mich betraf, jo ging Julias 
Prophezeihung zum Theil im Erfüllung; ich trug in der Hauptfache zwar 
feinen Sieg davon, aber die Angelegenheit wurde doch auf eine befriedigende 
Weile geregelt. Der Tod des Gegners ijt noch micht eingetreten und ich 
erlafje der Zukunft gern das Verfprechen, daß fie mir durch den unjchuldigen 
Mund jenes Kindes aus einer unbekannten Welt gab. 

Es ift fehr erftaunlih, dar man fo in die lette Zufluchtftätte eines 
Weſens eindringen und bejfer als es jelbit Gedanken und Gefühle darin 
lejen kann, die manchmal vergefien oder verworfen, aber ſtets lebendig oder 
bie noch ungeboren find. Es ift fürwahr beängjtigend, daß ein Fremder in 
unſerem eigenen Herzen weiter fommt als wir ſelbſt. Dergleichen wirft ein 
feltfjames Licht auf die Natur unferes Innenlebens. Die Borlicht, die ung 
hindert, aus uns herauszugeben, nützt nicht; unfer Bewußtſein iſt nicht ein= 
gedämmt; es flieht, es gehört uns nicht mehr an, und wenn es auch befon= 
derer Umjtände bedarf, damit ein Anderer dahin vordringen und Beiig davon 
ergreifen fann, jo iſt doch gewiß, daß unfer „inneres Forum“, wie man es 
mit jener tiefen Intwition genannt hat, die oft in der Etymologie der Wörter 
liegt, wirklich ein Forum — Das heißt: ein gerjtiger Marftplag — ift, wo 
die Mehrzahl Derer, die Geſchäfte haben, nad) ihrem Belichen fommt und 
geht, ihre Blicke herumfchweifen läßt und ſich die Wahrheiten auf eine ganz 
andere und viel freiere Weiſe ausjucht, als wir bis auf diefen Tag je an— 
nehmen zu dürfen geglaubt haben, 

Uber Laffen wir diefen Gegenſtand, dem unfer Studium nicht gilt. 


226 Die Zutimft. 


Was ih in Julias Weisfagungen erklären wollte, ift der Theil des Unbe— 
fannten, der mir felbit fremd war. Ging fie über Das hinaus, was ich 
wußte? Ich glaube: Nein. Der glüdliche Ausgang der Angelegenheit, den jie 
mir weisfagte, war ungefähr der, den ich vorherfah und den mein Inſtinkt 
in feinem egoiftifchen und mneingeftandenen Theile lebhafter herbeiwünſchte 
als den vollitändigen Triumph, den zu erftreben und zu erhoffen mir ein 
anderes, edleres Gefühl zur Pflicht machte, den ich jedoch im Grunde als 
unmöglich erfannte. ALS jie mir den Tod des Gegners verfündete, offen: 
- barte fie nur ein geheimes Verlangen des jelben Inſtinktes, einen jener feigen 
und ſchändlichen Wünfche, die wir vor uns felbit verbergen und bie jich nicht 
bis in unfer Denken hinaufmagen. Eine wirflihe Wahrfagekunft gäbe es 
nur dann, wenn diefer Tod wider alle8 Erwarten, wider alle Wahrjchein- 
lichkeit bald einträte. Aber felbft wenn er bald und unverhofft einträte, fo 
wäre es doc) nicht die Pythia gewefen, die in die Zufunft eingedrungen ift, 
fondern ich, mein Inſtinkt, mein unbewußtes Wefen hätte ein Ereigniß vor- 
hergefehen, an das es gefnüpft war. Sie hätte in der Zeit gelefen, nicht 
unmittelbar und wie im einem Buche, in dem Alles zu lefen ftcht, was ges 
ichehen wird, jondern durch da8 Medium meiner Perſon, in meiner befon- 
deren Intuition hätte fie gelejen und weiter nichts gethan als überfet, was 
meine Unbewurtheit meinem Denfen nicht zu jagen vermochte. 

Das Selbe trifft, denke ich mir, für die beiden anderen Perjonen zu, 
die ihren Nath einholten. Der Eine, dem fie den Tod feines Freundes weis- 
fagte, hatte, troß der Beruhigung, die feiner Freundichaft die Vernunft ein= 
ſprach, wahrjcheinlich die innere Ueberzeugung, daß der Kranke fterben werde. 
Aber diefe Ueberzeugung, ſei fie natürlich oder Hellfeherifch, war von ihm 
energiich niedergefämpft worden und die Somnambule entdedte fie nun in— 
mitten der holden Hoffnungen, die fie zu betrügen trachteten. Der Andere 
fand unverhofft einen verlorenen Gegenjtand wieder; aber es ijt fchwer, den 
Geiſteszuſtand eines anderen Menjchen genau genug zu fennen, um entfcheiden zu 
können, ob hier ein Zweites Gejicht oder einfach eine Rüderinnerung vorlag. 
Wußte er, der den Gegenitand verloren hatte, wirklich nichts mehr davon, 
wo und unter welchen Umjtänden ev ihn verloren hatte? Er behauptet: Fa; 
er habe nie die geringite Ahnung gehabt, fei im Gegentheil überzeugt gewejen, 
daß der Gegenitand nicht verloren, fondern geftohlen war, und habe ftet$ 
einen feiner Dienjtboten in Verdacht gehabt. Aber es ift möglich, daf, während 
fein Verstand, fein waches Ich nicht darauf achtete, der unbewußte und gleich: 
ſam fchlafende Theil feines Ich den Drt, wo der Gegenftand hingelegt wurde, 
fehr wohl bemerft und ih an ihn erinnert hat. Durch ein nicht minder 
überrafchendes Wunder, das aber einer anderen Ihatjachenreihe angehört, 
hitte die Somnambule dann die latente, faſt animalifche Erinnerung wieder: 


Die Zukunft. 227 


gefunden, aufgewedt und ans Licht des Menfchlichen geführt, zu dem fie 
vergebens emporzudringen getrachtet hatte. 

Sollte Das für alle Prophezeiungen gelten? Die Weisfagungen der 
großen Propheten, der Sibyllen, Pythien und Zauberinnen: wären fie viel- 
leicht nichts geweſen al8 ein Wiberjpiegeln, ein Ueberfegen und Hinaufheben 
in die BVerftandeswelt jener inftinftiven Hellichtigfeit der Einzelweſen und 
Bölker, die ihren Sprüchen laufchten? Möge Jeder die Antwort oder Hypo— 
theſe wählen, die ihm feine eigene Erfahrung zuflüftert. Ich habe die meine 
mit der Einfalt und Aufrichtigfeit gegeben, die eine Frage der Natur erheifcht. 
Trogdem wiederhole ich: es ift faft unglaublich, da wir nichts von der Zu- 
funft willen. Ich denke mir, daß wir ihr ähnlich gegenüberftehen wie einer 
längft vergeffenen Vergangenheit. Wir fünnten uns ihrer erinnern. Einige 
Thatſachen fprechen für diefe Annahme, die wir nicht ausfchliefen dürfen. 
Es würde fih darum handeln, den Weg zu diefem Gedächtniß, das ung 
vorausgeht, zu entdeden oder wiederzufinden. 

Ich verftehe, daß wir nicht befähigt find, die Ummwälzungen der Elemente, 
das Geſchick der Planeten, der Erde, der Reiche, der Völker und Nafien 
vorauszufehen. Das berührt und nicht unmittelbar und wir fennen es in 
der Vergangenheit nur durch die Kunſt der Geſchichtforſchung. Aber was 
uns unmittelbar angeht, was uns erreichbar ift und ſich im unſerer kleinen 
Lebensiphäre abrollen muß, die Ausfcheidung unſeres geiltigen Organismus, 
die und in der Zeit umgiebt, wie die Mufchel oder das Cocon die Molluste 
oder Seidenraupe im Raume umgiebt, — Dies und alle äußeren Ereigniffe, 
die darauf Bezug haben, find mwahrfcheinlich in diefe Sphäre eingefchrieben. 
Auf jeden Fall wäre Das viel natürlicher, als es verftändlicd wäre, wenn 
es nicht jo if. Es handelt fih hier um einen Kampf von Wirflichfeiten 
mit einer Illuſion und nichts verbietet ung die Annahme, daß hier, wie überall, 
die Wirklichkeiten ſchließlich der Illuſion Herr werden. Die Wirklichkeiten: 
Das ift, was un begegnen wird und in der Gefchichte, die unſere überragt, 
in der unbeweglichen, übermenfchlichen Gefchichte der Welt fchon begegnet ift. 
Die Illuſion: Das ift der undurchfichtige Schleier aus jenen vergänglichen 
Fäden, die wir Geftern, Heute und Morgen nennen und über diefe Wirklich: 
feiten weben. Aber es ift nicht unumgänglich nöthig, daß unfer Weſen 
ewig im Bann diefer Jlujion bleib. Mean kann jich fogar fragen, ob 
unfere außergewöhnliche Ungefchidlichfeit im Erkennen eines jo einfachen, jo 
unbeftreitbaren, vollfommenen und nothiwendigen Dinges, wie die Zukunft 
eins ift, für den Bewohner eines anderen Sterns, der uns befuchen käme, 
nicht ein Anlaß zur größten Verwunderung wäre... 

Die Zukunft ift, wie Alles, was beiteht, wahrfcheinlich logischer als die Logil 
unferer Einbildungsfraft; und all unfer Zaudern, all unfere Ungewifheiten find 


228 Die Zukunft. 


mit in ihre Vorausſicht einbegriffen. Und wir wollen nicht etwa glauben, daß der 
Gang der Ereignifie völlig umgeworfen würde, wenn wir ihn im Voraus fännten. 
Zunächſt würden die Zukunft oder einen Theil von ihr nur Die kennen, die fich 
die Mühe gäben, fie zu erforschen, wie die Vergangenheit oder einen Theil 
ihrer eigenen Gegenwart nur Die kennen, die den Muth und Berjtand gehabt 
haben, fie zu befragen. Wir würden uns den Lehren diefer neuen Wiflen- 
fchaft eben fo raſch anbequemen, wie wir uns denen der Geſchichte angepaht 
haben. Wir würden alsbald zwifchen den Uebeln unterfcheiden, denen wir uns 
entziehen fönnten, und denen, die unvermeidlich find. Die Weifeften würden 
die Geſammtſumme diefer Uebel für fich vermindern und die Anderen würden 
ihnen entgegengehen, wie jie heute vielen gewiſſen Unglüdsfällen entgegen- 
gehen, die jich Leicht vorausjagen laffen. Die Summe unferer Verdrießlich— 
feiten würde etwas geringer werden, aber weniger, als wir hoffen, denn 
unfere Vernunft vermag bereit3 einen Theil unferer Zukunft vorauszufehen, 
went auch nicht mit der materiellen Sinnfälligfeit, von der wir träumen, 
jo doc mit einer oft hinreichenden moralifhen Sicherheit; und wir fehen doch, 
daß die meiſten Menfchen aus diefer jo leichten Vorausficht feinen Nuten zu 
ziehen wiljen. Sie würden den Rathichlägen der Zukunft ihr Ohr verſchließen, 
wie jie die Warnungen der Bergangenheit hören, ohne ‚fie zu befolgen. 


Paris. Maurice Maeterlind. 


Waldgejicht. 


Ir dem weiten, weiten Walde tobte Gewitterzorn. Naufchend brachen die 
8* entfeſſelten Waſſer aus den ſchwarzen, ſchweren Wolkenſäcken in die 
Wipfel und Kronen hernieder, als wollten ſie ſie zerdrücken, zerſchmettern mit 
ihrer Wucht; und wenn droben über der bangenden Welt der Gewittertyrann 
brüllend ſeine Flammenpeitſche ſchwang, dann ftanden fie alle, die Bäume, athem- 
los, wie zu heldenhaftem Dulden gewillt, wie jchweigend bereit, zu fterben. 
Da kams unter den flimmernden, mildigen Schleiern der ftürzenden 
Regengüſſe einhergejchlüpft, gehüpft, fchattenhaft, menſchenähnlich: ein altes, ver— 
hugeltes Weibchen, den Nod über den Kopf geichlagen, da ihr Eulengefichtdhen 
ſchier verſchwand; erbarmen hätts Einen mögen! Uber da drunten die dürren 
nackten Beine jprangen jo hurtig und federnd iiber die ſchlüpfrigen Pfade dahin, 
über die Inorrigen Baunmvurzein, daß cs zum Staunen war. Hin und wieder 


Waldgeficht. 229 


redte fie jchnobernd die jpite Naje himmelan, Iugte jchlau dur die Zweige in 
die Wolkennacht da oben, nidte und mederte: „Nur zu, Better, nur zu!* 
Schüttelte vor Lachen ihre Lumpen und ſprang in Niejenfägen über die Waſſer— 
lagen wie ein muthwillig Hidlein, jobald der rothe Dahn des Himmels feine 
breiten Klammenfittiche über den jtahldunklen Wolfen jchüttelte und die Yüfte 
von einem prajjelnden Poltern erbebten, als jtürzte da oben hinter Wolfen: 
bergen eine reiche Stadt mit Häuſern, Thürmen, Kirchen und Baläjten um ihrer 
Sünden willen in Trümmer und Berwüjtung. Himmelangſt fonnte Einem 
werden! Aber die Alte? Scheint ja mit dem ſchwarzen Gewitter auf Du und 
Du! Da... verichwunden war jie in Negenjchleiern und Waldjichatten! 

Ganz weltvergejfen inmitten des großen Waldes lag ein venwittertes 
Blodhaus, tot, verſchloſſen. Wer es gebaut: fein Menjcd weiß es, nod, wen 
es gehört, wozu es gedient; ob fürftlichen Jägern ein Unterjtand, ob jchuldiger, 
weltflüchtiger Yicbe eine verjchwiegene Hut? Die Fenſter waren längit erblindet, 
von Luft und Regen zerjegt jchillerte das Glas in allen Negenbogenfarben, in 
der Mitte das niedere Thürchen ſaß wie eingewadjen in feinen Fugen, das 
Schloß daran war mit braunem, förnigem Roſt dicht bededt. Uber vor der 
Thür ſtreckte fich ein breit ausladendes Ueberdach, an den beiden Eden vorn von 
zwei morjchen Holzläulen gejtüßt, bedeft mit bunten, zottigen Moospolitern, 
der alten Eiche entgegen, die um des verjchollenen Häuschens Geheimniß wußte; 
aber die ſchwieg. Die Menſchen der nahen Stadt, wenn fie in Waldesmitten 
von Unwetter überrajcht wurden, flüchteten gern in die Hut des breitichattenden 
Vordaches. Nach dem Häuschen ſelbſt und feiner Vergangenheit zu fragen, hatte 
die Neugier längſt aufgegeben; nur Beeren juchende Kinder träumten fi um 
die Abendjtunde dort gern Märchen und Wunder, flüfterten, wenn fie vorbei- 
ſtrichen; kecke Knaben drüdten das Näschen an den blinden Scheiben breit, rannten 
dann, von plöglihem Grauen gepadt, davon, logen den Spielkameraden Wımder- 
dinge vor, die jie da drinnen gejehen hätten, und glaubten fie jelbit. Sonit 
aber war und blicb das alte Blodhaus eben ein Leichnam; genug: unter jeinem 
Dache war gut fein, wenn ringsum Negen in die Wipfel ranicte. 

Auch heute hatten fich zwei verirrte Menjchenkinder dort gefunden, fremd 
einander. Er hatte lähelnd an feinen Hut gefaßt und zu der Unbekannten ge 
fagt, — was man jo jagt: „Ein Schönes Wetterchen, nicht wahr?“ Sie hatte 
leije nur den Kopf geneigt, höflich gelächelt und geſchwiegen. Nun jtand er 
vorn, ganz vorn, und jchaute mit Yuft und Grauen in den Aufruhr; fie aber 
ſaß hinten im Schatten, auf dem Bänkchen aus Birkenholz neben der Thür, 
hatte die Kleinen Füße über einander gelegt, das Köpfchen mit dem breiten 
Sommerhut tief geneigt und bot in ihrer Negunglofigfeit das Bild grenzenlos 
ergebener Geduld; aber bei jedem knatternden Schlage, wenn ihm in aufathmender 
Kraft die Bruft fich hob, fuhr fie leile zufammen, ſchaute mit großen, bangen 
Keinderaugen in das Wetter und warf einen ſcheuen Blick auf den fremden 
Mann, der jeine Luft an den Scrednifjen zu haben ſchien. So harrten die 
Zwei, ohne ein Wort zu wechſeln, lange. Dann lie die Leidenſchaft der Wetter- 
gewalten nad), der Negen nur jtrömte undermindert; dod) wars ein jtetes, reiches 
Strömen, nicht mehr das ungeſtüme Niederpeitichen, das prajjelnde Nieder- 
ſchleudern unerhörter Waffermajjen, als ob da droben Titanenarme einen Rieſen— 

17 


230 Die Zukunft. 


eimer nad dem anderen hernähmen und fluchend über der Welt umftürzten. 
Schon juchte des jungen Mannes Blid den Himmel: er war nod) dunkelgrau. 

Nun muß ich aber Eins verrathen: die Zwei, die fi da unter dem 
Schutzdach getroffen hatten, waren nicht allein. Sie wußten nichts davon, daß drinnen 
im Blodhaus die Alte lauerte. Wißt hr? Die Alte, die wir vorhin durd) 
den Wald jchlüpfen jahen. Wie fie hineingefommen und warn? Sch weiß es 
nicht. Was fie drinnen zu Schaffen hatte? Fragt fie jelbjt! Wenn man genau 
bingudte, jo jah man über dem Haupte des Mädchens das verwitterte Fenſter 
offen und das alte wunderliche Alraunengejicht ftarrte heraus. Das heit... . 
Nein! Wenn man ganz genau binjah, war Alles wie immer: die blöden, blinden 
Scheiben des feitgeihloffenen Fenſters jchillerten blau und grün. Uber doch 
ſchaute fie heraus, und zwar mit einem eigenen Blid und Ausdrud. Ihr großes, 
gewichtiges Zigeunerantlig, dem ſilberweiße Haarjträhnen ſich voll um eine ſchöne 
Stirn fchmiegten, trug den Ausdrud ftarren Staunens, angitvoller, entjeglicher 
Spannung und die übermächtigen, geheimnißvollen Augen jprangen ficberwild 
hin und her, von ihm zu ihr, von ihr zu ifm. Was jah fie nur an den be- 
ſcheidenen Menjchentindern, die böfe Trude? E3 war nämlih ein eigen Ding 
um diefe Augen. Das waren nicht Augen irdiicher Art: fie jahen die Dinge 
diefer Welt licht und jcharf, aber dazu Alles, was hinter den Dingen lag, ihr 
Woher und Wohin. Das merkte man ihnen an. Sie jahen Gedanken in der 
Menihenbruft verichwiegener Tiefe und hinter den Gedanken die That, ganze 
Geſchlechter von Thaten: und hinter Gedanken und Thaten der Thaten und 
Gedanken Segen und Fluch; fie jahen, wenn fie als Nahtmahrt in die dumpfen 
Sclaffammern jchlüpfte und fi Über die jchwer athmenden Menſchen beugte, 
tief im Dirn und Buſen der Gequälten die Träume, die fi ballten aus Schuld 
und Neue; fie jahens, wenn in ſchmutzigen Nebelgewanden eine ihrer häßlichen 
Muhmen vom trüben Horizont heranſchritt, eine Seuche, hinter ihr her eine 
Scattenprozejfion von Särgen und Yeidtragenden; vorn Die in prächtigen Zeichen: 
wagen, deren ſchwarz verhüllte Roſſe fchnaubend ſchwarze Federbüſche auf den 
Köpfen jchüttelten und zierlich die Hufe hoben und fegten nad) den Stlängen pomp— 
hafter Trauermuſik; dahinten die Neihen Derer, die einen jchmudlofen Tannen» 
ſchrein auf müden Schultern eilig zum Kirchhof jchleppten, wie man einen Raub birgt. 

Und was jahen fie hier? Ein geheimes Leben, Werden und Wollen: 
wie einen jchimmernden Kranz, wie die Feuer von Sanft Elms fjahen die 
Wunderaugen Etwas um der Beiden.Häupter geijtern; weiter und lichter wurden 
die Aureolen, Funken jprangen daraus; und jeßt, jetzt dehnten fie fich, reckten 
fie fi, die Lichtkränze, baujchten fih auf, durchbrachen die Rundungen, ftrebten 
lihtathmend, jchwellend einander entgegen, Funken flogen in Enifterndem Aus: 
tauſch aus des einen Lebens Bannfreis in den des fremden. Der Jüngling 
riß den Hut vom Kopfe, trodnete jih den Schweiß; von der Stirn; ein unrubhiges, 
grund» und finnlojes Berlangen quälte ihn, die Fremde -anzufchauen, — nur 
anzujchauen? Es fochte in feinen Adern, braufte in feinen Scläfen. Er ging 
mit aufgeregten Schritten ab und zu und murmelte, um nur Etwas zu jagen, 
halb zu ihr gewandt, und erichraf vor feiner fremden, heiferen Stimme: „Lang: 
weilige Geſchichte, gelt?* Sie antwortete nicht; ihr Gefiht war tiefer gefentt, 
verſchwand ganz im Schatten des breiten Hutes; jo jah er nicht, daß fie, toten» 





Baldgeficht. 231 


bleich, leidend, die Augen geichloffen hatte, die Lippen zujammenpreßte, wie 
um einen Schrei zu erjtiden. Ein unerflärlihes Schwäcdegefühl, Angſtgefühl 
überwältigte fie; ihr Herz pochte, als wollte es ihre Bruft zerjchlagen. „Was 
ift mir nur? Nur nicht krank werden! Hier! Wo der Fremde mir helfen 
müßte!” Inzwiſchen ward es dämmriger. Der Regen raujchte fort. Nun aber 
ſah die Trud in dem Dämmergrau mit entjegten Mugen ſich Gejtalten formen: 
jah, wie das Weib, das da in den Schatten gedudt ſaß, zag und jcheu, ſah, 
wie das jelbe Weib in jelbjtvergeffener Wonne zwei volle nadte Arme um den Hals 
jenes Mannes dort jchlang, wie Mund an Mund, Bruft an Bufen fich preiten, 
lange, lange, wie Mann und Weib Seele in Seele tranften! Dann, — dann 
wanfte, verſchwamm dies Bild der Vereinigung; dem Dämmer entfeimte ein 
roſiges Kindergeficht, das Kind, gezeugt von diefem Mann, von diejem jungen 
Weibe geboren; es mwechjelte, wuchs, ward ein troßig-chöner Snabentopf, warf 
bald aus einer gebietenden, lichten Jünglingsſtirn mit herriſchem Ruck eine 
üppige Zode zurüd... Die Alte zitterte, ihre Lippen lallten: „Halt ein! ...“ 
Aber das Haupt erhob jich föniglicher, in feinen Augen flammten alle Gnaden 
des Himmels, alles Erfühnen der Menjchenart, alle Wahrheit und aller Betenner- 
muth und alle Liebe. Tauſenden wollte er Erlöfung bringen, Troſt und Frieden! 
Das Geſicht der Alten ftierte weiß und verzerrt wie ein Daupt, das ein Henker 
vom blutigen Blocke hebt und der fchaudernden Menge zeigt, mit glafigen Augen 
auf den gewaltigen Heilandsfopf. Das jcheue Mädchen athmete ſchwer, als 
wolle es jterben, der Jüngling lehnte fi taumelnd an einen der Holzpfeiler und 
jchalt ſich jelbjt Feuchend: Gefpenfterfcheuer Narr Du! Und Fäden, Fäden werden- 
der Geſchicke jpannen fi herüber und hinüber, von ihm zu ihr, von ihr zu ihm. 
Die Ulte jah fie flimmern und phosphorijch leuchten, in Funken kniſtern. 

Da, mit einem Rud, ließ der Regen nad). Noch einige ſchwere Tropfen 
hie und da; die Bäume fchüttelten fih und athmeten auf; duftende Neinheit 
webte fühl herein. Einen jcheuen Blid halb über die Schulter werfend, linkiſch 
den Hut lüftend, ftürzte der Nüngling davon. Das Geficht der Alten ftrahlte 
in breitem Grinjen. Das Mädchen wartete noch ein Weilchen; fein Schritt 
war bald verflungen. Dann hob ein tiefer, tiefer Seufzer ihren unjchuldigen 
Buſen, al3 athme fie ſich die Laſt eines ganzen Lebensgeſchickes, Mariengejchides 
von der Seele. Sie faßte fih an die Stimm, jehüttelte lächelnd den Kopf: 
Was wars nur? Was? Dann fchürzte fie ihre Nöde forgjam, ergriff den 
Feldblumenſtrauß und schlug ſich linkswärts in den Wald. Rechts war er gegangen. 

Dinter ihr drein klang mederndes Lachen: Wieder nichts! Wieder nichts! 
Alles bleibt Hübjich beim Alten! Die große Mutter ift dod; gar zu dumm umd 
'ne ſchlechte Wirthin! Sclaft hübſch weiter, Menſchenwürmer, meine Naben 
fliegen noch lange, lange! Ui Jegerl: Das muß id doc Heute nachts den 
Schweitern am Kreuzweg erzählen! 


MWaidmannsluft. Eberhard König 


nn 


17” 


232 Die Zufmit. 


Bilderbücher. 


In ratur möchte ich zwei neue Bücher von Echulge-Naumburg nennen 
— Hulturarbeiten, Band I, Hausbau (Kunftwartverlag, München) 
und Die Kultur des weiblichen Körpers als Grundlage der Frauenfleidung 
(Diederiche, Leipzig) —, obwohl diefer Name in unferer Zeit nicht fchmeichel: 
haft klingt. Es ift für den Charakter unferer Kultur ſehr bezeichnend, welchen 
Sinn das Wort für uns angenommen hat: Bücher, mit denen man Kleine 
Kinder unterhält, mit deren Hilfe man ihnen vielleicht auch allerlei Ideen 
und Vorftellungen beibringt, denen aber der Begriff des Kindifchen, Spiele— 
riſchen feft anhaftet. Ein Theil diefer Geringihägung geht fogar auf die 
wiſſeuſchaftlichen Werke über, die mit Abbildungen „verfehen* jind. Oder 
wenn nicht auf das ganze Werk, fo werden doch die Bilder in den weitaus 
meisten Fällen al3 cine unterhaltende Beigabe, als eine Art Ejelöbrüde des 
Gedankens betrachtet. Die Thatfache, daß diefe „VBeigabe* für gewiſſe Materien 
vollfommen unentbehrlich ift, ja, das zugejtandene Prinzip, dar „Anſchauung 
die Grundlage aller Erkenntniß fei*, ändert daran nichts. Den eigentlichen 
Wiffensgehalt des Buches fucht man im Wort. Das ift natürlih und jelbit- 
verftändlich, wenn es fi) um Gebiete des Denkens handelt, die ganz und 
gar im Bereich de8 Sprachdenfens liegen, fehr merkwürdig aber auf dem 
Gebiet der Nealwifienfchaften, die den überwiegend größten Theil ihrer Er- 
fahrungthatfachen auf dem Wege des Anfhauungvermögens erhalten. Warum, 
zum Beifpiel, halten wir die Wortbeichreibung eines Anatomiebuches: „Der 
Körper befteht aus diefen und jenen heilen, feine Muskeln und Sehnen 
fegen bier und dort an, haben diefen und jenen Verlauf, die eine oder andere 
Wirkung“ für Uebermittelung eines Willens, die entiprechende Zeichnung 
daneben aber für Beigabe, auf die fich die Wortbefchreibung zwar beziehen 
kann, die aber für jich allein bedeutunglos bliebe? Knochen, Muskeln, Sehnen, 
Geſäße u. f. w. find in der Zeichnung durch ihr Aussehen deutlich getrennt, che 
diefe Trennung durch das Wort angezeigt wird; über räumliche Lage, Form, Farbe 
und Geftaltung der Oberfläche macht das Bild Angaben, gegen die gehalten 
die Bezeichnungen durch das Wort fchattenhafte Winfe, nicht eindeutige 
Beitimmungen find; ſelbſt für die zeitlich ſich vollziehende Entwidelung oder 
Wirfung einzelner Organe hat die bildliche Darftelung Ausdrudsmöglic- 
keiten, Die dem Wort allein zuftehende Namengebung tft fein wejentliches 
Beitandtheil der Erkenntniß, fondern eim Hilismittel der Verjtändigung, das 
beim bildlihen Ausdrud völlig gegenitandlos wird. Wenn man eine Dar: 
ftellung durd) Worte als bejonders vorzüglich bezeichnen will, fo nennt man 
fie „anſchaulich“. Iſt Tas die Abbildung nicht noch viel mehr? 

‚Daran, dat der Thatfacheninhalt der Abbildung ein geringerer wäre 


Bilderbücher. 233 


als der der Wortbeſchreibung, kann der Unterſchied in der Werthſchätzung 
Beider alſo nicht liegen. Und doch iſt er uns ſo ſelbſtverſtändlich, daß wir 
faum noch nach Urſache und Berechtigung fragen. Man verſtehe mich recht: 
es giebt ja Fälle genug, wo wir die „Abbildung“ über den „Text“ eines 
illuſtrirten Werkes ſtellen, beſonders, wenn der Text recht ſchlecht iſt. Meiſt 
meſſen wir dann aber dem Bild einen beſonderen „künſtleriſchen“ Werth bei, 
deſſen Bedeutung wir als eine ſehr ſtrittige kennen, von dem wir nur zu 
wiſſen vermeinen, daß er nicht in der Uebermittelung von Kenntniſſen be 
jtehen darf. Für mic aber handelt es fich gerade um die Frage, inwieweit 
die zu einem Werke wiſſenſchaftlichen Charakters gehörige Jlluftration parallel 
dem Wort, aber unabhängig von ihm, ein Wiffen und Denken zu übermitteln 
vermag. Und bei diefer Frage eben treffe ich auf die allgemeine Annahme, 
daß das Denken erſt da beginne, wo fich der Inhalt der Sinneswahrnehmung 
in Worte umfegt, daß folglich eine Vermittelung des Denfens auch nur 
durch Worte vor ich gehen fönne. Machen wir und an dem vorhin ges 
wählten Beijpiel Far, worauf diefe Annahme beruht. Nenn man ftatt der 
Abbildung eines anatomischen Werkes einem wirklichen anatomischen Präparat 
gegenüberfteht, fo befigt man zweifellos deſſen Anfchauung in viel vollkom— 
menerem Mae, als je eine Abbildung fie zu vermitteln vermag. Trotzdem 
wird das bejchreibende Wort, fei es nun gefprochen, gedruckt oder nur gedacht, 
diefe Anfchauung erjt „anſchaulich“ machen, indem es zunächft die Geſammt— 
ericheinung in Theile zerlegt, einzeln benennt, diefe wieder in Theile und fo 
fort, dann diefe Theile wieder zu zweien oder mehreren zujfammenordnet umd 
fo fchlieklich ein fyftematifch aufgebautes, im ſich gegliedertes Bild ftatt des 
einfahen Spiegelbildes auf der Netzhaut entjtehen läht. Zugleich ſetzen die 
dabei nothwendig angewandten Gattungbezeichnungen das Objekt und feine 
Theile in Zufammenhang mit anderen bereits vorhandenen Vorſtellungkom— 
pleren. Wenn alfo der Wirklichkeit gegenüber aus der Sinneswahrnehmung 
erft dadurch eine Erfenntnig wird, daß das Sprachdenfen fich des Augenbildes 
bemächtigt: wie viel mehr wird Das der Abbildung gegenüber der Fall fein, 
die aus dem Gejammtbilde der Wirklichkeit doch nur einen Heinen Theil — 
und den unvollkommen — darftellt! 

Allgemein gejprochen: das vom Auge aufgenommene Bild wird erſt 
durch einen Aft bewußten Denkens zur faßbaren Borftelung und diefe bedarf 
zu ihrer Entwidelung und Mitteilung einer äuferen Form. ALS folche 
fanden wir eben die Sprade. 

Doc giebt es — und Das ift erſtaunlich Wenigen befannt — eine 
andere Form geordneten Apperzipirens, die ganz und gar im Gebiet der Ans 
fhauung bleibt und als ſolche mittheilbar-ift: die bildliche Daritellung. 
Auch jie beginnt mit der Zerlegung der Erjcheinung im ihre wefentlichen 


234 Die Zukunft. 


Theile und diefer wieder in kleinere Theile und ordnet dann aus diefen Stüden 
ein neues, ſyſtematiſch gegliedertes Ganze zufammen. Anders als auf diefem 
Wege ift ein Nachbilden der Wirklichkeit undenkbar. Und jeder der Bewußt- 
feinsafte, der nothwendig war, um aus der Perzeption der Wirflichfeit Das 
zu machen, was der bewußte Wille durch Arbeit der Hand in bildliher Nach— 
ahmung feitzuhalten vermag, findet feine Ausprägung in dem fo entjtchenden 
Bilde: und zwar jo, daß man alle diefe Bewußtfeinsafte einfach abzulefen 
vermag und alſo im Bilde eine fchon apperzipirte Wirklichkeit in ſich auf— 
nimmt. Daß zum Apperzipiren des Bildes dann freilich noch einmal eine 
Dentthätigkeit nöthig ift, verfteht jich von ſelbſt. Sie entfpricht ganz genau 
der, die nöthig it, um aus dem Geräuſch der gefprochenen Worte oder dem 
Flimmern gedrudter Buchftaben einen Sinn herauszuverftehen. 

Die Erfheinung der Wirklichkeit ift in jedem kleinſten ihrer Theile 
unendlih. Die Darftellung durch Worte ſowohl wie die durd) das Bild 
löft aus diefer nie reſtlos zu erfaſſenden Unendlichkeit einen befchränkten Theil 
und führt diefen um fo deutlicher, weil gefondert, dem Bewuhtjein zu. Im 
einen Fall fehen wir darin Vermittelung einer Erfenntnif, im anderen Sur— 
rogat der Wirklichkeit, daS um fo viel weniger werth ift, wie es weniger ent= 
hält als diefe? Das ift abfurd. Wir müfjen vielmehr erkennen, daß es nicht 
eine Unvollfommenheit der bildlichen Darjtellung ift, wenn fie mit der Wirk— 
lichkeit nicht identisch it, Sondern dar fie, eben jo wie eine Mittheilung durch 
Worte, das Nefultat eines abwechſelnd analytischen und fynthetifchen Denk— 
vorganges darjtellt. (Bon diefem Punkt aus wird man übrigens begreifen, 
dan eine Kunſt fich die genaue Darftellung der Wirklichkeit zum Ziel fegen 
kann, ohne daß deshalb die Fdentität mit der Wirklichkeit ihre Vollendung bedeutete.) 

Wenn wir zur Zeit gewohnt find, in dem Minus der Abbildung gegen- 
über der Wirklichkeit nur den Mangel zu erbliden und die Summe geiftiger 
Thitigfeit zur verfennen, die gerade dieſes Minus zu beftimmen hatte, fo 
liegt Das freilich zum großen Theil aud daran, daß unfere Abbildungen 
Schlecht find, daR fie durch ein zufälliges Herauspflüden von Einzelheiten ent= 
ftehen und die Möglichkeiten, einen geordneten Denfvorgang durch bildliche 
Darftellung ſichtbar zu machen, nicht annähernd ausgenügt werden. Ge: 
ihähe Das, jo müßten wir neben der redenden MWiffenichaft eine anſchauliche 
beiigen, die jene ergänzte. Das Wort, das abjtrakte Symbol des Dinges, 
das letzte, flüchtigite Deftillationproduft des unermüdlich ausfcheidenden Denk— 
vorganges, würde immer die ungeheure Beweglichkeit und Leichtigfeit im 
Heranholen der entfernteiten, abgezogenften Borftellungsfompfere, im Zus 
ſammenordnen unzählig vieler, in ter Ueberwindung von Zeit und Raum 
voraus haben. Doc darf man nicht vergejien, daß auch das Bild eine un: 
befannte Erjcheinung zunächſt auf befannte zurüdzuführen und allgemeine 


Bilderbücher. 235 


Zufammenfafiungen aus einer Summe von Einzelfällen zu geftalten und 
mit diefen neuen Formeln zu arbeiten vermag. Und was ihm an Beweg— 
lichkeit abgeht, würde es durch eindeutige Evidenz der ihm zugäng'gen Schluß: 
formen erfegen. Die Ausdrudsformen für eine folhe Anſchauungwiſſenſchaft zu 
finden, ift Sache der bildenden Kunſt. Ich fage ausdrüdlich nicht, daR fie ſelbſt 
Kunft fei, weil wir unter Kunſt Gefühlserregungen einer ganz beftimmten 
Art zu verſtehen gewohnt find, die wir zwar fehr wohl kennen, aber fchwer 
zu umgrenzen vermögen. Wohl aber kann auch eine Anſchauung allgemeiner, 
alfo nicht Tpezififch Fünftleriicher Art gerade wie die künſtleriſche nur dann 
erzeugt werden, wenn ein innerlich geichautes Vorjtellungbild mit den Dar: 
ftellungmitteln, teren ſich die bildende Kunft bedient, zur fihtbaren Er— 
fheinung gebracht wird. 

Wenn ich e8 alfo für den Charakter unferer Kultur bezeichnend nannte, 
dat das Wort „Bilterbuch“ einen fo fchlechten Klang befonmen hat, fo 
meinte ich damit, daß in der That heute der größte Theil unferes Denkens 
im Bereich der Sprache vor ſich geht und eben jo die Feitlegung und Ver— 
mittelung de8 Willens die Form des Wortes wählt. Ich will nicht unter- 
fuchen, ob Das jemals anders war; ficher jcheint mir, daß wir nothwendig 
einer Verjchicbung bedürfen, die uns von der Alleinherrjchaft des Worte, 
des leeren Zeichens ohne finnfälligen Zufammenhang mit dem Bezeichneten, 
befreit und unfer Urtheilen und Wiffen zum Theil in ein Gebiet überführt, 
wo der Gedanke mit der Sinneswahrnehmung unlöslich verbunden ift. 

ALS treffendes Beiſpiel einer ſolchen Gebietseroberung zu Gunften des 
anjchaulichen Denfens ericheinen mir die beiden Bücher von Schultze-Naum— 
burg; deshalb nannte ich fie „Bilderbücher“. Ich will dazu bemerken, daß 
mir der PVerfaffer und die Ideen jener Bücher perfönlich nah ftehen. Wer 
glaubt, daft ich darum Beide in perfpeftiviicher Vergrößerung erblide, möge 
das Verfönliche aus diefem Urtheil ausfchalten und den einzelnen Fall als 
Exempel einer prinzipiell wichtigen Frage nehmen. 

Die „Kulturarbeiten”, von denen der erjte Band, „Hausbau“, er— 
ſchienen ift, handeln von den Veränderungen, die der Menſch mit der Ober: 
fläche der Erde vornimmt, imsbefondere der Deutiche mit feiner KHeimath, " 
um aus ihr feine Wohnftätte zur Schaffen: wie er Wälder fchlägt, Berge ab- 
trägt, Flüffe lenkt und überbrüdt, Felder und Gärten, Häufer, Dörfer, 
Städte an ihre Stelle fegt, Wege, Strafen, Bahnen und Yeitungen aller Art 
zwiichen diefen zicht und die Produfte des Landes zu feinem Nugen verar: 
beitet. Wir nennen diefe Thätigfeit heute „Werwüftung der Natur durch die 
Kultur” und jchauen ihrem leider unabmwendlichen Fortfchreiten mit Grauen 
zu, als wäre es ein langjamer Selbitmord der Menfchheit. Muß es fo 
fein und war e8 immer jo? Ein Blid in die Vergangenheit, nicht weiter 


— 


236 Die Zulunft. 


als hundert Jahre zurück, zeigt, daß einſt die Schöpfungen des Menſchen 
denen der außermenſchlichen Natur als Kinder gleichen Stammes eben— 
bürtig zur Seite ſtanden. Wenn wir uns heute verzweifelt fragen, ob man 
auf einer Erde, die ganz und gar von Menfchen zugerichtet und ausge— 
baut wäre, überhaupt noch eriltiven kann, fo ift Das nicht etwa eine Folge 
der höheren Volllommenheit, Zweckmäßigkeit und Bequemlichkeit unserer 
Einrichtungarbeiten im Haus der Natur, wie die meiſten Menfchen berirhigten 
Gemüthes annehmen, fondern umgefehrt ihrer Geringwerthigfeit, der ges 
danfenlofen, niedrig gemeinen Ausnützung des ralchen Scheingewinns, des 
allgemein betriebenen Raubbaus, der Unfähigkeit, mit unferen mühfamen Ar— 
beiten Das zu erreichen, was fie eigentlih bezweden: unſer Wohlbefinden 

Tas andere Bud, „Die Kultur des weiblichen Körpers", behandelt 
die Veränderungen, die der Menſch mit feinem Körper vornimmt, ins— 
befondere die Frau, eritens, um ihn vor Kälte zu ſchützen, dann, um ihn 
zu ſchmücken und reizend zu machen; alfo die Kleidung. Auch hier zeigt 
fih ein feindlicher Widerftreit zwifchen Kultur und Natur. Er ſcheint 
unlösbar und die meiſten Menichen halten ihn für nothiwendig. Ja, in diefem 
Falle find fogar beinahe Alle darüber einig, das Zerftörungwert der foges 
nannten Kultur für Schön und feinen Fortfchritt für durchaus erftrebenswerth 
zu halten. Im Wefentlichen handelt e8 ich um die Bildung der Taille durch 
das Korſet und die Veränderung des Fußes durch den Stiefel. Dem dir hen 
Schaden für die Gefundheit, der daraus entftcht, und dem imdireften für 
das Seelenleben des Menichen, der aus dem willenſchwächenden Zwiefpalt 
zwifchen Zwedmärigfeitbegriff und Schönheitbegriff wählt, kann nur geiteuert 
werden, wenn wir unfere Vorftellung von der Schönheit des weiblichen Körpers 
und von Dem, was zu feiner Veredelung und Pflege geichehen kann und 
muR, ganz von Neuem auf licheren Grundlagen aufbauen. 

Dar über ſolche Themata ein Künftler feine Meinung entwidelt und 
mit bildlicher Darftellung belegt, kann nicht Staunen erregen. Man würde 
darin ein äſthetiſches Urtheil erbliden. Das aber würde für die beiden Bücher 
nur dann zutreffen, wenn man den Begriff des Wortes „äſthetiſch“ fo fehr 
verfchöbe, dak er mindeſtens mit dem heutigen Sprachgebrauh nicht mehr 
übereinjtimmte, Nach der Stellung, die dies Wort heute einnimmt, kann 
man unter einem äjthetiichen Urtheil kaum noch etwas Anderes verfiehen als 
die direfte, möglichſt unwillkürliche Luft: und Unluſtreaklion auf die cinfahe 
Sinneswahrnehmung. Als Noficht des äſthetiſchen Verhaltens Natar und 
Kunſt gegenüber gilt uns der unmittelbare, in der Zinnesempfindung liegerde 
Genuß: eine angenchme Crregung, über deren Berechtigung oder Werth 
keinerlei Diskuſſion möglich ift, da fie Selbſtzweck iſt. Die Fähigkeit, zwiichen 
angenchmen und unangerchmen Zinmeseindrüden zu unterfcheiden, nennt 


Bilderbücher. | 237 


man auf allen Wahrnehmungsgebieten Gefhmad. Im engeren Sinn vers 
ftehen wir unter Geſchmack Sinneswahrnehmungen in der Nähe der Ernährung- 
mwerfzeuge, dur die wir nützliche Nahrung von fchädlicher unterfcheiden. 
Wir willen, daß prinzipiell die Luftempfindung das dem Körper Zuträgliche, 
die Unluftempfindung das ihm Schädliche bezeichnet, da aber aus dem Miß— 
brauch der Luſtempfindung um ihrer ſelbſt willen eine Umfehrung diefes Zwed: 
mäßtigfeitverhältniffes entitehen fann. Wenn wir das Wort Geſchmack auf die 
Thätigfeit anderer Sinneswerkzeuge übertragen, fo follte man damit natürlich 
deren Fähigfeit bezeichnen, Nüsliches vom Schädlihen zur Aufnahme und 
Berwerthung oder zur Zurückweiſung und Abwehr zu unterfcheiden. Sie find ja 
Waffen des Körpers im Eriftenztampf; das Aufſuchen der Nahrung und die Ber: 
meidung der Gefahr find ihre primitiven Funktionen; die fcheinbar interefielofe 
Erforfhung der und umgebenden Welt ergiebt fich aus ihnen als höheres Entwicke— 
lungftadium. Aber wie der „Geſchmack“ der Zunge und de8 Gaumens, fo fannı 
fich au; der „Geſchmack“ des Auges und des Ohres durch Mißbrauch der 
ihm eigenthümlichen Luftempfindung ins Gegentheil verfehren oder mindeſtens 
vollfommen von feinem Ziel verirren. Und ift c8 fo, dann gelangt man zu 
dem Urtheil, dat Gefchmad, den man zur befonderen Kennzeichnung feiner 
„Iniereſſeloſigkeit“ noch äfthetiichen Geſchmack nennt, die Fähigkeit fei, zwifchen 
angenehmen und unangenehmen Sinneseindrücden zu unterfcheiden, den Genuß 
der angenehmen um ihrer felbit willen zu züchten. Was wir als guten und 
ſchlechten Geſchmack fo gemeinhin zu unterscheiden pflegen, ftellt fich dann bei 
genauerer Betrachtung als eine frühere oder fpätere Stufe in der nad) dem 
Selen des Abwechjelungbedürfniffes auf einander folgenden Neihe immer 
neuer Reize heraus. Iſt Das richtig, dann muß der Kampf um den Geſchmack 
nutzlos und unjinnig fcheinen; fo nennt ihn das alte Sprichwort. 

Wenn wir alfo das Wort „äſthetiſch“ in diefem landläufigen Sinn 
nehmen, jo wäre e8 durchaus unzutreftend, Schulge-Naumburgs Bücher als 
äfthetiiche Abhandlungen zu bezeichnen. Doc, ergab ſich uns vorhin bei der 
Ableitung des Begriffes „Geſchmack“, der in feinen verfeinerten Leiſtungen 
mit dem „älthetifchen Sinn“ identisch ift, dar ihm eim Urtheil innewohnt 
über die, ganz allgemein gejagt, Zweckmäßigkeitbeziehung des Wahrges 
nommenen zum wahrncehmenden Eubjeft. Wie nun, wenn jich beweifen liefe, 
dar dieſes Gefchmadsurtheil ſich parallel mit dem Zweckmäßigkeitbegriff ent: 
wideln läßt und ihm auch dort noch zu folgen vermag, wo diefer über den 
gemeinen Nugen der einzelnen Berfon, und fei es ein noch fo weitichauender, 
hinausgewachſen ift und lich als Lebensprinzip ganzer Völker oder einer 
ganzen Menschheit in ethiichen Begriffen verförpert? Dann wäre ein Streiten 
um den Geſchmack nicht mehr unnüg und unnöthig, fondern vielmehr Kampf 
um die legten menjchlihen Werthe, die wir überhaupt zu faficn vermögen und 
um die wir kämpfen müflen, weil von unferm Geſchmack unfere Exiſtenz abhängt. 


238 Die Zukunft, 


Im Grunde ift es das Poftulat jedes unbefangen empfindenden Ge- 
müthes, dar Schönheit und Vollkommenheit im praftiichen oder ethijchen 
Sinn nit zufammenhanglofe, oft einander widerfprechende Eigenjchaften jein 
follen. Jeder erinnert ich wohl des Kummers, mit dem er die erfte fchein- 
bare Kluft zmifchen Beiden wahrnahm. Wir würden e8 als eine Erlöfung 
empfinden, wenn wir zu einer Einheit zurüdtehren könnten. 

Der intuitiven Erkenntniß diefer Einheit entfpringen die Bücher von 
Schyulge- Naumburg. E3 find Einzelunterfuhungen von Fällen, in denen 
angeblich die Nothwendigfeiten unferes Lebens, die praftifchen oder ethifchen 
Forderungen, in Widerfpruch ftänden mit Dem, was der „Geſchmack“ unfcrer 
Augen jagt. Und immer löft ſich der Widerſpruch fo, daß entweder unfere 
Augen zu verdorben waren, um die Schönheiten zu fehen, die den natürlich— 
ften Nothmwendigfeiten entwuchfen, oder daß, was wir für die höchſten und 
nöthigften praftifchen oder ethiichen Forderungen hielten, ſchlechten und werth— 
lofen Wünſchen entiprang. Tiefer Gedanfe war in der Anſchauung erfaßt. 
Und in der Anfchauung ift er auch wiedergegeben. Die Methode, wie es ge= 
ſchieht, zu beobachten, ift Doppelt interejjant, weil beinahe ausfchlieglich mit Photos 
graphien gearbeitet wird. Diefe jtehen ja heute ald authentische Wiedergaben 
der Wirklichkeit in einem viel höheren Anjehen als irgend eine durch Menſchen— 
hand hervorgebradjte Abbildung, und zwar gerade, weil man nicht nur die 
Menichenhand, fondern auch den Menſchengeiſt von ihnen fern glaubt. In 
der That braucht man nur eine unferer zahlreichen mit Photographien iluftrirten 
Zeitſchriften aufzufchlagen, um fich zu überzeugen, dat man vor Photogra= 
phien jtehen kann wie vor der Wirklichkeit: nämlich vor einem großen Kalei— 
doffop von Formen, aus dem Einzelnes herauszufefen und dem Vorjtellung- 
ſchatz als Bereicherung einzufügen eine fehr bedeutende Anjtrengung erfordert, 
deren Viele offenbar nahezu unfähig find, nämlich die Arbeit des wirklichen 
Apperzipirens. Es genügt nicht, Anſichten von unbefannten Ländern, Blitz— 
bilder von welthiftoriichen Momenten, Portrait8 berühmter Leute, ja, Auf— 
nahmen aus Regionen des Seins, die dem Auge unter gewöhnlichen Um— 
ftänden gar nicht zugänglich find, zufammenzuhäufen und die technifche Voll— 
kommenheit der Wiedergabe immer höher zu treiben. Gewiß vermag man 
auch daraus Bereicherung feines Anjchauungdenfens zu gewinnen. Aber in 
ihnen liegt nicht die Vermittelung einer innerlich erfaßten und feitkriftallifirten 
Borftellung, die als folche dem menschlichen Geifte denkbar ift. Daß die 
Erſcheinung der Wirklichkeit Das einftweilen nicht ift, muß man ſich immer 
wicder von Nenem Mar machen, um die Bedeutung der bildlichen Feitlegung 
anfchaulicher Vorſtellungen zu begreifen. Die Photographie aber ift zumächlt 
nur infoweit farbarer als die Wirklichkeit, als ihre Erfcheinung aus drei 
Dimenſionen zu zweien reduzirt und der Wechfel der Erjcheinung nebft allen 
amderen Zinneswahrnehmungen außer denen des Auges ausgefchaltet ift. 


Bilderbücher. 239 


Zu einer wirflihen Mittheilung von Vorftellungen geſtaltet jie ſich 
erſt, wenn der Vorgang künitleriicher Thätigkeit über diefe primitive Funktion 
hinaus weiterfchreitet. Das Nächite ift die bewußte Auswahl eines Objektes 
aus vielen, in dem die „dee“ der Gattung zu befonders fcharfem Ausdrud 
konnt — einer Anſicht und Beleuchtung, die diefen Ausdruck fteigert —, die 
Ausiheidung aller zufällig (alfo nur durch ihre räumliche Nähe) mitfprechenden 
Nebenerjcheinungen, die Begrenzung der Bildfläche, die den Blick auf das 
Wefentliche Fonzentrirt. So weit fann die Photographie den analytiichen 
Sehvorgang, durch den aus der Erjcheinung der Wirklichkeit die Vorftellung 
herausgelöft wird, mitmahen. Die mit der Hand ausgeführte bildliche Wieder- 
gabe geht hier nun noch weiter mit der Herausichälung des für den befon- 
deren Zweck Wefentlichen, im Extrem bis zu der fchematiichen Demonitration, 
die etwa einen menfchlichen Körper durch drei Striche erſetzt, um das ftatifche 
Prinzip der aufrechten Haltung zu zeigen. Dem photographifchen Bilde find 
weit eher ſchon Grenzen gejegt. Wie weit aber auch die ihr gewährten Mittel 
ausreichen, faßbare Vorftellung zu verkörpern, zeigen Schulge:-Naumburgs Bücher. 

Die jo erhaltenen Bruchtheile ordnen ji dann wieder zufammen, um 
den Denkvorgang im Gebiet des Sichtbaren ſynthetiſch weiterzuführen: zwei 
widerfprechende ftehen einander als Antitheje gegenüber; zwei felbftverftändfiche 
und befannte führen zu einer dritten neuen als nothwendiger Schluffolgerung; 
viele Einzelbeifpiele, den Gattungen entjprechend, deduziven ein allgemeines 
Geſetz; Keiten zeitlicher Entwidelung erklären das endlich Gewordene. Auch 
dent ſynthetiſchen Tenkvorgang find im Bereich des photographiichen Bildes 
engere Grenzen gezogen, als e3 bei dem mit der Hand hergeftellten Bilde der 
Fall fein würde. Dafür bleibt es auch ftet3 fontrolirbarcs, weil mecanifches 
Spiegelbild einer Jedem zugänglichen Wirklichkeit. Das ift wichtig, wo es 
fich darum handelt, die Stellung fünftlerifcher Ideen gerade der Wirklichkeit, 
der Welt der praftiichen und ethiichen Forderungen gegenüber feitzulegen. 

Wir glauben, das Verhältnig von Bild und Wort in „Illuſtration“ 
und „deforativem Buchſchmuck“ zu erichöpfen. In diefen Büchern aber ges 
ftalten ich Beide zu einander wie die Zeichnung einer geometriichen Figur 
zu dem Sag, der deren räumliche Gejegmäßigfeit in Worte fat: das Eine 
iſt die Veriinnlihung, das Andere die abitrafte Formulirung der felben Vor— 
ftellung. Wie wichtig die hier ang.itrebte ſinnfällige Darjtellung praftifcher 
und ethifcher Forderungen für uns fein wird, können wir nod) gar nicht 
ganz überjehen. Hätten wir mehr „Bilderbücher“ ftatt der vielen, vielen Leſe— 
bücher, dann fehrte vielleicht eiwas mehr Klarheit in die Verwirrung zurüd, 
in der jest all die Begriffe verichwinden, die unfer Leben leiten follten. 

Ludwig Bartning. 
2 


240 Die Zuhmit. 


Selbitanzeigen. 


Veröffentlihung der geheimen friegägerichtlihen Alten im Fall 
Luthmer. Univerf.. Buchhandlung von Hörning, Heidelberg. Der Reine 
ertvag it für die Blinden des NeichSlandes beitinmt. 


Bekanntlich haben wir uns Schon lange daran gewöhnen müfjen, die Ehre 
der Offiziere für etwas Bejonderes zu halten. Der gewöhnliche Bürger hat 
zum Schuß jeiner Ehre nur das Strafgeſetzbuch, der Offizier, auch der mit 
Uniform verabidjiedete, noch die Verordnungen über die Ehrengerichte der Offi- 
ziere, die nicht nur dazu dienen follen, die Ehre des Einzelnen zu wahren, 
ſondern auch, den ganzen Stand von räudigen Elementen rein zu halten. Das 
ift die Theorie; und die Praris? Auch der Bürger wird manchmal in die Lage 
foınmen, von dem ihm zur Seite jtehenden Schußmittel keinen Gebrauch zu 
maden, nämlich, wenn die ihm zugefügte Beleidigung auf Wahrheit beruht und 
eine Klage beim Gericht nur dazu dienen könnte, eine Beftätigung diefer Wahr: 
heit zu erhalten. In ſolchen Fällen bleibt nichts Anderes übrig, als die ver- 
meintliche Beleidigung einzujteden, und die Erfahrung lehrt, day von ſolchen 
würdigen Perſonen Gremplare herumlaufen, die ſelbſt die gigantiichjten Did- 
bäuter der Zoologie in den Schatten jtellen. Ein ſolcher Zuſtand tft beim 
Militär natürlich unmöglich, weil der ganze Stand über die Ehre des Einzelnen 
wacht. Da aber Deutjchland immer größer wird und der Einzelne unter der 
Maſſe verihwindet, jo iſt es begreiflid, daß auch einmal eine Ausnahme zu 
verzeichnen ijt. Weber dieſes Stapitel der Offizierehre ift ſchon recht viel ge: 
ichrieben worden, leider zumeilt von Denen, die Grund hatten, ihre im bunten 
Nod verlorene Ehre in der Oeffentlichfeit wieder zu juchen. Eine Ausnahme 
von diejer Yiteraturjpezies macht meine kleine Schrift. Es handelt ſich in ihr 
ganz und gar nicht darum, meine angegriffene Ehre vor der Deffentlichkeit in 
ein bejchönigendes Yicht zu jtellen; denn ich bin bis auf den heutigen Tag weder 
kriegs- noch chrengerichtlich bejtraft noch von einem diefer Gerichte auch mur zur 
Verantwortung gezogen worden; es handelt ſich vielmehr darum, die Ehre Anderer 
in das rechte Licht zu jtellen und dabei zu zeigen, weldyer Werth den bejtchenden 
Verordnungen über die Ehrengerichte der Offiziere beizumefjen ift. 

Ich war im Auguft 1893 Batterichef im Feldartillerieregiment 31 in 
Hagenau im Elſaß. Ein zu meiner Batterie eingezogener Rejerveoffizier zeigte 
eine ſolche Unfähigkeit im Dienjt, daß ich meinem Negimentstommandeur, acht 
Tage vor Beginn des Manövers, eingehende Meldung erjtattete und hinzufügte, 
ich hätte die Ueberzeugung, diejer Neferveoffizier werde im Falle eines Krieges 
die Kanonen auf die eigenen Truppen richten. Der Regimentslommandeur gab 
diefer Meldung feine ‚zolge. Drei Wochen jpäter wurde ich durd) die grobe 
Fahrläſſigkeit dieſes ſelben Nejerveoffiziers im Manöver von einem Stanonen- 
ſchuß ins Geficht getroffen; durch diefen Schuß erblindete ich jofort und für 
immer auf beiden Augen. Diejes Vorkommniß binderte den Regimentskom— 
mandeur nicht, dem Nejerveoffizier fünf Tage ſpäter ein glänzendes Dienft- 
zeugniß auszuftellen, deſſen Inhalt mir natürlich verheimlicht wurde. Ein von 
mir gejtellter Strafantrag gegen den Negimentsfommandeur wegen wifjentlic) 
falicher Berichterftattung wurde, unter Berufung auf die geheimen Friegsgerichte 


Selbftanzeigen. 241 


lihen Alten gegen den Urheber meiner Erblindung, abgelehnt. Gegen den 
Nejerveoffizier war die Eriegsgerichtliche Unterfuhung eingeleitet worden, aber 
zunächſt wurden nur ſolche Zeugen vernommen, die von dem Thatbeftand gar 
nichts gejchen hatten. Erſt jpäter jeßte id) die VBernehmung von Zeugen durch, 
die den Borgang meiner Verlegung genau gejehen hatten. Dieje Belajtung: 
zeugen wurden in ihrer Bedeutung wejentlich beeinträchtigt durch ein von dem 
Inſpekteur der Feldartillerie ausgejtelltes artillerijtiiches Gutachten, jo dab der 
Augeſchuldigte mit einer geringen Freiheitſtrafe davon fam, die noch durch die 
Gnade des Saijers in ihrer Dauer um ein Drittel gekürzt wurde. Während 
der friegägerichtlichen Unterfuhung gegen den Angejchuldigten wurde mir von 
ihm eine jchwere Beleidigung zugefügt, die mich trog meiner völligen Erblindung 
zwang, der Standesehre zu genügen und meinen Gegner eine Biftolenforderung 
zuzujschiden, nahdem meine Anfrage über deſſen Satisfaktionfähigfeit von allen 
Inſtanzen bis zum Kaiſer hinauf bejaht worden war. Meine Herausforderung 
wurde glatt abgelehnt, was für meinen Gegner die befannten Folgen nad) ji) 
309g. Mein Startellträger, der den jchriftlichen Antrag zur Forderung nachweis- 
lich durchaus wahrheitgemäß begründet hatte und der in denkbar edeliter Weile 
die Piltolenforderung von jeinem erblindeten ehemaligen Norgefegten auf ſich 
zichen wollte, wurde von dem Gerichtsherrn des Nejerveoffiziers zur ehrengericht- 
lien Verantwortung gezogen und erhielt eine Verwarnung. 

Das Alles iſt mit Anführung der Namen aller Betheiligten und mit 
wörtlier Wiedergabe aller einjchlägigen Dokumente vor fünf Jahren von mir 
veröffentlicht worden in einer Brocdure: „Die Gejchichte meiner Erblindung.“ 
Nah ihrem Erſcheinen verſchwand der erwähnte Gerichtsherr aus der Armee. 
Die Brodure wurde im Reichstag zweimal beſprochen. Die Negirung erwiderte 
den \interpellanten, in meiner Angelegenheit jet durchaus korrekt verfahrenworden, 
und der noch jebt amtirende Kriegsminijter erklärte, daß ihn nur meine Er- 
blindung von einer Strafverfolgung abgehalten habe. Es war mir nidjt ge 
lungen, Kenntniß von den geheimen friegsgerichtlichen Akten zu erhalten. Doch 
giebt es noch andere Mittel und von ihnen machte ich num Gebraud. Ich zog 
meine ganze Angelegenheit vor das bürgerliche Gericht; die Akten wurden als 
Beweismaterial zugezogen und fo lernte ich jie fennen. Sie zeigten mir, was 
unter der Herrſchaft der Rechtſprechung hinter verichloffenen Thüren möglid) war. 
Das den Mittelpunkt bildende artilleriftiihde Gutachten erwies ſich als falſch, 
und da das Erfenntniß unmittelbar auf diejes Gutachten gegründet ift, jo find 
auch Urtheil und Erkenntniß ungeſetzlich. Die mir ertheilte Auskunft über Ver— 
weigerung einer Strafverfolgung gegen meinen früheren Negimentstommandeur 
erwies fich als unrichtig. Die mir während der Unterfucdung zugefügte Bes 
leidigungrührte nicht von dem Angeichuldigten, ſondern von dem Berichtsherrn her. 

Nun lieh ich die hier angezeigte Schrift erjcheinen. Die durdaus jachlid) 
gejchriebene Brochure bringt in allen Punkten die Beweife für die in der früheren 
aufgeitellten Behauptungen und gejtaltet fich jo zu einer ſchweren Anklage gegen 
das Syjtem der geheimen Gerichte und gegen eine Anzahl ſehr hochſtehender 
Berfonen. Unter diefen Umſtänden war es nicht auffallend, daß der größte 
Theil unferer Breffe die Brochure totſchwieg oder aber deren eigentlichen Zweck 
verſchwieg. Im Februar kam die neue Brodjure im Neichstag zur Sprade. 


242 Die Zukunft. 


Der Kriegsminiſter jagte, er habe fie gelejen, fie habe für den Reichstag aber 
fein Intereſſe. Zum Schuß der ſchwer bejchuldigten Perſonen jagte er nicht 
ein einziges Wort. Eben fo unterlich er, feine eigenen, von mir früher als 
faljch bezeichneten Angaben auch nur irgendiwie zu vertheidigen. Alle Bethei- 
ligten find von mir perfönlich von dem Erſcheinen der Schrift in Kenntniß ge- 
jegt worden. Wie zu erwarten war, verklagt mid; natürlid) fein Menſch; und 
da auch meine Erblindung nicht mehr als Vorwand dienen kann, jo wird die 
Sade einfach totgefchwiegen. Wo aber bleibt der Ehrenfoder der Offiziere? 
Jeder, der meine Brochure unparteiifch Lieft, wird zu der Ueberzeugung fommen, 
daß von allen erwähnten Offizieren fein einziger jo edel gehandelt hat wie mein 
Ktartellträger; aber all meine Verfuche, die ehrengerichtlihe Verwarnung diejes 
Kameraden auf Grund der beitehenden Verordnungen aus feinen Perjonalpapieren 
ftreihen zu laffen, find gejcheitert. Darf eine faiferlide Entjcheidung nicht auf 
ihre Richtigkeit geprüft werden? Unſere Geſetze geben mir leider nicht die Mög- 
lichkeit, einzelne der jchwer bejchuldigten Herren vor das Forum der bürgerlichen 
Gerichte zu ziehen; ih muß mic alfo auf die Öffentliche Anklage bejchränfen. 

Wie ſchon oft, jo hat auch in diejem Fall der Reichstag in Nechtsfragen 
volljtändig verjagt. Inzwiſchen aber hat fich der Deutjche Rechtsbund meiner 
Sade angenommen. Der Wortführer diefes Vereins, Profeſſor Lchmann-Hohen» 
berg in Kiel, hat im „Volksanwalt“, ein „Offenes Schreiben“ an den Reichs— 
fanzler gerichtet. Das Thema diefes Artikels, die allgemeine Nechtsnoth und 
fpeziell meinen Fall, hat er auch in einer Öffentlihen VBerfammlung (in Ham— 
burg am achtzehnten März) vor zahlreichen Hörern beiprochen. Die vom Pro— 
feffor Lehmann gejchriebenen und geiprodhenenen Worte gehen in ihrer rüdhalt- 
(ofen Sritif des gegen mich begangenen Unrechtes jo weit, daß ich, troß allen 
bisherigen Erfahrungen, faum zu glauben vermag, die Angegriffenen, bejonders 
der Sriegsminifter von Goßler, könnten diefe jchweren Vorwürfe jchweigend hin— 
nehmen. Schweigen jie wider alles Erwarten dennoch, — dann wird fich fein 
Deutſcher der Beredſamkeit jolden Schweigens verſchließen können. 


Dagenau in Elſaß. Konrad Luthmer. 
* 


Gedanken über Tolſtoi. Hermann Seemann Nachfolger. Preis 2 Mark. 

Gedanken find es: Gedanken zwiſchen Nadıt und Tag! Beim frühen 
Grauen wedte mid) Etwas, das jich denken mußte, das mich nicht mehr jchlafen 
lieg. Und abends fand ich feine Ruhe. Auch Spazirgangsgedanfen find bar» 
unter, die fi) abrollten, — ohne mein Zuthun. Beide jtimmen in Einem überein: 
fie famen zu mir, nicht ich zu ihnen. Sie nahmen mich als Durdgangspunft, 
als Medium, um zur Ericheinung zu gelangen; jo erklärt fich das jcheinbar 
Zerfließende, Zuſammenhangloſe, das „Unterwegs“. Was id will, ijt ein Er- 
flären, ein Nahebringen, jhliehlich, im Grunde, nur ein Nachſchaffen und ein 
Zeugnig, daß auch diejer Menſch — eben jo wie ih — Theil eines Ganzen 
it, ein Theil von mir, von Dir, wie ich von ihm, von Dir. Das zu erreichen, 
giebt es taujend Mittel und es find unter millionen Möglichkeiten vielleicht erſt 
hundert verfucht. Dier beginnt die Kunst, die Schwere Kunft der Kritit — wenn 
wir aus Nüßlichkeitgründen dieje Bezeihnung beibehalten wollen —, die Wenige 
begriffen haben. Da heißt es nur immer: Bis hierhin hat er recht; hier beginnt 








Selbftanzeigen. 243 


das Unrecht. Mic, jelbft beherricht das Gefühl, auf ein weites, mir unbefanntes, 
bis dahin unvertrautes Meer hinausgejegelt zu fein. Nun treiben mid) die 
Winde; wohin? Die Augen heißt es offen halten und wachen und horchen. 
Zuweilen iſt es, als jchimmerte Etwas ganz in der Ferne. Iſt es nur der 
Traum erregter Sinne? Der Sceefahrerfinne, die jo fühn find, daß fie fich gern 
eine Zeit lang täufchen laſſen? Oder iſt es die Hüfte, die langerjehnte? Noch 
nie bin ich in diejer Richtung gefteuert. Alles erjcheint mir neu; es dehnt fich 
die beengte Bruft; ich begrüße Alles mit junger Liebe. Hier wehen andere 
Winde. Hier jheint eine andere Sonne. Wild und doc befonnen brauft das 
Blut... Dieje Fragmente aus dem Prolog werden von dem Charakter des 
Buches ungefähr einen Begriff geben. 

Münden. Ernit Schur. 

* 

Henri Ibſen. Verlag von E. A. Seemann in Leipzig und der Geſellſchaft 

für graphiſche Induſtrie in Wien. 1902. 

Im Anhang zu meinem Bud) über Ibſen habe ich eine Bibliographie 
veröffentlicht; da find 64 Werfe aufgezählt, die über Ibſen handeln. Und troß- 
dem fand ich den Muth, noch ein Buch über ihn zu jchreiben. Ach habe verjucht, 
dem Stoff eine neue Seite abzugewinnen umd an einem Beifpiel zu zeigen, 
wie ich mir biographijche Kunft denke. Ich fchrieb eine pſychologiſche Biographie. 
Zwed und Biel meiner Aufgabe war, zu zeigen, wie in Ibſen das Bild der 
Welt jich geitaltete, wie jeine Empfindungen den Menſchen gegenüber wuchſen 
und ſich bildeten. Ich bemühte mich, die Entwidelung feiner Seele aus den 
Umftänden feines Lebens, aus dem Boden, dem er entiprojjen, dem Milieu, in 
dem er lebte, zu erklären. Er wurde, der er war, weil er jo werden mußte. 
Um einen Sag von ihm auf ihn jelbjt anzuwenden: all jein dichterisches Wollen 
war ein Wollenmüfjen. Indem ich aber den Werdegang eines fo hervorragenden 
Geiſtes jchilderte, mußte ich auch die Ideen fchildern, die um die Jahrhundert— 
wende in Europa um die Derrichaft ſtritten. Freilich war der mir zugewiejene 
Kaum zu beſchränkt, um diefem Thema gerecht zu werden. Auf breiterer Baſis 
möchte ich einmal zeigen, wie die Biographie eines großen Menſchen zum Spiegel 
feiner Zeit werden fann, werden muß. Der Jubiläumsausgabe feiner fämmt- 
lihen Werke jette Ibſen die Worte voran: „Nur durch die Auffaffung und 
Aneignung meiner jämmtlichen Produktionen als eines zufammenhängenden, 
ununterbrochenen Ganzen wird ınan den beabjichtigten, zutreffenden Eindrud 
empfangen.“ ch Habe diefe Abjicht Ibſens erfüllt. Ich Habe verfucht, fein 
ganzes Lebenswerk thatſächlich als ein zujammenhängendes Ganze darzuftellen 
und dem Lejer verſtändlich zu machen. Erſt bei ſolcher Arbeit lernt man Ibſen 
wahrhaft lieben und bewundern. Man jtaunt über den Stolojjalbau, den er auf» 
geführt, wo Stein ſich an Stein fügt und wo das legte Wort, das er gejchrieben, 
die nothiwendige Konfequenz feines eriten ift. Ich wollte keinen Kommentar zu 
Ibſens Werken liefern, fondern nur Das, was der Dichter jagen wollte, in helles 
Licht jegen. Das Glüd war meiner Arbeit günftig; ich durfte eine Menge bisher 
unbefannten, unveröffentlichten Materials benußen, jo zahlreiche Briefe Ibſens 
an jeine Freunde. Auch die \lluftrationen bieten manches Neue. 


Wien. Dr. Rudolf Yothar. 
* 


244 Die Zutunft. 


Erportwirthichaft. 


Ss Izeantruft, dejfen Bedeutung ich im vorigen Heft abzuſchätzen verjuchte, 
— beſchäftigt natürlich noch immer die Gemüther. Wenn man von den 
Börjenjpielern abficht, die jet vor allen Dingen erfahren möchten, ob in den 
Direftorenbureaur der Deutſchen Bank die flaue Stimmung jchon wieder einer 
zuverjichtlicheren gewichen ift, jo find an der Erörterung diejer frage recht viele 
Menſchen interejjirt, nicht nur Kaufleute und Volkswirthe, jondern aud) Politiker. 
Denn von hier aus können die Örundprobleme der allgemeinen Wirthſchaftpolitik 
betrachtet und erwogen werden. Derr Darden hat in feiner Anmerkung zu meinem 
legten Artikel ſchon aus dem rajchen Wachſen der amerifaniichen Gefahr, die 
gerade der Dampfichifftruft wieder in ihrer ganzen Bedrohlichkeit erfennen lieh, 
den Schluß gezogen, es jei unflug, die Wirthichaft erwachſender Nölfer mit 
voller Wucht auf den Waarenerport zu ftellen. Ich möchte diefe Bemerkung 
nicht ganz ohne Erwiderung vorübergehen laſſen. Nicht etwa, weil ich meine, 
gegen das Wort eines Einzelnen, der andere Anfichten hat als ich, fofort pole- 
mijiren zu müjjen. Das ift leider bei uns in Deutichland nicht nöthig; denn 
das Glaubensbekenntniß einer Berjönlichkeit wird zwar gelejen, aber jelten be» 
berzigt. Anders tft es jedoch, wenn ein jolcher Gedankengang einer ganzen 
Gruppe von ntereffenten jo bequem tft, daß er zur Barteimeinung führen kann. 
Die muß befämpft werden. Gerade die heutige Wirthſchaftlage Deutſchlands 
kann leicht zur Aufnahme des Satzes verführen, daß es nicht Flug war, „bie 
Wirthichaft erwachjender Völker mit voller Wucht auf den Waarenerport zu Stellen.“ 

Die Faſſung dieſes Saßes fann in unklaren Köpfen die Vorftellung weden, 
die wirthichaftlihe Entwidelung Deutjchlands fei aus ihren von der Natur gewieſe— 
nen Gleiſen herausgeriffen und auf den ins WVerderben führenden Schienenweg 
des Waarenerportes geftellt worden. So aber darf man die Sadje wirklich nicht 
auffaflen. Der Waarenerport ift etwas mit Naturnothwendigkeit Gemordenes. 
Man muß, um jeinen wahren Charakter zu erkennen, fi) nur von der bejchränften 
liberalen Anſchauung frei machen, nad) der die augenblidliche Art der Waaren- 
produktion uns aller Weisheit legten Schluß bietet. Auch die Gegner ber 
fozialiftiichen Gefellfchaftstheorie müfjen heute zugeben, daß in der Kritik der 
fapitaliftiichen Broduftionmethode der Marrismus Unübertroffenes geleiftet hat 
und allein leiften Eonnte, weil er die Dinge im Fluß ficht, weil er von der alten 
dejfriptiven, von der dogmatischen Wolkswirtbichaftlehre zur Würdigung wirth- 
Ihaftgejchichtlicher Werdeprozejje voracdrungen ift. Das Wefen der fapitaliftiichen 
Maarenproduftion ift anarchiich. Während im Urzuftand und noch weit darüber 
hinaus der Konjument der die Produktion bejtimmende Faktor war, ijt die 
Waanrenproduftion unter der Herrſchaft des Kapitalismus zum Selbſtzweck ge- 
worden. Der Produzent fabrizirt wild drauf los; er fragt nicht nad) der Konjum« 
fähigfeit, die er gar nicht zu Ichäten vermag, jondern fieht nur in der eigenen 
Produftivfraft die Grenze. Die Entwidelung vom Bandwerfer, der auf Be— 
ftellung arbeitet, zum Fabrikanten bezeichnet diejen Weg. Am Wejen aller 
fapitaliftiichen Gewerbe liegt es, daß die Hilfsgewerbe ihre eigentlichen Zwecke 
vergeſſen und aus der dienenden zur herrichenden Stellung empordrängen. So 
bat der Dandel, der einjt nur der Fuhrknecht der Güterproduktion war, ſich 





Exportwirthſchaft. 245 


emanzipirt und geht ſeine eigenen Wege, die oft der Produktion geradezu ſchädlich 
ſind. Je mehr nun die Produktivkräfte wachſen, um ſo nothwendiger wird es 
natürlich, fremde Abſatzmärkte aufzuſuchen; und ſo iſt die Exportwirthſchaft 
— damit meine ich nicht den Export von Gütern, die anderswo nicht oder nur 
viel theurer herzuſtellen ſind — ein echtes Kind der kapitaliſtiſchen Produktion. 

Dieſe Exportwirthſchaft bringt viele arge Uebelſtände mit ſich und hat 
ſogar für die Politik wichtige Folgen. Um dem Export den berühmten Platz 
an der Sonne zu ſichern, wurde Kiautſchou nebſt Umgegend gepachtet, und um 
den Platz an der Sonne zu ſchützen, wurden und werden neue Kriegsſchiffe ge— 
baut. Ein nicht zu unterſchätzendes Moment iſt, daß für den Exporteur der Welt- 
markt viel größere Bedeutung hat als das Inland, das ihm nicht annähernd jolche 
Waarenmengen abnimmt. Auf dem Weltmarkt muß er billig liefern können, 
wenn es nicht anders geht, jogar mit Verluſt, und diejer Verluft muß ausge- 
glihen werden. Das ift entweder durch hohe Anduftriezölle in Verbindung mit 
Kartellen, die die Preife Hoch halten, zu bewirken oder durch Beitellungen aus 
den Mitteln der Steuerzahler. Nicht die Firmen Krupp und Stumm nur, 
fondern noch fehr viele andere find jo an der Vermehrung unjerer Wehrmadt zu 
Waſſer und zu Lande interejjirt. Das find Folgen ber Erportpolitif, die jelbjt von 
meinen fozialdemnofratijchen Freunden nod) zu wenig als ſolche gewürdigt werden. 
Aber auch jozialpolitijche Folgen find fichtbar. So lange der Fabrikant auf die 
Konjumkraft des inländifchen Marktes angewiejen ift, muß er einjghen, daß die 
Arbeiterfoalitionen zur Hebung des Tohnniveaus auch ihm Nußen bringen; denn 
was er feinen taujend Arbeitern mehr zahlen muß, verdient er doppelt und 
dreifach an der Mafje der Arbeiter, die bei höherem Lohn jeine Produkte faufen 
können. Wird aber für den Weltmarkt produzirt, fo ſpielt der inländiiche Arbeiter 
als Konfument feine Hauptrolle mehr und fein Lohn wird nur noch durd die 
Rückſicht auf möglichit geringe Produftionkojten beftimmt. Dieje Koften müſſen 
herabgedrücdt werden, damit der Fabrikant auf dem Weltmarkt billige Preije 
fordern fann. Das erklärt auch, weshalb gerade die Erportinduftrie und an 
ihrer Spige der Eentralverband Deuticher Jnduftrieller im Kampf gegen das 
Recht der Arbeiterkoalition- in der vorderjten Reihe fteht. Der Lohn aber ift 
um fo tiefer herabzubrüden, je billiger die Ernährung der Arbeiter iſt. Daher 
die völlige Berftändnißlofigkeit, die der Erporteur den Agrarproblemen entgegen- 
bringt. Diefer Zufammenhang der Dinge wird heutzutage durch die Thatſache 
verdedt, daß Induſtrie- und Agrarjchußzölner Hand in Hand gehen. Dazu 
aber treibt fie nicht etwa eine gemeinjame Ueberzeugung, fondern das Gebot der 
Tatil. Die Anduftriellen kennen die Stärke der einzelnen Madıtfaktoren und 
wiſſen, daß fie im preußifchen Deutjchland nur im Bunde mit den Yandjunfern 
ihre Forderungen im Parlament durchjegen können. Die konjervative Partei 
fühlt fi in der Nolle einer Schüßerin der Erportinduftrie freilich nicht jehr 
behagli; und in den Kämpfen um den Bolltarif hat man ja die Grenze ge- 
fehen, bis zu der die beiden Heerhaufen vereint majchiren können. 

Wenn die Überwiegende Mehrheit der deutjchen Arbeiter ſich heute gegen 
eine fünftliche Erhöhung der Getreidepreife erklärt, jo find die Motive, die fie 
leiten, völlig verjchieden von denen der Bourgeoijie, die jelbjt haben möchte 
was fie den Junkern verwehrt. 


18 


246 Die Zutunft. 


Ich verfenne alfo die Schäden der Erportinduftrie nicht; aber es ift nicht 
leicht, ihnen abzuhelfen, wenn man nicht das Kınd mit dem Bad ausidütten 
will. Wer, wie die Mittelftandspolitifer, den Kapitalismus rückwärts revidiren 
möchte und in mittelalterlich gebundenen Wirthichaftformen cin Allheilmittel fieht, 
Der verfennt die Gejege der ökonomiſchen Entwidelung und kümmert ſich nicht 
um die Frage, was beim Sinfen unjerer Exrportziffern aus dem Arbeiterheer 
werden joll, das heute in der Großinduſtrie Beichäftigung findet. Wir Sozialiften 
haben erfannt, daß der Erportinduftrialismus nur eine Phaje der großfapi- 
taliftiichen Entwidelung ift und daß der Großfapitalisınus nur dur eine 
modernere Ordnung der Produftion überwunden werden kann. Das Argument 
der Agrarier, die Konſumkraft des inländiichen Marktes müfje gehoben werden, 
erfennen auch wir an; aber ihre Mittel gefallen uns nicht. Die von ihnen jo 
hoch gepriejenen Getreidezölle find Ichon deshalb zu verwerfen, weil fie nur einigen 
Großen Hilfe bringen. Will man die Konſumkraft der Landwirthſchaft ftärken, 
jo muß man Bauern züchten, aber nicht Bauern mit individualiſtiſchen Quer— 
köpfen, ſondern moderne Genofenjchaftbauern, die in unjere Zeit hineinpajfen. 
Das geht ohne Getreidezölle befjer ald mit Zöllen, die, ftatt fie zu fördern, die 
Entwidelung nur hemmen. Das weitaus Widhtigere aber tft die Stärfung der 
Konſumkraft der Arbeiterklaffe. Starte Gewerkſchaften mit hohen Lohnanſprüchen, 
Konſumgenoſſenſchaften: ſolche Mittel liegen auf dem Weg der Entwidelung 
und können zu einer vernünftigen Sozialijirung der Gejellichaft führen. Werden 
fie angewandt, dann hat die Induſtrie Ausficht, auf dem heimischen Markt Erjag 
für den Weltmarkt zu finden. Wenn fie, ftatt früh fi fommenden Wirth: 
Ihaftformen anzupaflen, im haftigen Wettlauf mit anderen kapitalijtiichen Völkern 
einem Phantom nachjagt, dann wird fie fi bald die Schwindſucht holen. 


Plutus. 
17 
Notizbuch. 


ST): früheren Unteroffiziere Marten und Didel, die bejchuldigt waren, ihren 
Es Vorgejegten, den Rittmeifter von Kroſigk, getötet zu haben, find in Gum— 
binnen vom Cherfriegsgericht freigeiprocdhen worden. Sie hatten jchon einmal vor 
dem Oberfriegsgericht geitanden, dejlen — Marten des Mordes ſchuldig Iprechendes — 
Urtheil vom Reihsmilitärgericht aufgehoben wurde, weil die Berufunginftanz nicht 
nad der Vorjchrift beſetzt geweſen war. Jetzt ſaßen die jelben beiden Juriſten, die 
an dem vorigen Urtheil mitgewirkt hatten, wieder im Gerichtshof, der jelbe Ober: 
friegsgerichtsrath; Mieyer vertrat die Anklagebehörde, die öffentliche Hauptverband» 
lung ergab fein den Beichuldigten günstiges neues Moment, — und dennod ist der 
vor acht Monaten zum Tode verurtheilte Dragoner nun freigeiprodhen. Da jieht man 
doch, las Mancher in feinem Blättchen, wie ungerecht das vorige Urtheil war, dag 
nur durch den namentlich die höheren Kommandoftellen beherrihenden Wunſch er- 
Härt werden fonnte, im Intereſſe der Mannszucht den Mord nicht unentdedt, un: 
gejühnt zu lafjen. So aber liegen die Dinge nicht. Auch diesmal hat das Bericht 


Notizbuch. 247 


im Urtheil ausgeiprochen, der Angeklagte Marten jei der That „dringend verdächtig“, 
fei als „fajt überführt” zu betrachten; nur genüge das Beweismaterial nicht zu einer 
Berurtheilung. Das ift Sache perjönlichjter Auffaffung ;die Richter, die nach modernem 
Recht nicht die Ueberführung durch den Augenjchein zu fordern, ſondern in freier 
Beweiswürdigung nach dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung zu urtheilen 
haben, fonnten aufgenaudas jelbe Beweismaterial einen Schuldſpruch bauen. Marten 
hatte, als Soldat und als Sohn, Grund, den Rittmeifter zu haffen. Er war oft von 
ihm jchledht behandelt und am Tage des Mordes vor der Schwadron gedemüthigt 
worden. Der Dragoner Skoped hatte an der Bandenthür einen Mann mit Unteroffi- 
ziersmüßeund Mantel geſehen und der Unteroffizier Marten war, nad) unerjchütterten 
Beugniffen, mit Mügeund Mantelfurzvorder Thatdurchden Theil des Korridors ge- 
gangen, wo morgensdernahmittagsvom Mörder benußte Karabiner gejtanden hatte. 
Marten hat ih nach dem Mord auffällig benommen, ſich, trotzdem derBorgang ihm ſchon 
von zwei Dragonern berichtet worden war, geitellt, als wiſſe er nicht3 davon, den Vor— 
gejetten, der die dienjthabenden Unteroffiziere ausfonderte, dreimal zu täuſchen ver- 
fucht, fein Alibi für die wichtigften Minuten auch mit der Hilfe feiner Eltern nicht 
nachzumeifen vermocht, einander widerjprechende und als falſch erwieſene Angaben 
gemacht und fic dem Strafverfahren durch die Flucht entzogen, die er nur aufgab, 
weil jeine Hoffnung, unterwegs Geld und Eivilkleider zu bekommen, ſich nicht er- 
füllte. Auf ſolchem und auf nod) viel dünnerem Indiziengrund werden von bürger- 
lichen Gerichten beinahe täglich; Menſchen reif für Beil und Zudthaus gefunden. 
Sit Ziethen der Mord, Kojchemann das Attentat, Yevy der Meineid, Sternberg 
der beifchlafähnliche Verkehr mit der kleinen Woyda nachgemwiejen worden? Wahr: 
fcheinlich hat den drei Kriminaliften auch diesmal, wie im Auguft jhon, der Indi— 
zienbeweis zum Schuldfpruch genügt, it die Freiſprechung den militäriichen Richtern 
zu danken. Im Leben des Offiziers, der ja nicht das bezahlte Alltagsgeichäft treibt, 
Menſchen zurichten, iſt die Stunde, die ihm ſouveraine Gewalt überleben, Ehre und 
Freiheit eines vom Weibe Geborenen giebt, ein Ereigniß; und es ijt nur natürlich, 
daß er die Wucht der auf ihm laftenden Verantwortung tiefer empfindet als ein ge- 
plagter Tandgerichtsrath, der elf Monate im Jahr judizirt. Der Prozeßſtoff iſt am 
einunddreißigiten August hier geprüft worden; und zu dem Ergebniß, das damals 
von Vielen getadelt wurde, ift num auch der zweite Gerichtshof der Berufung: 
inftanz gelangt: ſchwere Belaftung des Hauptangellagten, aber feine zur Verur— 
theilung ausreichende Gewißheit. Das diefem Gerichtshof und bejonders dem 
Borfigenden, dem Oberftlientenant Herhuth von Rohden, in der Prefje reichlich ge- 
fpendete Lob ift durchaus verdient; die Art, wie in Gumbinnen Angeklagte und 
Entlaftungzeugen behandelt, Beweisanträge aufgenommen wurden, könnte vielen 
SKriminalpraftifern ein Beifpiel fein. Nur wird mit dem Tadel des einen, mit 
dem Lob des anderen Gerichtshofes noch nichts bewirkt. Jetzt, da in der Sade 
dreimal verhandelt und die Senjation vorüber it, follte man die Vorunter— 
fuchung, die TIhätigkeit und die Zeugenausjage des Kriminalkommiſſars von 
Baeckmann nahprüfen und dafür jorgen, daß in der Strafjuftiz, der bürgerlichen 
wie der militärifchen, die Herrjchaft rüdjtändiger Routine ein Ende nimmt. Nicht 
jedem Angeflagten lächelt, wie dem Dragoner Marten, die öffentliche Meinung; 
und man könnte ſich nachgerade um die Armen kümmern, die, ohne daß eine Chrijten- 
feele ihnen nachfragt, im Dunfel verdächtigt, verhaftet und abgeurtheilt werden. 


18” 


248 Die Zukunft. 


Freilich: der Großbetrieb unferer prompt liefernden Urtheilfabrifen müßte eingejtellt 

werben, wenn man fich überall, wie in Gumbinnen, mit ber Dauptverhandlung 

gegen einen des Totjchlages Angejchuldigten dreizehn Tage lang aufhalten wollte. 
* * 


* 

Ein anderes Urtheil, das nicht in Nordoſtelbien und nicht von einem der ver— 
haßten Militärgerichte gefällt worden tft. Am Tag nach der Weihnaächt erſchien in 
der Brandenburger Zeitung, einem ſozialdemokratiſchen Blatt, ein Artikel, der die 
Entwickelung des Chriſtenthums und der Kirche ſcharf kritiſirte. Der verantwort- 
liche Redakteur wurde angeklagt. Gottesläſterung; Beſchimpfung einer chriſtlichen 
Kirche; $ 166: Gefängniß bis zu drei Jahren. Die Strafkammer hielt zwei Wochen 
Gefängniß für eine ausreichende Sühne. Als die Strafe verfündet war, jtieg der 
brandenburgiiche Pfarrer Grau. auf die Kanzel und jagte vor der Gemeinde: „Der 
Artikel war, troß jeiner Verftändnißlofigkeit für unferen Glauben, ein guter Ar» 
titel. Denn er war, bis auf einige Phrafen, die man aber in allen Zeitungen finden 
fanı, warm empfunden und von Begeifterung für wahre, echte Menjchlichkeit ge- 
tragen. So machte er auch im der Kritif Halt vor der Perſon unjeres Heilands, 
für den er Worte ehrfürcdhtiger Bewunderung hatte... Ich geitehe, daß ich bei 
folden Borgängen immer ein Gefühl tiefer Scham habe. Iſt wirklich unjere Kirche 
jo ſchwach und unfere Ueberzeugung jo Schlecht begründet und morſch, daß fie richter— 
lichen Schußes bedarf? Bertragen wir fo wenig, dab man uns kritifirt ? An dieſem 
tapferen Pfarrer, der in der Sonntagspredigt für einen verurtheilten Sozial- 
demofraten eintrat und feine Predigt dann druden ließ, hätten Jeſus von Nazareth 
und Martin Quther ſich gefreut. Wie aber ifts mit dem Urtheil der gelehrten Richter? 
Die haben, wie faſt immer in Prozeſſen, bei denen es ſich um die Wahrung geift- 
licher oder weltliher Autorität handelt, in freier Beweiswürdigung unter allen 
möglichen Wortauslegungen die dem Angeklagten ungünjtigite gewählt und eine 
Beihimpfung der riftlichen Landeskirche in einem Artikel gefunden, den der evan⸗ 
geliiche Pfarrer des Thatortes auf der Kanzel rühmt. Das tft feine Senfation. 
Davon wird nicht geiprochen. Das fommt alle Tage vor. Schön. Warum aber 
wüthet man dann gegen Kriegsgerichte, die im allerſchlimmſten Fall doch auch nur 
dem Lodenden Irrlicht ihrer Standesrefjentiments folgen ? 

B * 


* 

Auch Senſationen werden manchmal verſchwiegen. Nur in wenigen Zei— 
tungen war zu leſen, daß Herzog Ernſt Günther zu Schleswig-Holſtein, der Schwager 
des Kaiſers, neulich als Zeuge vernommen und gefragt worden iſt, ob ein gegen bie 
frühere Gejellichafterin der Prinzeffin Amalie von Schleswig gerichteter Artikel von 
ihm jtamme, Der Derzog hat unter Berufung auf den vierundfünfzigiten Para— 
praphen der Strafprozeßordnung die Ausjage verweigert. Diejer Paragraph lautet: 
„Jeder Zeuge kann die Auskunft auf ſolche Fragen verweigern, deren Beantwortung 
ihm felbjt oder einem Angehörigen die Gefahr ftrafgerichtlicher Verfolgung zuziehen 
würde.‘ Neuigen Preßſündern mag es ein Troſt jein, daß ſelbſt eine Hoheit, der 
Bruder einer Kaiſerin, in der Hitze des Wortgefechtes einen Artikel jchreiben kann, 
der den Verfaſſer mit der Gefahr jtrafgerichtlicher Berfolgung bedräut. 

* * 


* 
Herr Hauptmann a. D. Stavenhagen ſchreibt mir: 
„So rege das Gefühl der Kameradſchaft in der Armee ift, jo erſtaunlich 


Notisbud). 249 


ſchwach ijt die Fürjorge für ihre dem Elend verfallenden inaktiven Offiziere und 
deren Familien, namentlih im Vergleich zu anderen Ständen und Ländern. 
Augenblidli giebt e8 rund 8500 penfionirte Offiziere, davon 7774 in Preußen 
allein. Die Penfionirungen nehmen mit jedem Jahr zu. Sehen wir auf andere 
Stände, jo finden wir: die König Wilhelm-Stiftung für erwachſene Beamtentöchter. 
Sie hat 20000 zahlende Mitglieder und ein Vermögen von 500000 Marf. Sie 
gewährt jährlich 45 000 Mark Unterftügungen. Der Töchterhort für die Reichspoſt— 
und Telegraphen: Beamten hat ein Vermögen von 600000 Mark und 57000 
zahlende Mitglieder. Er gewährt jährlich 70000 Mark an Beihilfen. 

Sehr entwidelt ift bei den niedrigen jtaatlihen Penfionen die praftifche 
Wohlthätigkeit Tefterreih- Ungarns für feine inaftiven Offiziere. Und zwar 
haben neben dem oberiten Kriegsherrn und den Mitgliedern des Erzhauſes alle 
Klaflen der Bevölferung, denen ein freundliches Geſchick es ermöglichte, fich wett- 
eifernd nad) diefer Richtung bemüht. So haben die Offiziere des Ruheſtandes 
und ihre Wittwen und Waijen zunächſt Theil an der auch für aktive Kameraden 
beftimmten Erzherzog YUibrecht- Euftozza- Stiftung und an den Stiftungen der 
Saiferin Maria Anna und der Freiin von Stengel. Dann giebt es 54 Staats- 
und Privatitiftungen, die nur für penfionirte Offiziere und Militärbeamte be- 
ftimmt find, darunter die größte Zahl für lebenslängliche Aufnahme der Bedürftigen. 
Davon führe id) an die Elijabeth- Therefiajtiftung mit 21 Freiplätzen, nur für 
Generale und Oberjten. Ferner den Berein für Unterftügung von Militär- 
Invaliden (fürjtlih jchwarzenbergijche Stiftung) mit 218 Plägen. Dann die 
Nathanael von Rothichild-Stiftung, die in unbejtimmter Zahl alte Funggejellen 
im Subaltern- Offiziers- und Dauptmannsrang aufnimmt; die Stiftung des 
Feldmarſchall Freiheren von Heß mit 11 Pläben, den Gablenz-Fonds mit 
27 PBläßen und die Fürſt Dietrichftein-Stiftung mit 23 Freiſtellen für adelige 
Dffiziere. Ferner giebt e3 60 Stiftungen für Offizier und Milttärbeamten- 
MWittwen. Ich nenne die des Wiener Männer-Gejangvereins, des Hamburgers 
E. U. Neumann, des Fürften Dietrichitein für Dinterbliebene von Rittern des 
Maria Therefien- Ordens, die allgemeine Jubiläumsſtiftung des belichten Re- 
gimentes Hoch- und Deutjchmeifter No. 4, die Stiftungen des Deutſch-Patriotiſchen 
Hilfsvereins, des Feldmarſchalls Fürften Karl von Batthyänyi, des Konſuls 
Freiherrn von Morpurgo u. ſ. w. Dann finden wir für Offizier- und Militär- 
beamien-Waifen 69 Stiftungen, darunter die des Kronprinzen Rudolf, der Erz: 
berzoge Karl und Rainer, der Saijerin Maria Therefia, der Gräfin Iſabella 
Croce, des Grafen Blüher von Wahlitatt, des Abtes franz Schauer, des Lieute— 
nants Franz Zadory (dev eine Heirathlaution für eine Offizierstochter ausſetzt), 
der Offiziercorps verschiedener aufgelöften Regimenter u. ſ. w. Auch für erfranfte 
Dffiziere ift dur Einrichtungen für Bade- und Kurzwecke gejorgt. Groß iſt 
die Zahl der Freiplätze (Wohnung, Bäder, ärztliche Behandlung) in 11 Elima- 
tifchen Kurorten und 23 Mineral-, Eiſen- Moor- und Stahlbädern. Dann 
giebt es eigene Militär. uranjtalten: 7 Schmwefelquellen, 8 indifferente Thermen, 
4 Soolbäder, 3 Jodquellen und 13 Kaltwaljer-Deilanftalten, die von den inaktiven 
Offizieren eben jo wie von den aktiven benußt werden können. Was haben 
wir, die erfte Militärmacht der Welt, an die Seite zu ftellen? Welches der 
Aberfüllten Miilitär-Lazarethe nimmt einen erkrankten inaftiven Offizier auf? 


250 Die Zutunft. 


Er kann unter Arbeitern in der dritten Station eines bürgerlichen Kranfen- 
hauſes fein Glüd verjuchen, jofern er es erſchwingen kann. In Münden wurde 
kürzlich ein Genie Hauptmann a. D. nur durd) freie Mildthätigkeit feiner Wirths- 
leute vor dem Armengrab bewahrt! In welchem Badeort werden ihm Erleichter— 
ungen gewährt? Ganz abgejehen davon, dab die Zahl der für Militärs be» 
ftimmten Kurorte auch nicht annähernd die der Öjterreihiichen erreicht (Militär- 
Seuranjtalten bejtehen nur in Wiesbaden, Landeck, Teplig und Norderney; dann 
giebt es noch etwa 18 Bäder mit Hurerleichterungen), fann die Wohlthat einer 
freien Kur unbemittelten inaftiven Offizieren nur dann gewährt werden, wenn 
ihr Leiden mit einer Dienjtbeihädigung zufammenhängt. Und find, wie wohl 
meift, die Stellen an aktive Herren vergeben, dann auch nur gegen Erftattung 
der Selbitfojten. Und worin bejteht bisher die private Selbithilfe der inaktiven 
Offiziere? Der ‚Verein‘ diefer Offiziere dient leider nur rein gefelligen Zweden, 
denn das Bischen Stellenvermittelung — auch nur jubalterner Art — ift kaum 
erwähnenswert. Auch der Deutiche Tifizier-Verein, das jegige Waarenhaus 
für Armee und Marine, leiftet troß gutem Willen nur ſehr Unzureichendes 
auf dem Gebiete der Stellenverinittelung, befonders für Offiziere, die höhere 
Anſprüche machen können. Es ift beflagenswerth, daß ein Zuſammenwirken 
diejer beiden großen Wereinigungen, troß allen — auch von mir — wiederholt 
gegebenen Unregungen, nicht zu erreichen iſt. Die jelbe Zeriplitterung finden 
wir in der privaten Fürſorge für Wittwen und Waijen der Offiziere; für Mütter 
und Schweſtern, die nicht in dieſe Kategorie fallen, giebt e8 überhaupt Feine Für: 
forge. Wir haben nur: den Militär-Hilfsverein zu Berlin mit 1185 Mitgliedern 
und 65 000 Mark Vermögen; er hat im vergangenen Jahr 7500 Mark an Unter- 
ftügungen und 62000 Brifetts vertheilt; den Bund Deutfcher Frauen mit 
440 Mitgliedern und 17000 Mark Bermögen,; er konnte im lebten Jahr 
1600 Mark Beihilfen gewähren; den Verein zur Verjorgung deutſcher Offizier— 
töchter mit 925 einzelnen Mitgliedern und 37 Offiziercorps; er hat 12200 Mark 
Vermögen. Dann giebt es nod private Militär Hilfsvereine in Provinzial« 
ftädten wie Breslau, Frankfurt a. M., Danzig, Stettin, Magdeburg, Hannover, 
Karlsruhe und Straßburg mit vorläufig unerheblichen Kräften. 

Nicht alle Dilfe fan vom Staat allein kommen, wenn er aud) die Haupt— 
urſache des großen Elends ift und die wirfjamjte Hilfe durch Gewährung an- 
gemeflener, würdiger und penfionfähiger Arbeit in Givilverjorgung- und vor Allem 
Heeresitellen feinen alten Offizieren bringen und durch ein anderes Penſion— 
verfahren die jeßige, auch der Armee höchſt Ichädliche Dafeinsunficherheit des 
aktiven Offiziers befeitigen muß. Auch die Offiziere müſſen jih — ſchon während 
der Aktivität — jelbft regen und fameradichaftlid; einander und befonders den 
Inaktiven helfen. Namentlich der für die Eriftenz jo gefährliche Lebergangs- 
zuftand zwiſchen der Aktivität und der feiten Anftellung im neuen Lebensberuf 
muß möglichſt vermieden werden. 

Es ift ja erfreulich, zu erfahren, daß fich demnächſt ein großer Offizier- - 
Hilfsverein, zunächſt in Preußen, bilden will mit einer Gentraljtelle in Berlin 
und Dilfsvereinen von hoffentlich großer Selbjtändigfeit in den einzelnen Corps— 
bezirten. Möchte das Werk, das freilid nur Offizierswittwen und »-Waijen, 
leider nicht auch Müttern und Schweitern unverheiratheter inaftiver Offiziere 


Notizbuch 251 


zu Gute fommen fol, ji nur von jedem Bureaufratismus umd behördlichen 
Zwang frei halten! Sonſt wäre der Sade mehr gejchadet als genügt und 
höchſtens einzelnen Spitzen und ihren Protektionkindern erwüchſe ein Vortheil. 
Die Hauptarbeit aber müſſen die inaktiven Offiziere ſelbſt leiſten. Arbeit: Das iſt 
bie Parole, befonders für die bedürftigſten und leiftungfähigiten, die jüngeren 
Stabsoffiziere und die Dauptleute, von denen es augenbliclich im ‚Nuheftande*‘ 
(ein famojes Wort!) allein in Preußen 1740 bezw. 2437 giebt. Selbjt kleine 
Aufbeiferungen der Penſionen können feine durchgreifende Hilfe bringen. Dier ift 
eine foziale Reform nöthig, die nur durch die vereinten Kräfte der unter den 
heutigen Zuftänden Leidenden bewirkt werden kann.’ 
* + 


* 

Ueber die — hier ſchon erwähnte — neufte Encyklifa des Papſtes fchreibt 
mir Herr Karl Jentſch: „Nachdem Leo XII. einige atademijche Vorträge über die 
foziale Frage, die hriftliche Demokratie und ähnliche Gegenftände veröffentlicht und 
darin einiges Verſtändniß fir moderne Verhältniſſe befundet hat, ijt er in feiner 
jüngſten Encytlifa, jeinem Teftament, auf den ftreng orthodoren Standpunft der 
Kurie zurüdgefunfen und ftellt wieder einmal dar, wie die Kirche, die ihm natürlich 
mit der Dierarchie zufammenfällt, gleich ihrem Stifter Jeſus ftets völlig unfchuldig 
leiden muß und gerade wegen ihrer Deiligfeit von der Welt, die alles Guten Feind 
ift, verfolgt, wie aber dieje Welt für ihre geiftigen und körperlichen Angriffe auf die 
Kirche durch den Umfturz der Moral und der bürgerlichen Ordnung bejtraft wird. 
Nun weiß Jeder, daß es heute, und zwar gerade in den protejtantiichen Yändern, 
um die Moral und die bürgerliche Ordnung jehr viel beffer Steht, als es je in den 
Zeiten weltlicher Bapftherrichaft gejtanden hat, woraus freilid) der Hiftorifch Gebildete 
fo wenig gegen das Papſtthum ſchließt, wie er für diefes ſchließen würde, wenn die 
Weltgeſchichte jo verlaufen wäre, wie fie die Nurialijten jchreiben, In Nom follte 
man doch Boccaccios Geichichte vom Juden Abraham kennen, der Chrift wurde, weil 
er ſich ſagte: Eine Religion, die befteht und ſich ausbreitet, trotzdem der zu ihrer Er— 
haltung berufene römiſche Klerus Alles thut, fie durch jeine unerhörten, ohne eine 
Spur von Scham und Gewiſſensunruhe gepflegten Yajter und verübten Verbrechen 
zu zerftören, muß fich wirklich eines bejonderen göttlihen Schutzes erfreuen. Und 
Leo follte willen, dad jein Vorgänger Hadrian VI. auf dem Reichstag zu Nürnberg 
1522 durd) jeinen Legaten Cheregati erflären lich, Gott habe die Berfolgung über 
feine Kirche verhängt wegen ihrer Sünde, vornchmlich der Briejter und Prälaten: 
da jei Kleiner, der Gutes thue, auch nicht Einer. Diefer Papjt hat alfo erkannt, daß 
die Anfeindungen der Kirche nicht nur Auflehnung menschlicher Sündhaftigkeit gegen 
die fittlichen Forderungen des Chriſtenthumes find, die freilich aud) vorfommmnt, jondern 
meiſt Auflehnung menjchlicher Vernunft und Gerechtigkeit gegen die Unvernunft 
und Ungerechtigkeit der Priejterichaft. Die gebildeten deutichen tatholifen müßten 
ſich ſolcher Kundgebungen ihres geiftlichen Oberhauptes in tiefiter Seele ſchämen, 
wenn diejes Cherhaupt nicht durd) die der jeinen ebenbürtige Umviffenjchaftlichkeit 
feiner Zodfeinde, eines Grafen Hoensbroech und feiner proteftantifchen Gönner zum 
Beijpiel, einigermaßen entichuldigt würde.“ 

* * 
* 

In der Voſſiſchen Zeitung iſt der Brief eines niederdeutſchen Arztes ver— 

öffentlicht worden, der ſeit vierundzwanzig Jahren in den Burenfreiſtaaten lebt und 


252 Die Zukunft. 


vorher den deutjchen Feldzug gegen Frankreich mitgemacht hatte, aljo die Kriegsſitten 
civilifirter Völker kennt. Er jchreibt: „Ich habe jetzt jeit ungefähr zwei Jahren hier 
(in Bethulje) unter engliſcher Herrichaft gelebt und während der ganzen Zeit ift 
weder mir nod) einem anderen im Orte lebenden Deutjchen irgend Etwas von Lleber- 
griffen oder Gewaltthaten zu Ohren gefommen, obwohl hier häufig ziemlich viele 
Truppen angehäuft waren oder Durchzüge jtattfanden. Die Einwohner werden durch— 
aus nicht beläftigt. Einquartirung giebt3 nicht; nur in leerftehenden Häuſern werden 
allenfalls Truppen untergebradjt; die meijten kampiren, jelbft bei der hier herrſchen— 
den Winterfälte, ſtets in Zelten. Der engliihe Soldat tt durchaus ruhig, höflich 
und, was nad) einem fajt 2'/, Jahre dauernden Kriege jehr wundert, ganz befonders 
gut in der Dand feiner Borgejegten, obwohl er mit Drillen jehr wenig geplagt wird. 
Die Leute find auffällig ftill; es wird nicht einmal laut gejungen. Vielleicht hat der 
gemeine Mann nicht genug Erbitterung gegen jeinen Feind, obwohl doc; gerade die 
Kampfesweije der Buren ganz dazu angethan ift, ein ſolches Gefühl zu weden. Wir 
wiſſen es ja aus eigener Erfahrung, wie erbitternd es auf eine Truppe wirft, wenn 
fie aus dem Dinterhalt — oder, wie es in Frankreich fo oft der Fall war, aus einer 
Entfernung, über die unjer Zündnadelgewehr nicht reichte — von einem Feinde be- 
ſchoſſen wird, der verſchwunden ift, ehe fie an ihn heran kann.“ Er vertheidigt auch 
die vielgeſchmähten Konzentrationlager: „Selbit in Friedenszeiten wird ein großer 
Theil der nothwendigiten Yebensimittel — Korn, Mehl, Kaffee, Zuder, Kleidung: 
ftüde u. j. w. — eingeführt. Dieje Saden find nur in den Dörfern zu haben, die 
alle in engliichem Befig waren. Sollten nun die Engländer zulafjen, daß die Frauen 
und Kinder auf den Farmen ſich innerhalb der englifchen Linien mit Lebensmitteln 
und fonjtigen Bedarfsgegenftänden verjahen, um jie dann den fechtenden Buren zu 

zuführen? Das konnte man wirklich nicht von ihnen verlangen. Auf der anderen 
Seite: Schloß man die Frauen und Finder ganz aus, fo entjtand die Gefahr, daß 
fie verhuugert oder von den Kaffern beläftigt worden wären. Aus diejen Erwägungen 
heraus hat man fich entichloffen, die ganze Bevölkerung vom flachen Lande zu ent: 
fernen und fie in den Zufluchtlagern zu fonzentiren. Man gab ihnen dort die jelben 
Nationen, die die engliichen Soldaten empfangen, und friiche Milch für die Kinder, 
die allerdings im Winter ein rarer Urtifel iſt. Sie befamen Fleiſch, Mehl, Kaffee, 
Zucker, kondenſirte Mil) und für die Kranken wurde extra gejorgt. Nun ift in Deutſch— 
land die öffentliche Meinung anicheinend durch Erzählungen von Gewaltthaten und 
allerlei Nuchlofigkeiten, die bei der Näumung der Farmen vorgekommen fein ſollen, 
ſehr erregt worden, „ich glaube nicht, daß an diefen Erzählungen etwas Wahres ijt. 
Der Charakter der engliichen Soldaten, jo weit ic) ihn kennen gelernt habe, und vor 
Allem meine perfönlichen Erfahrungen jprechen dagegen. Ich habe etiva jechs Donate 
lang in einem diejer Zufluchtlager als Arzt gearbeitet und habe in diejer Zeit öfters 
Züge von Wagen mit Burenangehörigen ankommen jehen. „ich habe aber niemals 
Klagen über rauhe Behandlung oder Dergleichen gehört; im Gegentheil waren alle 
Weiber des Yobes voll, wie die Soldaten ihnen zur Hand gegangen jeien, beim Auf- 
laden der Sachen auf die Wagen geholfen und für die Kinder gejorgt hätten. Bei 
den großen Entfernungen danerte es zumeilen Tage lang, che die Ochjenwagen in 
dem Yager ankamen. In dieſer Zeit theilten die Soldaten ihre eigenen Rationen 
mit den ‚Flüchtlingen, machten ‚Feuer, halfen beim Kochen, und wenn die Wagen im 
Yager anlamen, jah man häufig Soldaten, die Burenkinder auf dem Arm trugen. 





Notizbuch. 253 


Was die Verpflegung in den Lagern anbetrifft, ſo muß man ſich gegenwärtig halten, 
daß die engliſchen Soldaten, die Einwohner der Stadt und Dörfer, die man ruhig 
in ihren Häuſern gelaſſen hatte, und auch die reicheren Buren, die dort auf ihre eigenen 
Koften wohnen durften, auch nicht mehr empfingen. Die Eifenbahnen find alle ein- 
gleifig. Truppentransporte waren häufig und außer ben Lebensmitteln für die Armee 
und die ganze Civilbevölferung mußte auch nod) das Futter für die Unmaſſe Pferde 
von der Küſte herbeigefchafft werden. Da war es natürlich, da jeder nur feine be- 
ftimmte Portion empfing, wie in einer belagerten Stadt. Später bradjen in den Lagern 
Epidemien aus, die aber aud) die übrige Bevölferung nicht verjchonten. Das waren 
ja ſchlimme Zeiten, aber Alles wurde gethan, um den Leuten zu helfen. Und feit im 
November das Kolonialamt die Yufluchtlager übernommen hat, ijt dort Alles in 
Ueberfluß vorhanden: Konjerven und Milch, alle möglichen Kindermehle, Cognac 
und Whisky, Champagner und jonjtige Weine. Die Merzte haben volllommen freie 
Hand und die Buren haben nie jo gut gelebt. Manche Büchſe mit Konjerven wird 
uneröffnet fortgeworfen, weil die Leute zu viel davon haben, und es iſt Thatjache, 
daß aus den Lagern Lebensmittel herausgeihmuggelt und den noch im Felde jtehen- 
den Buren zugeführt werden.“ Zu dem jelben Thema gehört ein Brief, den ein 
berliner Juriſt mir ſchrieb und dein ich die folgenden Säße entnehme: „Sie nennen 
die Darjtellung, die der Lieutenant Gentz im legten Aprilheft der „Zukunft“ von den 
füdafrifanischen Kriegszuftänden gab, zumächit befreimdend. Das ijt fie für Den 
nicht, der ſchon mehrfach Berichte von Augenzeugen kennen gelernt hat. Als Be: 
weije dafür, daß Herr Gentz mit feinem Urtheil nicht allein fteht und nicht etwa ans 
gekränktem Ehrgeiz zu feiner Darjtellung veranlagt jein fann, gejtatte id mir, 
Ihnen anbei einige Stellen aus Briefen des Stabsarztes von Hildebrandt an den 
Geheimrathvon Esmard) zu überjenden. Hildebrandt war Führer einer Rothen-Kreuz— 
Ambulanz und ift daher gewiß unparteiiih. Die Briefe find in der Münchener 
Mediziniſchen Wocenjchrift 1901 erfchienen, aber, wie alles den Buren Ungünitige, 
von der Tagesprefje totgejchwiegen worden. Bielleiht machen Sie diefe Stellen 
durch Veröffentlichung einem weiteren Leſerkreis zugänglid. Es ift jehr erfreulich, 
dah der dicke Weihrauchnebel, der um die Buren lagert, durch Artikel wie den des 
Herrn Gent zerriffen wird und daß der Leiter einer Zeitichrift den Muth hat, diejer 
Kritif Raum zu gewähren. Dildebrandt ſpricht von der Urt der Schußverlegungen: 
‚„In Fällen, in denen das Geſchoß aus nächſter Nähe den Körper getroffen (in Folge 
von Umvorjichtigfeit beim Busen, meijt jedoch durch Abficht, um jich dem Kriegs— 
dienſt zu entziehen), fand ſich eine große Ausſchußöffnung. Won diejen Zelfschoots 
(accidents, wie jie ironisch genannt werden) haben wir fieben im Yazareth zu ſehen 
befommen. Die größte Anzahl davon (fünf) erhielten wir in der zweiten Woche nad) 
den blutigen Gefecht bei Scholz-Ned, als eine Schlacht großes Stiles eriwartet 
wurde. Nun, da jie ausgeblieben,...... fallen auch dieje Unglücksfälle weg." Sieben 
Selbjtverftümmelungen bei im Ganzen 60 Verwundeten! Dildebrandt erwähnt, 
daß dad moderne Geſchoß die VBerwundeten nicht fampfunfähig made: manche 
fämpften troß der Verlegung weiter. Er fährt wörtlich fort: „Vielleicht wäre die Zahl 
diejer Perjonen noch größer gemwejen, wenn nicht die meilten der kämpfenden Buren 
die Verwundung als willlommene Gelegenheit auffahten, ſich möglichit Schnell dem 
Kampfe zu entziehen.‘ Schließlich ift Hildebrandt froh, daf die Ennländer Jakobs— 
daal bejegten, troßdem er auf der Seite der Buren Stand. Er jchreibt: ‚Die Ver— 


254 : Die Zulunft. 


bandlungen mit den Engländern waren angenehmer als mit den Behörden der Buren. 
Trogdem wir Alles, Verpflegung u. |. w., der Negirung des Oranje-Freiſtaates 
bezahlt hatten (die den Buren freiwillig Dilfe leiftende Umbulanz !), jtießen wir 
ftets auf Schwierigfeiten, jobald wir Forderungen ftellten. Bei den engliichen Mi- 
litärbehörden das größte Entgegentommen, fofortige Erfüllung aller Wünfche.‘* 
Das Alles wird hier natürlich) nicht angeführt, um die Engländer zu entſchulden, 
den Buren, die Banerntugend und Bauernfehler haben, häßliche Yappen ans Kleid 
zu fliden. Sicher wird von den lieben Briten in Südafrifa viel gefündigt, und wenn 
fie dafür die Strafe trifft, werden fie vergebens Mitleid erfichen. Nur joll man er: 
wachiene Bölfer nicht wit Kindermären von Engeln und Teufeln füttern. Das 
Urtheil in einer ernten Sache darf fih nit nur auf die Ausjage einer Partei 
ftüßen umd den Widerjpruch der anderen überhören. Deshalb werden hier von 
Beit zu Zeit Stimmen vernommen, die Manchern vielleicht zunächſt nicht gefallen, 
nad) und nad aber die Möglichkeit Schaffen, fich jelbjt eine Meinung zu bilden. 
* * 


+ 

Der Direktor einer Mädchenjchule jchreibt mir: 

„euer Wein taugt nicht in alte Schläuche. Wir Pädagogen dürfen die 
moderne Kultur nicht als najeweifen Eindringling in die heiligen Ballen der 
Schule behandeln, ſondern als jugendfriichen Gaft, der neues Yeben und neue 
Freude in die ehrwürdig grauen Mauern bringt. Freude! Na, Dand aufs Herz: 
wer hat denn an unferer höheren Schule noch jo recht feine Herzensfreude ? 
freies Spiel der geiftigen Kräfte, ein edles und doch beicheidenes Selbſtver— 
trauen, jugendfrifche Yeiber mit gefunden Sinnen: dieje Ideale einer vernünf: 
tigen Erziehung können doch wahrlich nicht in der Stidluft der ewigen Extem— 
poraliennoth unter dem Damoklesſchwert der Verfegungangft gedeihen. Das 
Bischen formale Bildung durch die Hajfiihen Spraden und — aud Das muß 
gejagt fein — das Bischen höhere Mathematik ijt nicht jenes Lebermaß von 
Kummer und Verfümmerung werth, das fie jahrans, jahrein die licbe Jugend 
fojten. Eine Neform wäre gar nicht jo furchtbar jchwer, wie fie ausficht. Gerade 
jeßt ift dazu die Gelegenheit günftig; denn die Ausdehnung der Bereditigung 
zum Studium auf alle höheren Vehranftalten bedeutet doch wohl zugleich die 
Anerkennung der Gleihwerthigfeit aller Wege, die zu diefem Ziel führen. Wenn 
aljo die Zcheidewand zwiſchen den höheren Vehranitalten gefallen ijt, jo find 
wir damit dem deal der Einheitichule, der höheren zunächſt, doch um eine 
hübſche Strede näher gerüdt. Nur darf das Fundament nicht wieder zu maſſiv, 
der Oberbau nicht von vorn herein zu ſehr überlaftet werden. Won Weberlaftung, 
Ueberbürdung haben wir vorläufig genug. Was foll im Mittelpunkt ftehen? 
sch denke: für Deutjche das Deutiche, und zwar mit mächtiger Ausladung nad; 
der Hulturgeichichte, jo daß cs ſich auf der humaniftichen Grundlage, der wir 
unfere literarifche Entwidelung verdanfen und gern verdanten, aufbaut. Mit 
anderen Worten: der grichiiche Unterricht muß im deutjchen aufgehen. Der, 
dem dann der Geiſt des Dellenenthumes in unjeren herrlichen Ueberſetzungen 
der Klaſſiker nicht dämmert, wird ihn auch nicht bei der Thränenjaat der Extem— 
poralien über den Optativaufgehen ſehen. Unfere Schule foll mehrfein als eine Fach— 
Ihule für Altphilologen und Theologen. Nach dem Deutichen die fremden 
Spraden. Warum aber gleich zwei? Cs iſt für Jahre hinaus gerade genug 
an einer einzigen für jolches junge Hirn, das noch nebenher — nur! — ein 


Notizbuch. 255 


halbes Dutzend anderer Fächer durchitudiren ſoll. Als Abſchlagszahlung auf die 
Forderung einer entiprehenden körperlichen Erziehung genießt allerdings der 
junge Körper zweimal in der Wocde eine Art militärifcher WVordrejjur nach 
äuberlicher Schablone. Das nennt man QTurnen und ftopft mit diefem Wort 
der gequälten Natur den Mund. Auch das Bischen Bewegungipiel als liebens- 
würdiges Anhängjel der Schule ift doch fein Nequivalent für die Vernachläſſigung 
des jugendlichen Körpers. Alſo zunächſt eine einzige Fremdiprade, und zwar 
Franzöfiih. Es iſt leicht zu lernen, hat formalen Bildungwertb, iſt bei unferen 
geſchichtlichen und kommerziellen Beziehungen wichtig und hat cine Yiteratur, 
die nur der Unkundige ablehnen kann. Nach einer Weile muß wohl eine zweite 
Fremdſprache folgen; leider, aber der babyloniſche Sprachenthurm ftcht nun ein= 
mal. So mögen denn die Einen zum Franzöſiſchen nod Latein, die Anderen 
Engliich nehmen. Ob dann einzelne Schüler von der Erlernung der zweiten 
Fremdſprache unter entiprechender Kürzung ihrer Berechtigung dispenfirt werden 
können, ob ferner in den oberjten Kurſus der lateiniſch-franzöſiſchen Abtheilung 
ein fafultativer griechiicher Unterricht einzuführen tft: Das find techniſche Fragen 
zweiten Nanges für die jpätere Praris. jedenfalls hätten wir dann Gym— 
nafium und Realſchule — die Zwiichengattungen haben keine innere Berechtigung — 
durch ein gemeinfames Band zufammengehalten. Und ift der Gedanfe, daß in 
unferer Zeit der Zerfahrenheit des öffentlichen Lebens, der centrifirgalen Be- 
jtrebungen auf der ganzen Yinie wenigjtens die Jugend noch auf einem gemein» 
famen Boden ihrer Weltanfhauung ftehe, als Bürgichaft eines neuen ZJuſammen 
ſchluſſes der Nation nicht allein jchon der Erwägung werth und eines vielleicht 
nur geträumnten Opfers liebgewordener jcholaftiicher Ueberlieferungen? Das Opfer 
ift das Griechiſche in der Urjprade; und der Gewinn: eine viel eingehendere 
Beichäftigung mit der Gefammtkultur des AUlterthumes, ferner die höhere Ein- 
heitſchule mit ihrer großen jozialen Bedeutung und vor Allem die Entlaftung 
der Tugend und die Möglichkeit harmoniicher Ausbildung nicht nur des Geiſtes, 
jondern auch des Peibes. Kommen wird es, weil es fommen muß; aber wann?“ 
* . ' 
* 

Heinrich der Zweiundzwanzigſte älterer linie, jouverainer Fürſt Neuß, Graf 
und Herr von Plauen, Herr zu Greiz, Kranichfeld, Sera, Schleiz und Yobenftein, 
ift geftorben Seine Mutter, die hejjiiche Staroline, unter deren Vormundſchaft er 
anfangs regirte, hatte ihn Breußen haſſen gelehrt. Breußen und Bismard, der aber 
galant genug war, der würdigen Dame die Erinnerung an kleine Bosheiten nicht 
nadjzutragen. Als Ernſt Dohm, der Redakteur des Kladderadaticd, wegen Belei- 
digung der Fürſtin aroline zu fünf Wochen Gefängniß verurtheilt worden war, 
erwirkte Bismard dem geijtreihen und muthigen Mann eine Berfürzung der Strafs 
zeit und fügte dem Brief, der dem Gefangenen die Begnadigung in die Stadtvogtei 
‚meldete, die „perfönliche Bitte“ hinzu, „die arme Staroline nin ruhen zu lafjen“. 
Ihr Nachfolger wurde, in den Wibblättern wie auf dem Thron, der arme Heinrich. 
Dem erging es noch jchlimmer, obwohl er ein ruhiger, anftändiger und bejcheidener 
Herr war, der auf jeine Weije redlich für das Behagen der reußiichen Bürger forgte. 
Daß er Breußen nicht liebte, war am Ende begreiflich; daß er feinen Haß nicht, wie 
andere Mifzvergnügte, die in der Tajche die Fauſt ballen und mit einem Courlächeln 
berliner Prunkſchauſpielen zujchen, in des Bufens Tiefe barg, zeigte ihn als einen 


256 Die Zukunft. 


Mann,der den Muth jeiner Meinung hatte. Und diejer Frondeur war jo ungefähr- 
lich, daß man ihn nicht zu fürchten, nicht zu ſchelten brauchte. Er lich feinen Ver— 
treter im Bundesrath gegen faſt alle preußijchen Anträge ftimmen, feierte die Feſte, 
mit denen das Neich durch berliner Dekret beglüdt wurde, nicht mit und fagte ber 
Hofdienerichaft,er werde Keinen bejtrafen, der einen Sozialdemokraten in den Reichs— 
tag wähle. Das waren jo ungefähr jeine ärgiten Sünden. Dafür war er ein guter 
Daushalter und unter Uniformen und Galakleidern eine in ihrer Art chremmerthe 
Perjönlichfeit. Keine große; fonjt hätte jein Groll fich nicht mit Nadelftichen be- 
gnügt, die fein Flöckchen aus der preußiſchen Wolljade rifen. Ein Heinrich von 
höheren Wuchs hätte auf feinen dreihundertundjechzehn Duadratfilometern, auf 
einem Gebiet aljo, das ſelbſt heutzutage ein Fürſt noch zu überjehen vermag, bie 
verhaßten Preußen die Kunſt moderner Staatsverwaltung gelehrt. Der Erbe bes 
Toten iſt pjychiich belajtet und unfähig, die Negierung anzutreten. Die Regent: 
ichaft fällt der jüngeren Linie zu. Und von den Bundesfürften des Deutichen 
Reiches find zwei num offiziell für geiſteskrank erklärt. 
* x 


* 

Einewunderliche Tragitomoedie hat in Berlin begonnen. Im vorigen Sommer 
hat der König von Preußen dem Stadtrath und Reichstagsabgeordnneten Kauffmann, 
den Magiitrat und Stadtverordniete zu Berlins zweitem Bürgermeijter maden 
wollten, die Beftätiqung verfagt. Die Wahl wurde wiederholt, der Vorjchlag aber, 
nad dem Sinn des Gefeges mit Necht, dem König nicht noch einmal unterbreitet 
und jeder wußte: Herr Kauffmann wird in Berlin niemals Bürgermeifter. Das 
gab keinen Grund zur Aufregung. Die fommımalen Körperichaften haben fein Wahl» 
recht, jondern nur eine Borjchlagspflicht; fie haben für erledigte Stellen Kandidaten 
vorzujchlagen, die der König dann nad) Belieben ablehnt oder ernennt, ohne feinen 
Entihluß begründen zu müffen. Die ganze, jo laut als liberale Errungenſchaft ge- 
priejene Selbjtverwaltung ijt eben, wie diellnabhängigfeit der Richter und das Preu— 
ßenrecht, in Wort, Schrift und Bild feine Meinung zu jagen, eine hübjche Couliſſe, 
deren Anblick artige Stinder erfreut. Herr Kauffmann war früher ein Redtsanwalt 
ohne große Praxis geweſen, dem ehrenhafte Geſchäftsſitte nachgejagt und der dann, als 
gut freilinniger Mann, in die Stadtverwaltung übernommen wurde. Ein Stabtrath 
wie andere Stadträthe; und ein Neichstagsabgeordneter, der in dem kleinen Häuf— 
lein Derer hinter Eugen Richter nie aufgefallen war. Der in der zweiten Lebens 
hälfte in den Sommunaldienjt Beförderte hatte nie einen neuen oder neu Elingenden 
Gedanken ausgejprochen, nie Gelegenheit gehabt, Weltkenntniß oder gar Berwaltung: 
talent zu zeigen. In der Reihshauptitadt aber, deren Oberbürgermeijter der frühere 
Nedtsanwalt Kirichner it, ein ichmiegfamer Herr ohne jede Initiative, könnte 
natürlich auch ein anderer müder Nobenträger die Amtsgefchäfte des zweiten 
Bürgermeijters beforgen. Die Hauptſache iſt ja, daß die Freiſinnige Vereinigung 
Kirſchner) und die Freifinnige Volkspartei Kauffmann) die beiden wichtigiten Stellen 
beiegen. Derr Kauffmann Scheint nun die Hoffnung nicht aufgegeben zu haben, doch 
eines nicht allzu fernen Tages noch ans Ziel feiner Wünſche zufommen. Er wollte bie 
Wahl nicht ablehnen, Hinderte aljo feine Parteigenoſſen, einen neuen Kandi— 
daten vorzuſchlagen. Plötzlich, vor ein paar Wochen, bie e8, er fei erfranft. 
Biychoje. Der Hausarzt fei gezwungen geweſen, ihn in die maison de sante zu 
bringen. Dort blieb er eine kurze Weile und von dort fam an den Stadtverordneten- 


Notizbuch). 257 


vorfteher ein Brief, in dem der Stadtrath erflärte, er trete von der Bürgermeiſter— 
fandidatur zurüd. Dann reifte er nad Thüringen und wurde von einem Sendboten 
bes Berliner Yofalanzeigers interviewt. Ich bin ganz gejund, jagte Herr Kauff- 
mann; dad Zuſammenwirken von Opium und Morphium hatte mich für furze 
Beit „in eine maniakaliſches Delirium verjegt“; von einer eigentlichen Geiftes« 
krankheit kann nicht die Rede fein, ſonſt wäre ich nicht jo ſchnell geſund geworden; 
mein Hausarzt hat unverantwortlich gehandelt und meiner Rüdtrittserflärung ift „ein 
offizieller Charakter nicht beizumefjen“. Schon vorher war behauptet worden, die frei— 
finnigen Mannesjeelen, die um jeden Preis wieder in die Gnadenſonne gelangen 
mödten, hätten den ftörrigen Stadtrath gefränft, mit Arbeit überhäuft, indie Irren— 
anjtalt gejchleppt und dem Leidenden den Verzicht auf die Kandidatur aufgedrun— 
gen. Die jolche Geſchichten umhertrugen, merkten wohl nicht, welche ſeltſame Rolle 
fie ihren Helden jpielen lichen. est, nad) feinen unbeitrittenen Erklärungen, ift 
faum noch ein Zweifel daran möglich, daß er wirklich krank ift ; ungefähr jo, wie er 
ſprach, jprechen faft alle unglücklichen Opfer einer Pſychoſe. Da dieje Krankheiten 
aber lange Ruhepauſen nicht ausſchließen und oft Fahre hindurd dem Laien nicht er= 
fennbar find, kann die traurige Geſchichte ich noch eine Weile hinziehen. Herr Kauff— 
mann will, trotzdem er nach den letten Borgängen doch unter feinen Umftänden 
Bürgerimeijter werden fann, nicht freiwillig verzichten, jeine Parteigenoffen werden 
fich hüten, ihm einen Pſychiater ins Haus zu ſchicken, und der Brief einesin einer Irren— 
anjtalt Internirten ift rechtlich werthlos. Immerhin jollten die Freunde des Kranken 
nicht allzu jcharf ins Zeug gehen; jonjt wird man fi im Rothen Haus doch ent: 
ſchließen, ein pjychiatrijches Gutachten zu fordern und Öffentlich fejtzuftellen, daß Herr 
Kauffmannindem Synodaljtreit, der die Urjache feinesZufammenbruches gewejen jein 
joll, die Dauptarbeit zwei Affefjoren zugemiejen hat. Der Stadtfreifinn jehnt ſich gewiß 
inbrünftig nach der Hofgunft ; die Irrengeſchichte riecht aber allzu jehr nach der Hinter- 
treppe. Jedenfalls haben die Herren jet Zeit, einen neuen Bürgermeijterfandidaten 
zu küren, und es wird interefjant jein, zu jehen, ob fie wirklich den Muth haben werden, 
wieder eine fraftionelle Mittelmäßigfeit vom Sclage des Herrn Fiſchbeck zur Er— 
nennung zu empfehlen. Als neulich im Kreis der Zuverläffigen die Frage erörtert 
wurde, wen man zum zweiten Bürgermeifter wählen jolle, rief ein wißiger Herr: 
Kirſchner!“ Der Mann hatte Recht. Für die Stelle des zweiten Bürgermeijters ift 
Herrftirichnerjehrgeeignet. Wenn zum Oberbürgermeifter ein jtärferes Verwaltung. 
talent erwählt würde, ein Mann von Weltfenntniß und perjönlihem Anjehen, der 
weiß, was in England, Amerika und Frankreich die Gemeinden heutzutage leijten, 
dann fönnte manaudin Berlinendlich an die Löfung neuer Probleme derftonmunals 
politif denken und brauchte ſich nicht mit dem dürftigen Ruhm zu begnügen, der 
zwijchen den Pflafterjteinen jauberer Straßen emporfeimt. Doc) ſolche Hoffnung 
wird unerfüllt bleiben, jo lange die reichshauptjtädtiiche Semeindeverwaltung obdach— 
(ofen Mitgliedern der beiden freilinnigen Fraktionen als Ajyl dienen muB. 
* * 


* 

Im Reichstag haben die Freiſinnigen ſich das Lob unbefangener Zuſchauer 
verdient. Sie haben die der Zolltarifkommiſſion bewilligten Sommerdiäten abge— 
lehnt. Das war klug und wird ihnen nüßen. Sie fünnen nun mit dem Finger auf 
die Konjervativen, Nationalliberalen und die Kentrumsabgeordneten weijen und 
fagen: Seht, wir find bejjere Menjchen als Dieſe, die fi für eine nußloje, zwed» 


258 — Die Zukunft. 


loje Arbeit zweitaufend Mark auf den Kopf bezahlen lajjen! Zwecklos ift die Arbeit 
der Tariffommiffion, weil über die wichtigiten Bunte der fünftigen Dandelsverträge 
offenbar jchon eine internationale Einigung herbeigeführt ift und das ganze Gerede 
ins Yeere verhallen wird. Daß Sozialdemokraten und FFreifinnige das für ſolche 
Arbeit gebotene Geld nicht annahmen, war ein Beweis taktiſcher Leberlegenheit, den. 
fie bei den nächſten Wahlen ins hellfte Licht rücen werden. Lebrigens jollte man 
im Deutjchen Reich heute jede Sünde wider Wortlaut und Sinn der Berfaffung 
nod) ängjtlicher jchenen als in weniger kritiſchen Zeiten. Artikel 32 der Reichsver— 
fafjung jchreibt vor: „Die Mitglieder des NReichstages dürfen als ſolche feine Befoldung 
oder Entſchädigung beziehen.“ Es ijt betrübend, zu fehen, mit wie leichtem Herzen 
Bundesrath und Reichstagsmehrheit fich über diefe Vorſchrift hinweggeſetzt haben. 
* * 


* 

Solche Bedenken ſchrecken den Grafen Bülow nicht. Er iſt heiter und freut 
Ach, trotz Regenſchauer und Sturm, des erwachenden Lenzes. Neulich hat er in 
Düſſeldorf bei der Eröffnung der Ausitellung wieder einmal geredet. Wundervoll. 
Auch da regnete es. Doch der vergnügte Kanzler rief tröftend: „Post nubila 
Phoebus! Sobald der Hohenzollerniproß (der Kronprinz, dem das Protektorat 
über die Ausitellung anvertraut ift) eintritt, wird die Sonne jcheinen.“ Und fie 
fhien. Dann jprad er von den Zollkämpfen und jagte: „Stets ſoll uns hier 
das Vorbild unjeres Kaijers voranleuchten, der jeinen Schönsten Ruhm darin findet, 
unermüdlich unſer Gejammtvorbild zu fein.“ Das war no nicht Alles; die 
ftärfite Leiftung brachte der Sag: „Unſer großer fönigsberger Weiler Kant hat 
feiner eriten Schrift den Titel gegeben: ‚Bon der wahren Schätzung der lebendigen 
Kräfte‘. Ich glaube, daß wir nach unferem heutigen Rundgang in diefer Schäßung 
reicher geworden jind“. Der zweiundzwanzigjährige Wolffihüler Kant hat wirf- 
ih „Sedanfen von der wahren Schätung der lebendigen Kräfte“ veröffentlicht; 
eine noch unielbjtändige Arbeit, die ſich mit fartefiichen und leibniziichen Gedanten 
auseinanderzujegen verjuchte. Natürlich war da nicht von wirthichaftlichen Kräften 
die Nede. Graf Bülow hat diefe Schrift nicht gelefen. Das iſt fein Unglüd, 
Wariım aber citirt er fie dann, citirt fie jo falich, dal die gebildeten Yeute durch dieſe 
Wippchenthat zu lautem Lachen gereizt werden? Es war ſchon jchlimm, daß er dem 
Alten rigen über das Breußenheer ein Wort zujchrieb, das in der gemeinen Wirk— 
fichfeit Bonaparte zur Abwehr deuticher Kritiker geiprochen hatte, und Fichte in Süßen 
pries, die verriethen, daß er das ſozialiſtiſche umd atheiſtiſche Glaubensbekenntniß 
des Gerühmten nicht kannte. Weiß ernicht, daß jeine diplomatischen Kollegen ihn längft 
den Dlinifter des jchönen Aeußeren nennen und in der Wilhelmitraße vorgeichlagen 
ward, einen Eitirfchußverein gegen den Kanzler zu gründen? Kultur haben, heißt 
doc vor allen Dingen: nicht mehr jcheinen wollen, als man iſt, nicht im Schein 
einer Bildung glänzen, die man nicht beißt. Graf Bülow iſt ein guter Feuilleton» 
redner. Den größten deutjchen Philoſophen aber jollte er nicht zum Aufputz von 
Zafeltoaften mißbrauchen. Seine Reden werden ja gedrudt und nicht nur von ehr« 
fürdtig aufhorchenden Yandsleuten gelejen. Im Ausland aber wirkt es nicht günitig, 
wenn der erite Beamte des Deutichen Neiches immer wieder die großen Geifter 
jeines Volkes citirt und ihres Wejens doch nie einen Hauch zu ſpüren vermag. 





Heraus jeber und ——— Redakteur: M. Sarden ın \ Berlin, — Verlag. der Zufunft in ‚ Berkn. 
Drud von Albert Damde in Berlin Schöneberg. 





Ina Su * 
_ * — —* A 


8 9 il: — uf Ä} hi 


30 


u 
M a: h 
5 “ ON A, 





Berlin, den 17. Mai 1902. 


3 
viv 








Waldeck-Rouſſeau. | 


Niris hat eine gute, an Senfationen reihe Woche gehabt und dieputzigen \ 
Zageblattbofjuets, die vor Jahrzehnten ſchon Barbey d'Aurevilly das | 
Leben verleideten, brauchen von der Furcht vor pfingftlicher Feſtruhe ſich 
diesmal nicht jchreden zu laſſen; denn der aufgehäufte Stoff reicht für Mo- 

nate aus. Zuerjt rüttelte der Fall Humbert-Cramwford die Nerven. Frau 

Thereje Humbert, eine rejpeftirte Dame der beiten Gefellichaft, hat ſich un: 

gefähr zwanzig Jahre lang für die Erbin eines Vermögens von hundert 

Millionen Francs ausgegeben, das ein Amerikaner, Herr Crawford, ihrver- 

macht habe. In einer eifernen Truhe bewahrte jie den Schat, zeigte Zweif— 

lern manchmal dicke Rentenbriefbündel, durftedas Geld aber noch nicht alsihr 
Eigenthum betrachten, weil das Teftament von zwei Neffen des Erblaifers 

angefochten wurde, deren Bejisrechte der gewilfenhaften Dame heilig waren. 

Mit genialer Verbrechertaktit jchleppte fie die Sache feit 1883 immer 

wieder ins tiefite Dickicht des Civilprozejjes; und da die Aermſte mit ihrem 

Mann, dem Sohn eines früheren Juſtizminiſters, inzwijchen dod) jtandes- 

gemäß leben mußte, pumpte fie, pumpte munter bei Groß und Klein. Vierzig 

Millionen hat jie auf diejem jelbjt heute nod) ungewöhnlichen Wege zu: 
jammengebradt. Nun ift Madame mit Dann und Sippe verichwunden, die 

eiferne Truhe ift leer und über den Thatbejtand fein Zweifel möglich: die 

drei Crawfords haben nie gelebt, Frau Humbert hat nichts geerbt und, um 

die Gläubiger hinzuhalten, in allen Inſtanzen die Komoedie eines Erbichaft 

19 





260 Die Zukunft. 


jtreite8 aufgeführt, dem jeder Gegenftand fehlte. Ein Stoff für Ariftophanes, 
Le Sage oder Offenbach; ob ihn nicht irgend ein flinfer Philippi big zum 
nächften Herbft deutichen Kunden zujchneiden wird? Noch lachten die nicht 
unmittelbar Gejchädigten über die ausbündige, alle Schelmenromane über- 
trumpfende Gaunerphantafie, der folcher Erfolg bejchieden war: da fam die 
Hiobspoft, die Krater des Mont Pelee auf Martinique hätten eine Yavafluth 
ausgejpien und Saint-Pierre, die Hauptftadt der alten, oft umftrittenen fran= 
zoͤſiſchen Kolonie, verjchüttet. Vierzigtaufend Menſchen follen in dem Kata— 
klysmus umgelommen fein; diefe Zahl erreicht nicht „faſt“, wie der Deutjche 
Kaifer in einer Depejche an Herrn Loubet irrend fagte, die der in Pompeji 
von vulkaniſchem Wüthen Hingerafften, fondernift zwanzigmalgrößer. Und 
faum war diejes Schredens jäher Prall verwunden, faum fingen die von 
unflarer Graujensfunde Verftörten zu finnen an, wie den Ueberlebenden 
Hilfe zu bringen, die von einem durd) die Antillenwelt tobenden Elementar- 
aufruhr bedrohte Kolonie zu retten fei, als jchon neue, nähere Senjation die 
ruhelofen Gemüther packte. Die letste Schlacht im Wahlfampf war geichla- 
genundjeder Franzoſe griff nachdem Stredenrapport, um zu erfahren, wen 
auf der Jagd nad) der Bolksgunft diesmal Fortuna gelächelt habe. Und mitten 
in all dem Yärm wurden die Anker des Schiffes gelichtet, das den Präfiden- 
ten Youbet nad) Nufland trägt, zum Gofjudar der nation alliee et amie. 
Für eine Woche wars genug; und fein Wunder, daß auch unjerer Zeitungen 
größter Theil mit der Schilderung franzöfifcher Zuftände zu thun hatte. 
Frau Humbert, der zwijchen Turcaret und Mercadet ein Pranger- 
plat gebührt, wurde in die Kellerräume gewieſen und, wie des Yandes der 
Braud) ift, von den fürs Feuilleton gemietheten jungen Yeuten zur Berherr- 
lihung deutfcher Rechtspflege benugt. Den Krater des Mont Pelée um: 
freiften allerlei jeltfame Eintagsgeologen, die von Bimsfteinfand wundervoll 
zu erzählen, die Lapilli anfchaufich zu bejchreiben wußten. Ueber die Fahrt 
ins Heilige Rußland wurden Wie gemacht, als wären bei ung ſolche Reifen 
nie zu den wichtigen Staatsaftionen gezählt worden. Die Politiker aber 
jtimmten einen Triumphgejang an: Herr Walded-Rouffeau hat gefiegt und 
die Horde der Prätorianer und Jeſuitenſchützlinge aufs Haupt gefchlagen! 
Die Schwarzen Anjchläge der Dunkelmänner und Tyrannenknechte find zu 
Schanden geworden und das Ministerium der Freiheit, des Lichtes, der 
Gerechtigfeit bleibt uns erhalten. Uns: ungefähr jo wird wirklich gejchrieben 
und gedruckt; als müſſe dem guten Deutjchen die Fortdauer der Firma Walded 
KMillerand ein Herzensbedürfniß fein. Obſie dauern oder ſchon im Juni ge— 


Waldet-Ronffean. 261 


löſcht werden wird, iſt heute noch zweifelhaft. Die Berechnung des in der 
neuen Kammer zu erwartenden Stimmenverhältnifjes ift feinen rothen 
Heller werth. Faſt nach jeder Wahl fieht man in Frankreich das ſelbe Schau- 
jpiel: alle Parteien erklären fich von dem Spruch des ſouverainen Volkes be= 
friedigt und preifendie Weisheit des Wählers, der fichdurd) des böfen Feindes 
Höllenkunft nicht vom rechten Weg locen ließ. Anders Hingt das Lied ge 
mwöhnlich erft, wenn die neue Saiſon in den Folies-Bourbon eröffnet ift. 
Auch jet muß man fichgedulden, follte man, ftatt dem Freudengekreiſch der 
Jaureès und Rochefort zu lauschen, die Zeit bis zur Entſcheidung benugen, 
um die Bedeutung des Streites erkennen zu Ternen, der nun Jahre lang 
ſchon Frankreich Boden zerwühlt und von dem alten Erperimentirlande 
der Weltgejchichte bald in andere Gegenden fortwuchern wird. Seit der 
Dreyfuslärm verhallt und die Erregung, die dem Betrachter die wildejten 
Kampftage der Ligen ins; Gedächtnig ruft, dennoch nicht ausden Gemüthern 
gewichen ift, mußte jeder Wache merken, daß der in beiden Lagern mit allen 
Mitteln brutaler Gewalt und liftiger Tücke geführte Bürgerkrieg einem 
größeren Gegenftande galt als der Rettung oder Vernichtung eines dom 
Standesgericht jchuldig gefprochenen Menjchen. Die Franzojen fühlen ſich 
in ihrem Lebensrecht bedroht; fie möchten fich als ein ftarfes Herrenvolf in 
Europa behaupten und fämpfen deshalb gegen die fapitaliftifche Korruption, 
gegen die träge Gleichgiltigfeit der deracines, die für alle fittlichen Fragen 
nur ein müdes, jfeptifches Yächeln hat, gegen den Baudevillegeift, den ſelbſt 
der ernitejte, traurigfte Vorgang nur zu Frechen Wien ſtimmt, und gegen 
die Tyrannis der ſchnell von jedem pfiffigen Schwindler gefejjelten Maſſe. 
Das Heil joll, jo hoffen die Patrioten, vom Heer fommen, dag nicht, wie 
das regirende Parlament zum großen Theil, aus fäuflichen Strebern, fon» 
dern aus redlichen, in einen jtarren Ehrbegriff gewöhnten Männern be- 
fteht, dejlen leuchtendes Kleid der Panamaſchlamm nicht beipritt hat 
und dem man ruhigen Muthes die nationale Zukunft anvertrauen darf. 
Der jede andere Erwägung niederzwingende Wunſch, in dem aller bür- 
gerlichen Autorität beraubten Yande wenigitens das Anfehen der Armee un- 
getrübt zu wahren, hat in dem von Jules Yemaitre geleiteten Bunde La 
Patrie Francaise viele der feinsten Borhutgeifter zufammengeführt. Ihnen 
hat fich in den meijten Provinzen die KFortichrittspartei der Herren Meline 
und Ribot verbündet. In diejer Koalition find wenige Pfaffenknechte, noch 
weniger Monarchiſten, aber jehr viele aufgeflärte und liberale Leute zu finden, 
die offen jagen: Unſer katholifches Volk hat gefährlichere Feinde, als der 


19* 


262 Die Zukunft. 


Klerus einer ift; es braucht ein ftarkes, in der Disziplin und im Glauben 
an jeine Führer nicht erfchüttertes Heer und will lieber von franzöfijch em⸗ 
pfindenden Bifchöfen und Generalen beherrjcht werden als, wie bisher, von 
den Herz, Arton, Reinach und deren Dienftmannen. Daß die Schaar, die 
mit diefem Auf in den Kampf zog und der die Bauern- und Kleinbürger- 
angft vor dem Erftarfen des Sozialismus zu Hilfe fam, nicht beim erften 
Anfturm den Sieg erftritt, ift das perfönliche Verdienft des Minifterpräfi- 
denten Walded-Rouffeau. ALS Berryer, auch ein politifcher Advofat, von 
feiner Preffe zu den Halbgöttern erhöht wurde, ſchrieb Barbey in heller Wuth: 
Diefe Läppifche oder heuchlerifche Lleberwerthung eines Menſchen ift auf die 
Dauer efelhaft. Solches Gefühl regt fich in dem Unbefangenen auch beim 
Leſen der Waldeckhymnen. Doch der Held diefer Sänge ift der Beachtung werth. 

An einem Büchlein von Erneft-Charles hat kluge Bosheit neulich fein 
Eharafterbild gezeichnet. Ein Mann, der nie lacht, nie in hitige Wallung 
geräth, der unter blickloſen, halb verjchleierten Augen von Zeit zu Zeit nur 
melancholifch, verächtlich lächelt. Er läßt ſich nicht hinreißen, nicht von En- 
thuſiasmus noch) Zorn weiter führen, als er gehen wollte, und kein Ereigniß 
icheint ihm das Phlegma vertreiben zu fönnen. Dabei ftolz, oft hochfahrend 
im Ton, mit der fteifen Würde des vom Athem des profanum vulgus ans» 
gewiderten Ariftofraten; ein ſehr Eultivirter Menfch, Sammler jeltener ob- 
jets d’art, Dilettant im franzöfiichen Sinn des Wortes. Die Klofterfchule 
hat ihn, wie jo viele in mönchiſcher Zucht Erwachjene, allem Kirchenwefen 
entfremdet. Als junger Anwalt folgt er der Fahne Gambettas, deſſen ge- 
flügeltes Wort: Le elericalisme, voilà l!’ennemi ihm aus fühlem Herzen 
geiprochen ift, wird neben dem ftet8 Trunfenen ein nüchterner Minifter, geht, 
als Sambetta fällt, zu Jules Ferry über, der ihm das wichtige Minifterium 
des Inneren anvertraut, und zieht ich, da die Bretonen ihn nicht wiederwählen, 
mit deutlichen Zeichen der Geringichägung aus der Politik in die Civilrechts— 
praxis zurüd, Er wird in Baris der Anwalt der großen Gejchäftsleute und der 
großen Spigbuben, häuft ein ftattliche8 Vermögen und jcheint, als die Here 
Politik ihn nach Jahren abermals lot, von dem einen Wunſch nur erfüllt: 
den Sozialismus mit Stumpf und Stiel auszuroden; und ſozialiſtiſch nennt 
er ſchon den bürgerlichen Radifalismus des Herrn Bourgeois, dem er vor- 
wirft, den Umjturzparteien die Thür zur Herrichaft geöffnet zu haben. In 
allen Reden warnt er vor der destruction, empfiehlt er die conserva- 
tion sociale. Ohne jtraffe Ordnung fei Freiheit nicht möglich und eine 
internationale Partei, die das Vaterlandgefühl negirt, ohne Rückſicht und 


41 


—— — — — 


Waldeck Rouſſeau. 963 


Schonung zu befämpfen. Wer dem Arbeiter helfen wolle, dürfe das Kapital 
nicht beunrubigen, dem Arbeitgeber nicht die Möglichkeit nehmen, im eigenen 
Haufe der Herr zu fein. Das Befigrecht iftihm daserfte aller Menſchenrechte. 
Im Oktober 1897 ruft er, ganz wie unſer Stumm, in Reims, fein Gerede, 
fein feiges Ausweichen nütze, die Entſcheidung müſſe klipp und Har für oder 
wider den Sozialismus fallen. Als er 1898 den Grand Cercle der 
fonjervativen Republikaner eröffnet, den er zum Hauptquartier der So- 
zialiftenfeinde machen will, rühmt er Herrn Meline, den eminent homme 
d’Etat, den Minifter, der das Pand vom Unrath gereinigt und deſſen Autori= 
tät ſich von Tag zu Tag verjtärft habe. DreiMonate danach ſcheidet Meline 
aus der Macht und Walde ruft dem „energijchen Republikaner” nad: 
Nousne lui disonspas adieu, mais au revoir! Das war im Juni 1898. 
Ein Jahr jpäter war Waldeck-Rouſſeau Minifterpräfident. Er wählte zwei 
Sozialiften, die Genofjen Baudin und Millerand, den Führer der jozial- 
demofratijchen Kammerfraftion, zu Kollegen und hat feitdem feinen anderen 
Politiker mit jo zähem Ingrimm verfolgt wie Herrn Meline, deſſen poli— 
tifches Wejen doch in feinem Zuge gewandelt ift. Staunend fahen Waldeds 
frühere freunde dem Speftafel zu und fragten, was diefen Dann, der nie 
nach Volksgunſt lüſtern jchien und der jchon oft Gelegenheit hatte, ohne 
Opfer zurMacht zugelangen, beftimmt haben könne, jeineganzeVergangen- 
heit als ein Zweiundfünfzigjähriger jo zu verleugnen. Ein piychologifches 
Näthjel. Auch der Herr, der ſich Erneft-Charles nennt, hat es nicht gelöft. 

Und doch ift am Ende die Yöjung jelbft dann nicht gar fo ſchwer zu 
finden, wenn man fich vorher entjchlofien hat, Walde nicht einfach für einen 
feilen Wicht und Streber zu halten. Er ift Hug, ungewöhnlich gejchieft und 
jo weitfichtig, wie mans dem gejuchtejtenparifer Eivilanwalt zutrauen durfte. 
Er ſpricht nicht mehr von destruction und conservation sociale, fondern 
hat längjt ein anderes Schlagwort gewählt und heißt ſich jelbt den Organi: 
fator der defense republicaine. Die Republif, jagt er feit drei Jahren, 
ift bedroht; vor jedem Thor lauert ein Prätendentenwunſch, eines Diktators 
Ehrgier, und wenn wir nicht wachjam jind, wird mit der Hilfe der immer 
den jtarken Bändigern verbündeten Pfaffenichaft uns morgen irgend ein 
Gaſſencaeſar fnechten. Das glaubt der Schlaue natürlich ſelbſt nicht, der 
genau weiß, daß von allen Staatsformen des vorigen Jahrhunderts feine in 
Frankreich fo ungefährdet war wie die 1870 gejchaffene und daß für ab- 
jehbare Zeit an die Auferftehung einer Monarchie von Gottes oder von 
Pöbels Gnaden nicht zu denken ift. Er zweifelt aud) nicht an der Zuver- 


264 Die Zukunft. 


läjjigfeit des Klerus, der, auf eos und Rampollas Befehl, mit der Republik 
Frieden geſchloſſen und nicht den geringften Grund hat, in nutzloſen Aben- 
teuern Eojtbare Kraft zu verzetteln. Aber ein Anwalt und ein Bolitifer hat 
nicht immer, hat jehr jelten fogar die Pflicht, die reine Wahrheitüber die Forde- 
rung der Augenblickstaktik zu jtellen. Wer ſich gewöhnt hat, die Menjchen nad) 
ihrem Handeln, nicht nach ihrem Reden zu beurtheilen, wird leicht merken, daß 
Walded-Rouffean feinem alten Ziel, die Neigung zum Sozialismus aus den 
Hirnen zu ſcheuchen, um eine tüchtige Strede näher gekommen ift. Der feine 
Steptiter, der an der Barre und in Wahlverfammlungen die Maſſenpſyche 
ichäten gelernt hat, mag geſchmunzelt haben, al3 er auf den großen Boule- 
vards Tauſende rufen hörte: Nieder mit Millerand! Conspuez le baron! 
Kein Zetern, fein Sozialiftengejeß, „Fein Kampf mit geiftigen Waffen“ 
fonnte jo wirfen wie die wehe Enttäuschung, zu der ein fozialdemofratijcher 
Minifter feiner Genofjenjchaft verhalf. Die Millerand, Jaurès, Viviani, 
die ministrables fein wollten, haben in heißen Schlachten die Guesdiſten, 
Marxens jtrenggläubige Jünger, geſchwächt und zugleich ſich ſelbſt um den 
Nimbus des Volksbeglückers gebracht. Diejer Erfolg war nur durch eine 
Berbrüderung von Bourgeoifie und Proletariat zu erreichen; und ſolches 
Bündniß wurde erjt möglich, wenn der Menge die Ueberzeugung einge- 
hämmert war, die Republik jei, die Freiheit, das Menfchenrecht in Gefahr. 
So oft eine Bourgeoifie ſich in ihrem Befigrecht bedroht fühlt, jchreit fie, die 
heiligjten Menjchheitgüter ſeien gefährdet, zeigt fie der gegen die ſchranken— 
[oje Geldherrichaft erregten Maſſe den Pfaffen als Erzfeind und ſucht fich 
das Gewimmel zu befreunden, das ihr morgen ſonſt indie Putzſtuben brechen 
fönnte. Und jedesmal — eben jahen wirs wieder in Belgien, wo liberale 
Fabrifanten die Arbeiter um den Kampfpreis prellten und der Sozialdemo- 
fratie eine Wunde ſchlugen, von der fie jich jchwer erholen wird — jedesmal 
ift das Proletariat dann jo arglos, jo blind, daß es jich von den ungemein 
menjchenfreundlichen Kapitaliften firren und als Helotenheer in einen Krieg 
der Privilegirten treiben läßt, in dem e8 nichts zu gewinnen hat. 

Herr Waldeck-Rouſſeau hat diefesNothmittel nicht erfunden, aber jo 
flug angewandt, daß der Erfolg nicht ausbleiben konnte. Frankreich, das eine 
joziale Revolution fürchten mußte, hat heute nur Salonfozialiften und macht— 
loſeSekten. Walde hat gefiegt, nicht über monarchiftifche oder pfäffiſcheFeinde 
der Republif, jondern über die Förderer der destruction sociale. Unjerer 
Prefjeifterderlichte Held lauterſter Redlichkeit. Vielleicht ftammtdieDanfbar- 
keitaus demInſtinkt, der in Waldeck den Hort bourgeoifen Befigfriedeng wittert. 

* 


Die Welt als Seit. 265 


Die Welt als Zeit. 


Man lernt mehr Weisheit mit dem 
Hören als mit dem Sehen. Das Hören 
bringt mehr herein, aber das Sehen weit 
mehr hinaus, Meijter Edhardt. 

Es giebt feinen Unterjchied zwiſchen 
dem Subjekt, das erkennt, und dem Objekt, 
das erfannt wird. 

PBarijer Univerfität anno 1276. 


—— babe ich in meinen Berichten über Mauthners Sprachkritik*) 
den Grundgedanken des Werkes verftändlich genug wiedergegeben; 
was mir aber zu fehlen fcheint, ijt die Aufdedung des Grundgefühles, aus 
dem heraus Mauthner ans Werf gegangen ift; und was fchlieflich das Selbe 
fagt: es muß noch gezeigt werden, zu welchem Ende und Mauthner diefe 
Waffe in die Hand gegeben hat. Kurz gefagt: zum Ende Gottes. ch 
glaube, nicht jalfch zu vermuthen, wenn ich fage: Was Mauthner bei diejer 
Arbeit langer Jahre geftählt und begleitet hat, war das Gefühl, daß es weder 
Kant noch einem Anderen bisher gelungen war, mit der falfchen Hypotheſe 
„Bott“ fertig zu werden. Man mußte die Sprache angreifen, noch mehr, 
man mußte erfennen, daß all unſere Erkenntniß nur Sprache fei, um dieſe 
That zu thun, — es einmal für alle hinzuftellen: ob Ihr e8 Gott nennt oder 
moralifche Weltordnung oder Zwedmäßigkeit der Welt oder tiefere Bedeutung 
der Welt oder Erforfhung der Wahrheit oder Erfennbarfeit der Welt, — 
es ijt immer das Selbe: der Glaube, die Welt ausfprechen zu können, ift 
der Glaube an Gott. Was immer Ihr von der Welt jagt: e8 find Worte. 
Das heikt: e8 ift nicht wahr. Wahrheit hie bisher immer: jo ift e8; wenn 
das Wort noch fernerhin angewandt werden joll, muß es bedeuten: es ijt 
anderd. Das Wort Wirklichkeit mögen wir ruhig behalten für unſere Er: 
fcheinungwelt, für Das, was auf uns wirkt und wiederum von uns bewirkt 
wird; Wahrheit aber ift ein durchaus negatives Wort, die Negation an ſich, 
und darum in der That Thema und Ziel aller Wiflenfchaft, deren bleibende 
Ergebniffe immer nur negativer Natur find. Darum auch ift es fein Wider: 
ſpruch, dar Mauthnerd Kampf gegen die Sprache ſprachlich geführt wird: 
denn Das ift eben die Aufgabe der Begriffsfprache, fih mit Dem zu be 
ichäftigen, was nicht ift, bisher Geglaubtes zu negiven. Alles ift anders: 
Das ift die Formel all unferer Wahrheit. Auf diefe Ahnung iſt es wohl 
zurüdzuführen, daß man hinter dem Tod die Löſung des großen Räthſels 
gefucht hat; ich möchte jagen, man hat den Trugſchluß gemacht, aus der 


\ 


*) S. „Zukunft“ vom 23. November 1901. 


266 Die Zukunft. 


Empfindung, daß Wahrheit — Andersfein ift, zu fchliefen: es brauche alfo 
nur eine gründliche Veränderung mit uns vorzugehen, damit wir Alles er- 
kennen. Uber folche Veränderung ift ja auch wieder nur etwas Poſitives, 
nur ein Zuftand; jenes Andersfein aber drüdt lediglich die Negation aus und 
könnte duch „niemals“ erfegt werden. In diefer Auffaſſung fällt „Wahr: 
heit“ natürlich auch mit dem „Ding an ſich“ zufammen. Was ftedt hinter 
unferer Wirklichkeit? Etwas Anderes! Wie ift die Welt an fih? Anders! 

Diefe Wahrheit, daß man die Welt eben darum nicht erkennen kann, 
weil man jie erfennen muß, räumlich, zeitlich, dinghaft wahrnehmen und mit 
Worten belegen, iſt fchon früh und immer wieder, manchmal mit wunderbarer 
Schärfe und Deutlichkeit, ausgejproden worden; und gerade in den Kreiſen, 
wo man mit tieffter Sehnfucht nad der Ruhe des Poſitiven lechzte und 
darum unerfchroden und ehrlid) war. Denn die Gefchichte der Weltanfhauungen, 
der Philofophien wie der Religionen, fünnte in zwei Lager getheilt werden: 
auf der einen Seite Solche, die ſich ſchnell bei etwas Pojitivem beruhigten: 
die Priefter und die Gründer philofophifcher Syiteme als Befjere und bie 
Pfaffen und Philofophieprofefforen al8 weniger Gute; auf der anderen Seite 
Solche, die leidenschaftlich nad Ruhe begehrten, aber durch nichts beruhigt 
werden fonnten: die Ketzer, Seftirer und Myſtiker. Es geht eine Linie, die 
bei den Neuplatonifern ficher nicht anfängt, aber doch zum erjten Mal mit 
Sicherheit fejtzuftellen ift, die dann in Dionyſius Areopagita wohl im fünften 
Jahrhundert ihren eriten Höhepunkt findet, in Scotus Erigena im neunten 
ihren zweiten, die dann nachhaltig die Scholaftifer, Realiften und panpfy: 
hiftifchen Sekten des MittelalterS berührt, bis fie in Meiſter Edhardt ihren 
dritten und höchſten Gipfel erreiht. Yon da geht die Linie langjam und 
verborgen, aber unverloren weiter über Picus de Mirandola, Molinos und 
Jakob Boehme zu Angelus Silefius, der, wie der treffliche Gottfried Arnold 
jo wunderhübjch jagt, „aus denen vornehmiten myſtiſchen Theologis die 
summam der geheimen &ottesgelahrtheit im nervojen und nachdrüdlichen 
epigrammatibus vorträgt“, der Tih aber zu Cdhardt verhält wie der 
Jeſuitenſtil zur Gothik; ein deutlich erfennbarer Zweig geht dann nad England 
hinüber zu dem großen Berkeley, der freilich als echt engliicher Kopf genialjte 
Negation mit kraftloſeſtem Politivismus zu vereinigen wußte; die Linie ſcheint 
mir bis in die Gegenwart zu reichen und in Johannes Wedde und vor Allem 
Alfred Mombert in die Erjcheinung getreten zu jein. Sie Alle jind in der 
Einficht vereint, dar fie — mit Berkeley zu ſprechen — Sinne und Worte 
als erroneous prineiples bezeichnen; fie machen denmad, wie Johannes 
Wedde es ausdrüdt, „Front gegen jede bejtehende Religiongemeinfchaft (und 
jedes wifjenfchaftlihe Syftem), denn fie Alle fordern die Anerkennung ge- 
wiſſer Begriffe und Begrifisverbindungen als intelleftuell richtiger. Es iſt 


Die Welt als Zeit. 267 


aber unmöglih, dak ein Menfch Etwas richtig begreife.“ Sie jind ferner 
au darin einig, unfere Sinnenwelt ald etwas Bildmäßiges zu betrachten, 
und mühen fich leidenfchaftlih, eine Welt „ohne Bilder und Zeichen“ — 
wie Mombert jagt — zu fchaffen. Und drittens find fie darin einig, daß 
ie — im Gegenſatz mehr zu dem landläufigen materialiftifchen Bantheismus 
al3 zu Spinoza — ſpiritualiſtiſche Pantheiſten find; da die Welt (oder Gott) 
nicht von außen her erkannt werden kann, muß fie von innen her geichaften 
werden: durch Abkehr von Raum und Zeit, durch myſtiſche, nicht oder faum 
auszufprechende Verſenkung follen augen die Dinge und innen das Ichgefühl 
aufhören, zu fein, Welt und Ich in Eins zerfliehen. 

Der Gröfte unter all diefen ketzeriſch myſtiſchen Steptifern war unfer 
Meiſter Edhardt, der mit gewaltigen Mitteln unternahm, wovon bei Spinoza 
nur Spuren zu finden find und was fünf Jahrhunderte fpäter dem Kant— 
ihüler und Boehmeſproß Schelling nicht gelingen wollte: Pantheismus und 
fritifche Erfenntniftheorie in Harmonie zu bringen. Er wußte und hat es 
oft ausgefprocden, dar man Gott, den Sinn der Welt, nicht erfennen könne, 
daß wir aber willen, was er nicht ift. Auch war e3 feine tiefe und bleibende 
Erkenntniß, diefes Nichts, mit dem er eben fo wie ſchon Dionyfius und 
Scotus Gott identifizirte, für ein unbekanntes Poſitives zu erklären, defien 
Artribute nur alle unfere Erjcheinungen ſammt unferem Ich find. Diejes 
Unbefannte glaubt er aus jich heraus fchaffen, myſtiſch darein verfinfen und 
dann bildmäßig und in Gleichnifien davon fprechen zu fünnen. E3 war ihm 
ficher, daft, was wir in ung felbit al3 ſeeliſches Erleben finden, dem wahren 
Weſen der Welt näher ftünde als die aufen wahrgenommene Welt. Aber 
auch diefes innere Erleben, wen es ſchon den Raum abgethan hatte, geichah 
doch noch in der Form der Zeit; und darum betrachtete er die Zeit als den 
ärgiten Feind Gottes. Zeitlos mufte man werden, damit Außenwelt und 
Ich zu Einem würden. Die Stellen, wo er von diefen inneren Erlebnifien 
tieffter Art erzählt, gehören zum Ergreifenditen, was es an Wortfunit über: 
haupt giebt. Selten hat Einer jo jhön und wahrhaft um das Unaus: 
ſprechliche herumgeſprochen wie Meifter Eckhardt. Aber hier handelt es ſich 
nicht darum, fondern um die Frage: ob es möglich ift, einen ſolchen über— 
natürlichen Zuftand, wo Welt und Perfönlichfeit zugleih aufgehoben und 
vereinigt fei, in ſich zu verjpüren. Da wir jelbit ganz ficher nicht nur 
äußere und innere Erfcheinung find, fondern auch zur Welt als Wahrheit, 
zur Welt, wie fie anders ijt, gehören, läßt fich, wie ich zögernd jagen muß, 
diefe Möglichkeit nicht ohne Weiteres abweifen. Daß Das, wovon uns 
die Myſtiker Bericht erjtatten, nur Wortbild und Negation faljcher Annahmen 
ift, beweist nichtS dagegen, dar fie Etwas erlebt haben, das ſich anders nicht 
fagen läßt. Auch die Erkenntniß, dar zum Beifpiel Meifter Edhardts Ent: 


20 





2068 Die Zuͤtuuft. 


züden über feine tiefen Stunden und Berzüdungen dem pfychologifch prüfen- 
den Leſer ſich als fein Staunen über die eigene Genialität herausftellt, der er 
in nüchternen Stunden felbft nicht gewachfen war, ift noch nicht durchſchlagend. 
Und auch der Einwand, wir fönnten nichts fühlen oder im Bewußtſein haben, 
was nicht Zeit erfordere, beweift nichts, denn es handelt ſich eben bei diejen 
Erlebniffen um Gefühltes und Seelifhes jo wenig wie um Materielles: 
auch Erlebniß ift natürlich eim gräßlich falfches Wort für etwas Zeitlofes 
und darum auch Leblofes. Dabei ijt niemals ein Erlebnik fo ftarf und 
wahrhaft als Ungeheuerliches, Blendendes, Fortreißendes und Befeligendes 
geichildert worden wie von den Miyftifern diefer benommene Traumzuſtand. 
Ich laffe dies Geheimnißvolle alfo dahingeftellt; nur muß hinzugefügt werden, 
daß die Erflärung des Zuftandes als irrige Deutung genialer Entrüdtheit — 
Andere würden fagen: einer frankhaften Verfaſſung — eben fo wohl möglich 
ift. Und vor Allem: da diefer Verkehr zwifchen Welt und Individuum 
völlig ummittheilbar fein muß, kann er als folder weder dem Gedächtniß 
des Individuums noch irgend einer Erfenntnig angehören. Wäre ich dazu 
genug Myſtiker, fo würde ich jagen, er gehöre wohl dem Weltbewußtfein an; 
aber jolche Bilder darf fih ein armer Normaler nicht erlauben. Wenn es 
aljo Etwas diefer Art giebt, dann hat es feine eigene Sphäre und geht uns 
nicht da8 Geringfte an, fo lange wir es nicht mitgemacht haben. Es ijt dann 
die ſelbe Sache wie mit dem Tod, von dem ſchon Epikur gefagt hat, daß 
er und nicht angeht, und unferem Zuftand vor der Geburt oder eigentlich der 
Zeugung. Nur geht e8 uns freilich mit unferer erften Kindheit genau fo; 
und doc wird faum Einer leugnen wollen, daf fie zu feinem Erfeben gehört. 
Wir find eben doc noch mehr als Gedächtniß und Bewußtſein; oder, das 
Selbe nicht negativ, fondern metaphoriich ausgedrüdt: unjere Bewußtſeine 
hinterlaffen nicht alle bleibende Spuren in dem Bewußtfeinstheil, den man 
Gedächtniß nennt. Körperlich Freilich ift kaum mehr Etwas von Dem an 
uns, was wir damals als Kind waren; nicht einmal die Zähne. 

Ich habe gejagt, die Wiffenschaft fei das Wiffen von Dem, was nicht 
if. Das ließe ih an Beifpielen Mauthners weiter erläutern; ich erinnere 
an das Gefeg von der Trägheit oder der Erhaltung der Energie, deren Aus: 
fagen ja nur landläufige Irrthümer zurüdweifen. Ich habe dann zweitens 
von dem Nichtwiljen in dem abgründlich poſitiven Sinn der Myſtik ges 
fprochen; für Den, der daran glaubt, muß Das die einzige Art von Religion 
jein, die ihm noch möglich it. Neben diefe Wiffenfchaft und diefe Neligion 
tritt ein dritted Clement unjerer Weltanfhauung: die Kunſt. Darunter 
verjtehe ich hier die ſymboliſche oder metaphorifche Ausdentung der Metaphern 
unferer Sinne und der Metaphern unſeres inneren Bewußtſeins. Sie hat an 
die Stelle Deffen zu treten, was bisher die Willenfchaft Pofitives zu leiſten 


Die Welt als Zeit. 269 


wähnte. Nicht mehr abfolute Wahrheit fönnen wir fuchen, feit wir erfannt 
haben, daß ich die Welt mit Worten und Abftraktionen nicht erobern läßt. 
Wohl aber drängt e8 uns, fo ftark, daß fein Verzicht möglich ift, die man— 
nichfachen Bilder, die uns die Sinne zuführen, zu einem einheitlichen Welt- 
bild zu formen, an deſſen fymbolifche Bedeutung wir zu glauben vermögen. 
Das aber ift Kunſt in diefem höchſten Sinn: ein zwingendes Sinnbild der 
Welt. Wo immer wir in den Thaten der Wiljenfchaft zwingend Pofitives 
antreffen, bei Kopernikus oder Laplace, bei Helmholg oder bei Herb: mir 
dürfen willen, daß es entweder nur verjtedte Verneinungen find oder zwin— 
gende Symbole, die irgendwann einmal von treffenderen Metaphern abgelöft 
werden. In der Wiſſenſchaft alfo findet man überall zerftreut die Bruch— 
ftüüde der Symbolik, die einmal an die Stelle des angeblich politiven Theils 
unferer abjtraften Erkenntniß treten wird. Bevor es aber dazu fommt, 
bevor es möglich zu fein fcheint, aus den Ergebnifjen der wifjenfchaftlichen 
Forſchung eine Weltgeftalt zu formen, fcheint eine große Umnennung nöthig: 
der Verzicht auf eine uralte Metapher und ihr Erjag durch eine andere. Der 
Naum muß in Zeit verwandelt werden. 

Selbſt Manthner fpricht an einer Stelle, wo er von dem alten Gegen: 
fag von Leib und Seele redet, davon, er könne die Schwierigkeit nicht ein= 
fehen, die in der Vorſtellung liegen folle, daß feine Bewegungen der Außen— 
welt fich zunächft in Nervenbewegungen und dann in Das verwandeln, was 
wir Empfindung nennen. Diefe Stelle ift aber freilich vereinzelt und ihr 
ftehen andere bedeutfam gegenüber, in denen es heißt, wenn die Sprache 
Das ausdrüden könnte, möchte er jagen, der Glodenton fei für die Glode 
felbjt feine Bewegung, fondern Etwas wie Empfindung. ch geftehe: mir 
giebt einzig und allein diefe — keineswegs unausfprehbare — Vorftellung 
einen Sinn; der Gedanke, da draufen fei etwas Körperliches, das unab- 
hängig von meiner Wahrnehmung jo materiell da jei, und diefes Ding oder 
diefe Bewegung von Stofftheilhen „bewirke“ Das, was mir von innen her 
als Pſychiſches fo wohlbefannt ift: diefer Gedanke ift für mich völlig abjurd. 
Spinoza hat es ſchon gefagt, wenn es auch durch die jtumpf geichliffenen 
Brillen der Spinoziften meiſtens nicht durchgegangen ift: die Welt kann 
phyſiſch volllommen ausreichend erklärt werden und braucht das Pſychiſche 
gar nicht erjt zu bemühen: von den Wirkungen da draufen geht es ins 
Sinnedorgan, von da zu den Leitungbahnen der Nerven, von da zum Hirn, 
vielleicht von einer Partie zur anderen, vielleicht auch chemifchen Veränderungen 
unterzogen oder fonftwie behandelt, auf Arten, die wir nicht fennen, und vom 
Hirn geht e8 wieder auf anderen Nervenbahnen hinaus in die Außenwelt als 
Aktion; Alles rein materiell. So kann die Welt erklärt werden; aber 
Phyſiſches kann nur durch Phyfisches erklärt werden: und Das, was innen 


20” 


270 | Die Zukunft. 


in uns, als unier Allerbefannteftes, vorgeht, ift nad) diefer Weltmetapher 
nicht etwa eine Wirkung oder Etwas, das als Begleiterfcheinung nebenher 
geht, fondern es ift ganz und gar nicht vorhanden. Wir mußten, weil wir 
die Metapher „Ding“ oder „Materie“ oder „Außenwelt“ acceptirt haben, 
nothmwendiger Weife an die Stelle unferer vertrauteften Innenvorgänge die 
Metapher „Nerven“, „Gehirn“ u. f. mw. fegen. So fteht die Sache und 
man kann, wenns Einem genügt, ftatt von inneren, pſychiſchen Erlebnifien, 
von Gehirnvorgängen reden; wenn man aber meint, die Gehirnvorgänge 
feien die Urfache der Seelenerlebniffe, fo fcheint mir, da meine man Un— 
finn. Wie Spinoza erfannt hat: Phyſiſches kaun nur durch Phyſiſches, 
Pſychiſches nur durch Pſychiſches erflärt werden; vermengt man die beiden 
Bereiche, jo läßt man fich die fchauderhafteften Metaphervermengungen oder 
Wippchen zu Schulden kommen. | 
Ein Weltbild, das zur Vorausfegung die Annahme hat, unfere inneren 
Erlebniffe jeien nicht vorhanden, jcheint mir nur eine Unmöglichkeit für ung 
Menfhen. Wohlgemerkt: es ift bei diefem Fonfequenten Materialisnus nicht 
anzunehmen, es handle jich bei Dem, was wir innen verjpüren, um eine 
Täufhung; feineswegs! Denn auch „Täufhung“ iſt ja fo eine vertradte 
pſychiſche Angelegenheit; man muß vielmehr behaupten, diefe Erlebniffe feien 
gar nicht da; wenn Einer zum Beifpiel feinen Arm in die Höhe hebt, ges 
fchehe nur, was davon zu ſehen fei; und noch ein paar körperliche Vorgänge 
ähnlicher Art im Innern des Leibes; aber dar er jelbit von diefer Aftion 
Etwas fpüre: Das gebe e8 nicht. Mir jcheint alfo ein folches Wegleugnen 
uns unmöglich. Die Wirklichfeit unjeres Innenſeins ift uns unentreißbar. Es 
bleibt uns aber noch der andere Weg: Alles piychiich zu erklären. Und 
Das jcheint mir in der That geboten: was wir al3 Aeußeres wahrnehmen, 
muß uns etwas Piychifches bedeuten. Wir müfjen die körperliche Welt als 
eine Metapher unferer Sinne betrachten lernen, die wir erſt dann mit der 
Metapher unſeres Ichgefühls zufammenreimen können, wenn wir eine 
Metapher zweiten Grades vornehmen: diefe Fförperliche Außenwelt iſt uns 
nur noch ein Symbol, ein Zeichen für Etwas, das gleicher Art ift mit 
unferem Seelenleben. Mauthner liebt es, die Zeit als die vierte Dimenfion 
der Wirklichkeit zu bezeichnen. Dahinter ftecht fchließlich gar nichts Anderes 
als die Andeutung, die Zeit fei nur Etwas wie eine Eigenfchaft des Raumes. 
Wenn es ihm möglich ift, auch unferen inneren Zeitinhalt, unfer Pſychiſches 
rein als Raum binzuftellen, dann fol uns dieſer fonfequente Materialismus 
jehr willlommen fein; wir können ihn brauchen, wenn aud) nur, damit er 
ſich ad absurdum führt. Aber ich glaube nicht, dak Mauthner den Verfud 
machen will; es fcheinen mir nur Reſte einer Schon faft völlig überwundenen 
Epoche der matertaliftiichen Metapher zu fein. Der Verſuch, den er mauch— 


Die Welt ald Zeit. 271 


mal macht, das Gedächtniß als eine Art objektiven, ohne Bewußtſein funk— 
tiontrenden mechanischen Apparates zu betrachten, gehört auch zu diefen An- 
läufen. Diefer Erflärungverfuh mit Hilfe des objektiven Gedächtniffes wäre 
eine und ganz und gar finn= und bedeutunglofe Wörterzufammenftellung, 
wenn wir nicht unfer ſubjektives Gedächtniß hätten, das wir fo fehr gut 
fennen, ohne e8 im Geringften erklären zu fünnen. Das Piychifche läßt ſich 
eben nur dann durch Phyſiſches „erklären“, wenn man das Pſychiſche als 
befannt, als feiner weiteren Erklärung bedürftig vorausfegt. Dann aber 
thut die phyfische Erklärung wundervolle Dienjte: als bedeutungvolle Sym— 
bole für das Seelifche, das objektivirt und veräußert werden muß, um er= 
fennbar zu fein. Mit der Ausfage, die Zeit fei die vierte Dimenlion des 
Naumes, vermag ich alfo zur Bezwingung und Geftaltung der Welt nichts 
anzufangen. Umgekehrt drüde ich aus: der Raum mit Allem, was darin 
it, ijt eine Eigenfchaft der Zeit. Nicht mit diefer veralteten Metapher — 
Eigenfchaft! — ausgedrüdt, ſondern vorläufig negativ: es giebt feinen Raum; 
was uns räumlich beharrend erfcheint, ift eine zeitliche Veränderung; was ung 
im Raum bewegt erfcheint, find die wechfelnden Qualitäten zeitlicher Vorgänge. 
Der Einwand, unfere Sprache fei aber nun einmal von Haus aus 

materialiſtiſch, trifft uns auf diefer Stufe durchaus nicht und kann ung nicht 
abhalten, weiter zu fchreiten. Er fagt nichts weiter, als dar die abftraften 
Begriffe, mit denen Vollsglaube und Wiflenfchaft arbeiten, den Charafter 
des Sinnlichen nicht abftreifen fünnen. So daß zum Beifpiel Atom, Aether 
und ſolche Worte nicht3 weiter jind als unvorftellbare Produfte räumlicher 
Borftellungen, ung aber niemals von den Sinneseindrüden befreien können. 
So lange man die Worte wörtlich und die Mittheilungen der Sinne finnifch 
verjteht und fo lange man aus dem Sinniſchen und feinem Wortichatten 
pojitive Wahrheit fchöpfen will, ift der Einwand richtig und wichtig, daß die 
Sprade und nicht vom Fleck bringen kann. Hier aber, auf diefer Stufe des 
Kunſtwiſſens und der bewurten Metapher, ift uns alle Sprache nur ein 
Symbol des nicht weiter Auszufprechenden, des Unmateriellen. Diefen Dienft 
hat die Sprache als Wortkunſt fchon immer geleiftet. Nehmen wir ein Bei: 
fpiel aus Goethe, wie e8 jich mir beim zufälligen Auffchlagen eines 
Bandes bietet: 

Wie Fellenabgrund mir zu Füßen 

Auf tiefem Abgrund laitend ruht, 

Wie taufend Bädje ftrahlend fliegen 

Zum graufen Sturz des Schaums der Fluth, 

Wie ftrad, mit eignem Fräftgem Triebe, 

Der Stamm ji in die Yüfte trägt: 

So ijt es die allmächtge Yicbe, 

Die Alles bildet, Alles hegt. 





272 Die Zuhmft. 


Das, was uns diefe Begriffe vermitteln, iſt weder eine Abftraftion 
noch eine äußere Wahrnehmung: die Worte und Sinmenbilder find nur 
Metaphern für etwas nnerliches, das Goethe uns mitzutheilen veriteht. 
Sch meine nun: eben jo wie wir unfer Junere8 auszudrüden verftehen mit 
Hilfe bildlicher Ausdrudsweife, eben fo gut fünnen wir auch, um die Ein- 
heitwelt zu formen, die wir brauchen, die Welt ald etwas Pfychiiches dar— 
ftelen, unter Benugung von Wörtern, die freilich nur Aeußeres bedeuten; 
aber das finnifch Ausgedrüdte und das ſinniſch Wahrgenommene fol uns 
nur an Pſychiſches erinnern. Die Aufgabe für Den, der ein einheitliches 
Weltbild formen will, ift alfo: das Materiele al3 etwas Piychifches darzu= 
ſtellen. Das heißt: glaubhaft zu zeigen, daß die Materie, das aufen Ge— 
ſchaute, nur eine metaphorifche Darftellung, ein Sinnenbild oder Sinnbild 
feelifchen VBorganges if. Wenn Das möglidy fein foll, muß zwifchen den 
Aufenbereihen und unſeren Ichgefühlen eine Aehnlichkeit, ein Bergleichung- 
punft vorhanden fein. Das ift der Fall; und die mechaniftiiche Wiſſen— 
fchaft hat uns diefes tertium comparationis nahe genug gebracht: ich meine 
die Zahl. Die Zahl ift der Weg vom Naum zur Zeit, von den Dingen 
zum Seelenfliegen, von der Gefichtsfprache zur Muſik, von der Weltanfchau- 
ung zur Weltbehorhung, der Weg zu einer neuen Metapher. 

Schon Berkeley hat gewußt, daß Alles, was wir jehen, nur die Sprache 
von etwas Piychifchem ift, alfo nur ein unzutreffendes Bild des Wirklichen 
in fremdem Material giebt; feine befte Erkenntniß hat ihm feine Chrijten- 
fprache verhunzt, aber deutlich genug hat er trogdem von dem visual lan- 
guage geſprochen. Und Lazarus Geiger hat wiederum entdedt, daß alle die 
Begriffe, die unfere Weltanfchauung bilden helfen, auf das Sehen zurücgehen. 
Alfo, füge ich hinzu, auf den Raum; denn die Raumhypotheſe ift, wie ich 
zeigen will, nur auf das Auge, nicht, wie man meijt annimmt, auf eine 
Kombination von Sehen und Taſten zurüdzuführen. Nicht die drei Dimen— 
fionen ſind das Charakteriftifche für die Hypotheſe des Raumes, fondern die 
Annahme eines Aeußeren, Dinghaften, Bleibenden, das nicht zu uns gehört, 
das nicht bei ung, nicht unfer ift. Ohne Diſtanz, ohne Entfernung, ohne 
Trennung durch fcheinbar Unausgefülltes wäre man niemals darauf gelommen, 
Etwas wie Raum oder Ding anzunehmen. Unfere Sprache ift fubftantivifch und 
objektivifch, weil Schon unfer Auge ähnlich angelegt ift; die Diftanz zwifchen uns 
und dem Erſchauten, das nicht an ung rührt, das nicht unfer Leben, fondern unfere 
Fremde ift, hat die luft geschaffen, die zwischen Welt und Ich gähnt. Man 
jtelle fich einmal vor, es habe nie Geſichtsvorſtellungen gegeben, niemals Licht 
oder Farbe oder gefehene Gejtaltung, und dann gleite man, während die Augen 
geichloffen find, mit den Fingerfpigen dem nächſten Gegenſtand entlang, 
diefem Stuhl oder diefem Tiſch; ich behaupte: was ich da fühle, it nimmer- 


Die Welt als Zeit. 273 


mehr ein harter Gegenftand da draußen — ic) kenne kein Draußen und habe 
nicht die geringfte Veranlaffung, es anzunehmen —, fondern nur eine in der 
Zeit vorgehende Veränderung meiner felbft. Meine Fingerfpigen werden 
jo merfwürdig verändert; Das fühle ich; da wir diefe Taſtſprache nicht aus— 
gebildet haben, will ich mich unferer Ausdrüde bedienen und jage: meine 
Fingerjpigen werden hart; und inzwifchen jind jie gefchweift und glatt (Form 
und Oberfläche des Stuhles) und nun ift wieder das Alte (der Stuhl hat 
aufgehört) und jest Find die Finger Scharf (die Schreibtiichfante) und nun 
werden jie naß und falt (ich bin ins Tintenfaß gefommen). Selbftverftändlich 
könnten diefe Abitufungen, Grad» und Qualitätunterjchiede noch viel feiner 
und jpezifizirter ausgedrüdt werden, wenn die Menjchen bis heute das 
Intereſſe gehabt hätten, darauf zu achten. Aber jedenfalls habe ich nicht 
die geringfte Beranlaffung, beim Taſten mir ein Außen zu denken, da ich 
ja nur Etwas fühle, das bei mir, an mir, zu mir gehörig ift. Ich fühle 
nur, daß in der Zeit fortwährend Veränderungen mit mir vorgehen. Alles 
aljo, was ich tajte, find zeitliche Qualitätunterfchiede, aber keine Spur von 
Raum bietet jih mir dar. Während es mir alfo unmöglich ift, wie ich 
zeigte, von der Zeit und meinen Schgefühlen abzufchen, kann ic) vom Taftiinn 
aus fehr wohl das Urtheil abgeben, das für die Erklärung des Piychiichen 
durch Pſychiſches nothwendig ift: E3 giebt feinen Raum. Und genau fo 
fteht e3 mit den Temperaturlinn, mit dem Schmerzenfinn und den übrigen 
Abarten des Taftiinnes, genau fo fteht e8 auch mit dem Gehör, dem Geruch, 
dem Geſchmack und Allem, was wir leiblich verfpüren: überall find e3 lokale 
Vorgänge, wenn id) e8 vom Geſicht aus erfläre, find es Zeitveränderungen 
an mir, wenn ich vom Geficht abjehe. Hätten wir feine Augen, fo wäre 
der Unterfchied zwifchen der Welt und mir niemals entitanden, wäre man 
niemal3 auf die verrüdte dee gekommen, zu dieſem Leib hier zwar Ich zu 
fagen, aber ja nicht zu diefem Buch oder diefem Tiſch oder diejer Frau. 
Und wäre, al3 das Auge entjtand, Telegraphie und Telephonie ohne Draht 
ichon eine vertraute Sache gewejen, fo hätte man aus der Diſtanz wohl 
auch nicht auf eine Andersartigkeit des Geſchauten gefchloffen, fondern gejagt: 
Wie bin ich gewachſen! Wie breitet jich auf einmal eine Sprache vor mir 
aus, für ganz meue, fonderbar klare Gefühle, die ich bisher faum im Dunkeln 
geahnt! Nein: man hätte gar nicht3 gejagt, man hätte gejchaut und hätte 
Das al3 die neue Sprache empfunden. Denn es wäre nichts Getrenntes, 
nichts Ichfremdes gewefen: man hätte ja die Elektrizität oder das Licht als 
fein eigen empfunden. est aber gähnt eine Leere; und ganz weit Kinten, wo 
ih nicht bin, ift ein Ding. Dieſes Nichts it der Raum. 

Die großen Denker haben gejagt, Naum und Zeit feien unfere eigenen 
Anſchauungformen. Und wir haben es dahingeftellt jein laſſen und haben 


274 Die Zukunft. 


nicht3 damit anfangen können. Anders wird e8, wenn man dieſe Ausjage 
auseinander reißt. Die Zeit ift nicht nur die Form unferer Anjchauung, 
fondern auch die Form unferer Ichgefühle, alfo ift fie für ung wirklich, für 
das Weltbild, das wir von uns aus formen müffen. Die Zeit ift wirklich, 
gerade weil fie fubjektiv ift. Der Raum aber ift eine Anfhauungform; unjere 
Subjeftivität braucht ihm nicht zur Deutung des Eigenen, fondern nur als 
Bedeutung für das immer nod) frenıd Gebliebene. Der Raum ift unwirklich, 
uiht Das, was er fcheint, obwohl er fubjektiv ift: er fcheint objektiv. Die 
Entdedung, dar es nichts Näumliches, nichts Dingliches giebt, ift Etwas, 
dad und mal in Fleisch und Blut übergehen muß wie die Entdedungen des 
Kopernifus. Wir müſſen das Fremde zu unferem Eigenen machen, den Raum 
in Zeit verwandeln, die Ertenfität der äuferen Dinge muß uns ein Bild 
fein für die Intenſität unferer Ichgefühle. Ich bin nicht nur diefes Hirn, 
nicht nur diefer Organismus, ich bin auch mein Gefchautes. Dies nicht 
um der Wonnefäligfeit oder der Verzüdung willen — denn die Welt wird 
wahrhaftig nicht Schöner und nicht edler, wenn ich jie bin (Dies für pan- 
piychiftifche Pfaffen) —, fondern um des Sinmbildes der Wahrheit willen, 
das mir einzig noch möglich fcheint. 

Natürlich handelt es ih mir bier nicht um jolche dem Rolksglauben 
angehörende Begriffe wie Seele, Ich und Dergleichen; ſie müffen nur mit 
Vorbehalt angewandt werden, jo lange unfere Aufmerffamfeit noch fo Häglich 
wenig auf die unendlich differenzirten Qualitäten und Intenſitäten der Zeit 
gerichtet worden ift, jo lange wir die neue Sprache noch nicht Haben. Wie 
wir ein Ding mit Eigenschaften, eine Bielheit um etwas Bleibendes herum, 
in die Außenwelt verſetzt haben, jo erfcheint uns auch unfer Ichleben ats 
eine Vielheit von Individualitäten, die ih um den trog ewiger Beweg— 
lichkeit fejt fcheinenden Kern der Perſon und Ueberperfon, des Gedächtniſſes 
und Uebergedächtnijfes gruppiren. Für diefe Vielheit der Perfonen in Einem 
hat Kant ein Fühnes umd myſtiſches Bild gefunden; er jagt: „Eine elaftiiche 
Kugel, die auf eine gleiche in grader Richtung ſtößt, theilt diefer ihre ganze 
Bewegung, mithin ihren ganzen Zuftand (wern man blos auf die Stellen 
im Naume jieht) mit. Mehmet nun, nad der Analogie mit dergleichen 
Körpern, Subſtanzen an, deren die eine der anderen VBorftellungen, fanımt 
deren Bewußtſein, einflöhete, fo wird Tich eine ganze Neihe derfelben denfen 
lajien, deren die erite ihren Zuſtand ſammt deſſen Bewußtſein der zweiten, 
diefe ihren eigenen Zultand jammt dem der vorigen Subjtanz der dritten 
und dieje eben fo die Zuftände aller vorigen jammt ihrem eigenen und 
deren Bewußtſein mittheilete. Die legte Subſtanz würde alfo aller Zuftände 
der vor ihr veränderten Zubitanzen fich als ihrer eigenen bewußt fein, weil jene 
zuſammt dem Bewußtſein in fie übertragen worden, und Dem unerachtet 
würde fie doch nicht eben die ſelbe Perfon in allen diefen Zuftänden gewefen fein.“ 


Die Welt ald Zeit. 275 


Diefe Stelle ift ein Verſuch, das Prinzip der Vererbung auf das 
Berhältnif der einzelnen differenzirten Individuen innerhalb eines Individuums 
anzumenden. Sie ladet aber aud) ein, die Einheit Defien, was Ich zu einem 
Stüd Welt fagt, noch mehr zu erweitern: wenn das ch eine Anzahl von 
Individuen (Zellen) in einem Herrſchaftſyſtem vereinigt, dann jehe ich nicht 
ein, warum nur die Welttheile zu mir gehören follen, die ich mit Mund 
und Lunge in mich aufgenommen habe, und nicht eben fo gut die anderen, 
die mich font irgendwie berühren. Die Welt wird jo aufgefaht als eine 
unendlich Fomplizirte Kreuzung pſychiſcher Herrſchaftſyſteme. Vor dieſer 
Komplizirtheit ſich zu ſcheuen, liegt gar keine Veranlaſſung vor; darum 
erſcheinen uns alle Weltanſchauungen fo kläglich, weil ſie mit Hilfe von 
Abitraktionen, die immer tugendhafter wurden, je verblajener fie waren, ver: 
fuchten, die Welt auf eine einfache, möglichit moralifche Formel zu bringen. 
Die Welt ift nicht einfach; und wir haben feinen Grund, uns vor mikroſkopiſchem 
Detail zu fürchten. So fehr die Naturwiſſenſchaft und Mechanik ins Detail 
gegangen ift, fo jehr muß e8 die ſymboliſche Auslegung dicjer materiellen 
Sinnbilder, die jene Wiffeniharten ung verschafft haben, thun. Die Geiftes: 
wiſſenſchaften haben lange genug um ein paar armfälige fchönrednerifche 
Hohlheiten fi herummgedrüdt. 

In der Naturwiſſenſchaft hat man ſich ſeit Jahrtauſenden bemüht, alle 
Vorgänge, phyſiologiſche und chemiſche, Licht, Farbe, Wärme, Elektrizität, auf 
die Mechanik zurückzuführen. Das heißt: auf die Bewegung winziger Stoff: 
theilhen, die eigentlich gar nicht mehr differenzirt waren und gar nichts 
Stofflihes mehr an Sich hatten. Man mollte Alles auf die Bewegung eines 
Einheitlihen zurüdtühren, deifen einzige Eigenfchaft eigentlich die Bewegung 
war. Warum man Das wollte, warum man nicht, was man ohne Zweifel 
eben fo gut hätte verjuchen können, etwa alle Bewegung durch Wärmegrade 
ausdrüden wollte oder überhaupt irgend eine andere beſtimmte Sinnesenergie 
als Mar aller Dinge angenommen hat, darüber wollte man jich nie Klarheit 
verjchaffen. Und doch fcheint mir der verborgene Grund ganz einleuchtend: 
man wollte das Qualitative aus der Welt fchaffen und es durch Uuantitatives 
erjegen; die ſekundären Eigenjchaften jollten durch primäre erſetzt werden. 
Schon Kant fpottet über die Mechaniker, die immer empirisch bleiben wollen 
und die do zu Beginn ihrer Forſchung die „metaphyſiſche Vorausfegung“ 
machen, daß das Reale in Raum ich nur der extenſiven Größe nach unter: 
fcheiden könne. Das Beitreben dev Mechaniker iſt, die Welt feelenlos, 
farbenlos, duftlos, Manglos zu machen. Es follten nur reine Raumverhält— 
nilfe übrig bleiben, die all das Wirre, Einnengemäre erklärten. So ſind 
fie dazu gefommen, die Welt in benannten Zahlenverhältnifien auszuſprechen, 
deren Name feine Rolle mehr jpielt. Sie haben die Welt auf die Zahl ge 
bracht; und wo fie noch micht jo weit Find, find fie doch auf beſtem Wege. 


276 | Die Zukunft. 


Die Zahl aber ift nicht nur das Maß des Nauntes, fondern auch der 
Zeit, nicht nur der abftraft gefchauten Bewegungen, fondern auch der Intenſität 
all unferer Sinnesenergien, nicht nur des materiellen Draußen, fondern auch 
des piychifchen Innern. Die Aufgabe Derer, die an dem Weltbild formen 
wollen, fcheint mir zu fein: mit Hilfe der Ergebniffe der mecaniftifchen 
Wiſſenſchaft richtige Zahlenverhältniffe für das Intenfive und das Syſtem 
des pſychiſchen Fließens zu finden. An die Stelle der Dinglichkeit, der 
Kaufalität, der Materie hat die Intenfität, das Flieken, die Pfyche zu treten: 
an die Stelle des Raumes die Zeit. Räumliche Onantitäten jind nur bild- 
liche Berhältnifzahlen für die unendlich differenzirten Qualitäten der Zeit.*) 
So gewinnt Schopenhauers Einfiht, daß die Mufif die Welt noch einmal 
it, einen neuen Sinn: jie ift einer der Verfuche des Kunftwifiens, der Welt- 
verinnerlihung, mit Hilfe qualitativ getönter Zahlenverhältniffe ein Bild der 
Welt als Pfyche zu geben, eine Sprache zu fchaffen für daS Weich der 
Intenfitäten. Das Auge, der Raumjinn bat uns zu den Abjtraftionen des 
Ertenfiven gebracht, bis wir merkten, daß wir unfer Inneres nicht auf Raum— 
formeln bringen fünnen; vielleicht fann uns das Gehör, der Zeitſinn, die 
Traum- und Slangbilder geben, deren wir bedürfen, um die Symbole, die 
wir als Außenwelt fchauen, im zeitlichen Verlauf zu verwandeln. Wenn wir 
fo Raum und Materie nur al3 ein Sinnbild für intenfive Vorgänge. in ber 
Zeit auffafien, als eine Sinnestäufhung, die wir umdeuten müffen, dann 
füllen wir etwa den Abgrund aus, der bisher unfer inneres Dafein und unfere 
Außenwelt getrennt hat. Wir hören dann auf, unfer Innenleben al3 Räthjel 
und die Raumwelt als Gefpenft zu betrachten: Beides geht dann auf im 
einen unendlich mannichfachen feelifchen Zeitenftrom, deſſen geheimnißvolle 
fraufe Berfchlingungen wir mit Hilfe der Metaphern unferer Sinne noch 
zu erforschen haben. Die Wahrheit jenſeits unferes Eigenen kümmert ung 
nicht, weil wir willen, daß wir nichts davon erkennen; das Fremde aber, 
das wir bisher als Außenwelt liegen liefen, müfjen wir in unfer Eigenes 
verwandeln. Vielleicht fommen wir auf diefem Wege, durch die Schärfung 
und Verfeinerung all unferer Intenfitäten, auch zu neuen Sinnen, zu neuen 
Bildern, von denen wir heute noch feine Ahnung haben. 


Bromley. Guſtav Landauer. 


*) Nachträglich finde ich in dem jüngſt aus Nietzſches Nachlai herausgegebenen 
„Willen zur Macht’ den folgenden bejtätigenden Sat: „Der mechaniſtiſche Begriff 
der Bewegung ift bereits eine Ueberſetzung des Uriginalvorgangs in die Zeichen— 
ſprache von Auge und Getaſt“. Ueberhaupt dedt jich die Berwandlung des Seins 
in Werden, die Niebfche in diefem Hauptwerk vorichlägt, fo ziemlich mit meiner 
Meinung von der Berwandlung des Naumes in Zeit. 


1 2 


Blımmenträume, 


Blumenträume. 


Don mit mir in die filberne Srühlingsnadt, 
C} 


’ Mein Kieb, fomm mit mir hinaus; 


Aus dem Schlaf find die Rofen und Kilien erwacht 


Und ſchimmern von Perlen des Thaus; 
Wir gaufeln über die Wege fact, 

Auf Flügeln über die flammende Pracht, 
Don Blüthen zu Blüthenftrauß. 


Komm mit in den webenden Glanz hinein, 
Mein Lieb, in den wogenden Duft; 

Die weißen $loden wallen und jchnein, 
Hörft Du, wies fchmeichelnd ruft? 

Die Seele voll füßen Träumerein, 

Mein Fieb, wir wollen wie Blumen fein, 
Hitternd in Frühlingsluft. 


Die Rofe öffnet die Blüthe weit. 

Biſt Dus, mein Kieb, die fie rief? 
Gieb mir die Hand, dag wir zu Zweit 
Sinfen hinunter tief. 

Die Wände in rojiger Herrlichkeit 

Und Kerzenglanz und das Lager bereit, 
Darin die Königin jchlief. 


Auf leifem Fuß Du geglitten bift 

An das Bett, wo die Königin träumt; 
Du haft ihr Köpfchen in füßer Liſt 
Mit weißen Armen umſäumt; 


Sie hat Dih im Traum auf die Wangen gefüßt 


Und Dein Antlis zur Roſe geworden ift, 
Don dunkler Gluth überfhäunit. 

Yun tauch in den Kelch der Kilie hinein, 
Mein Lieb, in den weißen Schoß; 


Da jtehen die Säulen in ſchimmernden Reihn, 


Du reift den Bli nicht los; 


277 


278 


Die Zukunft. 


Auf dem Thron von blendendem Marmorſtein 
Da ruht die Elfe im Mondenfchein, 
Die Augen ftill und groß. 


Und mit weißer, feierlicher Hand 

Bat fie Dich, mein Lieb, berührt; 

Du haft Dich fchauernd emporgewandt, 
Da den Hauch Du von Kicht gefpürt; 
Auf Deiner Stirn wie ein goldnes Band 
Kiegt nun der Glanz aus Filienland 
Der nimmer fich verliert. 


Mein Kieb, nun fomm an den dunflen Teich, 
Wo die Waflerrofe ruht; 

Saß uns wehen auf Lüften, füß und weich, 
Ueber die wellende Kluth, 

hinein in der Blume magifches Reich, 

Wo in fremden Flammen, irr und bleich, 
Flackert die Märchengluth. 


Wie auf filbernen Schwingen der Schmetterling, 

So wiegſt Du Dich über dem Schaum; 

Wie der Kalter an jchimmernden Kelchen hing, 

So ſchwebſt Du am Blüthenfaum; 

Und der Traum, den mein Lieb von der Blume empfing, 
Der liegt nun am Grund wie ein funfelnder Xing, 

Tief in des Herzens Raum. 


un fomm, mein Lieb, in die Macht zurüd, 
Wo die Rofen im Winde wehn, 

Den zaubrifhen Traum im leuchtenden Blick, 
Und das Haupt wie Kilien ſchön — 

In unfern Herzen das Märchenglüd, 

Mein füßes Kieb, das fonnige Glück, 

Das fann nicht untergebn. 


Hamburg. Theodor Sufe. 


x ' 
F 


Tr u." 


Der verehrte Dichter. 279 


Der verehrte Dichter. 


Sr thut nicht gut, wenn ein Schriftiteller viele Verehrer hat; es thut nicht 
gut! Nur den Sumpfpflanzen jchadet Ueberfluß an Feuchtigkeit nicht; 
den Eichen ift fie nur mit Maßen zuträglid. Ich erzähle Hier von einem 
Burſchen aus dem Schriftjtelleritande, der auf dem Wege zu feinem Biel un: 
erwarteter Weiſe in den Morajt der Popularität gerieth, erzähle davon, wie 
läderlih und ungeſchickt er ji benahm, als er ji) mit dem Schlamm des 
Lobes vollgejogen hatte, und was mit ihm gejchah, als ihm der Kopf durch die 
nebligen Dunjtwolfen des Ruhmes verqualmt worden war. Der Burſche war 
einfältig, aber nicht ganz dumm, und er unterjchied ji von feinen Kameraden 
im Gewerbe dadurd, daß er aufrichtig war und darum fich felbjt jeden Tag 
widerijprad. Er lebte in einem Lande, deſſen Literatur einen Weltruf genoß; 
und als er auf die erſten Anzeichen der Popularität zu ftoßen begann, nahm er fie 
mit Unwillen auf und dachte: Sonderbar ... . In die Pojaune jtöht man, — und 
fie hören nicht; ein Nohrpfeifchen bläft, — und fie freuen ſich . . . Der Burſch war 
nicht bejcheiden, durchaus nicht! Aber er kannte feinen Werth. Das war bie 
Sade ... Und dann wußte er aud, daß es in feinem Heimathlande fein Volt 
giebt, jondern nur ein Publikum, und daß es namentlich das Publikum iſt, 
das literarifche und andere Berühmtheiten erjchafft, während das Volk jeinen 
Trott geht, die Schriftjteller gering jchägt, an Zauberer glaubt, jein Leben lang 
nur arbeitet, aber troßgdem immer Dunger leidet und jeden beliebigen Augen» 
bli bereit ift, die ganze Literatur mitjammt all den anderen vom Publikum 
geliebten Künjten für einen Sad Mehl einzutaufchen. Aber obgleih mein 
Burſche dies Alles genau wußte, war er dod nur ein Menſch; und außerdem 
find alle Schriftjtellee — und jogar die Bhilojophen — mehr oder weniger beſchränkte 
Leute. Er fing an, zu fühlen, daß die hartnädige Aufmerkjamteit, die das 
Publikum jeinen Büchern zeigte, ihm angenehm fei. Er befam von den Lejern 
ihmeichelhafte Briefe. Ein Leſer jchrieb: „Talentvoller“ ... . Der andere jehte 
ihwarz auf Weiß hin: „Docdzuverehrender“ . . . irgend eine Lejerin jchrieb 
einfach, aber Eräftig: „Danfe, mein Seelden!“ Ganz, als habe der Dichter 
ihr Seide zu einem Jäckchen geichenft. Und ein Krämer, der mit Büchern han 
delte, ſchickte einen Brief folgenden Anhalts: „Seehrter Herr! Herr Schriftjteller! 
Indem ich anfing, mich zu interejjiren, warum, daß das Publikum jo Fräftig 
Ihre hochzuverehrenden Bücher kaufe, habe ich diejelben durchgelefen und aus 
mir ergojjen fich die nachfolgenden Verſe: 

MWie Lilien im Sumpf, 

In meiner müden Seele 

Blühten Viſionen und Träume 

Von einem Leben ohne Dinderniß. 

Sie blühten, aber ichüchtern, 

Blühten und verwelkten 

Und verfaulten im Schlamm des Herzens 

Und es roch jehr häßlich ... 

Uber Du drangit mir ins Derz, 


280 Die Zukunft. 


Mit Deinen heißen Worten, 
Wie mit Funken überftreuteft 
Das Dunkel meiner Seele Du 
Und id) entflammte in Leidenichaft; 
Ich wurde unfinnig fühn 
Und jet rieche id) jtolz 
Wie ein angejengtes Schwein . . . 
In aufrihtiger Hochachtung 
Sila Korſchunow.“ 


Und viele andere ſüße Zeichen der Aufmerkſamkeit erhielt mein Schrift— 
ſteller vom Publikum. Und der Teufel, der treue Begleiter des Schriftſtellers, 
flüſterte ihm ein: Genir' Dich nicht, Närrchen; Du haſt Dirs verdient, alſo 
genir' Dich nicht! Du biſt jetzt dem Publikum, was eine junge Geliebte einem 
entkräfteten Greis iſt. Und ſo ſtelle Dich auch nicht beſcheiden, denn „die 
Karauſche liebt es, in Sahne gekocht zu werden“, und der Dichter, daß man 
ihn in Weihrauch räuchere. Da ha hal... 

Und jo fing mein Bürſchchen langjam an, dem in ihn verliebten Publikum 
unter die Augen zu treten. Er jieht: fie Elatjchen in die Hände. Und er bes 
gann, fi) an dieſes Geräuſch zu gewöhnen, wie der Trunfenbold an den Schnaps, 
und es wurde ihm langweilig, ohne diefes Händeklatſchen zu leben; aber zu— 
gleich fing der Burjche an, fich hinreißen zu laſſen. 

Alſo eines Tages umringte ihn an einem belebten Ort ein Haufe 
Publikum, drüdte ihn an die Wand, klatſchte in die Hände und jchrie: Bra—voo ! 
Bra—voo!... Und er ftand vor der Menge, gerührt lädhelnd, und ihm war 
jo jüß zu Muth, als ob man ihn in Sirup gejotten hätte. Zum erjten Mal 
jah er das Publitum in der Nähe... Und plöglich wurde ihm unbehaglich 
davor, jogar bang ward ihn; obs man ihm nicht mächitens unter dem Arm 
tigeln würde? Durch feinen Kopf ſchwirrten allerlei unfinnige Gedanken. Es 
jchien ihm, dat Jeder in der Menge, der ihn anichaute, in Gedanken jeine 
Ohren mit den Ohren des Schriftjtellers vergleiche, um genau feſtzuſtellen, weſſen 
länger jeien. Und mein Bürjchchen fühlt, dab feine Obren wuchien, wudjlen, 
gigantiichen Umfang erreichten. Aber das Bublikum fteht und Schreit: Bra—voo—o!... 
Da entzündete fi) in der Seele meines Helden ein unheilvoller Zweifel an der 
Freiheit feines Sch und er dadıte: „Sie betrachten mich als ihr Eigentum und 
werden fogleich anfangen, mit mir zu fpielen, wie mit einem Ball.“ Der Teufel 
aber jtand neben ihm und lachte tückiſch: „Haha! Schau nur, ſchau!“ Er ſchaut 
hin, mein armer Burſch, und fieht: die Menge ift von Zehn auf Hundert ge 
wadhjen und Alle Elatichen in die Hände. In ihrer Mitte ftehen die wohl: 
erzogenen Nachkommen des Judas Iſchariot, des Ignatius Kramol und aller 
Chriſtusverſchacherer; fie ſtehen feſt und klatſchen ihm zu. Die Augen des 
Publikums bohrten ſich wie tauſend Nadeln in die Bruſt meines Helden. Er 
ſchaute in Verwirrung auf die Menge und ſah: alle die Geſichter verſchmolzen 
in ein einziges ungeheures, düſteres, knechtiſches Geſicht, das hatte keine Augen, 
ſondern nur zwei trübe Flecke an deren Stelle; und die Naſe in dieſem Geſicht 
war lang, wie der Rüſſel des Elefanten. 


Der verehrte Dichter. 281 


„Schau“, jagte der Teufel, boshaft Fichernd, „jeine Führer Haben ihm 
eine lange Naſe gemacht, aber fie haben fein Feuer entzündet in feinem Derzen 
und jo ift es blind! Und fich hin, was für eine Zunge es hat, fieh mur!“ 

Bor den Augen meines Delden bewegten ſich ungeheuer große finnliche 
Lippen über einer tiefen, jhwarzen Höhle; in der Tiefe diefer Höhle drehte ſich 
irgend ein glitichiger, kurzer, dider Balken und mit Geſtank brach es hervor: 
„Bra—vo!“ Der Schriftiteller ſchloß vor Furcht die Augen; er fühlte, daß man 
ihn irgendwo einfauge. Aber als er fie wieder öffnete, jtanden vor ihm Menjchen; 
die allergewöhnlihiten Menſchen ftanden vor ihm wie eine dide Mauer, ihre 
Gefichter lädhelten, die Augen bligten mit dem Vergnügen von Kindern, die ein 
neues Spielzeug erblidt haben, und Alles um ihn herum war einfach und ge- 
wöhnlich. Bor diefem Lächeln und diefen freundlichen Augen wurde dem Dichter 
warm zu Muth, die Furcht ſchmolz in feinem Herzen und er wünjchte, dem 
Publikum Etwas zu jagen, jo etwas recht Herzliches. Er athmete, jo tief er 
fonnte, und jprach, die Hand auf das erjchredte Herz drüdend: 

„Meine Herren!“ 

„Bravo!“ 

„Tß! Still! Er will jpredhen.“ ' 

„Deine Herren! Ihre Aufmerkjamkeit kigelt angenehm mein Herz. Ich, 
ſcheint mir, verjtehe Sie. Als ih klein war und Militärmufif hörte, pflegte 
ih Hinter ihr herzulaufen; und mich unterhielt nicht jo jehr die Muſik jelbjt wie 
der Soldat, der die große Trompete blies und dabei die Baden blähte... 
Ich danke Ihnen, meine Derren !“ 

„Bra — voo — oo!” jchrie das Publikum. 

„Wir lieben Sie!" jagte Jemand laut. 

„Danke!“ ſagte der Dichter gerührt und bewegt. 

„Bra — voo!“ 

„Meine Herren! Laßt uns offen mit einander reden!“ 

„Bravo!“ 

Der Teufel, der hinter dem Schriftiteller ftand, lächelte... Sclaufopf! 

„Ich, meine Herren, glaube an die Aufrichtigkeit Ihres Verhaltens gegen 
mid. Aber nur jchwer verjtche ich, wodurch ich ſolches warme Gefühl bei Ihnen 
hervorgerufen habe. Manchmal, willen Sie, fommt es mir vor, als liebten Sie 
mich, weil ich feinen Ueberrock trage und in meinen Erzählungen oft unanjtändige 
Wörter gebrauche. Und manchmal denke ich, daß, wenn ich mir einübte, Iyrijche 
Gedichte mit dein linken Hinterfuß zu jchreiben, Sie ſich noc wärmer, mit noch 
größerer Aufmerkjamfeit gegen mich benehmen würden...“ 

„Bra — voo!“ jchnatterte das Publikum. 

„Und, jehen Sie, mir fcheint, als jeien Sie nicht wirkliche Leſer, ſondern 
einfad; Berehrer. Der Lejer weiß, daß wichtig nicht der Menich, jondern der 
Geift de3 Menſchen ift, und er gudt den Scriftiteller nit an wie das Kalb 
mit zwei Köpfen. Er lieft ihn, aber er glaubt ihm nicht blind. Er denkt jelbjt 
über das Buch nah: ‚Dieſes ift jo, aber Jenes ift nicht jo.‘ Und wenn er 
nachgedacht Hat, jchafft er etwas Gutes und dann wird diejes Gute ‚Seichichte‘ 
genannt. Ihr aber, meine Herren, jchafft nicht Gejchichte, jondern Skandal— 
geſchichten . . . Und wirkliche Leſer find gar felten auf der Welt, von Eurer 


282 Die Zukunft. 


Sorte aber viele. Auf mein Gewifjen: ih muß Euch jagen, dab ich feine 
Sympathie und nod weniger Achtung für Euch empfinde. Die Kameraden haben 
mir gejagt, daß man das Bublifum achten müfle, aber Niemand fonnte erklären, 
weshalb. Wie denken Sie? Weshalb follte man Sie achten?“ 

Der Schriftjteller jchiwieg und jah fragend auf das Publikum. Das 
ſchwieg aud und jchien etwas verdüjtert. Won irgendwo her wehte ein falter Wind. 

„Seht Ihr wohl”, jagte nad) langem Schweigen janft der Dichter, „aud) 
Ihr jelbjt ſeid nicht einmal im Stande, herauszufinden, weshalb man Eud 
wohl achten jollte.‘ 

irgend ein rothhaariger Menſch riß den Mund auf und fagte im Ba: 
„Bir jind Menden... * 

„Run, find denn Viele unter Euch wirkliche Menſchen? Inter Taujend 
wird man vielleicht Fünf finden, die leidenjchaftlid glauben, daß der Menſch der 
Herricher und Schöpfer des Lebens jei und daß jein Necht, frei zu denken, zu 
jprechen, zu gehen, ein heiliges Necht jei; möglich, daf Fünf von Tauſend jogar 
fähig find, für diejes Net zu fämpfen und furchtlos im Kampf dafür unter 
zugehen. Die Meiften von Euch find Sklaven des Lebens oder deflen freche 
Herren. Und Ihr Alle feid zahme Bürger, die mitunter die Pflichten wirklicher 
Menjchen erfüllen. Das, was in Euch menjchlich ijt, gehört in den Bereich der 
Boologie; ich jchaue hier in Eure trüben und ängjtlichen Augen und mit Schreden 
fehe ich, wie Wenige unter Euch tapfer, wie Wenige ehrlih find. Arm iſt 
mein Land an ftarten Menſchen; und doch iſt wieder die Zeit gefommen, wo 
es eines Helden bedarf.‘ 

Etwa zwanzig Yeute aus dem Publikum drehten dem Redner den Rüden 
und gingen ab. Er aber fuhr fort: „Ein guter, lebendiger Menich wird immer 
nad Etwas ftreben, Etwas ſuchen; Ihr aber lebt ftill, zahm, unbeweglid, wie 
Euch befohlen wird. Das Leben iſt Euch fchwer, zum Denken ſeid hr zu faul 
und habt Angjt, Euch zu bewegen. Nings um Euch jtarren, wie die Nichtig- 
feiten auf dem Börtchen im Empfangszimmer der Cocotte, die morſchen Trabi: 
tionen und verjchiedenen Vorfchriften, die verteufelt wenig taugen. Das Alles 
hindert Euch, frei die Hände zu bewegen; aber all diefe Dinge find für Euch 
kleine Götzen und Ihr wagt nidıt, fie zu vernichten, obgleich fie Euch wie Feſſeln 
drüden. Und wenn der Wind vom Feld her in die muffige Luft Eurer Höhlen 
friiche Düfte hineinweht, jo ſchließt Ahr, einen Derzichlag befürdtend, alle Yuft- 
flappen. Unruhe liebt Ihr nicht, Unruhe erichredt Eud. Aber Ihr müßt 
irgend Etwas zum Sprechen haben, Ihr braudjt was, um Eure Gäfte zu unter- 
halten; wie die Bettler auf der Kirchentreppe, ftredt Ihr die Hände nad der 
Literatur aus, um von ihr Etwas zur Jerſtreuung zu erwiſchen. Die Literatur 
ijt für Euch das ſcharfe Gewürz im der Fadheit Eures dämmerigen Lebens. Eud 
gefällt es, wenn man mit Blut und Galle ſchreibt; aber es gefällt Euch eben 
nur. Und weder Liebe nody Day wedt die Yiteratur in Eurer Brut, — nidts, 
außer Beifallsgeichrei oder Schmähungen. Ihr ſeid nicht Menſchen, Ihr jeid 
Zuſchauer, Bublitum, Nicht ein Bittern würde durch das Leben gchen, wenn 
Ihr Alle auf einmal daraus entſchwändet, wenn Ihr auf einmal in die Erde 
verjänfet; nichts würde jih auf der Erde ändern. Ihr ſeid Stoifer, weil hr 
Stlaven ſeid. Man ſchlägt Euch: Ihr ſchweigt; man beleidigt Euch: Ihr lächelt. 


— nn — 





2 .. — — — — 


Der verehrte Dichter. 283 


3— 
Euch können höchſtens noch Eure Frauen ärgern, wenn das Mittageſſen nicht ſchmeckt, 
und Ihr leidet nur aus Gier nach den Gütern des Lebens, aus Neid gegen 
einander und durch ſchlechte Verdauung. Wenn der Stiefel Euren Fuß drückt, 
ſeufzt Ihr: ‚„O, wie Recht hat Schopenhauer!’ Aber wenn hr das Geſchrei 
nach ‚Freiheit‘ hört, denkt Ihr bei Euch: ‚Was iſt mir Hekuba?‘“ Daß Euch 
Alle der Teufel holte! Wenn Ihr wüßtet, wie jämmerlich, wie widerwärtig 
Ihr ſeid, wie ſchrecklich ſchwer es iſt, unter Euch zu leben! Man ſagt Euch: 
das Leben iſt furchtbar, das Leben iſt düſter, es iſt ganz von Blut durchtränkt. 
Ihr glaubt S nicht. Euer Leben iſt nur gemein und langweilig; und wenn 
man Eud) den Tod zeigt und die Schrednifje diejer Gemeinheit, jo bleibt Ihr 
ruhig und interejirt Euch nur für das Eine: Iſt es Schön dargeftellt? Aeſthetiker, 
die im Schmuß ertrinken . . Möchtet Ihr wenigjtens jchneller darin erfaufen!...“ 

Das Publitum lichtete ſich allmählich. Es liebt lange Rede nicht. Aber 
der Teufel lachte; er kannte ja den wirklichen Werth von Alledem. 

Nur der Redner, bingerijjen von dem Gefühl zu erfüllender Pflicht, merkte 
nichts und fuhr fort: „Das Leben ift die heroiſche Dichtung vom Menjchen, der 
jein Derz jucht und es nicht findet, der Alles wiſſen will und nichts wiſſen kann, 
der jtrebt, jo mädtig zu jein wie jein Bater im Himmel, und nicht die Kraft 
bat, jeine eigenen Schwächen zu befiegen. Habt Ihr von der Wahrheit gehört? 
Bon der Gerechtigkeit? Bon dem Wunſch, alle Menſchen der Erde jtolz, frei 
und jchön zu jehen?... hr tradhtet nur danach, jatt zu fein, es warm zu 
haben, den Frauen unter der Vorjpiegelung von Liebe Gewalt anzuthun und 
fie zu verderben. Ihr wollt nur ruhig leben, gemüthlich, fänftiglih. Das iſt 
Euer Glüd. Euer höchſtes Glüc aber ift, für einen Grojchen fünf zu friegen. 
Das Glüd fängt man mit Eräftigen, muskulöſen Armen. hr aber jeid Teig: 
linge, Schwädlinge. Ihr könnt nicht einmal eine liege ohne fremde Hilfe 
fangen. Ihr braucht dazu vergiftetes Papier: ‚Fliegentod‘. Mir thun die Fliegen 
leid! Sie jummen und ftören dadurd den Schlaf; aber ich würde mit Freuden 
für Euch ein Papieren ‚FFliegentod‘ jchreiben, daß Ihr beim Leſen von Unruhe 
vergiftet würdet... Ich jehe, hierin habe id) nicht Recht: Ihr beunruhigt Euch 
wohl. Nämlich, wenns Euch unbequem wird, zu leben, weil das Gehalt nicht zur 
Ernährung der Familie ausreicht oder weil Eure Frauen vor Langeweile, mit Euch 
zu leben, Euch betrügen. Dann jeufzt hr, philojophirt, das Leben erjcheint 
Euch widerlich und ſchwer . . . jo lange,.bis Eud) das Gehalt erhöht wird oder Ihr 
eine Geliebte gefunden habt. Und indem Ihr das Leben mit den altersijchwachen 
Nörgeleien, dem efligen Gefeif des Kakenjammers, mit Euren Klagen über das 
Dafein anfüllt, vergiftet hr das Ohr Eurer Kinder. Ihr feſſelt ihre Gedanken 
an die Sleinlichfeiten des Yebens, an dejjen Plattheiten und ihre Gedanken 
werden ftumpf wie das Schwert, mit dem man Aeſte abhaut, jtatt der Köpfe. 

Dann gehen auch die Kinder, ermüdet von Eurem Geſchwätz über das 
Leben, das Ihr nicht kennt, jtill die ausgetretenen Wege; fie werden früh Kleine 
kalte, jämmerliche Greije; fie gehen und juchen ein warmes Leben, ein jattes 
Yeben, ein molliges Leben; fie finden es und vegetiren jtill dahin, nad) dem Bei- 
jpiel der Bäter. Sie find wie eine friſche Tünche, mit der man den Spalt im 
alten Gebäude übermalt hat. Bier ijt eim ſchweres, ſchmutziges Gebäude, ganz 
durchtränkt vom Blute der Menjchen, die es zerdrücdt hat; es erbebt in jeiner 


21 


284 Die Zukunft. 


Morſchheit, wird vom Vorgefühl des nahen Zuſammenbruches gepadt und wartet 
zitternd auf den Augenblid, wo es krachend einftürzen joll. Und jchon reifen die 
Kräfte zum Stoß; jie wachen an, können fich kaum nod) zurüdhalten und bald dort, 
bald hier lobt ihre Gluth in einer Flamme der Ungeduld auf. Sie werden 
fommen; dann wird das alte Gebäude erzittern, wird Eud auf die Köpfe fallen 
und Eud) unbarmherzig zerquetichen, obgleich Ihr nur ftraffällig jeid, weil Ihr 
nichts gethan habt. Aber es giebt feine Schuld in diefem Leben.“ 

Gar wenig Publikum war übrig geblieben. Ein Theilgdavon ſchaute 
mit Bedauern auf den Dichter; da fie feine Erzählungen gern lajen, börten 
fie mit Summer feine Rede, dieweil in feiner Nede nichts Wefthetifches war. 
Einige ſahen ihm mitleidig an. Alle langweilten fih und Niemand fühlte ſich 
beleidigt. Da ſchrie ein erbojter Jüngling: „Alles Dies find Worte. Zeigen 
Sie, daß fie ein Programm haben, ein praftiides Programm!“ 

Ein würdiger Herr jagte jeufzend: 

„Ach, auch ih war in meiner Jugend Nomantifer!“ 

Und eine Dame in ſchwarzem Kleid fragte: „Warum jchimpft er denn 
auf die Frauen?“ 

Der Teufel lachte. 

„Roh Eins muß ich Euch jagen. Sehr liebt Ihr, unglüdlich zu fein. 
Ich denfe, Ihr thut es aus Berehnung: Ihr habt nichts, um unter einander 
Achtung und Liebe zu erweden, und jo werdet Ihr abfichtlich unglücklich, um 
für Euch das Mitleiden, das Mitgefühl, billige Emotiönchen zu erregen, mit 
denen Ihr einander abjpeift und die Ahr im der jelben Stärke dem Hündchen 
gönnt, wenn das Rad eines Wagens ihm das Bein zerquetiht hat. Wenn in 
Euch nur ein gejundes, ganzes Gefühl der Liebe zum Leben wäre! hr liebt 
ja das Leben nicht, Ihr fürdtet Euch vor ihm, hr reift ihm leife, wie ein 
Died, Stüddhen ab... Zahme Sippihaft! Arme Bettler! Möchte Gott mehr 
Elend auf Eure Däupter herniederfchicden, auf daß Ahr aus träger Ruhe fämet; 
möge Gott Euch Aufregungen in Fülle enden, damit hr auflebet!...* 

In der Öruppe der Yeute, die vor dem Redner jtanden, fühlte ſich Einer 
beleidigt und jchrie: „Ja, nicht Alle find wir jo... Der Teufel hols! Das 
ift nachgerade ungerecht!“ 

„Mein Herr, fordern Sie nicht von mir Geredhtigfeit. Die giebt es nicht 
im Leben; vorläufig wenigjtens nicht. Wie kann in Eurer Mitte Gerechtigkeit er- 
ſtehen? Und hr jeid Alle gleich ſchlecht. hr, die Gefellichaft: wie foll man 
Eud in Gute und Schlechte theilen? Ihr Alle habt Euch in der Jugend mit 
Kenntniſſen ausgerüftet, während Ihr in den Schulen ſaßet, und Euch Alle 
lehrte man das Selbe. Ich glaube, daß hr Gutes gelernt habt, denn ich bin 
überzeugt, Ihr hättet nicht gelitten, da; Euch Böſes gelehrt wird. Ic kann mir 
ſchwer eine Umniverfität vorjtellen, in der man die Jünglinge ein menjchenfeind- 
liches, leidenichaftlojes Verhalten dem Leben gegenüber lehren fönnte, das Streben 
nad warmen Bläschen und andere Superklugheiten. Aber wenn Ihr ins Leben 
tretet, wird die Summe der vorhandenen Semeinheiten durch Eure Gegenwart 
nicht vermindert. Ich weiß nicht, ob Ihr friiche Kleine Gemeinheiten mitbringt, 
und werde dieje Behauptung auch nicht aufitellen. Ich weiß nur, daß hr mit 
fünfundzwanzig Jahren das PBrivateigenthum betämpft und mit fünfunddreigig 





Kaufmännijche Schiedsgerichte. 285 


Fahren nette Billen beſitzt. Ich weiß: Ihr verfteht, für Euch zu arbeiten; aber 
id frage: Was habt Ihr für das Leben gethan? hr Alle fühlt gleich Kalt. 
Die jogar, die warm reden. Wie viel Niedertraht umgiebt Euch! Probirt hr, 
fie zu vernichten? Jagt Ahr fie von Eu? Nein! Aber die Befjeren unter 
Euch — Das jah ih — verfteden fich preziös davor. Das Streben, reinlic 
zu fein, ift fein jchlechtes Streben, aber der ehrliche Menjc fürchtet den Schmutz 
nicht. Laßt uns offen reden. Daran, daß unjer Leben jo häßlich ift, find wir 
Alle gleich ſchuldig. Auf der Welt giebt e3 feinen Gerechten, noch nicht. Aber 
woher nehmt Ihr den Muth zu ſolcher Kriecherei vor der Macht und wo habt Ihr jo 
jflavijch für das Heil Eurer Haut fürchten gelernt? ch behaupte: alles Gemeine und 
Widerliche, das auf Schritt und Tritt und begegnet, blüht nur deshalb Jo lebendig, 
ſtark und grell, weil es fi auf eine fräftige Wurzel ftübt, auf Eure Angſt um 
die Haut, auf Eure Sklaveninjtinkte. Die Schnad des Lebens haben wir Alle 
zu gleichen Theilen verjchuldet. Und wenn ich an die Kraft des Fluches glaubte, 
würde ih Euch Alle verfluden. Aber ich glaube an etwas Anderes. Bald 
werden neue Menjchen fommen, muthige Menſchen, ehrliche, jtarfe... bald!“ .. 

„Nun ifts aber genug“, jagte der Teufel Lächelnd. 

Mein Bürſchchen jah ji um. Bor ihm und um ihn war feine Serle. 
„Seltjam! Sind fie ſchon Alle fortgelaufen? Ich-bin ja noch nicht zu Ende.” 

„Sie find verbrannt im Feuer Deiner Reden. Siehſt Du den Ruß an 
der Dede? Das ijt Alles, was von ihnen geblieben it. Laß uns gehen.“ 

Ich weiß nicht, was weiter mit meinem Helden geichah, möchte auch das 
Ende diejer Geſchichte nicht ausdenken, denn ich ahne darin nichts Erfreuliches 
für ihn. Aber ich bin jicher, day es nicht gut thut, wenn einem Dichter viele 
Verehrer erjtchen. Wer mit dem Publikum zu thun hat, muß von Zeit zu Zeit 
die Luft um fich her mit der Karbolſäure der Wahrheit desinfiziren. 

Das ift Alles... 


Moskau. Marim Gorlij. 


11,7 
Raufmännifche Schiedsgerichte. 


G* Landrichter a. D. Ernſt Mumm holte im legten Aprilheft der „Zukunft“ 
zu gewaltigem Streich gegen die kaufmänniſchen Schiedsgerichte aus. 
Nach der anjpruchspollen Einkleidung feines Artikels hatte ich gehofft, wenigjtens 
einen neuen Gedanken über dieje Inſtitution darin zu finden, muß aber geftehen, 
daß er mich nur auf oft betretene Gemeinpläße geführt hat. 

Herr Mumm bedauert, dab durch die Schaffung kaufmännischer Schieds: 
gerichte „der Grundſatz der ordentlichen Gerichtsbarkeit abermals durchbrochen 
wird.’ Diejer Ausdrud jcheint mir nicht ganz korrekt. Das Prinzip der ordent- 
lien Gerichtsbarkeit iſt jchon feit der Einführung der Gewerbegerichte durch— 
brochen. Jetzt handelt es jih nur noch darum, für eine Kategorie von Lohn» 
arbeitern — denn aud die Dandlungsgehilfen find nichts Anderes —, die eigent: 
lich Schon lange der gewerblichen Sonderredhtiprehung unterjtchen müßte, einen 
für fie ungünjtigen Ausnahmezuftand zu bejeitigen. Ich ſehe nur einen Stand- 


21” 


— 


286 Die Zukunft. 


punkt, von dem aus man vielleicht Bedauern könnte, daß die aus dem kauf— 
männilchen Dienjtvertrag erwachſenden Redtsitreitigkeiten der ordentlichen Ge— 
riehtsbarfeit entzogen werden, nämlid den Standpunkt der juriſtiſchen Wiſſen— 
Ichaft, der dadurch ein jehr wichtiges und jchwieriges Gebiet genommen wird. 
Das hat Juſtizrath Staub in der Deutſchen Juriſtenzeitung mit Recht betont. 
Staub geht aber zu weit, wenn er aus diejem Grunde die faufmänntiden 
Schiedsgerichte überhaupt ablehnt. So hoch uns die juriftiihe Wiſſenſchaft 
itchen mag: höher jteht die Praxis, für die ja die Wiſſenſchaft ſchließlich vor- 
handen ijt. Und die Praxis fordert gebieteriich kaufmännische Schiedsgericdhte, aus 
dem jelben Grunde, der jchon früher zu der Forderung von Gewerbegerichten 
trieb. Yeider nehmen viele Nuriften mit Herrn Landrichter Mumm an, es jeien 
„überall Rechtsfragen, Fragen der Auslegung von Gejeßes- und Bertragsbeitimm- 
ungen, die der Entſcheidung harren, und äußerſt jelten nur werde der Richter 
Gelegenheit finden, jpezifiih kaufmänniſche Kenntniffe zu verwerthen.‘ Gewiß: 
faufmänniiche Spezialfenntnijje find überhaupt nicht nöthig. Aber die zur Aus- 
legung von Dienftverträgen nothwendigſte Vorausjegung iſt joziales Verftändnip. 
Wo die Auslegung Flipp und Ear ift, da kann nad) den Geſetzesbeſtimmungen 
auch der Gewerberichter nur genau jo entjicheiden, wie es der Berufsrichter thun 
müßte. Die Schwierigkeit beginnt eben erjt bei den vielen Fällen, wo der 
Buchſtabe des Geſetzes zweierlei Urtheile zuläßt. Da muß das foziale Gefühl, 
muß das Bewußtſein mitiprehen, daß der Handlungsgehilfe gegenüber dem 
PBrinzipal der wirthichaftlih ſchwächere Theil iſt. Dieſes ſoziale Bewußtfein 
ijt aber bei unjeren Richtern aus zwei Gründen nicht allzu häufig zu finden. 
Entweder legen fie in Folge ihrer Borbildung auch in zweifelhaften Fällen 
formaliftiichen Erwägungen ausjchlaggebende Bedeutung bei; oder ihre Herkunft, 
ihre gejellichaftlihen Beziehungen und Yebensgewohnheiten wirken von vorn herein 
auf ihr joziales Empfinden. Wären Lediglich oder auch nur in der Hauptſache 
faufmännijche Kenntniſſe nöthig, dann müßte man in den Handelsfammern der 
Landgerichte die berufeniten Richterfollegien jehen. Sie fommen ja heute jchon 
für Klagen von Angeſtellten als Berufungsgerichte, aber auch, zum Beijpiel 
bei Klagen wegen der Konfurrenzklanjel, als Gerichte eriter Inſtanz in Frage. 
Aber fie find jelbjtverftändlic; noch viel gefährlicher als Berufsrichterfollegien, 
denn bier jigen ja die Chefs über die Angejtellten zu Gericht. 

Ueber die von dem Herrn Candrichter befürchteten fozialen Folgen der kauf— 
männiſchen Sciedsgeridhte ließe fich disfutiren, wenn nicht die Erfahrungen der 
Semwerbegerichte laut gegen feine Auffaſſung ſprächen. Ich begreife, offen ge- 
itanden, nicht, wie jemand, der nicht ganz ohne Kenntniß der einjchlägigen 
Verhältniſſe urtheilt, heute noch daran zweifeln kann, daf das Zujfammenarbeiten 
in den Berufsgerichten Arbeiter und Arbeitgeber einander näher bringt. Das 
Zuſammenwirken der Vertreter einzelner Klaſſen kann natürlid) den Klaſſen— 
fampf nicht aus der Welt jchaffen. Dadurdy aber, daß die Kontrahenten des 
Arbeitvertrages in einem gewiſſermaßen obligatoriihen Verkehr jtchen, lernen 
fie einander als Perjönlichkeiten achten. Der Arbeiter jicht, daß feine Brot» 
herren perfünlich jehr oft frei von jener Därte find, die ihnen der Zwang wirth— 
Ichaftlicher Konkurrenz aufnöthigt. Und auch der Arbeitgeber lernt bei jo naher 
Berührung im Arbeiter den Menſchen mehr jchägen, als ers früher gewöhnt 
war. Man frage nur umnjere großen Fabrikherren, die in der Randesverjiche- 


2 


Kaufmännische Schiedsgerichte. | 287 


runganftalt, in den Krankenkaſſen und im Gewerbegericht mit den Bertretern 
der Arbeiterſchaft zuſammenwirken, ob jie im Yauf diefer Thätigkeit nicht viel- 
fach einen ganz anderen Begriff von der ntelligenz und vom Wejen der Arbeiter 
befommen haben. Die Befürdtung, eine Vermehrung der Zahl der Prozeſſe 
könne die wirthichaftlichen Gegenjäße verjtärfen, ift durch alle mit den Gewerbe» 
gerichten gemachten Erfahrungen als grundlos erwiejen worden, 

Auf einem ganz anderen Blatt jtcht die von dem Deren Landrichter be— 
rührte Frage, ob Gewerberichter, die aus allgemeinen Wahlen hervorgegangen 
find, die nöthige Gewähr für eine unparteiiiche Mechtiprehung bieten, Der 
einzelne Richter gewiß nicht. Das joll er auch gar nit. Der Fortſchritt der 
Berufsgerichte bejteht ja gerade darin, daß die falſche Fiktion der Objektivität 
bejeitigt und dem Klaſſencharakter der Geſellſchaft ausdrücklich Nechnung getragen 
wird. Der Arbeiter-Beijiger ſpricht Recht nad dem fozialen Empfinden jeiner 
Klaſſe. DerArbeitgeber-Beifiger wird in vielen Fällen den entgegengejeßten Stand— 
punkt einnehmen. Und den Ausſchlag giebt der präfidirende gelchrte Nichter, 
dem beide Anſchauungen in friiher Urjprünglichkeit vor Augen geführt werden. 

Herr Mumm nennt den Ruf nach Schiedsgerichten eine Modejade. Soll 
damit dieje bitter ernjte Frage ins Lächerliche gezogen werden? Wenn man 
Alles, was modernen Bedürfniffen entipricht und deshalb gefordert wird, Mode 
fahe nennen will, — gut, dann find auch die faufmänniihen Sciedsgerichte 
Modejahe. Entjchieden aber wäre die Unterftellung zurüdzumweijen, es handle 
fi) bier etwa um eine Mode, der nicht mehr Werth zuzufprechen iſt als dem 
erfolgreihen Bemühen eines Konfektionärs, der den Frauen aller Yänder vor- 
fchwaßt, es jei nöthig, am Ende der Kleiderärmel trichterförmige Erweiterungen 
zu tragen, die wie Negenabflußrohte ausjfehen. Wenn Herr Yandrichter Mumım 
auf ſolche Anſchauung jeine fozialpolitiiden Studien baut, dann fteht er aller- 
dings dem von ihm verehrten Karl Ferdinand Freiheren von Stumm recht nah, 
für den ja aud) die Forderung des Rechtes freier Koalition eine Modeſache war. 

Vebrigens hält diefe Mode ſich nun fchon feit mehr als zwölf Jahren. 
Wer rüdblidend erkennt, weldhen Raum in der Handelswelt die Forderung kauf— 
männiſcher Sciedsgerichte fi im Yauf der Zeit erobert hat, Der wird zu 
anderen Anfichten fommen als die Herren Stumm und Mumm. In dieſen 
Tagen ift eine kleine Schrift, „Der Kampf ums Recht“ erichienen, die der Gentral« 
verband der Dandlungsgehilfen und Gehilfinnen Deutſchlands herausgegeben 
hat. Sie bringt im Anſchluß an eine Rede, die der Neichstagsabgeordnete Paul 
Singer in einer Öffentlihen Verfammlung am zehnten Februar 1902 hielt, in 
einem Anhang eine kurze Gejchichte des Nufes nach kaufmänniſchen Schieds— 
gerichten. Daraus fann man erjehen, daß ſchon 1890, als vom Bundesrath 
dem Neichdtag der Entwurf eines Gewerbegerichtsgejebes vorgelegt wurde, die 
fozialdemofratiiche Partei beantragte, Handlungsgehilfen und Lehrlinge in die 
Rechtſprechung der Gewerbegerichte einzubeziehen. Der Antrag fiel damals, aber 
die Frage war damit in Fluß gebracht. Nur ein einziger Berein, der Verband 
Deutſcher Handlungsgehilfen in Yeipzig, erflärte noch 1894 faufmännijche Gewerbe» 
gerichte für durchaus überflüſſig. Schließlich aber mußte auch er fi dem Drud 
feiner Mitglieder fügen; und ſeitdem giebt es Feine aud) noch jo jchwächliche 
Handlungsgehilfen-Organifation, die nicht kaufmänniſche Sondergerichte verlangt. 


288 Die Zukunft. 


Die Frage, wie die Gerichte zujammengejeßt werden follen, wird freilich jehr 
verichieden beantwortet, braucht uns hier aber nicht weiter zu bejchäftigen. Daß 
die Dandelsfammern fi zum großen Theil gegen Sciedsgerichte erklären, iſt 
fein Wunder; ſelbſt wenn fie nicht durch das ungeheuerliche Wahlrecht zu Ver— 
tretern der Dandelsarijtofratie gejtempelt wären, blieben fie doch im beiten Fall 
immer nur Vertreter ber Arbeitgeber. Die aber haben mit den Gewerbegeridten 
ichlechte Erfahrungen gemacht. 

Auch über die Gründe, die, abgejehen von den ſchon angedeuteten jozialen 
Erwägungen, die Dandlungsgehilfenichaft zu ihrer Forderung beftimmten, giebt 
die Brochure eingehend Auskunft. Statt im Allgemeinen von der jozialen Ber: 
jtändnißlofigleit zu reden, die in manden Urtheilen der ordentlichen Gerichte 
an den Tag tritt, will ich einen einzigen Prozeß herausgreifen, der deutlich 
zeigt, wie jchleppend der Geſchäftsgang vor unſeren ordentlichen Gerichten iſt. 
Ich eitire wörtlich: „Im Kaufhauſe Germania in Hamburg verunglüdte im 
Juni 1898 ein Angeftellter beim Deforiren und durfte auf Anordnung feines 
Arztes feine geichäftliche Thätigkeit nicht ausüben. Der Chef entließ ihn ohne 
Kündigung und gab als Grund an, der Angejtellte jei unberechtigter Weije aus 
dem Gejchäft  fortgeblicben. Am fiebenundzwanzigiten Juli 1898 wird vom 
Angeftellten die Klage eingereicht und der erſte Termin iſt am fiebenundzwanzigiten 
September, da die Gerichtsferien dazwilchen liegen. Bertagung. Zweiter Ter- 
min 20. Oftober. Bertagung. Der Arzt foll vernommen werden. Dritter 
Termin 8. November. Der Hausdiener joll vernommen werden. Vierter Termin 
29. November. Der Chef joll die Gejchäftsbücher vorlegen. Fünfter Termin 
13. Dezember. Es wird Entjcheidung angejeßt auf den 28. Dezember, dod am 
20. Dezember noch einmal verfügt, Zeugen zu vernehmen. Sechster Termin 
12. Januar 1899, Neue Erhebungen beantragt. Siebenter Termin 26. Januar. 
Neue Erhebungen. Achter Termin 2. Februar. Neue Erhebungen. Neunter 
Termin 9. Februar. Zeuge nicht erichienen. Zehnter Termin 16. Februar. 
Grlaß eines Theilurtheiles: dem Beklagten wird ein Eid zugejchoben. Diergegen 
legt der Kläger Berufung ein. Elfter Termin 2. Mai. Verhandlung über die Be 
rufung. Vertagung. Zwölfter Termin 9, Mai. PVertagung. Dreizehnter Termin 
18 uni. Vernehmung der Parteien. Vierzehnter Termin 15. Juni. Theil 
urtheil: die Parteien jollen bejtimmte Dinge beſchwören. Fünfzehnter Termin 
10 Juli. Nur Stläger erichien, der ſchwört. Sechzehnter Termin 26. September. 
Vertagung. Siebenzehnter Termin 28. September. Bellagter ſchwört. Adıt- 
zehnter Termin 30. September. Urtheilsfällung und Berurtheilung des Ber 
Flagten, nachdem vierzehn Monate jeit der Einreichung der Klage vergangen find.“ 
Ein ſolches Beijpiel jollte dod) wahrhaftig genügen, um zu zeigen, wie nöthig eine 
beſchleunigte Sonderredhtiprechung ift. Man muß fid) vorjtellen, was es für 
einen armen Dandlungsaehilfen heißt, vierzehn Monate auf jein Gehalt warten 
zu müſſen. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle hat der Dandlungs- 
gehilfe noch nidht einmal jo viel Privatvermögen, daß er, ohne Schulden zu 
machen, auch nur einen Monat der Stellenlofigfeit überdauern Fönnte, 

So erwadjien dem Gehilfen ſchon Nachtheile, wenn er fi entichlieht, den 
beitehenden traurigen Nechtszuftand auszunügen und den Klageweg zu beichreiten. 
Dod wie Wenige thun Das überhaupt! Da ift der Herr Landrichter flinf mit 


Kaufmännifche Schiedögerichte. 289 


Ironie bei der Hand: „Das jtumme Dulden bildet aber gerade in unſerer Zeit 
ganz fiher nicht die Regel.“ Der duckmäuſeriſche Verzicht auf den Kampf ums 
Recht allerdings nicht. Aber Noth lehrt auch dulden. Man ftelle fi) vor, was 
ein Prozeß, defjen achtzehn Termine ſich über vierzehn Monate hinaus erjtreden, 
fojtet. Dieje Kojten an Geld und Zeit find in jehr vielen Fällen eben gar nicht 
aufzubringen. Und jo muß denn der Gehilfe die Sache ins Waffer fallen lafjen. 
Das Recht wird dadurd zur Yuruswaare, die für den armen Handlungsgehilfen 
— man denfe nicht immer nur an Bantbeamte, Konfeftionäre und Waarenhaus- 
disponenten — einfach nicht zu erreichen ift. Herr Mumm hofft freilich, eine 
Beſchleunigung und Berbilligung unjeres gefammten Prozeßverfahrens werde 
herbeizuführen fein, die ihm logiicher jcheint, ſchon weil fie weiteren Volkskreiſen 
Nugen brädte. Wer außer ihm giebt ſich aber der Hoffnung hin, der Militär- 
jtaat Preußen könne Geld genug aufwenden, um nicht nur die Ueberlajtung der 
Amtsgerichte zu bejeitigen, jondern auch jo viele Richter neu anzuftellen, daß 
in wenigen Tagen Prozeſſe entichieden jein können? Und jelbjt wenn Preußen 
nicht Preußen wäre: ihrer ganzen Struktur nad) find die Amtsgerichte für eine 
joziale Rechtſprechung nicht brauchbar. Das ijt jogar von Nichtern anerkannt 
werden. Ich erinnere nur an die Reden des Amtsrathes Bacher aus Augsburg 
und des Amtsrichters a. D. Kayſer aus Worms auf dem legten Verbandstage 
deutjcher Gewerbegerichte (in Lübeck am zehnten September 1901). 

Nun aber der höchſte Trumpf des Herrn Mumm. Bei den bejtehenden 
Sciedsgerichten in Dannover, Braunſchweig, Osnabrück und Stolp jind nur 
jehr wenige oder gar feine Verfahren anhängig gemacht worden, ergo tft das 
Prozeßbegehren der Handlungsgehilfen gar nicht fo groß, ergo find kaufmänniſche 
Sciedsgerichte Modejahe. Daß die genannten Schieds- oder Fachgerichte mit 
den von den Handlungsgehilfen geforderten nichts als den Namen gemein haben, 
icheint der Herr Landrichter nicht zu willen. Es jind Sciedsgerichte, die nur 
in Funktion treten, wenn fie von beiden Parteien freiwillig angerufen werden. 
Ich habe das Statut des hanmoverſchen Schiedsgerichtes durchgelejen und wundere 
mid) gar nicht darüber, daß es im Jahr 1900 dort nur achtzehn Prozefle gab. 
Denn erjtens muß, wie gejagt, diejes Gericht von beiden Parteien angerufen 
werden und zweitens ijt es nur für Mitglieder der Handelskammer, aljo für 
eingetragene Firmen zujtändig. Gerade die Dandlungsgehilfen, die in den vielen 
feinen Gejchäften unter den traurigiten Bedingungen dienen, find von den Wohls 
thaten diejes „Rechtsſchutzes“ ausgejchloffen. Und wer richtet? Chefs und Ges 
hilfen. Doc die Bollverfammlung der Handelsfammer wählt auch die Gehilfen- 
Beifißer aus der Zahl geeigneter Kandidaten, die fi die Sammer von ihr bes 
fannten faufmännijchen Vereinen vorjchlagen läßt. Man ſieht alſo, wie völlig 
verjchieden von diejen Mißgeburten Faufmännijche Sewerbegerichte jind, die nad) 
jejtem Gejeß für alle aus dem kaufmänniſchen Dienftvertrag ftammenden Rechts» 
jtreitigfeiten in Anjprucd; genommen werden müjjen, deren Beifiger aus allges 
meinen Wahlen hervorgehen und die in längjtens eben jo vielen Wochen den 
Endſpruch fällen, wie das Amtsgericht Monate braucht, um ein Zeugenverhör 
zu Ende zu führen. Solde Sciedsgerichte find nicht Modeſache, jondern ent» 
Iprechen einem dringenden wirthichaftlichen und jozialen Bedürfniß. Blutus. 


% 


20 Die Zukunft. 


Meiſterſpiele. 


IA or achtundvierzig Jahren wurde der neue Glaspalaſt der Bayernhaupt= 
N ftadt zu würdiger Aufnahme der Allgemeinen Deutjchen Induſtrie— 
ausjtellung, der erjten münchener, vorbereitet. Franz Dingelitcdt, dem aus Stutt- 
gart verfchriebenen Intendanten des Hoftheaters und fosmopolitifchen Nacht- 
wädter a. D., dem dermünchener Boden damals noch heiß war — und nie fühl 
werden follte —, lagen die Freunde in den Ohren, Liebig, Sybel, Dönniges, Geibel 
und die Anderen: was er den herbeijtrömenden Fremden nun im Schaufpielhaus 
bieten wolle. Alltagskoſt durfte es nidjt fein; denn Jedermann erwartet jich ein 
Feſt. Und Geld mußte es einbringen; denn König Mar hatte eben erft er: 
Härt, er fei „durch die Verhältniſſe aufer Stand gefegt, mehr für das Hof- 
theater aufzumenden als bisher.“ Mit diefen Ukas in der Tafche waren große 
Sprünge nicht zu machen, namentlich nicht von einem zugereiften Proteitanten 
und Revolutionär, dem, ob er inzwiichen auch facht fein frommm geworden war, 
noch immer das bajuvarifche Mißtrauen auf die Finger fah. Und wenn das 
Hoftheater während der Ausjtellungzeit läflig blieb, Eonnte der Herr Inten— 
dant mit feiner Jenny allein im der Galerie Noble des eriten Ranges figen; 
feine Kage ging ihm aus dem Glaspalaft dann ins Schaufpielhaus . . . In 
einer Falten Dezembernacht fam dem blinden Heilen die Erleuchtung, als 
er mit dem berühmten Arzt Karl von Pfenfer auf dem Karolinenplag vor 
dem Obelisfen ftand. „Statt eines Schaufpielgajtes laffe ich ein Viertelſchock 
kommen und ftelle jie insgefammt auf die felbe Linie. Nur Künſtler eriten Ranges 
lade id) ein, aber in ciner alle großen Theater umfafjenden Auswahl; und nur 
in klaſſiſchen Stüden führe ich fie vor. Die Mitglieder der hiefigen Hofbühne 
betheifigen fi, je nach Vermögen, an der allgemeinen Aufgabe. Ich ſchaffe mir ein 
Perſonal von lauter erjten Kräften und mache für eine Weile die münchener 
Bühne zur deutfchen Centralbühne. Lauter große Stüde, deutichen Urſprungs, 
geipielt von lauter großen deutichen Künftlern bis in die Heinfte Rolle hinein.“ 
Als der Gedanke auftaudhte, waren noch ſechs Monate bis zur Eröffnung der 
münchener Meffe. Dingelftedt verlor feine Zeit nicht. Dem König gefiel der 
Plan, im Januar fchon wurden die Aufforderungen an dreißig Theatergrößen 
verfandt und in der Karwoche gings auf die Werbereife. Die war nicht be: 
quem; in Wien mußte der Intendant an einem Tage zmeiundvierzig Stod: 
werfe erflettern und auf einer Fahrt durch alle deutichen und öfterreichifchen 
Hauptftädte gabs damals, bei bitterer Kälte, noch manche Strapaze zu dulden. 
Als nach achtzehn Tagen aber der lange Franz wieder in München ſaß, war 
das Programm fertig umd die Ausführung gefichert. Jeder Gaftipieler befam 
für jede Nolle hundert Gulden. Feder hatte ſich verpflichtet, aufer zwei eriten 
auch zwei Heinere Nollen zu übernehmen, drei Tage vor dem Beginn der 







. — —— —— — Fur - - — 


Meiſterſpiele. 291 


Vorſtellungen einzutreffen und mindeſtens zwei Wochen lang zur Verfügung 
zu bleiben. Das war möglich, weil im Juli die meiſten großen Theater 
geſchloſſen ſind und die Wandervirtuoſen raſten. Den Regiſſeur jeder Vor— 
ſtellung wählten die Gäſte mit Stimmenmehrheit. In Streitfällen blieb die 
Entſcheidung dem „Plenum der Geſellſchaft“ vorbehalten. Den Text der 
Stücke redigirte Dingelſtedt und nach ſeinen vorher verſandten Soufflirbüchern 
mußten die Gäſte, ehe ſie zum Wettkampf aufbrachen, ihre Rollen einrichten. 
Er, dem das Bild ſtets wichtiger war als das Wort, ſorgte auch für das 
ſzeniſche Kleid. Da war er in ſeinem Element. Er hat ſich ſelbſt einen „an— 
geborenen Hang zu Maſſenwirkungen und Maſſenentwickelungen“ nachgeſagt. Wie 
ſo Vieles aus der Geſchichte unſeres durch Banauſenhochmuth von der Tradition 
gelöſten Theaters, iſt heute vergeſſen, daß Dingelſtedt das frühe Vorbild der mei: 
ninger Regiefünfte war. Bon ihm haben Alle gelernt, die feitdem verfuchten, die 
Nüchternheit norddeutſchen Sprechſpiels mit dem bunten Reiz feiner Sinnlid;: 
feit zu erwärmen und auf der Bühne ein „Milteu* zu Schaffen, eine ftimmende, 
beftimmende Umwelt, die dem Determiniften im Zufchauerraum den Traum und 
das Wollen der vor feinem Auge handelnden Menfchen erklärt. (Kein Zufall iits 
nämlich, daß erft, al3 der Glaube an Willensfreiheit und gottähnlich jelbit- 
herrifches Heldenthum jich müde hinbettete und der Glanz der Theologie und 
Televlogie mählich verblih, au im Theater der Wunſch nad Erfenntniß der 
Kaufalität erwachte, das Bedürfniß ſich regte, auf den Brettern, die eine 
Menjchenwelt bedeuten jollen, die Menſchenſchickſale determinirenden Kräfte 
verförpert, die Hintergründe in greifbarer Klarheit zu jehen.) Sogar die „male= 
riſcher“ Maffengruppirung günftigen Treppen, die von den Meiningern in die 
Mode gebracht wurden und zu der Frage führten, ob denn ſämmtliche Fürften 
im Seller wohnten, hat Dingelftedt erfunden. Und eine ſolche Riejentreppe 
stieg in Münden am elften Juli 1854 Iſabella von Mefjina in die vom 
Intendanten „mit felbitvergnügtem Kaffinement aufgebaute“ Halle des nor: 
manniichen Palaftes hinab. Er hatte manche Abjage befonmen und mußte auf 
Dawifon, Deffoir, Ludwig Löwe, auf die Fuhr und die Bayer verzichten. Troß: 
dem konnte er Aufführungen von nie erfchautem Glanz bieten. Iſabella war 
Julie Nettich, Deutfchlands damals größte Tragoedin, Cajetan der mächtige 
Sprecher Anſchütz, Manuel und Gefar wurden von Emil Devrient und 
Hendrichs gefpielt, „den berühmteiten Liebhabern und zugleich den in natura 
feindlihen Brüdern des deutichen Theaters.“ Auf diefer Höhe hielt ſich das 
„Geſammtgaſtſpiel“ bis zum Schluß. Den einfachen Namen hatte Dingeljtedt 
gewählt; die Freunde jprachen von Muſter-, die Feinde von Monjtre: und 
Mujterreitervorjtellungen. Was gegen den aus fommerzieller, nicht aus 
fünftlerifcher Sehnſucht geborenen Gedanken zu jagen war, wurde gejagt. Stil: 
einheit ift in fo furzer Friſt nicht zu erreichen; und aud) bei längerer Vor: 


292 Die Zukunft. 


arbeit hätte kaum einer der berühmten Mimen ſich herabgelafien, auf perfön= 
liche Starwirkung zu verzichten und ſich in ein Enfenble zu fügen. Immerhin 
ward eine fehenswerthe Ausftellung deutfcher Schaufpielfunft. Ein groß 
artiger Bühnenraum; forgjame Vorbereitung; fajt alle ftärkjten Talente der 
deutfchen Bühne vereint: Anſchütz, Devrient, Döring, Hendrichg, La Roche, 
Liedtke, Joſt, Chriften, Haafe, die Damen Haizinger, Seebad, Neumann, 
Marie Dahn, und an der Spige ein Theaterfünftler von der nachſchaffenden 
Phantafietraft Dingelftedts: fein Ausländer hatte deutfcher Schaufpiellunft vor: 
her folche Leiftung zugetraut. Der Theaterkafje brachte das Gefammtgaftipiel 
zehntaufend Gulden; für zwölf Hochfommerabende im armen Deutjchland von 
anno dazumal eine hübfche Summe. Als beim Abſchiedsfeſt im Theaterfoyer 
König Marimilian — 1854! — freuzfidel unter den Somoedianten ſaß und 
„auf das Gedeihen der dramatischen Kunſt und Poefie in Deutichland“ tranf, 
da ging dem langen Franz das Herz auf und er pries fich glüdlich, weil 
ihm gelungen fei, „die berühmteften Meifter unjerer Schaufpielfunft, ohne 
BVortheil für ihr eigenes, einzelnes nterefje, durch rein ideale Zwede in 
ein Ganzes zu verfchmelzen und ein aus fämmtlichen deutfchen Stämmen, 
Staaten und Städten gemifchtes Publikum für die Aufführungen Hafiticher 
Dichtungen durch klaſſiche Darfteller zu erwärmen.“ 

Der Berfuch wurde erft ſechsundzwanzig Jahre ſpäter ernent. Wieder 
in München, wieder während der Sommerferien. Allerlei Surrogate, aber 
auch wirkliche Mufterdarjtellungen wurden geboten. Die Wolter als Orſina 
und Lady Macbeth, die Weſſely al3 goethifches Mädchen, Herr Sonnenthal 
al3 Clavigo und Prinz von Guaftalla, Herr Kraſtel al3 Tempelherr und 
Mar Piccolomini, Herr Poſſart als Oktavio und Goethes Carlos, Herr 
Häuſſer al3 Jo, Frau Ellmenreich als Minna: Das lohnte allein jchon des 
Weges Mühe; und die Herren Lewinsfy, Berndal, Barnay, Friedmann, Haafe 
wirkten mit. Das Virtuofenthum war, wie Eduard Devrient vorausgefagt 
hatte, jtärfer geworden, der auch nur kurze Stunden dauernde Schein einer 
Stileinheit noch jchwerer als 1854 zu erreichen. Sichtbar wurde die Wirfung 
der taliener, der Riſtori, Roſſis und Salvinis, die das deutiche Tragoe— 
dienfpiel aus der Erftarrung gelöft und die fait vergeffene Kunſt gelehrt 
hatten, die Geftalten der klaſſiſchen Dichtung naiv anzufchauen, als wären 
jie gejtern von einem unter uns lebenden Poeten geichaffen worden. Das war 
fein unwichtiges Refultat. Und mochte an Plan und Ausführung Manches zu 
tadeln fein: aud) diesmal — Das fonnte jelbit der ftrengfte Kritiker Herrn 
Pofjart, dem Yeiter, nicht beftreiten — war an jzeniichen Künften nicht ge- 
fargt und beinahe jede Hauptrolle mit dem beften Darfteller befegt, der im 
Perfonalbeftand des deutfchen Theaters zu finden war. 

Jet werden in den berliner Hoftheatern „Meiſterſpiele“ veranftaltet. 


— | — — — — — — m - - — nm. 
“ ".. 


Meifteripiele. 293 


Man weih nicht recht, von wen. Der Generalintendant — für ein Weilchen 
iſts noch Graf Hochberg — hat ich, fo heit e8, dem prager Direftor Angelo 
Neumann verbündet; und da diefer in allen Preiwinfeln gewalttige Herr, 
unter deſſen Leitung das prager Schaufpiel längjt den guten Namen verloren 
hat, fich hervorrufen und in Tifchreden feiern läßt, muß er ſich wohl als den 
Manager diefer Großthat fühlen. Einerlei. Wir brauchen auch nicht zu fragen, 
warum der Leiter der dem Rang nad) erften beutichen Bühne zu ſolchem Unter: 
nehmen jich einen geſchickten Opernfpefulanten al3 Helfer holen muß und ob 
die Männlein und Fräulein aus dem Bretterreich nicht eben fo gern dem Auf 
des Grafen Hochberg wie dem des Herrn Neumann gefolgt wären. Ver— 
antwortlich bleibt die Generalintendanz. VBerantwortlic für den unter ihrer 
privilegirten Adlerflagge verübten Unfug, den ſchlimmſten und zugleich lächerlich: 
ften, deflen Spur in der Gefchichte des deutjchen Theaters zu finden ift. 

Meiſterſpiele . . . Franz Dingelftedt, in dem doch ein recht robustes Selbſt— 
bewußtfein lebte, hätte jih jo anmafenden Namens gefhämt; er wunte, daft 
es in jeder Kunft und im jeden Kunſthandwerk nur wenige Meifter giebt. Und 
das Wort kann doch feinen anderen Sinn haben als den: zu diefen Spielen 
hat ſich die Schaar der Meifter vereint. Wir wollen die Bedenken perjönlichen 
Geſchmackes ausfcheiden, jede allgemeine anerkannte Theatergröße für einen 
Meifter oder eine Meifterin nehmen und fragen, wer von diefen der Meiſter— 
haft würdig Befundenen nad) Berlin geladen ward. Zwei Meijter wirfen 
mit: die Herren Baumeifter und Sonnenthal, zwei Greife, die ſeit einem 
halben Jahrhundert in erften Stellungen find. Die Damen Sorma, Niemann, 
Hohenfels, Dumont, Sandrod, die Herren Kainz, Poſſart, Barnay, Baſſer— 
mann (Berlins ftärkites Spieltalent), Engels, Reicher, Thimig, Niffen: te 
Alle fehlen und mit ihnen mancher Andere, der hier Sicher nicht Fehlen durfte. 
Aus allen Provinzen aber find die Mittelmärigkeiten zufammengetrommelt. 
Eine vom Botichafter Fürften Eulenburg empfohlene Anfängerin verjucht jich 
— nah Frau Sorma, deren finnlicher Mädchenreiz hier ein holdes Wunder 
ſchuf — an Grillparzers Ejther. Eine Heine, ſäuerlich heftige Frau, der 
bei aller gefchicften Houtine, auch innere Größe unerreichbar ijt und die, wo 
fie von Tragoedienfiebern gefchüttelt jein follte, nur böfe werden kann, Feucht 
unter der .Laft, die ihrem fpigen Talentchen die majeftätifche Zarenwittwe 
Sciller8 aufbürdet. Das in unerträgliche Manierirtheit verfallene Fräulein 
Poppe (ein urfprünglich jtarkes, in der berlinischen Zuchtloſigkeit vor der 
Neife zerrüttetesS Temperament) ſpreizt und windet und ziert ih al8 Maria 
Stuart. Den Fauft ſpielt ein tüchtiger, auch im Schreiben emjiger Herr, 
der vor einem Jahr den anftändigen Durchichnitt des Scillertheaters nicht 
überragte. Als Soubretten jind ung die Frauen Schratt (die vor dreißig Jahren 
vom berliner Hoftheater zu Laube ging) und Gonrad-Schlenther (die ich als 


204 Die Zukunft. 


Schüler debutiren fah) verfprochen und das Fräulein von Barnhelm ift der Frau 
Busla anvertraut, die eben jo alt, doch nicht eben fo Luftig und ferngefund ift wie 
Frau Echratt. Ich weiß nicht, welche Erwägung die Auswahl beitimmt hat, 
und kann nur feititellen, dar Frau Buska die Gattin des Managerd Angelo 
Neumann, Frau Schratt die Freundin des Kaiſers von Defterreich ijt (fie 
war auch die Freundin feiner Frau; ich bitte alfo, nichts Arges zu denken), 
dar Fränlein Wachner (Ejther) von einem Botfchafter, Fräulein Poppe von 
einem Intendanten protegirt wird, Frau Conrad mit dem Burgtheaterdireftor, 
Frau Bertens (Marfa) mit einem Theaterkritifer des Berliner Tageblattes 
verheirathet ilt. Außer ihnen find, offenbar nach willfürlicher Laune, allerlei 
brave Mimen geworben, die, da jest ja nicht Ferienzeit ift, faft immer nur 
eine Probe mitmachen fönnen, nad der Vorftellung heimmärts fahren und zur 
nächſten Rolle wieder nach Berlin fommen. Steine Möglichkeit innerer Samm: 
lung alfo und nicht einmal der Berfuch, durd) jorgiames Tönen, Fügen, Abſtim— 
men eine Stileinheit herzujtellen. Auch nicht das Bemühen, den aufzuführenden 
Gedichten ein mit befonderer Sorgfalt angepaftes Feiertagskleid zu Schaffen. Büh— 
nenleiter der Spiele ift Herr Grube, ein von meininger Erinnerungen — eigenen 
und denen feines Inſpizienten — zehrender Regiſſeur ohne Anfehen, ohne 
Fleiß, Künftlerernft und fchöpferiiche Kraft, ein Iheaterpugmacher, der den 
tiefiten Punkt, den feſten Grundſtein einer Dichtung nie zu erkennen vermag, 
dem im feinem Schaufpielhaus Niemand gehorcht und der jich durd) den Hohn 
der Berufsgenojfen, wie es fcheint, nicht abfchreden läßt, jelbit in Hauptrollen 
unter die Meijterfpieler zu treten. Die meijten Dramen finden im Neuen Königs 
lihen Operntheater Unterjtand, in einem Bühnenhaus, das zu Reitübungen und 
Mastenbällen geeignet jein mag, jede intime Wirkung aber verfagt und die 
Spieler im Affelt zu häßlicher Ueberfpannung der Lungenkraft zwingt. Warum 
ward dieſes Haus gewählt? Weil es an Wochentagen fonft leer fteht und 
ſich — eine Errungenſchaft aus der Aera Pierfon — Schlecht verzinjt und 
weil die verehrliche Generalintendanz Geld verdienen will. Deshalb werden 
am Scillerplag die Saifonzugftüde gegeben und die Meifterjpiele bei feſtlich 
erhöhten Preifen hinter der Siegesjäule veranftaltet. Deshalb darf Feine 
Borftellung ausfallen, muß Goethes wichtigſte Dichtung pünktlich aufgeführt 
werden, trogdem der herbeigewinfte Fauitiprecher erit drei Stunden vor Anfang 
der Vorjtellung aus Wien eintrifft und feinen Mephijto kennen lernt. 

Dar die Intendanz Geld verdienen will, ift nah den — trotz allen 
pomphaften Erklärungen erweislihen — Einbußen der leuten Zeit leicht zu 
veritehen und wäre unter allen Umftänden ihr, wie jedes Gewerbetreibenden, 
gutes Necht. In der Wahl der Mittel aber, die zu ſolchem Ziel führen 
follen, müßte fie einigermaßen vorlichtig fein. Schon früher ließ ſie abge: 
fpielte Operetten von einem zufammengewürfelten Berfonal aufführen, das eben 
fo wenig wie das Occheſter je dem SKHoftheaterverband angehört hatte, und 


Metiteripiele. 295 


ruhigen Muthes auf den Zettel druden: Neues Königliches Operntheater. 
Der Fremde, auch der in Berlin dem Theaterwefen fern Lebende wurde durch die 
ftolze Adlerfirma getäufcht: er zahlte das Eintrittsgeld für eine KHoftheater- 


“ vorjtellung und wurde mit einer Aufführung bewirthet, deren stars aus der 


Himmeldgegend von Lübeck, Pofen und Chemnig ſtammten. Der felbe War 
breitete jeine Schwingen über die Ankündung einer franzöjischen Opernbande, 
die nad ein paar ſtandalöſen Abenden geräufchlos verduftete. An Sonntagen, 
wenn im beiden Käufern gejpielt wurde, gab es am Königsplatz immer 
Bejegungen, die felbft der alte Hülfen nicht zugelaffen hätte. Jetzt ... 
Ich ſchätze die Leiltungen des berliner Hofichaufpielhaufes nicht allzu Hoch; aber 
e3 hat gute Männerfpieler (die Herren Matkowsky, den größten, den einzigen 
großen Tragoeden Deutſchlands, Kraußneck, Kepler, Bollmer, Chriftians, 
Ludwig, Pohl, Molenar) und bietet an Alltagen mehr, al3 die Meijterfpiele 
bis jegt boten und nad) dem Programm bieten können. Wird eine Vorftellung 
dadurch bejier, dat Matkowslys Rollen von ſchwächlichen Nachahmern ge- 
fpielt werden und irgend ein Hinz oder Kunz aus Dresden oder Weimar auf 
unbefannten Brettern die Kräfte übt? Und diefe Hinz und Kunz find nad) 
ſolchem haftig vorbereiteten Gaftfpiel auf fremdem Boden nicht einmal zu 
beurtheilen. Ueberhaupt kann von einem Kunſtwerth der Spiele nicht ernit= 
haft die Rede fein. Sie zeigen nicht den Status der deutfchen Bühne, 
nicht, was den unter einem Kommando vereinten flärkiten Talenten gelingen fann, 
nicht die Refte und Rudimenteder einzelnen Schulen, — höchſtens die heillofe Sprach— 
verrottung und Stilzeriplitterung. Die Hoftheater von München, Dresden, 
Stuttgart geben je eine Vorftellung. Auch daraus ift nichts zu lernen. Daß 
Herr von Poſſart, wenn er ſich acht Tage lang wieder einmal befleift, eine an— 
ftändige Aufführung des — kinderleicht zu fpielenden — „Erbförfter“ fertig 
bringt, wußte der Sachkundige jchon vorher; wer nach diefer einen Probe das 
münchener Schaujpiel jchäßte, würde ftaunen, wenn ers daheim fähe: mit 
einem Perſonal, dem der Held und die Heldin, Fauft, Franz Moor, Lady 
Macbeth fehlen und das Feiner großen Aufgabe gewachjen ift. ine gute 
Aufführung kann ſchließlich jedes Theater leiſten. Woher aber nimmt die 
Generalintendanz das Recht, für BVorftellungen, die in beitem Fall bis ans 
Alltagsniveau des Gewöhnten reichen, erhöhte Eintrittöpreife zu fordern? 

Woher? Aus dem Titel des Unternehmens. Dem Gefammtgaftjpiel 
unbefannter Hiftrionen hätten nicht Viele nachgefragt; Meiſterſpiele: Das 
follte zichen und hat wirklich gezogen. Sind aber die waderen Leute, die 
in Dresden, Hannover, Leipzig, Prag, Stuttgart, Weimar feit Jahr und 
Tag ſich beicheiden und die von Zeit zu Zeit der Glanz eines den Bühnen— 
himmel abwandelnden berliner Sternes überftrahlt, find diefe redlichen Durch: 
ſchnittsmimen Meifter? Und find fies nicht, geben fie ſelbſt ich nicht dafür 
aus: was iſt dann über den Titel zu jagen, deſſen Pofaunenton die arglofe 


296 Die Zukunft. 


Menge heranloden fol? Die Intendenz mag getäufcht worden fein; der 
Manager, der vom Schaufpiel nichts verftcht, mag feinem Werberbemühen 
beſſeren Erfolg erhofft haben. Jetzt wiffen Beide, woran fie jind; und jet fordern 
wir, daß der täufchende Titel verfchwinde. Das deutiche Gefet beitraft den Ver— 
fuch, durch Vorfpiegelung falſcher Thatjachen auf Koften Anderer fich oder einem 
Dritten einen rechtswidrigen VBermögensvortheil zu ſchaffen. Die öffentlich unter 
dem Adlerwappen behauptete Thatfache, daß in den Hoftheatern Meifter jpielen, 
ift erweislich falich, ift jogar von den zahmiten Rezenfenten als falſch erfannt 
worden; wird die Behauptung aufrecht erhalten, dann wird „das Vermögen“ 
der Schaufpielbefucher „befchädigt“, „durch Vorfpiegelung falſcher Thatfachen 
ein Irrthum unterhalten“, — und der Dolus ift nicht mehr zu leugnen. Noch 
Andere aber fönnten ſich durch folche concurrence deloyale bejchädigt fühlen: 
alle berliner Schaufpieldirektoren, die täglich mindeften® eben fo gute Vor— 
ftellungen bieten wie das Neue Stönigliche Operntheater und denen num die ſpärliche 
Lenzkundſchaft weggefchnappt wird. Als eine Form unlauteren Wettbe: 
werbes, den ſchon 1881 eine Reichsgerichtsentfcheidung „widerrechtlich, fittlich 
zu migbilligen und gemeinſchädlich“ nannte, verpönt das Civilteht wahrheit: 
widrige Reklamen und unrichtige Angaben über Werth und Güte von 
Waaren, wenn diefe Reflamen und Angaben öffentlich (in Zeitunginferaten, 
Plafaten, Cirfularen) gemacht werden, zur Jrreführung des Publikums geeignet 
find und mit dem falfchen Schein eines befonders lodenden Angeboti3 die Kunden 
dem Stonfurrenten entziehen, der sich ſolcher Mittel nicht bedienen will. 
„Strafrechtliche Folgen“, jagt Profefior Rofenthal im Handwörterbuch der 
Staatswiſſenſchaften, „zieht die fchwindelhafte Reklame nur dann nad) jich, 
wenn außer den angeführten Ihatbejtandsmerkmalen noch das Bewußtſein 
der Unmahrheit der Angabe und die Täufchungabiicht bei deren Urheber vor= 
handen ıft“. Ich fann nicht finden, dar ein Kaufmann, der ftatt der im 
Schaufenfter verheißenen leinenen dem Kunden halbleinene Tafchentücher ver: 
kauft, fchuldiger iſt als ein Theatergeſchäftsmann, der ftatt der auf Rieſen— 
plafaten verfprochenen Mleijterfpiele raſch zufammengejtoppelte Dutzendvor— 
ftellungen bietet, und ich bin überzeugt, dak Konfurrenten und Kunden vor 
Gericht ihr Schadenserfagrecht erjtreiten könnten. Hans Heinrih XIV. Bolko Graf 
von Hochberg, Herr auf Neufchlof und Rohnſtock, erbliches Mitglied des 
prußiſchen Herrenhauſes, gilt als ein Schwacher, doch flecklos ehrlicher Mann. 
Er hat einen Namen zu verlieren, nicht als Intendant, aber als Edelmann, 
und wird wiſſen, was die Anſtandspflicht dem Enttäufchten gebietet. Fällt 
der Faljche Titel und wird ein Geſammtgaſtſpiel deutjcher Provinzfeans „unter 
Mitwirkung der Frau Medelsky und der Herren Baumeifter und Sonnen 
thal“ angezeigt, dann braucht kein Veritänd ger ich über die armfälige Karilatur 
des dr ngelſtedtiſchen Unterm bmens morgen noch weiter aufzuregen. M. H. 








Seraubpeber und verantwortlicher Nevakte au: M. Herden | in Berlin. — Berlag der Zukunft in Berlin, 
Drud von Albert Damde in BerlinsSchöneberg. 


Fur = x ie \ En {a E 
. * u 
—— ne 


iu 
a 


a 


N — * al, he hi 7 Kl J — N ’ Ben r An * 5 in * m 9 
I r Tg ap Ze N > * a \ 
fi Jin ni un" 7 * is}, M * * F \ * — KON * * A H 


EITHER 





Berlin, den 24. Mai 1902. 
——— << << 


- Der Rönig von Spanien. 


ht Apfelfchimmel zogen den Prunfwagen. Die Granden des König- 

reiches, der Hofitaat, Infanten und Infantinnen fuhren in Gala» 
futichen voran. Vom Schloß rechts an der Plaza Mayor vorbei, wo einft 
die Inquiſition und nad) der Zeit der Autos de Fe dann die Corrida herrichte, 
über die großftädtifch banale Puerta del Sol hinweg durch die Calle Jero— 
nimo bi8 zum Kongreßpalajt. Selbft im feierlichen hiipanischen Schritt ift 
vom Renaiffancebau Philipps des Fünften, von der Erinnerung an bren- 
nende Keger, an die von den Hörnern wüthender Stiere zerfegten Menſchen— 
feiber bis in die moderne Geſetzfabrik der Weg nicht ehr weit. Hinter der 
Guardia Civil und der Gebirgsartilferie, die das Spalier bildeten, jchob und 
drängte fich das Volk von Madrid, harrten in Sonnenhige die aus allen 
Theilen Neukaftiliens herbeigeeilten Yandleute, um ihren König auf dem 
Wege zur Herrſchaft zu Schauen. Viel fahen fie nicht. Bunte Teppiche, bunte 
Blumen, grünes Yaubmwerf, rothe und gelbe Leinwand, foftbare Gobelins, 
Goldtreſſen, Hofgalafleider, Uniformen, die wohlbefannten Gewänder der 
hohen undniederen Klerijei; und zuletzt, hinter den Spiegelicheiben des präch— 
tigften Wagens, einen weißen, winfenden Kinderhandichuh. Alfonjoder Drei- 
zehnte grüßte fein Volk. Zum erſten Dale trug er den von Gold ftrogenden 
Nod eines Generalfapitäns; zum eriten Mal ſollte er König fein, jollte der 
Knaberegiren. Als König war er, ſechs Monatenad) dem Tod feines Vaters, 
geboren worden. Dod) da das ſpaniſche Grundgejet den Monarchen erjt beim 

22 


298 Die Zukunft. 


Eintritt in das jechzehnte Yebensjahr mündig jpricht, hatte Maria Ehriftine 
bisher für den Sohn die Regentichaft geführt. Heute, am jiebenzehnten 
Maitage, wurde Alfonjo großjährig, mußte er vor beiden Kammern der 
Cortes den Eid auf die Berfaffung leiften. Acht Apfelichimmel zogen ihn 
auf den Schauplat der erſten Königspflicht. Ueber dem Prunfwagen lag 
auf einer leuchtenden Weltkugel die ſpaniſche Krone. Und auf feidenen Kijjen 
ſaß das ſchwächliche Kind des Schwindjüchtigen im Paradelleid eines Krie- 
gers und winkte mit weißem Handſchuh einer unbelannten, unerlennbar 
wimmelnden Menge huldvollen Gruß; denn jo, ward ihm gejagt, grüßen 
nach altem Brauch die Könige ihr treues Volf. Nur den Handſchuh jieht 
man von Zeit zu Zeit zwijchen den Pferden der Leibgarde, die den Wagen 
umringt. Aber vom Schloß her dröhnen die Böller, helle Fanfaren em- 
pfangen den Zug; und jubelnd kreiſcht endlich nun die von joldhem Glanz 
geblendete Menge, die lange ftumm gaffte: Es lebe der König ! 

Sie kennt ihn nicht, hat ihn kaum je gejehen und mit halbem Ohr nur 
den Gerüchten gelaufcht, die aus den Gefindeftuben des Palaftes in die ver: 
fallenden Gäfchen ſchlichen. Der Bauer, der Kleinbürger wagt nicht mehr, 
auf bejiere Tage zu hoffen. Der Proletarier ſchwört auf Igleſias und harrt 
ungeduldig der Stunde, da Balunins Saat aufgehen und der rothe Schreden 
das Yand reinigen, neuer Ernte den Boden bereiten wird. Die Frau tft, die 
darbende befonders, in blind gläubigem Fanatismus dem Priefter unterthan ; 
feinem Wort horcht fie und flüchtet aus Angit und Noth in die finjter 
ragenden Klöfter, in die vorgejchobenen Forts der geiftlichen Weltmacht, die 
wie ein Schwarzer Gürtel die Hauptjtädte einjchnüren. Wer joll der Frage 
nachſinnen, ob von dem neuen König Gutes oder Schlimmes zu erwarten 
it? Die Heine Schaar der Gebildeten höchitens, die vergleichen kann und 
die Schmälerung des ſpaniſchen Anjehens bitter empfunden hat. Die Zeit der 
Megentichaft war hart; fie hat dem Reich, in dem einft die Sonne nicht 
unterging, Alles geraubt, was es noch zu verlieren hatte: Wohlftand, 
Kolonialbefig, Preftige, innere Einheit. Die Defterreicher haben Spanien 
immer Unglüd gebracht und die Defterreicherin Maria Chriftine hat das 
Werk ihrer Ahnen vollendet. Gewiß: fie that, was jie vermochte, war jitt- 
jam und fromm, Tocte feinen Buhlen auf ihr Wittwenlager, gab fich nicht, 
wie die Babylonierin Iſabella, in brünjtiger Yaune heute einem Serrano, 
morgen einem Marfori. Dod) die jtrengite, prüdefte Tugend erjegt nicht 
das Herrichertalent. Maria Ehriftine blieb in Spanien jtet$ die Fremde, 
die Dejterreicherin. Nie jchien fie bemügt, Yand und Yeute fennen zu lernen, 


Der König von Spanien. 299 


den Charakter und die Bedürfniffe des Volkes zu erforjchen. Oft ward ihr 
vorgeworfen, fie denke nur an die Erhaltung der Dynaftie, forge nur für 
die Wahrung der;fteifen &eremonialformen und jet im tiefften Grund ihres 
engen, abergläubigen Herzens froh, wenn fein Strahl den dunklen Sinn der 
Menge erhelle. Auch Hochmuth, Geiz, unfreumdliches, mürrifches Wefen 
wurde ihr nachgejagt; und ein ganz in grelfen Leidenſchaften lebendes Volt 
fonnte ſich ihrer Fühlen, ftarren Tugend niemals befreunden. Sie blieb un- 
beliebt und’verlor jogar den Nimbus der Keufchheit, als gekränkte Schranzen 
die Kunde ins Volk trugen, die Königin-Regentin, die jede natürliche Ge- 
Ichlechtsregung verpöne, habe heimlich eine morganatifche Ehe gejchloffen. 
Das Geraun log wahrjcheinlich, wurde aber, weil e8 eine wachjende Anti» 
pathie nähren fonnte, gern aufgenommen und weitergetragen. Und jchließ- 
lic): was taugt Frauenherrſchaft einer Zeit, deren Schäden nur eines gan- 
zen Mannes geſammelte Kraft heilen Fönnte? So grollte und jeufzte die 
Intelligenz des Landes, die Bourgeoifie, die in übeljter Yage immer noch 
vor dem Umſturz der Staatsordnung zittert und in der Dauer der Mo— 
narchie den ficherften Schuß ihrer Geldjchränfe ficht. Vielleicht reifte im 
Schloß jchon der rettende Mann. Vielleicht... Hoch hinauf flatterte freilich 
die Hoffnung nicht. Der Knabe Alfonjo wurde,von feinem Vater im legten 
Stadium der Schwindfucht gezeugt. Solchen Urſprungs Leidensſpur ift an 
ihm fichtbar geblieben; er ſieht jünger aus, als er tft, und war jeit dem erjten 
Lebenstag ein blaſſes, verkümmertes Angſtkind. Kein Höfling hat ihm je 
einen Wefenszug nachgerühmt, der auf befondere Regſamkeit eines früh 
wachen Geiftes ſchließen ließ; und Königen wird doch ſchon Genialität an- 
gedichtet, wenn fie, ohne allzu laut zu fchreien, fich den Kopf waſchen, die 
Saugflafche wegnehmen und die Nägel ſchneiden laſſen. Diejen König hielt 
die Deutter beinahe ängftlicd) verborgen. Niemand jah ihn. Der Pater 
Montada, eine Stüte der Orthodorie, leitete jeine Erziehung. In die Ver: 
waltungpraris wurde der Knabe nicht eingeweiht und nie vernahm man, 
er habe auch nur als Hörer einem Minifterrath beigewohnt. Ein andalufifcher 
Hirtenfnabe weiß mehr von Spaniens drängenden Wünjchen, von Spaniens 
Yammer als diefer im goldenen Käfig Erwachjene. Und der arme Poftu: 
mug foll num König fein und eine Erbichaft antreten, vor deren Laſt ſelbſt 
ein mit allen Waffen moderner Bildung gerüfteter Rieſe erbeben müßte. 
Wohl ihm, wenn er auf jeidenen Kiffen in indischen Wahn nicht an 
die Beichwerden des zur Herrichaft führenden Weges denkt, nicht an das 
Ziel der mühfäligen Fahrt, die fo glanzvoll, mit Bölfergedröhn, Fanfaren 


97% 
u 


300 Die Zukunft. 





und Bolksjubel begann. Weh ihm, wenn er aud) nur in flüchtigen Traum 
die furchtbare Wirklichkeit fieht, wern eines Warners rauhe Hand den 
Schleier zerreißt, den zärtliche Frauenſchwachheit und jchlau vorjorgende 
Prieftertaktit um die Schläfe des Knaben wanden. Wird das Auge dieſes 
Königs frei, dann muß er verzweifeln, muß feinem Schidjal fluchen und ſich 
gegen die graufe Bofje einer Staatsrechtsordnung bäumen, die jo ungeheure 
Bürde auf eines Sechzehnjährigen ſchwache Schultern Iud. 

Dennoch) hoffen gerade die Beiten im Land, der Trugfchleier werde 
reißen, des muthigen Warners Stimme bis ins Ohr des gefrönten Knaben 
dringen. Leicht, fo rechnen fie, läßt Jugend fich zu großen, Ruhm verheißen⸗ 
den Aufgaben loden ; und gar verführerifch Hänge hier wohl das Wort des 
Zapferen, der fich entjchlöffe, ohne Furcht vor ihm jelbft gefährlichen Folgen 
diefem König die Wahrheit zu zeigen. Sieh um Did), müßte er jprechen, 
und lerne zuerst: nur glauben, was Du mit eigenem Auge jchauft; mit 
nüchtern prüfendem Auge, das nicht träg an der Oberfläche der Dinge haftet. 
In Deinem Reich ift Alles unecht, unehrlich, Alles auf Täufhung und 
Selbjttäufchung geftellt. Ein Coulifjenland, das der erjte Windftoß über 
den Haufen weht. Das Volk, das Dir zujubelt, liebt Dich nicht, traut Dir 
nicht einmal; es heult vor Freude über die bunte Deforation und huldigt 
Dir wie in der Arena den behenden Chulog, die im Tanzſchritt vorrüden und 
dem gereizten Stier das rothe Tuch um die Hörner werfen. In der nächſten 
Viertelftunde fann irgend Einer aus der populären Schaarder Banderilleros 
oder Picadores Did) aus dem Schein der Volksgunſt verdrängen. Wenn Du 
Deiner Macht fefte Grundlagen jchaffen willft, darfft Du nicht auf der 
Straße dem Applaus nachlaufen. Das hieße, die Zeit vertrödeln. Did) 
bedrohen nicht nur Anardhiften, Karliften, Separatiften, Republifaner und 
Yandproletarier: Du haft überhaupt feine zuverläffige Stüte. Ein Schuß, 
eine Dynamiterplofion macht Lärm; die ſchlimmere Gefahr iſt geräufchlos. 
Die Maffe, die noch ganz in den Vorftellungen des Abfolutismus von Gottes 
Gnaden lebt, fragt nicht, ob liberal oder fonfervativ regirt wird, und langt 
nicht nach Gedanfenfreiheit; was follte fie mit folcher Errungenſchaft an- 
fangen? Sie herricht ja auch nicht, hat feine Möglichkeit, an der Geftaltung 
ihres Schiefals mitzuwirken. Unfere Demofratie ift eine Lüge, die Keinen 
mehr täuſcht. Hier hauft, über dem Volk, iiber dem Schattenfönig fogar, 
eine Dligarchie, deren Gruppen und Eliquen ſich um dieBeute balgen. Diefe 
Rauferei nennen wir ftolz den Prinzipienfampf politifcher Parteien. Und 
eben folche Lügen find all die Einrichtungen, von denen wie von nationalen 





Der König von Epanien. 301 


Heiligthümern geredet wird. Einuntüchtiges Heer, deſſen Führer immer an 
den perfönlichen Vortheil, nie an die res publiea denken. Eine unbrauch— 
bare, von der ganzen Welt verhöhnte Flotte. Wenn morgen der Streit um 
die Herrjchaft über das Mittelländifche Meer ausbricht, ift unfer Bischen 
Einfluß aufMaroffo verloren. Dabei bringen wir die Roften einesStaats- 
haushaltes auf, der jährlich faft eine Milliarde Pefetas verjchlingt. Wir 
haben feine dem hajtigen Wettbewerb jüngerer Rulturvölfer gewachſene In— 
duftrie, feinen modernen VBerfehrsmöglichkeiten entiprechenden Handel; und 
den Aderbau lähmt die Rückſtändigkeit des Betriebes. Mit ftaatlicher Bei- 
hilfe werden Monopole erfchachert, die den Aerınften Wucherzins abpreſſen 
und einen Klüngel bereichern. Günftlingmwirthfchaft und Korruption aller 
Art hat überall ihre Minengänge gegraben. Alles ift hohl, haltlos, zum 
Untergang reif. Nicht Ruinen haft Du zu reftauriren, nein: Du mußt die 
morjchen Nefte in die Luft fprengen und auf dem gefäuberten Boden ein 
neues, helles, Tuftiges Gebäude errichten. Alles ift hier noch zu thun, der 
Grundſtein politifcher und wirthichaftlicher Organifation erft zu legen. Und 
Der nur, dem diejes Werk gelingt, wird wirklich König fein, nicht im Purpur 
als eine nidende, winfende Gliedergruppe die Rolle des Königs fpielen. 

Wer jo zu Alfonfo Poſtumus jpräche, riethe ihm eine Revolution und 
lockte den Knaben zu einem Verfuch, der auch mannbare Könige jchreden 
fönnte. Die Gefchichte lehrt, daß Nevolutionen fat ausnahmelos nur dann 
Erfolg hatten, wenn fie von Klaſſen, Klafjenführern oder Deklaſſirten aus— 
gingen, die nichts verlieren, Alles gewinnen konnten. Ein König von Spa- 
nien, der eine gründliche Modernifirung feines Neiches plante, müßte vor 
allen Dingen die lebermacht des Klerus brechen. Diejes Unternehmen aber 
wäre nirgends jo gefährlich wie im Baterlande Yoyolas, wo die dünne Ober: 
Ihicht zwar antiflerifal, dod) die Maſſe des nicht in den Großftädten ent- 
chrifteten Volkes blind dem Priejter ergeben ift. Und wo fände die Dynaſtie 
Stützen, wenn fie auch noch die vatifanische Weltmacht wider jich waffneteund 
denihr bis heute jo gnädigen Papſt zwänge, feine Hoffnung aufden Sieg der 
Karliften zu jegen? Sagafta mußte jehr gut, warum er, der ausgezogen war, 
die Pfaffenfeitungen zu fchleifen, aufhalbem Weg umfehrte. Keineder beiden 
großen — jetzt freilic) jacht abbrödelnden — Bourgeoisparteien wird diefen 
Weg bis ans Ende gehen. Aufdie Separatiften und die Sekte Bakunins aber 
kann ſich Alfonſo nicht ftüten, wenn er nicht nach gewonnener Schlacht beim 
Siegesmahl der Dreizehnte jein will. Die Situation ifteben nicht fo einfach, 
wie der liberale Befiter ewiger Wahrheiten wähnt,der dem Sohn der from: 


302 Die Zukunft. 


men Erzherzogin einen frijchen, fröhlichen Kulturfampf empfiehlt. Die 
Spanier lächeln verächtlich zu jolchem Rath und jchneiden jede Erörterung 
mit dem fpigen Wort ab: Cosas deEspana! Das heißt: darüber fteht nur 
dem in Spanien Geborenen ein Urtheil zu. Gefprächiger werden fie erft im 
intimen Verkehr. Dann kann man von ihnen hören, daß fie die jpanijche 
Monarchie für unrettbar verloren halten und ihr rathen, auf die am Man— 
zanares jehr mächtige vis inertiae zu bauen und ohne ftörenden Lärm auf 
den alten, breitfpurigen Wegen noch ein Weilchen das Leben zu friften. 

Die Straße, auf der die acht Apfelfchimmel den Prunkwagen zum 
Kongrekpalaft ziehen, ift alt und ward oft befahren. Auf der Weltfugel, die 
über der Spiegelfutjche im Sonnenlicht blitzt, Tiegt diefpanifche Krone, deren 
Neich feit den Tagen vor Kuba fo Hein geworden ift. Und Niemand lacht; 
aus weiter Fremde find Gäfte gefommen, denen man ein Schaufpiel ſchul— 
det. Cosas de Espana! Auch der bleiche Knabe, dejjen mageren Leib der 
wattirte Baraderod eines Generalkapitäns Fräftiger erjcheinen läßt, hatfeine 
Rolle eifrig gelernt und weit auswendig, wie er jich in jedem Augenblic zu 
benehmen hat. Er winkt mit dem weißen Handſchuh; denn fo, hat ihn der 
Pater Montana gelehrt, grüßen nad) altem Brauch die Könige ihr treues 
Bolf. Jetzt fährt er jähauf und lehnt fich dann jcheu in die Kiffenzurüd.... 
An den Wagen hat ſich ein Mann gedrängt, dem der Hofmarſchall eine Waffe 
entreißt. Der Zug ftodt; und der Zögling des Mönches weiß nicht, welche 
Haltung in folder Minute der Braud) den Königen im Angeficht ihres treuen 
Volkes vorjchreibt. Im Kongreßſaal aber warten die Granden, der Hof: 
ftaat, Infanten und Infantinnen, fremde Fürften, Würdenträger und beide 
Kammern der Cortes. Der Beginn der Geremonie, jagt endlich der Präfi- 
dent, verzögert fich, weil ein Mörder Seine Majeftät angefallen hat. Doch 
da ift der König ja fchon. Unter dem gelben Baldadhin jchreitet er über 
Marmorjtufen in den Saal. Er hat ſich erholt, reckt, nad) der Weifung, die 
Hand umd jpricht mit einer Kinderftimme, die in dem Bemühen, männ- 
lich und kriegeriſch zu Klingen, heifer wird: „Bei Gott und den heiligen 
Evangelien ſchwöre ich, des Rechtes und der Verfaſſung Hüter zu fein!“ 
Dann gehts zum Tedeum nad) San Franzisko. Und aufden Rückweg winkt 
wieder der weiße Handſchuh. ALS die Reihen der Leibwache ſich am Schloß 
löfen, jieht man den König fogar lächeln. Die Weiber jubeln und Alfonjo ift 
von fo rührendem Ausdrud der Unterthanentreue beglüdt. Seit er ſich in 
der Kathedrale auf den Thron niederliek und im ganzen Reich die Gloden 
erflangen, ift der kränkelnde Knabe ein mündiger König geworden. 

* 


rm, 


Mesmer. 303 


Mesmer. 


I feiner Novelle „Der Magnetifeur“ läßt E. Th. AU. Hoffmann den 
Titelhelden von der durch Mesmer entdedten Naturfraft jagen: „ft 
es denn nicht lächerlich, zu glauben, die Natur habe uns den wunderbaren 
Talisman, der und zum König der Geifter macht, anvertraut, um Zahnmeh 
oder SKopfichmerz oder was weiß ich fonjt zu heilen? Nein, es ijt die 
unbedingte Herrichaft über das geiftige Prinzip des Lebens, die wir, immer 
vertrauter werdend mit der gewaltigen Kraft jenes Talismans, erzwingen.“ 
Diefe Worte fpiegeln mehr das große antiphiliftrofe Grundgefühl Hoffmanns 
al3 feine wahre Meinung über den Mesmerismus wieder, wie andere Stellen 
in feinen Erzählungen zur Genüge beweifen. Jedenfalls aber vermitteln fie 
eine Auffaffung der mesmerifchen Lehre, die von ihrer rein medizinifchen 
Bedeutung abjieht. Es fommt uns freilich nicht mehr auf da8 Phantom 
einer „unbedingten Herrſchaft über das geiftige Prinzip des Lebens“ an, 
wohl aber auf das Anfchauen diefes geiftigen Prinzips in feiner Tiefe. Dazu 
iſt Mesmers Lebenswerk zweifello® ein Beitrag. Nur diefer rein geiftige 
Gehalt jeiner Lehre joll uns hier bejchäftigen, ohne daß wir darum jeden 
Seitenblid auf fein eraftsnaturwifjenichaftliches Erkennen vermeiden wollen. 
Mesmer ſtammt vom Rhein. In Itznang, einem Dertchen in der 
Nähe von Konftanz, das am Fur des Schienerberges über einer Bucht des 
Unterſees der alten Stadt Radolfzell gegenüberliegt, wurde er 1734 geboren. 
Und nachdem fein reiches Leben ihm durch Defterreich und Frankreich geführt, 
fehrt er als Greis 1812 nad Konftanz in feine Heimath zurüd. In Meere: 
burg, wo er 1815 ftarb, jteht auf dem Friedhof ein dreifantiger, mit ſymboliſchen 
Zeichen gefchmüdter Opferaltar: Das ift fein Grabftein. Und bei Stein am 
Rhein foll nad) glaubwürdiger, in einer dort angefeffenen Familie erhaltener 
Tradition eine Begegnung Mesmerd mit Goethe ftattgefunden haben. 
Seine jeit früheiter Zeit von Vielen eifrig verfochtene, von Anderen 
befämpfte, immer uniftrittene Lehre von der Wechſelwirkung, der man mit 
Recht vielleicht nur vorwerfen darf, daß fie eine individuelle, ihm und ein: 
zelnen Anderen genügend jichtbar verliehene Kraft generalifirte, hat ihn bald 
zu einer europäifchen PBerfönlichfeit gemacht. Er muß in der That, jelbit 
wenn feine ganze praktische Lehre nur ein großer Irrthum fein follte, durchaus 
al ein bedeutender, feine Umgebung und feine Zeit beeinfluffender Mann 
genommen werden. Zeugnig dafür ijt fein raſcher und großer Erfolg in 
Franfreich, wohin er 1778 von Wien aus ging und wo er troß aller Be: 
fümpfung durch die Schulmedizin zwanzig philantrophifche Inſtitute mit 
magnetifcher Behandlung einrichten konnte. Den Einfluß, der von ihm aus— 
ging, bewahren uns auch Einzelberichte von Zeitgenoſſen. Ein Augenzeuge, 


304 Die Zutumft. 


der den greifen Mesmer in Konftanz aufſuchte und feinen unentgeltlichen 
magnetischen Kuren zufah, fpriht von der „wunderbaren Kraft der Ein: 
wirkung auf Kranke bei dem durchdringenden Blid oder der bloß ftill er: 
hobenen Hand“ Mesmers. Diefe Wirkung ging vielleicht zunächſt rein von 
der phyſiſchen Perfönlichkeit de8 Magnetiſeurs aus; fie wurde jedenfalls 
erhöht durch die Macht der hinter der phyſiſchen jtehenden geiftigen Perfönlichkeit, 
die in ringenden Gedanken wie in inneren Schidjalen gereift umd erftarkt 
war. Diefer Mare, Huge Repräfentant der Aufklärungzeit, wie er ſich nament: 
ih in dem Entwurf eines idealen Bürgerftaates (im zweiten Theil des 
„Syſtems der Wechjelwirkungen“) zeigt, war zugleich Myſtiker und ein die 
Tiefe der Natur durcchforfchender Geift. Diefe Zweiheit giebt ihm fein Be: 
jonderes. Sein Wefentliche8 aber ift fein ganz innerliches Anſchauen der 
Natur und ihrer Kräfte Mesmer gilt in naturwiſſenſchaftlicher Hinficht 
gemeinhin als Phantaft. Allerdings beſaß er die nachſchaffende Phantafie, 
ohne die ein lebendiges Erkennen überhaupt undenkbar it; fie mag ihn mand- 
mal zu Irrthümern geführt haben; daß jie ihm auch große Wahrheiten ver: 
mittelt hat, ift ohne Frage. Es wird feinem Ruf als Naturforfcher gewiß 
nicht Schaden, daß er den Zufammenhang aller organischen Entwidelung 
deutlich jah, dak man ihn fait als unbewußten Darwiniften bezeichnen kann. 
Er fpridht einmal davon, daß das Thier feine Wurzeln ans dem Erdreich 
genommen und als Magen in feinen Körper verjenkt habe. Das ift eine 
grundlegende Lehre des Darwinismus. An einer anderen Stelle betont er 
die Möglichkeit, daf der Schlaf — als ſolchen bezeichnet er ausdrüdlich das 
Leben der Pflanze — der dem Menfchen natürliche, urfprünglihe Zuftand 
jei: dem Zwed des Vegetirens am Ummittelbarften entfprechend. „Könnte 
man nicht behaupten, daß wir nur wachen, um zu ſchlafen?“ Man halte 
daneben die der Entwidelunglehre eigenthümfliche Anfchanung, daß der menſch— 
liche Geift fih nur als Waffe im Daſeinskampfe entwidelt habe. 

Mesmer gliedert feine felbiterlebten Anſchauungen in ein jfizzirtes 
metaphyſiſches Syitem ein. Das hat den Vortheil, daß er felbjt einige der 
tieferen Sonfequenzen feiner Ideen ziehen und uns vorweggeben muß; uns 
günftig aber bleibt, daß er nun nicht in dem Maße gezwungen ijt, die Einzel- 
erfcheinung — die er durd; Eingliederung in das Syftem genügend motivirt 
zu haben glaubt — jo anſchaulich lebhaft zu fchildern, daß ſie aus ſich felbit 
allein den Lefer von ihrer Wahrheit überzeugt. Das Syftem verhült ung 
zunächſt au den Ausgangspunkt, von dem Mesmer in fein Gebiet 
eindrang. Eine tiefe und befondere Art der Weltanfchauung muß in der 
Perfönlichkeit, die zu ihr finden foll, ganz und gar vorbereitet fein. Eine 
folche Anſchauung mag — zumal wenn in ihr fo fichtlich praftifche Konſe— 
quenzen liegen am Anfang, ehe fie ſich vunden konnte, nur als der 


Mesmer. 305 


Spiegel beſonderer zufälliger Erfahrungen erſcheinen. Am Ende, wenn das 
ganze Leben eine urſprüngliche Veranlagung umſtrömt und Zeit gewonnen 
hat, ſich um den — bewußten oder unbewußten — Gedanken zu kriſtalli— 
ſiren, wird ſich dies Gebilde ganz zum Ausdruck der Perſönlichkeitwandeln. Ber: 
ſönlichkeiten aber ſtellen in ſich immer einen Theil der großen Wahrheit dar. 

Der erſten äußeren Anregung, die Mesmer zu ſich erweckte, kann ich 
nur einen Zufallswerth beimeſſen. Es iſt ziemlich gewiß, daß er als junger 
Arzt durch Beobachtungen an Kranken auf den Einfluß achten lernte, den 
die großen Himmelskörper, insbeſondere Sonne und Mond, auf den thieriſchen 
Organismus üben. Seine Doktordiſſertation handelte von dem Einfluß der 
Himmelsförper auf die Erde. Er forjchte vorurtheillos und fand fcheinbar 
fernliegende umd doch deutliche Beftätigungen. Mit richtigem Blick fah er 
in alten Bollsmeinungen, Aberglauben und Aehnlichem keinen Unſinn, fondern 
— imenn auch erjtarrte und verderbte, dennoch — ſchätzbare Leberreite einer 
urfprünglichen Erfahrungwahrheit. So ging er forichend bis auf vergefiene 
aftrologifche Anfichten zurüd. Unſere Naturerfenntniß bejtätigt diefen aftralen 
Einfluß übrigens; wie man denn jüngft auch zu einer unbeftreitbaren Er- 
kenntniß der Einwirkung ganz ferner meteorologifcher Eriheinungen auf das 
Nervenfyftem gelangt ift. Im feiner Praxis empfand der junge Mesıner 
fhmerzlih, dar es fein direltes auf die Nerven wirfendes Heilmittel gab. 
Er gerieth — nicht unbeeinflußt von feinen aftrologifchen Studien — auf 
die Vermuthung, daß Dieſes ein Agens nicht wägbarer Mlaterie fein müſſe, 
ein Prinzip der Belebung. In diefer Vermuthung lag gleichzeitig eine Er- 
klärung des von ihm ausdrüdlich al3 wechjelfeitig angenommenen Einflufjes 
der Himmelsförper, die jich fait ganz mit der befannten Aether: Theorie Bedt; nur 
nimmt Mesmer einen noch feineren Weltftoff an. Diefer Einfluß „bewirfe 
ich durch einen Mittelftoff oder durch eine Fluth, worin alle Welen in einer 
Art von Berührung jo unter einander gemengt find, dar dadurd eine einzige 
Maſſe von der ganzen Welt gebildet wird.“ Wir find „eingetaucht im den 
Dean der Allfluth.* In diefem Ausdrud dofumentirt ſich fchon eine kos— 
miſch, phantheiftifch empfindende Perjönlichkeit. Und inniger noch berührt 
fie und, wenn er feine wundervoll künſtleriſche Anſchauung vom Entitehen 
der Körper, Formen und Geftalten darlegt. Sie werden erzeugt von den 
beiden großen Kräften des Als: Ruhe und Bewegung. Cr giebt für feine 
Anſchauung ein etwas triviales, aber eindeutiges und klares Bild: ein großes 
Glasgefäß fei mit Butter gefüllt, in dem fich unfichtbar — in Farbe und 
Ausſehen der Butter ganz gleich — eine Wachsfigur befindet. Eine Form 
ijt nicht vorhanden: wir haben den Zuſtand der abjoluten Ruhe. Erhiten 
wir das Gefäß fo lange, bis die Butter fchmilzt, das Wachs dagegen noch 
nicht aufgelöft wird, fo haben wir den Zuftand der Welt: Ruhe und Des 

23 





3) Die Zukunft. 


wegung; die Bewegung durch die ihr im Weſen verwandte Wärme hervor- 
gerufen. Wir haben Form und Geftalt. Erhitzen wir das Gefäß weiter, 
bis aud die Wachsfigur ſchmilzt, fo haben wir den Zuſtand der abjoluten 
Bewegung und wieder feine Form, feine Geftalt. Wenn wir des Gefühles, 
daß alles Vergängliche nur ein Gleichniß it, ganz theilhaft find, jo muß 
dies triviale Bild tiefe Bedeutung für ung gewinnen. Als ein Spiel der 
beiden Kräfte Ruhe und Bewegung ftellt Mesmer das Förperliche Leben des 
Menſchen dar. Mit der Geburt — richtiger wohl: in der Empfängnik oder 
in der Entitehung des Spermazoons — tritt Leben aus dem Reich abjoluter 
geftaltlofer Bewegung in den Doppelzuftand der Bewegung und Ruhe ein. Nun 
beginnt eine laugſame (oder bei tötlichen Krankheiten plögliche) Verfeſtung, die 
zum Zuftand der abfoluten Ruhe, zum Tode führt. E8 leuchtet ſofort ein, 
dan die Widerfprüche, die in diefem Schema — wie in allem Schematifchen — 
liegen, daher rühren, daß wir vom Zuſtand der abjoluten Bewegung vielleicht 
finnvoll zu fprechen vermögen, jedenfalls aber den Zuftand der Ruhe nur in 
feiner Verbindung mit der Bewegung kennen und ihn abfolut auch nicht denten 
fönnen. Wenn Mesmer dagegen mit feinem Schema nichts Anderes jagen wollte 
als: daß das Leben einer Einzelform eine langſame Verfeftung fei, die im Tode 
einen Augenblid lang — wenn das der Form eigenthümliche Leben entflohen ift, 
das neue der Verweſung noch nicht eingelehrt jcheint — uns als ein Gleichniß 
der abjoluten Ruhe bedünfen mag, jo löſen fich die Widerfprühe. Aller: 
dings hat diefe8 Schema mit Mesmerd Grundanfhauung über die Ent: 
ftehung der Geftalten dann nicht mehr logischen, jondern nur dem tieferen 
ſymboliſchen Zufammenhang. Unerörtert bleibt — und hier befchattet viel- 
leicht der Nationalismus Mesmers Gelichtsfeld — die Frage nach der piy: 
chiſchen Entwidelung im Leben. Sie geht im Peripheriichen der förperlichen 
Verfejtung parallel, im Centralen jcheint jie ihr direkt entgegenzugehen, wahr: 
haft „ein Entwerden“ zu jein. Ich erinnere an Jean Pauls Unterfcheidung: 
„Das Aeufere, das Innere eines Menjchen kann fterben, aber nicht das Junerſte.“ 

Aus der Anfchauung von der Allfluth leitet Mesmer feine medizinische 
Lehre her. Er nimmt an, daß die ganze Welt fortwährend durdhitrömt jei 
von Fluthreihen dieſes feinften Stoffes, die nach allen Richtungen geben. 
Diefe Annahme iſt hypothetifch auch von einigen Ajtronomen zur Erklärung 
der Gravitation herbeigezogen worden. Wo diefe Fluthreihen nun gezwungen 
ſind, die Zwifchenräume fejter Körper zu paffiren, befchleunigen ſie fih und 
es entftehen Stromfcnellen. Das find die uns bemerkbaren fogenannten 
magnetifchen Ströme. Diefe Ströme find fein Hauptheilmittel. Aber in 
der Allfluth jah Mesmer noch Anderes. Es iſt ein fonderbares Zuſammen-— 
treffen, dar auf dem felben Boden, auf dem im vierzehnten Jahrhundert 
einer der Männer, die aus dem tiefiten Quell des Seins gefchöpft haben, 





Mesmer. 307 


lebte: der Mönd Heinrich Suſo, — daß hier der aufgeklärte Arzt Mesmer 
geboren iſt, der auf ſeinem Wege zu ähnlichen Anſchauungen gelangt wie 
der Myſtiker. Wie wir die Sterne nicht ſehen können, wenn die Sonne 
ſcheint, ſagt etwa Mesmer einmal, fo hindern unſere äußeren Sinne oft 
das Leben und Wirken unfere8 inneren Sinnes. Auf diefen wirft nad) 
feiner Anfchauung die Allfluth direft ein, jo da der Menſch — wie man 
im fomnambulen Schlaf, wo die äußeren Sinneswerkzeuge aufer Thätigkeit 
gejegt Sind, beobachten fann — in einem ununterbrochenen Zufammenhang 
mit der Natur jteht. Er glaubt, diefen inneren Sinn im Nervenfyften 
erfannt zu haben. Mit ihm verbindet er nun eine ſehr wichtige, für das 
Berftändnig aller großen menſchlichen — kulturellen wie künſtleriſchen — 
Entwidelung geradezu umentbehrliche und deshalb durch die Arbeiten der 
jüngiten Hiftorifergeneration (Lamprecht, Breyfig) mittelbar unterftügte Hypo— 
theie. Die Anftedung der Meinungen, der Sitten, die oft plögliche Um: 
ſtimmung ganzer Epochen, die Wirfung des Willens ftarfer Charaktere, der 
Segnungen und Berfluhungen und alles Defien, was heute unter den Begriff 
der Suggeition fällt, find ihm durch die Allfinth vermittelte Wirkungen auf 
den inneren Sinn. Was die Luft für den Schall, der Aether für das Licht, 
ift der feine Fluthftoff für den Gedanken. Vielleicht ift unfer naturwiſſen— 
ſchaftlich eingeengtes Denken durch die felbjt für den Pfahlbürger wunder: 
baren Entdedungen der drahtlofen Telegraphie und der Röntgenftrahlen 
wieder einmal für eine Zeit lang von feiner Banalität und Ueberhebung fo 
weit befreit, daß wir auch diefe Gedanken, "ohne fpöttifch zu lächeln, zu 
erwägen im Stande find. Mesmer hat hier unzweideutig die völlige Durch— 
dringung des Alls mit Geiſt ausgeſprochen. Das ift eine — in Folge 
ihre8 näheren Haftens an dent Gleichniß des BVergänglichen — gröbere 
Form des Pantheismus, als er fich fonft bei Mesmer ausfpridht. Worte 
wie: „Das Wollen des belebten Körpers ift nichts im Weſen Unterfchiedenes 
von dem Fallen des unbelebten“; oder: „Die Moral ift eine unfichtbare 
Phyſik“ drüden feinen tieferen PBantheismus aus. Mit den werthvolleren 
Anfhauungen des Dfkultismus dedt ſich Mesmers Gedanke, daß alle Wefen 
Materialifationen nad innerem Bilde feien; aud die von Mesmer ange: 
nommene Möglichkeit einer Fernerſcheinung, „nachgeformt fogar auch durch 
die bloße Eriftenz der urfprünglichen Form“, ift offultiftifche Anfchauung. Er 
fieht alfo auch in der Thatſache der Exiſtenz, des Daſeins etwas weſentlich 
Anderes al3 die gewöhnliche Auffaffung; nicht einen Zujtand, fondern eine 
fortgefegte und beliebig weit reichende Zeugung. In all diefen mesmerifchen 
Gedanken liegen Werthe für uns, die von der Wahrheit oder Nichtwahrheit 
feiner magnetiſch-mediziniſchen Lehre unabhängig find. 
Weimar. Wilhelm von Scholz. 


v 23* 


308 Die Zukunft. 
Rriegsraifon.*) 
SI‘ Kriege der ältejten Zeit — jo ſchildert Guftav Freytag die geichicht- 
liche Entwidelung — waren auf Austilgung des Gegners mit Weib 
und Kind, auf Aneignung feines Bodens und feiner Habe gerichtet. Aus | 
Eigennug machte man Gefangene; ſonſt tötete man; die gefangenen Sklavinnen 
hatten „feine Ehre“. Noch in der Saiferzeit verfuhren die Römer im 
Wejentlihen fo. Die Germanen zeigten ſich den Frauen gegenüber milder; 
am Wenigften die Franfen, die deshalb getadelt wurden. Allmählih kam 
e8 dazu, daß von Unbewaffneten nur noch die Männer gefangen, daß die 
Gefangenen „geihagt“ wurden; die Sreuzzüge, das Lehnsweſen, das Ritter- 
thum brachten, trog vielen Ausnahmen graufamer Wildheit, doch einen Fort- 
fchritt gegen früher. Neben der reiiigen Schaar hatten ftetS Nefte des alten 
Boltsheered fortgedauert, und als diefe ich in das Landsknechtsheer ver: 
wandelten, alſo etwa zur Zeit Marimilians, fam man wieder eine Stufe 
höher. Eine aus dem übrigen Volksthum gelöfte Berufsorganifation ftand 
der anderen gegenüber. Im eigenen Handwerksintereffe gab man einander 
„Duartier“, verſprach den Weibern und Kindern freien Abzug. Wurde aud 
viel geplündert, fo kauften fi) doch auch viele Städte los. Aufofern die 
Kriegführung fi noch mehr auf Berufsheer gegen Berufsheer bejchräntte, 
hat jelbit der Dreikigjährige Krieg eine gewiſſe Weiterentwidelung zur 
modernen Methode gebradht. Im Uebrigen bietet er freilich fait nur ent: 
jegliche Bilder von Grauſamkeit, Mordluft, Zerftörungluft, auch gegen Nicht: 
fombattanten, Weiber, Kinder und deren Habe; nur Guftav Adolf felbit 
— nicht mehr die Schweden nad) feinem Tode — hielt beffere Mannszudt. 
Auch das Landvolf verwilderte; der Landmann hatte in jedem Soldaten, aber 
auch der Soldat in jedem Bauern den Feind zu fürchten, bereit zu hinter- 
liſtigem Ueberfall, zur Marterung, zum Morde. Nah dem Weitfälifchen 
Frieden erjtarkte das Gefühl für Humanität doch fo weit, daß das Haufen 
der Franzoſen im der Pfalz allgemeinen Abjcheu erregte. Die Meinung 
fejtigte fih, daß den Krieg die ftehenden Heere zu führen haben, während 
der ſeßhafte Bürger arbeitet und fteuert. Schwere Laſten haben auch deutiche 
Armeen auferlegt, aber meift doch folche, die von der Leitung geordnet wurden; 
Roheiten famen vor, aber gegen die gemwollte Zucht des Heeres. Friedrich 
der Große bafirte feine SKriegführung zum großen Theil auf Verpflegung 
und fürjorglich angelegte Magazine. Das wirkte manches Gute, aber auch 
eine gewiffe Gebundenheit, von der Napoleon den Krieg löfte. Große Er: 
prefiungen famen unter ihm vor, namentlich in Preußen. Aber er regelte 
in ganz neuer Weife die Vorbereitung der Kriege, fo des Feldzuges von 





*) S. „Zukunft“ vom 22. März 1902: Deutiche Soldaten in Feindesland. 


| 
——— en — — —— — 
2 — — — = — 


Kriegsratjon. 309 


1805, eben jo des rujfifchen Krieges, durh Sammlung von Vorräthen für 
Bekleidung, Nahrung, Fourage, Wagenparf in nie dagewejenem Umfange. 
Freilich ift der Untergang der großen Armee unter Mitwirkung von Kälte, 
Hunger, Unwegjanfeit, Entbehrungen jeder Art dadurch nicht verhindert 
worden. Für das vorher in der Heimath Erduldete haben die Deutfchen 
1814/15 in Frankreich wenig Vergeltung geübt; diefe Lichtfeite des damaligen 
Krieges darf man wohl Hauptfächlic auf die Durchjegung des Heeres mit 
einer zahlreichen begeifterten, zum Theil gebildeten Jugend zurüdführen. 

Im Ganzen brachten die zwei Jahrhunderte nach 1648 einen fchnellen 
Fortjchritt zur Humanität. In der zweiten Hälfte de3 neunzehnten Jahr: 
hunderts fteigerten ſich die dahin gerichteten internationalen Beftrebungen. 
So im Sanitätwefen, in der Fürforge für Verwundete (Genfer Konvention: 
und in Bezug auf die anzuwendenden Waffen (Verbot der Sprenggeſchoſſe 
aus Handfeuerwaffen). Die grundfägliche Schonung des Privateigenthumes 
im Landkrieg und der Nichtlombattanten wurde zu einem unanfechtbaren 
Sag; auf Achtung des Privateigenthumes zur See wurde wenigitens hin- 
gearbeitet. Die Humanifirung des Kriegsgebrauches erhielt eine Kodififation 
in der — freilich nicht ratifizirten — brüffeler Deklaration von 1874 und, 
auf deren Grundlage, durch die in frifchem Andenken ftehende Haager Kon— 
vention von 1899. Die deutihe Regirung jah ſich damals in der erfreu- 
lichen Lage, erflären zu fönnen, dak von deutfchen Truppen „nach den ges 
troffenen Beitimmungen fehon bisher verfahren ſei“ In der That dürfen 
wir geichichtlich für unfer Vaterland ein Hauptverdienft um den Fortjchritt 
der Schonung im: Krieg beanfpruchen. 

Mit unabwendbarer Nothwendigkeit haben aber diejer Tendenz andere 
Momente entgegengewirtt. Das überjieht man vielfah. Erſtens die un- 
gemein gefteigerte Machtentwidelung der Staaten überhaupt, die Kriege führen, 
ihrer Volkszahl, ihrer Kultur. Das und namentlich das völlig geänderte 
Transportwejen, Eifenbahnen und Dampfichiffe, führt zur Aufftellung von 
unvergleichlich jtärferen Heeren und zu ungeheurem, im Felde häufig doch 
nicht geordnet zu befriedigendem Bedarf für Menjchen und Thiere. Man 
hat für einen Aufmarfh mit 1 Million Menfchen und 300000 Pferden 
auf drei Wochen eine Erfordernig von 2 Millionen Centnern (ohne Heu und 
Stroh) berechnet. Gefteigerter Wohlftand nnd Kultur, die weit feinere Ver: 
äftelung aller wirthichaftlichen Verhältniſſe jind aber auch viel empfindlicher 
gegen jede Abweichung vom friedlichen Zuftande. Ferner jind die technifchen 
Zerftörungmittel in ungeahnter Weife vervolltommnet und fein Staat fann 
es unterlaffen, von den wirkſamſten Gebrauch zu machen. Bejonders wichtig 
ift, dak im Kreislauf der Gefchichte die Seriege wieder mehr den Charakter 
von Bolkäfriegen angenommen haben. 





310 Die Zukunft. 


Das nationale Bewuftjein, die Gebundenheit an Macht, Gröfe und 
Ehre des eigenen Staates haben eine Intenſität gewonnen, die den vorher: 
gehenden Jahrhunderten unbefannt war. Die Gefchichte wird gefälfcht, wenn 
jest vielfach dem Dynajten, dem Feldherrn, dem Bürger oder Soldaten des 
achtzehmten und noch früherer Jahrhunderte preußischer oder gar deutfcher 
Patriotismus, wie wir ihn verjtehen, in den Mund gelegt wird; man denfe 
an den Großen Hurfürften, der ſich von Frankreich bezahlen lien. Heutzu— 
tage empfindet der deutſche Fürft, empfindet jeder Deutjche als einen Schimpf 
die finanzielle Abhängigkeit von einem fremden Staat, die Förderung von 
defien Zweden gegen Entgelt. Jeder Einzelne empfindet den Friegerifchen 
Erfolg gegen den eigenen Staat als eine ihn perfönlich mittreffende Beein- 
trächtigung der nationalen Ehre und Wohlfahrt.. Jeder fühlt ich verpflichtet, 
nad Kräften, wenn irgend möglich mit der Waffe, an der Abwehr theil- 
zunehmen. Daß „jeder Staatsbürger“ Widerftand leiften ſolle, wie Scharn: 
horft und Gneifenau wollten, daß „hinter dem Ofen“ nur „erbärmliche Wichte* 
bleiben, wie Körner fang, war damals etwas Neues, ijt aber feit den Freiheit: 
kriegen immer allgemeiner ins Bewußtſein gedrungen, gilt jet nicht nur von 
Deutfchen, fondern mindeitens auch von Franzoſen, Italienern und würde doch 
wohl auch von Briten gelten, jobald es ſich nicht um einen Kolonialfrieg, 
fondern etwa um einen zwiſchen großen europäifhen Mächten handelte. Dies 
Gefühl ift weſentlich mitverbreitet durch die allgemeine Wehrpflicht, aber 
nicht unbedingt an deren bereitS erfolgte Einführung gebunden. Es führt 
dazu, daß auch auferhalb der organifirten Truppen viel aktive und pajjive 
Feindjäligkeit fich zeigt, namentlich im von der Invaſion betroffenen Lande, 
daß neben jenen Truppen oder nach deren Erjchöpfung weniger organilirte, 
von den Nichtfombattanten ſich nicht jcharf abhebende Gruppen Widerftand 
leiften. Auch die Frauen markiren den Abjcheu gegen den Landesfeind. Es 
wird vielfach zur Ehrenfache für jeden Einwohner, den Anordnungen, Re: 
quifitionen, militärischen Maßregeln des Feindes möglichit Abbruch zu thun, 
und foldyes Streben muß wieder geiteigerte Strenge und Härte hervorrufen. 
Neben oder nad) dem großen Kriege entbrennt der Kleine, die Guerilla, die 
nicht blos mit den ſonſtigen Mitteln der Taktik und Strategie arbeitet, fondern 
die Tendenz hat, mit längerer Dauer auch an Graufamfeit zuzunehmen. 

Trog Alledem würden wir, bei dem im Ganzen doch offenbaren ort: 
ichritt, nicht jo viel von Sriegsgräueln hören, wenn ſich nicht die Feinfühlig- 
feit gefteigert hätte. Das kann gar nicht oft genug betont werden, hier wie 
auf anderen Gebieten, zum Beifpiel auf dem der riminalität. Die Menjchen 
werden nicht Schlechter: fie halten ſich für Schlechter, weil fie weicher empfinden. 
Des Krieges Wejen aber ift harte Gewaltthat. 

„Im Kriege geichehen die ſchlimmſten Irrthümer aus Gutmüthigteit. 














striegsraifon. 311 


Wer gewaltthätiger iſt, iſt jtärfer.“ Noch einmal ſtehe hier das Wort von Clauſe— 
witz, dem großen Theoretiler des Krieges; ſelbſt der Laie muß einſehen, daß er 
Recht hat. Man mag ſtreiten, ob Kriege nothwendig, ob fie nüßlich find; aber 
wenn Kriege find, müſſen fie jo geführt werden, daß möglichft Schnell möglichit viel 
Schade an Leben, Leib, Sachen zugefügt wird. Daß die Seele des Feldherrn 
weihmüthigen Regungen unzugänglid) fein muß, hat Colmar von der Golg tief: 
tend dargejtellt. Der Feldherr, der am Nachmittag die entiprechenden Meldungen 
erhält, muß ſich bis zum Abend entfchliefen können, morgen fünfzigtaufend 
Menfchen feines Volfes hinzuopfern, wenn er davon einen entfcheidenden Sieg 
erwarten darf. Welche ungeheure Entichliefung: eine halbe Million Frauen, 
Kinder, Eltern, Geichwifter unmittelbar betroffen, ein furchtbarer Aderlaß in die 
blühendite Volfskraft hinein, Millionen weggeworfen, die für Aufzucht diefer 
Menjchen aufgemwendet find, Millionen verloren, die fie in den produftivften 
Jahren einbringen follten! Der General, der eine befeitigte Stadt zu halten 
oder anzugreifen hat, muß Tod, Wunden, Siechthum fogar über Taufende 
von Frauen und unfchuldigen Kindern bringen, muß ihre Leiden mit anfehen, 
ohne weich zu werden. In der Nothwendigfeit diefer Härte giebt es feinen 
Unterfchied zwischen Deutfchen, Franzofen, Engländern, Ruſſen; die Taufende 
von Müttern, die in Paris ihre Kinder in Folge der Entbehrungen dahinſchwin— 
den ſahen, haben den Deutichen eben jo geflucht wie die Burenmütter den Briten. 
Man mag den erften Napoleon haſſen, Moltke lieben: jene Feldherrn-Eigen= 
Schaft beſaß der Deutiche jo gut wie der Korſe. Auch der Staatsmann, deſſen Poli: 
litik durch das Schwert ja nur fortgejetst werden ſoll, muß ſolcher Härte fühig fein. 
Bismard war es und mußte es fein; er ift in die drei Kriege nicht hineingeglitten; 
er wußte vorher, daß er Blut und Eifen brauchen würde. Er hat die Verantwort— 
lichfeit auch nicht abgelehnt; noch viel Später Laftete fie gelegentlich auf feinem 
jtarfen Herzen, wenn er am varziner Kamin der Hunderttauiende gedachte, 
die feinem Lebensmwerf geopfert werden muRten. Doc war jelbft Napolcon 
Regungen nicht unzugänglich, die man fentimental fchelten möchte; der General 
Marbot erzählt, wie der Kaiſer einen feindlichen Unteroffizier, der lich züh 
und unerjchroden auf einer Eisicholle treibend hält, gerettet fchen will, wie 
Marbot und ein anderer franzöfischer Offizier fich ausziehen und mit größter 
eigener Gefahr den Braven aus dem Treibeis jchwimmend herausholen. 
Aber der felbe Kaiſer beſann sich feinen Augenblid, als Tauſende flichender 
Feinde auf der feiten Eisfläche jich befanden, dieſes Eis durch Artilleriefeuer 
ſprengen zu laſſen und jene Schaaren vor feinen Augen mit grauſigem Tode 
verzweifelt und hoffnunglos fümpfen zu ſehen. Und er handelte recht. 

| Man ftreitet nicht darüber, dat gegen fämpfende Soldaten das Streben 
nur auf möglichit ſchnelle und umfaffende Vernichtung gerichtet fein kaun. 
Die Beichränfungen, die man hierbei aus Humanität für die Kampfmittel 


312 Die Zukuuft. 


ſtatuirt, find mehr oder weniger willfürlich und können auf immer gejicherte 
Geltung jchwerlich beanjpruchen. Aus Handfeuerwaffen jollen Sprenggeſchoſſe 
nicht gefeuert werden: Das ijt gerechtfertigt, wenn und fo lange ein Geſchoß 
in der Regel nur einem Leibe gilt und dafür mehr als ausreichend ift. Sonſt 
wäre nicht abzufehen, weshalb man aus einem großen Lauf mit einem Schuß ein 
Dugend Menſchen zermalmen darf, aus einem Heinen nicht. Das haager 
Verbot, aus Luftballons Sprengftoffe zu fchleudern, hat ſchon Schaeffle an: 
gefochten; mit ihm darf man vermuthen, dat eine Armee oder Marine, die 
ganz neue oder überlegene Mittel des Kämpfens aus der Luft befähe — 
was ja heutzutage leicht eintreten mag —, diefen Vorſprung jchwerlich unbe- 
nugt laffen dürfte. Die Haager Konvention verbietet Alles, was „überflüfiige 
Schmerzen“ erzeugen kann. Ferner Gift und vergiftete Waffen. 

Der feindliche Soldat, der die Waffen gejtredt hat, ſoll gefchont werden. 
Das preußische Militär-Strafgejegbuh von 1845 fchügte feinen Leib noch 
ausdrüdlich, das deutiche von 1872 hält eine befondere Vorſchrift nur noch 
in Bezug auf die Sachen der Gefangenen für nöthig. Aber die Leute müſſen 
auch mit Erfolg bewacht, jie müffen transportirt, ernährt und unter lm: 
jtänden bekleidet werden. Da fönnen Konflikte zwiſchen anerfannten Huma— 
nitätpflichten und dem eigenen militärifchen Intereſſe leicht entitehen. Bei 
zu fürchtenden Schwierigkeiten ift man naturgemäß weniger geneigt, Öefangene 
zu machen. Iſt die Menge der Nahrungmtittel jehr bejchränft, jo muß die 
Erhaltung der eigenen Leute voranfiehen. Die Franzojen verabfolgten in den 
Nevolutionfriegen einmal mehreren taufend gefangenen Defterreichern längere 
Zeit täglich nur je ein Achtelpfund Fleifh und ein Achtelpfund Brot. Das 
heißt beinahe, langjam verhungern laſſen, kann aber durch die Umſtände ent— 
Ihuldigt werden. Auch nad Sedan fonnten die Lager der Gefangenen nicht 
jofort genügend verforgt werden. In fünftigen Sriegen mag bei den unge: 
heuren Zahlen Schlimmeres pafjiren. Die größten Fortfchritte gegen früher 
find im der Behandlung Verwundeter gemacht. Man freut jich Deſſen, ohne 
zu überfchen, welche merkwürdige Anomalie darin liegt: phyifche Kraft, tech: 
nische Hilfsmittel, Intellekt, Geldbeutel aufs Aeuferjte anzufpannen, um 
Tauſende zu jchädigen, und gleich darauf die gleichen Anftrengungen zu 
machen, um fie zu pflegen und zu heilen. 

Wer aber ift als feindlicher „Soldat“ zu behandeln? In Fällen wie 
dem amerikanischen Sezeflionkriege, bei farlijtifchen Unruhen, Erhebung der 
füher türfifchen Provinzen und Bafallenftaaten und anderen fragt ih, ob 
die Nechte Kriegführender zuzubilligen find oder ob gegen Aufrührer, neben der 
Niederwerfung im Kampf, auch jtrafrechtliche Mittel zur Anwendung fommen 
jollen. England hat bei Beginn des jegigen Srieges gegenüber der Süd— 
afrikanischen Republik, trog der aus früherem Bertrage beanjpruchten 








Kriegsraiion. 313 


Suzerainetät, dieje Frage nicht aufgeworfen. E3 kann aber weiter zweifel: 
haft werden, wann der paflive Kriegsitand aufhört, namentlich, nachdem der 
eine Staat zur Annerion gefchritten ift. Wenn wir 1870 die Welfenlegion 
im Felde getroffen hätten, wäre ihr jicher nicht das Recht auf gleiche Be— 
handlung wie franzöftfchen Soldaten eingeräumt worden. Wird der ganze 
feindliche Staat vernichtet, ift gar feine orgamijirte Gewalt da, mit der Friede 
geichlofjen werden könnte, jo ift befonders fraglich, warn der pafiive Kriegs— 
ſtand aufhört. Man kann es vom völfer- und ftaatärechtlichen Stand: 
punft ſchwerlich billigen, dat England den weiter fämpfenden Freiltaatern 
und Transvaalern jest Verbannung und andere Nachtheile androht, nur weil 
Bioemfontein und Pretoria feit längerer Zeit erobert find und die Annerion 
proflamirt it. Denn der Krieg hat inzwiichen ununterbrochen fortgedauert, 
weite Landftriche find noch nie von den Engländern bejegt geweſen, andere 
wieder aufgegeben. Wenn aber das Kämpfen für Monate oder Jahre ganz 
aufhörte, die englifche Negirungsgewalt fih im ganzen Lande wirfiam be: 
thätigte und dann wieder Burentruppen im Felde erjchienen, wäre es eher 
berechtigt, die Analogie einer Rebellion anzuwenden. 

Nicht ohne Zufammenhang damit ift die Frage, wie die Kombattanten 
befhaften fein müflen, um als Soldaten behandelt zu werden, alfo mit An— 
ſpruch auf Schonung und Straflofigfeit außerhalb des Gefechtes. Da ift 
es wohl berechtigt, wenn der Feind gewiſſe Anforderungen ftellt: Auftrag 
berufener Gemwalten, Organifation, fenntliche Uniform, die ftändig getragen 
wird. Er fann ich nicht der Gefahr ausjegen, dar Leute, die ſich als fried- 
liche Bürger geben und behandeln laſſen, jeden günftigen Augenblick benugen, 
um ihm feindlich zu wirken, durch Ueberfall, aus dem Hinterhalt, in Quar— 
tieren, gegen jchwächere Truppg, gegen Transporte und Transportmittel, gegen 
feine rüdmwärtigen Verbindungen. Ein Srieg mit wirklich allgemeiner, 
militärisch nicht orgamifirter Volk3erhebung muß nothwendig graufam werden. 
Dean kann ein Volk, das fo aufiteht, bewundern, man kann entſchloſſen fein, 
dies unveräufßerliche Necht gegebenen Falles felbit auszuüben, — aber man 
ſoll fih flar fein, dar eine ſolche Bevölferung, wie Felir Dahn richtig jagt, 
dann auf Schonung verzichtet. Wo ſich Anſätze dazu zeigen, werden die 
Gefangenen hingerichtet oder doch ſonſt ſchwer beitraft; ihr wie ihrer Ange: 
hörigen und ihrer Gemeinden Eigentum wird zeritört oder eingezogen, 
ein Vernichtungsfrieg entbrennt, das Feuer muß alısgetilgt werden. In 
diefem Sinn, wenn auc recht gemäßigt und mild, haben auch die Deutichen 
in dem Striegsabjchnitt nach Sedan gehandelt. Sie haben, wie Dahn jagt, 
die Repreſſion faltblütig veglementirt ; und darin lag ein Fortfchritt gegen früher. 

Merkwürdiger Weiſe beantragten auf der Konferenz im Haag — id 
folge Schaeffles Bericht in feiner Zeitichrift — die Engländer eine dem 





314 ! Die Zuhmft, 


„Vollskriege“ günftigere Vorfchrift: die Bevölferung eines nicht bejegten 
Gebietes, die beim Herannahen des Feinde8 aus eigenem Antrieb zu den 
Waffen gegriffen hat, ohne Zeit zur militärifchen Organifation zu haben, als - 
„Friegführend“ zu betrachten, ſofern fie die Gefege und Bräuche des Krie— 
ges achtet. Nachdem fich der deytiche und der jchweizer Vertreter dagegen 
ausgeiprochen, andere beigeitimmt hatten, wurde der Antrag zurüdgezogen. 
War er jentimentaler Erinnerung an vermeintliche Grauſamkeiten der Deutfchen 
entfprungen oder dem Bewußtſein, wie wichtig für das nfelreih im Fall 
der Invaſion, bei feinem ſchwachen Heer, eine Volfserhebung werden könnte? 
Jedenfalls hat e8 ſich gefügt, daft unmittelbar darauf England in Krieg mit 
zwei Staaten verwidelt wurde, im denen ein eigentliche® Heer gar nicht 
beitand, aber jeder Bürger, vom zarten Knaben bi8 zum reis, bereit und 
fähig ift, zu fämpfen. Ballten zu Anfang die Bürger ſich zu organilirten 
Truppen zuſammen, jo laufen jie doc jest häufig auseinander und ver- 
einigen ich wieder, fämpfen auch in ganz feinen Gruppen, tragen feine 
Uniform, find heute Bauern, morgen wieder Kombattanten. Es ift anzu— 
erfennen, dat dadurd die Kriegführung außerordentlich erſchwert wird; es 
ift zu vermuthen, daß auch andere Staaten aus diejem Grunde zu ftrengeren 
Mafregeln außerhalb des Gefechtes jchreiten würden. Mean ftelle jich vor, 
dak wir künftig einmal in Frankreich, nach Niederwerfung des eigentlichen 
Heeres, Feindfäligfeiten gegenüberftänden, wie fie jet die Buren betreiben! 
Auf der anderen Seite ift nicht zu vergeſſen, daß die beiden jugendlichen 
Staaten, Dafen einer werdenden Kultur, mit ihrer ganzen Exiſtenz nur auf 
jene Art der Landesvertheidigung balirt waren. 

Wer von den Eimwohnern fich nicht feindlich bezeigt, wird auch nicht 
als Feind behandelt. Ausgenommen find aber nicht nur Alle, die von den 
Warten Gebraud; machen, jondern auch Alle, die den Feind unterftügen durch 
Nachrichten, durch Verſchaffung oder Berbergen von Kriegsmitteln, VBorräthen, 
durch Schädigung militärifher Einrichtungen u. ſ. w. Nah 8 91 des 
Strafgefegbuches ijt gegen Ausländer wegen der Handlungen, die, von 
Deutichen begangen, Landesverrath jind, „nad dem Kriegsgebrauch“ zu 
verfahren. Der Landesverrath im Felde ift Sriegsverrath, deilen Begriff 
aber auf die eben erwähnten feindlichen Handlungen erweitert; wer auf dem 
Kriegsichauplag ſich folder Handlungen ſchuldig macht, wird mit dem Tode oder 
mit Zuchthaus beftraft (Militäritrafgefegbuch $ 160) und nah $ 161 gelten 
alle deutichen Strafgefese aud) gegen Ausländer in befestem Gebiet zum 
Schuß deutfcher Truppen und Behörden. 

Die Einwohner find auch vorbeugenden polizeilichen Maßregeln unter: 
worfen. Es ift Mar, dan die Ordnung in Hriegszeiten, in befegtem Feindes- 
land mit beionderer Strenge aufrecht erhalten werden muß. Die erforderlichen 





Kriegsraiion. 315 


Einjhränfungen der Bewegungfreiheit, des Handels und Gewerbes können 
fehr weitgehend jein, ohne dag der Vorwurf unnöthiger Härte begründet 
wäre. Sie werden um jo ftrenger fein, je mehr auf der Seite des offupirten 
Staates der Krieg fih dem Volfsfrieg nähert. Auch Austreibung aus den 
MWohnftätten und Internirung kann erforderlich werden. Noch heute fpricht 
man hier mit Abjcheu davon, wie Ende 1813 Davout mehr al3 dreißig— 
taufend Menſchen aus Hamburg vertrieb, wie ein großer Theil davon fchonunglos 
der Kälte und dem Hunger ausgejegt wurde. Aber grundfäglich verzichten 
auf ſolche Befugnik kann fein Staat. Zunächſt nicht für die Zwecke des 
Sefechtes. Ferner bei auszuführenden oder auszuhaltenden Belagerungen. 
Aus Rüdiichten der Uuartierbefhaffung, der Verpflegung, der Hygiene, die 
im Kriege jchärfere Maßnahmen erfordern kann als im Frieden. Dan 
ſtelle ſich vor, daß 1866 die ausgebrochene Cholera noch mehr ich verbreitet, 
der Krieg mehrjährige Dauer angenommen und eine Truppenanhäufung in 
Landftrihen Böhmens nöthig gemacht hätte: gewiß hätte man anftandlos 
zu den militäriich räthlichen Berjchiebungen der Civilbevölferung gegriffen. 
Das Selbe gilt, wenn man auf feine andere Weile die Einwohner hindern 
fann, dem Feinde fortlaufende Nachricht über die eigenen Operationen zu geben 
oder folche jonjt zu ftören. Namentlich aljo, wenn man mit verhältnißmäßig 
ſchwachen Truppen ein weites Gebiet in Ordnung halten fol. Rekruten 
aus dem befegten Gebiet auszuheben, ift gänzlich abgefommen, während 
man früher ja häufig genug gefangene Eoldaten fogar in das eigene Heer 
jtedte. Wohl aber darf man die Geftellung von Mannjchaften aus dem 
offupirten Terrain für die feindliche Armee verbieten und Zuwiderhandlungen 
jtrafen. Die Engländer in Südafrifa haben jetzt die eigenthümliche Modi: 
fifation eingeführt, dat fie einen Neutralitäteid jchwören laſſen und deilen 
Bruch ftrafen. Jeder Krieg, ſagte Dahn jchon 1871 richtig, bildet fein 
befonderes Strafrecht aus, je nach den Berhältniffen. 

Ueberhaupt wird man die Gefete des beſetzten Landes fo weit in Kraft, 
defien Eivilbehörden fo weit in Funktion laſſen, wie e8 das eigene militäriſche 
Interefie geitattet; sauf emp&chement absolu, fagt die haager Konvention. 
In Frankreich wurden deutſche Präfekten eingejegt, dagegen die vorhandenen 
Cofalbehörden, wenn e3 möglich war, belaflen; durch ihre ortsfundige Ver- 
mittelung juchte man dem militärifhen Bedürfniß zu genügen. 

An unbeweglichen Gütern des Feindesitaates wird nur die Nutznießung 
beansprucht. Nach einer haager Beſtimmung follen dem Kultus, Unterricht, 
der Wohlthätigfeit, der Kunſt oder Wiflenjchaft gewidmete Gebäude wie 
Privateigenthum behandelt werden. Bewegliches Staatseigenthum kann be— 
ſchlagnahmt werden. Ob und wie weit Provinzen, Gemeinden und andere 
offentliche Verbände in dieſen Beziehungen dem Staat oder den Privaten 


316 Die Zukunft. 


gleichgeftellt werden, fcheint nicht vecht feitzuftehen. Man darf wohl zur 
Analogie mit Privaten neigen. Aber Nequiüitionen, Beitreibung militärifcher 
Bedürfniffe, au ohne Bezahlung, richten fi) naturgemäß vorzüglich gegen 
Gemeinden, Kreife und ähnliche Verbände. Die Requifitionen einzufchränten, 
ind die Staaten heutzutage bemüht. Schon zu Anfang des neunzehnten 
Jahrhunderts follen die Engländer in Amerika, im Krimkriege die Weftmächte 
gar nicht requirirt haben; auch die Maasarmee nicht feit Dftober 1870. 
Ganz verzichten darauf kann fein Heer. Trog den beften Vorkehrungen für 
Nachſchub von Bedarf jeder Art, trog umjichtigem freiwilligen Anfauf fannı 
zwingender Mangel eintreten. Je wohlhabender und leiftungfähiger daS be— 
jegte Land, defto weniger darf dann die Beitreibung unterbleiben. Im Inter— 
eſſe beider Gegner empfichlt fich, dabei peinlich auf Ordnung zu halten; alio, 
wenn möglich. Baarzahlung, mindeitens Quittung über Empfang der Sachen, 
ftrenge Mannszucht bei der Ausführung und Regelung der Kompetenz für 
die Anordnung. Diefe gebührt, fo weit Truppen im Berbande liegen, dem 
Höchftlommandirenden oder bedarf doc) feiner Delegation an andere Stellen. 
1870 foll bei ung die Vorschrift beftanden haben, daß die Befehlshaber kleinerer 
detachirter Corps nur Xebensmittel, andere Gegenjtände — Bekleidung, Lazareth- 
material, Geräthe, — nur Generäle ausfchreiben durften. Es ift Mar, dar 
Ausnahmen zuläflig fein müſſen. Iſt dringender Mangel, Gelegenheit zur 
Abhilfe, keine Zeit und Gelegenheit zum Inſtanzenzug oder nah den Um: 
jtänden die Genehmigung zu erwarten, jo darf und muß jeder Regiments-, 
Bataillon:, Compagnie: Kommandeur auf eigene Verantwortung requiriren. 
Im Haag ift die Beitimmung durchgefegt worden, die Requilitionen müßten 
„in angemeflenem Berhältnin zu den Mitteln des Landes“ bleiben. Ziemlich 
nichtsfagend. Auch für Komtributionen ift eine Einengung ohne jonder: 
lichen Erfolg verfucht worden. Die Zuftändigfeit wäre hier freilich möglichit 
auf die höchiten Stellen zu befchränfen. 

Das Privateigenthum ift im Prinzip umverleglih. Das ijt für den 
Landfrieg anerfannt. Eine Ausnahme ergab fich bei den Nequifitionen; eine 
fernere bejteht für die militärischen Bedürfnifje des Angriffe und der Ver— 
theidigung. Dann für Privaten gehörige Sriegsmaterial, Telegraphen, 
Telephone, Kabel, Eifenbahnen, Schiffe; doch joll Alles nah Schluß des 
Krieges zurüderftattet werden. Diefe Ausnahmen genügen aber woch nicht; 
man muß formmliren: Auch das Privateigenthum darf angegriffen werden, 
jo weit e8 für die Zwecke des Krieges erforderlich ift. 

Der humane Fortfchritt, den man erreicht hat, beiteht alfo darin, daß 
man die Umverlegbarfeit zur Regel, das Gegentheil zur Ausnahme gemacht 
hat. Daß man micht boshaft oder muthwillig jchädigen darf; auch nicht zu 
dem Zweck, durch Schädigung der Einzelnen die Gelammtfraft zu ſchwächen 





. a j 
— En — — — — ö— — r— — — 4 ar 2 


Zr run — 


Kriegsraiſon. 317 


Daß weder der beſetzende Staat noch ſein Heer, im Ganzen oder in Theilen, 
noch der Einzelne aus dem Privateigenthum Gewinn für die Zukunft, für 
das ſpätere Leben ſuchen darf. Endlich, daß die Schädigung des Landes— 
einwohners nicht ganz außer Verhältniß zu dem dadurch geſchaffenen Nutzen 
ſtehen ſoll. Um unnütze Bedrückung zu vermeiden, wird man, auch im 
Intereſſe der eigenen Disziplin, dafür forgen müfjen, da nicht Jeder fordern und 
erzwingen darf. Aber die Grenzen find hier naturgemäß ſchwankend. Nicht 
wegen jeder Einzelheit fan im Quartier der höhere Vorgeſetzte beläftigt 
werden. Der Soldat ijt im Kriegsquartier, namentlich aud) auf dem Marſch, 
berechtigt, fich ſelbſt zu Helfen. Und ihm fol möglichft Gutes, nicht nur das Aller— 
nothwendigjte, gewährt und, fo weit e8 angeht, Abwechfelung verfchafft werden. 

Buftav Freytag giebt einige Beifpiele: Es ift tadelnswerth, wenn ein 
höherer Befehlshaber allen Champagner der Stadt für feinen Stabstifch cin- 
fordern läßt. Es ijt berechtigt, für eine zu veranftaltende Feſtlichkeit auch 
eine bejondere Ruruslieferung zu verlangen. Der Hauptmann fchidt ein paar 
Leute ins Nahbardorf, um ein Fat Bier für die Compagnie zu holen: Das 
ift berechtigt, aud) als Zwangskauf. Darf man aber zum Transport des 
Faffes einem Meinen Bauern Wagen und Pferde nehmen, die er vermuthlich 
nicht zurüderhält? Die Beifpiele laffen ſich leicht vermehren. Es wäre frevel: 
haft, eine Kuh mitzunehmen, um Milch zum Kaffee zu haben; anders, um 
dringendem Fleifhmangel abzuhelfen. In einem herrfchaftlichen Haus wird 
man für die Mannfchaften nur die befcheideneren Räume beanfpruchen. Wo 
Frauen und Kinder von Noth bedroht jind, wird man das eigene Bedürfniß 
leichter hintanfegen. Im wohlhabenden, noch nicht ausgejfogenen Bezirk ver: 
langt man mehr als im armfäligen u. ſ. w. Auch die Induſtrie des feind- 
lihen Landes kann benugt werden, wie es in Tours gejchah. 

Das deutſche Militärftrafgefegbuch ändert am Thatbeftande des Raubes, 
Diebftahles, der Sachbeſchädigung auch bei Begehung in Feindesland nichts. 
Es definirt den Begriff der „Beute“ nicht; daher gilt der Sat des Völker— 
rechtes, wonach dem Beuterecht nur feindliches Staatsqut, Waffen, Bferde 
und Ausrüftung der feindlichen Soldaten unterliegen und 8 Regal ift. Das 
Strafgejeß bedroht die eigenmächtige Entfernung von der Truppe, um Beute 
zu machen, das eigenmächtige Aneignen von Sachen, die an ich dem Beute: 
recht unterworfen find, die rechtswidrige Zueignung rechtmäßig erbeuteter, 
aber abzuliefernder Sachen. Es ftraft wegen Plünderung Jeden, der „im 
Felde unter Benugung des Kriegsichredens oder unter Mifbraud feiner 
militärifchen Leberlegenheit, in der Abficht recht3widriger Zueignung, Saden 
der Landeseinwohner offen wegnimmt oder ihnen abnöthigt oder unbefugt 
Kriegsihagungen oder Zwangslieferungen erhebt oder das Maß der von ihm 
vorzunehmenden Requifitionen überfchreitet, wenn Das des eignen Vortheiles 


318 Die Zukunft. 





wegen geſchieht.“ „Als eine Plünderung iſt es nicht anzuſehen, wenn die 
Aneignung nur auf Lebensmittel, Heilmittel, Bekleidungsgegenſtände, Feuerung— 
mittel, Fourage oder Transportmittel ſich erſtreckt und nicht außer Verhältniß 
zu dem vorhandenen Bedürfniß ſteht.“ Es bedroht ferner „boshafte oder 
muthwillige Verheerung oder Verwüftung fremder Sachen“ und das Maro- 
diren, „Bedrüdungen“ der Landeseinwohner durch Nachzügler. Ganz durch- 
fihtig und vollftändig ift der Abfchnitt nicht. Auch für das Bürgerliche Gefeg- 
buch ift die Regelung des Beuterechtes abgelehnt (Motive zu $ 903 Entw.). 
Befonders zweifelhaft ift, was in verlaflenen Ortfchaften oder Häufern 
genommen werden darf. Es ift wohl richtig, daß das Mobiliar der Gebäude 
um Paris, um Mes nicht als „herrenlos“ im juriftifchen Sinn gelten konnte; 
die Eigenthümer hatten nicht die „Abficht, auf das Eigenthum zu verzichten“ 
($ 959 B. G. B.). Sie hatten nur nothgedrungen ihre Sachen den Wechiel: 
fällen des Krieges preisgegeben. Bei Dingen, deren Verluſt, Zeritörung, 
Berderb nad) menschlichen Ermeſſen jicher ift, mag man Dereliktion annehmen. 
Im Allgemeinen ift alfo theoretifch wenig Unterfchied von bewohnten Stätten. 
Aber praftifch geftaltet fich das Verfahren doch ganz anders. Das immer— 
hin weitgehende Recht der Befriedigung von Bedürfniffen des Krieges und 
der Truppen wird hier ohne Ortskenntniß, ohne Unterftügung durch mit den 
Dingen Bertraute, nach eigenem Ermefjen ausgeübt. Kauf gegen Bezahlung 
ift ausgeſchloſſen, geordnete Nequifition eben fo. Auswahl und Schonung 
erjcheinen vielfach zwecklos, da das Ganze doch verkommen wird. Der Soldat 
vor Paris war daher in feinem Recht — iſt nicht nur „schonend zu beurtheilen“, 
wie Freytag meint —, wenn er fein Quartier angemeſſen möblirte, die vor: 
handenen Brennmaterialien verbrauchte, nach deren Erſchöpfung mit Zaun- 
ftüden und fchlieflich mit Möbeln heizte, die Konfiturenbüchfen und die Wein- | 
flafchen leerte, Strümpfe und Unterzeug anzog, die Deden mit auf Borpoiten | 
nahm. Unehrlich blieb die Wegnahme einer Bufennadel, eines Bildes zu 
eigenem Vortheil. Unehrlich, wenn auch entfchuldbarer, felbit dann, wenn das 
Haus niedergebrannt werden ſollte. Bei Sachen, die dem Bedarf des Tages 
dienen, zieht die Grenzen das Intereſſe der Disziplin und der etwa am jelben 
Ort nachfolgenden Truppen. Das ift jehr wichtig und wurde 1870/71 
nicht immer genügend beachtet; man fam manchmal in Dörfer, die durch 
Bergeudung, Unordnung, Unfauberfeit früher Einquartirter mehr als nöthig | 
verwahrlojt waren. Die größere oder geringere Zahl der Webergriffe giebt | 
den Maßſtab für Bildung und Gelittung des Heeres. 
Im Begriff und Wefen des Strieges liegen die Rüdfichten der Huma— 
nität am Sich nicht. Holgendorf lehrt: „Ale Mittel, die erfahrunggemär 
auf die Erreichung der Endzwede von erheblichem Einfluß find, erfcheinen 
als gerechte Mittel des Krieges, fogenannte Kriegsraifon. Und umgekehrt: 





— urn — — — en ————⸗ - ” Be 


Kriegsraifon. 319 


verwerflich find die Alte der Zerftörung, die unwejentlih oder erfahrung- 
gemäß unwirkſam erfcheinen für die Beendigung des Krieges oder gegen 
Perfonen gerichtet jind, deren Berlufte ohne Einfluß find auf die friedliche 
Entjchliefung der Staaten.“ Das führt nicht viel weiter. Jede Stärkung 
der eigenen Kraft bei Einzelnen oder dem Ganzen, jede Schwächung der 
einzelnen Glieder oder größerer Verbände des feindlichen Staates ift erheblich 
für Erreichung des Kriegszweckes. Ganz unzweifelhaft können Gewaltthaten 
gegen Einwohner, Zerftörung des Privateigenthumes, Verheerung des Landes 
jehr großen Einfluß auf defien Entſchluß zum Frieden üben. Man kann 
mittelbar wie unmittelbar auf den Willen wirken; und ihn zu beugen, iſt ja 
das militärische Ziel. Auch in der Schlacht ift befiegt, wer ſich beſiegt fühlt. 
Gejteigertes Elend des Landes fann die Negirung ſehr wohl zum Nachgeben 
bringen. Man ftelle fi vor, England habe zu Haufe fein brauchbares 
Heer mehr, alfo dort feine Schlachten, aber Invaſion zu erwarten: wird nicht 
diefe Eventwalität weniger auf den Entſchluß zum Frieden wirken, wenn 
feititeht, daß die feindlichen Truppen ideale Mannszucht halten, in die Civil: 
verwaltung faum eingreifen, das Privateigenthum jfrupulös jchonen werden? 

Beltimmte Ausnahmen von der zerftörenden Tendenz des Krieges 
haben fich im Laufe der Zeiten herausgebildet. Er bleibt trogdem „ein roh 
gewaltfam Handwerk.“ Bismard hat mehr als einmal von Fällen geiprochen, 
wo dag saigner A blanc des Erbfeindes nöthig wird; debellare, Vernichten, 
auch mit Hilfe Jahre langen Drudes, kann durch die höchite Staatspflicht der 
Selbftbehauptung erfordert werden. Der Feldherr kann jich gezwungen jehen, 
eine „wüſte Zome* zu jchaffen, aus einem größeren oder kleineren Bezirk die 
Menschen wegzuführen, die Häujer dem Erdboden gleich zu machen, Vieh, 
BDorräthe, Ernte zu zeritören. Das iſt verwerflich, wenn es unnöthig, wenn 
es nicht von erheblichem Nugen für den Kriegszweck ift; darüber enticheidet 
das in all diefen Dingen jehr weite Ermeſſen der Führer. Es ijt aber 
nicht deshalb verwerflidh, weil es unſäglich hart iſt. Der Krieg foll und 
muß hart jein. Weihmüthige Führung würde die Kriege vervielfältigen 
und verlängern. Iſt der Krieg gerecht, jo iſt auch die Härte gerecht. 

Und in ihrer Weisheit hat die Vorjehung den Völkern die Gabe ver: 
lieben, daß fie ftetS die eigene Sache für die gerechte halten. Der Ruſſe 
glaubt an die Weltmifjion des Slaventhumes, der Engländer an das ge: 
ſchichtliche Recht auf Erhaltung de8 Empire, bedingt durch Erhaltung der 
Herrfchaft in Südafrika, die von deu Burenrepubliden bedroht fei. Der 
Deutfche gedenkt mit Ehrfurcht des frevelhaft ihm aufgezwungenen Krieges 
von 70/71, der Franzofe beweift urkundlich, dar Bismard die fpanifche 
Kandidatur abiichtlich gerade zur Herbeiführung des Krieges angezettelt hat... 

Altona. Dr. Julian Witting. 


% 


320 Die Zukunft. 


Die Tadelloje. 


© chon wenn ich jie anjehe, erjtarre ich, wird mir falt ums Herz; fie braucht 
SS nicht einmal zu jprechen, nicht einen ihrer ſtets jo korrekten Säge in reinftem, 
dialeftfreiem Deutich zu jagen. Auch ſolche Yebensäußerung ift tadellos, wie 
Alles an ihr. Selbit an ihrer Kleidung kann man nicht den leijeften Fehler 
entdeden, keine alte, feinen led und natürlich erit recht feinen Riß. Sie 
trägt fi nie unmodern ; die Ktleiderjchnitte bleiben bet ihr in der richtigen Mitte. 
Sie nimmt die Mode erit an, wenn Alle jie anerkennen. Zu den Pionieren 
gehört die Tadelloje nicht, darum ift fie ihr Leben lang korrekt gewejen und 
geblieben. Sie hatte nicht Phantafie genug, um einen Schritt vom Wege zu 
machen, auch nicht, um bei Anderen einen jolhen Schritt zu verftehen und zu 
verzeihen. Fräulein Noje Winter hat im Anfang ihrer Yaufbahn ein alltägliches 
Yeben geführt; jpäter freilich trat ein Ereigniß ein, das dem fernen Betrachter 
jogar romantiſch erjcheinen könnte. Sie beſuchte glei nad) der Schule ein 
Seminar und wurde Lehrerin an einer höheren QTöchterjchule. Als ihre Eltern 
ftarben — ihr Vater war auch Pädagoge geweſen —, erbte fie ein nicht unbe: 
deutendes Vermögen. Jede Andere hätte nun das Yeben genofjen, wäre auf 
Reifen gegangen oder hätte Uehnliches gethan. Fräulein Winter aber meinte, 
der Menſch jei nicht zum Amufiren auf der Welt, der Menſch müſſe ſich einen 
Wirkungskreis erwählen. Sie hatte ja in Allem das Recht auf ihrer Seite; 
aber man begann, das Rechte zu hafjen, wenn fie es in ihrer unerträglich pedantijcen, 
lehrhaften Weiſe ausſprach. ES war jtets, als habe fie das Rechte erfunden, 
als jei es eigens für fie da. 

Fräulein Winter begründete eine höhere QTöchterfchule mit Penfionat. 
Hier hatte fie Gelegenheit, ja, die Pflicht, lehrhaft zu fein. Und fie ließ ihrer 
Begabung freieften Lauf. Nun hätte fie eigentlich zufrieden jein und andere 
harmloje Leute nicht als Belchrung-Objeft benugen jollen; aber die take läßt 
eben das Maujen nicht. 

Roſe verlebte die Schulferien bei ihren verheiratheten Nichten, die Reihe 
herum, und da genofjen die jungen Gheleute in erjter Linie die Früchte ihres 
Beſſerwiſſens. In zweiter Linie wurden die Bekannten und Freunde der Nichten 
belehrt, jo daß ein ſolcher Bejuc immer tiefe Berſtimmungen hinterließ. War 
die Tante abgereift, dann athmete die Familie auf und begann, die Wunden 
zu verbinden, die Nöschens Dornen gerigt hatten. 

Eine von Rojes liebjten Behauptungen war: „sch jage immer die Wahr: 
heit.” Welche Grobheiten fie unter diejer Firma austheilte, ift nicht zu bejchreiben; 
und fie war obendrein noch jehr ſtolz darauf. 

Warum [ud man denn aber Tante Roje ein, wenn fie jo gefürdtet war? 
Sie hatte eine Stellung in der Welt, ihre Vortrefflichkeit war von Allen an- 
erfannt; wer fi mit ihr überwarf, hätte fid in der guten Gefellfchaft verdächtig 
gemacht. Und dann: fie war die Erbtante, das Familienprunfftüd; es ging 
einfach nicht anders. Einmal im „jahre, öfter fam die Reihe nicht herum, 
mußte es ausgebalten werden, unter die Röntgen-Strablen von Tante Roies 
Kritik zu kommen. 


— — — — — 








harter 28 . SS Due SE .—. 
mn a 


Die Tadellofe. 321 


Daß Fräulein Winter Roſe hieß, war eine der Schelmereien des Schickſals 
oder, wenn man will, eine der Taktloſigkeiten unvorſichtiger Eltern. Kinder ſollten 
eigentlich erſt einen Namen bekommen, wenn man weiß, wie ſie ſich entwickeln. 
So lange könnten fie ja Bubi oder Mädi genannt werden, wie es ſchon vielfach 
n Familien Sitte ift. 

Fräulein Winter verbejjert die Taftlofigkeit ihrer unvorfichtigen Eltern 
und nennt jih Roſalie. Das madıt einen vornehmen Eindrud, meint jie. 
Ihre Zöglinge in der Schule bezeichnen fie aber, ganz rejpeftlos, als Mutter 
Salli. Da Das jüdiſch klingt — Fräulein Winter war neben anderen Anti 
auch Antijemitin —, wirkte es auf fie wie die Muleta, das rote Tuch, auf 
den Stier. Als Mutter Salli zum erjten Mal ihren Spitnamen hörte, über- 
fam fie eine ihrer gänzlid unmürdige Wuth. Sobald die Leidenſchaft verraudt 
war, rieth ihr die Klugheit, die Sache nicht weiter zu beachten. Sie folgte dem 
guten Rath; zu ihrem Beil: fie hätte fich ſonſt unfehlbar lächerlich gemacht. 

Jüngſt fragte mich ein najeweijer berliner Bachfiſch, für den Verloben 
und Heirathen das A und O find: „Dat fih Mutter Salli eigentlich nie ver— 
liebt? Sie wäre doch eine gute Partie geweien! Sie bejigt ja das jchöne Haus 
und hat ihr reichliches Ausftommen.“ 

Man fieht, jelbjt Eleine Mädchen jind heutzutage mweltklug. 

Verliebt! Der Gedanke war mir jo komiſch, daß id) lächelte; dann jagte 
ich: „Noch iſt wohl nicht der Rechte gefommen. Sie heirathet vielleicht noch.“ 

„Roh! In dem Alter? Unmöglich!“ 

Fräulein Winter ift vierzig Jahre alt, aljo für eine Sculvorjteherin 
in den beiten Jahren; aber dem jungen Ding erjchien jie mit diejem Lebens: 
alter natürlich wie eine Urgroßmutter. 

Dennoch — jelbjt in Berlin gefchehen noch Wunder — verliebte fid) 
Noje Winter. „Nicht ein Klein Wenig, fat gar nicht‘, wies im Leierreim Heißt, 
jondern Hals über Kopf, „konnts gar nicht lafjen‘. Und zwar in ihren jüngjten 
Lehrer, Anton Matton. Wie viel er jünger ijt als fie, wollen wir nicht unter- 
ſuchen . . Und er? 

Herr Matton iſt praktiſch, wie jetzt alle jungen Leute; außerdem ſchmeichelt 
es ihm, daß die Geſtrenge ſich zu ihm herabläßt. Ungefähr wie zwiſchen Danae 
und Zeus, ſo geſtaltete ſich das Verhältniß der Beiden; nur iſt der Zeus hier 
ein Fräulein und die Danae trägt einen großen, blonden Bart. Aber die Hin— 
gebung ftimmt. Anton Datton war nur Seminarijt, fein akademiſch gebildeter 
Lehrer. Das erjchwerte den Fall und erhöhte die Ehre für den Begnadeten, 

So ging es natürlich nicht. Er mußte erſt würdig gemadt werden, die 
Hehre zu umfangen. Herr Matton bejuchte die Univerfität und jteht jett vor 
feinem Oberlehrereramen. 

Nur brieflich darf er mit der Tadellojen verkehren. Wenn er das Eramen 
beitanden hat, dann heirathen fie. 

Biele Leute in Berlin meinen, e$ würde nod; Etwas dazwiſchen fommen ; 
dafür und dagegen wird gewettet. Wer gewinnen wird?... Vielleicht nicht 
der Bräutigam, der die Tabellofe heimführt. 


G. von Beaulieu. 


* 


—— 24 


322 Die Zukunft 


Moderner Ratholizismus. 


5) as Bud) des wiener Theologen Ehrhard, der jet nach dem badijchen Frei— 
— burg gebt, „Der Katholizismus und das zwanzigite Jahrhundert im Lichte 
der kirchlichen Entwidelung der Neuzeit“, hat eine univerſale Bedeutung und 
eine befondere für Oefterreih. Als Symptom des in allen katholiſchen Ländern 
erwachten — durch heftige Angriffe zum Aufwachen gezwungenen — Neform- 
geijtes it es hier jchon erwähnt worden. Chrhard zeigt in einer Betradhtung 
der Kirchengeſchichte, daß Alles, was mit Nedt an der katholiſchen Kirche ge: 
tadelt werden kann und muß, vergängliches Erzeugniß nationaler Unvolllommen- 
heiten, geſchichtlicher Prozeſſe und eigenthümlicher Zeitverhältniſſe ift, daß zwiſchen 
ihrem Weſen, namentlich zwiſchen ihren Dogmen und dem modernen Geiſt, ſo 
weit er ein guter Geiſt iſt, kein unverſöhnlicher, ja, überhaupt kein Widerſpruch 
obwaltet, und er zeigt den Furchtſamen, den Engherzigen, den Denkfaulen unter 
ſeinen Glaubensgenoſſen, daß der von Fanatikern geſchmähte moderne Geiſt, 
abgeſehen von Verirrungen und Auswüchſen, von denen ſich kein großer Kultur— 
fortſchritt ganz frei halten kann, ein guter Geiſt iſt und ein ſolcher ſchon aus 
dem Grunde ſein muß, weil Gott die Weltregirung niemals an den Teufel ab— 
treten kann und Das ſicherlich auch in den letzten vier Jahrhunderten nicht gethan 
hat. Ehrhard beweiſt alſo, was ich in der „Zukunft“ behauptet habe, daß man 
ein gläubiger Katholik und dabei ein moderner Menſch, ein Vertreter der heutigen 
Wiſſenſchaft, ein vollwerthiger Univerſitätprofeſſor ſein kann. Und da ſelbſt die 
feinſte Jeſuitennaſe in ſeinem Buche keine Ketzerei aufſpüren kann, ſo werden 
die proteſtantiſchen Gelehrten wohl ihre Anſicht aufgeben müſſen, Katholizismus 
und Wiſſenſchaft vertrügen ſich nicht mit einander. Den Glauben Ehrhards, daß 
jedes Kirchendogma mit jeder wiſſenſchaftlich erwieſenen Thatſache vereinbar ſei, 
theile ich allerdings nicht, noch weniger ſeinen Glauben, daß die katholiſche Kirche 
geradezu die Bedingungen alles echten geiſtigen Fortſchrittes enthalte, ſo daß 
die Menſchheit ohne den Proteſtantismus weiter gekommen ſein würde, als ſie 
gekommen iſt. Ich rechne die Hierarchie und den ſtolzen Dom der Dogmatik 
zum hiſtoriſch gewordenen, veränderlichen und vergänglichen Leibe des katholiſchen 
Geiſtes, der aufopfernde Liebe zum Nächiten, Freude in Gott und Hoffnung auf 
den Dimmel ift und deſſen Offenbarungen der ſymboliſche Kultus, die hriftliche 
Kunft und die barmberzige Schweſter find. Einen Leib kann auch der fatho- 
liſche Geiſt jelbjtverftändlid, nicht entbehren, aber er muß ji dem Milieu an- 
pajjen und mit ihm umbilden, was er bis jegt ja aud immer noch vermodht 
bat; Ehrhard zeigt jehr gut, daß die heutige Fatholijche Kirche der Urfirche viel 
ähnlicher ficht als die mittelalterliche. Daß auch die Hierarchie und die Dog— 
matik zu den veränderlichen, ja, an fich entbehrlidhen Bejtandtheilen des Kirchen» 
leibes gehören, kann und darf Ehrhard freilicd nicht zugeben; aber nad) meiner 
Ueberzeugung ift es jo. Wenn ſich der Bapjt in den Verluft des Kirchenftaates 
gefunden haben und ein nicht jouverainer Kirchenbeamter fein wird wie feine 
Brüder, die ehemals jouverainen Kirchenfürſten des Deutichen Neiches, jo wird 
er etwas von den Piuſſen des neunzehnten Jahrhunderts Grundverjchiedenes fein. 
Und wenn er, nad abermals einem Jahrhundert, jtatt al$ Chef eines unge— 
heuren bureaufratiichen Apparates Diplomaten in Audienz zu empfangen und 


Moderner Katholizismus. 323 


bei — auf den Schultern von prächtig aufgeputzten Lakaien einherzu— 
ſchweben, zu Fuß unter den Aermſten ſeiner armen Landleute umherwandeln, 
in ihren Hütten Troſt ſpenden, ihre Unterdrücker ſchelten, eine verſtändige innere 
Koloniſation organiſiren, die Carnſi aus ihrer Hölle erlöſen, ihre Wunden küſſen 
und fie in blühende ‚sruchtgärten führen wird, bei deren Bebauung jie ihres 
Lebens froh werden, — dann, erft dann werden jih auch die Ungläubigiten zu 
dem Glauben befehren, daß der römijche Bapjt das Werk Jeſu von Nazareth 
fortjeßt; oder vielmehr, e8 wird dabei von Glauben Feine Mede mehr jein, weil 
es ja Niemand bejtreiten Fan. Auch die Dogmen gehören zum Beränderlichen 
am Sirchenleibe; fie find Erzeugnijje des griehijchen Denkgeijtes, fie find in der 
Beit, wo die römische Kirche im Abendlande ihr großes weltgeichichtliches Kultur— 
werf vollbradhte, ganz in den Pintergrund getreten und dann dreimal, in der 
Scolajtif, in der Reformation und in der neueren Philojophie, Gegenftand 
heftigen Streites geworden, ohne auf das Leben der Ehrijten einen bemerfbaren 
Einfluß zu üben. Sie können und jollen nicht für Irrthümer erklärt werben, 
aber man wird einmal aufhören müſſen, fie mit orthodoren Augen anzujehen. 
Das chriſtologiſche und das Trinitätdogma gehören dem Gebiete der Metaphyſik 
an, in dem ed weder zwingende Beweije noch Widerlegungen giebt. Vielleicht 
verhält fi Alles jo, wie die Kirche lehrt; aber diefe handelt nicht Elug, wenn 
fie Männer, die ganz katholiich fühlen, von ſich ausjchließt, weil fie über Dinge, 
die Niemand willen kann und Niemand zu willen braucht, anders jpefuliren, 
als die Theologen der alten Konzilien jpekulirt haben. Der Dogmentompler, 
der aus der Geſchichte vom Sündenfall und der Spekulation Pauli über den 
zweiten Adam und feinen Sühnetod herausgejponnen worden ift, verwebt ſchöne 
Symbole hiſtoriſcher Thatſachen und unergründlicher Geheimniſſe zu einem cr» 
habenen Syſtem; wörtlich verjtanden, widerſprechen ab x jeine einzelne Süße 
geſchichtlichen, piychologifchen und phyſiologiſchen Thatjachen. Es waltet aljo 
ein Widerjpruc ob, nicht zwiichen dem Katholizismus als Ganzem, aber zwijchen 
dem othodoren Sinn einiger jeiner Dogmen und der modernen Wiſſenſchaft. 
Das darf heute noch fein katholiſcher Theologe zugejtehen; aber diejes Zuges 
ſtändniß iſt auch zu einem gedeihliden Zuſammenwirken von Gelehrten beider 
Konfejjionen gar nicht nothwendig. Denn nicht ein Zehntel, vielleicht nicht ein 
Humbdertitel unjeres geſammten Wilfensgebietes wird von dieſen Dogmen berührt. 
Eben jo wenig dürfen die Ehrharde jett ſchon einjehen, daß fie irren, wenn fie 
glauben, die katholiſche Kirche jei niemals ein Dinderniß der freien Forſchung 
und der Proteftantismus daher nicht nothwendig geweſen. Wenn die Fatholijche 
Kirche der Vergangenheit ohne ihre Hierarchie gedacht werden könnte, dann dürfte 
man die Behauptung zugeben. Das ijt aber eben nicht möglich. Die Hierarchie 
war, wie es zu gehen pflegt, aus einem vortrefflichen Mittel Selbjtzwed ge: 
worden, hatte fich jelbit dogmatifirt und ſuchte nun im eigenen Intereſſe den 
Fortichritt des Denkens und der ökonomiſchen Entwidelung zu hemmen. Die 
Abſprengung ganzer Völfer vom alten Stirchenleibe wurde jo aus vielen Gründen 
nothwendig; zum Beijpiel darum, weil die Zukunft der Menjchheit ein Fräftiges, 
nicht am Gewiſſenswurm krankendes weltliches Leben, ungetheilte Hingabe an die 
weltlichen Intereſſen forderte. 

Daß es ohne Luthers Reformation auch zu Feiner inneren Reform des 


24° 





324 Die Zukunfi 


fatholiich gebliebenen Theils der Chriftenheit gefommen wäre, ſieht Ehrhard. 
Und damit ftehen wir bei der ſpezifiſch öfterreihiichen Bedeutung jeines Buches; 
denn dieſes wäre ficherlich nicht geichrieben worden, wenn nicht die antiklerifale 
Strömung, von der die Pos-von-Rom: Bewegung nur ein Seitenbad) ift, wenigitens- 
den moraliihen Beitand des öjterreidhiichen Katholizismus bedrohte. Die Kirche | 
ijt nidyt von den Lebensgejegen der Gejellichaftorganismen ausgejchloffen, auch 
nicht von dem, daß fie ohne Angriffe von außen und ohne Oppofition in Innern 
verfaulen. Ein erleuchteter öfterreichifcher Katholik kann ſich gar nichts Beſſeres 
wünjchen als eine Abfallbewegung und er wird an der von den Alldeutichen 
eingeleiteten nichts auszujegen finden, als dal jie jo jpät kommt und viel zu 
ſchwächlich iſt. Eine jo verfommene Gejellihaft wie die öfterreihiichen Katho— 
liten muß mit Skorpionen gepeitſcht werden, wenn fie fich zur Selbjterneuerung 
aufraffen ſoll. In jüngeren Jahren habe ich manche Gelegenheit gehabt, fie kennen 
zu lernen: die jämmerlide Drejjur der angehenden Stlerifer in den WPriejter- 
jeminarien, die Roheit und Unbildung der Pfarrgeiftlichkeit, die Lüderlichkeit 
und das raffinirte Genußleben der reich dotirten Stiftsherren, die tiefe Ver— 
achtung, mit der alle Gebildeten die Geiſtlichen und Diefe jelbjt ihre eigene Kirche 
behandeln (Viele prahlen auf Reifen und in Badeorten mit der Nichtachtung, 
des Abjtinenzgebotes und mit ihren galanten Abenteuern), und die Hohlheit jener 
Gebildeten, deren ganze Bildung und Aufklärung darin bejteht, daß fie den 
ſonntäglichen Kirchenbejuch durch den Frühſchoppen erjegt haben, auf die Pfaffen 
ſchimpfen und die von wigigen Köpfen ausgehedten Religionjpöttereien nachſprechen, 
jo weit dieje nicht über ihren Horizont gehen, An den legten fünf Jahrzehnten 
mag ja Manches gebefjert worden jein — namentlich der Kardinal Schwarzen- 
berg hat fic) viel mit Neformverjuchen abgemüht —, aber von einer gründlichen 
Reform, die eine Wiedergeburt und Umwandlung des ganzen öſterreichiſchen 
Volkes vorausjeßen würde, kann wohl nicht die Rede fein. Um die Urſachen 
diejes Zujtandes klar zu maden, müßte man jechs Jahrhunderte Öfterreichiicher 
Geſchichte jchreiben. Ein Gemiſch von Slaven und halbſchlächtigen Deutjchen, 
aller Nationalitäten Daupttugend die Gemüthlichkeit, leichtlebige Genußſucht ohne 
Tiefe, ohne Gharakterjtärke, ohne Schneidigfeit, der Joſephinismus, der den 
Klerus zur Schwarzen Garde des Bolizeijtaates herabwürdigt, dieſer Bolizeijtaat 
jelbjt, der dem Klerus jein Einkommen, jeine äußere Mutorität und GStraflojig- 
feit beit Vergehungen jichert, unter der Bedingung, daß er fi) als politiſches 
Werkzeug mißbrauchen läßt, das Syſtem Metternich, das die Tüderlichfeit hätſchelt 
und das Denken verbietet, Schlamperei als allgemeines Lebensgejeg, ein fürſtlich 
dotirter, in die Intereſſen eines privilegirten hohlföpfigen und frivolen Hoch— 
adels verflochtener und von deſſen Yebensauftaflung angejtedter Epistopat, 
Frömmigkeit, wo fie vorfommt, nur in der Öejtalt, die ihr bigotte, abergläubige 
und fanatiihe Mönche zu geben vermögen (man erinnere ſich des Pelikan, der 
Miß Vaughan und des Teufels Bitrn): Das find jo ungefähr die Elemente des 
Ipezifiichen Oeſterreicherthumes und des öfterreichtichen Katholizismus. Die er 
wähnt num zwar Ehrhard gar nicht, ja, er deutet jie nicht einmal an; er lehnt 
ausdrücklich ab, auf praftiiche Mebelitände einzugehen; deren Beſprechung gehöre 
nicht im die Preſſe, Sondern in die firchlichen Rathſtuben. Aber es iſt Elar, daß, 
wenn ſich die öjterreichiichen Geiftlichen, wie es Ehrhard fordert, gegen ihre 


a u —— 


Trinkgelder. 325 


Feinde mit geiſtigen Waffen wehren ſollen, ſie ſtudiren und zunuchſt ihre Faul— 
heit ablegen müſſen; und darum ſind die hochwürdigen Herren wüthend, denn 
ſie wollen a Ruh hobn; die Ketzer ſoll ihnen die Polizei vom Leibe halten. Sie 
werden ſich auch ſchwerlich bei der von Ehrhard in einer neuen Schrift abgegebenen 
Erklärung beruhigen, er wolle nicht zu den „liberalen Katholiken“ gezählt werden. 
Ein ganzes Volk könnten freilich auch zwanzig geſcheite und vernünftige Profeſſoren 
nicht umwandeln; aber ſolche Männer können wenigſtens, von der Noth der Zeit 
anterftüßt, einen Ummandlungprozeß einleiten. Wären die übrigen Kirchenfürjten 
weniger beſchränkt al der Kardinal Gruſcha, dann würden fie fich aus dem Deutjchen 
Reich noch einige Ehrharde verichreiben. Sie fünnen jolde Männer bejonders 
in Preußen finden, wo der allgemeine Bildungzwang, das freie Studium an 
der Univerjität, die Nothwendigfeit, fi in gemijchten Gegenden ihrer Haut zu 
wehren, und zulett der Kulturkampf den Katholifen und ihren Geiftlichen den 
Beritand geihärft, den Charakter gejtählt und die geiftigen Waffen geliefert 
haben. Siegen dagegen Dummheit und Faulheit, Bigotterie und Fanatismus, 
jo werden zwar die Evangelifchen die gehoffte Ernte nicht einheimjen — denn 
wenn das lautere Evangelium, wie jie es verfündigen, zugfräftig wäre, fo müßte 
man doch zuallererit in Berlin Etwas davon jpüren —, aber die Abfallbewegung 
wird wachſen, weil ſich gewifje Forderungen des modernen Lebens, denen der 
Klerifalismus Widerjtand leiftet, jelbit im gemüthlichen Defterreih mit unwider- 
ftehlicher Gewalt durchſetzen. Die Gebildeten werden jich dann vom Gtaate 
das Recht ertrogen, als Eonfejlionlos leben zu dürfen, und die Maffen werden 
der Sozialdemokratie zufallen, 


Neiſſe. Karl Jentſch. 


85 
Trinkgelder. 


Sein gute alte Börjenfitte it im den letzten Wochen zu neuem Leben er-. 
wacht. Früher pflegte man nämlich. bei größeren Emifjionen die Bei- 
Hilfe der Börje dadurch zu erfaufen, daß die Emijjionficmen den Maklern und 
Bankiers Betheiligungen gewährten. Jedes Bankhaus, das fich meldete, wurde 
im Konjortium betheiligt und den Maklern gab man umfangreiche Optionen, 
die ihnen ermöglichten, oft jehr beträchtliche Summen darauf bin und her zu 
handeln. Diejer alte Brauch galt ſchon lange nicht mehr; nicht etwa, weil der 
Emijjionäre Herz ichlechter geworden war, jondern, weil ſich mit den Verhält— 
niffen auch die Borausjegungen geändert hatten, auf denen dieſe Börjen: 
betheiligungen beruhten. Früher mußten ſelbſt große Banken, die Aktien oder 
Renten an die Börfe bringen wollten, mit den Stimmungen der Börjenleute 
rechnen. Denn auch hinter dem Eleiniten Bankier jtand die Macht eines Kunden: 
freijes; und außerdem war die Couliſſe ftark genug, um nad) ihrem Willen auf 
Wochen hinaus das Börjenwetter zu bejtimmen. Jetzt hat das Börjengejeß den 
kleinen und mittleren Bankier aus feiner einftigen Machtjtellung verdrängt. Die 
Kapitalshäufungmwurde im Bankgewerbe über das durd) die natürliche Entwidelung 
gebotene Maß hinaus beichleunigt, wie Magnetberge zogen die Großbanken die 


326 Die Zukunft. * 





Kundſchaft an ſich und manches Lebensſchiff ſank in die Tiefe, nachdem ihm bie 
Nägel, die feine Planfen an einander fchlofjen, entzogen waren. Der Couliſſe 
ging es nicht bejjer: auch hier wirkte das Börfengefeß; es gab den Großbanken 
die don Jahr zu Jahr bequemere Möglichkeit, Kauf und Verkaufgeſchäfte in 
jich felbjt auszugleichen, jo daß man fie nicht erft im Börfenjaal abzuſchließen 
brauchte. Stärfer noch als das Börfengejeß wirkte auf die Eouliffe der Effekten— | 
itempel. Gr vertheuerte die Umſätze, trich einen Theil der Spefulationmafler 
überhaupt aus Deutjchland und machte der wachſenden Schaar der Heinen Makler 
das Leben jchwer. Angeſichts jolcher Zuftände brauchen die großen Emiſſion— 
firmen, die den Kursſtand fajt autofratiich beftimmen und jelten einen eben- 
bürtigen Gegner finden, auf die Gunft oder Ungunjt der Börje fein Gewicht 
mehr zu legen. Trotzdem bätte man aus alter Gewohnheit die Betheiligungen 
wohl noch weiter gewährt, wenn nicht ohnehin jchon die Emiſſionſpeſen beträchtlich 
geftiegen wären. Vom Gffeftenftempel ſehe ich ab. Aber all die vielen Boni- 
fifationen, die jonjt noch allen möglichen Yeuten zu gewähren find, von dem 
entgleiften Nurijten, der dem Proſpekt die richtige Yorm geben muß, bis zum 
Inſerat in dem Heinen Börjenblatt, das je nach Bedarf des Herausgebers er: 
ſcheint, machen jchließlich eine Summe aus, mit der man rechnen muß. Die 
Yeiter der großen Banken fanden es deshalb vernünftiger, die Betheiligungen, 
die früher die Börje wegichnappte, lieber der eigenen Kundſchaft zufommen zu 
laſſen, den Provinzbantiers, die jelbjt heute, bei der jtarfen Konkurrenz der Hoch— 
finanz, nod) eine gewijje Macht haben. Nur eine Sitte — oder Unſitte — blieb be- 
ſtehen: bei jeder neuen Emiljion wird nach wie vor den beiden Sursmallern, 
die das Papier offiziell handeln, ein bejtimmter Betrag zugewieſen, angeblich, 
um ihnen Material zur Regelung der Kurſe zu verichaffen. 

Bei der Emiſſion der legten ruſſiſchen Anleihe hat plöglid nun die 
Firma Mendelsjohn & Go. den alten Braud wieder aufgenommen. Sie ge 
währte zunächſt den großen Malern recht anjchnliche Betheiligungen und zeigte 
ſich auch den Bitten der Kleinen, die betheiligt werden wollten, wohlgeneigt. 
Der Zweck diejer Taktif war leicht zu erkennen. Die neue Ruſſenanleihe jollte 
zum Terminhandel zugelaffen werden. Wichtiger als bei Eleinen Kajja-Emij- 
ſionen jchien es hier, die Börje in quter Stimmung zu erhalten, weil ein Ultimo- 
markt nie jo vom Emifjionhauje zu fontroliren ijt wie das wenig umfangreiche 
Geſchäft in Kaffapapieren, bei dem man die Fixer täglich aufſchwänzen Tann. 
Das Werfahren der Firma Mendelsjohn hatte Erfolg. Ohne auch nur den ge 
ringjten Eindrud auf die Kurſe zu maden, famen und gingen die Tage, da 
auf dem Newskij-Proſpekt das rothe Banner der Revolution entrollt wurde und 
der Schuß des militärifch vermummten Studenten den Minifter Sfipjagin ins 
Reich der Schatten beförderte. An der Börſe gilt mehr noch als anderswo das 
Wort, daß eine Band die andere wäſcht. Die Makler gaben fid) redliche Mühe, 
in den kritiſchen Tagen fid für die ihnen enwiejene Aufmerkjamkeit dankbar zu 
zeigen. Und da man die Bonififationen eben für eine Aufmerkſamkeit, für das 
Zeichen einer bei den Mendelsjohns üblihen Bornehmheit in Geldjachen hielt, 
hatte die Firma oberdrein noch einen moraliſchen Grfolg. 

Diejer Lorber ließ die Herren der Deutſchen Banf nicht ſchlafen. So 
beliebt dieje Bank, namentlich wegen ihrer Eugen Beichäftsführung, beim Bublitum 


7 





u nn ee — = nz 


Trinfgelder. 327 


it: die Börjenleute find ihr nicht grün, weil fie in ihr das Ungethüm jehen, 
das in jeiner unerjättlichen Habgier das Geſchäft unzähliger Bantiers gefreijen 
hat. Die Direktion der Deutſchen Bank jcheint diefe Feindſchaft nicht recht ver: 
ichmerzen zu können; fie jucht unermüdlich nad) Gelegenheiten, ſich an der Börſe 
populär zu machen, wird dabei aber von Mißgeſchick verfolgt. alt immer wird 
fie da gerade getadelt, wo jie Yob verdient zu haben hoffte. Die Folge mangel- 
hafter Negiefunft zeigte jich neulich nun wieder bei der Emiſſion der wiener Stadt- 
anleihe, die angeblich einen NRiejenerfolg gehabt hat. Der Bürgermeijter Dr. 
Karl Lueger hat im Gemeinderath erklärt, fie ſei vierumdjiebenzigmal überzeichnet 
worden. . Seine liberalen Gegner antworteten natürlich, diefe Ueberzeichnung jei 
nicht ernt zu nehmen. Ich nehme auch diefe Antwort nicht allzu ernjt, weil 
der Parteifanatismus leicht dur gefärbte Gläjer jicht, muß aber jagen: Bei 
uns im Reich bat die Lleberzeichnung wenig zu bedeuten. Wie es jet üblich 
ift, haben viele Zeichner Beträge gefordert, deren zehnten Theil fie kaum be— 
zahlen könnten, jelbjt wenn der ftrengjte preußiiche Gerichtsvollzieher ihre Kaſſen 
durchjuchte. Mit der Thatſache der Leberzeichnung aber hatte die Deutjche Bank 
zu rechnen. Das ijt nicht immer leicht; denn bei den nothiwendigen Heduftionen 
darf man nicht nach Schema F verfahren. Bei größeren Emijjionen wurde in 
legter Zeit für die beträchtlieren Boranmeldungen meijt ein beftimmter Prozent» 
ſatz als Zutheilungquote feitgejeßt, nachdem den Keinen joliden Zeichnern vorher 
wenigitens ein bejcheidener Mindeitbetrag gelichert war. Diejer Vorzug jcheint 
diesmal gar nicht gewährt worden zu fein. Stleine Bankiers, die ihrer Anlage: 
fundjchaft gerathen hatten, ji bei der Zeichnung in engen Grenzen zu halten, 
befamen nichts und waren den Kunden gegenüber in unangenehmer Yage. Einer 
biefigen angejehenen Banffirma, die 200 000 Stronen gezeichnet hatte, jollen nur 
2000 Kronen zugetheilt worden jein. Auch der Darmjtädter Bank wurde, troß- 
dem fie als Zeichenftelle fungierte, nur ein ganz Kleiner Betrag zugewieſen; ich 
nenne die Quote nicht, die an der Börje angegeben wurde, weil ich die Nichtig- 
feit der Behauptung nicht Eontroliren fanın Man muntelte in der Burgitraße 
von einem freundichaftliden Ylippenjtoß, der damit Herrn Dernburg Apoſtata 
verjeßt worden jei. Das wäre, wie mir jcyeint, aber allzu jehr wider die Klug— 
heit und müßte fich bald räden. 

An dem jelben Tage, wo die Banfiers an der Börſe ſich ärgerten, weil 
jie zum allergrößten Theil völlig leer ausgegangen waren, zogen die meijten 
Fondsmakler morgens am Kaffeetiſch das folgende Schreiben aus einem Couvert, 
das den Firmenaufdruck der Deutſchen Bank trug: „Wir beehren uns, Sie zu 
benachrichtigen, daß wir Ahnen Kr. . ..... vierprozentiger wiener Stadtanleihe 
zum Gubjtriptionfurs von 97°/, abzüglich 0,25 Prozent Bonififation zugetheilt 
haben, abzunchmen nad ‚ihrer Wahl bis Ende Juni diefes „Jahres, und 
bitten um gefl. Bericht, jobald Sie die Stücde zu beziehen wünjchen.“ Die in 
den Briefen genannten Summen jchwantten je nad) der Bedeutung der Makler. 
Das Minimum scheint 10000 Stronen geweien zu fein. Die Methode, nad) der 
die Makler ausgewählt wurden, war vielleicht nicht ganz einwandfrei. Angeblid) 
war für die Berückſichtigung der großen Spefulationmatler die Aufjtellung eines 
Meaklerbankdireftors maßgebend gewejen; aus dem Deer der kleinen wählten die 
Börjenvertreter der Bank nad) Gutdünfen die zu begünftigenden. 


298 Die Zuhmft. 


Die Deutihe Bank hatte feinen ſachlichen Grund, die Bonififation zu 
gewähren. Einen Ultimohandel in wiener Stabtanleihe giebt es nicht und keinem 
Menſchen iſt eingefallen, die Antheile zu firiren. Die fleine Couliſſe fonnte 


der Bank weder nügen noch ſchaden. Wenn mans bei Licht beficht, wurde aljo - 


ein Trinfgeld vertheilt. Nicht einmal ein Schweigegeld fonnte mans nennen; 
man braucht ja die Thatjache nicht totzufchweigen, daß durch Siemens’ nnd 
Gwinners Bermittelung Steinthal und Mankiewitz dazu gebracht wurden, den 
antijemitiichen wiener Stadtbau zu ftügen. Darüber fpricht ja jchon lange 
Niemand mehr; eben fo wenig wie über die andere niedlihe Thatjache, daß die 
Hebräer aus Rußland und Rumänien mit der Knute von Beamten gepeitjcht 
werden, deren Sold aus den Kaſſen Rothſchilds und feiner Gruppe fließt. Die 
Deutiche Bank hat der Börſe alfo ein Geſchenk gemacht. Sie wollte an Bopularität 
nicht hinter den Dtendelsjohns zurüditehen. Nur ganz wenige Matter haben den 
Muth gehabt, das Geſchenk zurückzuweiſen; die meijten fürchteten die Folgen 
ſolcher Kränkung. Einige nahmen es aud) wohl aus Noth; denn heutzutage giebts 
wirflid Börfianer, denen zwei blaue Lappen einen Monatsverdienft bedeuten. 
Wem haben nun die Börfenfeinde mit ihren durh Sadfenntnif nicht getrübten 
Reformen genügt? Was hat das deutjche Volk davon, daf da, wo früher Hunderte 
von Familienvätern ihr Brot fanden, jeßt fich ein paar Auffichträthe und Direftoren 
anmäjten? Die Thatſache, dag an der eriten deutichen Börje Fondsmakler mit 
Gejchenfen von 150 bis 200 Mark für eine Weile glücklich gemacht werden 
konnten, zeugt von einem wirthichaftlichen Elend, das ernite Beachtung verdient. 

Der Verein der jelbjtändigen Makler an der berliner Börje jcheint die 
Sade freilid von einer ganz anderen Seite zu jehen. Er legte Werth darauf, 
im Berliner Tageblatt feierlich feitzuftellen, bei den Zutheilungen habe fichs 
nicht um ITrinfgelder, jondern um die Erneuung eines alten Brauches gehandelt. 
Mit Berlaub, meine Herren: der Brauch wird zum Mißbraud, die Sitte zur 
Unfitte, wenn fie aus den Berhältnifjen ihrer Entjtehenszeit gelöft werden. Früher, 
jagte ich vorhin jchon, waren die Spejen eines Compagniegeſchäftes mit der 
ganzen Börje eine nothwendige Ausgabe. Bei der Ruſſenemiſſion hatte die 
Taktik wenigitens noch einen Sinn; bei der wiener Anleihe war jie überflüffig 
und die Betheiligung einfach ein Geſchenk. Zum Trinkgeld aber wurde das 
Geſchenk dadurch, dal; man den Eleinen Leuten nicht die durch das Rundſchreiben 
juggerirte Vorftellung lich, fie jeien wirklich Betheiligte, die nach ihrem Ermeſſen 
die Stüde beziehen und verkaufen fonnten. Als am Tage nad) dem Empfang 
der Zutheilungbriefe der Kurs der Anleihe auf 99 erhöht werden jollte, lief ein 
von der Deutſchen Bank Beauftragter mit der Namenslifte durch die Neihen 
der Goulifjiers und nahm ihnen — man fann fait jagen: gewaltfam — ihren 
Befig wieder ab. Da erſt erfannte mancher Makler zu ſpät die wahre Natur 
diejer liebevollen Zuwendung und... ballte die Fauſt in der Tajche. Im Dinter- 
arımde aber jtanden die fleinen Bankiers, an die man gar nicht gedacht hatte, 
und jahen grollend dem Kampfipiel zu. 

Was mag die ftolze Deutſche Bank bewogen haben, fich bei diejer ein- 
tachen Emiſſion künſtlich ſchmerzhafte Geburtwehen zu jchaffen ? 


Plutus. 


—— — 





Notizbuch. 329 
Notizbuch. 


AN“ zwei Jahren hatten die reihsländiichen Abgeordneten unter der Führung 
des Stadtpfarrers Winterer wieder einmal im Reichstag die Aufhebung des 
Paragraphen beantragt, der dem Statthalter die diftatoriiche Gewalt giebt, „bei 
Gefahr für die öffentliche Sicherheit ungejäumt alle Maßregeln zu ergreifen, die er 
zur Abwendung der Gefahr für erforderlich erachtet.“ Der Untrag wurde von der 
Neichstagsmehrheit angenommen, vonden Berbündeten Regirungen aber abgelehnt. 
Der Reichskanzler Fürft zu Hohenlohe jagte, der Dikftaturparagraph jet nicht zu ent- 
behren, denn er jei „eine Fahne, die wir aufpflanzen gegenüber der franzöjtichen 
Geſinnung, jo weit fie noch vorhanden iſt. Elſaß-Lothringen iſt ein Grenzland. 
Unjere Nachbarn find leicht erregbar. Unfere Bevölkerung ſteht noch an vielen Orten 
in Beziehungen zu ihren früheren Landsleuten. Es ijt immerhin möglich), daß wir 
von etwa in Nahbarlande auftretenden Erjchütterungen nicht unberührt bleiben.“ 
Schon damals waren die unbeamteten — und viele beamtete — Stenner von Yand 
und Leuten in derlleberzeugung einig, daß der Diktaturparagraph fallen könne, fallen 
müffe, daß er, jo jelten eraud) angewandt werde, durch fein drohendes Dajein die deutjche 
Sache ſchädige und dem Reichsland die volle Autonomie nicht länger vorzuenthalten jei. 
In der ersten Hälfteder neunziger Jahre Schon hatte derYommandirende General von 
Blumein Straßburg gelagt: „Das Elſaß ift noch nicht deutjch geworden, aber es hat 
abſolut aufgehört, franzöſiſch zu jein. Aufdieinnere Einigung mit Deutjchland werden 
wir warten müjlen, bis die Generation, die zur Heit des Krieges das Mannesalter 
erreichte, völlig ausgeſtorben iſt.“ Der Bundesrath aber blieb bei der Behauptung, 
das Ausnahmegejeß jei unentbehrlid. Da fing der Kaijer jich für die „Wiederher- 
ftellung“ der Hohkönigsburg zu interejjirenan. Weithin anerfannte Sadjverjtändige 
ipradhen ſich für die Erhaltung der ehrwürdigen Burgruine und insbejondere gegen 
den nad) ihrer Anjicht auf brüchiges Material geſtützten Wiederheritellungplan 
des Arditeften Bodo Ebhardt aus, dem die Faiferlihe Gunst aber bewahrt blich. 
Die Baukoſten jollten vom Neichstag und vom eljäjliihen Landesausſchuß zu 
gleihen Theilen aufgebradjt werden. Im berliner und im jtraßburger Parla— 
mentsgebäude wurde dem begnadeten Architekten ein Saal für einen Vortrag 
und für eine Ausjtellung jeiner Baupläne eingeräumt und im Neichstag fiel 
das Wort, „nicht einmal bei den großen Frlottenvorlagen ſeien Reklameaus— 
jtellungen in folhem Umfang und mit jolhem Aufwand beliebt worden“. Der Landes— 
ausſchuß bewilligte jchließlich die geforderte Summe — lamortdansl’Ame, wieder Ab- 
geordnete Wetterle jagte —, weil ihın als Entgelt die Aufhebung des Diftaturpara- 
graphen und anderer Reſte der Rechtsbeſchränkung zugelichert worden war. Ausdrücklich 
hatte der Staatsjefretär von Puttlamer noh am Schluß der Berathung erklärt: 
„Es iſt dankenswerth, daß der Landesausſchuß jahliche Bedenken höheren Erwä— 
gungen opfert; und das in diejer Angelegenheit bethätigte Entgegenfommen wird 
hoffentlich gute Früchte tragen.“ Wir bewilligen das Geld für den Plan, der uns 
ſachlich mißfällt, weil wir bei diejer Gelegenheit endlich vom Diktaturparagraphen 
befreit werden: fo dachten, jo ſprachen jogar die Männer der „höheren Erwägungen“. 
Dennod) lehnten jieben Abgeordnete die Borlage ab und die zuftimmende Mehrheit 
jtellte die Bedingung, die andere Koſtenhälfte müſſe vom Reichstag bewilligt werden; 
der Neichstag, hoffte fie, wird Nein jagen und danı haben wir diligentiam präjtirt 





330 Die Zuhmft. 


und brauchen das Geld doch nicht zu geben. Aber der Reichstag jagte, troß den be— 
redten Warnumgen des künſtleriſch empfindenden Herrn von Rollmar: Ya; und der 
Landesausſchuß blieb an jein Botum gebunden. Doch der Diftaturparagraph wurde 
nicht befeitigt. Zwar hatte.der Kaijer gleich nach der enticheidenden Abftimmung an 
den Statthalter telegraphirt: „Theile den Derren mit, dab ich ihnen von ganzem 
Herzen dankbar bin und daß es mir zu hoher Befriedigung gereicht, daß das Reichs— 
land mein Intereſſe und meine Arbeit für die Wiederherftellung der herrlichen Burg 
jo richtig verjteht und fo freundlich unterſtützt“. Der Kaiſer war falſch informirt: 
nicht für den begünftigten Plan des Herrn Ebhardt war das Geld bewilligt worden, 
jondern als Aequivalent für die verheißene Erfüllung eines autonomiſtiſchen 
Wunſches. In Berlin fand Mancher, der bedrängte Herr von Buttlamer jeiin feinen 
Zuſagen zu weit gegangen; und als Graf Poſadowsky im Reichstag interpellirt wurde, 
nannte er die vom ftraßburger Staatsjefretär mit dem Yandesausihuß gewechſelten 
Reden „Privatunterhaltungen“, die für den Bundesrath belanglos jeien. Inzwiſchen 
aber muß der Kaiſer den wahren Sadjverhalt erfahren haben; denn er hat den Erlaß, 
der die Aufhebung des Diktaturparagraphen anfündet, von dem Bauplaß der Hoh— 
fünigsburg datirt und damit deutlid) gezeigt, welche Yeiltung des Neichslandes ihn 
jum „Beweis jeines Wohlwollens“ bejtimmt habe. Bei feinen Beſuchen hat der Kaijer 
in Eljaß-Vothringen die Bevölkerung jo loyal gefunden, daß ihm reprejfive Maß: 
regeln nicht Länger nöthig jcheinen. Solchen Wahrnehmungen eines hohen Derrn, der 
auf jeinen Neifen nur die gepugte Diinderheit des Volkes ficht — dem alten Wilhelm 
wurden im Eljaß aus Baden importirte und in die Reichslandstradht geitecfte Bauern 
und Bäuerinnen vorgeführt —, darf man nicht allzu großes Gewicht beimefjen. Auch die 
Thatſache aber, daß an der franzöfiichen Grenze jet wieder die Marjeillaife ge- 
jungen und Vive la France! gerufen wird, jpricht nicht laut gegen die Be— 
jeitigung des Ausnahmezuftandes. Es ift Zeit, den Neichslanden volle Autonomie 
zu gewähren, ihnen im Bundesrath Sig und Stimme zu geben und den Landes— 
ausichuß in einen Yandtag umzuwandeln, der, im jelben Umfang wie die Pandtage 
der Bundesjtaaten, an der Geſetzgebung mitwirkt. Die in Ausficht gejtellte Maß— 
regel iſt aljo verftändig; nur muß man fragen, ob es rathſam war, eine politische 
Aktion von der Erfüllung eines kaiſerlichen Privatwunſches abhängig zu machen. 
War der Diktaturparagraph, von dem viel geredet, der aber fajt nie fühlbar wurde, 
zu entbehren, dann mußte er aufgehoben werden, jelbjt wenn der elſäſſiſche Landes» 
ausichun für die Hohkönigsburg fein Geld geben wollte. Auch die Art der Unkündung 
mußte verichieden beurtheilt werden und iſt befonders im Süden nicht gerade freund» 
lich beiprochen worden. Dem an den Statthalter gerichteten Erlaf fehlte die Gegen— 
zeichnung des für die reichsländiiche Politik verantwortlichen Kanzlers ; und. die 
Zeitungſchreiber, dieihren Yejern zuriefen: „Der Diktaturparagraph ift aufgehoben !, 
bewicejen wieder, wie fremd Wortlaut und Sinn der Reichsverfaſſung ihnen geworden 
ift. Nicht der Staijer, der in Elſaß Lothringen die Stantsgewalt „im Namen des 
Reiches" ausübt, fondern Bundesrat und Reichstag haben zu entſcheiden, ob der 
‘Raragraph bleibt oder fällt. Und weil es fo ift und man heutzutage alle Urſache hat, 
die partifularen Empfindlichkeiten der deutichen Dynajtien und Negirungen zu 
Ichonen, ſollte man den Namen des Kaiſers nicht für Bläne engagiren, deren Schid- 
jal immerhin noch zweifelhaft tft. Jetzt, nachdem der höchſte Nepräjentant deutfcher 
Macht jich jo bündig für die Aufhebung des Diktaturparagraphen ausgejprochen hat; 


Notizbuch. 331 


könnte ein anderer Bundesfürſt ſeine abweichende Meinung kaum noch zum Ausdruck 
bringen . . . Das Merkwürdigſte an der Geſchichte iſt die Lehre, daß in unſerem aller— 
neuſten auguſtiſchen Alter auf die politiſche Geſtaltung der Reichszuſtände die bauenden 
und bildenden Künſte doch nicht ganz ohne Einfluß ſind. 

* * 


* 

Vielleicht wird, wenn die diktatoriſche Vollmacht des ſtraßburger Statthalters 
erliſcht, als Erſatz ein Ausnahmegeſetz gegen die gemeingefährlichen Beſtrebungen 
der modernen Kunſt gefordert, die der Kaiſer bei einem Beſuch der Großen Berliner 
Kunſtausſtellung wieder ſehr ſchroff kritiſirt haben ſoll. Noch ſind wir nicht ſo weit; 
und da einſtweilen Der nicht mit Gefängnißſtrafe bedroht iſt, der dieſer Richtung 
Unterſtand gewährt, konnte auf charlottenburger Gebiet die fünfte Ausſtellung der 
Berliner Sezeſſion eröffnet werden. An die den Modernen gemachten Vorwürfe er— 
innerte in der Erbffnungrede des Profeſſors Liebermann nur der Satz: „Nicht der 
mächtigſte Fürft: der Künſtler allein zeichnet der Kunſt die Wege vor, die fie zu ver— 
folgen hat“. Das iſt weder allzu neu nod) allzu fühn, für ein Mitglied der berliner 
Akademie am Ende aber alles Mögliche. Dieje Ausstellung jelbjt muß jedem, derin 
ihren Räumen den Ertrag derlegten Kunſternte zu finden hofft, recht arm ſcheinen. Die 
berliner Sezeffionijten haben nicht bejonders Großartiges geleijtet. Der interefjante 
Verſuch des Herrn Mar Liebermann, den Simfonftoff zumodernifiren und eine Delila 
zu zeigen, deren bürftiger Geſchlechtsreiz ſtark genug ift, um in der Brunft den ftärkjten 
Dann zu betäuben — wie manden Simſon jah man auf dem Lager einer unſchön 
alternden Luſtſpenderin der Straft beraubt! —, ift Skizze geblieben; freilich die 
Skizze eines Meifters, dem Keiner in Deutjchland heute das Eleine Bild „Im 
Meer” nahmalt. Herr Corinth entwidelt fi) von Jahr zu Jahr mehr zum 
techniſch ftarken, jeelifch ſchwachen Effekt: und Modemaler. Die lüderlichen Pinfeleien 
des Deren Mund, der noch immer eine unerfüllte Hoffnung ift, jollte man nicht 
ausjtellen; jie jcheinen gemalt pour &pater le bourgeois und fünnen das Urtheil, 
das taſtende Kunftgefühl unberathener Schauer nur verwirren. Die Herren von 
Hofmann und Leiftifow haben uns diesmal nichts Neues, die Derren von Uhde, 
Brandenburg, Staffen nichts Gutes zu jagen; und „Bierlanden“, das reizvolle 
und doch nicht ſüßliche Bild des jchlichten Holften Alberts, war vor fat zwei Jahren 
ſchon bei Keller & Heiner ausgeftellt. Ueberhaupt mu man fragen, ob der Zweck 
einer jährlichen Ausjtellung fein joll, jo viele alte, dem an der Kunſtentwickelung 
Sinterejfirten längjt belannte Bilder vorzuführen. Natürlich iſts eine Freude, die 
Meiſterwerke von Monet, Manet, Bödlin, Degas, Veibl, Thoma und Anderen wieder- 
zuſehen; diejes Wiederſehens Schauplaß könnte aber aud) der Yaden eines Kunſt— 
händlers jein, der fich dann wohl jcheuen würde, einen jo unbedeutenden Whijtler 
auszuſtellen, wie wirihn jegt in Charlottenburg jehen. Und wenn man die alten Bilder 
wegnähme, bliebe nicht jehr viel Sehenswerthes übrig. Zwei phantaſtiſch-witzige 
Bilder vonThomas Theodor Deine. Das Ehrylander- Portrait vom Grafen Staldreuth. ' 
Landichaftliche Einzelheiten auf lingers „Domer“. Dasfeine, durch die ſanfte Farben— 
ſymphonie entzücende Damenportrait von Reinhold Yepfius. „In der Waſchküche“ von 
Linde-Walther und das Halligbild von Alberts. Der von Slevogt virtuosgemalteSän- 
ger D'Andrade als Don Juan. Eine,Dame im blauen Kleid“ von dem Ruſſen Somoff, 
deſſen Namen man ſich merken muß. Einpaar gute, meiſt aber auch längſt befannte 
Trübner. Und — dieſe Laienüberſicht macht auf Vollſtändigkeit natürlich keinen 


nn 


332, Die Zukunft. 


Anſpruch — ein großes „Gejellfchaftbild von Ignacio Yuloaga. Schon diejes 
Bildes wegen müßte man die Ausitellung fehen. In dem von den Herren Marter- 
fteig und Woldemar von Seidlig herausgegebenen „‚‚Sahrbud, der bildenden Kunſt 
1902“, das, mit jeinem Neichthbum an belegrenden und anregenden Aufjägen, an 
Kunftbeilagen und Tertilluftrationen, des Lobes und der Empfehlung würdig ift, 
hat Herr von Tſchudi gejagt, der Spanier habe als Erjter die edle Tradition der 
Velazquez und Goya wiederaufgenommen. Wirklich: ſeit Belazquez ift jo nicht ge: 
malt, aus jolcher quellenden Schöpferfüllenicht geftaltet worden. Ein alter Meiſter 
jcheint erftanden, doch einer, der aus dem Nuge eines Modernen auf die Menjchenwelt 
jieht. Zuloagas deutiher Ruhm ftamınt aus Dresden, wo im vorigen Jahr vier feiner 
beiten Bilder ausgeitellt waren. Eins ſteht jet in der Bibliothek der Nationalgalerie, 
wird aber, da der Hofwind ſolchen Erwerbungen nicht günftig ift, wohl nicht ange» 
kauft werden. Ziemlich jchlecht ijt in der Sezeſſion die Plaſtik weggekommen. Klingers 
bemalte Sipsjkizze zum „Beethoven“ giebt von dem fertigen Werf feinen Begriff 
und wäre von bejjeren Freunden des Künftlers nicht banaufischer Lachluſt ausge: 
liefert worden. Es tft einigermaßen beſchämend, daß die Wiener Sezefjion in einem 
von ihren ſtärkſten Künſtlern in jchöner Beicheidenheit geſchmückten Raum den echten 
Beethoven zeigt, während die Berliner fid) mit einem kümmerlichen Embryo begnügen 
müjjen. Groß wirkt Klingers berühmter Liſzt; und Hildebrands „Bode“ ijt als 
Bortraitbüjte eine in ihrer Fühlen Art vollendete Meifterleiftung. Rodin ift ſchwach 
vertreten, von dem Belgier Minne mußte man, nachdem ſeit Rahren jo viel über 
ihn gejchrieben ward, jtärkere Proben geben und der Berliner Tuaillon hat in diefer 
Ausjtellung das nad) jeiner herrlichen „AUmazone“ von ihm Erwartete dem Blid 
nicht geboten. Warum, da nıan doc ältere Werke ausſtellte, fehlt Carrids, 
deilengeniale Plaſtikin Berlinnod ganz unbekanut iſt, warıım die Schaar der jüngeren 
Bildhauer, unter denen manches Talent zu entdeden wäre? Warıım hatman Zuloagas 
Sitana nicht von dem dresdener Befiger ausgeborgt? Solche Fehler — es wäre 
leicht, mehr Beiipiele anzuführen — follten vermieden werden, — jchon, um das von 
ziſchelnder Feindſchaft verbreitete Gerücht zu entfräften, die Häupter der Sezeflion 
juchten fich vor neuer Stonturrenz jchlau zu bewahren. Ihre Ausftellung bietet noch 
immer viel mehr, als man früher in Moabit zu jehen gewöhnt war. Gritens aber 
fönnten die meilten Bilder eben jo qut in einer akademiſchen Ausjtellung unterge- 
bracht werden. Und zweitens müßte eine Sezefltonijtenausitellung ein anderes Ziel 
haben als das: annähernd zu leiften, was jeder tüchtige Bilderhändler in feinem 
Salon leijtet. Wie würden die Abtrünnigen jpotten, wenn die Orthodoren ihre Säle 
am Lehrter Bahnhof mit den Meijterbildern der franzöfiichen Romantik, mit alten 
Werfen von Bödlin, Lenbach, Menzel, Knaus, Vegas, Thoma, Gebhardt füllten! 
Der große Erfolg, den fie faft mühelos erreicht haben, darf die Sezeffioniiten auf 
ihrem Weg eben jo wenig hemmen wie die Schimpfreden, die der Leiter der Großen 
Berliner Kunſtausſtellung neulich gegen fie ausſtieß. Sie haben die Pflicht, ohne 
Rückſicht auf ihr eigenes Seichäftsinterejje und auf die Yaunen des Herrn Omnis 
dem harrenden Bli alles Schenswerthe und Erreichbare zu zeigen, was während 
des abgelaufenen Jahres geſchaffen ward. Wollen fie retrojpektive Ausjtellungen 
veranftalten: vortrefflich: nur follen fies dann ausdrüdlich jagen. Nie aber darfihre 
Ausſtellung die foralame, duldſame Auswahl vermiſſen laffen, nie, wenn jte ein 
Kunſtereigniß fein ill, der Zufallshäufung eines Bilderhändfers gleichen. 


* 





u 2 ea Sl 


Notizbuch. 333 


De Rebarbariſirung Deutſchlands ſchreitet raſch fort und den ſpärlichen 
Lenzkeimen künſtleriſcher Kultur droht ernſte Gefahr. Wer hätte vor ein paar 
Jahren für möglich gehalten, ein ehrfurchtloſer Dilettant könne wagen, nad) einem 
allgemein anerkannten Meijterwerf zu greifen, es zu entjtellen, mit plumper Fauſt 
zu zerfegen, Wejen und Form zu ändern und diejes Produkt jeiner Bandalenwilltür 
an weithin jihtbarer Stelle den Deutichen zu zeigen? Wer hätte nicht Hundert 
gegen Eins gewettet, folches frevle Beginnen müfle ein Wuthgeheul weden? Nest 
erleben wir faſt in jedem Jahr diejes widerwärtige Schaufpiel; und gewiljenloje 
Neporter rühmen die Barbarei dann nocd als eine Heldenthat. Bor zwei Jah— 
ren hatte Herr von Hüljen, der Intendant des wiesbadener Hoftheaters, den jeinem 
Wink gehorchenden Handwerkern befohlen,, fih über Webers „Oberon“ herzu— 
machen; nach dem Plan des ‚Intendanten wurde ein neuer Text gedichtet, die 
Muſik „verbeflert“, mit melodramatijchen Zujägen verziert und das Ganze als 
„Feſtſpiel“ derjtaunenden Dengeangeboten. Dagegenjolche Berunglimpfung eines 
großen deutjchen Künſtlers der Widerftand fid) nicht laut genug regte und Fein 
Kritifer jagte, Webers unvollfommenes, doch organiſch entjtandenes Werk fei ihm 
zehntauſendmal lieber als das Nagout aus der wiesbadener Hofkunſtküche, ift der 
Oberkoch am Neroberg jet nod) fühner geworden. Wieder gab es „Maifeſtſpiele“; 
und diesmal hat der Herr Intendant jelbit des Dichtens Laſt auf ji) genommen. 
Daß er Shafejpeares Judentragifomoedie in ein „Märcenipiel“ umwandelte, mit 
ſchlechter Muſik befrachtete und, che noch ein Wort geiprochen ward, einenStraßenjänger 
fi produziren ließ, war ſchon ſchlimm genug und als cin erimen lacsae majestatis 
zu trafen. Aber der Mann hat aud) Gluds „Armida“ eine neue Handlung und neue 
Muſik gemadt. Das ift nicht etwa ein Scherz: Herr von Hüljen, der vor großen 
Schöpfern nie das Fürchten lernte, hat den Charakter der Heldin völlig verändert, 
ihr Judithmotive angeflict, den Text „neu gedichtet” und einem Dußendfapellmeifter 
befohlen, Glucks Muſik zeitgemäß umzuarbeiten. Was dabei heraustommen konnte 
und mußte, kann Jeder ſich vorjtellen, der Glucks gewaltige Architeftonik je 
auf ſich wirfen lieh. Giebt es irgendwo noch ein fultivirtes Yand, wo jo dreijte 
Entjtellung nationaler Meijterwerfe möglich wäre? Bei uns wird der Attentäter 
in den Zeitungen gelobt, wird er von den Pietſchen als ein „genialer Regiſſeur“ ge- 
priejen, weil er „Dekorationen von beraujchender Schönheit‘ herbeiſchafft und, jtatt 
den Geift und die Form der ihm zur Neproduftion anvertrauten Gedichte rein zur 
Geltung zu bringen, all die kleinen Luxushandwerkerkünſte aufbietet, über deren ver- 
derblihe Wirkung von Sadveritändigen jchon das Urtheil gejproden wurde, als 
fie, weil der arme Ludwig von Bayern an buntem Bühnenpomp Vergnügen fand, 
in den berüchtigten Separatvorftellungen zum erjten Mal angewandt worden waren. 
Gluck, deffen Muſik gar nicht orientaliich im Sinn der Modernen it, kann nur eine 
jtreng jtilifirte, leije, etwa in der Art Dorés, andeutende Inſzenirung brauchen; 
Derr von Hülien pußt ihn mit Wundern, die er aus den Winkeln der Trientbazare 
holt, und ftülpt, als wäre es ein Pappbau von Stinderhand, Charaktere und Hand» 
fung um. Früher hätte man wenigitens verjucht, ſolche Reſpektloſigkeit mit den 
Namen bewährter Künſtler zu decken. Jetzt genügt die Verantwortlichkeit eines 
Herrn, der bisher nur durch jeine Yeiltungen als Kartenkünſtler, Coupletſänger und 
Zajdenipieler befannt war und dem, als Yohn für jeine Berdienfte um die deutjche 
Kunft, die ehrenvolle Aufgabe zugewiejen wird, das Lohanniterfeft, dasim Sommer 


2334 Die Zukunft. 


auf der Marienburg gefeiert werden joll, in Szene zu ſetzen. . . Uebrigens muß in 
Wiesbaden allerlei Merfwürdiges zu jehen, zu hören und zu riechen geweſen fein. 
Der Kaiſer „fuhr durch ein Spalier von Fackelträgern und wurde im Theater von 
fojtümirten Fanfarenbläſern begrüßt.“ „Bevor der Kaiſer die Hofloge betritt, müſſen 
alle Beſucher des Erſten Ranges ihre Plätze eingenommen haben, die ſie auch in den 
Pauſen nicht eher verlaſſen dürfen, als bis der Herrſcher den Gang erreicht hat, der 
Hofloge und Foyer verbindet.“ Das ganze Theater iſt parfumirt. Der unbeſchreib— | 
liche Holzbod aber meldet: „Unter den Foyer jteht das Publikum, es richtet feine 

Blide nad oben und fühlt ein Stückchen Dofluft wehen.“ Sonderbar, jehr jonder- 

bar. Ein Glüd noch, daß die Firma Lohſe für Maiglödchendüfte geforgt hatte. 

* * 





* 

Aus Wiesbaden kam auch, gleich nach der Meldung, die Tochter des früheren 
Hofbankiers Cohn habe dem Deutſchen Kaiſer „Für Kunſtzwecke“ eine Million zur 
Verfügung geitellt, das Telegramm, worin Wilhelm der Zweite dem Präjidenten 
Roojevelt die Abjicht fündete, den Bereinigten Staaten ein Denkmal des Alten 
rigen zu ſchenken. Rom darf fih an den Konditorfünften des in Straßburg ab» 
gelegnten Herrn Eberlein freuen und Waſhington befommt einen echten Uphues; 
fein Original, wie es heißt, fondern eine dritte Kopie des bramjigen rigen aus der 
Puppenallee. Die Verheigung diejes fleinen Geſchenkes ift wohl als eine Privat: 
angelegenheit des Kaiſers zu betradhten. Für eine Staatsaftion wäre die Stunde 
nicht gut gewählt. Auf allen Gebieten ſuchen die Amerikaner Deutſchlands Wirth- 
ſchaft in ihren Dienſt zu prejjen; und zugleich zeigen fie durch Freiwillig gewährte Lieb— 
fofungen, durd) nad) England und Frankreich verichiefte Einladungen, wie viel ihnen an 
der Entkräftung des Verdachtes Liegt, jie jeien mit dem Deutjchen Reich befonders intim. 
Die öffentlich Meinenden, jelbjt die in der bequemen Byzantinerlivree ergrauten, 
haben denn auch den Einfall desstaifers nicht mit Jubelhymnen begrüßt. Daß Herr 
Uphues und nicht, da es doch eine Kopie fein jollte, Rauch gewählt wurde, ijt be 
dauerlich, weil ſolche Wahl das Anfehen deutiher Kunft ſchmälern muß. Cine 
Mufterausitellung follte endlich einmal der Spottiucht zeigen, daß es fern von der 
höfiſchen Sphäre eine deutjche Plaſtik giebt, die ſich ſehen laſſen kann. Unklug aber 
iſt die Behauptung, Friedrich paſſe, als ein Deſpot der Feudalzeit, nicht vor das 
Kapitol einer Republik. Dieſen Preußenkönig, der kein Kind hinterließ und dem 
feiner der ſpäteren Hohenzollern in irgend einem Weſenszugähnelt, hebt das Genie— 
recht aus der langweiligen Reihe alltäglicher Derrichergeitalten. Vieles, was über 
feine inneren Beziehungen zu dem Freiheitfampf der Nordamerifaner erzählt wird, 
gehört der Legende an, nicht der Geſchichte. Doch er hat gejagt: „Das Ziel, das den 
Staatengründern vorſchwebte, erreichen Republiken fchneller als Monardien und 
fie erhalten ji auc) länger; denn gute Könige fterben, gute Gejeße aber find un— 
ſterblich . . Jeder Monarch follte bedenken, da Ehrjucht und eitle Nuhmbegierde 
Yajter find, die man an einem Privatmann jtreng ahndet und an einem Fürſten 
immer verabichent. Die Tyrannen fehlen gewöhnlich dadurch, daß fie die Welt 
nur in Beziehung auf ich jelbit betrachten.‘ Und in jeinem Teſtament: „Das 
Ungefähr, das bei der Beitimmung der Menfchen obwaltet, bejtimmt auch bie 
Erjtgeburt; und darum, daß man König it, iſt man nicht mehr werth als die 
Uebrigen.“ Der Sat wäre als Denkmalsinſchrift für Waſhington jehr zu empfehlen. 





‚Herausgeber und verantwortlicher Nedakeuc: M. Harden ın Bertin, — Verlag der Zubunft in Berlın, 
Drud von Albert Damde in Berlin: Schöneberg. 


r 67 up Zu, 


eh * > 


T u * 1, ge = ad — a Sir, ve —* Hurt m 
N > * = >> Se RR N Se 2 6 


FE X / 8 


Pa ohne — "Tai ER 28 SH — a all 5% 
m — —* Br 1 9 
al Ah za" 9 „ —5 — Se} dr 4 m] REKEN IR, — 





Berlin, den 51. Mai 1902. 
er —— 





Vereeniging. 


as wir in den Begriff der Sittlichkeit, des ewigen, Theologen und 
Atheiſten bindenden Sittengeſetzes zuſammenfaſſen, iſt mehr als ein 
catalogue raisonné der Dinge, die man thun, und der anderen, die man 
laſſen ſoll. Das habe ich ſchon vor Jahren geſagt, in den friedlichen Tagen, 
wo ich noch Zeit hatte, Moralphiloſoph — und leider auch Bimetalliſt — zu fein 
und nach den Zielen neuer Ethik auszuſpähen. Doch ſchon damals habe ich 
auch vor einer Ueberſchätzung der in unſerer Menſchenwelt ſichtbaren Ent— 
wickelungen gewarnt. Was iſt dieſe kleine Welt im Leben des Alls? Sicher 
nicht ſein Ziel. Selbſt die Weiſeſten unter uns ſehen nur eine an Ruhm 
und Bedeutung nicht allzu reiche Epiſode, die ſich auf einem der unbeträcht— 
licheren Planeten abſpielt. Hinter uns erblicken wir Blut und Thränen, 
Raub und Mord, rathloſes Taſten und vergebliches Streben, wilde Em— 
pörung und ſtarre Ruhe; und nicht lange mehr — nicht lange wenigſtens 
im Vergleich mit den moderner Forſchung bekannten Zeiträumen — wird 
es dauern, bis die dem Menſchenauge jetzt ſcheinende Sonne erbleicht und der 
träg und fluthlos gewordene Erdball die Raſſe verſiechen läßt, die für ein paar 
kosmiſche Minuten ihre Einſamkeit geſtört hat. Dann ſtirbt der Menſch 
und mit ihm ſteigen all ſeine großen Gedanken und Errungenſchaften, ſein 
Genie, heldiſches Mühen und ſittliches Wollen ins Grab. Und im An— 
geſicht ſolcher Zukunft ſollen Zufallsoszillationen das ruhige Gleichmaß un— 
ſerer Seelen erſchüttern? Was wir ſinnen und trachten, iſt ja nicht neu; oft 
25 


336 Die Zukunft. 


genug ward ung vorgeworfen, unjere Macht beruheauf Sceraub, Briganten= 
thaten, Stiavenhandel; und ob wir Indien oder Egypten, Neufeeland oder 
Auftralien mit Britifch- Roth färbten, gegen Somalis, Ajhantis, Bajutos, 
Afridis oder Kaffern als Kulturbringer fochten: immer hat der Neid ung 
Grauſamkeit und fchnöden Egoismus nachgefagt. Keiner aber hat und den 
Weg zu ſperren vermocht, Keiner aud) zu beftreiten, daß wir gegen Bentham 
und Gladitone uns auf Moſes und Darwin berufen fonnten. Und weil 
wir thun, was die gelben Hottentoten den dunkleren jaguaniichen Bosjemans, 
die Schwarzen Kaffern den Hottentoten, die halbweißen Buren den Kaffern 
thaten, weil wir mit dem Recht der höheren Kultur einen unjauberen, 
jchlecht gepflegten Stamm ausroden, der mit dem jelben Necht Anders» 
farbige verdrängt hat umd ihnen bis heute jogar den Menjchennamen ver-⸗ 
jagt: deshalb follen wir aus der Gemeinschaft der fittlih Empfindenden 
jcheiden? Das Auge, das durch Aconen fchweift, wird bei joldher Drohung 
nicht lange weilen. Mich hat die Frage nad) dem Ausgang des Krieges nie 
aufgeregt und ic) jehe auch jetst mod) feinen Grund, ihr den Schlaf und die 
Nealtennisjreuden des Wochenendes zu opfern. Allesin unferer Weltnimmt 
ein Ende, das der Philojoph in Geduld abzumarten hat. So kann ich im 
Unterhaus, vor den furzathmigen ntelligenzen Campbell - Bannermans 
und jeiner Leute, nicht ſprechen; da muß ich auf die Gerechtigfeit unferer Sache 
pochen und die Regiſter der nationalen Ehre ziehen. Hier aber brauchen wir 
ung nicht zu echauffiren. Auch dieje Epijode in der Epijode des vergänglichen 
Denjchenrafienlebens geht ftill vorüber und fünftigen Geologen und Aſtro— 
nomen wird e8 gleich gelten, ob wir ein Bischen früher oder fpäter gefiegt 
und den Befiegten etwas mehr oder weniger Freiheit bewilligt Haben.“ Alſo 
ſprach Arthur James Balfour, der Erjte Lord des Schakes, in Scotts 
Palaft, den die Downing Street von der Treafury trennt. Sprachs, lehnte 
das Haupt zurüd, ftredte die Beine jehr weit von ſich und blickte mit einem 
Ausdrud, an dem Fra Angelifo feine Freude gehabt hätte, gen Himmel. 
Robert Cecil, Marquis von Salisbury, war während der langen 
Rede ſeines philojophiichen Neffen fo janft entfchlummert, als fäße der Bot- 
Ichafter einer Großmacht vor ihm. Daran war man gewöhnt und fein Kol« 
legenantlig zeigte die Spur eines Staunens. Sacht und mit der gehöri— 
gen Diskretion zupfte Hicks- Bead) den greifen Schläfer am Rod. Der Pre⸗ 
mier eriwachte, blinzelte, räufperte fich, um den Schleim aus der Kehle zu 
Ihaffen, und jprad) dann: „Ya... Ich bin aud) der Meinung, daß es ſich 
nicht empfiehlt, den Abſchluß der Sache nod) länger hinauszuſchieben. Mils 


Bereeniging. 337 


ner muß doch jelbft den Stein, De La Ney, und wie die widerhaarigen 
Gentlemen fonft heißen mögen, endlich bewiefen haben, da fie befiegt find, daß 
fieeinfach nicht weiter fönnen und blind annehmen müſſen, wasunfer Groß— 
muthihnengewährt. Mit der Führung diejes Beweifes hatteich ihn beauftragt 
und begreife nicht, daß er immer noch von Bedingungen redet, die uns geſtellt 
würden. Ich jehe eigentlich nurnoch eine Schwierigkeit. Wir wollen, ſagte ichin 
vielen Peersfammerreden und Trinfiprüchen, weder Goldnoch Land, jondern 
fümpfen nur für die Gleichberechtigung des freien Briten. Aber die An- 
nerton ift ja ſchon ausgejprochen und an die alten Gefchichten denkt wohl fein 
Menſch mehr. Auch die Verheifung, den Buren folle fein Schatten von 
Selbjtändigfeit gewahrt bleiben, ift hoffentlich vergejjen. A la guerre 
comme ä la guerre. Der Ruſſe, vor dejjen langem Löffel unfer ungemein 
geiftreicher Kollege aus Birmingham in einer feiner mit Necht berühmten 
heißen Stunden jo wirfjam gewarnt hat, könnte eines Tages unruhig wer- 
den und ficd) von inneren Nöthen dadurch zu befreien juchen, daß er das 
Bentil nad) außen Öffnet. Das wäre, trogdem wir des Deutjchen Reiches 
fiher find, immerhin unangenehm. Und Sie Alle, meine verehrten Herren, 
wiljen, daß der König den dringenden Wunſch hat, das Feit der Krönung in 
einem Reich friedlicher Ruhe, unter glüclichen Bürgern zu feiern. Schon 
die Rückſicht aufdiefen fo humanen wie natürlichen Wunſch muß uns beftim- 
men, den Rahmen der zubewilligenden Konzejfionen ein Wenigzuerweitern.“ 

„Wirklich?“ Herr Joſeph Chamberlain hatte jchon eine Weile nervös 
mit dem Monocle gejpielt; jet femmte ers ins Auge und ſandte dem Bre- 
mier einen Blid, aus dem Grimm und Verachtung jprachen. „Ich freue 
mic) der Thatfache, daR der ehrenwerthe Marquis den Muth hat, der Kate 
die Schelle anzuhängen, muß aber geftehen, daß meine Ohren das Geflingel 
nicht vertragen. Nicht erſt jeit geſtern. Yängft ärgert mich die jchellenlaute 
Thorheit, die aus einer Hofceremonie ein politijches Ereigniß macht. Hat 
dein das Volf der drei Königreiche, das die Stuarts nicht ertrug und ſich 
mit der Schlichtheit feiner demofratiichen Einrichtungen brüftet, plößlic) 
nichts Beſſeres zu thun, als fic über Koſtümfragen den Kopf zu zerbrechen 
und an Rangordnungen, Putzmacherei und Schneiderfram die Zeit zu ver- 
zetteln? Dann darf es auf die Kontinentalfitten nicht mehr ironiſch herab— 
ſchauen und fich nicht wundern, wenn der Monard) über die Rolle hinaus 
ftrebt, die ihm die Magna Charta dieſes Yandes zumeilt. Und num joll 
die Rückſicht auf ein Hoffeft gar die Antwort auf eine Lebensfrage beſtim— 
men? Dann fehren wir hinter die Zeit zurüd, wo Lord Coke jchreiben 


25° 


338 Die Zutunft. 


fonnte: Praesumitur rex habere omnia jura in serinio pectoris sui. 
Wir führen einen Krieg um die Macht, um die Zukunft de8 Imperiums, 
einen Krieg, in dem wir fiegen müfjen, wenn wir nicht Afrika verlieren und 
dem Feind den Seeweg nad) Indien öffnen wollen. In diefem Krieg haben 
die Kolonien das Mutterreich in einer Weiſe unterftügt, die alle Erwartung 
übertraf. Glauben Sie, daß die Kinder Britanias der lautejte Krönungjubel 
für ihre Opfer entjchädigen fann? Ich zweifle; und meine, daß wir ung 
weder bei Philojophengeipinnjten noch bei loyalen Redensarten aufhalten 
jollten. Der Wunſch des Königs darf, jo rejpeftabel und menjchlich er jein 
mag, uns nicht um eines Fußes Breitezurüddrängen. DieBuren find tapfere 
Leute und noch nicht am Ende ihrer Kraft angelangt. Yejen Sie den Januar— 
bericht de8 Generals Smutsan Krüger ; erinnern Siefid, daß Steijn an Kit» 
chenerichrieb, Englands Macht reiche in Südafrika nurgerade jo weit wie die 
Flugbahn ſeinerGeſchoſſe; und bedenken Sie,wielange auf dem den Angreifern 
ungünjtigiten Terrain der Erde ein Bauernheer Stand halten fann, deſſen 
Deannjchaft zufrieden ift, wenn ie in brennendem Kuhmiſt einen Fleiſchfetzen 
gebraten hat. Seit Wochen ſitzen die Führer diejes Heeres in Berceniging und 
Pretoria. Da ſoll, nach dem Auftrag des jehr ehrenwerthen Marquis, 
Lord Milner ihnen beweijen, daß fie bejiegt, unrettbar verloren jind. Biel- 
leicht werden fie finden, diejer Beweis ſei nur durch die Gewalt der Waffen 
zu führen. Jedenfalls find fie nicht von jeder Verbindung mit Europa ab— 
geichnitten; und wahrjcheinlich haben fie jchon gehört, welcher Werth hier 
darauf gelegt wird, daß der Friede vor der Krönung gejchlojien ift. Der 
Herr Staatsjefretär für das Kriegsweſen jchüttelt den Kopf? Nun, meine 
Herren, ich fenne die Küche, in der das Friedensgericht gefocht wird. Ich 
vermuthe nicht, jondern weiß, daß in Pretoria gejagt worden iſt: nur der 
Tag der Strönung biete die Möglichkeit, die Caprebellen zu begnadigen, und 
wenn die Buren bis dahin nicht Frieden jchlöffen, jei diefe Bedingung nicht 
mehr zu erfüllen. Bedingung! Jahre lang haben wir erklärt, wir führten 
feinen Serieg, fondern würfen den Aufftand eines VBajallenftaates nieder, — 
und nun verhandeln wir wie mit einem ebenbürtigen Gegner über die Frie- 
densbedingungen und laſſen uns von Tag zu Tag zu neuen Konzeſſionen 
drängen, ftatt in einer legten Anftrengung unjerellebermacht zu zeigen. Ich 
gebe gewiß nicht viel auf papierne Berjprechungen ; wenn die Tinte troden 
ift, lieft mans anders. Hier aber handelt jich8 um unjer Anjehen. Keine Unter- 
handlung, hier es, Fein Schatten von Selbftändigfeit. Wenn wir unjer Pre— 
jtige preisgeben wollten, brauchten wir den Krieg nicht erft anzufangen.“ 


Bereeniging. 339 


„Das wäre, wie jonft ganz verftändige Leute finden, am Ende fein 
Unglüd gewejen”. Der alte Salisbury war, munter geworden und das 
Schmunzeln der Kollegen trieb ihn, der fatirischen Neigung den Zügel zu 
lodern. „Der anjehnliche Herr Kolonialminifter, deſſen hohe Genialität 
uns jo oft entzüct hat und dem ich, mit einem Wort Dowdens über Shafe- 
fpeare, einen wahrhaft majeftätiichen Menjchenverftand nahrühmen möchte, 
fcheint mit dem Moſesſtab feines Geiftes Quellen zu erjchließen, aus denen 
uns Shwächeren Sterblichen fein Tröpfchen rinnt. Wahrjcheinlich find es 
die jelben Quellen, aus denen ihm früher die Gewißheit fprudelte, der 
Doktor Jameſon werde auf feinem Ritt ang Ziel fommen, und jpäter die 
noch glaubwürdigere Kunde, Paul Krüger werde um feinen Preis der Welt 
jein Vol zu den Waffen rufen. Vielleicht erinnert der eine oder andere 
der Anweſenden ſich noch der fortreißenden Beredjamfeit, dieder verehrte Herr 
Kollege aufwandte, um ung feine Zuverjicht zu ſuggeriren, — mit jo glängen- 
dem Erfolg,daß wireinliltimatum wagten,ohneirgendwiezumstriegegerüjtet 
zu fein. Und jeitdem haben wir ja mehr als einmal dieVorausficht feines Di- 
plomatenauges angeftaunt. Jetzt aber muß ich in aller Bejcheidenheit ge- 
ftehen, daß ich dem hohen Flug jeiner Gedanken nicht zu folgen vermag. 
Das liegt vielleicht an einer gewifjen Senilität, die der ehrenwerthe Herr mit 
der ihm eigenen Menfchenfreundlichkeit jchon öfter an mir wahrgenommen 
haben joll, vielleicht aber auch an der Verjchiedenheit unferer Ausgangs- 
punkte. Mir fcheinen die Dinge auf gutem Weg. Man hat fic) gejchlagen, 
man wird fid) vertragen und beide Parteien werden den Pflod um ein paar 
Löcher zurücteden. Den Mund haben wir Alle — natürlid; mit Ausnahme 
des Herrn Kolonialminifters — mandymalzuvollgenommen. Das ijtkein jo 
furchtbares Unglüd. Für ein ſolches aber müßte ich eshalten, wenn die Mi: 
nijter Seiner Majeftät jic) dazu hergäben, Wünjchen de8 Monarchen ent- 
gegenzuarbeiten. Diejen Theil des Dlinenkrieges wenigſtens muß ich Ande- 
ren überlafjen, die durd) feine Tradition gehemmt find und ihre Lehrzeit in 
anderen Lagern durchgemacht Haben. Der König kann in diefem Lande nicht 
Unrecht thun. Der hohe Herr ift ſich auch jetst bewußt, der Verkünder 
jehnjüchtiger Vollswünſche zu fein. Das Bolf von England will Frieden. 
Es will nicht länger die Yaft des Schimpfes tragen, den ihm das Ausland 
täglich zufügt, und das füdafrifanische Induſtriegebiet der ruhigen Arbeit 
wiedergegeben jehen, die Reichthümer schafft, nicht gehäufte Schäße vernichtet., 
Eine Regirung, die gegen jolche Forderung taub bliebe, würde unpopulär 
werden; und mindefteng die Abjicht, die Volksgunſt einzubüßen, möchte ich 


840 Die Zuhmft. 


meinem Herrn Kritiker nicht zutrauen. Uebrigens kann ich für die Richtig— 
feit unseres Handelns eine Autorität anführen, deren Gewicht er einſt nicht 
verfannt hätte:-Yord Nofebery, der ihm näher fteht als mir, riethb ung... .” 

„So jchnellwie möglich Frieden zu Schließen. Natürlich. Der Schwie- 
gerjohn Rothſchilds, der da unten eine Millionenfaat in der Erde hat und 
ungeduldig auf den Minenboom und den Induſtrieaufſchwung wartet, der 
dem Friedensichluß folgen muß. Und Nofebery ift wurzellos, feit er gegen 
Homerule auftrat und Imperialiſt wurde. Er braucht, um Premierminifter 
werden zu können, einen neuen Trumpf; und ich muß ihm nachſagen: er 
hat, unter fluger Leitung, die Karten vorfichtig gemischt. Kommteszueinem 
dem Vollklswunſch entiprechenden Frieden, dann hat er als Erjter den Weg 
gewiejen; in jedem anderen Fall ift er ſchuldlos und die Wirfung des guten 
Nathes durch die Thorheit der fonjervativen Regirung vereitelt worden. 
Beim König hat er ſich, wie immer der Würfel falle, beliebt gemacht. Denn 
der König langt ſehnlich nad) einer Aufbefjerung feiner Popularität. Den 
verehrten Marquis, den ich zwar nicht Englands größtem Dichter, aber dem 
unfterblichen Sänger der Odyſſee vergleichen fann — der ja aud) mand)- 
mal jchlief —, drückt die Yaft ausländischer Schimpfreden und ungejtiliter 
Bolksjehnjucht zu Boden. Sein erjchütternder Seufzer erinnerte mid) an 
das Erlebniß eines nicht minder weifen und fittenftrengen Politifers. Als 
Herr Briffon in Marjeille neulich in einer Wahlrede jagte, er habe unter 
dem Kittel des Arbeiters jo viel muthige, heldenhafte Würde gefunden, 
daß fein Schwarzer Rod ihm fchwer werde, rief ein jchlagfertiger Proletarier 
dem gerührten Greis zu: ‚So zieh ihn doch aus!‘ Nach reiflichem Ueber- 
legen fände vielleicht aud) unfer Neftor die Möglichkeit, eine Bürde, die ihm 
zu jchwer wird, abzufchütteln. So lange wir aber das Glück und die Ehre 
haben, ihn auf dem Plage zu jehen, dem er jeinen Ruhm danft, muß er mir 
ichon geftatten, mit dem jelben Freimuth zu reden, den er früher fo auf- 
richtig ſchätzte. Dem füdafrifaniichen Induſtriegebiet ſoll die Aera ruhiger 
Arbeit wiederfehren. Das klingt wunderſchön; nur... Der Krieg, der 
jich jegt auf ganz anderen Schauplägen abipielt, hindert die Minenbejiger 
längst nicht mehr, die Arbeit in vollem Umfang aufzunehmen; aber die 
ſchwarzen Arbeiter fehlen ihnen, — und dieſe unerjeglichen Kaffern bringt 
der Friedensichluß nicht von heute auf morgen an den Rand zurüd. Wir 
wollen die Dinge doch ſehen, wie fie find, nicht hinter Phrajenjchleiern. Fort— 
geſchimpft wird unter allen Umjtänden. Wenn wir nad) dem langen, an 
Opfern aller Art überreichen Kampf nun aber einen Frieden jchließen, der 


Bereeniging. 341 


ung bejd,ämende Konzeſſionen aufzwingt, dann ernten wir zu dem Schimpf 
auch noch Spott. Die Berantwortlichfeit für jolchen Frieden ſcheue ich, nicht 
die fürden Krieg. ES war nicht meines Amtes, 1899 feftzuftellen, daß die Hoff- 
nung auf fremde, namentlich deutjche Hilfe in den beiden Freiſtaaten ſtärker 
war als alle Bauernbedenfen; und der Yeiter der auswärtigen Politik follte 
mir nicht Mangel an Borausjicht vorwerfen. Immerhin: ich bin bereit, die 
Schuld aufmic zunehmen. Wirdder Krieg jozu Endegeführt, daß wir miter- 
höhtem, nicht mit geminderten Anjchen daraus hervorgehen, dann magman 
mein Handeln unfittlich und barbarifch nennen. Ohne zerbrochene Eierjchalen 
giebts feinen Eierkuchen, ohne zerftampfte Völkerſtämme fein Weltimperium. 
Sch will zufrieden fein, wenn man jagt: Diejer Kerl hat den Muth gehabt, 
Etwas zu wagen, und die Ausdauer, fein Ziel zuerreichen. Ob id) dabei für 
eine Weile aus der Volksgunſt verdrängt werde, gilt mir gleich. Vorläufig .. 
Ich habe, vielleicht, weil ich jünger bin, vielleicht, weil unjere Ausgangs: 
punfte verjchieden jind, nur einen Verwandten in eine Staatstellung ge- 
bradtundbin, troßall meinen Sünden, unjchuldig daran, daß diejeslöbliche 
Minifterium als Hotel Cecil Illimited auf der Gaſſe verhöhnt wird.“ 

Die befürd)tete Exploſion war da. „Aber meine Herren... !” 

„Kleine Misverftändnijfe! Nein taftiiche Fragen!“ 

„Er bleibt der Barvenu aus der Eijenbrandhe.“ 

Ein Bote trat ein. „Botichaft von Kitchener?” Nein: vom König, 
der direlte Nadyridyten empfangen hat und den Marquis von Salisbury zu 
fi) bitten läht. Es handelt jich nur nod) um Kleinigkeiten. Zu erwägen jet, 
ob man den Buren den Kabelverfehr mit Krüger freigeben jolle. Das werde 
verlangt, weil beide Theile ſich beim Abjchicd mit Handſchlag verpflichtet 
hatten, weder in Afrifa noch in Europa Frieden zu schließen, ohne vorher 
den Rath des anderen Theiles gehört zu haben. Dem König jcheine die Zeit 
zur Erfüllung dieſes nicht unbilligen Wunſches gekommen. 

„Wenn Seine Majeſtät die Enticheidung aus dem Schrein feines 
Herzens holt, brauchen wir hier nicht müßig herumzufigen. Mahlzeit!” 

Der Erjte Yord des Schages zog die Beine vom Stuhl. „Schicken Sie 
den Zeitungen eine Notiz: ‚Die aus Bereeniging und Pretoria eingetroffenen 
Nachrichten haben den Minifterrath heute nicht lange beichäftigt, da ein- 
jtimmig an dem Entichluß feitgehalten wird, über die in Ausficht geftellten 
Konzejjionen nicht Hinauszugehen‘. Hm... Dieje Politiker find merfwürdige 
Leute. Wie uninterejjant werden den Geologen und Ajtronomen der Zukunft 
all die Dinge jcheinen, mit denen wir uns das Bischen Yeben vergällen . . .* 


* 


Ge- u 


342 Die Zukunft. 


Die Große Runftausftellung. 


er die Große Berliner Kunftausftellung hört man fo viele Klagen, 
SEN da man verfucht wird, Einiges zu ihrer Entfhuldigung zu fagen. 

Ihr Niveau ift allerdings jchlecht und die Bilder, die in ihr miferabel 
find (fie hängen meift im Rundgang und in jenen Räumen, wo über zahl: 
reihen Thüren das hilfreiche Wort „Nothausgang* fteht), diefe Bilder mögen 
dem ärgften Dilettantismus verdanft worden fein. Man fragt ji, ob bei 
ihrer Annahme den Ausftellungvorftand nicht ein doch zu nichts nützendes 
Mitleid leitete. Was kann den armen Malern, die diefe Bilder eingejandt 
haben, ihre Austellung helfen, da fie fo gehängt wurden? Der Ausitellung- 
vorftand war großmüthig: er nahm ein Gemälde an, das in einer violetten 
Gegend einen blauen Fluß zeigt, während am Horizont in einem rothen 
Streifen die Sonne unterlinft. Aus dem Roth, Blau, Violett entftand ein 
trübes Ganze; außerdem jcheint der Maler bei der Heritellung feines Bildes 
fi der Vortheile nicht bewußt geworden zu fein, die die Delfarbe wegen 
ihrer Gefchmeidigfeit bietet. Dder man fieht ein Herrenportrait, auf defien 
weiße Weſte und Stirn überflüfiger Weife — überflüjjig, weil die Dar: 
ftellung nicht überzeugend wurde — das Sonnenlicht fällt. Man denkt vor 
diefem Bilde daran, wie in dem guten alten Zeiten die Maler ich einfache 
Motive wählten und fie in Bollfommenheit wiedergaben, während heutzutage, — 
und fo weiter. Und gerade die Dilettanten wählen die jchwerjten Motive aus. 

Dennoch können diefe Bilder für die berliner Ausftellung nicht ver— 
hängnißvoll fein. Denn jeder Befucher der parifer Salons erinnert ſich, 
an wie vielen Bildern er.dort alljährlid in unfagbarer Langeweile vorüber- 
geſchritten iſt. Dieſe Bilder waren ohne Zweifel befier gemalt. Doc diefer 
Unterfchied bedeutet nicht viel. Nicht, weil fie mehr oder weniger fchlecht 
gemalt find, jondern, weil die Künitler, die fie fchufen, matt find, deshalb 
wirfen in allen Ausitellungen die „vielzuvielen* Bilder lähmend. Und die 
Sezeiftoniften, von Paris wie von Berlin, wußten fehr wohl, weshalb jie 
vor Allem daran gingen, ihre Ausitellungen auf einen fleineren Umfang 
zurüdzuführen; in den bejchränften Räumen, mit deren Arrangement fie ſich 
befaßten, hatten jie es unendlich leichter als ihre Kollegen von den offiziellen 
Ausstellungen, interejlante Ausftellungen zu Stande zu bringen. 

Die Große Berliner Kunftausftellung leidet außer an der Ausdehnung 
ihrer Säle daran, daR ihr Publikum eine Unterhaltung erwartet. Diejen 
Unterfchied zwiichen der Großen Berliner Kunftausjtelung und der Sezeſſion 
macht man fich lächelnd Far, wenn man in der Großen Kunftausftellung 


. Vz I ETTTTE “ —— ET, 
#. zwi er Fe, A — ⁊ ® 


Die Große Kunftausftellung. 343 


vor einem Bilde ftehen bleibt, das eine junge Dame in alterthümelnder 
Tracht an einem Saffeetifch am offenen Fenſter (mit einem Blumenarrangement 
und im Sonnenfchein) zeigt und das den Vermerk „Verkauft“ trägt, — 
dieweil in der Sezeſſion der Vermerk „Verkauft“ nur an ſolchen Werfen 
fteht, die den. Stempel des Unvolfsthümlichen gerade in der fchärfiten Form 
offenbaren. Für die Erörterung in diefem Zufammenhange ift es einerlei, 
ob zum Theil der Terrorismus, den die Zeitungen ausüben, mit ſolchem 
verwunderlichen Verkauf unvolfsthämlicher Werke im Zufammenhang jteht. 

Jedenfalls ift ficher, daß, wenn vielleicht das Publifum der Sezeſſion 
auf die Aeußerungen der Zeitungen achtet, die Kunftfreunde in der Großen 
Kunftausftellung naiv find. Im ihr treffen Menfchen zufammen, die nicht 
gelonnen find, Sich von Zeitungen und Zeitfchriften rathen zur laſſen, welche 
Bilder zu bewundern find. Man geht feiner Laune nah. Und danır fchallen 
aus dem Hintergrumd, leife, aber verriehmlich, die Klänge einer Muſikkapelle. 
Nach der Belichtigung der Bilder wird man in den Parf gehen. 

Diefer Charakter der Ausftellung, den eine langjährige Ueberlieferung 
geichaffen hat, giebt ihr Etwas von einem bürgerlichen Vergnügen. Man 
fann gegen diefe Tradition fich nicht auflehnen. Man wird der Auftellung- 
leitung mildernde Umftände bewilligen müſſen, wenn es ihr nicht gelungen 
fein follte,.die Austellung rein künftlerifch zu machen. 

Und dann bedenke man auch die Nebenftrömungen. Da find Bildniffe 
von Dtto von Krumhaar. Sie unterscheiden ſich von den Bildern der 
Dilettanten, die in die entlegeneren Räume relegirt worden find, dadurch), 
daß ihr Berfertiger allerdings nicht die ſchwierigen Aufgaben, fondern die 
leichteften Motive wählte, um fie unvolllommen auszudrüden. Das gab ihnen 
aber noch fein Recht auf viel beſſere Pläge. Doc Hängen jie nicht zur 
Genugthuung des Ausjtellungvoritandes da. Ein Ausitellungvorftand hat 
um fo vielfachere Nüdjichten zu üben, je ausgedehnter der Kreis ijt, über den 
die Ausstellung ſich verbreitet. Dem diesjährigen Ausftellungleiter iſt es 
nicht in höherem Maße als einem feiner Vorgänger gelungen, der Mißlich— 
feiten Herr zu werden, die fich einer Fünftlerifchen Geftaltung der Großen 
Austellung entgegenfegten. Doch wenn felbft eine emergifchere Hand als 
die des Profeffors Arthur Kampf die Zügel ergriffen hätte, fo würde nod) 
immer in der MWeitläufigfeit der zu füllenden Säle und in den Wünfchen 
vieler ihrer Befucher feine Verfchiebung herbeigeführt worden fein. 

Die Werke, mit denen jih Kampf an der Ausftellung betheiligte, find 
ſchwach. Sie find von einer betrübenden Gleichförmigkeit; e8 wird feine 
Spur von Empfindung in ihnen fichtbar, fie find akademiſch mit einem Zus 
ſchuß von Düffeldorfertfum. Zur larmoyanten und falten Spezialität des 
düffeldorfer Koftümgenres gehört Kampfs Bild, deſſen Thema wahrlid eine 


344 Die Zukunft. 


fräftigere Ausführung hätte hoffen laflen, von „Friedrich dem Großen nach 
der Rückkehr aus dem Giebenjährigen Kriege in der harlottenburger Schloß: 
fapelle“ ; auf die in Düfjeldorf von E. F. Leſſing bis zum Profeſſor Janſſen 
betriebene Monumentalkunft weiſen feine Entwürfe für Wanbdbilder hin, bie 
für das Kreishaus in Aachen beftimmt find. Vor diefen Kartons hätte 
Cornelius fih im Grabe umgedreht, während C. F. Leſſing bei. ihnen er— 
wogen haben würde, wie fchön es fei, dar auch jegt noch eine Kunſt, die 
manche Selige eine Surrogatfunft nannten, in weiten Streifen gejhägt werde. 
Abſcheulich berührt an diefen Kartons die Negelmäigfeit. Man fehe auf 
dem einen Eutwurf die Kinder an und vergegenwärtige ich die Kinder von 
Knaus auf feinem Bilde in der Nationalgalerie „Wie die Alten jungen“ 
(nad welchem Gemälde jih Kampf ein Wenig gerichtet hat)... Man betrachte 
nah Kampfs anderem Karton, der Arbeiter bei und nach der Arbeit zeigt, 
die Arbeiter auf Menzels „Eifenwalzwerf*. Man vergleiche die mathe: 
mathifch gemachten Kinder und Arbeiter bei Kampf mit den Kindern bei 
Knaus, mit den Arbeitern bei Menzel. 

Es iſt jo entjeglich verkehrt, zu meinen, daß, aud wenn der Athen 
für Monumentalfunft nicht vorhanden iſt, Monumentalfunft damit hervor- 
gebracht werden könne, dan Modellftudien gruppirt und des individuellen 
Ausfehens beraubt werden. 

Ein Dealer, der Dergleihen thut, ſetzt ſich lediglich zwischen zwei 
Stühle. Aus feinen Studien nad dem lebenden Modell reift er das Leben, 
den Neiz des Lebens, die Intimität, — und Monumentalfunft wird es nicht, 
weil Etwas nicht dadurdy monumental wird, daß an die Stelle der Mannich— 
faltigkeit und reichen Unregelmäßigfeit des Lebens einige willfürliche Linien 
treten. Ein Werk ift nit darum monumental, weil es arm von Leben ift. 
Ein Werf wie diefes iſt vergrößerte und dabei unleidlich vergröbertes Genre. 
Schade um die Winde dieſes Kreishauſes. 

Ein harakteriftifches Werk der Großen Kunftausftellung iſt das Por- 
trait der „Gräfin H.“ vom Profeffor Grafen Harrach. In diefem Bild 
Ipricht eime echtere Kunſt als in allen Einfendungen von Kampf: hier war 
Etwas zu jagen. Freilih ift Das mehr eine inhaltlich feſſelnde Erzählung 
al3 eine gute Malerei. Dies Bild berichtet von Helden und Sieg, von 
Treue und Vaterland, von vaterländifcher Geſchichte. Es enthält auch mehr 
Geſchichte als Nöchlings beide gemeinen Schlachtengemälde von Kolin und 
Hohenfriedberg. Es iſt nicht gut gemalt, troden, mehr gezeichnet als gemalt, 
die Edjultern und der Naden ind geradezu fchledht, aber von feinem Blut 
durchriefelt iſt das zarte Fleisch des befchatteten Geſichtes und anſchaulich 
ind die Haare behandelt. Es ijt viel naives Talent in dem Bilde Man 
findet eim ſolches Bild nicht in der Berliner Sezefjion, man findet,. möchte 








Die Große Kunftausftellung. 345 


man fagen, im feiner Sezejjion-Ausftellung der Welt ſolches Bild, das über: 
zeugt Thron und Alter vertheidigt. Wir haben in England und Frankreich 
freilidd Maler der großen Welt gefehen; jie konnten jedoch dieſe Reinheit 
nicht geben. Schade, daß Harrach nicht Maler ift. Was ihm fehlt? Das 
entnimmt man vielleicht dem daneben hängenden, übrigens, trogdem der Dialer 
Talent hat, nicht guten Bilde von Dettmann. Dies ijt ein tolles Bild. 
Ein „Friefiiches Lied“ follte dargejtellt werden. Die Stimmung, die auf 
der Stirn der Heineren frieifhen Dame leuchtet —: wenn die Fähigfeit, irgend 
‘ einen Hauch, eine Bewegung der Luft, über den Körper fliegen zu laffen, 
in Harradh läge oder von ihm erworben worden wäre, dann würde er 
Maler fein. 

Guſſows ftupend gemaltes Bildnif der „Frau Bürck“ hinterläßt einen 
gemifchten Eindrud. Die Technik und Frau Bürd Haffen auseinander. Die 
Technik ijt eine den Malern früher Zeiten nachgeahmte, man denkt an Stopijten- 
und Rejtauratorenthätigfeit; und Frau Bürd ift feine Erfcheinung, die fich 
für eine Malerei in der Art der Primitiven eignen würde; fie hat ein voll» 
ftändig. modernes Geliht; fo erklärt fi der Widerſpruch. Man denkt an 
Zolas Wort: „Ein Kunſtwerk ijt ein Winkel der Schöpfung, gefehen durch) 
ein Temperament“, um fich daran zu erläutern, daß Gufjows Bild fein 
Kunſtwerk if. Zugleich freut man fich über die Fortfchritte der Menjchheit, 
da die Menfchen früher Guſſow für ein Temperament hielten und fid) jest 
darüber einig wurden, daß er nur ein Techniker ift. 

Gari Melchers wirkt auch nicht mehr überzeugend; allerdings ift es 
ein ziemlich fchlechtes Bild, das er auf der Ausjtellung hat, fein „Roth— 
läppchen.“ 

Das große Hiſtorienbild Benliures verſtimmt nicht, beſchäftigt aber 
auch nicht. 

Als vor Kurzem Julius Groſſe ſtarb, las man, ein Redakteur vom 
Rheinischen Courier habe ihm eine Warnung ertheilt, nicht nad) Weimar zu 
gehen; in Weimar, jagte er, würde er ein Pflänzchen fein, das zwifchen den 
großen Bäumen im Schatten ftehe. Daran darf man denken, wenn man in 
der Großen Ausjtellung in das Kabinet von Louis Kolig tritt. 

Diefer Maler hat in Kaffel im Schatten der Galerie gewirkt. Staffel 
ift eim gefährlicher Ort für Maler: die Galerie ift dort wundervoll; eine 
malerische Vorſtellung in der falten Beamtenjtadt kann nicht auffonmen; 
nicht3 hält der Galerie die Wage. Kolig gerieth in den Bann diefer Sammlung. 
Was in feiner Spezialausftellung aber auffällt, ift nicht das Stellerartige im Licht 
jeiner Bilder, nicht ihr Schwarz, ihr Tiefſinn, ihre Grabesſtimmung, ihr Eklekti— 
zismus: das Alles erwartete man. Was auffällt, ift, auf feinem Selbitportrait 
wahrzunehmen, daßer friiche, geröthete Wangen hat; denn Das erwartet man nicht. 


346 Die Zukunft. 


Man hatte vermuthet, er müßte vom Geifte der Galerie verzehrt fein, bleich, 
hohlwangig, aldemiftifch ausfehen. Nun hat er ein gemüthliches Geſicht 
und eine goldene Brille; deito beffer. Er fcheint weniger eine Künftlernatur 
zu fein, die von den Alten bejeflen it, als ein ruhiges Gelehrtennaturell, 
das ihnen in einer gemächlichen Weife folgt. Im feinen Bildern ahmt er 
den Alten, meift Jedem für fih und manchmal in Kombinationen, nad. 
Das natürlich find feine fchlechteiten Werke. In einer Kriegsſzene von 1870 
ift er einheitlih. Er läht die Helmfpigen von Wilhelm dem Erften, Bis: 
marck und Moltke leuchten, wie man Metalltheile in den Kriegsbildern ans 
dem fiebenzehnten Jahrhundert Leuchten fieht. Verwundert gewahrt man, 
dar der alte Wilhelm, Bismard und Moltke doch Uniformen tragen und 
nicht Bandenführertrachten aus dem Dreikigjährigen Krieg. Allerdings find 
ihre Uniformen fo dunkel geftimmt, wie es nur irgend möglich war, fo dunkel, 
daß fie aus dem Ton des „hiftorifch* gehaltenen Bildes nicht herausfallen. 
Wie weit das Alles von uns zurüdliegt! 

Dann fieht man im feiner Austellung manchmal ein unbefangenes 
Talent: von feinem objektiven Bilde von „Fräulein Rehn, Pianiftin“, be- 
kommt man den Eindrad der Perfönlichkeit. Um wie viel Lebhafter bedauert 
man dann die Verirrung, der der Künftler anheimfiel! Man freut fich, daß 
die deutfche Malerei den Weg der Lenbah, Canon, Kolis, den Weg, den 
einſtmals Fabricius ging, energiſch und hoffentlich auf immer verlaffen hat. 

Bon Lenbach fieht man ein Bildniß der „Frau F.“, nicht einmal ein 
fchöner Reſt, — was Lenbach betrifft. Bon Erdtelt ift ein für die durd 
ihn bezeichnete münchener Malerei ganz vorzüglic)es und doc gleichgiltiges 
Bild da. 

Eher findet man an der Fühlen Malerei von Dänemark Gefallen. 
Etwas von der Realität Ausgehendes und dabei ſehr Subtiles ift in diefer 
Malerei. Ein Auskommen mit Wenigem. Sie beherrfchen einen hellen Ton. 
Einige von ihren Bildern find fehr gut, zum Beiſpiel Schlichtkrulls „Sonnen: 
fchein in der Bauernſtube“; Peter Ilſtedt in Kopenhagen giebt ein gutes 
Interieur. In Verbindung mit den dänifchen Künftlern iſt Momme Niffen 
zu nennen, ein Deutjcher, der nah der dänischen Grenze, in Niebüll, zu 
Haufe ift. Niffen zeigt einen friefifchen Bauern in feinem alten Hausrath. 
Ausgezeichnet iſt das Sonnenlicht wiedergegeben und das Holz des Tifches, 
die Stühle mit den Kiffen; Alles iſt wahr, dabei fünftlerifch zur Er— 
ſcheinung gebracht. 

Bei den Dänen fühlt man mehr Poeſie, Sehnen, man merkt, daß 
fie das Reale wiedergeben, weil es die Unterlage ihrer Stimmung. bildet. 
Momme Niffen dagegen giebt da8 Neale wieder, weil es ift: vechnerifch giebt 
er es wieder, nicht muſikaliſch. 


aa AA ' 
a 
| 


Die Große Kımftausftellung. 347 


Ein Gegenbild zu Momme Niffen gewährt Kuehl in feinen kofetten 
und malerijch zugejtugten Interieurs. Die Dänen geben die Zimmer, die 
fie uns um ihrer Poeſie willen zeigen. Momme Niffen zeigt Zimmer wegen 
ihres Gegenftandes. Kuehl malt Interieur wegen des „Maleriſchen“. Er— 
wirft aufdringlich, mit überfadenem Putz, — in einer gewilfen Weiſe wie 
einige Wigbolde der italienischen Schule. Auf einem der von ihm gemalten 
„JInterieurs“ gleitet ein Sonnenftrahl über einen’ dunfelgrünen alten Koffer 
mit eifernen Vorlegefchlöffern, vorn jteht ein rother Seffel, nad) hinten blickt 
man in einen Naum, in dem die Sonnenftrahlen einen — leider Farbe 
gebliebenen — Tanz aufführen, wobei Kuehl wohl an ein Wunderwerf der 
modernen Malerei, an die Gobelinftiderinnen von Velazquez, gedacht hat. 
Diefer Theil feines Bildes jieht wie eine heftige Parodie aus. Im nicht 
geringerem Grade übertrieben, überläden, unmöglich wirkt ein anderes Bild 
von ihm, „Das blaue Zimmer“. 

An einem Bilde eines feiner Schüler findet man mehr Gefallen: der 
Maler heizt Edmund Körner, das Bild „Im Schatten“. Es ift eine Arbeit, 
die im ihrer Kompofition und ihrem Farbengange auf Kuehl, wie er im feinen 
älteren Bildern war, zurüdgeht und, fo weit Das bei diefer Art möglich 
it, einfach anmuthet. 

Der der Architeftur gewidmete Raum ift offenbar nicht dafür ein- 
gerichtet, daß Befucher fonımen. Man will auf dem großen Tiſch die dort 
ausgebreiteten Publikationen fehen: man nimmt feinen Stuhl wahr, um ſich 
an diefen Lefetifch niederlaffen zu fönnen, wohl aber nahen aus den Neben— 
räumen zwei Wächter, die darauf paflen, daß ſich der ungewohnte Gaft nicht 
der Publikationen bemächtigt. Unbehaglid. 

In die Möbelfojen hat man eine Einrichtung in Mahagoni zugelafien, 
von der man nicht weiß, wie jie in die Hunftausftellung gerathen konnte, 
ftatt in die Auslage eines Möbelmagazinsd. In diefem Theile der Aus— 
ftattung jehnt man jich nach Menfchen. Man entbehrt hier felbit die Muſik; 
jie dringt nicht bis hierher. Man geht ins Freie; auch im Park ift es un— 
behaglich; und man fehrt der Ausstellung den Nüden. 

Herman Helferid). 


tot, 


548 Die Zukunft. 


Derfelbe, Diefelbe, Dajfelbe. 


SB: haben wir auf der Schule über die perſönlichen Fürwörter im Deutichen 
gelernt? Nicht wahr, daß fie heißen: id), du, er, fie, es, wir, ihr, jie? 
Das haben wir in den unterjten Klaſſen gelernt; und hätte man uns dieſe jo 
nüßliche Kenntnig mit dem jelben Nachdrud aud in den höheren Klaſſen be- 
feitigt, jo gäbe es in der deutſchen Literatur, in der hohen, der mittleren und 
der niederen, nicht einen der twidermärtigiten, von Ärgjter Stumpfheit des Sprache 
finnes zeugenden Stilfehler. alt in jedem Buch und fiher in jeder Zeitung, 
die uns in die Hände fommen. Ein Sefundaner, der ſich unterjtehen wollte, 
in einer lateinifchen Arbeit is und idem zu verwechſeln, oder der in einer franzö- 
fiichen jchriebe: Philipp war der König von Makedonien, le fils du m&me 6tait 
Alexandre, würde von dem ergrimmten Lehrer nad) Berdienjt angeſchnauzt werden; 
und wiederholte er dieſen ſprachlichen Unſinn öfter, jo bliebe er ſitzen. Im 
Deutichen aber wird die Lehre von den perjönlichen Fürwörtern ich, du, er, fie, 
es in den oberen Klaſſen mißachtet und — ich habe mich jelbit aus Schüler- 
heften davon überzeugt — das berüchtigte derjelbe, diejelbe, dafjelbe hält feinen 
Einzug in den Sprachſchatz der armen, übel behüteten ungen, ohne daß der 
Lehrer — natürlich mit Ausnahmen — es für nöthig findet, ihnen dafür den 
didjten Nothitrih an den Rand zu malen. Bon der Schule pflanzt fich der 
Mißbrauch ins Leben fort; und jo findet man in fajt allen amtliden Schrift- 
ftüden, in den meiften Büchern und allen Zeitungen diejes jedem feineren Sprad- 
gefühl unerträglich verhaßte jchleppende dreijilbige Ungethüm. 

Daß der deutiche Sprachunterricht auf unjeren Schulen, bejonders auf 
den höheren, nichts taugt, darüber find alle deutſchen Schriftjteller einig. Wie 
fommt es nun, da nur die Wenigſten von ihnen die jo naheliegende Folgerung 
für ſich jelbft daraus ziehen: da ich auf der Schule nicht ordentlich Deutſch ge 
lernt habe, nicht mit folder grammatiichen Strenge wie Lateiniſch, Griechiſch 
und Franzöfiich, jo muß ich, da das Schreiben der deutjchen Sprache mein Beruf 
tt, im Leben nachholen, was in der Schule an mir verjäumt wurde? In den 
legten zwanzig Jahren iſt eine ganze Reihe vortrefflicher Hilfsmittel, wern nicht 
für qutes, jo doch für fehlerlojes Deutſch erſchienen: die Bücher von Andreſen, 
Wuſtmann, Deinge, Otto Schröder jind nicht unbekannt und auch nicht ganz 
ohne Wirkung geblieben. Mir fcheint aber, daß gerade die Schreiber von Beruf, 
alio die Männer von der Buchliteratur und von der Zeitung, von diefen Dilfs- 
mitteln den geringjten Gebrauch machen. Sie reden fid) wahrjcheinlid ein, wie 
Herr Jourdain bei Moliere, daß man eben nur zu ſprechen brauche, wie Einem 
der Schnabel gewachſen, oder die Feder übers Bapier laufen zu laffen, um „Proſa“ 
zu erzeugen. In Frankreich ift der Mitarbeiter des kleinſten Provinzblattes un— 
möglich, wenn er nicht mindeitens fehlerloſes Franzöfiich jchreibt; Deutſchland ift 
das einzige große Literaturland, wo man die Ärgjten grammatiſchen und ftiliftijchen 
Fehler begehen und noch immer für einen großen Schriftiteller gelten kann. 

Für die deutichen Männer von der ‚Feder kann man neben vielen anderen 
Eintheilungen auch ganz; getrojt diefe vornehmen: in Schriftiteller mit und im 
Schriftſteller ohne „derielbe, diejelbe, dajjelbe‘‘. Leider ift die Zahl ber legten 
oder, wie die Schriftiteller mit derjelbe, diefelbe, dafjelbe jagen würden: „der 


Derfelbe, Diefelbe, Dafjelbe. 349 


legteren‘, die überwiegend größere. Die Stumpfheit gegen den Ungeſchmack, 
der in dem jteten Gebrauch des pedantiſchen dreifilbigen „derjelbe* jtatt des ein- 
filbigen ſcharfen „er ſteckt, wurzelt jo tief ſelbſt in manchen nicht üblen Schrift— 
ſtellern, daß die ſchärfſte Hinweiſung auf dieſen Unfug ſie nicht überzeugte. Otto 
Schröder hat in ſeinem prächtigen Büchlein „Vom papiernen Stil“ mit allen 
Waffen des Spottes, des Zornes, des ruhigen Ueberredens gegen dieſen ärgſten 
Fehler deutſchen Stils gekämpft, das Büchlein hat auch viele Auflagen erlebt, 
es hat in allen jpäteren Sprachbüchern Unterjtügung gefunden; doch genüßt hat 
das Alles recht wenig. 

Der Ungefhmad und die Sprachwidrigfeit von derſelbe! ſtatt „er“ liegt 
nicht in der ſchleppenden Dreiſilbigkeit, obgleich ſchon ſie jeden Schriftſteller mit 
ſprachlichem Feingefühl zur Wahl des einfachen und kurzen „er“ zwingen müßte. 
Leider konnte nur ein Franzoſe, Muſſet, die ſprachliche Grundregel für alle 
Schriftſteller ausſprechen: 

Non, je ne connais pas de métier plus honteux, 
Plus sot, plus dögradant pour la nature humaine, 
Que de se mettre ainsi la cervelle à la gene, 

Pour &crire trois mots quand il n’en faut qu'un seul. 

Noch ichlimmer als die Schwerfälligfeit tft, daß „Derjelbe‘ auf eine Gleich— 
heit mit einem vorangehenden Worte hinzuweiſen jcheint, die in den meilten 
Fällen entweder gar nicht vorhanden ijt oder die troß dem jcharfen Hinweis 
unflar bleibt oder auf die eigens hinzuweiſen, überflüfiig, lächerlich und pedantiſch 
ift. „Der Unterjtaatsjefretär im Reichspoſtamt Fritſch, welcher vor längerer 
Zeit feinen Abſchied erbeten, hat jeßt denjelben vom Kaiſer unter Verleihung 
des Titel Excellenz bewilligt erhalten. Wer fühlt nicht, wie jchleppend und 
zugleich lächerlich bier „denjelben” ſtatt „ihn“ Elingt? Man wird einmwenden: Das 
iſt Geſchmacksſache. Gut, nad) einem ſchönen altjpaniichen Sprichwort „ſind 
die Geſchmäcker verjchieden, aber es giebt joldhe, die Prügel verdienen‘; es giebt 
auch einen Hörgeichmad, der einen um ein Biertel zu hohen oder zu niedrigen 
Ton ohne Bein erduldet, während ein mufifaliiches Ohr dabei leidet, wie wenn 
ein jtumpfer Griffel quietichend über eine Schiefertafel hinfährt. ‚Auf jeinem 
Nittergut im Kreife Honig ift Herr Oskar Wehr gejtorben. Derjelbe vertrat 
früher den Tandtagswahltreis Konitz-Schlochau.“ Nur ja: Derjelbe! Wie leicht 
fönnte man jonjt auf den Gedanken fommen, es handle ſich um einen Anderen. 
In der jelben Nummer der jelben Zeitung, worin dieſe Nachricht jteht, finde 
ich die Erklärung eines Yandraths: „Dem vorigen Streisblatt hat eine Abonnements: 
empfehlung für die Danziger Zeitung‘ beigelegen. Ich bitte die Leſer derjelben, 
nicht zu glauben, daß ich ein Abonnement auf die „Danziger Zeitung‘ empfehle.“ 
Mit Recht fügt die Redaktion diefem „derjelben‘ in Klammer hinzu: „Wellen? 
Der ‚Danziger Zeitung‘? Spottet ihrer ſelbſt und weiß nicht wie. 

Den meilten Schriftitellern und Zeitungichreibern tft ganz aus dem Be- 
mwußtjein entichwunden, dab es eim deutiches Wort „deſſen“ giebt. Man kann 
dide Bücher und blätterreiche Zeitungen durchlefen und findet diejes jo nützliche 
Wörthen nicht ein einziges Mal, dafür aber auf Schritt und Tritt das ftelz- 
beinige „deilelben“. Woher mag das dreifilbige Ungeheuer ftammen? Das 
ältejte Deutich kennt es überhaupt nicht. Es taucht in der Literatur erjt im 


350 Die Zukunft. 


fiebenzehnten Jahrhundert auf, auch nur ganz vereinzelt und noch nicht mit der 
völligen Ueberflüfjigteit wie heute. Wahrjheinlid rührt es von der deutſchen 
Kanzleiſprache ber, die ja ſelbſt urjprünglid nichts Anderes war als Ueber- 
jegungdeutih. Ich glaube, Otto Schröder, der dem bdreifilbigen Scheuſal jein 
halbes Büchlein gewidmet hat, iſt doch nicht auf den wahren Urjprung verfallen. 
Ganz fiher bin auch ich nicht, ihn entdedt zu haben; meine Vermuthung aber 
mag hier jtatt irgend einer anderen jtehen; man überjepte filia ejus: die 
Tochter defjelben! Dem Franzofen bei jeinem feinen Spradjfinn wäre es nie 
eingefallen, fi durch eine fremde Sprade in dem natürliden Gebraud der 
eigenen beirren zu lafjen; nie hat ein franzöfiicher Kanzleifchreiber oder gar 
Schrififteller Alia ejus anders als durd sa fille, niemals durd) la fille du 
möme überjegt. Im Engliſchen iſt es eben jo; bier dient jogar the same 
jtatt he oder she zur abjidtlidhen Kennzeichnung der Sprechweiſe ganz unge» 
bildeter Menjchen. Auf den deutſchen Gymnaſien wird mit rührender Gedanten- 
lojigfeit Allia eius fait nur durch die Tochter defjelben, jehr jelten durch jeine 
Tochter überjegt; und: jung gewohnt, alt gethas. 

Das Spaßigite dabei ift der von jedem Leſer täglich zu machende Ver- 
juch, ſich derjelbe, diejelbe, dafjelbe einfach dadurh vom Halſe zu ſchaffen, daß 
man fie ganz wegläßt; jie find meift eben jo überflüffig wie geſchmacklos. Was 
joll man dazu jagen, wenn man in einer Kinderfibel (von Wihmann und Lampe) 
für die unterjte Stufe der Gemeindeſchulen in einem Leſeſtückchen über „Die 
Zeit“ folgenden herrlichen Saß findet: „Der Anfang des Tages heißt der Morgen, 
die Mitte deijelben (des Morgens?) der Mittag.“ Ein bejonders aufgewedtes 
Kindchen fragte jeine Mutter: „Was ijt denn dejjelben? Das ift ja gar nicht 
wahr!" Das fiebenjährige Mädel hatte einen feineren Sprachſinn als die Ver— 
fafler der Fribel; es hatte „defjelben“ auf den Morgen bezogen; und warum jollte 
es nicht? Die Mutter wußte dem Kinde nicht zu rathen; ich rieth ihm (dem— 
jelben!): „Streihs weg!" Mit ausgelafjener Freude jtrich es (dafjelbe!) das 
überflüjfige Zeug weg; und, fiehe da: der Sa war nicht nur kürzer, jondern 
auch verjtändlicher geworden. „Die jtädtiichen Behörden dürfen ſich nicht von 
einem unteren Beamten der Krone abfertigen lafjen durch die Weigerung des— 
jelben, die Akten höheren Orts zu unterbreiten.“ Man jtreiche „deſſelben“, — und 
die Sade ift in Ordnung. „Wenn das Nohr aud) nicht gerade eins der optiſch 
ftärkjten ift, jo erfüllt es doc jeinen Zweck, dem Bublitum den Anblid der 
Wunder des gejtirnten Himmels zu ermöglichen, vollauf. Wir bringen neben» 
jtehend vortrefflihe Abbildungen deſſelben.“ Dejjelben? Welches jelben? Des 
Dimmels? Wahrſcheinlich nicht, Jondern des Rohres. Man jtreiche „deſſelben“ — 
und man iſt aus aller Werlegenheit. 

Das Tollfte leijtet in diefem Punkt das widtigite Stüd öffentlicher 
deuticher Literatur: die Neichsverfajlung. Nicht ein einziger Artikel (derfelben!), 
in dem auch nur die entfernte Möglichkeit zur Einſchmuggelung des verhaßten 
Dreifilbers bejtand, ift von dem Verfafjer (derfelben!) verfchont geblieben. Ich 
weiß nicht, weldyer hohe Staatsbeamte mit der ftiliftiichen Faſſung (derfelben!) 
betraut war; wohl aber weiß id, daß fein Spradigefühl von äußerjter Stumpfe 
heit gewejen fein muß. Man jehe jich die Verfafjung einmal an: faft jeder 
Artikel wimmelt von derjelbe, diejelbe, diejelben, defjelben u. f. w. Die Folgen 


Derſelbe, Diefelbe, Dafielbe. 351 


jind nicht ausgeblieben: Mißverſtändniſſe aller Art entitchen gerade durch diejen 
Mißbrauch. Im Artikel 8 heißt es: „In jedem diejer Ausſchüſſe werden ... 
mindejtens vier Bundesitaaten vertreten jein und führt (ſchönes Deutſch!) inner= 
halb derjelben jeder Staat nur eine Stimme.“ Welder derjelben? Der vier 
Bundesftaaten oder der Ausihüfle? Eins der jchönjten Beifpiele für die Gram— 
matik der Neichsverfaffung bietet der erjte Abjaß des Artikels 53: „Die Kriegs— 
marine des Neiches ift eine einheitliche unter dem Oberbefehl des Kaiſers. Die 
Organijation und Zufammenjegung derfelben liegt dem Kaijer ob, welcher die 
TI ffiziere und Beamten der Marine ernennt und für weldyen diejelben nebft ben 
Mannſchaften eidlich in Pflicht zu nehmen find.“ Um jo erjtaunter ijt man, 
auch einmal das Kleine Wort „deilen“ zu finden. Wenn man im Artikel 11 
left: „Zur Erflärung des Krieges ift die Zujtimmung des Bundesrathes er» 
forderlich, es jei denn, dai ein Angriff auf das Bundesgebiet oder dejjen Küſten 
erfolgt“, jo fragt man ji, warum der Verfaſſer nicht auch hier nach jeinem 
lieblichen Gebrauch gejchrieben hat: auf das Bundesgebiet oder die Hüften des— 
jelben, Hätte man jenem Staatsmann die Bibel zur Fanzleimäßigen Umarbeitung 
übergeben, wir würden wahrjcheinlich als erjten Vers lejen: „Im Anfang jhuf 
Bott Himmel und Erde; leßtere war wüſt und leer und war es finjter auf der— 
jelben“; und manche ‚gebildete‘ Lejer würden keinen Anſtoß daran nehmen. 

Treibt man die Feinde des einfilbigen Fürwortes, die „Unentwegten“ 
des Dreijilbers, in die Enge, jo fommen fie unfehlbar mit Leſſing, Goethe und 
Sciller angerüdt. Jawohl, auch unjere drei Größten bedienen fich zuweilen 
des Dreifilbers ftatt des Einfilbers. Warum jollten fie nit? Hatte man ihnen, 
die doch aus dem Sprachwuſt des jiebenzehnten Jahrhunderts erſt eine gebildete 
Sprade jhaffen muften, etwa in der Stinderlehre gejagt, wie man die Mutter- 
ſprache richtig zu Schreiben habe? Das hatte man Voltaire, Diderot und Rouſſeau 
gelehrt. Aber man komme überhaupt nicht mit joldhem Einwand, wenn man 
nicht auch jonit dem Yejer etwas Achnliches zu jagen weiß wie Leſſing, Goethe 
und Schiller. Auch bei unſeren Klaſſikern findet man Sprachfehler; ſobald 
unſere heutigen Dutzendſchriftſteller und Zeitungſchreiber im Uebrigen als Klaſſiker 
gelten dürfen, ſollen ihnen alle Sprachfehler verziehen werden. Man iſt als 
Schriftſteller oder Zeitungſchreiber nicht verpflichtet, ein Klaſſiker zu ſein; aber 
man ſollte, denke ich, verpflichtet ſein, in der minderwerthigen Literatur, die man 
im beſten Falle erzeugt, wenigſtens erträglich richtiges Deutſch zu ſchreiben. 
Uebrigens kommt die Pedanterei mit „derſelbe“ bei unſeren Klaſſikern äußerſt 
ſelten vor, eigentlich nur als Folge einer gewiſſen Läſſigkeit, als Ausnahme. 
Otto Schröder hat feſtgeſtellt, daß in Goethes ſämmtlichen Schriften von 1771 
bis 1814, alſo auch in der Zeit ſeines ſchon beginnenden Geheimrathſtils, nur 
an hundertundachtzig Stellen der Dreiſilber ſtatt des Einſilbers ſteht. 

Eine durchgreifende Beſſerung kann nur die Schule und das gute Bei— 
ſpiel des Buch- und Zeitungdruckes ſchaffen. Heute, wo die alten Sprachen im 
Unterricht mehr und mehr abbröckeln, ſollte unſere oberſte Schulverwaltung mit 
größerer Strenge als bisher die Sprachrichtigkeit im Deutſchen einſchärfen. Aller⸗ 
dings würde dazu gehören, dal; unjere höchſten Schulbehörden jelbjt über ein 
mujtergiltiges Deutjch verfügten. Ob fie ſich Deſſen rühmen dürfen, will ich 
für heute ununterjucht lajien. Eduard Engel. 


A 26 


352 Die Zutunft. 


In der Arbeiterfolonie. 


Siner der wißigiten Kerle jchien mir der Lampenputzer zu jein. Er wußte 
> ic) allerdings einen Schein von Blödigkeit zu geben. Und mit einem 
gewiflen Stumpffinn pußte und wiſchte er an den Lampen herum. Die Unter- 
haltung der ihn Umftehenden beachtete er fajt gar nicht. Mit peinlicher Sorgfalt 
padte er, wenn er die beiden Hängelampen im Saal und die Fleinen Blend» 
lampen der Schlafräume gereinigt und friſch gefüllt hatte, feine Lappen und 
Bürſten in die kleine Stifte, nahm fie unter den Arın, in die Dand die Petroleum- 
fanne und zog weiter, in den Nebenjaal. 

Mit jeiner blauen Bloufe, feiner grünen Schürze und der flahen Mütze, 
die er jtets jehr grade trug, nie auf das eine oder das andere Ohr ſchob, jah 
er aus wie ein braver, pflichtbewußter Kleinbürger. Er glid einem jener Menſchen, 
die den ganzen Tag ihre glatte Straße hinablaufen, ſich abends in einer be- 
jtimmten Kneipe an einem bejtimmten Tiſch mit bejtimmten Kameraden betrinten 
und immer im jelben Bett, neben der einen Frau, ihren Rauſch ausjchlafen, — 
um am nächſten Tage wieder glatt ihre Straße binabzulaufen. Seine grauen 
Augen waren jo verglaft und blidten jo ruhig gradeaus, als könnten fie nie 
in Zorn und Daß gefunfelt haben, als leuchte hinter ihnen im Kopf fein Wunſch, 
fein Verlangen und feine Hoffnung. Aber diefe Starrheit ſchien mir nicht ganz 
echt zu fein. Und als ich ihn mehrmals gejehen hatte, wie er mit älteren In— 
jaffen der Kolonie vergnügt und harmlos jcherzen Konnte, mit leichtem, ver- 
ihmigtem und jorglofem Laden, wußte ich nicht, ob ich einen ganz abgefeimten 
Burſchen oder einen fimplen Spießbürger vor mir habe, einen Spießbürger, der 
entweder Unglüd gehabt hatte oder, wie faft Alle jeiner Art, unfähig gewejen 
war, irgend eine jchwierige Situation zu überwinden. 

Eines Tages hatte ih ein Packet befommen. Wie es die Anderen 
machten, mußte ich es wohl auch thun: Allen, mit denen ich in einem näheren 
Zuſammenhang ftand, Etwas von dein Inhalt der Sendung abgeben. Da id 
nicht jelbjt Luſt hatte, in den unteren Saal zu gehen, ſchickte ich einen meiner 
Nebenmänner mit einigen Gigarren, Apfelfinen und Aehnlichem hinunter. Er 
jollte e3 einem älteren Manne geben, der einige Jahre Medizin ftudirt hatte, 
fein Studium aufgeben mußte, ſich durch Unterrichtsftunden ernährte, dann aber 
Krankenwärter in einer großen Anjtalt geworden war. irgend ein Erlebniß 
hatte ihn aus diejer ficheren umd guten Stellung — er war inzwijchen zum 
Oberwärter aufgerüdt — vertrieben. Diefer Mann mußte wohl doppelt, drei: 
fach fühlen, daß er hier nur ein Geduldeter war, daß er durch Barmherzigkeit 
in diefem Daufe ein jammerliches Yeben frifte, — er, ein denfender und grübelnder 
Menſch zwiichen ſolchen Yanditreichern, Bauarbeitern, Schmieden, Matrofen und 
Trinfern. Am Meiften freute mid, daß ich ihm ein paar Bücher leihen konnte, 
in denen Stulturfragen behandelt wurden. Das intereflirte ihn bejonders. 

Ich wunderte mich, daß er nicht fam, um mit mir darüber zu fprechen. 
Auf Dank rehnete ich nicht. Die meilten Koloniften hatten blutende Herzen. 
Sie waren zerfletiicht worden. Man mußte fie mit einem ganz bejonderen 
Feingefühl behandeln, mit ganz weichen Händen anfaſſen. Einen Dank ver- 
mochten ſie faft nie auszujprehen. Wenn man ihnen Etwas gab, mußte man 


In der Arbeiterfolonie. 353 


es in bejonderer Art thun, damit fie fich nicht für verpflichtet hielten oder ſich als 
weniger beglüdt und hochſtehend empfinden fonnten. So hatte ich denn dem 
Mediziner jagen laffen, ich käme nicht als Gebender, fondern als Fordernder zu 
ihn. Er möchte doch jo freundlich fein, mir Einiges aus feinem Leben auf- 
zuichreiben. Wie er wiſſe, interejfire mic jo was. Und die paar Gigarren und 
das Andere jollten eine fleine Vorausbezahlung fein... Er fam nidt. 

Am nächſten Tage gehe ich über den Hof nad) einem Stallgebäude, um 
mir dort einen Spaten zu holen. Da jah ich den Yampenpußer, der mit der 
friich gefüllten ‘Petroleumfanne über die Schwelle trat. 

„Ra, wo wollen Sie denn hin?“ fragte er. 

„Spaten holen.” 

„Na, ihre Hände find aber auch nicht folche Arbeit im Sumpf gewöhnt!“ 
Er lachte, wie immer den Kopf, ganz in der Weife der meilten Koloniften, ein 
Wenig gebeugt. Aber in feinem lautlofen Lachen lag jo viel, daß ich jtehen 
blieb. Er hatte jeßt ein ganz anderes Geſicht. Offenberzigkeit, Zutrauen und 
etwas Dartes, Selbjtbewußtes waren dort gemiſcht. 

Ich jah ihn erjtaunt an. Da meinte er: 

„Das war nett von Ihnen, dag Sie an mich gedadht haben. Sie haben 
die Sachen nicht dem Falſchen gegeben. Sie haben fich nicht in mir getäufcht. 
Uber ih muß Ihnen hier an diejer Stelle frei und offen jagen, dab es mir 
al3 Koloniften nicht gegönnt ift, mich mit ſchriftlichen Arbeiten zu bejchäftigen. 
Doc) ich befafje mich gern mit Büchern und fchriftlichen Arbeiten. In der Be- 
ziehung jollen Sie fi in meiner Perſon durchaus nicht getäufcht haben. Da 
find Sie an die richtige Adreſſe gekommen. Die Bücher find fein! Wenn mir 
oo der Gene zu viele Worte macht ...“ 

„sa, jagen Sie mal, die Bücher haben Sie bekommen?“ 

„sa! Sie follen fi) auch nicht in mir getäujcht haben. Denn das Zeug 
zum Nufjchreiben von mein Leben befiße ich wohl. Aber, fehen Sie, da guet 
Eener und da. Die janze Bude id voll, der Augen find mir zu viele, um 
meine reihhaltigen Sammlungen von reinen, wahren und nadten Thatſachen, 
die ich in meinen verjchiedenen Lebenslagen und auch in meiner jeßigen als 
Koloniſt gejehen habe, vor Aller Augen in jolchem Gefchiebe und Gedränge im 
Aufenthaltsraum zu notiren. Da hat man doch feine Ruhe, da hat man dod) 
nicht die Geiſtesſammlung, die man dazu braudt. Und Sie wiſſen ja aud): der 
einzigite jichere und zugleich einem Jeden zuerfannte Platz, Das ijt blos nachts 
das Bett. Und ſonſt ift man den ganzen Tag auf den Beinen. Kommen Sie 
in den Stall, dann ſieht uns Steiner und wir fünnen in Ruhe erzählen”, unter- 
brach er fich, jchob mich zur Thür hinein und lehnte fie hinter ung an. 

Wir ftanden einander dicht gegenüber. Der Raum war mit erdigen 
Haren, Spaten, Starren und allerlei Adergeräth angefüllt. in dem Dämmer- 
licht Fonnte ich nur wenig vom Geſicht des Yampenpußers erfennen. Er jtredte 
mir jeine Hand bin: „Willen Sic, als Der mir die Gigarren und die Bücher 
brachte, — na, Sie fünnen fi ja denfen, wie Einem zu Muth ift, der jeit über 
zehn Jahren kein Sejchent befommen hat und num plötzlich ...“ 

Ich z0g mid ein Wenig zurüd, Es war mir unangenehm, daß dem 
alten ehemaligen Mediziner die Sachen entgangen waren, daß fie vielleicht ein 


26* 


354 Die Zuhunit. 


Abenteurer ſchlimmſter Sorte befommen hatte. Mit einem jo aufdringlidyen, 
ſchwatzhaften Patron wollte ich nicht unnütz Zeit verſchwenden und fagte: „Ja, 
es thut mir leid, aber die Bücher und das Andere waren nicht für Sie be— 
ſtimmt. Die ſollte der alte Mediziner haben.“ 

Da ſah ich, wie ſeine Augen ſtarr wurden, wie fie ſich förmlich an mir 
feſtklammern wollten. Haſtig antwortete er: „a, ja, Sie find nicht an den 
Falſchen gefommen. Ich kann Sie verfidern, daß Sie nicht der Einzige find, 
der über mein früheres Leben Aufihluß begehrt. Ach babe ein thatenreiches, 
höchſt abenteuerliches Qeben hinter mir. Wenn ic) auch erft einunddreißig Jahre 
zähle, jo wundere ich mich doch felbjt, daß ich noch am Leben bin, denn anf meinen 
vielbewegten Neijen dur die Südftaaten von Europa ging es haarig her... 
Ich bin der Nidhtige für Sie!” 

Jetzt hatte ich mich an das matte Licht gewöhnt und konnte jehen, wie 
jein Geficht, das die Bläffe der meiften Koloniften zeigte, noch bleicher geworden 
war. Und ich machte raſch: „Na, ich glaube es ja; die Saden find zwar an 
den Falſchen gefommen, aber Sie find doch der Richtige.“ 

„Nee, nee, ich bin nicht der Yraliche. Und wenn mir auch die Glüds- 
görtin nicht hold gemwejen iſt; und wenn Einer ein jchweres Leben hinter ſich 
bat, jo bin ih es. Und jchon mancher jachkundige Dann hat mir für einen 
Abrig aus meinem Leben Geld und gute Worte geboten. Doch bis jest habe 
ichs jtets verweigert und werde es auch weiter thun, wenn mir nicht die ftrengite 
Berfchwiegenheit zugefichert wird. Mein Name darf auf feinen Fall hinein- 
gezogen werden. Auf feinen Fall!“ 

Aha, dachte id), aljo Einer, der nicht gern möchte, daß man daheim er- 
fährt, wie es ihm draußen gegangen ift. Das war mir nichts Neues, — und 
Schließlich war die ganze Sade nichts werth. 

„Sehen ie”, fuhr er fort, „ih muß ficher fein. Das ijt die Haupt- 
ade. Und von „ihnen glaube ih, daß Sie Steinen verratben. Wenn Sie 
Einem, den Sie faum fennen, Bücher jchiden ..... Sie haben mid richtig er- 
kannt. Ich gebe viel auf jo was. Schriften und Bücher habe ich gern.“ 

Ich verſprach ihm, ihn nicht zu verrathen. 

„Nas meinen Sie, wie jie hinter mir her find! Wenn fie mich friegen 
fünnten . . Na, was id) habe durchmachen müjlen! Ein dider, runder Sterl war 
ich früher. Und dann ein paar Monate hinter Schloß und Niegel, — und 
Dant und Knochen blos noch. Und als ich mid; rausgearbeitet hatte, ba war 
es mir gleich, was nu wurde; nur nicht wieder hinein. Lieber gleich Alles über 
den Daufen.“ Gr biß die Yippen zuſammen und jchnaufte vor Erregung. 
Ziſchend fprudelte er hervor: „Wenn fie mid) noch mal fejtnehmen, dann...“ 
Gr hatte jein Meſſer, eine dolchartige Klinge, gezogen und führte fie gegen die 
Brujt: „Und wenns durch und durd; geht, — ich wäre der Erfte nicht, dem ich 
Eins verjeßt habe ...“ 

Ruhiger fügte er hinzu: „Ich will nicht wieder hinein. Ach will nit... 
Ind Das it mir die Dauptjache, daß ich jicher fein Fann. Das fann id) bei 
ihnen. Das habe ich ‚ihnen glei angemerkt. Sie find der Einzige unter 
den zweihundert Dann, mit dem man ein Wort reden kann.“ 

sch lächelte. Gr: „Nee, nee, blos endlich ficher werden.“ 





In der Arbeiterfoloitie. 355 


Mit dem Fuß ſtieß er die Thür auf: „sit da Jemand?“ 

Seine Augen waren blutig unterlaufen. Sein dünner blonder Schnurr- 
bart jchien mit einem Dal wie gejträubt. Die ſchmalen Flügel jeiner etwas 
furzen Naje blähten ſich . . Draußen jtand Niemand. 

Mit einem verlegenen Lachen jchloß er die Thür: „Sie müfjen nämlid 
wiſſen, daß ich fein Schweizer bin. Ich bin eben jo gut ein Deutjcher wie Sie. 
Das darf aber Niemand willen. Ich gehe ſchon unter dem dritten faljchen Namen. 
Niemand darfs wiſſen. Niemand! Ich muß ficher fein...“ 

Mit offenem Munde jah er mid an. Ich beruhigte ihn. Da meinte 
er lädhelnd: „a, ja, ich glaubs. Aber wijjen Sie was? Ich jchlage vor, daß 
ic; mit Ihnen am Sonntag auf die Felder gehe. Da kann uns Seiner be» 
laufen. Hier wird man doch behorcht.“ 

Er nahm jeine Kanne und ging hinaus: „Am Sonntag, wenn jchön’ 
Wetter ift, dann fehen wir uns mal’ die Felder an.“ 

Es war nicht jchön’ Wetter. Uber er hatte mid) doch abgeholt. In 
Hagel und Schnee gingen wir über die Sümpfe. Bon drei Seiten waren fie 
mit Siefern umſtanden. Der Wind kam von der einen offenen Seite und 
bewarf uns und die mattrothen Stämme mit weißlichem Matih. Wir gingen 
fo rajch wie möglich in den Wald hinein. Da war es jo ruhig und troden wie 
in einem überwölbten Sänulengang. Die bufchigen Wipfel der Bäume drängten 
ſich hoch Über uns zu einem dichten, dunklen Dad zulammen. Ziſchend eilte 
der Wind darüber hin. Grade und troßig jtanden die braunen, jchlanfen Säulen 
da. Jede hatte ihre eigene Zeichnung. Und eben jo aufrecht ging jebt der 
Lampenpuger neben mir. Nicht das Geringite von feiner früheren Gebücktheit, 
von feiner Leijetreterei hatte er an fih. Mit feitem Fuß trat er auf den mit 
Nadeln und dürren Zweigen bejtreuten Moosboden. Das Selbitbewußte und 
Harte, das ih einmal an ihm gejehen hatte, ſprach jegt aus feiner Geſtalt. 

„sa,“ fagte er, „und wenn fie mid hinter Doppelthüren und hinter ge- 
panzerte Wände gebracht hätten: mich konnten fie doch nicht feithalten. Gleich 
da3 erſte Mal jagte ich zum Juſtizrath: Schön, gefaßt haben Sie mid. Aber 
Sie behalten mich nicht! Ih, meinte er, ſolch Bürſchchen werden wir wohl nod) 
bändigen. Sie nicht, antwortete ih, Sie nit. Da find Sie viel zu ſchwach 
dazu. Da müſſen erft Andere kommen, die den Mar feithalten wollen.“ Gr 
lachte, leicht und luſtig. „Na, und ehe der Herr Juſtizrath mit feiner Unter- 
juhung zu Ende war, da hatte id) mir jchon meine herrliche, goldene Freiheit, 
allerdings unter den größten Strapazereien, wieder erobert. Mich hatte er nicht 
feithalten fünnen.“ 

Zwiſchen den Stämmen wurde es langjam finjterer. Wir jahen hinaus 
nah der Lichtung, über der fi die Wolfen immer dichter und jchwerer zu: 
jammenzogen. Max horchte: „Uns kann doch hier Steiner belauſchen?“ Mit jpähen- 
den Bliden durchſuchte er das Zwielicht, das zwiihen den Stämmen lag. „Wenn 
fie mic) drin auch nicht feithalten können: hinein kann ich doc nicht mehr. 
Wenns auch blos ein paar Wochen dauern jollte, bis ich hinaustomme. ch 
halts nicht mehr aus hinter den Spanischen Gardinen. Ich will jett endlich Ruhe 
haben. Ich will ficher fein.“ 

Ich legte ihm die Hand auf den Arm: „Ich habe Ahnen doc gejagt, 
daß ih Sie nicht verrathe.” 


356 Die Zukunft. 


Die verzweifelte Entichlofienheit wid aus jeinem Geſicht: „Das weiß 
ih. Sonſt würde ich ja nifcht jagen. Bisher habe ih aud noch Keinem was 
berichtet von meinen Erlebniffen. Site find der Erjte. In der lebten Zeit habe 
ic Schon gar nicht mehr jchlafen können. Jede Nacht lag ich wach und jah in 
die Sternenwelt oder in die dunklen Wolfen hinaus. Es wird mir ordentlid) 
leichter, dal id) mal mit einem Mtenjchen, der fid aus Büchern gebildet und 
das Willen in ſich aufgenommen hat, von Allem jprechen kann . . Als fie 
ntich das erjte Mal Eriegten, war ich noch jung. Acht Jahre ift es her. Und 
fie hätten mich nicht gekriegt, wenn der Andere, dieſer Kalbskopf, nicht mehr 
die. Waare bei fi) gehabt hätte. Es war mir jhon jo komiſch, daß meine 
Verwandten alle nad einander verjchwanden. Erſt geht der Onkel weg, dann 
die Fleine Mali. Sonjt blieben fie Sonntag mittags zu Baus. Wir madten 
uns Alle zujammen an den Sonntagsbraten. Und nu? Na, was ijt denn 
da los, denk id), daß jo Einer nach dem Anderen fortging? Und Seiner jprad) jo 
recht mit mir. Alle jahen fie mich jo von der Seite an. Das war ja aber 
icon öfter vorgefommen,. Und der Unfel fonmte mich ja nie jo recht ausſtehen. 
Erjt war id) ihm ein zu großer Freſſer. Er bat für mich forgen müſſen, weil 
id) ein uneheliches Kind war; mein Water joll ein Bergkrarler, jo ein Touriſt 
geweſen jein und meine Mutter iſt früh geitorben vor Summer und Gram. 
Und dann, als ich beim Unkel lernte, habe ich ihm nicht genug gearbeitet. Nach— 
ber hat er mich auch nicht behandelt, wie man einen Erwachſenen behandeln 
muß, und da habe ich ihm den Vorſchlag gemacht, daß ich mir meine eigene 
Maſchine aufftellen werde, in der Hälfte von dem Hauſe, die mir zugehören 
thut. Er hat mich ausgeladt. So ein junger najeweijer Laffe, hat er hoch— 
fahrend gemeint. Der fäme gerade mit einem Geſchäft zurecht! Und nun wollte 
ich ihm beweiien, daß ich wohl auf eigenen Füßen ftehen konnte, daß ich feinen 
Heren Über mid) brauchte. Und ich fing zu arbeiten an. Vom frühiten Morgen 
an bis in die tiefſte Nacht ſaß ich und jchwitte. ich wollte meinen eigenen 
Weg emporkflimmen. Aber es wollte nicht zur Höhe gehen. Kein Menich wollte 
bei mir faufen. Das Bischen, was id) losjchlug, machte nicht genug aus. Und 
es war wohl auch nicht möglich, day in dein fleinen Neft zwei ſolche Gejchäfte 
gingen. Bis jeßt war mein nel gerade jo zurechtgelommen. Nun fehlte 
es auch bei ihn. Ich nahm ihm ja einen Theil, wenn aud nicht viel. Das 
madjte mir nicht wenig Spaß. Ganz zu Grunde wollte ich ihn richten. Hatte 
er mir vorher den Ruin gewünjcht, follte er jet in den Abgrund jtürzen. 

Damit wollte es aber nicht jo leicht achen. Und da fam ich mit dem 
Anderen zujammen. Wie es jo it: einem armen Teufel bleibt nichts Anderes 
übrig, wenn er vorwärts fonımen will, als mal dem Nebenmann Eins auszu- 
wiichen. Na, was da paſſirt iſt, Das bleibt ja vollfommen gleichgiltig. Meine 
Sade wollte ich eben nicht im Stich laſſen, wie mans jonft feiger Weije thut. 
Und jo ſchaffte ich mir die Mittel, im Ort figen zu bleiben. Wie nun der Onfel 
und die Mali an dem bewunten Sonntagmorgen weg jind, wache ich auf und 
merkte, wie der Ludwig mir nicht ins Geſicht jehen kann und wie der Tante bie 
blaufen Thränen in den Augen Stehen. Grit dent’ id: Das hängt mit dem 
ichlechten Gejchäft zulammen, das Die jept machen, meinetwegen. Sich freu” 
mich wie ein beglückter Schaggrüber und gche in mein Zimmer, um mir mein 


ET RER FETT NETTE ge ron — — 


In der Arbeiterfolonic. 357 


Sonntagszeug anzuziehen. Da — id) will gerade in die neuen Dojen fahren —, 
da läuft der Ludwig aud) fort und die Tante läuft hinterdrein, 

- Sie wolltens recht jchlau machen, daß ich nichts merken follte, und gingen 
fein Alle einzeln hinaus. Das fiel mir aber in die Augen. Wären fie zufammen 
ipaziren gegangen, dann wäre ich ahnunglos wie ein neugeborenes Kind in die 
alle gelaufen. Aber jo merkte ich, was los war. Sie wollten eben nicht 
zu Hauſe fein, wenn ich abgeführt wurde. Vielleicht auch hatte mich der Alte 
angegeben. Schön... Ich riegelte raſch die Thür ab. Da Elopfte es. Ich 
blieb jtill und jchlic an die Thür, um zu horchen. „Drin ift er‘, hörte ih. Sie 
wollten mic; aljo holen. Zeug über und nachgejehen, ob etwa vor dem Daus 
Welche jtchen. Dann hätts an der FFeuerleiter hinabgehen können, die immer 
da hing. Ja, Die war futicdh! Und acht oder neun Meter hinunter, auf die 
Steine: Das ging nicht. Alfo frech und fidel die Thür auf und vergnügt pfeifend 
jpring ich die Treppe hinunter, als wenn ich in die Kneipe wollte. Die Amts- 
diener jtanden verblüfft über die Kedheit, mit der ich fie beim Ihüraufmachen 
in die Ede gedrüdt hatte. Wüſt tobten fie hinter mir ber. Das Dausthor 
aber war offen. Nod drei Schritt: draußen wär" ich, in der ‚sreibeit. Denn 
id) hatte wohl gejehen, daß auf der Straße fein Hühnerhund lauerte. Aber 
unten an der Treppe ftand ein Schrank und da trat der Gendarm vor und 
padte mic an einem Aermel. Gr war in Civil und trug einen weichen Hut; 
deshalb hatte ich ihn vorhin, als er an unjerem Haus vorbeijtolzirte, nicht erfannt. 
Ich ſchlug ihn auf die Hand: ‚Was ſolls?‘ Er jagte: ‚Schön ruhig, ſchön 
ruhig! Sie find verhaftet!” Da lachte ich: „Sie machen ja nette Wige! Augen: 
blicklich laſſen Sie mich frei! Sind Sie Beamter?‘ Ich riß mir faft den Aermel 
aus und wir torfelten Beide die ansgetretenen Stufen hinunter. Da hatten 
mich aber jchon die Amtsdiener an den Dandgelenfen. Und dann legten fie 
mir eijerne Armbänder an und einen Nojenkranz, daß ich jchön beten könnte. 
Damit gings durd die Straßen nad) dem Amisgericht. 

Lange haben Sie midy nicht!" jagte ich den Amtsdienern glei. „Lange 

nicht! Ich bin an Freiheit gewöhnt. Sie lachten mid) aus. Na, dacht" ich 
in meinem Sinn, Euch werd’ ich mal zeigen, was ich kann. 
Als wir vor den Juſtizrath kamen, ſchlug er die Hände über dem Kopf 
zujammen: „junge, was hajt Du gemacht?" „Hören Sie mal, Derr Juſtizrath, 
wir haben noc nicht zufammen den Stall ausgemijtet, dar Sie mid duzen! 
Aber wenns ihnen recht ift, — ſchön, duzen wir uns.‘ 

Er wurde bla wie friichgefallener Schnee. Er hatte mich nämlid) cr» 
ziehen lajien, in die Bürgerjchule geſchickt. Uber deshalb durfte er mich doch 
nicht mehr wie einen Sculjungen behandeln, wenn er mir aud eine Wohlthat 
erwiejen hat. Das iſt doch feine Art. Nach einer Weile jagte er leiie, ohne 
mich anzujehen: ‚ie fonnten Sie foldyre Geſchichten anstellen?" Ich lachte 
und war ſtolz, ihn jo in Schreden zu bringen. Ueberhaupt: als fie mic) durd) 
die Straßen führten, habe ich mich gar nicht geichämt. Als mich Alle jo ängit: 
lid) und verwundert anjtarrten, dachte ih: Aha, jebt fürchtet Ihr Eud) vor mir, 
dem böjen Verbrecher? Als ich ihm jo ins Geficht lachte, wurde der geitrenge 
Juſtizrath doch wüthend: Did) werden wir ſchon kirr friegen!" meinte er. ‚Mid 
nicht, Herr Juſtizrath!‘ ‚Na wir haben Dich ja und feitgehalten wirft Du.’ ‚Mid 
fönnen Sie nicht feithalten!" lachte id). 


358 Die Zufunft. 


Na, jte brachten mich in ein ziemlich finfteres Verließ. Es ging nad) 
dem Hof raus. Da war nichts weiter als glatte hohe Wände; feine Thür, 
fein Anbau, nichts, was Einem zur Flucht hätte dienen fönnen. So ſaß id 
ihon meine drei Monate. Und weil id) als geſchickt galt, hatten fie mir Allerlei 
zu thun gegeben. Erſt braten fie mir Stroh, damit ich daraus Deden flechten 
jolle. Und als ich für den Oberwärter jo einen Teppich gemacht hatte, fam 
der Juſtizrath jelbft und fah fich das Ding an. Und ob ich ihm auch jolche 
Dinger machen wollte? Aber jehs Stüd, er wolle fie verjchenfen. Das jeien 
ja Kunftwerfe. ‚Nicht wahr ?* fagte ih. ‚Aber dann müſſen Sie mir auch Wert- 
zeug geben. Das macht man nur einmal blos mit dem Meſſer.“ .Na?* jagte er 
drohend. ‚„Ja, dann kann ichs eben nicht mehr. Dier, jehen Sie mal meine 
Hände. Ganz zerriffen und zerihunden. Nur dem Herrn Cberwärter zum Gefallen.‘ 

Alſo ich befam Hammer und Zange und noch mehr. Und nun gings 
an die Arbeit. So nah und nad) jchnitt ich die Niegel an der Thür durd. 
Und die Deden wurden noch einmal jo herrlich als die erſte. Aus lauter 
Freude, daß ich Hinausfanı, wenn Alles glüdte. Der Juſtizrath, der öfter 
nacjehen fam, war ganz entzücdt. 

Eines Morgens jagte ih jo leichthin zum Oberwärter, ob er mir nicht 
den Lohn für die Dede geben wolle. Yon dem Material, das mir der Juſtizrath 
gegeben habe, falle noch jo viel für ihn ab, daß er aud) eine Dede bekomme. 
Er hatte Bedenken. Aber jo heimlich ſchmunzelte er doch, daß er nod eine 
Dede befommen jolle. Und dann fträubte er jih. Nein. Das gehe nit. Der 
Herr Nuftizrath habe gejagt, er dürfe Keinem den Lohn früher geben, als bis 
er hinaustomme. Ich wolle wohl Jemand beftechen? 

‚Mit den drei Mart? Wen denn?‘ 

Ja, der Juſtizrath hats aber verboten.‘ 

Das fagte er Schon, wie wenn er fich entjchuldigen müſſe, weil er mir 
die drei Mark nicht geben könne. Am nächſten Morgen brachte er denn auch 
das Geld. So, nu konnte es losgehen. Da ih zum Dof nicht hinauskonnte, 
wollte id) mittags, wenn die Tochter des Wärterd mit dem Eſſen kam, die Thür 
aufitogen — das Stüddyen, an dem der Riegel hing, mußte ja bei einem berz« 
haften Fußtritt zerbrechen wie ein Streichholz —, dann dem Mädel eine ordent- 
liche Chrfeige geben, daß fie in meine Zelle flog und ich fie dort einjperren 
fonnte, — und heidi hinaus. Mittags war ja fein männliches Weſen im Haufe, 
wie cs in einer Stleinftadt jo ilt. 

Das war aber nicht mal nöthig. Denn als ich mir einen Mittag feit: 
gelegt hatte, brachten ein paar Maurer eine lange Leiter auf den Hof. Sie 
hatten was am Gefängniß auszubeflern. Das war fir mich wie gefunden. Ich 
blieb einfach einen Tag länger und lief morgens, wenn wir unfere Zellen reinigten 
nnd die Thüren offen jtanden, hinaus auf den Hof nnd Eletterte auf der Leiter 
über die Mauer. Ich kann Ihnen jagen: cs war feine Stleinigfeit. Die Wärter 
dicht hinter mir. Die Yeiter vom Dauje weggerifien — die Maurer frühſtückten 
gerade — und das lange Ding, an dem Zwei zu jchleppen hatten, quer über 
den Dof. Das Blut jprigte mir aus den Fingern... Rangeſtellt, raufge- 
jtolpert, — da jtanden die Wärter jchon unten. Ich ſchmiß die Leiter um 
und nun fünf Meter hinunter. Ich fiel nicht Ichlecht auf das Ende vom Rüden. 


2 di u 


In der Arbeiterfolonie. 359 


Und dann mit den jhmerzenden Knochen durch den meterhohen Schnee, wies 
im Gebirge nicht anders ift. Zum Mittag wolle ich ins nächſte Dorf, um mid) 
im Gafthaus aufzuthauen. Gerade bin ich über die blanken Felder am erjten 
Haus Hin, da ſehe ich ſchon den Gendarm, der feine Tour hatte. Nu alfo 
zurüd über die Felder, wie der Wind. Ich kam in den Wald, che der Greifer 
heran war. Aber den Tag ging id in fein Dorf. Ich hatte ja zwei Anzüge 
an — den Sonntagsanzug unter dem Arbeitrod —, aber bei zehn Grad Kälte 
und nichts im Magen... brr! Da merkt man, was der Winter ift. Ich 
hätte mich auch nirgends jehen lafjen fünnen, von wegen meiner Mütze. Das 
war eine, wie jie die Eijenbahner tragen. Daran hätten mich Alle erkannt. 
Jedem, dem ich auf der Landſtraße begegnete, wich ich aus; ging einfach hinter 


die Büſche. Und nu mußt’ ich aud die Nacht draußen bleiben. Ich war jchon im 


dritten Dorf und jah, wie Alles zu Bett ging, wie alle Häuſer finjter wurden. 
Der Mond ftand hell und blank wie polirtes Eifen über den Bergen. Der 
Schnee war hart und feft und knirſchte. Eiszapfen fielen von den Dächern. 
Sie brachen vor Kälte ab und barjten Elirrend. Aber ich wagte mich nirgends 
hinein. Meine goldene Freiheit wollte ich nicht verlieren. Lieber fterben!“ 

Er ſchüttelte fich, als erlebe er diefe Nacht noch einmal. Dabei hatte er 
rothe Flecke auf den Baden und fieberte. 

„Na, ic) jtellte mich in eine Ede und wartete den Morgen ab. 

Ganz früh fam ein Bauer, der in feinen Kuhjtall ging. Ich folgte ihm. 
Gehen fonnte ih nicht mehr. Meine Beine waren jteif. Ich ſchob mid hin, 
immer ein Bein ein Stüd, dann das andere. Als mic der Bauer jah, friegte 
ern Schred. Ich dachte gar nicht, dab er mid) angeben könnte. Mid; zog nur 
die Wärme an. Ich fragte, ob ih im Stall bleiben dürfe. ‚Na, aber wo 
fommen Sie denn her? Sie waren doch nicht die ganze Nacht draußen?‘ Ta. 
‚Und da leben jie noch?“ Ich hörte ihn nicht, warf mich einfach in das warme 
Stroh. Er brachte mir dann eine heiße Suppe; und als er mal hinausging, 
vertaufchte ich meine Mütze mit einem alten Hut, der oben am Balken hing. 
Dann konnte ich ungehindert weiter. Und fie kriegten mich auch nicht. 

Sie hätten mich nicht fejthalten können. Mic nicht! Dazu hätten jie 
ftärfer jein müſſen. Und jo oft fie mich irgendwo einjtedten — immer unter 
anderem Namen —: ich wußte immer meine Sefleln zu jprengen und meine 
Freiheit wieder zu gewinnen.‘ 

Er war ganz heijer geworden. Seine Baden glühten. Mit jeiner heißen 
Hand faßte er mein Handgelenk und fagte: „Aber nicht wahr, bei Ihnen habe 
ic meine Sicherheit? Sie geben mid nit an? Nocd einmal hielte ichs nicht 
aus hinter den finiteren Mauern!’ 

Seine jonderbare, mit romantiichen Worten und Wendungen durchießte 
Sprache wurde mir bald flar. Gr hatte eine beiondere Freude an Büchern, 
die von heroijchen, unerschrodenen Menjchen berichteten und die auch in ſolchem 
mwunderlichen Stil gejchrieben waren. 

Er hielt es übrigens nicht allzu lange in der Anjtalt, in diefer frei» 
willigen Gefangenschaft aus. Als er jo lange drin war, daf die dort erhaltenen 
Beugniffe einen gewijlen Werth hatten, verlangte er jeine Entlajfung. 

Wenn er inzwiſchen nicht irgend einen — vielleicht gefahrvollen — Beruf 


360 Die Zukunft. 


gefunden hat, der jenem Thatendrang, feiner Phantafie zu thun giebt, hat er 
jiher jchon wieder eingebrochen oder wird es nächſtens thun . Be 

Bon ganz anderem Schlag war einer der Stüchenfalefakftoren. Der lief 
immer mit irrenden Augen herum, blieb ſtehen, als ob er fih auf Etwas be- 
finnen müſſe, das er vergejien habe, und kaute ftets. Er hatte immer einen 
vollen Mund. Gifrig war er bedadt, fi) die Gunft der Frau Inſpektorin zu 
erhalten, um nicht aus der Küche verjagt zu werden. Mit feinem wadeligen 
Gang, dem Kleinen, glatten Schädel, dem grauen, von bünnen, weichen Bartitoppeln 
beitandenen Gejicht jah er aus wie ein immer gefräßiges Huhn. 

Einmal erwijchte ich ihn, wie er aus der Tonne, in die alle Reſte der 
Mahlzeiten aus den Blehihüffeln der Ktolonijten geichüttet wurden, ji die 
Fleiſchſtückchen herausſuchte. 

„Na, ſchmeckts?“ fragte ich. 


„Und wie!” ſchmatzte er... . „Was iſt denn dabei, wenn id) Das eſſe? 
Iſt doch nod nichts Werdorbenes. Na, werns von einem franfen Vich ftammte! 
Aber jo... Da bat mal ein Knecht auf einem Gut, wo ich als Stellmader 


war, ſich eine Hälfte von einer verredten Kuh in der Nacht ausgegraben. Das 
war eklig. Denn das Vich war doch frank geweien. Aber dies Fleiſch bier tit 
von gejunden Thieren. Wenn man erft mal vier Wochen lang gehungert bat... 
Und Das hab’ ih. Als ich keine Arbeit mehr hatte, mußte ich tippeln. Und 
da ich nicht anjprechen konnte, mußte ich eben fajten. Na, Das hab’ ich ja hier 
nicht nöthig!” Er ſchmatzte munter und laut drauflos. 

Ver der Feldbahn, die den Sand von den Hügeln nad) dem Sumpf 
ichaffte, jtand icdy neben einem alten zitterigen Graufopf. Sein rothes, ver- 
dunſenes Seficht und der jtruppige, ſchwarzgraue Bart verftedten nicht ganz ein- 
jelne feinere Züge. Und die jchmalen, weißen Handgelenfe, die unter jeinem 
serfranjten Nermel zum Vorſchein famen, jagten deutlid, dag er fein grober 
Sandarbeiter gewejen war, Auf meine Frage meinte er, er jei Mufiter; er 
habe es nicht nötbig, im Sommer bier zu bleiben, er verdiene dann ſchönes 
Held. Er brauche auch nicht, wie die Anderen, fechten zu geben. 

ach einer Weile jtüßte er jid auf feinen Spaten und fagte: „Eigent— 
lich bin ich ja Beamter; höherer Steuerbeamter war id. Aber da machte ich 
Schulden. Und jo was ſieht ja die ſparſame Behörde nicht gern. Na, da 
mußte ich geben . . . ‚ich bin auch jo dumm geweſen und habe nicht geheirathet. 
"abe immer nicht lange Freude an einem Mädel achabt. Mufte immer bald 
eine Andere fein. Und da dachte id: was jollit Du jon Mädel unglüdlid) 
machen? Und nu? Sib’ ich jelber drin . . . Hätte lieber heirathen follen.... . 
Tas erzähle ich Ihnen mal jpäter . . . Dier ift mar jeßt Niemand, mit dem 
man mal vernünftig veden kann. „Na, früher! Da waren noch anftändige Yeute 
unter den Koloniiten! Da war ein Profeſſor, ein chemaliger Nectsanwalt, ein 
Offizier: Alles Koloniſten, Alle arbeiteten im Sumpf, Alles verjtändige Leute, 
Aber heute fommen ja nur noch gewöhnliche Taglöhner und Dandarbeiter hierher.‘ 

Er jchüttelte den Kopf, ariff mit feinen zitterigen Dänden nad) dem Spaten 
und fchien tief betrübt, weil er in der Arbeiterfolonie nicht die vornehme Gelell: 
ichaft von früher wiedergefunden hatte, 


Großlichterfelde. Hans Oſtwald. 


Selbftanzeigen. 361 


Selbitanzeigen. 


Die Grenzwifienichaften der Pſychologie. (Anatomie des Nervenſyſtenis. 
Animale Phyſiologie. Neuropathologie. Pſychopathologie. Entwidelung: 
pſychologie). Leipzig, Verlag der Dürrſchen Buchhandlung 1902. 7,60 Mark. 


Die moderne Pſychologie nimmt unter allen Wifjenfchaften vielleicht die 
eigenthümlichſte Stellung ein. Ihr Gegenjtand, die Gefammtheit der pſychiſchen 
Erlebniffe, beftimmt fie zur Grundlage alles geiſteswiſſenſchaftlichen Forſchens, 
legt fie mit den Geijteswifienjchaften in enge Berührung. Ihre Methodik, wie 
jie jeit Weber und Fechner ſich entwidelt hat, fnüpft fie wiederum faft in jedem 
ihrer Fortſchritte an die Phyfiologie. „ihre philofophiichen Grundfragen ſchließ— 
lich weijen unvermeidlich auf das allem Pſychiſchen zugeordnete phyſiſche Sub: 
jtrat, das Nervenſyſtem, zurüd und damit auf dejjen Anatomie und Pathologie 
bin. So aber fomplizirt fi die Möglichkeit eines eindringlihen Studiums der 
Pſychologie auf eine jcheinbar hoffnungloje Art, für den medizinijch wie für den 
geijteswilfenschaftlidd Worgebildeten. Mit feinen naturwiljenichaftlichen Vor— 
fenntniffen, um die ihn der Geifteswifjenichafter beneidet, bringt der Mediziner 
eine meijt nicht geringe Zahl von entſprechenden Vorurtheilen mit, die ihm den 
Weg zum fruchtbaren piycologiichen Arbeiten verjperren und die dadurch nicht 
unfchädlicher werden, daß er fie ſelbſt für Anzeichen einer befonders freien Denk— 
weije hält. Immerhin vermag er die unentbehrliche Anknüpfung an die Geiſtes— 
willenfchaften bei gutem Willen ftets noch leichter zu finden, als umgekehrt der 
Geijteswifjfenichafter über die naturmwijicnichaftlichen Fragen, denen er auf Schritt 
und Tritt begegnet, Aufklärung erlangen faın. Denn ihre ausgiebige Beant- 
wortung ilt theils an den anſchaulichen akademischen Unterricht gebunden, der 
vornehmlich in der medizinischen Fakultät die praktischen Bedürfniſſe des Arztes 
in den Vordergrund zu jtellen hat, theils in Büchern niedergelegt, die entweder 
jenen Unterricht vorausjegen oder aber fo umfangreich, jo jpezialiftiich gehalten 
und theuer jind, day ihr jorgfältiges Studium für den Nichtfahmann eine Uns 
möglichkeit wird. Auf diefe Weije bleibt die pſychologiſche Debatte eine höchſt 
oberflächliche, mit unverdauten Schlagworten durchſetzte; es fehlt, mag man die 
Dirnanatomen, die Phyfiologen, die Nervenärzte hier, die Geijteswillenichafter, 
bejonders die Pädagogen, dort anjehen, überall an der Kenntniß von Ihatjachen 
und an kritiſcher Ueberlegung, — von den zahlreichen pſfychologiſch interefjirten 
Laien ganz zu jchweigen, die in der Befriedigung ihres Wiljensdurftes oft auf 
die bedenklichſten Quellen, Familienblattaufjäße und Nehnliches, angewieſen find. 
Tie Betradtung diefer Sachlage, über die mir Mediziner wie Pädagogen oft 
genug ihr Bedauern geäußert haben, ließ in mir den Gedanken reifen, einen 
Leitfaden zu Schaffen, der dem Mediziner die Binchologie und ihre Anwendung 
auf die Sprache und das Bölferleben in kurzer Darftellung vermittelte, dann 
aber und hauptſächlich dem Geiſteswiſſenſchafter einen hinreichenden Fonds 
medizinischer Kenntnijje in die Hände gäbe. Das Ganze fahte ich als die 
„Srenzwillenjchaften‘ der Biychologie zuſammen. Ginleitend habe ic) zunächjt 
die Ergebnijje der modernen piuchologiichen FJorſchung refumirt. Dan leite ich 
den Lejer zum Nervenſyſtem hinüber, indem ich dejjen groben und feinen Bau, 
die Architektur und die Struktur, jchildere; hieran ſchließt ſich die Kritik der 





362 Die Zuhmift. 


Cofalijationlehre, die Diskuffion aljo der großen Frage nad dem Zuſammen— 
bang zwiſchen Nervencentren und pſychiſchen Vorgängen; mit einem Hüdblid 
auf die Bergangenheit des Nervenſyſtems im Thierreich jcheide ich endlich von 
der Anatomie. Der folgende Abichnitt erörtert die Probleme der Bewegung, 
der Sinnesfunktion, vornehmlich deren theoretiihe Seite — Raum» und Zeit- 
anſchauung, Farbenlehren — und bejonders eingehend die Nerventhätigkeit. 

Dierauf folgt der Schritt ins Pathologiſche. Gegen die beiden Abſchnitte „Neu: 

ropathologie‘' und „Pſychopathologie“ werden vielleicht die meijten Einwände 

erhoben werden, weil ich nicht nur die einzelnen Funktionftörungen, ſondern 
aud die ganzen Krankheitbilder fchildere. Doch verweije ich darüber auf die 

Apologie, die ich dem kliniſchen Forihungprinzip als dem A und O aller Patho— 

logie im jechsunddreißigiten Kapitel gejchrieben habe. Die Therapie fand natür- 

li nur Erwähnung, fo weit fie pathologiſch ift, aus dem Wejen der Erfranfung 

folat; alle empirische Behandlung blieb außer Betradht. Die Diskuffion der 

kliniſchen Prinzipien wird, denke ich, meinen Glauben an eine reiche Zukunft 
der Pſychiatrie eben jo darthun wie die Darlegung des Problems der neu: 
ropathifchen Belajtung meine Stepfis gegenüber der viel zu gern theoretifirenden 

Gegenwart. ‚m legten Abjchnitt des Buches werden dann die Pſychologie der 

Thiere, des Kindes, der Sprade, der Gemeinichaften behandelt. Bor der un— 

geheuren Fülle des ſozialpſychologiſchen Stoffes konnte ich das Wagniß der Ein- 

jeitigfeit nicht überall ſcheuen; damit man hieraus aber nicht eine mangelhafte 

Information ableite, glaubte ich, auf eine Darlegung meiner ſozialpſychologiſchen 

Grundanfichten gegenüber den hiſtoriſchen und joziologiihen Fragen nicht ver 

zichten zu dürfen. Ich bitte, es aljo damit zu entſchuldigen, wenn ich diejen 

Anfichten, die ich mir in der Betheiligung an den geichichttheoretiichen Kämpfen 

unjerer Tage gebildet habe, ein eigenes Kapitel widmete. Die Diskuffion der 

beiden höchſten jozialpiychologiichen Probleme, des Genies und der Entartung, 
bei der auch die piychiiche Eigenart des Weibes berüdjichtigt wird, bildet den 

Abſchluß des Ganzen. Pro domo zu fagen habe ich danad nichts mehr, nur 

im Stillen recht Vieles zu wünſchen. Bor allen Dingen: daß mein Bud nad 

inhalt und Form der Stellung fi würdig erweiien möge, die ihm durch die 

Widmung an den Altmeijter der Piychologie zugewieſen erſcheint. Alle aber, 

die außerhalb der Schule Wundts jtehen, bitte ich, in diefer Widmung feinen 

Schwur in verba magistri zu erbliden: fejthaltend an den in Leipzig vertretenen 

Srundanfichten, habe ich doch alle gegnerischen Meinungen eingehend gewürdigt, 

wo ihre Bedeutung es zuließ. Mehr Objektivität, denfe ich, jollte man von 

Keinem erwarten, dem man die Eigenjchaft der Ehrlichkeit nachrühmen will; 

und Das zu wollen, bleibt nad meiner Meinung die vornehmſte Pflicht, die 

wir Alle beim Eintritt in die wiſſenſchaftliche Debatte, jo weit Perfönliches in 

Frage fommt, zu erfüllen haben. 

Deidelberg. Dr. Willy Dellpad. 
* 

Was iſt national? Vortrag des Profeſſors Dr. Alfred Kirchhoff. Zum 
Druck gebracht von Alfred Funke. Gebauer-Schwetſchkes Druderei und 
Rerlag m. b. 9. Halle a. ©. Preis 80 Pig. 

Selten bat ein Vortrag, der einer rein wilfenichaftlichen ‚jrage gewidmet 


— L * 
— — _ ni > 


Selbſtanzeigen. 363 


war, ſo weite Kreiſe im politiſchen Leben gezogen wie der vom Profeſſor 
Dr. Kirchhoff im halliichen Berein für Erdkunde gehaltene, in dem er die Frage 
„Was ift national?“ beantwortet. Ich babe ihn zum Drud. gebracht, weil mir 
von vorn herein klar war, daß dieje eigenartige Weiterfpinnung des befannten 
Vortrages von Renan: Qu’est-ce qu’une nation? Erſtaunen und Widerſpruch 
weden würde, Wer Kirchhoff fennt, weiß, daß er vor feiner wifjenjchaftlichen 
Konjequenz zurüdichredt, jelbjt wenn fie die Achillesferje einer Partei empfinde 
lich ftreif. Schon in der halliiden Verſammlung regte ſich gegen den Bor: 
tragenden ein janftes Säufeln, das aber, durch die Redaktion der Alldeutfchen 
Blätter angefacht, balb zu einem gewaltigen Sturm wuds. Kirchhoffs Darjtellung 
vom Wejen einer Nation, die ich mit reichem hiſtoriſchen Material belegen fonnte, 
ftcht allerdings im jchroffem Gegenjag zu den Bejtrebungen der Kreiſe, die 
einem größeren Deutjchland noch ein größeres Haus in Europa wünſchen, deden 
ſich aber völlig mit der von Biamard jtets vertretenen Anficht, daß der geeinten 
deutihen Nation die Grenzen gebühren, die im Frankfurter Frieden geichaffen 
find. Aus Bismards Aeußerungen fonnte ich Kirchhoffs Theorie belegen. 
Halle a. ©. a Alfred Funke. 
Der Menſch als Thierraſſe und feine Triebe. Beiträge zu Darwin 
und Niegfche. Leipzig, Th. Thomas. 3 Marf. 

Wenn es feinen perjönlichen Gott giebt und wenn der Menſch fi aus 
dem Thier entwicelt hat, dann iſt er jelbit eben auch eine Thierrafje, weiter 
nichts. Dann ftehen wir aber vor der Aufgabe, zu erklären, was denn jeine 
jogenannte Vernunft, jeine Genialität, jein äſthetiſches Empfinden, bejonders 
Kunjtwerfen gegenüber, was jein Gefühl für Recht und Sittlidjfeit und was 
die ganze mienichliche Kultur überhaupt it. Und ganz natürlid) müſſen wirs 
erflären, rein aus der gewöhnlichen Thigrfeele, in der es nichts giebt als einige 
Triebe und die Fähigkeit, zu denten, die ja wohl jegt den Thieren überwiegend 
zugebilligt wird. Das ijt der Iweck meines Buches. Aus vier ganz einfachen 
Trieben leitet es ſämmtliche Gefühle und das geſammte älthetifche und Sittlichkeit- 
empfinden her und gicbt jo auf rein darwiniſtiſchen Vorausſetzungen eine Grund— 
lage der Nejthetik, der Moral, des Straf. und Givilrechtes. Ich bemühte mid, 
ganz flar und einfach zu jchreiben, und ſetze beim Yejer nichts voraus als die 
nothiwendigiten natumwifjenjchaftlichen Stenntniffe und gejunden Menſchenverſtand. 

Dr. W. Rheinhard. 
* 
Jean Pauls Briefwechſel mit ſeiner Frau und Chriſtian Otto. 
Berlin, Weidmannſche Buchhandlung. 1902. 

Heutzutage iſt ein Jean Paul-Buch ein geringeres Wagniß als meine 
vor einem Bierteljahrhundert erſchienene Schrift „Jean Paul und ſeine Zeit— 
genofien“. Damals fonnte id; mich zwar auf Friedrich Viſcher und Gottfried 
Keller berufen, doc damit war noch nicht zu erwarten, daß nun auch weitere 
Sereife fi dem ehemals zum Himmel Erhobenen und dann wieder Vergeſſenen 
und VBerfannten zuwenden würden. Dah jest die Situation eine veränderte ift, 
davon legen all die Schriften und Aufſätze, die inzwilchen dem Dichter des 


364 Die Zukunft. 


Siebenfäs und der Flegeljahre gewidmet find, Zeugniß ab; und jo wird denn 
wohl aud) meine Briefausgabe nicht unwillkommen jein. Sie bietet zwar keines— 
wegs nur Ungedrudtes; erjtens aber tft jchon diejes neue Material wichtig genug, 
denn es eröffnet uns überrajchende Einblide in Sean Pauls Berhältnig zu 
jeiner Gattin; und zweitens zeigt eine Vergleihung des von mir Mitgetheilten 
mit dem bereits Gedruckten, daß ich jchwerlich zu viel behauptet habe, wenn ich 
das früher Veröffentlichte geradezu als Umikum bezeichnete. Man weiß wirklich 
nicht recht, ob man die unfreimwilligen Irrungen oder die abfichtlihen Aender- 
ungen für ungeheuerlicher erflären joll. Ulle, die Jean Paul nur als Thränen- 
fäligen und Sentimentalen fennen, als den Mann, der im Unterſchiede von 
Goethe und Schiller immer wieder auf Gott und Unfterblichfeit hinweiſt, werden 
überrajcht fein, in feiner einzigen Zeile der Briefe diefen Jean Paul wiederzu- 
finden, dafür aber einen Nealismus und eine Diesjeitigfeit, eine ſcharfe Beob- 
adhtungsgabe und eine Kunft der Charakteriſtik, die gerade heutzutage auf Frucht: 
baren Boden fallen dürften. Auf die Bedeutjamkeit der Briefe aus Weimar 
für die Goethe- und Schillerliteratur hat früher bereits, in einer Anzeige meiner 
‚scan Baul-Biographie, Mar Koch hingewiejen; aus der jpäteren Zeit bieten zunächſt 
die Briefe aus Berlin, dann die aus der Neijeperiode, alfo aus Regensburg, 
Frankfurt, Heidelberg, Stuttgart, Löbichau, Dresden, wichtige Beiträge zur 
Sharakteriftif Jean Pauls jelbjt und der hervprragendjten Zeitgenoſſen. 


Profeſſor Dr. Paul Nerrlid. 
* 


Ehefrühling. Drittes und viertes Tauſend. Verlag von Eugen Diederichs 
in Leipzig. Buchſchmuck von Heinrich Vogeler-Worpswede. 


Prolog. 
In dieſer ernſten Stadt, darin wir leben, 
Steht licht im Garten unſer kleines Haus, 
Aus ſeinen Fenſtern träumt das Glück heraus, 
Und „Qui si sana“ grüßt es aus den Neben. 


Dort leben wir, bewuhtem Glüd ergeben, 
Und donnert draußen wild des Lebens Braus, 
Drin binden wir der Liebe Rojenjtrauß, 

Der Düfte froh, die koſend uns umſchweben. 


Sie waltet drin; fein tragijch Frrauenbild, 
Nicht Klärchen, Gretchen nicht noch Kriemhild: 
Ein Enfellind von Windjors Iujtigen Frauen. 
Sie tollt durchs Haus. Wer hinterdrein? Nun, ich! 
„Zo fang’ mich doch!“ 
— In Verſen fang’ id Dich!“ — 


Wenn mirs gelang, jo ſollt Ahr Wunder ſchauen! 
Prag. Hugo Salus. 


% 





. —— man — V0— 


Rumänijhe Finauzen. 365 


Rumäniſche Finanzen. 


SR der Herbſt das Yaub gelb färbte, trug ſich die Diskontogejellichaft bereits 
He mit dem Plan, eine neue Operation an ihrem Schmerzensfinde, der 
Dortmunder Union, vorzunehmen; erſt jeßt aber, da, allzu zögernd, die Frühlings— 
Lüfte der Bäume friiches Grün zu umfächeln beginnen, kommt der Plan zur 
Ausführung. Es ift nicht mehr der jelbe Plan wie einjt vor den Mai. Die 
Zeche Adolf von Hanfemann, die außer einem dem Aufſichtrath nahejtehenden 
Konjortium wohl feinen pafjenden Abnehmer finden Eonnte, bleibt bei der Dort- 
munder Union. Man bat plößlich wieder einmal entdedt, wie werthvoll diejer 
Befig ilt. Dafür wird nun aber die Henrihshütte aus diefem Konglomerat 
von Fabriken und Werken herausgenommen; jie joll, weil die Distontogejellichaft 
neue Mittel braucht, abgejtogen werden. In einem Punkt ähnelt allerdings 
der alte dem neuen Plan. Geld befommt durch ihn nur die Disfontogejellichaft, 
während die Dortmunder Union nach wie vor auf die hohen Zinſen des Banfier- 
fontos angewiejen bleibt. Die Einzelheiten der Sanirung find in der Tages: 
prefje beiprochen worden; die Kritik war, wenn man von den offiziellen Börjen- 
blättern abjieht, für die Disfontogelellfchaft geradezu vernichtend: fajt einſtimmig 
wurden die Finanzpläne abgelehnt. Trotzdem wird natürlich am neunten Juni 
in der Generalverjammlung die Disfontogejellichaft mit eigenen und geborgten 
Aktien über die jchreiende Minorität fiegen. Die für unjere Verhältniſſe ſchon 
recht energiiche Tonart der Preſſe ift aber nur ein Schwacher Widerhall der Wuth, die 
jich in Börjenlälen und Bankierbureaux gegen die Diskontogejellichaft regt. Börjen- 
leute find meiſt gern bereit, Finanzjünden zu vergefjen. Der Diskontogejellichaft 
wird auch nidıt etwa die Urjünde, die Gründung der Dortmunder Union, nad: 
getragen, jondern man wirft ihr vor, daß fie immer wieder neue Experimente 
gemacht bat, um fich aus der Patſche zu retten, in die fie gerathen war, weil 
fie der Union Riejenfredite bewilligt hatte. Anfangs hatte man ihr, an deren 
bona fides man glaubte, mehr als einmal mildernde Umstände zugebilligt. Nach— 
gerade aber mußte jie gelernt haben, daß auf dem bisher befchrittenen Wege 
eine dauernde Sejundung nicht zu erreihen war. Bei den legten Sanirung- 
verjuchen fonnte von gutem Glauben nicht mehr die Nede fein; und ganz undenkbar 
ift befonders, daß Herr von Danjemann. mit dem neusten Worjchlag der Dort» 
munder Union helfen zu fünnen hofft. Darüber ift die Börje wüthend. Man 
rechnet der Disfontogejellichaft nah, ein wie großer Theil ihrer bisherigen 
Dividende durch alle möglichen Gewinne an der Dortmunder Union verdient 
worden iſt und wie während der jelben Zeit die Aktionäre der Union ihren 
Belig entwerthet jahen. Die Börjianer zweiten und dritten Nanges behaupten 
nit ohne Grund, ein armer Teufel von Eleinem Bankier, der auch nur an- 
nähernd ähnlich gehandelt hätte wie die ſtolze Großbank, dürfte jchon längſt 
nicht mehr den Börjenjaal betreten. Auch hier trifft eben das Wort zu, das 
der englijche Arbeiterführer Keir Dardie jüngit im Unterhaus jprad: „Gewiß 
giebt es für Arme und Reiche nur ein Geſetz, — aber zwei Auslegungen.“ 
Gerade jet iſt es intereffant, jih mit dem Scidjal der Dortmunder 
Union zu bejhäftigen, weil Herr von Danfemann im nicht allzu ferner Zeit mit 
einer anderen Angelegenheit an das deutjche Publikum herantreten wird. Es 


356 Ä Die Zukunft. 


handelt ji da um die zweite Unheilsſaat, die die Disfontogejellichaft, unier 
immer noch erjtes Bankhaus, in die Erde geſenkt hat: um die rumäniſche Anleihe. 
Non allen fremden Nenten find die rumänijchen unter den deutichen Rapitalifien 
am Meiſten verbreitet, merfwürdiger Weiſe auch am Höchſten geachtet. Die 
Frage, welcher Betrag von den jeweiligen Emifjionen auch wirklich in die rumäniiche 
Staatskaſſe geflofjen ift, kann Öffentlich nur geitellt, nicht beantwortet werden. 
Sicher ift aber, daß die deutichen Abnehmer diejer Anleihen Kurje bezahlt 
haben, wie nur eine feit fundirte Großmacht eriten Ranges fie fordern duriir. 
Das war dem Patronat der Nothichildgruppe zu danfen, die jeit dem Pau ber 
mit dem Namen Strousberg eng verknüpften rumänischen Eifenbahnen in intimer 
Geſchäfsfreundſchaft mit dem Lande Icht, deſſen Volk und Regirung den Juden 
nur als Seldgebern die Gleichberechtigung zuerfennt. Schon mit den rumänticdyen 
Eiſenbahnen hatte die Disktontogejellichaft recht jchlechte Erfahrungen gemadt. In 
ihrem Gejchäftsbericht über das Jahr 1872 las man: „Im Intereſſe des den 
uriprünglichen Sonzeilionären der rumäniichen Bahn anvertrauten deutſchen 
Kapitals unterzogen wir uns zuſammen mit dem Dauje Bleichröder der ſchwie— 
rigen Aufgabe, diejes gefährdete Unternehmen zu reorganijiren. Das gelang 
insbejondere durch Unterftügung der Oeſterreichiſch-Franzöſiſchen Staatseijen- 
bahngejellichaft, die die weitere Bauausführung, die Berwaltung und den Betrich 
der Bahnen übernahm, jo daß wir auf Grund geordneter Verhältniſſe und eines 
gelicherten Bejtandes des Unternehmens der Emijjion der Stammprioritätaftien 
der Rumäniſchen Eiſenbahngeſellſchaft unfere Mitwirkung leihen konnten.“ Damals 
hatte Herr Strousberg, wie jpäter erit befannt wurde, einen Vorſchuß von 
6 Millionen erhalten, zu deſſen Sicherjtellung er jeine ſämmtlichen Güter in 
Preußen, jtädtiiche Grundjtüce in Berlin und Wien und eine Standesherrichaft in 
Polen verpfändet hatte. Als er in Konkurs gerathen war, ruhte ein Berluft 
von über 600000 Mark auf diejer Iransaftion. Dieje anfangs höchſt zweifel— 
hafte Situation Rumäniens, das in dem Eijenbahntaumel der fiebenziger Jahre 
größenwahnfinnig, wie damals alle halb fultivirten Staaten, den Bau der Bahnen 
um jeden Breis förderte, obwohl fein auch nur annähernd ausreichender Ver— 
dient zu erzielen war, wurde nur allzu bald vergefien. Beim Beginn der adıt- 
ziger Jahre trat die Disfontogejellichaft mit dem rumänischen Staat, der die 
Eiſenbahn übernommen hatte, direft in Verbindung; und im den eriten acht 
Jahren diejes jungen Berkehres wurden 456 Millionen Franes fünfprozentiger 
Anleihen in die Welt gejetst. 1889 folgte eine Emiljion von 82 Millionen 
Franes vierprozentiger Nente. 1890 wurden die jechsprozentigen Eiſenbahn— 
obligationen fonvertirt: abermals mußten 274 Millionen Franes vierprozentiger 
Rente geichaffen werden. Bis zum Jahr 1808 folgten verjchiedene Emijjionen 
im Gejammtbetrage von 566 Millionen Franes. Und endlich wurde das Ge- 
bäude gefrönt durch 175 Millionen fünfprozentiger, 1904 rüdzahlbarer Schapß- 
anmweilungen, die 1849 das Yicht der Welt erblidten. So hat Rumänien eine 
Schuldenlaſt gehäuft, mit der jih jede Großmacht der Erde jehen laſſen könnte. 

Aber das rumäniiche Pumpbedürfniß iſt noch nicht geftillt; im Gegen« 
theil: Schon die nächſte Seit wird wieder beträchtliche ‚Forderungen bringen. Bus 
nächſt wird es nöthig jein, die cben erwähnten 175 Millionen Schaganweilungen 
zurückzuzahlen; außerdem rechnen Sadıfundige, daß rund 25 Millionen für Vor: 





Ai: F 


Rumänijche Finanzen. 367 


ihüfje in Anjprucd genommen worden find. Denn Rumänien mußte ſich bei 
der Aufnahme der legten Schatzanweiſungen verpflichten, vor Nüdzahlung diejer 
jchwebenden Schuld Feine weiteren Anleihen aufzunehmen. Nun ijt aber eine 
Rüdzahlung der Schagicheine und der Vorſchüſſe aus eigenen Mitteln völlig 
ausgejchlojien und man nimmt deshalb an, daß Rumänien genöthigt fein wird, 
mindeitens 200 Millionen Franes durch Ausgabe neuer Anleihen flüffig zu 
maden. Da it es denn doppelt wichtig, einmal die Grundlagen der Legende 
zu prüfen, die unjerer Stapitaliftenwelt Rumänien als ein Land jchildert, dem 
man jeelenrugig große Summen anvertrauen könne. Die Behauptung inter- 
ejfirter Finanzfirmen, vorläufig jei an neue Emiffionen nicht zu denten, darf 
uns von folder Prüfung nicht zurüdhalten. 

Eine unparteiijhe Darjtellung ber rumäuiſchen Finanzverhältnifie ift 
freilich nicht leicht zu geben. Wer nur die Berichte der Agence Roumaine oder 
die von der Disfontogejellichaft infpirirten Artikel in den Börjenzeitungen lieſt, 
Der muß wirklid glauben, um Rumänien ſei es mindeftens viel beffer als um 
alle übrigen Balfanftaaten bejtellt. Diejer Eindrud it namentlich in Deutſch— 
land leicht zu jchaffen, wo man gewöhnlich nur daran denkt, daß auf dem 
rumäniihen Thron ein Hohenzollern jigt und dab König Karols Gemahlin nette 
Gedichte macht. Dieje unklaren Gefühlswägungen find aber nußlos; und des- 
halb müffen wir uns freuen, wenn ein auf den Boden der Thatfahen Stehender 
mit fefter Dand den Rumäniens wahre Yage verhüllenden Yügenjchleier zerreißt. 
Das gejchieht in der joeben erjchienenen Brochure „Die rumänischen Finanzen; 
Zahlen und IThatjachen für die Bejiger rumäniicher Papiere.“ Qroß der 
Anonymität jcheint die Schrift des Vertrauens würdig; und aus dem ehreniverthen 
Namen des Mannes, der fie mir jchickte, darf ich wohl den Schluß ziehen, daf; 
feiner Finanzelique mäctiges Wort bei der Abfaſſung mitgeſprochen hat. 

1869, drei Jahre nachdem unter Karols Szepter die Fürftenthümer 
Moldau und Walachei geeint worden waren, umfaßte das Budget, ohne Defizit, 
den geringen Betrag von 35'/, Millionen Franes. Die Ausgaben des Budgets 
für 1900/1901 belaufen fid) auf rund 238 Millionen Franes. Aber weder 
der Umfang des Etats nod) die Höhe der Staatsſchulden, die im Ganzen jeßt 
rund 13/, Milliarden Franes oder auf den Kopf der Bevölkerung 239 Francs 
betragen, giebt uns den richtigen Maßitab für die Beurtheilung der Finanz: 
fraft des Yandes. Entſcheidend ift die Antwort auf die Frage, zu melden 
wirthſchaftlichen Zweden die Schulden gemacht worden find. Da Ichrt die Durd)- 
forihung des Budgets nun zunächſt die traurige Thatſache, daß 39 Prozent der 
aefammten Einnahmen nur zur Verzinfung der Schulden aufgebracht werben 
müſſen. Won dem Erlös der Anleihen find allein etwa 937 Millionen Franes 
für öffentliche Arbeiten, Eifenbahnen, Bauten u.j.w., 266 Millionen für militärifche 
und 94 Millionen für diverje, nicht ficher bezeichnete Zwecke verwandt worden. 
Auf den dunkeliten Punkt ftopen wir, wenn wir lejen, daß 159 Millionen zur 
Dedung der Fehlbeträge verbraudjt werden mußten. Die Defizitwirthichaft it 
in Rumänien chroniich geworden. In den dreischn Jahren von 1888 bis 
“1901 war ein Fehlbetrag von insgefammt 35,8 Meillionen Franes zu verzeichnen. 

Die rumänifchen Eijenbahnen bringen nicht etwa die Zinſen für die zu 
ihrem PBaı aufgenommenen Anleihen ein: einjtweilen iſt ein jährlicher Zuſchuß 


7 


il 


368 Die Zukmft. 


von 8%, Millionen nöthig. Dabei iſt noch zu bedenken, daß die rumäniſche 
Finanzverwaltung durdaus nicht jo geordnet iſt, wie man fie in offiziöjfen Be- 
richten zu Schildern pflegt. Die Voranſchläge find von jo kühnem Optimismus 
diftirt, daß die Ergebniſſe redyt erhebliche Fehlbeträge zeigen. Faſt muß man 
an abjihtlihe Täufhung glauben, wenn man lieft, was der frühere Finanz— 
minifter Take Joneseo in einer Nechtfertigungjchrift Sturdza und deſſen Finanz- 
minifter Garp nachſagt. Neben anderen VBerfehlungen wirft er ihnen vor, fie 
hätten für zwei GEijenbahnlinien Millionen ausgegeben, die von den Kammern 
gar nicht bewilligt waren. Take Jonesco behauptet, in allen rumänischen Bud— 
gets — natürlid) nimmt er das von ihm ſelbſt aufgeftellte aus — jeien Ver— 
ichleierungen jo häufig, dal der Ausländer faum jemals im Stande ijt, Die 
Lage zu überbliden. Die Brodure ftellt, im Anſchluß an den offiziellen Be: 
riht des Finanzminiſters Filipescu, feit: ein günftiges Einnahmerejultat jei 
in einem der früheren Etatsjahre nur dadurd möglich geworden, daß die Nejerve- 
fonds der Gifenbahnen aufgelöft und die Militärtransporte einfach nicht bezahlt 
wurden. Das jagt der Finanzminijter jelbit. Solche Manipulationen jcheint 
man in Rumänien aljo nicht für betrügeriich zu halten. 

Ferner ijt zu bedenten, daß Rumänien ein in erjter Linie auf den Ges 
treideerport angewiejener Agrarſtaat ift. Die Brochure lehrt uns die ſchlimme 
Wirkung jchlechter Ernten erkennen. Die öfterreichiichen Konfuln in Jaſſy umd 
Bukareſt berichten einftimmig, dab mehrere gute Ernten nöthig find, um den 
Ausfall einer einzigen ſchlechten Ernte zu deden. Dabei ift es um die land- 
wirthſchaftlichen Verhältniſſe Rumäniens fehr übel beftellt. In den deutjchen 
Konfjulatsberichten vom Jahr 1901 wird mitgetheilt, daß in Rumänien der 
Binsfuß für private Hypotheken zwiſchen 8 und 18 Prozent jchwanfe, mand)- 
mal aber bis auf 36 Prozent fteige. Die Großgrundbeſitzer müſſen bet den. 
Bankiers gewöhnlich 24 Prozent zahlen, Die rumänischen Negirungen — oder, 
beijer gejagt, die rumänischen Parteien — juchen die Bevölferung über die wahre 
Lage zu täufchen. Die zum Theil jehr hohen Aufwendungen für öffentliche 
Bauten Ichaffen für kurze Zeit immer wieder künftlich unter den Dandwertern 
des Landes einen Wohlftand, der falſche Schlüffe auf die wirthichaftliche Situation 
der Gefammtheit begünftigt. 

Die finanzielle und wirthichaftliche Yage Numäniens ift alfo, wenn man 
fie nicht in verflärendem Märchenlicht ficht, ſehr ernſt und rechtfertigt durchaus 
nicht den hohen Kursſtand der Anleihen. Die Hoffnung der privaten Staats» 
gläubiger klammert ſich hauptſächlich an die Erwägung, daß die Banken, um 
nicht jtarfe Berlufte zu erleiden, neues Geld hineinfteden müfjer. Die Banken 
aber follten, wenn fie den deutjchen Kapitalsmarkt abermals in Anſpruch nehmen 
wollen, wenigstens dafür forgen, daß Rumänien nicht durd die Verjagung jüdischer 
Handwerker, Yandmwirthe, Kaufleute, die das thätigſte Element des Yandes bilden, 
den Neft jeiner wirthichaftlichen Kraft zeritört. Cine jo unfinnige Fremden 
politif, die übrigens auch den internationalen Werträgen nicht minder als dem 
Sebot der Gumanität wideripricht, muß auf die Dauer das Yand ruiniren und 
follte deshalb auch für die pumpenden Banken feine quantite negligeable fein, 
Die Disfontogeiellichaft wird vor der nädjiten Emiſſion unzmeidentig zu erklären 
haben, was jie nad) diejer Richtung verfucht und erreicht hat. ” Plutus. 


* 





Notizbuch. 369 


Notizbuch. 


53: Profeſſor Dr. Guftav Schmoller lehrtan der berliner Univerfität National: 
0 ökonomie. Er findet, mit Recht, es ſei unklug, gerade über die Vorgänge zu 
ſchweigen, die für die Erhaltung, Stärkung oder Schwächung der lebendigen Kräfte 
deutſcher Volkswirthſchaft beſonders wichtig und mehr als Abſtraktionen und Rück— 
blicke auf Gewordenes geeignet ſind, den Sinn junger Hörer zu feſſeln. So ſpricht 
er eines Tages auch über den von den Verbündeten Regirungen dem Reichstag vor— 
gelegten Entwurf eines neuen Zolltarifes. Die Studenten, neben denen wohl mancher 
nicht der akademiſchen Bürgerſchaft Angehörige ſitzt, ſpitzen das Ohr; was mag über 
den Gegenſtand, der ſeit Monaten täglich in den Zeitungen behandelt wird, der be— 
rühmte Redner zu ſagen haben? DerKampf, ſo ungefähr ſpricht der Profeſſox, ſei einſt— 
weilen noch nicht allzu ernſt zu nehmen; die einzelnen Zollſätze des Tarifes ſeien 
ziemlich gleichgiltig, da ſie in den internationalen Verhandlungen zum großen 
Theil doch geändert werden würden, und deshalb ſolle man das Urtheil vertagen, 
bis die in neuen Dandelsverträgen erreichten Zollſätze befannt jeien. Das hatten 
vernünftige Leute längjt gedacht oder ausgeſprochen, ehe Herr Profeſſor Schmoller 
das Wort nahm. Im vorigen Jahr ſchon und jeitdem recht oft wurde hier gejagt, 
die Barteien follten, jtatt ziellos die Kraft zu verzetteln, den Negirenden ruhig die 
Möglichkeit laffen, mit ihrem Zolltarif in die Fremde zu ziehen, und die Kritik bis 
zur Borlegung der Handelsverträge jparen, deren Annahme ja vom Botum des 
Reichstages abhänge. Ein Student behauptet num, der ‘Brofejjor habe fich im Kolleg 
auf die Worte preußiicher Minifter berufen, die ihm gejagt hätten, auch jie dächten 
nicht daran, den Entwurf jo, wie er dem Reichstag vorliege, zum Gejeg zu machen. 
Das haben Mlinijter und Staatsjefretäre, jo weit ihre Auffafjung von Dandels- 
diplomatenpflichten es geitattete, mehr als einmal angedeutet und jelbjt erwachſende 
Schulfnaben willen nachgerade ion, daß der Entwurf einen Dandelsfampftarif 
liefern, Konzejfionen und Kompenjationen ermöglichen, unter feinen Umſtän— 
den aber unverändert Gejeg werden ſoll. Dem Studenten jchien die Mittheilung 
dennoch wichtig; er machte eine Notiz daraus, die er an berliner Zeitungen jchiete. 
Auf den Antrag des Profeſſors jchritt die Staatsanwaltichaft ein, die Anklage wurde 
erhoben und der ertappte Student vom berliner Yandgericht zu zweihundert Mark 
Geldſtrafe oder vierzig Tagen Gefängniß verurtheilt, weil er fich gegen den ‘Bara- 
graphen 38 des lUIrheberrechtsgejeßes vom neunzehnten Juni1901 vergangen habe. Bon 
dieſem Paragraphen wird bedroht: „wer in anderen als den gejeglich zugelaffenen 
Fällen vorjäglich ohne Einwilligung des Berechtigten ein Werk vervielfältigt oder ge- 
werbmähig verbreitet.“ In der Begründung des Geſetzes iſt ausdrücklich gejagt, nur 
„der öffentliche Vortrag als ſolcher“ jollegeichüßt fein; „Mittheilungen, die Lediglich den 
Inhalt der Rede berichten“ — auch einer vom Urheberrechtsgeſetz der freien Wieder: 
gabe entzogenen Rede — jollen, „wie bisher, zuläljig bleiben“. Dievon dem Studenten 
verbreitete Notiz war kurz und Derr Profejfor Schmoller nannte fie als ‚Zeuge „eine 
ganz unzureichende und vielfach mißverſtändliche Wiedergabe eines etwa einftündigen 
Bortrages.“ Der Miflethäter ſoll aljo erſtens Unwahres veröffentlicht und zweitens 
durch dieje Veröffentlichung das Urheberrecht des Profeſſors verlegt haben. Der 
Bericht über den Vortrag war falich; er giebt nicht wieder, was der Profeijor gejagt 
hat, ift aber jtrafbar, weil er ohne Einwilligung des Berechtigten das „Werk“ des 


27° 


370 Die Zuhmft. 


‘Profejjors „gewerbmäßig verbreitet“. Wenn diejes Urtheil, eins der merfwürbigjten 
aus ber an jeltjiamen Sentenzen reihen Spruchpraxis des berliner Landgerichtes, 
in Leipzig bejtätigt wird, werden die Folgen ſolches Präjudikates nicht ausbleiben. 
Auch auf dem Gebiete der Politik können jie fichtbar werden, wo heute die Nednerei 
ja einen breiten Naum einnimmt; Beifpiele kann Jeder ſelbſt leicht erfinden. Mehr 
aber als die kriminaliſtiſche ift die menschliche Seite der Sache beachtet und fait ein- 
jtimmig ift das Borgehen des Profeffors hart getadelt worden. Der Student hat taktlos 
gehandelt. Vielleicht wollte er ſich wichtig machen, vielleicht verſprach er fich von jeiner 
Notiz politiihe Wirkung, vielleicht trieb ihn nur der Wunſch, durch Reportage ein 
paar Mark zu verdienen und früh Fäden anzufnüpfen, die ihn fpäter in den Preßbe— 
trieb führen könnten. Ginerlei. Der Profeffor konnte ihn kommen lafjen, die Ver: 
fehlung ftreng rügen, ihn, wenn ers für nöthig hielt, der Disziplinarbehörde an« 
zeigen. Das war Herrn Profeſſor Schmoller noch nicht genug. Er rief die akade— 
mijche Gerichtsbarkeit und die Staatsanmwaltichaftan und hat nun durchgejegt, daß 
ein junger Menſch „vorbejtraft“,vor dem Auge der Korreften bematelt, wahrſchein— 
lich in jeiner Laufbahn gehemmt ift. Ein junger Menſch, der ſchließlich nichts Bbſes 
gethan, der nur, aus Yeichtfinn oder aus Noth, die Anjtandspflicht verlegt und den 
Lehrer vor der Dauptverhandlung und nod) einmal in öffentlicher Gerichtsfigung um 
Berzeihung gebeten hat. Daß dies Indiskretion den Profeſſorärgern, ihn vor den befreun: 
deten Miniftern „Lompromittiren“ konnte, ift flar; ernitlich geichädigt aber war er nicht. 
Die Zeitungen mußten feine Berichtigung aufnehmen und den Excellenzen mußte 
das Wort des vierundjechzigjährigen berühmten Gelehrten mehr gelten als die Aus» 
jage eines reportirenden Schülers. Sind die wirthichaftlicden Zufammenhänge, die 
einen barbenden Studenten nach mühelojem Nebenverdienft auslugen laſſen, von 
einem Lehrer der Nationalökonomie jo jchwer zu durchſchauen? Und kann ein Mann, 
der zu den evangeliſch-ſozial Eimpfindenden gehören will ſich nicht der herrſchenden Mit- 
leidlofigkeit entziehen, deren Sehnſucht nad) Talion unerfättlich, durch die härteſte 
Strafe kaum zu jtillen ift ? Herr Schmoller ſoll ſich bereit erflärt haben, die Geldſtrafe 
für den Berurtheilten zu zahlen. Sehr ſchön; doc damit find nicht alle Folgen feines 
Strafantrages aus der Welt geihafft. Die Studenten find in Preußen zu qut dis« 
ziplinirt, zu feit in ftramme Militärfitte gewöhnt, als daß fie an einen Boykott 
dächten; in einer Fabrik, wo einem Genoſſen jo mitgejpielt worden wäre, würde 
die Arbeit wahrſcheinlich niedergelegt. Den Brofefloren, von denen mancher Schmollers 
Schritt mißbilligt, räth wohl follegiale Rüdjicht, über den Vorgang zu ſchweigen. 
Für Schmoller ijt bisher mur Herr Profeffor Simmel eingetreten, der in einem 
an die Voſſiſche Zeitung gerichteten Brief mit beinahe leidenſchaftlichem Eifer die 
Kothwendigkeit betont, die „akademiſche Vertraulichkeit” zu wahren. Die Gründe, 
die er anführt, ſind nicht jehr gewichtig und könnten von jedem anderen Nedner, der 
in nicht Öffentlicher Berfammlung jpricht, mit dem felben Necht geltend gemacht 
werden. Wer ſich je zu ſolcher Yeiftung bergab, liejt in den Zeitungberichten nachher 
fait immer Säße, die er entweder gar nicht aefprochen hat oder deren Sinn durch die 
Löſung aus dem Zuſammenhang entſtellt iſt. Profeſſoren find nicht Profeſſen, jon- 
dern, ſo hofft man noch heute, muthige Bekenner, die ſich nicht ſcheuen, auch mit einem 
gewagten, auf Hypotheſen, nicht auf Reſultate geſtützten Sag in die Oeffentlichkeit 
zu treten. Sie können nicht jo naiv fein, zu glauben, was fie vor zwanzig oder vor 
hundert jugendlich hitzigen Dörern jagen, bliebe verborgen; und eine geflüfterte 


Notizbuch. 371 


Fälſchung ijt gefährlicher als eine gedrucdte, gegen die man fich wehren fann. Herr 

Profeſſor Schmoller ift ein Meiſter der dejfriptiven Volkswirthſchaftlehre und ein 

mächtiger Hochſchuldiplomat, der für feine zuverläjfigen, in verba magistri ſchwb— 

renden Schüler jo zärtlich jorgt wie jeit Scherers, des ihm im Wejen verwandten 

Taktikers, Tode kein anderer Profeffor; er jollte zeigen, daß er auch der humanen 

Pflicht eingedenk tft, die der Yehrerim Verkehr mit jungen Schülern nie vergejjen darf. 
* * 


* 

Herr Landrichter a. D. Ernſt Mumm, Aſſiſtent an der chemnitzer Dandels- 
kammer, erbittet die Aufnahme der folgenden Erwiderung: 

„m, Archiv für bürgerliches Recht‘ und in der Zukunft‘ verjuchte ich neulich 
nachzuweiſen, daß die jeit einigen ‘Jahren laut geforderte, im Reichstag einftimmig be- 
fürwortete Einführung faufmännischerSchiedsgerichte weder nothwendig nod) auch nur 
wünjchensiwerth jei. Während meine Darftellungen von vielen einfichtigen Männern 
gebilligt wurden, hat Blutus jie hier heftig befämpft. Die Entſcheidung darüber, 
ob es ihm geglüctt ift, mich zu widerlegen, überlafje ich getroft den Yejern. Mich 
haben jeine Eimvendungen nicht eines Anderen belehrt und ich wiirde auch nicht für 
erforderlich halten, auf fie zurüdzufommen, wenn mir hierzu nicht einige Bemerkungen 
den Anlaß gäben, die meine Darlegungen als oberflächlich und thöricht hinzuftellen 
bemüht find. Ueber die — im Grunde nebenjächliche — Bemängelung meines Aus- 
drudes, es jei bedauerlich, daß das Prinzip der ordentlichen Gerichtsbarkeit abermals 
durchbrochen werden jolle, brauche ich fein Wort zu verlieren. Zur Sache fann ich 
nur nahdrüdlicd betonen, da ich in der Schaffung kaufmänniſcher Ausnahmegerichte 
eine — um ihrer Konjequenzen willen — höchſt beflagenswerthe Abweichung von 
dem gerechten Grundſatz erblide, nach dem Jeder vor dem ordentlichen Richter fein 
Hecht zu juchen hat. Se ift gar nicht einzujehen, warum die Anhänger faufmännijcher 
Schiedsgerichte bei dem Verlangen nad) diefen Sondergericdhten Halt machen und 
nicht, wie es Agiter und Genoſſen fonfequenter Weiſe thun, auch Uusnahmegerichte 
für die Streitigkeiten zwiſchen Gejinde und Derrichaft, überhaupt für alle Streitig: 
feiten fordern, die aus irgend einem Lohn», Arbeit- oder Dienjtverhältnig entjtehen. 
Die Gründe, die Plutus und die anderen Freunde kaufmännischer Schiedsgerichte 
ins Feld führen, lafjen ſich genau jo gut zur Nechtfertigung aller nur möglichen 
Sonderjchiedsgerichte anführen. Gerade diejer Umftdnd aber weit mit Sicherheit 
darauf hin, daß jenen Gründen in Wahrheit die Beweiskraft für die Einführung 
faufmännijcher Schiedsgerichte fehlt, daß fie nur infofern Beachtung verdienen, als 
darin die Mängel des heutigen Prozehverfahrens überhaupt gerügt werden. Dann 
hält mir Plutus vor, ich fuche die bitter ernfte Frage dadurd) ins Pächerliche zu ziehen, 
daß ich den Ruf nad) kaufmännischen Schiedsgerichten als eine Modeſache bezeichne. 
‚sch erwidere, daß ich auf Grund recht genauer Kenntniß der einjchlägigen Verhält— 
niffe und auf Grund eingehenden Studiums der ganzen Bewegung das Geſchrei nad 
kaufmänniſchen Schiedsgerichten in der That für blinden Lärm halte. Ich habe die 
fejte Ueberzeugung erlangt, daß in den Streifen der faufmännifchen Angeſtellten ein 
ernftliches Bedürfniß nach Sondergerichten nicht bejteht, dafz vielmehr einige Dußende 
oder Hunderte von Agitatoren für eine Einrichtung Propaganda machen, die Dundert: 
taufenden ihrer Standesgenoflen herzlich gleichgiltig ift. Schließlich meint Blutus, 
mein Daupttrumpf jei, daß bei den bejtehenden Zchiedsgerichten in Dannover u. ſ. w. 
nur wenige oder gar feine Berfahren anhängig gemacht worden feien. Zugleich er- 


372 Die Zutunft. 


hebt er den Vorwurf, id) jcheine von der Einrichtung dieſer Schiedsgerichte nichts zu 
wilfen. Diejer Borwurf hätte mir füglich eripart bleiben können. Läßt doch ſchon 
der Name der an verfchiedenen Urten eingeführten fakultativen Schiedsgerichte über 
ihren Charakter feinen Zweifel zu. Die Beihäftigunglofigkeit diejer fakultativen 
Gerichte ift im Uebrigen ganz und gar nicht mein höchiter Trumpf. Nur beiläufig 
wird ſie erwähnt neben der viel wichtigeren, den Anhängern der Schiedsgerichte etwas 
unbequemen Thatjache, daß die zur Austragung gelangenden Nechtsitreitigfeiten 
aus dem faufmännijchen Dienjtvertrag — von den ganz großen Städten abgejehen — 
jeltene Nusnahmefälle bilden.“ 
* * 
* 

Der Maler Leo Freiherr von König jchreibt mir: 

„Führer durd) die berliner Kunftausftellungen‘: jo heißt ein fleines Deftchen, 
das mir aus meiner Zeitung, dem Berliner Tageblatt, entgegenfiel. Aha! dachte 
ich: eine kleine Erjparnii für die Abonnenten, gleich dem Kalender oder den Eleinen 
Gijenbahnfahrplänen, die das Blatt jeinen Yejern in freundlicher Abficht zu ſchenken 
pflegt. Eine Mark fünfzig ift für einen Katalog viel Geld; dafür kann man jchon 
bei Kempinski frühftüden, meinte neulich ein Verwandter vom Yande. Hier, vers 
muthete ich, würde er das billige Sremplar, ein Surrogat, die marfantejten Bilder, 
wie im Bädeler, mit Sterndyen verjeben, finden. ich hatte faljch vermuthet. Das 
Heftchen bringt eine gebundene Kritik der beiden Ausitellungen. Nun weil id} wohl, 
daß wir Künſtler, wie Jeder, der mit Werfen oder Schauftellungen an die Oeffent« 
lichkeit tritt, der Kritit Berufener und Unberufener ausgefegt find. Es Liegt mir 
daher aud) gänzlich fern, Etwas über den Inhalt der Brochure zu jagen; nur über 
den Weg, den dieje Kritik einichlägt, möchte ich jprechen. Das Wort ‚Führer‘ und 
die beigefügten Pläne der Ausitellungen zeigen den Wunſch des Autors, der jewei- 
lige Befiger des Heftes möge, mit ihm bewaffnet, feinen Rundgang durd die Säle 
antreten. Diejer Beſucher aljo wird an jedes Bild mit einer vorgefaßten Meinung, 
mit der des ‚Führers‘, herangehen; denn unendlich groß ift ja die Zahl Derer, für 
die jedes gedruckte Wort ein Evangelium ift. Durd) dieje Art der Führung wird 
dem Publikum jegliches Nachdenken eripart umd jo dem Kunſtwerk ein großer 
Theil jeines erziceherifchen Werthes genommen, Der Menjch wird niemals aus 
Büchern Kunſt begreifen lernen. Kunſt ift feine Willenichaft, Kunjt will empfunden 
jein; und Der nur, der ſich jelbjt zu den Anjchauungen und Abjichten eines Künſtlers 
durchgerungen hat, wird deſſen Werk wirklich genofjen haben. Der neufte ‚yührer‘ 
nimmt dem Künſtler jede Ausjicht, auf einen unbefangenen, naiven Beſchauer wirken 
zufönnen. Dan jtelle ſich vor, dag die Bücher unſerer Schriftjteller mit Nandbemerf- 
ungen eines Kritikers erjchtenen oder daß uns vor jedem Akt eines neuen Theater- 
jtüctes ein Vortrag über dejjen Vorzüge und Mängel gehalten wiürde. Nein: vor 
dem Kunſtwerk hat die Kritik zu Schweigen und erit zu Dem zu jprechen, der das 
Werk ſchon in ſich aufgenommen hat. Ich habe nichts dagegen, day Herr X, am 
nächjten Morgen in jeiner Zeitung lieſt, meine Bilder jeien gut oder ſchlecht; aber 
vor den Bildern wünſche ich ihn unbeeinflußt; und ich glaube, daß ſich dieſem Wunſch 
meine Kollegen aus beiden Däufern anschließen werden.“ 

* * 


* 
„In den preußiſchen Oſtmarken ſollen nicht mehr die Polen chikanirt, ſondern 
die Deutſchen wirthſchaftlich geſtärkt werden. Dieſer Weg iſt hier ſeit Jahren oft 
empfohlen worden betreten aber ſollte ihn nur ein Geduldiger, der entſchloſſen iſt, 





2 - — — - . u u uETTTITE “ . —.—.- 


Notizbuch. 373 


nicht an der nächſten Ede ſchon in einen breiteren Seitenpfad abzubiegen. Mit 
dem alten Apparat einer Berwaltung, die auch den ſtärkſten Willen lähmt, iſt nichts 
zu erreichen; eine halbe Milliarde und die ganze Lebensarbeit eines jchöpferiichen 
Staatsmannes wird nöthig fein, um auch nur den verlorenen Boden zurüdzuge- 
winnen. Graf Bülow, der mit rühmenswerthem Eifer ſich den zähen Stoff angeeignet 
und eingejehen hat, daß es fich dabei um die wichtigite Frage der deutichen Zukunft 
handelt, kann nicht glauben, jolches Rieſenwerk fer im Nebenamt zu vollbringen. 
Der Entſchluß zu innerer Kolonialpolitif größten Stils — und jede andere wäre 
nußloje Spielerei — muß organisch mit der Summe des Wollens zufammen- 
hängen, das in der Sejtaltung neuer Möglichkeiten und Nothwendigfeiten fühlbar 
werden fol. Tiefer Zuſammenhang aber ift noch nicht zu erfennen.“ Auch heute 
noch nicht, obwohl vier Monate vergangen find, jeit die angeführten Säße in der 
„Zukunft“ zu lejen waren. Eine Viertelmilliarde aber hat die preußtiche Negirung 
vom Landtag verlangt; 150 Millionen, um die AUnfiedlung deuticher Bauern in den 
Oſtmarken jchneller und wirkſamer als bisher durchführen, und 100 Millionen, um 
Gitter und Grundſtücke für den Domänenfisfus ankaufen zu können. Der erite 
Schritt iſt aljogethan; ob erans Zielführen kann, wird fpäter zuprüfen fein. Einſt— 
weilen wollen wir uns der allzu jeltenen Gelegenheit freuen, die preüßiſche Regirung 
loben zu dürfen, und wünjchen, fie möge, jo lange es Zeit iſt, einfehen lernen, daß 
auch im deutichen Oſten der Kolonialpolitif Erfolg nur bejchieden jein wird, wenn 
ihr, jtatt der Bureaufraten, Kaufleute die Wege weilen. Daß die Provinzen Weft- 
preußen und Bofen mit einer Viertelmillion gedüngt werden, ijt jicher gut; nun ſoll 
man jie verwalten, als gehörten fie einer großen, joliden Banf, der nur eine praf- 
tische und fraftvolle Kulturpolitif das hereingeitedte Geld hoch verzinfen kann, 
+ * 


* 

Rochambeau, dem Grafen und Marſchall von Frankreich, der von Ludwig 

dem Sechzehnten 1750 als Führer des franzöfiichen Stontingentes übers Meer ge— 
Ichieft wurde und bei Yorktown, im Bunde mit Waſhington, das engliiche Heer zur 
‚Kapitulation zivang, iſt vonder Negirung der Vereinigten Staaten aufdem Yafayette- 
Square der Dauptjtadt ein Denkmal gefegt worden. Der kluge Stratege, der vorher im 

Siebenjährigen Krieg gefochten und den nachher der neunte Thermidor vor dem Da 

der Schredensmänner gerettet hatte, war lange vergejlen ; der Nuhm des Sprudel- 
fopfes Yafayette hatte die Erinnerung an den fühlen Schweiger überftrahlt, der für 

Kordamerifa doch viel mehr that als der hitzige Schwärmer. Jetzt ijt dieje Erinne- 
rung wieder aufgefriicht und das Denkmal mit allem in einer Republik möglichen Glanz 
enthüllt worden. Herr Rooſevelt hat fich bemüht, den Franzoſen, deren höchite Reprä— 
fentanten zum Feſt geladen waren, zu zeigen, daß man dankbar der von ihnen 
im Kampf gegen England geleifteten Bilfe gedentt. Auch der Magdeburger 

Steuben, der 1777, auf das Drängen von Beaumardais und Saint: Germain, 

den badiichen Kriegsdienft verließ, nach Amerika ging, Generalinipelteur der 
Armee und Generalſtabschef Wajhingtons wurde, joll ein Denkmal bekommen; nicht 

als Deuticher, aber als tüchtiger, bald völlig amerifanifirter Helfer im Kampf um 

die ‚freiheit. Diejes Denkmal, jagen die Yankees, foll daran erinnern, daß zwar 
einzelne Deutjche damals übers Waſſer famen, Preußen aber, der Staat Friedrichs, 
den kämpfenden Amerikanern keinerlei Dilfe brachte. Deshalb paßt ihnen das vom 
Deutſchen Kaiſer angebotene Geſchenk auch nicht ; fie möchten den Alten rigen nicht 
in Stein oder Bronze vor dem Kapitol jehen. Schon iſt im Neprälentantenhaus 


374 Die Zunft. 


beantragt worden, die Regirung jolle das Geichenf ablehnen underflären, für Fürſten— 
denkmale fei indem Gebiet der Vereinigten Staaten tein Platz; und ſelbſt in deutſch 

amerifaniidyen Blättern wird das Geſchenk eine unbequeme Gabe genannt, die beiler 
geipart worden wäre. Die Groffapitalijten, dieden Kaifer nicht fränten möchten, haben 
vorgeichlagen, derStadt Berlin einen bronzenen Wafhington zu ſchenken, der in der Mo— 
narchenrefidenz fürden republifanischen Gedanken zeugen jolle; auch die Römer wollen 
fich für den Goethe von Eberleins Gnaden ja mit einem Dante bedanken. Der Alte 
Fritz wird in Amerika jchließlid eine Stätte finden. War die ganze peinliche Er- 
örterung aber nöthig? Dem Botichafter des Kaijers, Herrn von Holleben, wird vor- 
geworfen, er habe nicht rechtzeitig zu erfennen verjucht, wie das Geſchenk in den Ver— 
einigten Staaten aufgenommen werden würde. Herr von Holleben hat drüben jehr 
viele Fehler gemacht, deren einer in dem Prozeß zweier Sektfirmen vielleicht aufge: 
flärt werden wird. Der neue Vorwurf aber ift jicher unberechtigt. Die Abſicht des 
Kaiſers, Amerika den Alten Fritzen zu Schenken, ift, twie man ſicher annchmen darf, 
dem Botjchafter nicht früher befannt geworden als anderen Sterblichen. 

* * 


Nur die Herren, die den Kaiſer täglich ſehen und in Wiesbaden um ihn waren, 
konnten von dem Geſchenk abrathen. Dieſe Herren ſcheinen von ihrer Dienerpflicht 
aber eine ſonderbare Auffaſſung zu haben. Sie laſſen ihren Herrn, der nicht allwiſſend 
ſein kann und nicht Zeit hat, Lexika aufzublättern, in einer an den Präſidenten Loubet 
gerichteten offiziellen Depeſche die Zahl der in Pompeji Verſchütteten jo unrichtig 

angeben, daß in Frankreich Gloſſen darüber gemacht werden. Und ſie informiren 
ihn über die Art der Perſönlichkeiten, die er begnaden will, ſo ungenau, daß noch 
ſchlimmeres Unheil entſteht. Jetzt hat Wilhelm der Zweite dem Fäulein Durand 
eine Audienz gewährt, von dem vor ein paar Wochen hier geſagt wurde: „Fräulein 
Durand iſt eine alternde Dame, die im Hauſe Moliéres nie einen Rang hatte und 
ſeit „Jahren mit der Hilfe eines ihr befreundeten Millionärs die Frauenzeitung La 
Fronde herausgiebt; ſie ift weder als Spielerin noch als Journaliſtin der Rede 
werth.“ Dieie vieljeitige Dame, die in Paris nicht ernft genommen wird, konnte in 
threm darbenden Blättchen num ein Interview mit dem Deutſchen Kaiſer veröffent: 
lihen. Bor ihren mit vedlich erworbenen Juwelen geihmückten Ohren bat er die 
modernen deutichen Dichter getadelt, hat er jagt, Wagner jet iym „zu geräufchvoll“, 
darüber geklagt, daß die deutichen ‚Frauen fich fürs Iheater nicht eleganter Aeiden, 
und Herrn Georg von Hülſen einen „großen, ſehr großen Stünftler“ genannt. In 
Paris wurden Köpfe aeichüttelt. Wei Ihr Kaiſer denn nicht, jchrieb mir ein Fran 
oje, wer Fräulein Durand tft? Die Zumuthung, er jolle es willen, ijt luftig. Der 
Rertrauensmann der Deutjchen hat am Ende Anderes zu thun, als ſich um den 
Vebenslauf, das Glück und den Niedergang fleiner parijfer Theatermädcdhen zu 
fiimmern. Seine Diener aber jollten willen, wen fie ihm vorführen. Wie würde 
man bei uns jpotten, wenn die Nachricht käme, der Zar habe das — nicht einmal 
Spielens halber in Betersburg weilende — ‚jräulein ‚Jenny Groß empfangen! 
Die Hofdiener des Kaiſers haben die betrübenden Irrungen und Wirrungen der 
legten Wochen verjchuldet und fie joll man dafür zur Werantwortung ziehen, daß 
dem Fräulein Durand eine Ehre gewährt wurde, um die recht oft Schon deutjche In: 
dujtriefapitäne, Selehrte, Kaufleute in erniter Abjicht „ahre lang vergebens warben. 





Herausgeber und verantwortlicher Nedaf:cur: M. Harden ın Berlin, — Veriag der gutunft ın Berlin, 
Dad won Albert Damde in Berlin Schöneberg. 








Penn dth —— a IISERNTRFZ —— a —— 
el ir —— SU URS le NS | 
fe — — * 5 N 4 ce a) ni“ 


Far ir Da © 


| 
ie N Fir. In 
ar %: 


— — —— ah 
8 99— — Ei AL 8* x u fi ' - £ et Su 


Berlin, den 7. Juni 1902. 
——— ———— 


Induſtrieſtaat oder Agrarftaat? 


Ss“ den Bolltarifentwurf ift die brennendſte der deutfchen Fragen ſeit 
einem Jahre das tägliche Diskuſſionthema der Zeitungen geworden. 
Da ich nicht in der Lage bin, gleich Schaeffle und den anderen Autoritäten 
meine Gedanken über das augenblidliche Stadium der Erörterung ausführlich 
und im Zufammenhang aussprechen zu können, ſei e8 in einer Brochure oder 
in einer Reihe von Zeitungauffägen, jo nehme ich meine Zuflucht wieder zu 
der Form, die im knappſten Raum viel zu jagen ermöglicht: ich reihe Theſen 
an einander und überlafje den Lefern die Ausführung und Begründung. Um 
ihnen diefe zu erleichtern, verweife ich hier und da auf die entjprechende Seite 
eines Fundorte von Beweißmaterial und benuge dazu zwei Werke von 
Vertretern der beiden feindlichen Parteien: „Agrar: und Induftrieitaat“, zweite 
Auflage, vom Profeſſor Adolf Wagner (W), „Deutjchland als Induſtrie— 
ftaat“ vom Dr. 3. C. Huber (H) und einige meiner Opuskula: „Weder 
Kommunismus noch Kapitalismus“ (K), „Neue Ziele, neue Wege“ (N), 
nDie Agrarkrijis* (A) und ein paar in der Zukunft veröffentlichte Aufjäge (Z). 

1. Landwirthfchaft und Bauernftand — die beiden Kategorien deden 
einander nicht — bleiben die Grundlage des Staates, die Pflanzftätte der 
Bolksfraft, die Bedingung gefunder fozialer Zuftände; Alles, was über ihre 
Unentbehrlichkeit in materieller, hygienifcher, militärifcher und politifcher Hinficht 
gejagt wird (3. B. K 357 und W von Anfang bis zu Ende), it wahr. Die 
Schilderungen des Elend3 der Kleinbauern und der ländlichen Gefindejflaverei 
in der antiagrarifchen Preffe find theils Karikaturen, theils ungerechtfertigte 
Berallgemeinerungen. Zuzugeben ift, daß fich die Lage der ärmeren Dörfler 


28 


376 Die Zukunft. 


in dem Mae verfchlechtert hat, wie die Landwirthichaft jeit den fünfziger 
Jahren des vorigen Jahrhunderts induftriell, Fapitaliftifch und rentabel ge: 
worden ilt, und daß das Verhalten vieler Rittergutsbeliger bie heutige Land— 
flucht verfchuldet hat. Wie es in ſolchen Fällen zu gehen pflegt: mit den 
Schuldigen werden die Unſchuldigen, namentlich die Bauern, getroffen; die 
Aufbefferung der Köhne und der Koft, zu denen ſich jeßt die Gutsbeſitzer 
gezwungen fehen, fommt zu fpät. (K 338; A 93). Die Hauptfhuld an 
der Entvölferung des Dorfes trägt übrigens der Militärdienft. Der Dörfler 
wird immer der beſte Soldat bleiben, nur muß man ihn nicht drei, auch 
nicht zwei Jahre bei der Fahne behalten; damit verjtädtert man ihn. 

2. Von diefer Seite her, nicht durch die ausländische Konkurrenz und 
den niedrigen Getreidepreis, find die Bauern bedroht. Vom Induſtrialismus 
nur infofern, als ihr Gewicht im Staate ſchwindet, da fie einen immer 
Heineren Prozentjag der Bevölkerung ausmachen und durch das Uebergewicht 
des induftriellen Reichthums an Anfehen verlieren. Bon dem Vergleich mit 
den Nabob8 und deren hoch bejoldeten Direktoren abgefehen, leben fie nicht 
ſchlecht. Nicht fie find zu bedauern, fondern der immer größer werdende 
Theil des Nachwuchſes, dem der Boden gefperrt, die Möglichkeit, Ländlichen 
Grundbejig zu erwerben, genommen it. Wie immer man fih nun die Noth 
der Kandwirthichaft denfen mag: mit Schupzöllen kann ihr fo wenig abge: 
holfen werden wie mit der Doppelwährung, dem Getreidemonopol, der 
Börfenreform und den übrigen längjt begrabenen Mitteln der Agrargelehrten. 
Jede Erhöhung des Getreidepreifes fteigert die Grundrente und damit den 
Preis der Landgüter; die künſtliche Steigerung durch Schußzoll hat diefe 
Wirkung un fo ficherer, weil fie für dauernd gehalten wird, was bei der 
Steigerung durch eine fuappe Ernte, die außerdem den Vortheil aufheben 
lann, nicht der Kal ift. Gerade die Preisiteigerungen jind es daher, die 
Kriſen erzeugen; und den Preis der ländlichen Grundftüde niedrig halten, 
iſt das einzige Mittel, Agrarkrifen vorzubeugen. Nicht der Kulturfortfchritt, 
jondern die zunehmende Bollsdichtigfeit und Bodenfnappheit, die freilich im 
heutigen Europa mit dem technischen Fortfchritt in Wechſelwirkung fteht, 
erhöht mothwendiger Weife den etreidepreis. Wagner geht über diefe 
Schwierigkeit viel zu leicht hinweg. Auch wenn e8 wahr wäre, daß heute 
viele Landgüter Feine Nente mehr abwerfen, würde dadurch der angegebene 
Grund gegen Agrarzölle nicht entkräftet. Die Erhöhung der Getreidepreife 
würde bewirken, daß wieder Grundrente entitünde, die fteigende Konjunktur 
würde, wie es immer geichehen ijt, beim Verkauf, bei der Erbtheilung und 
bei der Aufnahme von Meliorationhypothelen esfomptirt werden und den 
nächſten Beliger würde der niemals ausbleibende Preisrüdgang ftürzen. 
Daß die Hebung des Oetreidepreifes die Produktion vermehren und Deutfch- 


Digitiizegb 
m 





Induſtrieſtaat oder Agrarftaat? 377 


fand vom Auslande unabhängig machen würde, ift ſehr ummahrjcheinlich. 
Gerade die Nothwendigkeit, den Preisfall durch die Vermehrung des Ertrages 
auszugleichen, hat die deutjchen Landwirthe zu Verbefjerungen gedrängt, deren 
glänzender Erfolg ihnen zur höchſten Ehre gereicht. Hinter der Schugmauer 
eines hohen Zolles, die den Import unmöglich machte, würden fie e8, wie 
vor 1846 die englifchen Landlords und Pächter, bequemer finden, die Volks— 
vermehrung bei gleichbleibender Produktion den Preis noch weiter fteigern zu 
laſſen. (W 97, 119; A 9. 23. 116—121. 156). 

3. Dod hat auch Huber Recht mit Allem, was er zum Xobe der 
induftriellen Entwidelung anführt. Sie ift nothwendig, weil im gejchlofjenen 
Staate nah vollftändiger Aufteilung de3 Bodens der Bevölkerungzuwachs 
nur in- der Induftrie und im Handel untergebracht und weil dag in immer 
ftärferem Maße nothiwendig werdende Jmportbrot nur mit erportirten Induſtrie— 
erzeugnifjen bezahlt werden fann. Der Weltverkehr und die Produftion: 
fteigerung, die er erzwingt und ermöglicht, bereichern die darein verflochtenen 
Völker nicht allein durch die fteigende Menge der Güter, jondern auch durd) 
die wachjende Zahl und Mannichfaltigfeit der Güterarten und durch eine 
Fülle technischer, gefchäftlicher und geiftiger Anregungen. Die Verflechtung 
ſelbſt erfchwert den Krieg und verftärkt die Friedensliebe immer weiterer 
Kreife, was die Humanifirung der Völker zur Folge — haben könnte. Und 
wenn der induftrielle Fortfchritt durch fteigende Noth bei Bodenknappheit 
erzwungen wird, gereicht auch diefer Zwang der Bollsgefundheit zum Heil. 
Die Völker des Haffischen Alterthumes find zu Grunde gegangen, weil die Zu— 
nahme ftocte, ihre Produftivfraft den damaligen Bedürfniffen reichlich genügte, 
feine Noth zu Erfindungen trieb, Herren und Sklaven faullenzten und ver— 
(otterten. Auch dem geiſtig Gefunden, daher Arbeitwilligen, ift Zwang zu etwas 
mehr Arbeit, al3 er freiwillig leiften würde, fehr gefund; da num bei der Mehr: 
zahl die Arbeitwilligkeit zu wünſchen übrig läßt, jo it der Zwang, den 
die Noth übt, für die Erhaltung der Volksgefundheit nicht zu entbehren. 

4, Freilich hat diefer Nuten der Noth, die zum technifchen Fortichritt 
treibt und den Induſtrialismus fördert, wie Alles in der Welt feine Grenze. 
Diefe Grenze ift auf dem Punkt überfchritten, von wo ab die Noth nicht 
mehr das ganze Volk kräftigt, fondern einen immer ftärker anjchwellenden 
Theil zur Entartung verurtheilt. Daß troß der Berfümmerung von millionen 
Menichen die Gütermafie, der Nationalreihthum fteigt, bedeutet keine Ent- 
fhädigung und feinen Troft. „Die Menfchenkultur ift auf jeden Fall wid: 
tiger und nothwendiger als die Erhöhung der Induſtrie und des äuferen 
Wohlitandes“, hat die potsdamer Negirung in einem Erlaß vom Januar 
1828 gefagt. Wagner hat volltommen Recht, wenn er (W 32) auf die Bes 
xeicherung durch die Induftrie das Wort Jefu anwendet: Was nüßte es dem 


28* 


378 Die Zukunft. 


Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne, aber Schaden an feiner Seele, 
alfo an feinem Menſchenthum litte? Das ficherfte Merlmal der eingetretenen 
Entartung find die Kindergräuel. In England find diefe Gräuel aus den 
Fabrifen und Gruben verfcheucht worden, aber in der Hausinduftrie, in der 
fogenannten Familie und auf der Straße wuchern fie fort. Was Teutic- 
land betrifft, fo hat die amtliche Statiftif über 550000 im Gewerbe thätige 
Schulkinder, die Lehrerenquete, deren Ergebniſſe Agahd veröffentlicht, ſchauder— 
hafte Einzelheiten ergeben und der Staatsjefretär Graf Poſadowsky hat bei 
Berathung des neuen Kinderfchusgefeges gefagt: „Unter Umftänden fann 
der erzieherifche Werth der Arbeit darin bejtehen, daß ein foldhes Kind zum 
Krüppel oder Fdioten erzogen wird.“ Ein Staatöfekretär muß folche Früchte 
des jogenannten HulturfortfchrittS auch dann noch verfchleiern, wenn er da= 
gegen anfämpft, fonft würde Poſadowsky ftatt „unter Umftänden kann fein” 
„in viel Hunderttaufend Fällen ift“ gejagt und vor „erzogen“ „zum Ver— 
brecher“ eingefchaltet haben. Die im der Landwirthichaft befchäftigten Kinder 
fehlen in der Statiftif und die Zahl der im Gewerbe verwendeten ijt wahr- 
jcheinlich noch viel zu niedrig angegeben. Kinder zum Brotverdienft zwingen, 
ift eine in alten Zeiten und bei barbarifchen Bölfern unbefannte Barbarei 
und in dem Maß und in der Weife, wie e8 heute gejchieht, doppelt Barbarei. 
Es hieße, die in Betracht fommenden Millionen deutjcher Väter und Mütter 
für Sanibalen erflären, wenn man annehmen wollte, daß etwas Anderes als 
die bitterfte Noth jie bejtimme, ihre Kinder dem Moloch zu opfern. Den 
Ausſchluß der landwirthichaftlich befchäftigten Kinder aus dem neuen Geſetz 
würde ich für gerechtfertigt halten, wenn die Verhältniſſe noch jo wären wie 
zu der Zeit, wo ich das Land kennen gelernt habe. Die landwirthichaftlichen 
Beihäftigungen find an fi gefund und den Kindern lieber als das Sigen 
in der Schule. Ob Das in den legten Jahren weſentlich anders geworden 
ift, ob die Induftrialifirung der Landwirthichaft ungebührliche Ausnügung der 
Kinder, befonders beim Rübenbau, in den nördlichen Provinzen Preußens zur 
Folge gehabt hat, vermag ich nicht zu beurtheilen. Es ift auch viel von der 
fittlihen VBerderbnif der Hütelinder und anderer Kategorien die Rede gewefen. 
Dar die Landwirthichaft feine Schule mönchiſcher oder muderifcher Keuſch— 
heit, fondern eine bejtändige Einladung zu derbem Geſchlechtsgenuß ift und 
daß die mit der Begattung des Viehs vertrauten Dorffinder die jtädtifche 
fogenannte Unfhuld gar nicht Fennen, verjteht fih für jeden nicht dämlichen 
Menſchen von jelbit. Das mögen die Freilinnigen und die Sozialdemokraten 
den Konſervativen vorhalten, fo oft jich diefe Herren in der Rolle von Schug- 
engelm der Unſchuld Lächerlich machen; aber wenn jie ſich über die Thatjache, 
ftatt über die Fonfervative Heuchelei, entrüftet jtellen, fo machen jie ſich ſelbſt 
läherlid. Sollte es freilich wahr fein, daß durch die Einrichtungen vieler 


0 2202 Sg > 7 u Du Tu Tue J —74 .. 2 1 ar ra c— 


Induſtrieſtaat oder Agrarftaat? 379 


Gutshöfe die Schulfinder im den Gefchhlecht3verfehr der Knechte und Mägde 
hineingezogen werden, jo müßte Dem, nicht um der fogenannten Sittlichkeit 
willen, jondern im Intereſſe der Volksgeſundheit und der öffentlichen Sicher: 
heit ernitlich gewehrt werden. s 

5. Daß ein Theil der induftriellen Bevölkerung verfümmert, erklären 
gewiffe Entwidelungtheoretifer für die zur Raſſenverbeſſerung nothmwendige 
Ausscheidung und Bernichtung der Minderwerthigen. Aber die Minder- 
werthigen werden, wenn man von den in Zuchthäufern lebenslänglich Ein- 
gejperrten abjieht, nicht an der Fortpflanzung gehindert; jkrophulöjes und 
ſonſt verkümmertes Bettelgefindel ift vielfach fruchtbarer als die kräftigen und 
gefunden Beigenden. Und dann: man mag die Buren für fo fchlecht halten, 
wie man will — daß e8 Verfrüppelte und Verkümmerte unter ihnen gebe, hat 
ihnen noch Niemand nachgefagt. Bei ihrer Lebensweife entiteht gar feine 
Menfchheithefe, deren Ausscheidung und Vernichtung wünfchenswerth erfchiene; 
folche entfteht eben nur auf dem Gegentheil der burijchen Lebensweiſe, unter 
den Belislofen, in dicht bevölferten Ländern, befonders in Großſtädten und 
bei vielen gewerblichen Beichäftigungen. Daß ein gewiffer Grad von Zus 
fammendrängung und Noth erforderlich ift, um die Gewerbe und den techni— 
ſchen Fortfchritt zır erzeugen, habe ich vorhin felbit gefagt. Aber der techrifche 
Fortfchritt, fo unentbehrlich er für das Dafein einer ftetig wachſenden Menfchen: 
menge fein mag, bedeutet feine Veredlung der phyfifchen und der geiftigen 
Natur des Menfchen und feine Steigerung feiner Naturanlagen, feine Züch— 
tung einer höheren Raſſe, wie id in der Schrift „Sozialauslefe“ nad}: 
gewiejen habe. Was ftetig fortfchreitet, ift die VBolltommenheit der Mafchine 
und die Produftenmenge, nur zum Theil auch die Güte der Produkte, gar 
nicht die der Menfchen. Gewiſſe einfeitige Fertigkeiten des Menfchen werden 
gefteigert; aber daß der englifhe Maſchinenſpinner beinahe doppelt jo viel 
Spindeln beauffichtigen kann wie der deutfche: Das macht ihn nicht zu einem 
höheren Typus der Gattung Menſch. Im Gegentheil wird durch die immer 
weiter gehende Spezialifirung der gewerblichen Arbeit und durch die vollitän- 
dige Trennung der fchöpferifchen, künſtleriſchen und Leitungarbeit von der aus: 
führenden Handarbeit ein immer größerer Prozentfag von Menfchen degradirt. 
Und um den evolutioniftifchen Optimismus Eduard3 von Hartmann it e8 
fo übel beftellt wie um die Selektion nad) Darwin. Das Ringen mit der 
Natur und der Kampf gegen feindliche Naturgewalten ftärkt Körper und Geift 
und veredelt. In der Noth einer Springfluth und beim Deichen fühlen ſich 
Arm und Reich als Brüder. Und eine durch die Kargheit der Natur erzeugte 
Hungersnoth verbittert die Menfchen nicht gegen einander, jondern verbindet 
fie al3 Leidensgefährten. Aber die Noth der Armen im modernen Induſtrie— 
ftaat, deſſen Speicher ein unabfegbarer Ueberfluß füllt und deſſen Millionäre 


380 Die Zutunft. 


nicht wiflen, wie fie fi der erdrüdenden Zinfenanfammlung erwehren jollen, 
» verbittert und vergiftet; und der Konkurrenzkampf, der Kampf um die Ber: 
ryeilung des Futters und um den Plag am Futtertrog, der im Geheimen 
geführte Kampf gegen den Mitbewerber um ein Amt, der mit Schwindel, 
Reklame und Berleumdung geführte Kampf um die Sunden: der züchtet 
alle gemeinen und häflichen Triebe und macht den modernen Menjchen mit 
feiner Tugend: und Humanitätmaske zu einem unangenehmeren Geſchöpf, 
als der Straßenräuber eins if. Zu der Scheinarbeit, die über den Mangel 
an Gelegenheit zu produftiver Arbeit hinmeghelfen muß, gehört auch die Arbeit 
der Poliziften, Richter und Aufpaffer, die den giftigen Konkurrenzkampf in 
den Schranken äuferliher Wohlanftändigfeit halten müfjen, und die Arbeit 
der Geſetzgeber, Agitatoren und Zollbeamten, die die Vermehrung der Güter: 
maſſe zu Hindern, aljo die produktive Arbeit einzufchränfen haben. Nur 
gewifje Tugenden zweiter Ordunng, bürgerliche Tugenden, erzwingt und fördert 
der Induſtrialismus; jo fann der Großhandel ohme abſolute Zuverläffigfeit 
und moralifche Kreditwürdigfeit nicht beſtehen. 

6. Daß der Induftrialismus und der technifche Fortfchritt die Güter- 
menge vermehrt haben, ijt num freilich mit Dank anzuerkennen, aber nicht 
als ein großes Verdienſt zu preilen. Es wäre dod gar zu abjurd, wenn 
die 255 Millionen cifernen Männer, die im deutfchen Reich arbeiten, die 
täglich vierundzwanzig Stunden arbeiten fünnen, ohne zu ermüden, und von 
denen jeder nur auf ein Achtel Deifen zu ftehen kommt, was der Lebens— 
unterhalt eine8 lebendigen Mannes foftet (H 28 bis 29), wenn die nur 
immer wieder andere Mafchinen und nicht auch Gebrauchs- und Genußgüter 
ichafften. Aber was nügt uns, daß die Nähnadeln vierzigmal zahlreicher und 
daher vierzigmal wohlfeiler geworden find als zu der Zeit, wo man fie mit 
der Hand anfertigte, und daß man mit dem in Speichern und Läden lagernden 
Kattun alle Planeten umhüllen könnte? Allerdings find im vorigen Jahr- 
hundert die deutjchen Arbeitlöhne, in Geld ausgedrüdt, auf das Doppelte und 
Dreifache geftiegen, was bei der gleichzeitigen VBerbilligung der Kunſterzeug— 
niffe den vierfachen Natwrallohn bedeuten könnte. Allein das Brotkorn ift 
heute noch nicht jo wohlfeil, wie es 1820 bis 1840 war, Fleifch und Butter 
iind drei- bis viermal jo theuer, eben jo die Wohnung. Dabei befteht ein 
jtärferer Zwang zu Anjtandsausgaben, und was die in Grofftädten und in 
verräucherten, mit Schutt und Aſche bededten Jnduftriebezirken zufammen- 
gepferchte Bevölferung an Naturgenuf, gefunder Luft, Kicht und was ihre 
Jugend an Bewegungfreiheit verloren hat, kann gar nicht in Geld abgeichägt 
werden. Huber ift auch fo ehrlich, einzugejtehen, daR ſich nicht ermitteln 
läßt, in welchen Make die vermehrte Gütermenge den unteren Klaſſen zu 
Gute fommt (H 53, 58, 62 bis 63). Aus den Statiftifen von Victor 





Smödnftrieftaat oder Agraritaat? 381 


Böhmert und Huckert, die eine bedeutende Steigerung des Brot-, Fleiſch-, 
Butter- und Eierkonſums nachweiſen, wird voreilig zu viel geſchloſſen. Wenn 
man die letzten vierziger Jahre zum Ausgangspunfte nimmt, dann ijt die 
ftarfe Steigerung jelbftverftändlih. Denn damald hat eine Hungersnoth 
Deutichland heimgefucht, deren Wiederkehr für eine abjehbare Zukunft un: 
möglid; gemacht zu haben, das unbeftreitbare Verdienſt des technischen Fort— 
fchrittes und des Welthandel3 ift. Aber wern man aud für die Zeit zwischen 
den napoleonifchen Kriegen und 1845 behauptet, das Volk habe damals 
weniger Brotkorn, Fleisch, Milch und Butter gegeffen als heute, jo glaube 
ih Das einfah nicht. Die Statiftif kann fir jene Zeit nichts Sicheres 
nachweiſen, weil es damals noch wenig amtliche Statiftif gab und weil ſich 
bei vorherrfchender Naturalwirthichaft, wo Jeder feine eigenen Produkte kon— 
fumirt — die Bevölkerung bejtand faſt zu vier Fünfteln aus Bauern und 
Aderbürgern —, der Konſum ſchlecht kontroliren läßt. Da diefer Zuftand 
auch nach 1845 erjt allmählich der reinen Geldwirthichaft gewichen ift, jo 
find höchſtens die Zahlen der legten drei Jahrzehnte zuverläfiig., Aus dem 
zulegt angeführten Grunde Hat auch die Zohnfteigerung weniger zu bedenten, 
als auf den erjten Blick fcheint, denn zu Anfang des neunzehnten Jahr— 
hunderts machten die ausjchlieglich von Arbeitlohn Lebenden Perfonen nur 
einen kleinen Prozentjag der Bevölkerung aus, heute find fie die reichliche 
Hälfte. Außerdem ift die BVertheilung ungefund. Die Beamten, denen es 
ja zu gönnen ift, leben heute viel bejjer, die unterfte Arbeiterfchicht ſchlechter 
al3 vor jechzig bis jiebenzig Jahren. Dann: der jugendliche Arbeiter in 
einer gut zahlenden Induſtrie verdient jeine 600 bis 700 Marf und vers 
frißt, vertrinft und verraucht fat fein ganzes Geld. Der verheirathete Maun 
befommt im felben Induftriezweig 1000 bis 1200 Mark und fol damit ſich, 
eine Frau und vier bis ſechs Kinder nähren, Heiden und beherbergen; er 
kann nicht, wie der jugendliche, zum zweiten Frühftüd und zum Abendbrot 
did belegte Stullen verzehren; noch weniger kann es jeine Frau, die oft mit 
dreißig Jahren ein abgemagerte® Jammerbild ift. Später helfen die Kinder 
vielleicht ein paar Jahre lang vertienen. Aber mit fünfzig Jahren iſt der 
Mann wieder auf feine eigenen zwei Hände angewielen und verdient weniger 
als in den Jahren feiner beiten Kraft. Das mehr verbrauchte Fleisch kommt 
aljo vielfach in den unrechten Magen. 

7. Malthus hat demnad) zwar nicht, wie Adolf Wagner glaubt 
(W 53 bis 58), in allem Wefentlichen Recht, aber er hat wenigftens eine 
wirklich vorhandene Tendenz erkannt, fie allerdings fo falſch wie möglıd) 
formuliert. Nicht Lebensmittelmangel entjteht nothwendiger Weile durch die 
Bollsvermehrung, denn mit jedem Maul fommen auc zwei Hände und ein 
Kopf auf die Welt; und die Agrarier aller Länder möchten heute am Liebiten 


382 Die Zukunft. 


die Hälfte alles Brotkorns, Zuders, Kaffees, fammt Roſinen, Kalao nnd 
Gewürz ins Wafler werfen. Sondern nur der Zugang zu den reichlich vor— 
handenen Nahrungmitteln wird immer fchwieriger, weil bei der heutigen 
Geſellſchaftordnung Jeder nur durch Verkauf feiner eigenen Waare, die bei 
Vielen blos aus der Arbeitfraft befteht, das zum Kauf der Lebensmittel er- 
forderliche Geld erwerben kann, der Abſatz aller Waaren aber durch die unferer 
Produftionordnung immanenten Widerfprüche immer ſchwieriger wird. (Könnten 
diefe Widerfprüche aufgehoben werden, fo würde der technifche Fortfchritt die 
Gütermaffe in dem Grade vermehren, daß alle Güter beinahe umfonft zu 
haben, alle Menfchen reich, die Träume der Sozialiften, da8 Paradies, das 
Sclarafienland verwirklicht wären.) Malthus hat ferner das von Lift aus: 
geiprochene Geſetz der Bevölferungsfapazität nicht gekannt, wonach zunehmende 
Volfsdichtigfeit und entjprechende Steigerung der Gewerbethätigkeit auch den 
Ertrag der Landwirthichaft fteigern, — bis zu einer gewiffen Grenze. Wird 
diefe Grenze, die nah Klima, Bodenbefchaffenheit und Volkstüchtigkeit ver- 
ſchieden liegt, überfchritten, jo tritt allerdings Nahrungmittelmangel ein, wenn 
zugleich die Nahrungmitteleinfuhr gehindert oder erfchwert wird; auferdem 
zieht die übermäßige Menfchenanhäufung auf Meinem Raum die befannten 
Üchelftände nah fih. Es giebt alfo eine relative Uebervölferung unteren 
Grades, die durch technifchen Fortichritt überwunden werden kann, und eine 
relative Uebervölferung höheren Grades, die durch feinen technifchen Fort— 
fchritt mehr zu überwinden ift. Diefe fündet ſich fchon durch die Unmög— 
lichfeit an, alle VBolfsgenoffen produktiv zu befchäftigen. Daß es bei ung 
fo weit ift, glaube ich, bewiefen zu haben. (U. U. Z 8. Juli 1899, ©. 67 
bis 71; 15. Dezember 1900, ©. 446, K 315 bis 340.) Der legte 
Aufihwung war dem Bau eleftrifcher Anlagen und den Flottengejegen 
zu verdanken. Jener kann nicht im felben Tempo weiter gehen wie bei der 
eriten Einführung der neuen Triebfraft und viele Flottengefege Fünnen wir 
nicht mehr erleben, weil die Weltwirthichaft, wie Huber beweift (H 153, 
172, 184, 192 bi8 194), zum Frieden zwingt und, wie die Haltung der 
Großmächte England gegenüber in den legten beiden Jahren offenkundig ges 
macht hat, das Groffapital, deſſen Commis die Negirungen find, feinen 
Krieg will. Polizei und Strafjuftiz zwingen das Elend, ſich zu verfteden, 
und verhindern das Bekanntwerden der Arbeitlofigfeit, erweifen aber dadurch 
der Nation einen fchlechten Dienft, indem fie deren Leitern den wirklichen 
Zuftand verbergen und dadurch die rechtzeitige Beſchreitung des Ausweges 
unmöglid; machen. Arbeiterfchug und Arbeiterverjicherung find zwar noth— 
wendig, aber der Ausweg find fie nicht. Nachdem die internationale Arbeiter- 
bewegung den Gefetgebern die Augen und Ohren geöffnet hatte, haben ſich 
die Negirungen aus Furt vor der Abnahme der Militärtüchtigleit, die 


Induſtrieſtaat oder Agrarftaat ? 383 


Unternehmer aus Furcht vor dem Rüdgang des Konfums, die Geiftlichen 
aus Furcht vor dem Abfall der Gläubigen zum Atheismus, die Parteihäupt- 
linge aus Furcht vor dem PVerluft ihrer Wähler, alle Befigenden aus Furcht 
vor der Verbreitung des Verbrecherthumes und der anftedenden Krankheiten 
zu einer Sozialgefeggebung aufgerafft. Aber alle hygienifchen und Arbeiter- 
gefege zufammen vermögen höchitens einem Theil der Arbeiterfchaft die ge- 
funden Lebensbedingungen wieder zu verfchaffen, die ihre Vorfahren vor 
hundert Jahren und noch mehr die vor fehshundert Jahren ohne Fürforge 
des Staates koſtenlos genoffen haben. Die Leiftung der Sozialdemofratie 
bejchränft jich auf den Aufflärungdienft und die Organifation eine Wider: 
ftandes gegen Lohndrückerei, der die Unternehmer wenigftens fo weit zur Ver— 
nunft zwingt, daß fie fich nicht durch Konfumverminderung felbft erwürgen. 
Dat die Sozialdemokratie mehr nicht vermag, hat jeder Einfichtige auch vor 
dem belgischen Miferfolg fchon gewuht. E3 giebt nur einen Weg zur Aufs 
bebung der Tohnfklaverei: freies Land! Wo jeder Menſch Grundbeſitzer werden 
kann, hat feiner nöthig, feine Arbeitkraft einem anderen zu verfaufen. Ein 
folder Zuftand würde nun freilich da8 Ende der Kultur fein, die ohne 
Sklaverei in irgend einer Form nicht beftehen kann, aber um diefe zu mildern 
und erträglich zu machen, giebt es Fein andere Mittel als die Berminderung 
des Angebotes von Arbeitfraft entweder durch die neumalthuſiſche Praris oder 
duch die Auswanderung in Aderbaufolonien mit wohlfeilem Boden. 

8. Auch die Steigerung des Erportes ift nicht der Ausweg. wie England 
bemeilt. England ift weder durch „Fleiß und Sparfamfeit“ noch durch 
Greihandel reich geworden, jondern auf folgendem Wege. Es hat durch 
Seeraub, Sklavenhandel und die Ausplünderung Indiens ungeheure Sapitalien 
aufgehäuft. Ferner hat e3 den ren unter dem Vorwande der Religion ihr 
Eigenthun geraubt und fie zu feinen Arbeitſtlaven gemacht, indem es ihnen 
jede Induftrie und den Heringfang an ihrer eigenen Küſte verbot. Auch die 
amerifanifchen Neuenglandftaaten fuchte e8 in folhe Abhängigkeit von fich 
zu zwingen, daß ihre Bewohner nicht einmal einen Hufnagel jelbit anfertigen 
durften. Wer mit England Handel treiben wollte, mußte fih englijcher 
Schiffe bedienen. Nachdem die Bauern der Wollinduftrie wegen ihres Landes 
beraubt worden und ihre Nachfommen Proletarier geworden waren, fonnte 
fi King Cotton durch den meltgefchichtlichen Kindermord Arbeitfräfte ver- 
ſchaffen, die beinahe koſtenlos waren. Mit dem auf diefem Wege produzirten 
wohlfeilen Kattun wurde die Tertilinduftrie aller Ränder vernichtet, namentlich 
die ſchleſiſche Leinen- und die indiſche Muffelinwebere. Damals bleichten 
unter dem fchönen Himmel Indiens die Gebeine verhungerter Weber. Der 
englifche Weber, fchrieb der London Spectator, works so cheap, that he 
starves the poor Hindoo, and then starves himself. Hochſchutzzoll 


384 Die Zukunft. 


und Exrportprämien förderten die heimiſche Induftrie mit Treibhaushige und 
halfen zufammen mit allerlei Handelspraftifen und den vorhin angegebenen 
Mitteln die des Auslandes ſchwächen oder vernichten. Erſt nachdem lid 
England das Handels- und nduftriemonopol geſichert zu haben glaubte, 
ging es, um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, zum Freihandel über. 
Nah noch nicht fünfzig Jahren fah es fein Monopol gebrochen und fein 
Erport fteigt jegt fo wenig, daß er, die Vollszunahme in Anfag gebracht, 
feit 1872 als ftationär bezeichnet werden fann. (W 164 bis 172). Daß die 
paſſive Handelsbilanz an jich fein Unglüd ijt und unter Umftänden das 
Steigen des Nationalreichthumes anzeigen fann, ift richtig. Aber bei einer 
gewilien Größe der Differenz tritt die Nothweirdigkeit ein, zur Dedung des 
Defizits das Nationalfapital anzugreifen, und auf diefem Punfte dürften die 
Engländer angelangt jein. Der Ruf nad Zollſchutz ertönt immer ftärfer, 
und wenn der eben eingeführte Kornzoll eine Heine Iefognitiongebühr genannt 
wird, — nun, mit einer folhen hat man auch 1879 in Deutjchland ange— 
fangen. Zugleich wird die Arbeitergefeggebung rückwärts revidirt und die 
Arbeiter ducken ſich furchtſam. Da ruht denn doch der Reichthum der Ver— 
einigten Staaten auf fichererer Grundlage, deren Bewohner ohne Export be= 
haglich gelebt haben, dann reich geworden find und die jest, ohne e8 nöthig 
zu haben, in fo gewaltig jteigendem Maße exportiren, daß der Ueberſchuß der 
Ausfuhr über die Einfuhr fchon drei Milliarden Mark beträgt. 

9. Huber klagt die Agrarier an, daß fie Lit mißbrauchten. Das ift 
richtig; aber er felbft mißbraucht den großen deutfchen Nationalöfonomen nicht 
minder, wenn er ihn als einfeitigen Befürworter des Induſtrialismus darftellt, 
und er wird dem freilich in mander Beziehung phantaftifchen Carey nicht 
gerecht, der im der Hauptjache, die Huber verjchweigt, nur Schüler Liſts war. 
Beide haben nämlich, wie eigentlich fchon Adam Smith, dad Hauptgewicht 
auf den Nahverkehr, auf das örtliche Zuſammenwirken und die innige Örtliche 
Verflechtung von Gewerbe und Landwirthichaft und ihre gegenfeitige Befruchtung 
gelegt: darauf, daß der Schmied, der den Pflug macht, Wand an Wand 
mit dem Bauern wohnt, der ihn gebraucht, was natürlich zu verallgemeinerw 
it. Bei einer folchen Organifation der Bolfswirthichaft ſchwindet auch der 
Nimbus, den die Induftrie duch die Berechnung der ungeheuren in ihr 
angelegten SKapitalien und von ihr erzielten Gewinne erwirbt. Wenn die 
Gewerbetreibenden und die Landwirthe unmittelbar auf dem nächſten Wochen— 
markt mit einander verkehren, dann brauchen die Nahrungmittel, die Gewebe, 
die Kleider, die Arbeitmafchinen und Werkzeuge nicht taufend Meilen weit 
fpaziren gefahren zu werden und ein großer Theil der Transportmittel und 
der für jie arbeitenden Meafchinenbauanftalten wird entwerthet. Die Ge— 
brauchsgüter haben ihren Werth an fich; den Verfehrsanftalten und Maſchinen 





i ] Tr ET 


—4 


Induſtrieftaat oder Agrarſtaat? 385 


verleiht, ähnlich wie gewiſſen Induſtriepopieren, oſt nur unzwechmäßige Wirth— 
ſchaftorganiſation einen Werth, den eine Aenderung der Organiſation oder eine 
Wendung der Konjunktur vernichtet. Ganz irreführend iſt der Ausdruck (H 236) 
„unabhängiger Agrarftaat, der jich felbjt genügt“. Ein folder ift gar nicht 
möglich, wenn unter Staat ein Kulturftaat verftanden werden foll, und die 
Antwort auf die Frage: Induftrieftaat oder Agrarſtaat? lautet: Weder der 
eine noch der andere ift das deal, fondern der „Agrikultur-Manufaktur— 
Handelsſtaat“, den Lift gefordert hat. Selbjtverftändfich fol fich ein folcher 
auch nicht mit einer chinefischen Mauer umgeben, fondern auf den Zollfhug 
Ihon darum verzichten, weil er ihn beim Nahverkehr gar nicht braudt. 
Drei Lebensbedingungen eines ſolchen Staates werden aus befannten Gründen 
von Schugzöllnern und Freihändlern, auch von Huber, entweder überjehen 
oder verfchwiegen. Soll der internationale Güteraustaufch wirklich alle Theil— 
nehmer bereichern, dann muß er fi auf die Spezialitäten jedes Landes 
beichränfen. Daß beide Theile gewinnen, wenn die Norbländer Tropen: 
erzeugnifje mit Yabrifaten bezahlen, Tiegt auf der Hand; dagegen verlieren 
beide Theile, wenn fie einander ihre Gewebe zuſchieben, die jedes von ihnen 
daheim mohlfeiler, mit minderer Aufopferung von Menfchenglüd, heritellen 
kann. Auch gräbt jich der Erport von Waaren, die überall oder wenigjtens 
in vielen anderen Ländern produzirt werden fünnen, vielfach ſelbſt jein Grab. 
Die ſchleſiſchen Schafzüchter Haben durch den für den Augenblid vortheil- 
haften Erport von Zuchtwiddern nad Auftralien fich felbft der im Ganzen 
doch noch vortheilhafteren Wollproduftion beraubt und die Engländer ziehen 
ich duch Mafchinenausfuhr überall in der Welt Konkurrenten groß. Die 
zweite Lebensbedingung des jich felbit gemügenden Staates ijt eigentlich die 
erite: ein mit Mineralſchätzen ausgeitattetes Land von hinreichender Größe 
und das mwenigitens die Zonen des Getreides, des Weines und der Südfrüchte 
umfaßt. Zum Genügen gehört, daß der Boden die hauptfächlichften Nahrung- 
mittel und alle der höheren Kultur nöthigen Rohſtoffe enthält und erzeugt 
und dat das Land groß genug ift, um den Bodenpreis niedrig zu halten. 
Denn fobald diefer Preis hoch jteigt, fängt die ungefunde Bertheilung der 
Bevölferung an. Die dritte Bedingung ift Volkstüchtigkeit. Rußland 
hat Raum und ein bis in die Zone der Südfrüchte reichendes, aud an 
Mineralichägen nicht armes Land, aber ein umtüchtiges VBolf. England hat 
ein tüchtiges8 Volk und Mineralfhäge, aber ein zu Feines Land. Nord— 
amerifa erfreut fich aller drei Bedingungen, und weil es hinlänglid Boden 
hat, ganz allein aus diefem Grunde, kann trog Anhäufung fabelhafter Reich: 
thümer in den oberen Schichten auch der Arbeiter nod) doppelt fo hoch gelohnt 
werden wie in Deutichland. Steine Kunſt und Fein technifcher Fortichritt 
vermag das Uebergewicht auszugleichen, das den Nordameritanern die Größe 


386 Die Zukunft. 


ihres Landes und die Mannichfaltigfeit feiner Eczeugniſſe verleiht; der Stahl - 
könig Schwab hat deutlich darauf hingewiefen. Leider hat eine von uner— 
fättliher Habgier eingegebene falſche Wirthichaftpolitit ſchon angefangen, 
fünftlich Bodentnappheit zu erzeugen. Das deutiche Volk hat Tüchtigkeit 
und Geift im Ueberfluß, auch Mineralfchäge, aber ein zu Fleines Land. Sein 
Zuftand nähert ſich dem des englifchen; nur befigt es feine überfeeiichen Aus— 
beutung- und Ausmwanderungsgebiete und geringeren Kapitalreichthum, erfreut 
fich dafür aber noch einer gefünderen fozialen Struktur, namentlich) eines Fräftigen 
Stammes von Bauern und felbjtwirthichaftenden mittleren Gut3bejigern. 

10. Bei der Veränderung der fozialen Struftur und der Wirthfchaft: 
verfaffung der Völker greifen zwei Prozeffe in einander ein. Der eine ift 
der Wechſel von Differenzirung und Integrirung. In der umorganifchen 
Natur — die organifche bietet für unferen Fall feine Analogie — kommt 
die Bewegung durch Ausgleih zum Stilftand, fei es im einer dhemifchen 
Verbindung oder durch Aufhebung einer eleftrifchen Spannung. Im Wirtichaft- 
leben der menfchlichen Geſellſchaft kommt e8 nach eingetretener Differenzirung 
nur felten zu einer Redintegrirung und dieſe pflegt fich auf Tofale Vorgänge, 
zum Beifpiel Verbindung einiger Induſtrien mit einer Gutswirthfchaft, Ver— 
einigung mehrerer Gewerbe in einer Wagenbauanftalt, zu befchränfen. Eine 
durchgreifende Integrirung, wie fie vor zwanzig Jahren Werner Siemens 
als möglich in Ausſicht geftellt hat, durch Decentralifirung der Induftrie mit 
Hilfe der Elektrizität, würde das deal von Lift Carey verwirklichen, die 
innere Kolonifation vollenden, die geographiiche Abhängigkeit der Induſtrie 
von den Kohlen und Erzlagern aufheben und den in vielen Beziehungen 
unerfreulichen Kohlenverbraucdh vermindern. Belgien ift ein einigermaßen 
integrirter Staat. Völlige Jntegrirung, die weitere Veränderungen unnöthig 
machte und alles Wünfchen jtillte, würde den geiftigen Tod eines Volkes 
bedeuten. Diefer Fünnte jedoch auch auf dem entgegengefegten, in der phyſi— 
kaliſchen Welt nicht denkbaren Wege der Vernichtung des einen der beiden 
Glieder eines polaren Gegenfagpaared eintreten: gänzliche Vernichtung der 
Landwirthichaft ift eben fo möglich wie der reine Agrarftaat. Im reinen 
Induftrieftaat würden die Menfchen leiblich verfümmern und zulegt verhungern, 
im reinen Agrarftaat würde das geiftige Leben abjterben. Doch ſchwankt das 
Wirthichaftleben immer und überall ‚zwifchen den beiden Polen und die 
Staatskunſt hat der Bewegung entgegenzuwirken, die verhängnißvoll zu werden 
droht; Das ift bisher immer nur die Bewegung in der Richtung zu ftarfer 
Differenzirung geweſen. So lange aber die Differenzirung befteht und fort- 
fchreitet, darf jih das eine Glied über das Anfchwellen feines Gegenparts 
nicht bejchweren, denn fie find ſiameſiſche Zwillinge, die ohne einander nicht 
leben fönnen und von denen feiner wachlen fan, wenn nicht der andere in 


Induſtrieſtaat oder Agrarftaat ? 387 


gleichem Maße mitwähft. Die Grofftadt muß ohme das Großgut, das 
Induſtrievolk ohne das Agrarvolf verhungern, der Grofgrundbefiger müßte 
ohne eine dicht gedrängte Induſtriebevölkerung, die feinen Aderbau treibt, 
feine Aeder brach liegen laſſen. Der oftelbifche Großgrundbeſitz hat bis 1870 
von England gelebt und lebt feitdem von Berlin. Berlin und der induftrielle 
Weiten Deutichlands leben von Dftelbien, Nordamerika und Rußland. Es 
iſt alfo thöricht, wenn die Agrarier und die Induftriebevölferung einander 
haſſen. Urfache, mit Beiden unzufrieden zu fein, haben die Bauernfnechte, 
die bei dem heutigen Zuſtande nicht Beſitzer, und die Handwerksgeſellen, die 
nicht Meifter werden können. (H 270, K 455). Den anderen Prozeß bringt 
der tete Vollszuwachs in Fluß, da er die Spannung zwiſchen Volkszahl 
und Boden erzeugt. Diefe Spannung treibt Koloniften über die Grenze. 
Wird die Grenze geſperrt, jo ſucht die eingeengte Bevölkerung durch tech— 
nischen Fortjchritt entweder den Ertrag des Aderbaues zu erhöhen oder mit 
Erportwaaren importirte Lebensmittel zu bezahlen oder Beides zugleich zu 
thun, wie es die legten Jahrzehnte lang im Deutfchen Reich geichah. Der 
vorhin als denkbar erwähnte geiftige Tod durch vollfonmene Integrirung 
würde dad Stagniren der Devölferungbewegung vorausfegen. 

11. Es wäre überflüffig, zu unterfuchen, ob Deutjchland auf diefem 
Wege, durch Berziht aufs Kinderzeugen, zur Ruhe kommen könnte; das 
deutfche Volk will diefen Weg nicht befchreiten. Wenn nun weiterer tech— 
niſcher Fortfchritt, weitere Intenſifikation der Landwirthichaft und der In— 
duftrie, weitere Anftrengungen zur Ausdehnung des Erportes uns nicht hin— 
länglich Luft machen — und ih bin mit Wagner der Anſicht, daß diefe 
Mittel bald verfagen werden —, fo bleibt nichts übrig, al3 wieder zum anderen 
Mittel zu greifen, zur Gebietserweiterung, die allein auch, durch Beichaffung 
wohlfeilen SKolonialbodens, die innere Kolonifation, durch Sturz de8 Boden: 
preijes, in großen Fluß bringen fönnte; denn was heute mit Anjiedlungfonds 
von einigen hundert Millionen geleiftet werden kann, ift ein Tropfen auf 
einen heißen Stein. Wie ich mir die Sache denfe, habe ich oft geſagt. 

12. Auf den Einwurf, daß mein PVorfchlag utopifch fei, habe ich 
(N 127) und fonft geantwortet: Der fozialiftiiche Zukunftſtaat ift eine Utopie; 
die Mittel, die der Bund der Landwirthe zur Hebung der Nöthe feiner Mit- 
glieder vorfchlägt, jind utopiich; der thatſächlich unternommene Verſuch, die 
Beiiglofen politisch frei zu machen und fie zugleich wirthichaftlich und ſozial 
in gehorfamer Abhängigkeit zu erhalten, war eine liberale Utopie; aber Löſung 
einer unerträglichen Bevölferungipannung durch Eroberungsfriege zum Zwecke 
der Kolonifation ift fo wenig utopifch, daß ie vielmehr feit viertaufend Fahren 
den Hauptinhalt der Weltgeichichte bildet und daß die wichtigiten Staaten 
auf diefem Wege entjtanden find; für Preußen ift nicht einmal die Be— 


388 Die Zufunit. 


völferungipannung die Triebfeder zu feinen Eroberungsfriegen gemejen. Die 
Jahre 1866 und 1870 haben die Lebensbedingungen der Völker nicht ge 
ändert und bedeuten nicht den Schluß der Weltgeſchichte. Sollte fi der 
angedentete Weg, obwohl er für richtig im Prinzip anerfannt wird — Wagner 
(W 82 und 83) und Huber (H 160. 167) deuten ihn fchüchtern an — als 
ungangbar erweijen, fo würden jehr bald die Pefiimiften wie Wagner und 
Dldenberg gegen Optimiften wie Huber und Brentano Recht befommen. 

13. Ueber die Einzelheiten des Zolltarifes ift fein Wort zu verlieren. 
Ob fünf oder acht Mark Kornzoll erforderlich find und im Stande fein 
werden, das Gut de8 Herren von X. vor der Subhajtation zu bewahren; um 
wie viel ein Zoll von fünf oder ſechs Mark den Getreidepreiß fteigern, um 
wie viel diefe Steigerung den Brotpreis erhöhen, ob dem Arbeiter diefes 
und jenes Jaduſtriezweiges die Lebensmittelvertheuerung durch Lohnerhöhung 
ausgeglichen werden wird; welche Lohnerhöhung diefe und jene Induſtrie zu 
tragen vermag; ob es dem Deutichen Reich zum Segen gereichen wird, wenn 
es die Ejel zollfrei einläht und die Ochſen ausfperrt, und ob nicht die Ochſen 
trog ihrem bedeutenden Volumen unter dem Namen von Brautgefchenten, 
die ja frei gelaffen werden follen, durch die Zollſchranke fchlüpfen werden: das 
Ales kann kein Menſch im Voraus wiffen. Die Herren von der Kommiffion 
mögen fi) ihrer zweitaufend Mark drei Sommer lang erfreuen: die Welt 
wird auch dann fo Hug wie zuvor umd fein Abgeordneter durch die Gründe 
der Öegenpartei befehrt fein. Die Entfcheidung hängt eben nicht von national- 
öfonomifchen oder finanztechnifchen Gründen und Bemweisführungen ab, fondern 
von dem Stimmenverhältnif der ntereffenten. Feſt fteht: die Zollgegner 
find in der Minderheit, der Tarif wird aljo angenommen. E83 fragt jich 
blos, ob innerhalb der Mehrheit die Extremen oder die von der Regirung 
unterftügten Gemäßigten ſiegen. Darüber werden Gründe entjcheiden, die 
mit der Nationalöfonomie nicht das Mindefte zu fchaffen haben, Das De: 
battiren und Berathen hat alſo höchitens den Zwed, den Mehrheitparteien 
zu Unterhandlungen hinter den Couliffen Zeit zu verichaffen. Das Ber: 
nünftigfte wäre, gleich im Plenum über die 946 Tarifpojitionen und die 
dazu geftellten Anträge ohne Debatte abjtimmen zu laflen, womit man in 
einer Woche bequem fertig werden fünnte. 


Neiſſe. Karl Jentſch. 


wie 


A 
“r 


$, 


Klingers Beethoven. 389 


Rlingers Beethoven. 


9: wünjchen, lieber Harden, daß ich Ihnen über den Beethoven Klingers 
| fchreiben fol. Sehr gern, weil er ja zum Schönften gehört, was ich 
noch erlebt habe. Aber Sie dürfen nur nicht eine Fritifche Aeuferung von 
mir erwarten. Kritik, wie man fie jest in Deutfchland verfteht und übt, 
ift gegen meine ganze Natur, die für Operationen des Verftandes nicht viel 
hat, Sondern genießen will. Wenn ich über Künftler und ihre Werfe rede 
oder jchreibe, fo ift mir Das nur ein Mittel, fie noch inniger zu empfinden, 
wie man oft auf hohen Bergen, um fich blidend, unwillfürlih in einen 
Monolog über den ſchönen Ausblik geräth, weil nun einmal der Menſch, 
was er denft ober fühlt, felbit erft recht erfährt, wenn er e8 mit Worten 
oder doch Geberden dankbar ausgeiprochen hat. Wirkt aber em Werk eines 
Künftlerd auf mich nicht oder wenn e3 fchlecht auf mich wirft, jo wende ich 
mich ab, ohne erft zu fragen, ob es meine oder feine Schuld ift. Selbſt 
bei Werfen für die Menge, die den Geſchmack beleidigen, verföhnt es mich 
faft, daß fich doch viele Menſchen, lachend oder weinend, über fie freuen, die 
Das fonft, al3 Barbaren in der Hunft, ganz entbehren müßten. Yrüher 
habe ich mir wohl auch durch Kritiſiren Manches verdorben. Jetzt meine 
ih, daß es nur eim einziges Verhältniß zum Künftler giebt, das fruchtbar 
und rein ift: die Bewunderung. Wen ich nicht bewundern und lieben kann, 
Der gehört ofrenbar nicht in meine Welt und fo habe ich über ihn nichts 
zu Men, weil mir das Organ für ihn fehlt. Das mag recht unberliniſch 
gedacht jein, aber Sie verzeihen mir jchon, mich lieber an Goethe zu halten, 
der einmal geichrieben hat: „Es kann auch an meiner augenblidlichen 
Stimmung liegen, mir kommt aber immer vor, wenn man von Schriften 
wie von Handlungen nicht mit einer liebevollen Theilnahme, nicht mit einem 
gewiſſen parteiifhen Enthuſiasmus fpricht, jo bleibt fo wenig daran, daß es 
der Rede gar nicht werth ift. Xuft, Freude, Theilnahme an den Dingen ift 
das einzige Neelle, und was wieder Realität hervorbringt; alles Andere ift 
eitel und vereitelt nur.“ Und ähnlich in Dichtung und Wahrheit: „In— 
deſſen ift die ftille Fruchtbarkeit foldher Eindrüde ganz unſchätzbar, die man 
genießend ohne zerfplitterndes Urtheil in ih aufnimmt Die Jugend ift 
diefes höchſten Glückes fähig, wenn fie nicht Fritifch fein will, fondern das 
Bortreffliche und Gute ohne Unterfuhung und Sonderung auf jich wirken läßt.“ 

E3 wird Einem nun freilihd mandhmal recht ſchwer gemacht, das 
„zeriplitternde Urtheil* abzuwehren. Sie können fi gar nicht denken, wie 
es um den Beethoven zuging. Jeder wollte da zeigen, daß er es befier ver— 
fteht. Der Ungebildete meint ja, e8 fei Etwas, Fehler zu finden. Bildung 
iſt es jedoch vielmehr, Fehler zu begreifen, die ja doch, in der Kunft wie im 


DO 00 


390 Die Zukunft. 


der Natur, immer nur die andere Seite von PVorzügen find. Es gehört 
zum Weſen der Form, weil fie ja, Begrenzung ift, da jie, an bloßen Vor— 
ftellungen gemeffen, immer unwahr fein muß. Seine Eiche ift „die Eiche*. 
Sage ich: Beethoven, jo fchlägt dieſes Wort taufend Borjtellungen an und 
ber Künftler, der eine erjcheinen läßt, bringt alle anderen gegen ſich auf. 
Das geht ja auch jedem Maler fo, der einen Baum malt. Es ift niemals 
„der Baum“ und fo muß immer wieder ein anderer Maler auf ihn folgen, 
der endlich einmal zeigen will, wie der Baum „eigentlich“ ausfieht. Dadurch 
ift die Kunſt unfterblic. | 

Ich kann mir auch einen anderen Beethoven denfen. Ich kann mir 
hundert andere denken. Und ich kann mir jeden Beethoven in hundert Mo— 
menten denken. Der junge, der alte, der Menfch, der Künftler. In allen 
Phafen des Schaffens: in der Erwartung der Efitafe, in ihrer Verzückung, 
in der Ermattung. Wie hat Klinger ihn gefehen? Oder, vorjichtiger ge= 
fragt: Wie wirft die Erfcheinung, die ihm Klinger gegeben hat? Und auch 
Das fann ic) eigentlich nicht fagen, weil ich nicht weiß, was von bdiefer 
Wirkung feiner Statue gehört und was die Werke unferer Künftler, die fie 
umgeben, an Wirkung etwa hinzugefügt haben*). Ich bin unfähig, fie im 
Geiſte auszulöfen und abzutrennen. Ich kann fie mir ohne die Bilder 
Klimts gar nicht denken. Da wäre fie mir wie ein aus einem Liede ge= 
rifjener Allord, der doch, was er für mich ijt, ganz erſt durch die anderen 
wird, die ihn vorbereiten, die ihn begleiten, die ihn vollenden, ohne die ich 
ihn vielleicht gar nicht oder doch ganz anders verftehen würde, auf die ich 
ihn, nehme ich ihm felbit heraus, unwillfürlich immer wieder beziehen muß, 
weil ja, was wir einmal erlebt haben, in der Erinnerung nicht mehr abge= 
teilt, ifolirt und umgerechnet werden fann. Diefe Werke unferer Künitler 
find ungleih. Für fi würde manches gar nicht bedeuten, wie manche 
Stimme in einem Chor wirken fann, die allein ohmmächtig wäre. Aber 
jede8 bringt feine Note hinein, die darin nothwendig ift. Und der Ton, den 
Klimt ins Ganze giebt, wirft auf mich fo ftarf, daß ich eigentlich nicht 
jagen fann: Beethoven Klingers, von den Wienern aufgeftellt; fondern fo 
fagen muß: Das Thema vom Genius, auf feine Art von Klinger und von 
Klimt auf feine ausgedrüdt, zufammen fo groß, daß fie die Anderen ges 
waltfam mit zu fich hinaufgeriffen haben. 

Das Thema vom Genius. Ueber der Thür könnte ſtehen: Gradus 
ad Parnassum; oder: Weg zur Efitafe. ch weiß nicht, ob Sie die Chrift- 
liche Myſtik von Görres kennen oder vielleicht einmal die Belenntniffe der 
Heiligen Therefa, die der Heiligen Angela von Foligno gelefen haben. Was 
in dieſen wunderbaren Büchern gefchildert wird: wie der Menfch, geheimniß- 


*) In der Wiener Sezeffion iſt Klingers Beethoven in einem Raum aus— 
gejtellt, den Klimt und andere Maler mit ihrer Kunjt geſchmückt haben. 


Klingers Beethoven. 391 


voll gelodt, durch die Welt abgefchredt, dahin gelangen kann, in jeligen 
Stunden das Thierifche zu vergeiien und in eine reinere Region zu jchauen: 
Das hat Klimt hier gemalt. Erft iind es die leife und zart über uns 
hinausfchwebenden Wünsche, e3 ift unjere Sehnſucht, die es fortzicht. Sie 
entfegt ſich, wenn jie die wirkliche Welt erblidt, die wirkliche Welt in uns 
ſelbſt, unfere Begierden und Lafter und dumpfen Gewalten, das rielige Thier, 
an das wir gefettet find. Hier fpielt es jih ab, ob ein Menſch im Gemeinen 
erftidt oder aber, durch Grauen und Abſcheu emporgereizt, über das Thier 
hinausgefhwungen wird. Die Tüde des Thieriſchen ift da mit einer furcht— 
baren Macht dargeſtellt, daß ich es nur etwa mit dem Thor der Hölle des 
Rodin vergleichen kann; man hat faſt das Gefühl, es ſei hier ein unab— 
änderlicher Ausdruck des Laſters gefunden, der nicht mehr überboten werden 
könne; und was man daran die gefliſſentlich primitive Technik genannt hat, 
begreift ſogleich, wer ſich beſinnt, daß es ja eben der primitive Menſch iſt, 
der Urmenſch in jedem Menſchen, vor dem die Sehnſucht erſchrickt. Nun 
aber zeigt die dritte Wand die Erlöſung durch die Ekſtaſe, das Schweben 
in der Luſt des reinen Anſchauens, den Genuß der Gnade. Der Parnaß 
iſt erreicht, der Himmel offen, die Sonne tönt. 

Wie aber, wenn ein Menſch, der einmal in einer erhabenen Stunde 
ſich vom Körper entrückt und des Geiſtes gewiß gefühlt hat, nun in das 
verworrene Element unſeres Lebens zurückgeworfen wird? Er hat die 
Himmliſchen gehört und jetzt iſt es der Lärm der Leute, er hat angeſchaut 
und jest erliſcht es. Muß davon nicht eine grauenvolle Spur in fein Geſicht 
gebrannt fein? Er hat die Verachtung des Lebens auf den Lippen: denn 
er wei jegt, daß es nur Schein iſt, und er ballt zornig die Fauſt, dan er 
den Schein doch erleiden mug. Für ihn ift, was wir den Ernſt des Lebens 
nennen, nur noch ein die Baufe ausfüllendes Spiel, die Pauſe bis zur neuen 
Ekſtaſe, bis er wieder die Kraft gefammelt hat umd jich wieder erheben wird. 
Er ſitzt am Rande des Lebens da, erfchöpft, um Athem zu holen, ungeduldig 
die Fernen fuchend, im die er gleich wieder entfliegen wird, und wartet auf 
fein Zeichen. Aber das hinter ihm brandende Leben ängitigt ihn, dar es 
ihn verfchlingen könnte, und in einer ungehenuren Erektion laufcht er, um 
nicht überfallen zu werden. Er heißt hier Beethoven. Es könnte aud) der 
wilde Archilochos fein; oder Shafefveare mag fo, al3 er nad Stratiord 
heimritt, am Wege ausgeruht haben. Es ift der Genius, der ſchon einmal 
drüben war, aber zu ung zuriüdgeitogen worden: ift. 

Ich weiß natürlich gar nicht, ob ſich Das Klimt und Klinger ſo ge— 
dacht haben. Es iſt auch ganz gleich. Ich habe nur andeuten wollen, 
welche Gedanken, welche Empfindungen mir ihr Werk gegeben hat. 


Mien. Hermann Behr. 


5 29 





392 Die Zukunft. 


Moderne Wohlthätigkeit. 


ch höre oft das Wort deeadence; man operirt mit diefem Begriff, um 
jich ein air von verfeinerter Kultur zu geben, der — ad! — noch jo fernen. 


Ein Königreich für einen Dekadenten! Nichts al$ Barbarei iſt zu finden. 
Von künftleriich- äfthetiichen Dingen ganz zu jchweigen; aber auch die Lebens— 
führung des Durchſchnittsdeutſchen . . Wie harmlos verſreſſen die Winter- 
aejelligfeit! Wie rührend unraffinirt überhaupt alle gejelligen Beranftaltungen! 

Frauenfrage: ebenfalls rührend naiv. Nämlich alle glüdlichen Bejiger 
unentiicelter oder gar unbegabter Frauen find „dagegen“. Es giebt aljo offen« 
bar viele unbegabte und noch jehr viele umentiwidelte rauen. Zeichen junger 
Kultur. Seien wir jtolz darauf. 


Einen einzigen Decadencepunft jah ich: die moderne Wohlthätigkeit. 


Die großen Diners zu wohlthätigen Zweden verjöhnen durch ihren Humor; 
und da fie viel einbringen: A la bonne heure! Man muß es nicht allzu pathe- 
tijch nehmen. Der Effekt iſt ja nüßlid). 

Aber die negative Seite der Wohlthätigkeit! Das himmeljchreiende 
Verbot der Straßen und Hausbettelei! 

Mit welchem Recht, frage ich, hält man dem Menſchen, der gern geben 
und helfen würde, den Anblid leidender, verzweifelnder, verhungernder Menſchen 
fern? Die offizielle Antwort hierauf würde etwa lauten: Diefe mildthätigen 
Herrſchaften mögen doc ihre Mittel und Kräfte einem der vielen Vereine zur 
Verfügung jtellen. Darauf erlaube ich mir, zu erwidern, daß es eben jo viele 
Arme giebt, denen der „Verein“, das „Komitee“, der „Vorſtand“, denen überhaupt 
alle „Behörden“ ein umüberjteigbares Hinderniß find, wieWohlhabende, die dadurd) 
an der Ausübung der Wohlthätigkeit verhindert werden. Man hat aber, ich 
wicderhole es, nicht das Recht, das Helferbedürfniß diejer unzähligen Menfchen 
unbefriedigt zu lajjen. Um jo weniger, als das durch den finnlichen Eindrud 
des Elends erregte Mitleid feine einzig natürliche, ja, jeine moralijchere Form iit. 

Wer Armenpflege und Armenhilfe in großem Stil treibt, wer für 
Hunderte von Kindern Waijenhäufer errichtet, Der freilich kann jich durch den 
Anblid der Einzelheit nicht rühren laflen. Das wäre eine überflüjfige Senti- 
mentalität, die ihn jeinem großen Ziel entziehen, jeine Kraft vergeuden würde. 
Ich ſpreche von der privaten Wohlthätigkeit. 


Die meijten Menichen, befonders Frauen empfinden noch jo injtinkftmäßig, 
daß der Anblic eines Berzweifelnden jie mehr zur That, zur Dilfe reizt als 
jämmtliche jtatijtiichen Tabellen und Liften der Welt. Wenn man mir eine 
Liſte vorlegte und ich müßte mir Familie F in Berlin C zum Bewohlthätern 
auf dem Papier aufjuchen, jo wäre mir ungefähr zu Muth, als hätte man mic 
bier in Europa einem unbefannten Miſſionar in Afrita vermählt. Ich würde 
mir auf der langen Reiſe zu dem Ehemann ausmalen, dab er mindeitens feucht: 





Moderne Wohlthätigkeit. 393 


falte Hände und eine frähende Stimme hat, ein unerträglicher Philiſter und 
magenkrank iſt; kurz: eine in der Dölle geichlojlene Ehe. So giebt es eben 
auh Menjchen, denen die Armen nicht Nummern jind, jondern Berjönlichkeiten, 
die fie fih je nah Sympathie auswählen. 

Es kommen aber noch andere, äußerlihe und innerliche Gründe hinzu. 
Es iſt, zum Beifpiel, für eine arme Wittwe mit vier Kindern ein zweifelhaftes 
Glück, von irgend einer Behörde achtzehn Mark monatlich zu empfangen; denn 
in den meilten Fällen iſt diejes Almoſen der Grund für ſämmtliche übrigen 
Behörden und Bereine, ihr feinen Pfennig zu geben. 


Schwerer wiegen andere Gründe. Reiche und Arme entarten, weil der 
Nothleidende fidy nicht mehr jpontan an den Satten mit der Bitte wenden darf, 
ihm zu helfen. Deutzutage finden nur die Bettler mit gutem warmen WBaletot 
oder mit Federboa und Perjianermuff Eingang in die Häufer. Die laſſen ſich 
„bei den Herrichaften“ melden. Oft find es Betrüger; und Den, der fo wenig 
phyfiognomilchen Scarfjinn hat, auf jie hereinzufallen, bedaure ich nicht allzu 
jehr wegen der paar Groſchen, die jeine Thorheit ihm koſtet. Vielleicht lehrt 
dieje Erfahrung ihm beifer in Gefichtszügen lefen; dann war die Unterrichts⸗ 
ſtunde billig. 

Die wirklich Bedürftigen ſind ja viel zu „anſtößig“, als daß ein jo takt— 
volles Weſen wie eine berliner PBortierfrau jie ins Haus hineinließe. Doch 
wenn man den Satten den AUnblid des Hungernden entzieht, jo nimmt man 
ihnen das jtärfjte Erziehungmittel, den mächtigſten Anjchauungunterricht, den 
das Leben bietet. Das einzige Mittel, das den ſich ſonſt zum monjtröjen Egoijten 
Auswadjenden zur Einfehr zwingt. Ein Menſch, dem von Kindheit an nur gut 
gekleidete und gut genährte Menſchen zu Gefiht fommen, Mermere jedod nur, 
jofern fie ihm dienen und für jein Wohl jorgen, erhält ein falfches, läppiſches, 
albernes Weltbild. Bei den Armen aber entjteht eine eben jo verderbliche Bor- 
jtellung von dem Kulturmenjchen oder — was für ihn das Selbe iſt — Reichen. 
Er denkt fich einen Genießenden hinter einer undurchdringlichen Mauer von Gold- 
rollen. Vielleicht hat er nod} die Ahnung, daß auch hinter diefen Mauern einzelne 
warme Herzen jchlagen; aber der Weg iſt ja verjperrt durch Portier, Schuß 
mann, Diener und Doppelthüren. 


Aljo die beiden Typen, der Schwelgende und der Berhungernde, die ein- 


ander jo nothwendig brauchen, find durch die Sitte, die Ordnung von einander 
unerreichbar getrennt. 


Man hat Unannehmlichkeiten durch Straßen: und Hausbettelei; jicher; 
nicht zu leugnen. Iſt Das etwa ein Grund dagegen? Wir jollen aud, Un— 
annehmlichkeiten haben, wir brauchen jie wie die Pauſen in der Muſik als Unter: 
brediungen unjeres Wohlergehens. Und gerade diefe groben Unannehmlichkeiten 
brauchen wir, diejen Anblick häßlicher, unmdifferenzirter Leiden. Sie am Aller: 
meiiten helfen den Menſchen entwideln und jtärfen. Ohne diejen Eindrud ver: 
lieren wir den großen Maßſtab und Alles in uns wird zwergenhaft. Ein in 
höchiter materieller Noth befindlicher Menſch, der jeinen Nächten um eine Gabe 
bittet, ijt noch fein Bettler. Er kann, wenn jeine Yage fich beſſert, völlig ver- 
geilen, daß er gelegentlich gebettelt hat, behält dadurd ein Eräftigeres Selbit- 


29* 


394 Die Zukunft. 


bewußtjein und iſt weder vor jich noch vor jeiner Umgebung degradirt. Ein 
eingetragener, regiitrirter Almojenempfänger dagegen arbeitet jih annähernd jo 
ichwer in die Höhe wie ein „Vorbeſtrafter“. 

Die Arbeitihen wird durd) die Bettelei bejtärft, jagt man. Beſtärkt 
nicht; wohl aber wird den Arbeitjcheuen geholfen. Iſt Das nicht Menfchenpflicht ? 

Wer von uns wäre noch nicht unter den Gebildeten (namentlidy Frauen) 
harakteriftiichen Typen Urbeiticheuer begegnet? Die mageren unter ihnen be- 
ginnen ihren Tag mit dem Frühſtück im Bett; fie lejen die Morgenbriefe; eine 
Stunde Gejihtsmafjage; Morgentoilette; zweites Frühſtück; furzer, langjamer 
Spazirgang; Vortrag im Viktorialyeeum über Etwas, das man zu verjtehen 
beftrebt ift; Yund. Und jo weiter. Die forpulenteren beginnen den Tag mit 
einen zwei bis drei Stunden langen Entfettungmarſch durd den Thiergarten; 
dabei jtören fie nicht jelten eine freundin, die vormittags jehr viel zu thun hat. 
Folgt eine Stunde Hüftenmaflage; Vortrag im Viktorialyeeum; Yund. Und 
jo weiter. Dieje und ähnliche Typen wären rettunglos verloren, wenn fie nicht 
betteln gehen dürften. Sie nähren fich ihr Yeben lang von der Mildthätigkeit 
ihrer Freunde. Die legen für fie zujammen. Jeder giebt ihnen ein Stückchen 
jeiner Perjönlichkeit, jo day die Aermiten eben erijtiren fönnen; denn fie find 
pathologiich zwar in ihrer Zerfahrenheit und inneren Daltlofigfeit, aber oft reizvoll 
und nicht unſympaäthiſch, — man fann fie unmöglid umfommen lafjen. Hätten 
fie nicht produftive oder amujante Freunde, fie würden, ob ledig, ob Familien— 
mütter, in irgend einer ;yorm zu Grunde gehen. 

Warum follen wir nun jo hart jein und die Arbeiticheuen der unterften 
Schicht verdammen, da doc auch jie pathologijch oder vielleicht nur ataviſtiſch 
find? Denn vor dem Sündenfall gab es noch nicht den Begriff des Fleißes. Die 
Welt iſt aber heute dem Baradieje jo fern, daß der Faule, aljo der urjprünglich 
varadiefiiche Menſch, der ſich nur jonnt und wartet, bis die Früchte reifen, eben 
jo als pathologijch betrachtet werden muß wie Einer, der nadt gehen will. Man 
bringt ihn in eine Maison de sant& — das verlorene Paradies — oder, wenn 
der Anbli minder verlegend ift, forget die Menge für ihn; er wird eben 
Almojenempfänger. 

Unſer Yeben ift im Ganzen jo hoffnunglos ungefährlid geworden. Der 
einst jo köſtlich kühne Begriff des Abenteuers iſt verloren gegangen oder in 
Berruf gelommen. Man verfichert jein Yeben, jeine Brandichäden, jeine Ein- 
brüche (in England jogar Zwillingsgeburten); man tft vorfichtig bis zur Wider» 
lichkeit. Erhalten wir uns doch dieje eine Kleine, bejcheidene Gefahr: daß dann 
und wann ein „Umnwürdiger“ uns anbettelt. Es ijt jicher weniger bedauerlich, 
dag ein Schwindler ein Almojen empfängt, als daß ein Würdiger vor lauter 
Würde in feiner Kammer allmählich und einſam verhungert. 


Sabine Qepjius. 


ten 
Ns ed 


Auzeigen. 395 


Anzeigen. 


Die Kunſt unſerer Zeit. Franz Hanfſtaengl, Kunſtverlag, Münden. 

Unzählige Blätter und Zeitſchriften populariſiren in Deutſchland die Kunſt. 
Ihr Charakter iſt vorwiegend illuſtrativ und ihr gemeinſamer Stammbaum „Die 
Gartenlaube“. Die neuere Reproduktiontechnik hat zur leichteren Verbreitung 
der künſtleriſchen Werke viel beigetragen. Unter den Blättern, die als wirkliche 
Annalen des modernen Kunſtlebens gelten können, ſind erſtens ſolche, die mit 
dem wandelnden Geſchmacke gehen und alle Erſcheinungen aufgreifen, einerlei, 
welcher Richtung ſie angehören. Die Abſicht dabei iſt, das Publikum von Allem 
zu unterrichten, was in den Werkſtätten, in den Ausſtellungen und im Kunſt— 
handel vorgeht. Ihre Berichterjtattung hat einen vorwiegend fenilletonijtijchen 
Charakter, und etwas in mancher Beziehung mit den Börjenberichten und Mtode- 
journalen Gemeinjames. Ihre beiondere Bedeutung liegt im raſchen Umſetzen 
fünjtleriicher Werthe und in der Aufjpeicherung jtatiftiihen Materials für den 
Kunfthiftorifer. „Die Kunſt unjerer Zeit“, die jeit dreizehn Jahren in unjerem 
Verlage ericheint, vepräjentirt die andere Gattung, die in vornehmer Ausſtattung 
Erzeugnifie des künſtleriſchen Schaffens wiedergiebt. An die Stelle der Alluftration 
tritt eine mit größter Sorgfalt ausgeführte Reproduktion, worin die Eigenart 
und der techniſche Charakter des Bildes voll zur Geltung fommt. Das auf 
photographiicher Grundlage beruhende Verfahren läßt die malerifchen Qualitäten 
deutlich erfennen und fann als ausreichendes Hilfsmittel für das Studium der 
Driginale gelten. In literariſcher Hinjicht folgt die Zeitjchrift dem modernen 
internationalen Kunitleben und regijtrirt getreulich alle wichtigeren Greignifje 
und Beranitaltungen. Dennod bemüht fich die Yeitung, inmitten der Hochfluth 
und Ueberproduftion auf künſtleriſchem Gebiete einen bejtimmten Kurs einzus 
halten. Ihre Tendenz iſt einem Magneten vergleichbar, der immer auf einen 
Ausgangspunkt, in unjerem Falle auf die Tradition, hinweiſt. In der Form 
von Eſſays oder Monographien werden die Leſer mit den typiichen Erjcheinungen 
auf dem Stumftgebiet, jedoch fait ausjchließlic auf dem der Malerei, befannt 
gemacht. Der Tertlaut joll dabei, wie eine ruhige Mufik, möglichſt wenig jtörend 
hervortreten, während der Beichauer von Bild zu Bild weitergeht. 

Münden. Franz Danfitaengl. 
* 


Amiens⸗St. Quentin. — Le Mans. Beide illuſtrirt von Speyer. Karl 
Krabbes Verlag, Stuttgart. Preis jedes Bandes 1 Mark. 

Auf vielfaches Begehren habe ich meinen früheren Schlachtdichtungen aus 
dem deutſch-franzöſiſchen Krieg als Schluß noch die Kämpfe der Nordarmee und die 
„Sieben Tage“ von Le Mans angegliedert. Unparteilich wäge ich die Leiſtungen 
beider Heere ab. Die unglückliche zweite Loirearmee zeigt ſich in günſtigerem 
Licht als bisher, während ich in das unbedingte Loblied auf die franzöſiſche Nord— 
armee nicht einzuſtimmen vermag. Beſonders Faidherbes hebt ſich ziemlich un— 
vortheilhaft, handelnd und redend, von ſeinem Gegner Goeben ab, deſſen eigen— 
artige germaniſche Heldengeſtalt mit liebevoller Sorgfalt, wenn auch nicht ohne 
kritiſche Einwände gegen Ueberſchätzung, gemalt iſt. Chanzys Energie und die 


396 Die Zukunft. 


jeines waderen Unterführers, des Scemannes Jauréguiberry, wird gebührend 
beleuchtend. Aber die dentiche Kraft tritt überwältigend hervor. Sowohl bie 
Brandenburger bei Ye Mans als Aheinländer und Oftpreußen im Norden Frank— 
reihs fünnen mit dem Ruhmeskranz zufrieden fein, den ich ihnen fledite. Auch 
die Tüchtigfeit anderer Stämme, die an dieſen Kriegsthaten theilmahmen, wird 
nach Verdienit anerkannt. Stärkeverhältniffe und Verluſte find fenau geprüft. 


Aspern. Jllujtrirt von Thöny. Preis 5 Marf. — Waterloo, Illuſtrirt 
von Thöny (454 Seiten). Preis 8 Mark. 


Die beiden ſchwerſten Schladhtkatajtrophen der napoleoniſchen Zeit habe 
ih in den Kreis dichteriſch wiſſenſchaftlicher Betrachtung gezogen. Realiſtik der 
Detailmalerei und Gharakterijtif paart jid) mit dem Pathos weltgejchichtlicher 
Tragif. Ich biete hier das Ergebniß erniter fritifcher Forjchung. Jeder Biftoriker, 
jeder Sriegsforjcher, jeder Soldat, der kritiſche Wahrheit jucht, dürfte hier des» 
halb jeine Nechnung finden, eben jo aber auch der Yejer, der dichterifche Anregung 
wünſcht. Alle Dauptperjonen diefer Schlachtendramen find genau individualifirt. 
Ich juche Napoleon jo zu jagen bei der Arbeit auf. Bon wahrhaft weltgeichicht- 
lichem Odem ummeht, ragt dieje Gejtalt aus den Gewittern von Aspern, Ligny 
und Waterloo in magijcher Beleuchtung empor. 

Wilmersdorf. Karl Bleibtreu. 
* 
Peter Michel. Roman von Friedrich Huch. Alfred Janſſen, Hamburg. 

Wenn man die Romane, die in den letzten drei oder vier Jahren er— 
ſchienen find, heute vorurtheillos betrachtet, jo erſcheinen die beſten unter ihnen 
als Vorläufer und Verkünder irgend eines fommenden Werkes. Sie find alle 
einjeitig, ſowohl die realijtiichen wie die romantiſchen und diejenigen, welche 
man die piychologifchen genannt hat, und gerade dieje Einjeitigfeit macht fie 
intereflant und lejenswerth, dieje bewußte, mehr oder minder geijtvolle Ueber— 
treibung nach einer Seite hin, nad; einer bejtimmten neuen Seite hin, von der 
man jegt mehr zu willen glaubte oder mehr wußte als früher, in der Zeit _ 
größerer Dichter. Zu einem einheitlichen, zufammenfafjenden Kunſtwerk ſchien 
Alles zu fehlen: die Kraft, die Zeit und die Unbefangenheit. Und nun ift 
diejes Kunſtwerk, deſſen Erſcheinen auch die Optimijten unter den erniteren 
Kritikern in unbeftimmte Zukunft verlegten, da, ift unter uns, und Jeder kann 
es befühlen und jehen, daß es wirklich und am nächſten Morgen nicht ver: 
ſchwunden ijt, jondern an dem Platze liegt, wo er es verlieh, als er fih in 
tieffter Nacht ſchwer und in fjeltiamer Erregung davon trennte. Ich glaube 
nicht, daß dieſes Bud an Einem von Denen, die es in die Hand nehmen, 
ipurlos vorübergeht. Es redet Jeden an, obwohl es ſich an Steinen wendet, und 
läßt Keinen mehr los, obwohl es ihn gleichfam nur mit dem Kleinen Finger 
hält, mit irgend einem einfahen Sat, mit irgend einer Unausſprechlichkeit, bie 
ausgeſprochen ijt, mit irgend einer Meberraihung, die jo jelbitverjtändlich vor— 
ji geht wie Alles in diefem Buche, in dem nur Selbjtverftändliches geichieht. 
Wie Zufälle ftehen die Ereigniſſe neben einander und die Menſchen gehen durch 
fie durch, ſelbſt wie Zufälle, von einander getrennt, wie eben ein Zufall vom 
anderen getrennt ift, allein, wie Kinder. allein find unter Erwachſenen, traurig 





Anzeigen. 397 


wie Träumer und empfindlid wie Sclafloie, — und das Yeben, das Yeben 
rinnt ihnen durch die Finger wie Sand und wächſt wie ein Sandberg vor ihnen 
auf, immer höher und höher, bis fie Schließlich dahinter verloren gehen. Bon 
folder Art iſt die Tragik dieſes Buches, die mir mehr zu fein ſcheint als die 
Tragik einer bejtimmten Zeit, während das viele Komiſche, von dem das Bud) 


erfüllt ift, an der Zeit zu hängen und aus ihren Kleinheiten aufzuwachſen jcheint. 


Denn es ijt viel Anlaß zum Lachen und viel Grund zum Weinen und zum 
Nachdenken in diefem Buch, wie im Leben zu Alledem täglich Anläfle find; nur 
werden fie uns durd) dieſen Roman jo gebieteriid) auferlegt, daß wir fie aus» 
nügen müſſen, während fie im Leben an unjerer Trägheit oder Zerſtreutheit To 
oft vorübergehen. Das Buch heißt Peter Michel. In ſeinen eriten elf Kapiteln 
erfahren wir die Gejchichte Veters von jeiner Kindheit bis zu jeiner Verhei— 
rathung. Das zwölfte und letzte Kapitel zeigt uns Peter zu einer Zeit, wo er 
von fich jelbit, von dem Peter der elf Kapitel, nur jehr,wenig mehr weil: er 
hat zwei Kinder und Ernejtine Treuthaler it eine brave Dausfrau. Der Sande 
berg vor ihm ift ganz groß geworden, jo groß, daß er nicht mehr darüber weg 
jehen kann; aber vorher, in dem größeren Theil des Buches, jehen wir diejen 
Zufall Peter als die Urjache von glüdlihen und unglüdlihen Stunden, als 
einen Anlaß zu manchen Veränderungen ſich auf dem kleinen Stüd Welt be- 
wegen, das er in Aufregung bringt und befhmichtigt und das auf ihn zurück 
wirkt, wie Maſſe auf Majje wirkt, mit feinen taujend Geſetzen und Zufällige 
keiten und mit feinen Menſchen, die alt werden und eingehen und ich beicheiden. 
Und obwohl allen Sejtalten diejes Buches gemeinjam ift, dab fie alt werden 
und eingehen und fich bejcheiden, ift doch gar nichts Einjeitiges in dieſem Bud); 
im Gegentheil: wollte man das Bezeichnende feiner Art in Kürze feititellen, jo 
müßte man jich entichliegen, zu jagen, daß Alles in diefem Buch ift, von der 
Ktatajtrophe bis zum Aperçu und von der breiten Komif, die abſichtlich banal 
und derb wirft, bis zu jenen feinften und leiſeſten Greignijien, Freuden und 
Enttäufdungen, Entfremdungen und Harmonien, bei deren Eintreten die Sprache 
machtlos bleibt und der Zeiger der Worte feinen Ausichlagswinfel mehr auf: 
weilt. Ach Habe nie für möglich gehalten, daß Dinge, Stimmungen, Ueber: 
gänge, wie diejes Bud) fie in reicher Menge enthält, ausdrüdbar jind, cs jei 
denn, daß man das ſchwer ausdrüdbare Motiv zur Hauptſache madıt, eine Skizze, 
eine Novelle, ein Gedicht dafür fchreibt, aljo einen ganzen Apparat von Dilfs- 
mitteln in Bewegung jet, um ihm beizufommen. Davon ijt aber hier gar nicht 
die Rede. Als ob es das Allereinfachlte wäre, ſpricht diefes Bud von ganz 
feiien Borgängen, Zufammenhängen und Anklängen in jeinen furzen Sägen, 
die lauter Thatjahen zu enthalten jcheinen. Auf Allen ruht die gleiche Be- 
tonung; mit Nedt: denn Alles iſt wichtig in diefem Buch und, trogdem Alles 
zufällig Scheint, voll Geſetzmäßigkeit. Eins hält das Andere im Gleichgewicht 
und die Erregung jeiner bewegten Momente jcheint über dem Ganzen wirkſam 
zu fein, eben jo wie die Wehmuth feiner traurigen Stellen über alle dreihundert- 
fünfzig Seiten ji wie Mondlicht auszugießen jcheint. Und da drängt ſich denn 
ungeltüm die Frage nad dem Künſtler auf, nad) dem Zujammenfafler und 
Ordner und Sejeggeber. ich weiß nichts von ihm, Gr heißt: Friedrich Huch. 


Weftermwede. Nainer Maria Wilke. 
2* 


398 Die Zukunft. 


Meine Ausweiſung. 


F meine perſönlichen Angelegenheiten die öffentliche Aufmerkſamkeit in 
YA Anſpruch zu nehmen, würde ich germ vermeiden; nicht, weil ich eine 
Kontroverje darüber ſcheue, jondern, weil Berfonalien von der Art der 
meinen immer Etwas von Dem haben, was Goethe im Auge hatte, als er 
fagte: Die Geheimnifje der Lebensführung fann man nicht offenbaren. ch 
wei nicht, aber ich vermuthe, dar dies Urtheil Goethes nicht ohne Beziehung 
ift zu dem Verſuch Rouffeaus, deffen „Belenntnifje“ von einer Nachahmung 
aud einen Mann abjchreden müßten, der über Rouſſeaus Stil, über feine 
leidenfchaftliche Wärme verfügte. Aber es ijt nicht meine Schuld, daß ich 
mit meinen Perſonalien wieder auf dem Markt jtehe. Die königlich preußifche 
Polizei, nicht zufrieden mit dem harten Urtheil der Gerichte über mich, hat 
mih — 31/, Jahre nach meiner Entlaffung aus der Strafanftalt, 7 Jahre 
nach meiner Berurtheilung — aus Berlin und deffen Vororten ausgewiefen. 
Dadurch glaube ich, verpflichtet zu fein, den Rückſichten auf meine eigene 
Perjon gänzlich zu entjagen, mich meiner eigenen Geſchichte und meiner 
ichmerzhaften Erinnerung an fie gewiſſermaßen zu entäußern und dieſe Ge— 
Schichte jenen zu vermachen, die im Gewirr urtheillofer Gegenwarten die 
Erbfolge der Befreiung vertreten, jener unfichtbaren Kirche, die mehr als alle 
pragmatifche Hijtorie das Bindeglied zwiſchen der Vergangenheit unferes 
Geſchlechtes und feiner Zukunft ift. Ich glaube, dazu verpflichtet zu fein, 
nicht nur im Intereſſe von Menjchen, die elender find als ich, fondern vor 
Allem der einzigen Inſtanz zu Liebe, deren Stuhl und Würde das Leben 
lohnend und die Geſchichte der Menschheit erträglih machen. Nur die Thor— 
heit fönnte mir vorwerfen, Das fei unbejcheiden von mir gedadht. Der 
Bund der menjhlihen Evolution umfaßt neben den Heroen der That und 
des Geiſtes aucd Träger des Leides. Als ein Opfer herrichenden Wider: 
ſinns fühle ich mich berechtigt, an den Stuhl der Vernunft und den Richter— 
jpruch Derer zu appelliren, die nicht jtumpf und ftumm bleiben fünnen, wenn 
fie ihre Geichleht und ihr Zeitalter im Dunfeln irren jehen. 

Dennoch will ic) nicht das Mitleid wachrufen, fondern die kräftigen, 
die rüftigen Regungen jenes Vertrauens, das, nie befriedigt von der Gegen— 
wart, von der Zukunft Alles erwartet und jelbit in den ärgjten Felleln und 
mächtigiten Borurtheilen unferes Gejchlechtes nur verurtheilte Rudimente er— 
fennt, das Erbe einer Vergangenheit, die ſich nicht behaupten fann gegen das 
„einzige* Sefchichtgeieg, gegen die Entwidelung. 

Bei meiner Ausweitung kommen zwei Dinge in Betracht: meine 
„öffentliche“, politiiche Thätigkeit und meine Kriminalität, meine beiden 
„Vergangenheiten.“ Wie im mir, jo wird auch in Anderen wahricheinlich 


n ° us ELF, vera} a —538— er F =. ⁊ 


Meine Ausweiſung. 399 


ſowohl jene als dieſe gemiſchte Gefühle und Urtheile hervorrufen. Auf der 
einen Seite erkenne ich in beiden Seiten meiner Vergangenheit Irrthümer, 
Fehler, auf der anderen ſehe ich nicht ein, wie ich, unter den Umſtänden, die 
mich beſtimmten, ſolche Fehler vermeiden konnte, ja: vermeiden durfte. 

Meine politiſche Thätigkeit hat in jedem Jahr auf anderen Grund: 
lagen geruht, aber ſie iſt im ihrer Richtung nie durch etwas Anderes be— 
ftimmt worden als durch meine Einſicht, meine Ueberzeugung. Ich mar 
jiebenzehn Jahre alt, al3 ich Schriftiteller wurde. Meine erite Arbeit er- 
ſchien in der „Sozialtorrefpondenz* des Geheimraths Böhmert in Dresden 
und behandelte die Frage, was für die norddeutiche Hochjeefijcherei geichehen 
folle und warum durchaus Etwas gefchehen müſſe. Damals — es iſt bald 
ein Vierteljahrhundert her — fehlte es im Uebrigen an jeder öffentlichen Auf- 
merkſamkeit für diefe Frage; bald nachher wuchs dieſe Aufmerkfamfeit und 
id) darf feitftellen, daß meine Vorſchläge fait ohne Ausnahme durchgeführt 
worden find. Ohne eine ftarfe Fifchereiflotte hat bisher Fein zur See mäch— 
tiges Volk eriftirt. Aber e8 war nicht diefer nationale Geſichtspunkt, der 
mein Intereſſe fellelte, jondern der ölonomifche. Meine Umgebung, meine 
Familie, meine frieiifchen Stammesgenofjen wurden eben in meinen Knaben— 
jahren aus ihrem Beiig, aus einer zwar mühjamen und einfachen, aber dod) 
werthvollen Selbftändigkeit und Unabhängigkeit verdrängt. Feder Schlot, der 
auf der See auftaudhte, löjchte da8 Herdfeuer unabhängiger Kapitäne aus, 
die auf eigenen Seglern an der europäifchen Küſte Seefahrt trieben. 

Um die felbe Zeit wirkte die wirthichaftliche Krife der ſiebenziger Jahre. 
Sc ſah eben jene Flotte von Dampfern, die fo unheilvoll in daS Leben der 
frieiiichen Kapitäne eingegriffen hatte, felbit zur Unthätigkeit verdammt, im 
Hafen liegen. Diefe beiden Erfahrungen machten mid zum „WReaftionär*. 
Ich entichied mich gegen die induſtrielle Revolution und für die dem frie- 
ſiſchen Stanımescharafter befonders zufagende wirthichaftliche Unabhängigkeit 
des Einzelnen auf fleinerer Grundlage des Betriebes. Ein Onfel predigte 
mir einen frieſiſchen Spruch: Lieber ein Heiner Herr als ein großer Knecht. 
Er hatte dabei die Dffiziere und Kapitäne des Norddeutſchen Lloyd im 
Auge, zu denen fpäter mein Vater und meine Brüder übergegangen jind. 
Diefe und andere Motive führten mich Ende der jicbenziger Jahren — vor 
meinem zwanzigiten Lebensjahr — in die reaftionäre Welle, die damals ſich 
zu erheben anfing. Aber ich Hatte früh Laſſalles Neden kennen gelernt und 
hatte einen Tropfen demofratifchen Dels in mir. Diefe Mifhung führte mic 
unter jene Konfervativen, die aufs Aeußerſte jich empören, wenn man ihr poli= 
tifche3 Programm mit Regirungfrömmigkeit verwechielt, aljo zur „äureriten“ 
Rechten, wo die Leute fahren, die fich aud vor Bismard nicht beugten. ch 
war in der Agitation erfolgreih. 1887 riet mich Stoeder nad Berlin, um 


400 "Die Zutmit. 


die Zeitung „Das Volt“ zu gründen, die ich ein Jahr lang redigirte. Mit: 
arbeiter war damals (wie fpäter Redakteur) Herr von Gerlah. Als die 
deutſch-ſoziale antifemitiiche Partei begründet wurde, betheiligte ich mich zu= 
nächft als Gaſt. Später trat ich der Partei bei und eroberte mir 1893 den 
heſſiſch-thüringiſchen Wahlkreis Eichmwege-Wigenhaufen-Schmalfalden. In 
diefen Jahren entwidelte ich mich immer mehr nah links. Ich habe bei 
der Begründung der deutfch-fozialen antijemitifchen Partei mitveranlaft, daß 
die Aufhebung des Sozialiſtengeſezes im Programm gefordert wurde, und 
auf meine durch Gerlach vermittelte Bitte redete Stoeder auf dem eriten 
Tivolitage der Konfervativen in Berlin gegen eine Stelle im neuen Partei: 
programm, die für die Wiederherftellung des Sozialiftengefeges eintrat. Der 
Sag wurde aus dem Entwurf gejtrichen. 

Es ift im Grunde albern, dar man ſich gegen den „Vorwurf“ der 
Entwidelung in politifchen Dingen vertheidigen muß. Starrheit feiner 
politifchen Aniichten ift im der Regel weit eher ein Vorwurf für einen Mann. 
I’homme brut ne change pas; der Idiot allein bleibt, was er iſt. Die 
Verſchiedenheit des Wiſſens, der Erfahrung, de8 Temperamentes, der Zeit- 
umftände und ihrer Forderungen erflärt, daß der Mann von vierzig Jahren 
ander8 urtheilen muß als der zwanzigjährige Füngling. Die Frage kann 
nur fein, ob ſolche Entwidelung der fortichreitenden Einſicht eines ehrlichen 
Mannes oder der elenden Abſicht des Strebers entipringt. 

Ende 1894 wurde ich zu drei Jahren Zuchthaus verurtheilt, weil ich 
in, einem Ehefcheidungprozen wiſſentlich falſch geihmworen hatte. Die näheren 
Umstände mag ich nicht erörtern; man wird vielleicht fpäter erfahren, wie 
wunderlich und unglaublich dieſe Umftände waren, dag meine Ausjage zwar 
falich, aber au ihr gerade ein Theil richtig war, von dem Alle das Gegen: 
theil vorausgefegt hatten und heute noch glauben. Dies nebenbei. Die Aus: 
jage war falſch und wifjentlich falſch. 

Dean hat mir — ohne jeden Beweis — in den Strafmangründen 
vorgeworfen, ich hätte aus Rüchſicht auf mich felbit gehandelt. Das iſt 
an ſich ohne Sinn; ich kannte das Leben genau genug, um zu wiſſen, daf 
mich auch eine fchlimmere Wahrheit als die zu befennende nicht unmöglich 
gemacht hätte. Außerdem lag, als ich meinen Eid leiftete, die Sache jo, 
dan mir die Wahrheit ganz und gar feine Schande machen fonnte. Dies 
iſt inzwiſchen gerichtSnotorisch und aktenkundig geworden durch dem zweiten 
Prozeß gegen mich, in dem ich wegen Berleitung zum Meineid verurtheilt 
wurde. In diefem Prozer bin ich unfchuldig verurtheilt worden. Meine 
Mitangeflagte erklärte, den Thatſachen gemäß, daß ich fie gewarnt habe, 
meinem Beifpiel zu folgen. Meine Berurtheilung iſt erfolgt auf Grund 
der Rechtsanſicht vom „Verſuch am untauglihen“ — alio in diefem Falle 


— 7 —— BT Fr a ET nn pr 





Meine Ausweifung. 40] 


am ohnehin entfchlofjenen — „Objekt.“ Aber jelbjt diefer Rechtsgrundſatz 
wurde in meinem Fall falſch angewandt, wie leicht nachzuweiſen wäre, wenn 
es hier nicht zu weit in juriſtiſche Deduftionen‘ führte. Ich lege darauf 
weniger Gewicht als auf den Umftand, daß ich nicht den Halunfenftreich 
begangen habe, auf eine Frau einzureden, daß fie zu meinen Gunften fich 
eines Meineides jchuldig machen jolle. 

Zu dem falichen Eid, den ich geleiftet habe, war ich ohne Bedenlen 
und ohne Erwägung entichloffen; er war unmittelbar vom Gefühl und von 
dem im Gefühl wurzelnden Gewiſſen diftirt; geſchwankt habe ich nicht einen 
Augenblid. Aber auch die vernünftige Ueberlegung würde mich nicht anders 
geitimmt haben, denn ich habe jeitdem und auch während der Gefangenschaft 
feine Sekunde bereut, was ich gethan habe, jondern ich bin heute, wie damals, 
far darüber, daß ich nur al3 vollflommener Schurfe anders handeln konnte. 
Ich müßte den Mann beflagen, der anders denkt. Es ift faft ein Gemein— 
plag, daR Legalität und Meoralität fehr verjchiedene Dinge und oft im 
Streit mit einander find. Rudolf von Ihering hat den geiftreichen Verſuch 
gemacht, die zeripaltenen Gebiete der Moral auf ihre gemeinfame Wurzel, 
den Zmed, zurüdzuführen und das erftarrte „Recht“ damit im Fluß zu 
bringen. Aber was im Schriftthum jchon trivial Flingt, ift praftiich, im 
Leben des Volkes, des Staates, der Menfchheit, noch fait gänzlich ohne 
Eriftenz. Nur in religiöfen und politifhen Bewegungen wird jene Lehre 
That und Leben. Dean gejteht politifchen und religiöfen Opfern des Konfliktes 
zwifchen Legalität und Moralität die Ehre de8 Martyriums zu. Wegen 
des falfchen Eides, den ich geleiftet habe, nehme ich dieſe Ehre in Anſpruch, 
und wenn man fie mir verweigert, jo genügt e8 mir, fie mir jelbjt zuzuerfennen. 

Einjehen gelernt aber habe ich, dan es etwas Furchtbares it, wenn 
auch wider Wollen und Willen, mitfchuldig zu fein an der Trennung einer 
Mutter von ihren Kindern, daß diefe Mitjchuld ans Leben geht. 

Während der 31/, Fahre meiner Gefangenſchaft bin ich jehr demokratisch 
geworden. Für Neigungen, die ohnehin in mir lagen, war der furchtbare 
Zwang, in dem ſich mein Leben bewegte, Treibhausluft. Ich habe mich, 
wie bezeugt und aftentundig ift, mit der äußerſten Entjchloffenheit dem Zwange 
unterworfen — durchaus nicht mit Schlaffheit —, aber das Nachdenlen und 
das Gefühl floffen in einander, um mein Wefen zur Empörung gegen Zwang 
und Schablone aufzureizen. Die Wirkungen der Einjamkeit find Uner— 
fahrenen nicht zu fchildern. In mir haben fie zwei Weltanfichten zur Reife 
gebracht: die demofratifche und die fünftlerifche. Die Wirkung diefer Wirkung 
war, daß ich an fozialdemokratiichen Blättern als Mitarbeiter thätig wurde 
und daß ich einen Band Gedichte herausgab. Menschen der verfchiedeniten 
Klaſſen find mir mit der äußerften Artigfeit begegnet; eine capitis diminutio 


402 Die Zukunft. 


abzulehnen, habe ich nur jelten nöthig gehabt, obwohl ich mit offener Karte 
fpielte. Aber auch in allen Parteien, vor Allem in einem Theil der jozial- 
demofratiichen, ijt mir die offene Ablehnung begegnet, die mir lieber iſt al3 
die Forderung einer Degradation. 

Eines Tages veröffentlichte ich im der „Welt am Montag“ einen 
Aufjag über „Kriegervereine*. Weil ich nicht läppifch genug war, den Vor— 
behalt zu machen, daß es im den Sfriegervereinen fehr viele reipeftable Leute 
giebt, Hagten einige Generale, Beamte und Private gegen mich wegen Be— 
leidigung. Die Strafkammer fprad mich frei, das Reichsgericht hob das 
Urtheil auf umd ich werde mich noch einmal vor der Straflammer zu ver- 
antworten haben. Der Prozeß hatte die Folge, dak meine Strafaften an 
den Amtsvorfteher von Wilmersdorf geſchickt und ich — nachdem ich in berliner 
Bororten mehr als zwei Jahre gewohnt hatte — auf Grund eines Gejeges vom 
Jahr 1842 aus Berlin und Vororten ausgewiefen wurde. Nach biejem 
Gejeg find mit Zuchthaus beitrafte Leute ganz dem Ermefjen der Polizei 
preiögegeben, während Perfonen, die mit Gefängniß beitraft find, der Aus: 
weiſung verfallen können, wenn jie „der Sicherheit und der Moralität“ ge- 
fährlich jcheinen. Die berliner Polizei hat denn auch wegen politischer Vor— 
ftrafen Menſchen ausgerwiefen. Als mir der Ausweifungbefehlvorgelegt wurde, las 
ich in der Akte: „Schreibt für fozialdemofratifche und andere Blätter.“ Das 
Dberverwaltungsgericht hat die Verfügung beftätigt. Das alte Gefeg beiteht 
ja zu Recht, wie jo viele vormärzliche Gefege, wie nach der Meinung eines 
Juriften in Südhannover das zweihundertjährige „Gejeg“, das dem Bauern 
verbietet, ohne Erlaubnif der Regirung auf jeinem Hof einen Baum zu fällen. 

Aus zwei Gründen bin ich der Meinung, daß die hier geichilderten 
Vorgänge jeden Mann von Kopf und Herz angehen. Zunächft wegen des 
Konfliktes zwifchen gefeglicher und jittlicher Forderung. Frankreich und andere 
Kulturftaaten fennen Eide folder Art nicht; und fein Staat follte fie kennen. 
Für die fittlihe Qualität eines Menfchen ift fein Verhalten zum Strafgeſetz 
manchmal bedeutunglos, manchmal aber jogar in ganz anderer Richtung 
bedeutiam, als das PVorurtheil annimmt. Schiller hat, als er der Schau: 
bühne moralifche Aufgaben zufchrieb, Eins vor Allem von ihr erwartet: daß 
fie eine menfchlichere Anjicht von Verbrechen verbreiten werde. Ihn trieb 
zu diefer jugendlich enthufiaftifchen Regung die von Rouffeau entlehnte Ein- 
ſicht, daß der von großen Motiven zum Verbrechen Gedrängte der geborene 
tragiiche Held jei. Das Publifum, das Karl Moor beflaticht, ſpürt nicht 
die Ohrfeigen, die es felbft in dem Stück empfängt. 

Dar man aber der Polizei eines Kulturftaates im zwanzigiten Jahr— 
hundert, hunmdertundfünfzig Jahre nach Beccaria und den friminalpolitiichen 
iteratoren des achtzehnten Säfulums, erit noch jagen muß, ihre Aufiicht 


TER ETF 


Onze dappern burgers. | 403 


und ihre Ausmeifungen jeien nur geeignet, Verbrecher zır züchten: Das ijt 
beihämend. ch ertrage mein Geſchick ja am Ende. Aber ich erinnere mid) 
eines armen Mienfchen, der nach feiner Entlaffung aus der Strafanftalt voll 
Angft an den Pastor fchrieb: „Helfen Sie! Die Polizei zwingt mich, zu ſtehlen.“ 
Er war aus vielen Städten verjagt worden. Der Miniiter hatte ein Ein- 
jehen, als die Strafanitaltbehörde den Brief einſchickte. Diefes Beiſpiel ift 
nicht vereinzelt. Und wenn die Unbill, die ich leide, solchen Verfolgungen 
der Glendeiten ein Ende madt, dann will ich ein Feit feiern. 

Sollte e8 nicht Menjchen in Preußen geben, denen die gegen mich 
veranftaltete Jagd jo unjanft die Ruhe ftört, daß fie dafür jorgen, die Polizei— 
gejege der abfolutiftifchen Zeit aus dem „Recht“ eines Staates zu tilgen, 
der human und civilifirt genannt werden will? Hans Leuf. 


17 


Onze dappern burgers. 


Eins mans red ijt eine halb red; 
man jol die teyl verhören bed. 


24 der „Zukunft“ hat der Lieutenant a. D. Geng, der jest in Deutſch-Süd— 
weitafrifa weilt, das Berhalten der dappern burgers einer Kritik unter- 
worfen, die id) vernidhtender anhört als alle engliſchen Lydditbomben, Shrapnels 
und Lee Medford-Gejchojje zufammen. Ich würde dem Herrn brieflid; meine 
abweichende Meinung auseinanderjegen, wenn ich die Gemwißheit hätte, daß der 
Brief überhaupt in jeine Hände käme. Uber der englijche Cenſor in Port— 
Nolloth und die Buren um Port-Nolloth herum haben auch noch ein Wörtchen 
mitzureden. „sch wähle unter diefen Umjtänden den fürzejten Weg, um an die 
Deffentlichkeit zu treten, indem ich mir das Wort von dem Derausgeber der 
„Zukunft“ erbitte. Auch meine Rede ift nur eine halbe, macht feinen Anſpruch 
auf Unfehlbarfeit, aber jie kann doch vielleiht ergänzen. 

Zunädjt einige Einzelheiten. Bei Elandslaagte haben nicht 85 Deutiche 
mitgefämpft, jondern 50, vielleiht 52. Auch haben niemals 6000 Deutiche, 
von denen 1500 erſt herbeigeeilt famen, um mitzuftreiten, in der Burenarmee 
gefodhten, wie Gent nad „offiziellen Lijten‘ angiebt. Die Zahl ift viel zu hoch. 
Reitz, den ich, wie Jeder, der diefen Mann auch nur flüchtig gejehen hat, hoch 
ſchätze, tjt nicht „der ärmfte Beamte Transvaals‘‘, jondern er ift der bejtbezahlte 
nad Leyds. Das vereinigte Ausländercorps unter Billebois-Mtareuil, von dem 
Gentz jpricht, ijt nur ein frommer Wunſch gewejen und geblieben. Andere Kleinig— 
feiten übergehe ich, um nicht Raum zu verjchmwenden. 

Meine äugeren Schidjale find ähnlich wie die von Gent. Ich habe nadı 
Ausbruch des Krieges eine mwohlbezahlte Therlehreritelle hier in Deutſchland 
aufgegeben, bin auf eigene Koften nach Südafrika Kinübergegangen, habe auf 
eigene Koſten mitgefochten und bin nach zmeimeliger Tuphuserfranfung hierher 
zurückgekehrt, obne je einen Pfennig baaren Geldes erbalten zu haben. irgend 





404 Die Zutmft. 


einen äußeren Grund, Gutes Über die Buren zu reden und nad) der heutzutage 
beliebten Melodie Alles zum Beiten zu kehren, habe ich aljo nicht. Enttäufchungen 
habe ich auch erlebt, wie Geng. Dennoch fann ich im Großen und Ganzen nicht 
die jelben Schlüffe daraus ziehen wie er. 

Er jeßt den Ausdrud „ſtammverwandte Brüder” in Anführungjtriche 
und jegt in eine Anmerkung darunter mehrere unter den Buren vorkommende 
franzöfiiche Familiennamen, un feine gelinden Zweifel an der Stammesver: 
wandtihaft auszudrüden. Nun: man nehme nur die Rang- und Uuartierlifte 
unjerer Urmee zur Dand und man wird auch eine Menge franzöfiicher Familien— 
namen finden. Kein Wunder. Adelige Hugenotten, wahrhaftig nicht die ſchlechteſten 
lieder des franzöfifchen Wolfes, find hüben in Deutichland, drüben in Afrika 
zu gleicher Zeit Bringer und Träger einer höheren Kultur geworden, weil der 
bigotte Yudwig XIV. fie aus ihrem Paterlande trieb. Durch die Beimijchung 
diejes edeljten franzöfiichen Blutes find wir jo wenig wie die Buren jchlechtere 
Deutjche geworden. Und jeit ich die Buren von Angeficht zu Angeficht geliehen habe, 
bin ich, mehr als durch gelehrte Beweije, überzeugt, daß es wirklich jtamınver- 
wandte Bauern find, die mit dem internationalen Kapitalismus und dem britiichen 
Imperialismus um die Herrichaft in Südafrika ringen. Als ich vor zwei Jahren 
in Komatipoort die eriten Buren fennen lernte, breitichulterig, mit gleichgiltigen 
Mienen, langjam in ihren Bewegungen, ungelent in ihrer Sprache, kannte ic) 
nur erſt Yagarde und noch nicht Gobineau. Aber auch jo wurde ich der Gewih- 
heit froh, daß in Südafrika Verwandte wohnen. Welchem Sohn niederdeuticher 
Erde könnten Worte fremd vorfommen wie: Daar is lecker waater! Ons zal 
vecht tot die laatste man! Ons moet tegen die engelsche treck! Ons kan 
wacht! Wenn wir bis dahin um der Abenteuer und Gefahren willen kämpfen 
wollten: von diejem Augenblid an lebte in unſeren Derzen ein anderes Gefühl. 
Wir mußten, daß wir für die deutfche Sprache, für deutiche Frauen und für 
deutiche Kinder das Gewehr in die Hand nahmen. Ueber dieje „‚alldeutjche‘‘ 
Scwärmerei kann Jeder lächeln oder laden, jo viel er luftig ift. Mir ſchmeckt 
fie recht Bitter, jeit „Itammvermwandte‘‘ Frauen und Kinder ungerächt in den 
Konzentrationlagern verſchmachten. Ich fühle mich dem jüdafrifanischen Bauers- 
mann eher im Wejen gleich, trog all jeinen Unvolltommenheiten, ald dem englis 
ihen Gentleman im Sportanzug oder den jüdiſch-deutſch-engliſchen Ariftofraten 
wie Beit, Wernher, Vhilipps und Konſorten. 

Recht unbrüderlid haben nad) Gentzs Meinung die Buren gehandelt, 
da fie zunächſt Freiwilligen, insbejondere Offizieren, „entiprechende Stellungen“ 
veriprachen und fie nachher „unmürdig“ und „nur mit Spott und Beratung“ 
behandelten. Welche Beweije hat er für den eriten Theil jeiner Behauptungen, 
nämlid dafür, dal; die Buren Freiwillige angelocdt haben? Mic hat Niemand 
angelodt, eher abgeichredt. Mir hat Yeyds auf meine Anfrage im Oktober 1899 
jofort zurückgeſchrieben, daß die Südafrifaniiche Republik (Trausvaal) Frei— 
willige nur einſtelle, wenn fie auf eigene Koſten hinüberführen. Irgend eine 
Bezahlung, irgend eine entſprechende Stellung oder Dergleichen hat er mir nicht 
in Ausſicht geſtellt. Leyds hat ganz ehrlich und unumwunden geantwortet, nicht 
mir allein, jondern auch anderen meiner Feldzugsbekannten. Nicht einen einzigen 
Transvaalfahrer kenne ich, dem ein berufener Burenvertreter in Europa Goldene 


, * - — — L .- . — * 
ö— m 


Onze dappern burgers. 405 


Berge oder Ehrenjtellen verjproden hätte. Erſt möchte ich daher genügende 
Bemweije jehen. Um Ausländer anzuloden, haben nad) Gens Anficht die Buren das 
Bürgerrecht freigebig verliehen. Das iſt gar nichts Befonderes. Auch bei anderen 
Gelegenheiten haben die Buren Allen, die mit ihnen zu Felde lagen, das Bürger- 
recht gegeben, jo im Malobochkriege. Als Yeimruthe für Gimpel haben die 
Buren das vielumjtrittene Bürgerrecht nie angejehen. Obgleich fie alſo Keinen 
angelodt und Seinem Etwas verſprochen haben, find doch Hunderte von deutjchen 
Männern und Jünglingen binübergegangen, um für Freiheit und Recht mit 
zufechten und nebenbei etwas Neues zu jehen und zu hören. Sein Menſch wird 
es deutjchen und anderen Offizieren verdenten, wenn jie in der Front der Buren 
armee ihren Fähigkeiten entiprechende Berwendung und Gelegenheit, ihre Kriegs» 
wifjenjchaft zu bethätigen, juchten. In diefer Hoffnung bat ſich Mancher recht 
bitter getäuscht. Ich ſelbſt konnte joldhe Hoffnung nicht hegen; denn ich habe 
von meinem militäriihen Können, das über das eines fogenannten Sommer: 
lieutenants nicht hinausgeht, feine übertriebene Borftellung. Troßdem — oder 
gerade deshalb — kann ich Geng und anderen früheren aktiven Offizieren, die mehr 
militäriiche Fähigkeiten und Stenntniffe haben als ich, ihre bittere Stimmung 
nachfühlen. Sie hatten ein gutes Necht, ärgerlich zu fein. 

Aber ein unbefangener Lejer wird, glaube id, aus den Ausführungen 
Gentzs kaum herauslejen, weshalb man die europätichen Offiziere nicht auch bei 
den Buren als Offiziere anftellte. Die Hauptſache erwähnt er nicht. Weder 
Lends noh Ohm Paul oder Steijn, weder Joubert noch Dewet konnten einen 
Burenfommandanten ernennen; denn geſetzlich jtand ja den Bürgern eines 
Kommandos die Wahl ihrer Vorgejegten frei. Einem ihnen vorgejegten, nicht 
gewählten Führer hätten die Bürger überhaupt nicht gehorht. Zur Artillerie, 
die bezahlt und nad) europäiſchem Borbilde organifirt war, konnte Steijn wohl 
diefen oder jenen europäilchen Offizier ſchicken. Weiter aber reichte aud) feine 
Amtsgewalt nicht. 

Im Verlauf des Krieges wußten übrigens. doch manche Deutiche ihre 
Perſon zur Geltung zu bringen. Eben der von Gent erwähnte Oberft von Braun, 
der zunächſt als gemwöhnlicher ‚Freiwilliger Kriegsdienſte that, hat an den ver- 
trauteiten Verhandlungen des Kriegsrathes vor Yadyjmith theilgenommen. Andere 
Deutſche haben ald Kommandanten von Nusländercorps und als Wrtillerie: 
offiziere von ji reden gemacht oder find jonft mehrfach hervorgetreten. Kom— 
mandant Banfes, der außer Deutjchen Buren unter ſich hatte, hatte jicher mehr 
Einfluß als ein Durchſchnittskommandant bei den Buren. Andere, zumal jüngere 
Offiziere, die in beitem Anſehen bei ihren Kameraden jtanden, haben leider 
weniger Gelegenheit gehabt, jich als Führer zu zeigen. Bauernſtolz, beredhtigter 
und unberechtigter, den der Bauer Südafrikas mit den Bauern der ganzen Welt 
gemein hat, war zum guten Theile mit Schuld. Aber andere Umſtände, die 
Gentz nicht genügend hervorhebt, möchte ich für eben jo wichtig oder noch wichtiger 
halten. Erjtens mußte ſich doch jeder Europäer erjt auf den Ebenen und zwiſchen 
den Kopjes zurechtfinden, fi) in die Anjchauungen der Afrikaner bineindenken, 
ihre Sprache und ihren Umgangston beherrichen lernen, ehe er als Führer her- 
vortreten konnte. Alles Lernen aber foftet Zeit. Ungünſtiger noch wirkte ein 


. 


zweiter Umstand. Es muß gerade den beiten Offizieren übel zu Muth geivorden 


406 Die Zuhmit. 


ſein, wenn jie fich die Yeute anjahen, die ſich wie künftige Beherricher des Ver— 
einigten Südafrifas vorfamen und Dem gemäß gebahrten. Wie unjagbar 
lächerlich machte ji da eine Geſtalt, die in der bunteften Uniform einherftolzirte, 
jo daß qutgläubige Menſchen auf den Gedanken fommen konnten, das Deutſche 
Reid habe diejen Pfau als Militär-Attahe Hinübergeihidt! Natürlich hatte 
diejer Held, der wohl faum mal eine Kugel pfeifen hörte, in Deutjchland nie— 
mals die Epauletten getragen, Solche Leute machten fich nicht nur lächerlich, 
fondern erregten Argwohn. Mande Transvaalfahrer traten jo merkwürdig auf, 
daß jie ſchon ihren Mitreijenden wie „Spione“ vorfamen. Jeder von uns 
hat wohl mindejtens ein paar joldhe merkwürdige Menſchen fenuen gelernt. 
Kann man den Buren verdenfen, wenn fie ſolche Leute beobachteten? Und 
ift es verwunderlich, wenn fie gegen diefen oder jenen Fremdling mißtrauijch 
waren? Gewiß konnte Gen wüthend werden, als er erfuhr, dab ihn ein 
Detektiv eine Zeit lang beobachtet hatte. Aber er wird felbit zugeitehen, daß 
es unter den Ausländern allerlei recht verdäditige Vtenjchen gab. Wer lehrte die 
Buren aber das Echte vom Falſchen ſcheiden? Außerlid konnte mar Geſchäfts— 
menjchen und Maulhelden und Kampfmenjchen und Betrüger nicht von einander 
untericheiden. Nach dem Gefecht wuhten aber die Männer, die die Pferde in 
der Dedung gehalten hatten, oft die beiten Generalideen und Spezialideen an— 
zugeben. Und dieje guten Hathichläge waren mandımal gar nicht billig. Das 
Rechnungbuch des Transvaal- Hotels in Pretoria weiß zu erzählen, wie einige 
Leute auch im unbekannte Lande zu leben wuhten, — auf often Anderer. Wer 
einmal bei Schiel nachgeleien bat, wie er die Ausländer mit wenigen Aus» 
nahmen jchildert, Der wird ganz verjtändlich finden, da die Buren zu . 
wenigjtens dem Fremden mißtrauisch gegenüberjtanden. . 

Leider fehlte es ja aud) nicht an harmlojen und ernithaften Zwiichenfällen, 
die immer wieder zu allerlei Streit und Zanf zwiſchen Ausländern und Buren 
Anlaß gaben. Da ſchießt ein Deutjcher einen Springbod, der von einem Farmer 
unter Zeter und Mordio als. Eigenthun zurüdgefordert wird, alldieweil beiagter 
Springbod ein ganz gewöhnlicher Haus: und Stalljiegenbod war. Oder ein 
Deuticher tränft jein Roß an einer Waſſerſtelle, die für die Trinkbedürfniſſe 
der Menſchen bejtimmt it; oder ein anderer wäſcht jeine Kleider da, wo die 
Bferde getränft werden jollen. Und nicht nur über die Yagerordnung war man 
verjchiedener Anficht. Niemals bin ich flar darüber geworden, warum die Buren 
gern „Heil Dir im Siegerkranz!“ hörten, höchſt ungern aber „Deutſchland, 
Deutichland über Alles.‘ Man follte doch meinen, daß fie als echte Republi— 
faner nicht unjerer Kaiſerhymne den Vorrang geben müßten. Und doc war es 
jo. Und weld ein Unterichied der Lebensauffaſſung klaffte auf, wenn hier die 
Bußpſalmen zum Himmel um Gnade flehten, während fünfzig Schritte davon 
ſtürmiſch herausfordernd und wild die Marſeillgiſe erflang! Daß Buren gern 
die „Wacht am Rhein“ hörten oder mitjangen, habe ich oft erlebt; daß mir 
ihren Bialmen gleihe Aufmerkſamkeit erwieſen hätten, wird einer von uns 
Dentichen behaupten. Wie vorfihtig mug man anderen Menjchen gegenüber 
fein, wenn man die Anschauungen, die ihnen heilig find, nicht verlegen will! 
Ich sehe noch heute das Geſicht des ehrlichen Staatsjefretärs Neik vor mir, 
mie es zornig erröthete, als ein früherer deuticher Offizier entrüſtet die Zu— 


. Pot Coca, 


An a πα 


Onze dappern burgers. 407 


muthung von fich wies, ein Gewehr in die Hand zu nehmen. Ich wollte meinen 
Landsmann daran erinnern, daß ja aud Scharnhorjt bei Auerftädt zum Gewehr 
gegriffen hat, behielt aber wohlweislich dieje Bemerkung für mid). Beute weiß 
Jener eine Schußwaffe fiher bejjer zu werthen als früher. Vielleicht denkt er 
auch daran, daß Dewet und Steijn fi) nicht für zu hoch hielten, jelbit das 
Gewehr in die Hand zu nehmen. Verſchiedene KHulturjtufen bedingen eben ver- 
ſchiedene Lebensauffaſſungen. Doch Das nebenbei. Der nächſte Krieg wird aud) 
unjere Stavallerie, die ihre blanke Waffe für ritterlicher hält als die Schußwaffe 
der Infanterie, ficher recht häufig als berittene Infanterie ericheinen laſſen. 

Nicht glüdlich verfährt Genk, wenn er Bur und Holländer in eine Gleihung 
jegt. Der Bur jelbjt konnte recht aufgebracht werden, wenn man ihn für einen 
Holländer hielt. Er fühlte fid) als ganz anderen Menſchen. Gentz kann daher 
das von ihm angezogene thörichte Urtheil eines holländiſchen Arztes nicht als 
für die Buren fennzeichnend anführen. Auch die Yeitungfchreiber der Volksstem 
waren feine Buren, jondern Holländer. Es ijt ja einfach wahr, daß der Bericht 
des genannten Blattes über die Niederlage bei Elandslaagte die frivole Sage 
anflommen ließ, die Deutjchen hätten dieſe Schlappe verſchuldet. Eine fpäter 
vom Dr. Ballentin eingefandte Berichtigung iſt kaum beachtet worden. Aber 
eben jo frivol ijt die Sage, die Buren hätten die Deutichen „ſchmählich im Stich 
gelaſſen“. Gent hat diefe Sage nicht erfunden, aber er mußte fie unterjuchen, 
ehe er jie weitergab. Der Gedanke, noch einmal eine Daritellung der Schlacht 
zu geben, widert mich an. Ich weile nur darauf bin, daß die Buren in jener 
Schlacht recht harte Verlufte gehabt haben, eben jo wie die Deutjchen. Beide 
haben tapfer und unglüdlich gekämpft, aber nicht wie Verräther. 

Irrig ift auch, was Gentz über die Ausplünderung der Yeiche des Herrn 
von Brüfewig, der und bejonders Heilig iſt, berichtet. Iihatjächlich hat ein Bur 
die Yeiche geplündert, it aber nachher gezwungen worden, die Werthjachen wieder 
herauszugeben. Solche vereinzelte Fälle von Diebjtahl und Yeichenraub werden 
von der Mehrheit der Buren genau jo be» und verurtheilt wie in jeder anjtändigen 
Geſellſchaft. Aus Gengens Sägen könnten unkritiſche oder überkritifche Leſer 
herauslefen, die Buren hätten im Allgemeinen deutſche und engliiche Gefallene 
ausgeplündert, und nur ihre eigenen Toten nicht. Dem gegenüber bemerfe ich, 
daß id) auf den Photographien des Yeichenfeldes auf dem Spionsfop nicht die 
Zeichen an den Toten entdeden kann, die nach der Anficht meines Vorredners 
Zeugniß von allgemeiner Veichenräuberei ablegen jollen. Dergleihen ift mir 
auch undenkbar, wenn ich aus den Berichten von Waffenbrüdern, die am Spionskop 
mitgefochten haben, und aus meinen eigenen Erfahrungen einen Schluß ziehen 
darf. Ich Habe auf den Gefechtsfeldern des Staplandes und im Freiſtaat, wo 
ich mitgefochten habe, jtets nur beobadtet, daß die Buren vor unjeren Toten 
die felbe Ehrfurcht hatten wie vor ihren. 

Gentz erging es nad) der Einnahme von Pretoria ſchlecht. Er wurde ins 
Gefängniß geiperrt, wo er von Gefängnigwärtern, die aus transvaaliihem in 
englijhen Dienjt getreten waren, jchlecht behandelt wurde. Bei einer Gelegen- 
heit denungzirte ihn jogar ein mitgefangener junger Bur. Ja, es iſt eine traurige 
nadte Wahrheit, daß es unter den Buren Verräther gegeben hat. Die aber 
haben nicht nur Deutiche, ſondern auch Buren verrathen. Ich kann hinzufügen, 


30 


408 Die Zukunft. 


daß nad) der Einnahme von Johannesburg auch Deutjche in den Verdacht famen, 
den Engländern als Spione zu dienen. Nun: dieſe Verräther werden nicht 
nur Buren, jondern auch Deutiche verrathen haben. 

Dann erzählt Geng, die Buren hätten das deutjche Corps unter Rund 
ichlecht beritten gemacht, jo daß es unfreiwillig während des Rückzuges durd) 
den Frreiftaat zurüdbleiben und jo beftändig die Arrieregarde der flüchtenden 
Buren bilden mußte. Als Rund das Kommando von Brall, unter dem id 
gedient habe, übernahm, lag ich, ihon im Hoſpital. Aber die Verfiherung kann 
ich geben, daß Runds Corps nicht etwa jchlecht beritten gemacht wurde, weil 
es nur aus Deutjchen beitand. Als ich jelbjt mit vier oder fünf Fahrtgenofjen 
Pferde ausjuchte, wurden uns dreißig vorgeführt, unter denen wir bie Wahl 
hatten. Mit der Hilfe eines pferdefundigen Buren gelangte ich zu einem tadel- 
loſen Thiere, das mir vorzügliche Dienfte geleiftet bat. Des tapferen Runds 
Ruhm iſt nicht etwa durch Schlechte Beichaffenheit feiner Pferde bedingt. Er wird 
nicht behaupten, daß die Buren ihm abfichtlich jchlechte Pferde geliefert Haben. 

Nur augenblidlihe Berbitterung kann Gent die Behauptung ausjprechen 
lafjen, daß; die Buren „die Opfer an Leben und Freiheit, die jo viele Männer 
ihnen brachten, hier in Afrifa nur mit Spott und Verachtung belohnt haben.“ 
Das Verhalten des deutſchen Korps in den capländiichen Gefechten (Januar 
und Februar 1900) wurde wiederholt in den Depeſchen ehrend hervorgehoben. 
General Grobeler hat öfter als einmal uns feine Anerkennung ausgeſprochen. 
Uehnliches berichten Seiner und Schiel. Insbeſondere habe ich häufig erlebt, 
daß die Buren uns ihrer Theilnahme für die gefallenen dappern duitsen 
broers verficherten. Noch im Hoſpital wurde ich immer wieder nad dem 
Grafen Zeppelin, Schmig-Dumont und Brüfewig gefragt. Hat Geng einmal 
die Buren über den Major von Dalwig „nur mit Spott und Verachtung“ 
Iprehen hören? Haben nicht die Burenfommandos jeden ehrlichen Deutichen, 
der in ihrem Verbande focht, fameradichaftlich behandelt? Schade, da wir uns 
nicht früh genug entſchließen konnten, uns einfach unter fie zu miſchen. Durd) 
unjere Abjonderung in Fremdenabtheilungen erregten wir leicht den DBerdacht, 
daß wir uns doc für etwas Beſſeres hielten. 

Ich begreife, daß Gen als früherer Offizier die Zuftände in der Buren- 
armee „unglaublich“ findet; er legt eben den Maßſtab europäiſcher Verhältniſſe 
an fie. Dieſes Berfahren it aber nicht gerecht. Man faun nicht die großen 
und die Eleinen „Klumpen Menjchen“ mit unferen Bataillonen, die ungedienten 
jehzehnjährigen und jechzigjährigen „Bürger“ mit unjeren Soldaten vergleichen, 
ihre gewählten Kommandanten und Generale, die nie ein Compagniekloppen 
oder Liebesmahl gejehen, geichweige denn mitgemacht haben, ‘mit unjeren Offi- 
zieren. Die Nachwelt wird es einfach unglaublich finden, daß trogdem das une 
geſchulte Bauernaufgebot einer überlegenen europäijhen Armee fih durdhaus 
gewacjen zeigte. Wenn die Kriegführung große Mängel hatte, wenn nicht alle 
Kämpfer Eriegerifchen Geiſt bewiejen, jo darf man diefe Erjcheinungen nicht ein- 
fach mit „Feigheit“ oder „kläglichem Benehmen“ erflären. Man ftelle die Bauern- 
Ichaft irgend eines unſerer Dörfer vor eine Aufgabe, wie fie der Sturm auf 
den Spionsfop war, und man wird Etwas erleben, das nur Der unglaublic 
finden fann, der in der Wölferpjuchologie und in der Striegsgeichichte nicht die 


Nationale Geſchäfte. 409 


richtigen Seiten gelefen hat. Ich denke als guter Deuticher viel zu hoch von 
unferer auf Jahrhunderte langer Ueberlieferung beruhenden Heeresorganijation 
und Disziplin, als da ich fie bei Bauern ſuchen konnte, die weder einen Alten 
Fritz noch einen Blücher oder Moltke gehabt haben. 

Trog Alledem haben unfere füdafrifanifchen Brüder recht tüchtige Leiſtungen 
aufzumeijen, zum Beifpiel gerade den Sturm auf den Spionskop. Gent ſelbſt läßt 
den Lejer fühlen, wie ſchwer es für die „jehr dünne Burenlinie“ war, ben über- 
mächtigen Feind vom Berg hinunterzuwerfen. Troß dem Mangel an Zufammen- 
hang fanden fich jo viele einzelne brave Menjchen, daß fie den Engländern bis 
auf nahe und nächte Entfernungen fich entgegenwerfen und fie, unterftüßt durd) die 
vorzügliche Artillerie, niederfämpfen konnten. Die Artillerie und die Polizei- 
truppen der Buren halten fiher einen Vergleich mir jeder organifirten euro» 
päilhen Truppe aus. Die aufgebotenen Kommandos haben zum Theil wenig, 
zum anderen über Erwarten viel geleiftet, im Durchſchnitt mehr, als man von 


undisziplinirten Truppen verlangen kann. Wie follte man fi auch den zähen 


Widerjtand der legten Burenhäuflein erklären, wenn man "ie, wie Gentz, aus 
feigen, kläglichen ®efellen bejtehen läßt? 

Ich will ganz aufrichtig geftehen, welche beiden Fragen mich beivegten, 
als ich die Küfte Südafrikas betrat. Die eine lautete: Befteht wirklich eine 
Armee „meilt aus indolenten Menjchen”, wie der große Friedrich gefagt hat? 
Und die zweiter Wird diejes Nolf, das ein Jahrhundert hindurch umhergehett 
ift in der Wildniß, das ohne Pastor und Gejeggeber und Lehrer zwiichen Wilden 
vereinzelt umberfigt, nicht jelbjt verwildert fein? Und id; fand ein Volk, bis zur 
Weichheit friedfertig, an dem alle FFriedensfreunde und Freundinnen ihre Freude 
hätten, das den Krieg ald Sünde verabfcheut, — und doch feine Freiheit liebt. 
Und unter den Bauerfitteln entdeckte ich nicht nur indolente Menſchen, ſondern 
Heldennaturen, die auch dem Zaghaften ihren Fenergeift einhauden. Das fam 
mir nicht felbftverftändlich vor, jondern gab mir Näthfel auf, die mir noch fein 
Bud, das ich las, gelöft hat. Eins nur weiß ich: daß ich unter unferen 
jüdafritanifhen Bauern den Lebensmuth un? die Lebensfreude, die mir bier 
verloren zu gehen drobten, neu gefeitigt habe. 


Jever. Franz Henkel 


1,7 
Nationale Gefchäfte. 


8: der Generalverfammlung der Hamburg-Amerika-Linie erfchien Herr 
7, Dr. Diederidd Hahn, der Direktor des Bundes der Landwirthe, und ſtand 
feinem jo oft gejcholtenen Gegner, dem Juden Ballin, gegenüber. Herr Hahn 
fam, jah und .. ., ja, ich kann mir nicht helfen: mir fcheint, er blamirte fich. 
Auf eine lange Rede voll anerfennenswerth objektiver ragen antwortete Herr 
Generaldirektor Ballin mit lauter nichtsjagenden Redensarten und Herr Dr. Hahn 
erflärte ſich Schließlich für überzeugt und forderte, gerührt von folder Wahrung 
nationaler Intereſſen, die einjtimmige Annahme der Statutenänderung und die 
Sanftion des mit Morgan gejchlojjenen Bertrages. 


30* 


410 Die Zukunft. 


Ich habe hier ſchon ausführlich über den Ogeantruft gejprochen, der, wenn 
nicht aller Vorausſicht nad inzwijchen der amerikaniſche Krach käme, geeignet 
wäre, Deutſchlands wirthichaftliche Kraft in Fefleln zu fchlagen. Herr Dr. Hahn 
ging mit den jelben Bedenken in die Berfammlung; und wenn ich aud) feiner 
politif den und wirthichaftlihen Anjhauung fremd und feindlid gefinnt bin, jo 
kann mir doch nicht einfallen, ihm das Lob dafür vorzuenthalten, daß er, als 
ein Ginzelner, fich in das Lager der Seefhwärmer gewagt und ihnen feine Be- 
fürchtungen offen ins Geficht gefagt hat. Die nad) Hamburg berufenen Aktionäre 
und Auffihträthe jchießen, hauen und ftechen freilich nicht; das Trampeln und 
Schreien iſt ihre einzige Waffe, die fie nad den Verfammlungberichten denn 
auch fleißig gebraucht zu haben fcheinen. Wenn das Wort „nationales Inter— 
eſſe“ fiel, dann johlte der Chor; und als gefragt wurde, ob denn die Gejellichaft 
fih vor dem Vertragsabſchluß aud mit der Negirung ind Einvernehmen geſetzt 
habe, wurde gerufen: „Das ijt uns gleichgiltig!" Die Aktionäre jehen in dem 
Truftvertrag eben ein gutes, einträgliches Geſchäft; und in folder Stimmung 
pflegen Kapitalijten das nationale Intereſſe billig zu geben. 

Allerdings darf man fragen, was Herr Hahn unter nationalem Intereſſe 
veriteht. Billige Volksernährung wünſcht er nicht und für den Erporthandel 
braucht er nicht zu forgen. Der Gegenfaß der Herren Ballin und, Hahn ijt 
nicht damit erflärt, daß der Erjte Nude, der Zweite arifcher Chrift ift. Herr 
Ballin ift freihändleriich hanſeatiſcher Mhedereidireftor, dein der Schußzoll die 
Rückfrachten, aljo den Verdienſt jchmälert. Herrn Hahn aber ijt wohl nicht 
nur die Sriegdmarine, jondern auch das bunte Gewimmel der Kauffahrteiichiffe 
„gräßlich.“ Nicht die Möglichkeit erhöhter Frachtpreiſe von Europa nad) Amerika 
ängftigt ihn, jondern die andere: daß die Mankees in ihrer neuen Machtftellung 
die Frachtpreiſe nad) Europa künftig wejentlich herabjegen fönnen. Das war das 
nationale Intereſſe, das er vertreten zu müſſen glaubte. 

Nach dem Auftreten des Herrn Hahn, der doch fiher im Einverſtändniß 
mit den Übrigen Beherridern des Bundes der Yandwirthe gehandelt hat, muß 
man annehmen, daß die Interpellation des Grafen Kanitz nicht zur Berhand- 
lung kommen wird. Denn dem Grafen könnte ja einfad) geantwortet werden, 
der Bundesdireftor jelbjt habe dem Ogeantruft feierlich zugeltimmt. Man fragt 
ſich umwillfürlic, was die Ugrarier bewogen haben fönne, ihr Urtheil über den 
Truſt plöglich zu ändern. Die Gefahr einer weiteren VBerbilligung der Getreide 
fradhten ift vorhanden und man könnte es den für ihre Eriftenz Kämpfenden 
nicht verdenfen, wenn fie ji zur Wehr jegten. Zwar jteht im Vertrage, „vor 
läufig“ folle nur die Perſonenfracht vom Truſt geregelt werden. Das aber ift 
nur ein Troſtſprüchlein für ängjtlide Seelen. Und von dem Wunſch, den von 
unjerer Yatifundiemvirtbichaft übers Meer getriebenen Uuswanderern die Fahrt 
zu vertheuern, werden die Agrarier ſich doch wohl nicht leiten lajjen. 

Die Ihatfache, daß der Bund der Yandwirthe durch feinen Direktor mit 
Herrn Ballin Frieden geſchloſſen hat, müßte am Meijten eigentlich unjere 
Liberalen erfreuen. Die AUgrarier greifen jelbit die vernünftigften Maßregeln 
der Yihedereidireftoren an, weil fie von politiichen Gegnern ftammen; und bie 
Liberalen gehen mit Herrn Ballin durch Did und Dünn, weil er im Handels— 
vertragsverein eine große Rolle jpielt. Dur ſolche Momente wird heute ja 





EEE GEHT TE EHE VER 


Nationale Geſchäfte. 411 


leider das politifche Urtheil in Deutichland bejtimmt. Wenn dem Gegner ein 
Schlag verſetzt wird, opfern die Liberalen Würde und Klugheit; wie jubelten 
fie, als die fonjervativen Landräthe für ihre Abjtimmung beftraft wurden! Die 
jelbe Dummheit wiederholt fi jetzt. Faſt die ganze liberale Preſſe jchilt Herrn 
Diederih Hahn, weil er in einer Aktionärverfammlung aufzutreten gewagt hat. 
Der mandefterlihen Anſchauung ijt es eben ein Gräuel, dab Jemand ſich er- 
dreijtet, mit dem Hinweis auf allgemeine Intereſſen ſich in die Gejchäfte der 
Aktionäre zu miſchen. Trotz dem Gezeter wird diefer Brauch fi) aber ein— 
bürgern. Die Arbeiterihaft hat damit begonnen, die Yohnfragen vor das Forum 
der Aktionäre zu tragen; mit Recht: denn in diefen Berfammlungen figen Männer, 
deren Wort in ſolchen Fragen getwichtiger it als das von Miniftern und Staats- 
jefretären, die morgen vielleicht ſchon ins Scattenreich ſinken. 

Daß Herr Hahn gegen den Trujt auftrat, wird getadelt, nicht aber, daß 
er fi mit leeren Redensarten abjpeijen ließ. Als er darauf hinwies, daß die 
amerifanijhen Schiffe, denen der Vertrag die deutjchen Häfen fperrt, doch nad) 
Belgien fommen dürfen, erwiderte Herr Ballin von oben herab, feit elf Jahren 
ihon bejtehe eine Konvention, wonad) belgischen und holländifchen Schiffen der 
Verkehr mit ihrer Heimath rejervirt fei. Aber Herr Hahn fragte nicht — und 
Herr Ballin brauchte deshalb auch nicht darauf zu antworten —, ob denn die 
Berhältnifje nicht völlig verändert feien, jeit die große Holland-Amerifalinie den 
Amerilanern gehört. Eben jo wenig wurde gefragt, im Beſitz welcher Leute 
denn eigentlich die Aktien der beigifchen White-Cross-Line jeien. In einem 
Punft waren die feindlihen Brüder von vorn herein wundervoll einig: im der 
Freude darüber, daß in dem Truſt nicht die Engländer, fondern die Amerikaner 
die Führung haben. Es jcheint einen großen Unterichied auszumachen, von wen 
man bewuchert wird: nur jüdiicher und britiſcher Wucher iſt unerträglid). 

In unjerer liberalen Preffe aber berricht Aubeljtimmung. Herr Ballin, 
heißt es, ift ein großer Mann und die nationale Unabhängigkeit der deutjchen 
Geſellſchaften ift in vollem Umfang gewahrt. Daß ich anderer Anficht bin, habe 
ih ſchon gejagt. Doch ſchließlich find darüber verſchiedene Anjchauungen möglich. 
Einig aber jollte man in dem Zugeſtändniß jein, da die Widerjtandskraft der 
deutjchen Geſellſchaften durch die Staatsfubvention weſentlich geftärkt worden tft. Das 
wurde in den Times gejagt, die deshalb von unferer Preſſe heftig angegriffen werden, 
Die Redakteure der Times find überdeutiche Berhältniffe Schlecht unterrichtet und ihrer 
Antipathie gegen Deutſchland fehlt jeder feite Boden. Auch der Artikel über den 
Anſchluß der deutichen Gefellichaften an den Truft enthielt Irrthümer; die englifchen 
Nedakteure jcheinen zu glauben, die deutiche Regirung jei Theilhaberin des Lloyd 
und der Hamburg: Amerika :Yinte. Dieje Fehler griff unjere Preſſe eifrig auf. 
Im Schulmeijterton wurde den Engländern auseinandergejeßt, das Deutſche 
Reich ſei nicht Theilhaber der Sefellfchaften, die aud) für den Verkehr mit Amerika 
feine Subventionen empfangen, und die Poftvergütung ſei nicht größer als die 
von England jeiner Dandelsflotte gewährte. Doc kommt cs gar nicht darauf an, 
für welde Linie eine Staatsjubvention gewährt wird; wenn das eich die 
Nhedereien trafen wollte, konnte es ihnen ja die Subventionen für die oſt— 
afiatifhen Linien verringern. Man braucht nicht immer an dem Glied gejtraft 

‚ zu werben, mit dem man gejündigt hat. Ganz richtig Jagen aber Times und 


412 Die Zutunft. 


andere englifche Blätter, die Furcht, von den Amerikanern verfchlungen zu werben, 
habe die deutſchen Gefellichaften zum Anſchluß beftimmt. Man ftandb eben vor 
der Wahl zwifchen zwei Uebeln, von denen auch der Regirung der Truftvertrag 
das Kleinere ſchien. Zu nationalem Hochmuth liegt hier alfo feine Beranlafjung vor. 

Die alte Taktik, die Schwäche der Pofition mit nationalen Phrajen zu 
bemänteln, eine Taktik, zu der jelbft die Yiberalften der Liberalen ſich jegt ent- 
ihlojfen haben, zeigt ſich auch auf einem anderen Gebiet: bei der Behandlung 
des Boykottverſuches, den polnifche und ruffiihe gegen deutiche Firmen jeit den 
Tagen von Wreichen ımternommen haben. Anfangs hatte man für dieſen Ver- 
ſuch nur Hohn und Spott; und ald die Sade dann ernjt wurde, ging man zu 
wüſtem Schimpfen über. Die Polen, die das nationale Intereſſe trieb, ihre Waaren 
anderswo theurer als in Deutichland zu kaufen, wurden von den jelben Kulis 
geichmäht, die fonft nicht laut genug von den auf dem Altar des Baterlandes 
zu bringenden Opfern zu reden wijjen. Natürlich fehlten unter den begeifterten 
Polen auch die Krapülinski und Waſchlappski nicht ; zu ihnen ift der warſchauer 
Kunde zu zählen, der auf eine Mahnung antwortete, er habe jeden Verkehr mit 
Deutihland abgebrochen und könne, nur um Rechnungen zu bezahlen, von feinen 
heiligiten Grundjägen leider nicht abweichen. In den meiften Fällen aber 
handelte es jih um eine durchaus ernite Kundgebung. Die deutichen Geſchäfts— 
leute wiſſen ein traurige Lied davon zu fingen. 

Ich hätte diefe Sache heute nicht noch einmal erwähnt, wenn ein neuer 
Vorgang fie nicht wieder ins Gedächtniß gerufen hätte. In der Rheiniſch-Weſt— 
fälifchen Zeitung ift ein Schreiben veröffentlicht worden, das die Bleiftift-Aftien- 
gejellihaft Kohann Faber in Nürnberg an Kaufleute in Ruſſiſch-Polen gerichtet 
bat. Darin wird ausführlich auseinandergejegt, daß die jtaatsrechtlichen Ver— 
hältnifje des Deutichen Neiches, deſſen Bundesjtaaten jelbjtändig find, Bayern 
nicht gejtatten, fih in Preußens Polenpolitif einzumiichen, daß es deshalb aber 
aud ungerecht jei, alle deutichen Staaten zu boykottiren. Am Schluß des Briefes 
heißt es: „Die polnifche Preffe wäre daher darauf hinzuweiſen, einen Unter- 
ſchied zwiſchen Antipreußiſch und Untibayerifh zu machen, damit nicht jolche 
Betriebe in Mitleidenschaft gezogen werden, die fih um Politik nicht fümmern, 
fondern nur darauf ausgehen, ihre Abnehmer coulant und folid zu bedienen.“ 
Kun mag e8 ja Mancen ärgern, daß hier dem Ausland ein tiefer Blid in die 
herrliche Einheit des Deutjchen Reiches gewährt wird; und jehr taftvoll fann 
ih das Werfahren der Firma Faber nicht finden. Aber es ift leider nur zu 
verftändlih. Denn unfere neuere Politik ift nicht jelten nur dazu angethan, 
den deutjchen Kaufleuten das Gejchäft zu verderben. Und oft genug wird diefe 
Schädigung nicht von der Rückſicht auf die nationale Wehrfähigkeit, jondern von 
perjönlihen Wallungen herbeigeführt. Daß da ſchließlich den Bartifulariften, 
die außer mit nenen Steuern auch nod mit Gejchäftsverluften zahlen jollen, 
die Galle überläuft, kann man ihnen nicht übel nehmen. Es ift auch fein Unglüd. 
wenn einmal offenbar wird, welche Berlufte die nutzloſe Chikanirung der Polen 
ung bringt. An diejen Verluften ift die vom Weltmachttaumel ergriffene liberale 
Preſſe mitjchuldig, — die Preſſe der Gejchäftsleute. Das ift der Humor davon, 

Plutus. 











— 


Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: M. Harden in Berlin. — Berlag der Zufmft in Berlin, 
Drud von Albert Damde in Berlin-Schöneberg. 








Nm 


. - - . wem * ee — —— — — 
7 —— RE al 2 ZN Sog pe A—— T - , x 


Pr — 


u (ul en re Muss als e er W Br 
32 lan »- er, . 3 \ — RG BE 
N Pi — — * N Par, U’ IR 

7 5 


Fam 


r KL r Pi x 
le STR —— N A⸗ - > 
File "IS a LT a S Rs, 


N 
9 u, ji un 
If a ha! a A KON Kan Aal -] 





Berlin, den 14. Juni 1902. 
F 8 Ei Se, 


Die Buren. 


SS Worte werden im neuen Deutjchland jo oft bei winzigitem Anlaß 
gebraucht, daß der Nüchterne ſich beinahe ſchon ſchämt, pathetiſch zu 
reden. Dennocd muß Großbritaniens Sieg über die beiden ſüdafrikaniſchen 
Republifen ein weltgejchichtliches Ereigniß genannt werden. Das Reich des 
Königs und Kaijers Eduard ift das größte, von dem die uns befannte Hi- 
ftorie je Kunde brachte; es ift dreimal größer als Europa, umfaßt den fünften 
Theil der Erdoberfläche und zählt ein Viertel der Menjchheit zu feinen Bür- 
gern. Naher Verfall ward ihm längjt vorausgejagt. Nun hate, in ein paar 
Jahren, das Rieſengebiet de8 Sudans erobert, das jeine Herrichaft über 
Egypten für unabjehbare Zeitdauer verbürgt, und die an Bodenjchägen un- 
ermeßlich reichen Yänder der Südafrikaniſchen Nepublif und des Dranje- 
reiftaates, deren Flächenumfang nicht viel Heiner ift als der des Deutſchen 
Reiches, als Kolonien jeinem Befig einverleibt. Der Wunſch Cecils Rhodes, 
von Capetown bis Kairo den Union Yad flattern zu jehen, iſt fat jchon 
erfüllt. Dieje Machtftellung fcheint den Briten, die nie unter der Be: 
jcheidenheit der Yumpen litten, nur der Ausdruck eines ihren politischen 
Tugenden gebührenden Erfolges. Was Auguftinus von den Römern 
jagte, jagt oder denft jeder echte Sohn Albions vondem Weltreich der Briten: 
die Vorſehung habe fie zur Herrichaft über der Menſchen Gefchlechter bes 
rufen, um ihrehohe Weisheit, ihre unbeirrte Beharrlichkeit und ftraffe Selbit- 
zucht zu belohnen. Ein jo ſtarkes und ſtolzes Herrenvolf, dem die Imperial 
31 


414 Die Zukunft. 


Federation League und die Borfämpfer des Greater Britain neue Ziele 
gezeigt hatten, konnte den zähen Widerftand eines Heinen, nad den Begriffen 
unferer Induſtriekultur reaktionären Bauernftammes nicht gelaffen hin— 
nehmen, nicht um die jungen Burenftaaten einen Bogen machen und ſich 
mit der Thatfache abfinden, daß in diefer bäuerifchen Oligarchie der Eng- 
länder, der ihren Wohljtand gejchaffen hat, ein Bürger zweiter Klaffe ift. 

... Doch nicht von den Siegern jollte hier heute gefprochen werden, jon= 
dern von den Befiegten. Die Kornburen, Weinburen, VBiehburen, Trel- 
buren hatten ruhig, nad) der Väter Weife, gelebt, bis im Schoß der von ihnen 
in langem Kampfden Kaffern abgerungenen Erde Goldſchätze gefunden wur- 
den und eine Induſtrie entitand, die den Mutterboden der engliichen Gentry 
umpflügteundaufdieWährungpolitif, auf die Beſitzverhältniſſe und die ſoziale 
Schichtung der größten Reiche revolutionirend wirkte. Die Buren nützten den 
neuen Geſchäftsvortheil klug und ohneUebermuth aus; für die induſtrielle Leit— 
ung und Arbeit waren fie nicht gerüſtet, mochten von moderner Entwickelung 
und folchem Teufelszeug in ihrem frommen Paganenthum auch nicht3 hören, 
freuten ſich aber der überalfes Erwarten großen Geldjummen, die jie oft für 
ein Stüd Yand einftreichen fonnten. So, dachten fie, könne e8 weitergehen: 
fie würden reich werden und dennoch die alte Sitte bewahren. Zäh wehrten 
fie fic) gegen die Zumuthung, die in anderen Ländern gejcheiterten Erxiftenzen 
in ihre Gemeinschaft aufzunehmen, Spekulanten und Spielern Bürgerrecht 
und Bürgerehrezugönnen. Siewollten für fich bleiben, aus der neumodiſchen 
Wandlung nur den Profit ziehen und das dumpfe Bauernmißtrauen 
nicht opfern, das in dem Fremden, dem Städter den Feind jieht. Nicht den 
aus fernen Borftellungmwelten fommenden Briten nur haften fie: auch von 
dem Holländer, der fie mitder Biedermannszärtlichfeit de nah Verwandten 
umarmen wollte, rückten fie mit froftigem Yächeln weg. Die Trage, ob ein 
großer Theil der Oberſchicht, ob nur da und dort eine nid)t immune Seele 
von der aus feinem Goldland zu bannenden Korruption ergriffen wurde, 
mag immerhin unbeantwortet bleiben. Zwei fo verjchiedene Kulturformen, 
wir erlebens eben in Preußen, können mit einander nicht haufen ; die Inter— 
eifen find zu verfchieden. Die Briten brauchten einen nad) angelſächſiſcher 
Meodeladirten Jnduftrieftaat, in dem fiefich frei bewegen könnten; dieBuren 
jagen warm in ihren Privilegien und wollten den agrariichen Zujchnitt der 
Vtepublifen um feinen Preis ändern. Auch eine Arbeiterfrage tauchte auf. 
Troß ihrer Chriſtenfrommheit, die fie zwingen follte, in jedem Menjchen 
das Ebenbild Gottes und die Krone der Schöpfung zu achten, ift den 


Die Buren. 415 


Buren der Farbige, was er doch nur dem naturmwifjenichaftlid) Denfen- 
den, an eine mähliche Evolution des zweizinfigen Gabelthiere8 Glauben: 
den fein dürfte: ein Weſen niederer Art, ein als Sklave, zum Sklaven 
Geborener. Der Bur wollte die Kaffern in Hörigfeit halten, der Brite 
ihnen das Recht und die Bildungmöglichkeit gewähren, ohne die der In— 
duftriearbeiter nicht mit dem mwünjchenswerthen Nuten zu verwenden 
ift. Der alte Gegenſatz zwifchen Yandwirthichaft und Induſtrie, der auch 
bei uns immer fichtbar wird, wenn die Grumdbefiger Sozialiftengejete 
fordern oder ein Zufallsftrahl die Yage oftelbifcher Yandarbeiter erhellt. Kein 
Verftändiger konnte je zweifeln, welche Kulturform in Südafrika ſchließlich 
fiegen würde; wollte die Bauernoligarchie ſich unverändert erhalten, dann 
mußte jie die Minen ſperren, der aufblühenden Induſtrie die Wurzel ab- 
jchneiden. Das thut Fein Bauer; jelbft in der hitigften Wallung bedenkt er 
den eigenen Vortheil und wägt, was ihm nüten, was fchaden fann. Wäh- 
rend des ganzen Krieges haben die Buren nicht einen Augenblic ernſtlich 
an die Zerftörung der Minen gedacht. Sie hätten den Krieg überhaupt nicht 
begonnen, wenn fie nicht Grund gehabt hätten, auf einen ftarfen Schüter 
im Kampf gegen den Bedränger zu hoffen. Hatte Wilhelm der Zweite nicht 
das Deutsche Reich eineihnen befreundete Macht genannt, an deren Hilfe fie 
appellirendürften? Englands Kraft, Englands Reichthum konnten fie nicht 
ermeſſen; der Zuruf des Kaiſers aber gab ihnen die Gewißheit, dad fie, wenn 
es zum Aeußerſten fäme, nicht allein Fechten würden. Nurdieje Zuverficht hielt 
fie von einem Kompromiß zurüd, das auf Jahrzehnte hinaus ihre nationale 
Selbſtändigkeit retten fonnte, Zweiunddreißig Dionate lang trogten fie, als 
eine Guerilla, deren Ruhm inder Kriegsgeſchichte nicht verblaſſen wird, dem 
an Truppenzahl und Nüftung überlegenen Feind und immer wieder wurde 
die verglimmende Hoffnung angefacht: morgen führt eine europäiſche Inter— 
vention uns zum Sieg. Die Armen, von thörichten und gewijjenlojen Di- 
plomaten Getäujchten wußten nicht, daß die Zeit des von Andrew Carnegie 
verfündeten Empire of business längjt gefommen ift und dem Reichſten 
die Welt gehört. ALS jie dann endlich von dem Wahn ſcheiden mußten, irgend 
eine europäijche Regirung werde für fie einen Finger rühren, als zuerft die 
Botjchaft des holländiichen Minifterpräfidenten Kuyper und jpäter Kitche- 
ners kluge Beredſamkeit das Pügengewebe zerriß, das ihren Blick fo lange 
getrogen hatte, daretteten fiejchnell, was noch zuretten war, undfapitulirten. 

Europa ift mit diefem Ausgang der Sache gar nicht zufrieden. Eu- 
ropa hatte von einem Heldenvolfgeträumt, dag lieber bis zum legten Mann 

31” 





416 Die Zukunft. 


in den Tod gehen als auf feine Unabhängigkeit verzichten würde. Und num 
leben die Dewet, Botha, Delarey, Schall Burger nicht nur, nein: fie zeigen 
fich fogar Arm in Arm mit britiichen Generalen, feiern den Viscount Kit: 
chenerin fenrigen Reden und fordern die Yaudsleute auf, Eduard dem Sieben- 
tenin zuverläffiger Treue unterthan zu fein. Die jelben Männer, die ſich mit 
Handichlag verpflichtet Hatten, vor jeder Entjcheidung den Rath des greifen 
Krüger einzuholen und ohne jeine Zuftimmung feinen Friedensvertrag zu 
unterzeichnen, haben nun, ohne den angeblich vergötterten Ohm Paul 
aud) nur zu fragen, fapitulirt und nennen den Namen des früheren Prä- 
fidenten nicht mehr. Europa fteht vor einem Räthjel. Iſt Paul Krüger 
denn nicht der größte Staatsmann, der neben und nach Bismard lebte, 
der Doktor Leyds nicht ein Diplomatengenie, das jeder Großmacht zu 
wünſchen wäre? Gleichen nicht alle Buren den mythiſchen Heroen, die jich 
von blanfen Idealen nähren und deren Felſenherzen Menjchenichwachheit 
nie übermannen fann? Noch vor wenigen Wochen hieß es, die Yage der 
Buren fei viel günftiger als am Anfang des Krieges, Kitchener fonıme nicht 
vom led und nur ein Wunder könne die völlige Niederlage der Engländer 
hindern. Als die Burentommandanten nad) Vereeniging reiten und der 
einfachite politiſche Inſtinkt wittern mußte, daß die Stunde des bitteren 
Endes bald fchlagen werde, wurde in Utrecht die Parole ausgegeben: Die 
Burgers benugen gern die gute Gelegenheit, um fid über die Fortführung 
des Feldzuges zu verjtändigen, — und der dumme Sirdar, dem nur im 
Kampf gegen Wilde Yorber reifen konnte, geht blind in die Halle. Der Text 
der Kapitulation war jchon unterjchrieben, als noch immer mitunerjdjütter- 
licher Gewißheit behauptet wurde, das Gerücht von einem nahen Friedens- 
ſchluß ſei eine freche englische Yüge. Und Alles wurde, jelbjt die albernfte 
Mär, willig geglaubt und jede zur Bernunft mahnende Stimme überbrüllt. 
Die Buren hatten zu fiegen oder zu Sterben. Europa fah mit angenehmen 
Nervenfigel dem Kampfipiel zu und war bereit, die Helden ihres Traumes 
pollice verso, wie niedergerungene Gladiatoren, in den Tod zu ſchicken. 

Zu ſolchem Ende hatten die Buren feine Luſt. Wer fie gerecht beur- 
theilen will, darf nicht verwehten Klängen alter Heldenlieder nachträumen, 
jondern muß fic) wachen Sinnes erinnern, wie in jeiner eigenen Heimath, 
wie in allen Zonen der Bauer lebt und strebt, fühltundtradhtet. Der Dann, 
der in harter Arbeit den Ader bejtelit, geduldig das Vieh wachjen und fallen, 
die Frucht reifen, die Hoffnung eines Jahres von Wind und Wetter ver: 
nichtet jieht, iſt für metaphyſiſchen Fdealismus nicht zu Haben und wird fich 


Die Buren. 417 


mit Harem Bewußtſein felten entfchließen, für unirdifche, nicht mit Händen 
greifbare Güter das jchwerfte Opfer zu bringen. Sein Wunſch langt über 
die enge Welt der Realitäten nicht hinaus und gefunder Menſchenverſtand 
jhütst ihn vor der heroiſchen Schwachheit, die Alles aufs Spiel jest, Haus 
und Hof zerftören, Weib und Kind hinmorden läßt, um einem Phantom 
nachzujagen, das den abjtrahirenden, afloziirenden Geijt des Kulturmen- 
ſchen werthvoller dünken mag als alle zeitliche Habe. Wenn der ſchwerfällige 
Bauer ſich waffnet, fämpft er nicht für Begriffe, für Freiheit, Menjchenrecht 
und Berfafiung, jondern ſucht einen Drud abzufchütteln, der feinen 
Schaffensdrang lähmt, Schlechter Behandlung ledig zu werden, die ihn an 
Leib und Gut gefchädigt hat. Soldyen Bauernfrieg haben dieBuren geführt. 
Sie fühlten ſich in ihren Befigrechten bedroht, von windigen Einwanderern 
mißachtet, fie hofften auf Dentichlands Hilfe, auf die Wirfung des Haſſes, 
der ſich an die Erobererjchritte der Briten geheftet hat, und zogen aus, um 
einem dreiften Näuber einen lehrreichen Denkzettel zu geben. Jeder nahm 
ein gutes, im Gelände heimisches Pferd und eine erprobte Flinte, aber auch 
einen Regenſchirm mit; denn im durchnäßten Kittel jchwindet die Wider- 
ftandsfähigfeit des jtärfften Mannes, Sie mieden unnütlide Grauſam— 
feit, lachten die fremden Offiziere aus, die fie europätfchen Drill und Treffen: 
gederei lehren wollten, und richteten ihre Strategie nad) den bewährten 
Regeln der Bauernichlauheit. Wozu follten fie englijche Soldaten und Heer— 
führer töten, wenn der Schuß Pulver nicht nöthig war? Biel einfacher wars, 
ihnen die Khaki - Uniform auszuziehen, die man im trainlojen Burenheer 
brauchen konnte, Munition und Yebensmittel wegzufangen und Tommy nur 
da, aus jicherer Stellung, wie ein Stüd Wild abzujchichen, wo die Noth zu 
biutiger Wehr zwang. Dancer Europäer hat ihnen Mangel an Muth nach» 
gefagt und über die Burenhäuflein gejpottet, die er hinter haftig gebauten 
Schanzen boden jah. Freilich: jie jegten fich, wenn fies irgend vermeiden 
fonnten, nicht den feindlichen Kugeln aus und nie wäre ihnen, wie ganzen 
Schaaren engliicher Offiziere, der Einfall gefomnten, blind, im Gefühl einer 
dem vaterländijchen Ruhm jchuldigen Pflicht, in den Tod zu ſtürmen; Pflicht 
ichien ihnen vielmehr, jedes einzelne Yeben dem Vaterlande jo lange wie 
möglich zu erhalten. Dann fam der Tag der Erfenntniß. Jeder weitere 
Widerftand konnte die Entjcheidung aufichteben, nicht abwenden. Noch einen 
Winter im Feld? Noch ein Jahr ohne Saat und Ernte? Die Farmen ver- 
wüſtet, Frauen und Kinder im Elend, die Zufunft des Stammes gefährdet, 
— und Alles umsonst? Gute Behandlung, Erjat des verlorenen Gutes, 


418 Die Zuhmft. 


ein behagliches Yeben unter Englands mächtigem Schug ward ihnen zuge— 
jagt ; und fie lernten, als fie nad) langer Trennung einander wiederfahen, die 
Ausfichtlofigkeit ihres Kampfes Har erfennen und wußten genau, was ihnen 
bevorjtand, wenn fie diesmal ſpröd blieben. Sollten fie ihren Präfidenten, 
deſſen Irrthum den Krieg heraufbejchworen hatte, um Rath fragen? Der 
jaß, mit einem großen Vermögen, weit vom Schuß in Europa, fannte 
ihr Leid nicht und hatte gut reden. Gar jo herrlich waren ja früher, unter der 
Klüngeltyrannei, die Zuftände auch nicht geweſen und am Ende lief jid mit 
den Engländern ganz gut ausfommen. Die Zähne zufammengebiffen und 
unterjchrieben! .. Das war nicht heroifch zwar, aber bäueriſch gehandelt. 

Die Burenlegende ift nicht mehr zu retten. Jetzt aber, gerade jett ift 
es Zeit, die geſunde Tüchtigkeit, die muthige Energie diefer Männer zurühmen. 
Nicht wie leichtfertige Knaben find fie zu friſchem, fröhlichem Krieg ins Feld 
gerücdt, um Abenteuer, Ehren und, wenns nicht anders fein fann, einen 
effeftvollen, Nachruhm fichernden Tod zu fuchen. Im Kampf haben fie der 
Tapferkeit die Borficht als Wächter beftelit, als die Stunde des fchwerften 
Entjchlufjes gefommen war, bedächtig zuerjt da8 Wohl des Stammes er- 
wogen und, um ihm die Keimfraft zu wahren, den Glanz des eigenen 
Namens gemindert. Nicht hellenifche Miythenhelden find fie, aber wadere, 
aufrechte Bauern, deren rauhe Tugend durch die Begrenztheit bäuerifcher 
Vorftellungen bedingt ift. Niemand hat für jie Etwas gethan. Der alte 
Krüger nicht, der, troß dem unkeuſch zur Schau getragenen Glauben an 
eine den Frommen ſchützende VBorjehung, fein Yeben und feinen Befit früh 
in Sicherheit brachte und deſſen eigenfinnige Kurzficht für den Untergang 
der Nation verantwortlich bleibt ; nicht Herr Leyds, dervon dem Patrioten- 
recht, in Kriegszeiten das Blaue vom Himmel zu lügen, nutlofen Gebraud) 
gemacht hat; und erftrechtnicht die alte, geile Europa, die ftet8 bereit ift, jedem 
Zahlungfähigen die Grimaſſe der Zärtlichkeit zu verfchachern. Ihr hyſte— 
risches Gefreifch hat den Buren Hoffnungen vorgegaufelt, die, jeit die Leiter 
der deutſchen Politik den ungeheuren, unverzeihlichen Fehler machten, Eng: 
lands Sieg zu verbürgen, nie erfüllt werden fonnten. Die Vettel möchte 
das Bauernvolf jest in neue Gefahr beten; noch ſei nicht aller Tage Abend, 
greint fie, und über ein Kleines könne einem Burenaufftand das Glück 
günftig fein. Die guten Europäer, die ihre Meinung nicht aus Schwarzen 
Küchen beziehen, follten dem Unfug ein Ende machen und dafür jorgen, daß 
die füdafrifanischen Bauern ungeltört fortan den Weg gehen können, den 
die nüchterne Vernunft und der wachſame Nafjeninftinkt ihnen weiſt. 


Berliner Sezeffion. 419 


Berliner Sezefjion. 





—M un alſo wollen wir den „Laokoon“ aus den dunkelſten Tiefen des 
sr Buücherſchrankes hervorſuchen und eine Debatte über die Grenzen der 
Malerei und Poeſie beginnen. Leſſings von allen modernen Tendenzlern 
grenzenlos verachtete Aeſthetik fommt wieder zu Ehren und das fcharfäugige 
Genie des in einer Kleinftadt des achtzehnten Jahrhunderts Lebenden Biblio: 
thefar8 kann ſich der Großſtadtkunſt des zwanzigften Jahrhunderts gegenüber 
nochmals bewähren. Die Entwidelung unferer modernen Malerei in der 
Weile, wie die Ausftellung der Sezefjion fie jihtbar macht, war längſt fällig; 
dennoch kommt nun die Betätigung oft ausgefprochener Prophezeihungen 
überrafchend und erwedt alte Hoffnungen. Liebermann, der Führer der 
Berliner Sezefjion, defjen intellektuelle Einfluß auf das junge Malergeſchlecht 
nicht leicht überjchägt werden kann, hat in einem feiner neuen Bilder eine 
dramatifhe Szene gemalt und damit, in diefer Tüchtigfeit, als Erfter der 
deutfchen Impreſſioniſten das Gebiet deſkriptiver Landſchaftlyrik verlafien. 
Und fogleih auch hört man die Stimme unfered größten Kunſtrichters über 
die Entfernung eines ereignigreihen Säfulums herüberihallen und sieht 
ftaunend, wie die vor der antiken, theoretiſch überſchätzten Laofoongruppe 
Klar erkannten Gefege Fünftlerifchen Empfindens von einem unendlich revolutio- 
nären Maler unferer Tage bewußt oder unbewußt befolgt worden find. Diefer 
Vorgang wird für den philofophifchen Betrachter zum clou der ganzen Aus: 
jtellung, denn er bezeichnet einen wichtigen Wendepunft der deutfchen Malerei. 

Es ijt viel von der Entdekung der Laudſchaft für die Malerei geredet 
worden; man hat geglaubt, hier thue fich ein ideales Gebiet für das allzu 
bemußte Empfinden der modernen Seele auf; nur die Landſchaft könne Erſatz 
für die Stoffe bieten, die früher der Religion: und der Staatsgeſchichte ent- 
nommen wurden. Der Irrthum lag nah und fonnte leicht entjtehen, weil 
die Menjchen in ihrem gegenwärtigen Zuftand ftet3 einen Abſchluß erbliden, 
erbliden müffen, um nur ruhig leben zu können. Niemand ift jich bewußt, 
im Uebergang zu jtehen; da der Blid immer nur auf der Vergangenheit 
ruht, die Zukunft nichts von ihren Geheimniffen preisgiebt und wie eine 
dunkle Mauer vor uns aufiteigt, ift ein ſtarkes Reſultatbewußtſein unent— 
behrlih. So hält man im der Malerei bis heute die Studie für den Abſchluß, 
den Weg für das Ziel. Diefe Kunjt zeigt die lehrreiche Erſcheinung von 
der Wechjelwirkung äußerer und innerer Erkenntniß. Zuerſt wurde das 
Farbenſpiel der Atmoſphäre entdekt und mit wiſſenſchaftlichem Eifer im Bilde 
regijtrirt. Unter dem Einfluß des Sehens wandelte ſich dann bald das 
Empfinden, daS wieder auf die Art, die Dinge anzufehen, entjcheidend zurüd- 
wirkte. Auf diefem Wege wurde die Landfchaftmalerei ganz logisch zu einer 





420 Die Zukunft. 


lyriſchen Stimmungskunſt. In der Lyrik lernt der Künftler ſich kennen und 
ber eigenen Art vertrauen, in diefem egoiftifchen Spiel der Gefühle entfalten 
fich die Kräfte zu reiferem, männlicherem Thun. Alle Jugend, jelbft die 
heroifche, übt die Flügelkraft in den Räumen der Lyrik. In der Malerei 
wurden die Stimmungen der Landſchaft, die dem Auge neue Erjcheinung- 
formen des Lichtes gezeigt hatten, zu Trägern unflar drängender Empfindungen 
gemacht; das Wetter der Seele befpiegelte fich in den bunten Sarbengläfern 
der Witterung, jede gemalte Landſchaft war ein Gedicht und in erfter Linie 
eine Milieufchilderung der Wohnftätten ewiger Myfterien. Die Dialer riefen: 
Schaut, wie ich es jehe, wie „perfünlich“ meine Augen zu beobachten wiffen! 
Im Grunde wurde und nicht die Natur dargeboten, jondern ein in Atmoſphären— 
töne und in plein air umgeſetztes Gefühl. Aus diefer — nod immer fo 
genannten — naturaliftifchen Malerei geht die alte Lehre deutlich hervor, 
dar alle Kunft vom Menfchen für den Menſchen gemacht wird, daR die 
artiftifche „Wahrheit“ nur ein Reflex der mit phyfiologifch determinirten Organen 
nad) Ausdrud taftenden Seele ift. Aber je größer das Verlangen war, die 
empfindfamen Gedanken — fie laufen faft alle auf Verzweiflung in irgend 
einer Form hinaus — mitzutheilen und fie möglichit volltommen auch im 
Betrachter zu erweden, um jo nöthiger wurde eine neue allgemein giltige 
Kunftiprache, eine anerfannte Stillonvention. Alle Mittel der Berftändigung 
entjtehen jedoch langlam; und fo erleben wir, daß die neue Kunſtſprache 
einen ähnlichen Werdegang durchmacht wie einjt die Buchſtabenſchrift, nämlich 
den über die Bilderfchrift. Die Landfchaft, deren Wiedergabe Selbftzwed 
Ihien, bot den Malern für die Dauer des Ueberganges und jtatt mangelnder 
Stilformen ihren reihen Motivenſchatz. 

Liebermanng merkwürdiges Bild beweilt nun, daß die lyriſche Jugend: 
periode der modernen Malerei ihrem Abſchluß nah iſt. Er, als der fon- 
jequentefte deutjche Künftler der Gegenwart, als der geiftvollfte Selbſterzieher, 
ift zuerst zu Nejultaten gelommen. Als Lyriker hat er jich eigentlich nie 
gegeben; von Anfang an war feiner Fühlen fritifchen Natur Etwas von 
jener Objektivität eigen, die, auf Grund genauer Eelbftbeobadhtung, mit den 
eigenen Empfindungen architektonisch zu wirthichaften weiß. Er hatte den 
epijchen Zug und war darum, viel mehr als Andere feiner Tendenz, fozial 
beobachtender Künitler. Cine höhere Stufe der Malerei ift aber das auf 
die Fläche projizirte Dramatifche; und dahin hat er ich mit feiner neuften 
Leiftung erhoben. Es ift Grund zur Genugthuung, daß endlich einmal ein 
modern empfindender Maler zu jener Höhe der Selbitentwidelung gelangt 
ift, zu der Neife des Urtheil über die eigenen, von lähmenden Xraditionen 
freien Empfindungen, um hinter einen großen Stoff, hinter ein Werk, das 
für ſich ſelbſt fpricht, zurücktreten zu können. Bisher mußte man ſtets Pſycho— 


Is 0 = 0.0 71600 — 2 nn — * — — — — 


Berliner Sezeſſion. 421 


logie treiben, das Spiegelbild des Künſtlerſenſoriums aus dem Werke ableſen, 
wenn man feinſten Kunſtgenuß wünſchte. Jetzt kommt einmal ſolche An— 
ſtrengung dem Stoffe zu Gut und man dankt dem Maler, indem man ihn 
im Anſchauen ſeines Werkes vergißt. Vor einer gemalten Landſchaft iſt es 
anders. Entweder man ſieht in der lyriſchen Stimmung den Künftler oder 
erfreut fih am Gegenftändlihen. Im erften Fall treibt man Seelenkunde 
und — weiterhin — Sulturphilojophie; im zweiten Fall ift die Anſchauung— 
weife ganz unfünftlerifh. Dem großen Publikum gefällt eine Landſchaft 
nie aus Gründen artiftifcher Erkenntniß, ſondern es fucht und findet dag 
gegenjtändlid Intereſſante. Der Wunjch wird ihm lebendig, in der gemalten 
Gegend fpaziren zu gehen, im Sonnenjchein behaglid zu ruhen, über Hare 
Gewäſſer zu fahren, durch den Farbenraufc der Blumenfelder zu wandern, 
und der Künſtler dient diefen Betrachtern eigentlich nur jo wie der Jlluftrator 
de8 Bilderbuches dem Kinde. Da all das Antereffante, wie es, in edeffter 
Form, in den Waldinterieurd Flidels, in den romantischen Naturanfichten 
der Achenbachs zum Ausdrud kommt, den Landichaften der Impreſſioniſten 
fehlt, da nur die reine Erkenntniß diefem Igrifchefymbolifchen Naturalismus 
beifommen kann, wird die moderne Malerei nie volfsthümlih. Nur einem 
Dichter wie Böcklin ift e8 gelungen, das Intereſſante im Bilde fo zu erheben, 
daß es zu einer höheren Erkenntniß, zur Poelie wird. Das macht die Größe 
feiner Kunſt aus. Die Imprefiioniften mögen ji, aus Gründen ihrer Tendenz, 
zu fo ftarfen Stilifirungen, in denen werthvolle Nuancen aufgeopfert werden 
müffen, nicht entjchliegen; da dem Anfchauenden aber ihre unbeftimmte Land— 
ſchaftſymbolik auf die Dauer nicht genügt, fehen jie fi vor der Aufgabe, das 
Stoffgebiet poetifch zu erweitern. Beſonders der deutſche Maler, dem die 
Leichtigkeit des franzöfifchen Temperamentes fehlt, deilen Bildern nicht die 
Fülle lebendiger Sinnlichkeit eigen ift, kann unmöglich in feiner Iyrifchen, 
immer etwas kleinlichen Selbftherrlichfeit beharren, jondern muß feinen be- 
fonderen Anlagen Rechnung tragen. Für ihn kann der Fortjchritt nur darin 
liegen, mit dem von neuen Erfenntniffen vevolutionirten Gefühlsleben und 
auf Grund der Nefultate des Impreſſionismus große poetiiche Stoffe zu 
bewältigen. Der Franzofe muß num aus dem Spiel bleiben. Hier ift der 
Punkt, wo die Raffentemperamente ſich ſcheiden. Die Erkenntniß kennt nicht 
nationale Grenzen. Der Ausgangspunkt war für Alle gemeinfam; doc) die 
Entwidelung muß nun nad) den Gefegen der befonderen Volksart erfolgen, 
wenn dem natürlichen Empfinden nicht Gewalt angethan werden fol. 

Bon folhem Geſichtspunkt aus ift Liebermanns Beifpiel beſonders 
werthvoll. Sein Bild fünnte von einem modernen Franzofen fo nicht gemalt 
fein. Es weift auf die große niederdeutfche Tradition, auf Rembrandt, und 
zeigt ſo, daß der Künftler nie ängftlich zu fein braucht, ohne Ueberlieferung 

32 


422 Die Zukunft. 


in feiner Zeit zu ftehen. Die lebendige Tradition erbt ſich unbewußt fort, 
lebt in der Empfindungweife immer wieder auf und wird zu einer neuen 
Kraft, um fo mehr, je konfequenter eine Perfönlichkeit ſich felbft betont. Es 
thut nichts zur Sache, daß Liebermann, feiner Abftammung nad, dem nieder: 
deutfchen Geiſt fern zu ftehen fcheint: die kunftgefchichtlihe Entwidelung 
wählt ihre Inſtrumente nach einer Logik, die aller Heinlichen Berechnungen 
fpottet und in diefem Fall ziemlich klar zu errathen ift. 

Das Bild — Simfon und Delila — muß als Erftling betrachtet 
werden; Größe und Unzulänglichkeit find zu gleichen Theilen darin enthalten. 
Niemals hätte man dem Momentbeobachter eine fo fonzentrirte Linienführung, 
folche ornamentale Gewalt zugetraut. Pſychologe im Einzelnen ift Liebermann 
nicht; er kann ein Seelenleben nicht phyfiognomifch wiederſpiegeln. Schein— 
bar weiß er e8, denn er verzichtet ftet3 darauf; und auch hier charakterifirt er 
den Vorgang durch äußere Züge: durch eindringliche Silhouetten und eine 
jäh in den Raum jchießende Bewegung, die gegen den etwas formlofen 
Fleiſchknäuel des fchlafenden Simfon jeltfam hell und Freifchend abiticht. 
Die Farbe unterftüst, in aller Trodenheit, die Abjicht und bringt die phrafen- 
foje Roheit des gefchlechtlichen Momentes, den Realismus der Auffaſſung, 
der den Stoff alles biblifchen Farbenlades entfleidet, die Hug ins Profane 
gezerrte und doc zu fymbolifcher Kraft gejteigerte Situation vortrefflich zur 
Anfchauung. Ueber die Häflichkeit der Delila ift großer Lärm gemacht 
worden. Das liegt aber wohl mehr an der Auffaffung der Herren von 
Franenfhönheit. Dies ift genau das Weib, worauf Simfonnaturen hinein= 
fallen; im ihrer Fugen, raſſigen Magerkeit ift jie begehrenswerth für Jeden, 
den e8 treibt, mit brutaler Männlichkeit eine ftolze, fich empört wehrende und 
Rache brütende Seele zu überwältigen. 

Wohl läßt ſich der Stoff zweifellos größer geftalten. Die Roheit kann 
unerbittlicher, die Gemeinheit tragifcher gegeben, auf dem Wege der fonfequenten 

 Sieigerung der hier gewählten Auffaflung könnte das Einzelne mehr durch— 
gebildet werden. Der dramatifche Realismus ift im Stilgedanfen nicht 
untergegangen, fondern poetijch eritarft. Das ift viel; aber nun galt es, mit 
der Farbe bewußt zu charafteriiiren, den einfachen Alkord von Fleifchtönen 
und Grau hundertfach zu variiren und die Abficht pfychologifch, nicht deforativ, 
fo zu fpezialiiiren, dar alle Nuancen auf den Zielpunft der dee redend 
hinweifen. Von Rembrandt ijt zu lernen, wie ein ftinfend wahrer Naturalismus 
in der gligernden Apotheofe eines bunten Juwelenfeuers zu verflären und 
zugleich zu unterjftägen ift. Nicht die Mittel Rembrandts follen empfohlen 
fein — die Mühe, eigene zu erlangen, wird unferer Malerei ja ſchwer genug —, 
fondern die Kraft feiner fünftlerifchen Dispofition. 

Wie ſehr Lefjing mit feiner Aeſthetik im Kern das Nechte getroffen 


Berliner Sezefjion. 423 


hat — daß er fie auf Grund antiker Beifpiele erklären mußte, ift ja zu— 
fällig —, beweift jegt Liebermann. Die Kompoſition befolgt alle Geſetze der 
plaftifhen Ruhe, ohne die ein Yigurenbild fofort genrehaft kleinlich wird. 
Eine Reihe charakteriftifcher Förperlicher Exprefjionen iſt zufammengefaßt; 
nicht die Momenterfcheinung ift gewählt, fondern eine aus hundert Momenten 
zufammengefegte Bewegunglinie. Das Auge fieht vor der Natur ja nie 
einzelne Augenblid3pofen, fondern die Bewegungfolge und diefe wird dann 
als Linie, als lebendige8 Drnament empfunden. Darum erjcheinen alle 
Momentphotographien falſch. Bor einem Bilde darf man nie das Verlangen 
fpüren, dramatifche Entwidelungen zu fehen, nie, wie etwa vor Schladhten- 
bildern, ein VBorwärtsdrängen des Gefchehniffes wünfchen. Das von Leſſing 
gefundene, in aller großen Kunft längft befolgte Geſetz weiſt die Raum: 
unit an, Bewegungsfomplere refumirend fo aufzubauen, daß die Situation 
zeitlich fowohl vor- wie rüdwärt3 weiſt und die bildhafte Erftarrung einen 
Ruhe- und Reifepunft des dramatifchen Vorgamges darftellt. Es iſt ein 
Zeichen gefunden Urtheils, dar die imprefjtoniftifchen Landſchafter ſich von 
dramatifchen Stoffen zurüdgehalten haben, jo lange ihre unmündige Pſy— 
hologie das maleriſch Nothwendige aus der Fülle mimiſcher Erſcheinungen 
nicht auswählen fonnte. Aber es ift zugleich ein Zeichen von Befangenheit, 
daß jie dann das ihrem Können noch verfchloffene Stoffgebiet für unfünft: 
(erifch erklärten. Aus ähnlichen Urfahen wollen neuere Bühnendichter die 
Handlung für unmwefentlih halten; ihrer Phantafie, die ſich im Notizen- 
naturalismus erfchöpft, fehlt die Kraft des Geftaltungvermögens. 
Liebermann hat einen biblifchen Stoff gewählt., Doc) entnahm er der 
Fülle tragifcher Menfchenichidjale, den ungeheuren Leidenfchaften, die im 
Alten Teſtament zu einem düfteren Tempelgebäude aufgethürmt find, einen 
Stoff, der allgemein menschliche Geltung behält, fich nicht auf ein religiöfes 
Dogma beruft. Trogdem verräth die Wahl den verjtedten Symboliften. 
Unfer Leben ift nun zwar nicht weniger arm an Vorgängen, denen fymbolifche 
Poeſie abzugewinnen ift, al8 das der alten Juden; doch fehlt dem bildenden 
Künftler ihm gegenüber der Abftand der Zeit. Das Nahe ift nie poetifch, 
ift es im beiten Fall für den ganz Senfitiven. Das realiftifch Kleinliche, 
das dem Gefchehnig der Gegenwart anhaftet, wird noch verftärkt, weil es fich 
im Alltagskoftüm, im profanen Milten und ohne Unterftügung jeder mythen- 
bildenden Kraft abfpielt. Dennoch wird fich die moderne Kunſt in Zukunft 
vor der Aufgabe fehen, das uns umgebende Leben dramatifcher Gegenſätze 
eben fo bildend angreifen zu müffen, wie fie das armfäligite Stüd Land— 
fchaft durch konfequenten Subjektivismus poetifch verflärt hat. Die Renaiffance- 
fünftler durften, als halbe Heiden, ohne Sorge biblifche Stoffe benugen, eine 
Mutter Gottes zur Venus umgeftalten und den Zeittendenzen Träger in der 


32° 


424 Die Zukunft. 


Apoftelgefchichte fuchen. Nominell herrichte das Chriftenthum und es war 
nur eine große KHulturlift der Kunft, als fie die alte Form allgemad mit 
ganz neuem Inhalt zu füllen fuchte. Heute ift Dem, der fich ehrlich an der 
Hand der Naturwiffenichaften zur Weltauffaffung durchgerungen hat, aller 
Bibelgeruch verdächtig, Trog der Ehrfurcht vor dem monumentalen Inhalt 
der Teſtamente — der jest nur noch äfthetiich gewerthet wird — lehnt das 
Gefühl Bergleiche, die diefen Büchern entnommen jind, in den meijten 
Fällen ab und fordert eine dem neuveritandenen Inhalt des Daſeins ent— 
fprechende Symbolit. Woher foll die aber kommen, da doch Alles im Werden 
oder Vergehen ift und fein Begriff feftiteht? Das Suden nad dem ung 
Gemäßen, das in der imprefitoniftifchen Malerei technifc begonnen hat und jich 
nun logifch auf den poetifchen Stoff erjtredt, muRte und muß ferner bie 
merkwürdige Erſcheinung hervorrufen, die unfere ganze moderne Kunſt charaf- 
terifirt: alle fchöpferifchen Künftler jind Sfizziften. Die vollfommenfte 
Phantafie vermag ſich nicht ein Kunſtwerk wahrhaft modernen Geiftes vor: 
zuftellen, das zugleich ftiliftifch und dekorativ harmonisch vollendet wäre. Das 
Eine oder das Andere: Skizziſt oder Formalift. Wenn eine neue große 
Stilfprache überhaupt je ausreifen kann, wird es im Lauf von hundert und 
mehr Jahren gefchehen, im einer langen, eflektifch jich ergänzenden Entdeder- 
arbeit vieler Generationen. Inzwiſchen wird jeder ernft wollende Künſtler, 
wenn nicht im Intellekt, jo doch im Inſtinkt, vor die Frage geftellt, ob er 
die Form dem Inhalt oder den Inhalt der Form voranjegen jol. Beides 
kann nicht gleich emergifch gefördert werden. Das vollendete Kunſtwerk be: 
friedigt gewiß zugleih Sinne und Geijt; feit hundert Fahren hat aber fein 
Künftler mehr gelebt, der die Uebereinftimmung urjprünglich erzielt hätte. 
Selbſt der große Bödlin it dem Ziel nur als genialer formaliftifcher 
Rhapſode, als ein auf alten Kulturwegen heroifh dahin Stürmender nah 
gekommen. Manet und Monet, Liebermann, Degas und Rodin, Alle, die 
einen neuen Inhalt geben und Feine anderen Mittel anerfennen als die vom 
Wirklichfeitiinn des Auges janftionirten, find Skizziſten; die Bollender aber, 
die Schwärmer für ſchön geglättete Form, Klinger, Stud, Tuaillon, Hilde: 
brand, find, je nach der Strenge ihres Stilgefühls, aud im Erfaffen bes 
lebendigen Lebens Epigonen. Flüchtigkeit, Noheit, Unflarheit und Einfeitig- 
feit find die Gefahren der Skizziſten; für die Vollender droht dagegen der 
Formalismus, der unüberwindbar, ift das deflamirende, unfruchtbare Pathos. 

Diefer Unterfchied wird in der Ausftellung überall beftätigt; die 
Gegenſätze ftehen ſchroff neben einander. Mund), der eine Sammlung feiner 
Arbeiten ausstellt, ift typisch als ein Produft der herrichenden geiftigen Fieber— 
zuitände. Er iſt einer der vielen Entwurzelten des Lebens, gehört zu Jenen, 
die dem graulamen, unverftändlichen Schidjal mit wilden Haß und toller 


Berliner Sezeſſion. 425 


Verachtung gegenüberftehen, die auf dem Wege des konſequenten Nihilismus 
zur Urmpftif gelangt find, nun in der Nacht der irdiſchen Saufalität vor 
jedem Geſetz erfchauernd zuſammenſchrecken und alle ewigen Myſterien taufend- 
fa, in den profanften Lebensformen, verförpert fehen. Nie hat e8 einen 
Maler gegeben, der befjeren Willen zur poetifchen Empfindungweiſe hatte; 
aber fein unglüdlicher Berjtand, der nicht zu vergefjen weiß, zeigt ihm in 
allem Leben den Wurm, unter jeder Schönheit das grinfende Skelett, in der 
Leidenſchaft das Thierifche, in allen Schmerzen die Willtür der Natur; und 
mit ftumpfer Berwunderung, woneben der höhnifche Wahnjinn feine Arme 
ausredt, geht er, als ein mit einem Talent ataviftifch Belafteter, durch dieſes 
verfluchte Xeben. Hinter feinen Werken denft man ſich einen Menfchen, den 
Geftalten gleich, wie fie in den Romanen Doſtojewslijs brütend durch eine 
drücdende Atmofphäre von Zweifeln fchleichen, ſich philofophifche Syſteme 
bilden und von der Lebensangft zu wahnwigigem Thun angefpornt werden. 
Und daneben bligt und gewittert immer das Geniale. Stein Wunder, daß 
ein Solcher nicht3 von Tradition und giltigen Werthen wiſſen mag. Nicht 
eine Form part ja mehr zu feinem Empfinden; die Sprache der Ahnen ift 
ihm paradiefifch fremd. So fteht diefes triebhafte Talent vor der Riefen: 
arbeit, feiner Myſtik eine neue Kunftform zu finden. Es it faſt unheimlich, 
zu beobachten, wie es hier in einer Kleinigkeit gelingt und wie die Qual 
de3 Verſagens ſich an anderer Stelle in Hohn umſetzt, ſich gellender Karifa- 
turen bedient, wie diefer Nervenmenjch ich dann roh geberdet wie ein Holz= 
fueht. Man denkt an Strindberg, deffen Skepſis auch an den Abgründen 
der Myſtik umherirrt, dem auch ein nadelfpiger Verſtand nicht geitatten will, 
Gott wie ein Kind zu lieben. 

Mund malt etwa, wie ein rothe8 Haus den Nahenden drohend an: 
glogt und Empfindungen erwedt, wie man fie einer Marslandſchaft gegen: 
über haben könnte; wie Menſchen mit blödem, verlegenem Grufeln, das fait 
zum verzerrten Lächeln wird, in ein Totenzimmer treten, voll irrer Rath: 
Lofigfeit dort umherſtehen und ich vor der überlegenen Gelafienheit des Toten 
fhämen. Er malt Mann und Weib in brünjtiger Umfchlingung, al3 wider: 
ftandlofe Opfer der eifernen Nothwendigfeit des Gattungsgefeges, Knabe 
und Mädchen, die in krankem Sehnen dahinfterben, mit denen der Geſchlechts— 
trieb wie mit Marionetten fpielt; Menfchen gehen durch trojtlo8 dämmernde 
Strafen, wie eine Heerde von Lemuren, Franke, fataliftifche Gelichter, deren 
vom Lebensleid verzerrte Züge in fahlem Gelb aus dem Dunkel hervor= 
gleigen. All diefe Verzweifelten fommen von Golgatha, wo ihr deal, der 
ſüße Jeſus ihres Herzens, gefreuzigt ward. Gatten jigen in dunkler Stube 
eng beifammen und weinen, dar ihr Schluchzen das jtille Haus geſpenſtiſch 
erfüllt; zwei körperlich eng umgitterte Seelen fchreien, kreiſchen fchredenspoll 


426 Die Zukunft. 


nach Vereinigung. Geftaltet find folche Stoffe mit einer brutalen Kari— 
faturhaftigfeit, wie wir fie ähnlich) von Bruno Paul fennen, mit ornamen— 
tafen Bildungen, die an Ludwig von Hofmann erinnern, und dann wieder 
nit einem großzügigen Realismus, der den eminenten Zeichner und Maler, 
den Kenner franzöfifcher Kunft verräth. Jedes Bild ift ein Embryo und 
theilt Etwas von dem Efel mit, der allem Embryonifchen anhaftet; zugleich 
aber fieht man überall Möglichkeiten des Wachfens, Keime zukünftiger Kraft 
und Schönheit. Diefe Kunft ift im ihrer Art fo gut Extraft wie die van 
Goghs, und je länger man ſich damit befchäftigt, deſto reicheres Detail findet 
man im der Vereinfahung. Manchmal erhebt jih der Stil mit breitem, 
ornamentalem Bortrag ins Pathetifche; manchmal entgleift er jäh ind Bur— 
(este und liefert dem Publikum Stoff zu willlommenen Gelächter. Immer 
aber fteht neben dem problematiſchen Senforium ein fräftige8 deforatives 
Gefühl. Die Farbenharmonien, für ſich betrachtet, find von eigener, teppich- 
artiger Schönheit. Wie viel diefer Unfertige fann, wie gut er fein Hand— 
werk verfteht, beweifen einige Portraits. Mit den geringften Mitteln ift hier 
erſchöpfend charalteriſirt, mit einer Einfachheit, die an altegyptifche Portrait— 
malerei erinnert, find die individmellen Züge eines Gelichtes auf das ganz 
Wefentliche zurüdgeführt. 

Das Talent, eine Impreſſion technifch zu überfegen, in der Phantajie 
die lebendige Begegnung von Ideen und Material herbeizuführen, alle Hilfs: 
mittel des Handwerfes gerade jo zu benuten, wie fie der Abficht am Beften 
dienen, den eigenartigen Stimmungwerth jeder Darftellungmanier der geiftigen 
Tendenz anzupaflen: dieſes Talent macht die eigentliche artiftifche Stärke 
der imprefiioniftiichen Maler aus. Man betrachte Werfe von Liebermann, 
WManet, Firaeld: immer liegt die entjcheidende künftleriiche Phantafiethat in 
diefer genialen Annäherung von dee und Technik, von Abſicht und Materie. 
Es wird Einem Klar, wenn man, von Mund, fonımend, zu dem Bilde „Im 
Meer“ von Liebermann geht — einem foftbaren Bild, dem die hohe Schule 
von Degas, was Naumgefühl betrifft, anzumerken ift —, zu dem im Sinn 
de8 berliner Malers fehr fein gezeichneten „Carouſſel“ Iſaacs Iſraels, zu 
der genialen Reiterſtizze Manet3 oder dem fabelhaft gemalten „Frühſtück“ 
Monets. Man kann verftehen, daß die Braven vom Glaspalaft vor folder - 
Kunft ganz rathlos find; denn diefe Technik bedingt eine eigene feelifche 
Anſchauung der Natur. Ganz künftlerifche Technik ift nie etwas Willkür— 
liches, fondern entjpricht genau dem Geift, der fie regirt. Parador fann man 
es jo ausdrüden: unmöglich vermag ein Pointillift an die Dreieinigfeit und 
an die chriftliche Unsterblichkeit der Seele — höchſtens an die fpiritiftifche — 
zu glauben; Eduard von Gebhardt könnte dagegen nie Pleinairift fein. Wenn 
die Technik des Impreſſionismus aucd das ewig gefniffene Auge bedingt — 


Berliner Sezeſſion. 427 


oder umgefehrt —, jo bleibt es doch beffer, mit diefer künftlichen Schligäugig- 
feit etwas fpringend Charakteriftiiches zu ſehen als mit offenen Bliden das 
Banale. Und der Betradhtung muß diefe Technif fo mejentlich fein, weil 
fie ein bdeutliche8 Produft der neuen Geijtesrihtung ift. Vielleicht erlangt 
Vieles von der Sezeflioniftenkunft, die uns jo ftarf intereflirt, niemals die 
Mufeumsunfterblichfeit.. Das hindert nicht, daß diefe Art Unvollkommenheit 
für die Entwidelung und für uns alfo wichtiger ift als die auf artiftifchen 
Schleihwegen erlangte Vollendung Wahrfcheinlih werben Kiebermanns 
Bilder der erften Periode, die nah dem Herzen eines Afademieprofeflors 
durchgearbeitet find, in den Galerien ftet3 Chrenpläge einnehmen, während 
Das von feiner heutigen Kunſt zweifelhaft if. Die von der Zeit ausge: 
teilten Preife der Unsterblichkeit beruhen im Weſentlichen ja auf Majorität- 
urtheil, find alſo jehr anfechtbar. Solche Hinweife find beffer aus dem Spiel 
zu laſſen. Uns darf nur das wahrhaft lebendige Empfinden der Stunde 
gelten; mag die Zufunft dann urtheilen, wie fie fann und will. Die Künſtler 
ftehen uns am Nächten, die Dem, was uns fehmerzt und freut, was uns 
wejentlich erfcheint, Ausdrud ſuchen und finden; aljo die Maler, die hier 
mit dem Namen Skizziften bezeichnet worden find. Whiftler, der feinen 
fultivirten Geſchmack in den Takt neuer Empfindungen gezwungen hat, gehört 
dazu, Ludwig von Hofmann, der Iyrifche Stimmungpoet, und der innig 
empfindende Baum, Kurt Herrmann, der, über die Jugend hinaus, ein bereits 
jicher erworbene Gebiet freiwillig verlaffen, den fchon errungenen Ruhm 
preißgegeben hat, um von Neuem am Kampf theilzunehmen, Breitner, der 
talentvolle Mitenipfinder Jakobs Maris, der einfache, phrafenloje Alberts, 
Leiftifow, deſſen Bilder jo ernjthaften Optimismus’ predigen, Stremel, mit 
jeinen foloriftifch funfelnden Jnterieurs, und Corinth, der ein großer Künftler 
fein könnte, wie er ein ftarker Maler ift, wenn jein Geijt jo willig wäre 
wie fein Fleifch. Bon all diefer Kunſt ift im höheren Sinn nichts fertig und viel— 
leicht reift fie uns niemals zu einem großen Stil aus. Das einzelne Wert 
füllt nie die ganze Seele; jeder Künftler bearbeitet vielmehr eine Nuance der 
allgemeinen Weltempfindung als Spezialift. Aber aus der Gefammtheit der 
Werke blidt Etwas wie eine große Harmonie hervor und der Trieb, dem 
diefe Talente gehocchen, weiſt auf ein einziges deal, das ich einem jeden 
deal der Vergangenheit würdig gegenüberjtellen Fanır. 

Die Erfcheinungen der Malerei wiederholen ſich in der Sfulptur; 
nur dringt das Material hier auf deutlichere Betonung der Form. Rodin 
hat jeine Materie bis zur Grenze des Möglichen ind Malerifche gezwungen; 
nicht aus Laune, jondern, weil er nur mit imprejfioniftischen Mitteln differenzirte 
Empfindungen darftellen kann, ohne naturaliftifch Heinlich zu werden. Er 
bejigt alle Bildnertugenden der Vergangenheit: den Formenſinn der Antike, 


428 Die Zukuuft. 


das Charafterifirungvermögen der Gothik, das deforative Temperament der 
Renaiflance; nur die vornehmfte Fähigkeit des Plaftifers, der architektoniſche 
Sinn, der all jenen Stilen einjt Halt und Größe gab, fehlt ihm. Alſo 
die Hälfte. Es ift nicht feine Schuld, fondern die einer nervöfen, äfthetifch 
unfruchtbaren Zeit, die im Künftlerifchen, wie feine andere, den Wald vor 
Bäumen nicht fieht. So wird auch er Skiazift in Marmor und Bronze. 
Minne ift in gleicher Lage; nur hat fein mehr fpezialiiirtes, engeres Talent 
jich für die Gothik entfchieden, um eine imaginäre Stüge zu haben. . Das 
hat den Belgier zu einer fiheren Entfaltung feiner feſt umgrenzten, aber 
tiefen Begabung befähigt und ihm die Möglichkeit geſchaffen, feinen realifti- 
ihen Myſtizismus in einer Weiſe vorzutiagen, die wie Zukunftmuſik an— 
muthet. Unter den ausgeitellten Arbeiten Minnes ift eine „Badende“. Diefer 
Heine Gips ift ein Meifterwerk, ein Bijou und kann fich der Antike eben: 
bürtig gegenüberftellen. Dennoch: Kleinkunſt. 

Tuaillon will Monumentalfunft geben und geräth dabei jofort ins 
andere Lager, zu den Formaliften. Es wird gut fein, zu betonen, daß der 
verächtliche Nebenfinn diefes Wortes hier feine Geltung haben darf. Es 
giebt wenige Künftler, die ernfter arbeiten, fleißiger die Natur ftndiren als 
die Bollender, die den Ehrgeiz haben, im jedem all fertige, ſtiliſtiſch geglättete 
Kunftwerke zu geben. Alle Vorausfegungen für große Kunſt find in diefen 
Talenten enthalten; es fehlt nur die Hauptfadhe: das naive Gefühl, die 
Seele. Ein Pferd und einen Aft jo zu mobdelliren, wie Tuaillon es gethan, 
die Gruppen fo einfach, lebendig und mit fo feiner artiftifcher Berechnung 
aufzubauen: Das ift in unferer Zeit fehr viel. Doch wir ftehen und jehen 
mit Hunger Anerkennung, wir loben und faffen alle Künſte unferer Bildung 
Spielen; am Ende merken wir doch die innere Kälte: das tüchtige Wert 
geht uns zu wenig an. Das Fazit ift: wenn Tuaillon vom Unionklub zur 
Ausfhmüdung idealer Sportpläge engagirt wirde, wäre feinem Talent 
völlig genug gethan. 

Bilder diefer Art find weltfremd — was nicht ausſchließt, daß fie 
oft Weltleute find —, auf die Antife angewiefen und gehören zu der in 
Deutfchland unvergänglihen Schaar von römischen Künftlern deutfcher Nation. 
Hildebrand, das archäologische Genie, der nur warm wird, wenn er vor 
einem im Leben zudenden Charakterkopf als Bortraitift fteht (was eine in— 
feriore Art der Kunitbethätigung it), hat eine große Schülerſchaar heran- 
gezüchtet, die fih über das Niveau der Begasichule oder gar der Siegesallee fo 
weit erhebt wie Heyſe über Wildenbruch und Lauff, die aber hinter der neuen 
franzöſiſchen Plaftif fo weit zurüditeht wie Heyſe hinter Flaubert. In diefem 
Vergleih iſt es Schon bezeichnet: die intellektuelle Fähigkeit, der poetifche 
Wille ift hier und dort fait gleich zu werthen; aber die Art der führenden 


Berliner Sezeifion. 424 


Ideen entjcheidet, in einer tendenziös gefpaltenen Zeit, mehr über den äſtheti— 
fchen Kulturwerth von Kunftleiftungen als das abjolute afademifche Können. 
Die Urfprünglichkeit fiegt bei gleichen Qualitäten. Auch Klinger ift hier zu 
nennen. Sein Beethoven fol nach dem unglüdlichen Gips nicht beurteilt 
werden; doch erzählt die Gruppe nichts vom Künftler, was man nicht ſchon 
wußte. Hier will ih Etwas fagen, das, jehr gegen meinen Willen, arrogant 
klingt: Als ich fünfundzwanzig Jahre alt war, empfand ich genau wie Klinger. 
Nicht fo tief, nicht fo groß, reif und umfaffend, nicht fo temperamentvoll 
und bewußt; aber in der Richtung des efleftifch taftenden Gefühles, der 
Gattung des Empfindens nach genau fo. Die Phantajien ſolcher Geiftess 
richtung nehmen ihren Weg über VBorftellungen von der Antife, von Dante, 
Michelangelo, Goethe, auc ein Wenig von Hebbel; jie gehen ftet3 auf Kultur: 
wegen, nie auf ungebahnten Naturpfaden, find nicht frei im höchiten Sinne 
und nie fo verzweifelt muthig, ganz von vorn zu beginnen. Was Klinger 
und all den reinen, warmen Menfchen feiner Beranlagung fehlt, ift die Fähig- 
feit, primitiv zu empfinden, primitiv zu bilden. Die klaſſiſch-humaniſtiſche 
Anfhauung ift ihmen zur Natur geworden, ja, zur perfönlichen Kultur. Doc 
iſt ſolche Kultur allzu ſchnell — in zwei nachgoethiſchen Generationen — 
erworben und nur lebenstähig im geichloffenen Kreife gleichitrebender Bildungs- 
genofjen. Dieſe Intellektuellen jtehen den Primitiven fchroff gegenüber, fait 
wie die Väter den Söhnen, und begreifen nicht den Zuſammenbruch der 
klaſſiſchen Welt, in der ie ihre höchſten Entzüdungen erlebt haben. Es find 
die legten, klügſten und freiften Epigonen der Goethezeit. Wie Klinger 
Beethoven betrachtet, jo ericheint ihnen die ganze Klafjikerzeit: in olympifcher 
Glorie. Uns aber ift Beethoven mehr ein Hiob, dem fein Gott auf feinen 
Schrei antwortet al3 der, der ihm im Buſen wohnt. 

Alles in Klingers Werfen ift gedaht; man jieht die Operation des 
Verſtandes in voller Reinlichkeit. Die nur dem Gebildeten zugängliche Allegorie 
fpuft überall und der genial mit Wirklichkeitiinn gemifchte Arhaismus kom— 
mentirt, wo etwas Gefühltes hinreifen mußte. Slinger ift nicht etwa arm 
an Empfindung; doch empfindet er mit dem Gehirn. Dadurch wird feine 
Kunft zu einem Spiel mit der großen Fülle ihm geläufiger Formen, deren 
jede für ihn Etwas bedeutet und Beſonderes ausdrüdt. Und Alles iſt fo 
flug fombinirt, fo temperamentvoll ausgedacht und das Natürliche vermählt 
fih jo glüdlich mit dem Erflügelten, daß man von diefem Vorſtellungmoſaik 
ganz hingeriffen wird. Nichts ift zu tadeln als das Ganze, Alles zu loben 
bis auf das Prinzip. Durch die Skulptur, wo das Material dem Berechneten 
vor Allen widerjtrebt, it Klinger zur Materialäfthetif getrieben worden. Die 
Büste der Aſenieff iſt fo intereffant wie leblos, jo Fünitlerifch wie Fünftlich. 
Der Lifzt ift prachtvoll gedacht, — aber nur gedacht. Und der Beethoven läßt 


— 


430 Die Zukuuft. 


jich beweifen, wie eine Tragoedie von Racine. Das Unbeweisbare aber ijt 
Kern aller großen Kunft. 

Nicht immer find es Motive aus Griechenland und Jtalien, womit 
die Vollender ihre Werke harmonisch zu runden ſuchen. Strathmann über: 
nimmt die irren und wirren Reize japanischer Kunft, bildet fich jo einen 
engen, aber Foftbar funkelnden Formalismus aus und fpielt ſich, erperimen- 
tirend, im Schönheitstraum durchs Leben. Heine weiß fi) dagegen aus dem 
Dilemma, wie aus jedem, geiftreich zu retten. Erſt benugt er mit größter 
Subtilität und vollendetem Geihmad archaiſtiſche Bildreize zur Darftellung 
graziöfer Ungezogenheiten, — und dann übertreibt er die formalen Stileigenheiten 
fo flug, daß der Formalismus ich ſelbſt ironiſirt und die Satire des Stoffes 
verftärft. So jteht er mitten im Hiftorifchen und doc) darüber, verwirrt den 
Beichauer, fpottet über die eigenen Krüden und löjt das Problem im Ge— 
lächter auf. Nur feine Behandlung der prinzipiell fo wichtigen Kunftfrage 
hat praftifchen Werth: die Löſung eines Karifaturiften. 

Der Zwieſpalt verfchwindet allein auf dem Gebiet der Portraitmalerei. 
Hier, wo das Objekt feine Rechte fordert, der Phantafie feſte Grenzen for= 
maler Natur gezogen find, fragt man nicht nach Impreſſion oder Altmeifter- 
lichfeit. Wenn das Weſen des Dargeftellten eindringlich wiedergegeben ift, 
jind die Mittel gleihgiltig. Darum wird Trübners Herrenportrait, das 
ſchon vor zwanzig Jahren gemalt worden ift, für alle Zeiten modern 
fein; denn jede künſtleriſche Qualität dieſes meifterhaften Bildes ift pfycho= 
logiſch gerechtfertigt; und wo der Gleichflang von Anſchauung und Idee iſt, 
wird jedesmal aud Stil fein. Slevogt ift e8 mit feinem D’Andrade 
weniger geglüdt, fo viel Talent in feiner Arbeit auch enthalten if. Der 
Künstler ſchwankt eben jegt zwilchen Hell und Dunfel und die münchener 
Malweife, die auf zwanzig Schritte nach Delfarbe riecht, wird ärgerlich 
ſichtbar. Doch man fpürt in feiner Natur ein fräftiges Wachſen. Sein 
Theaterportrait iſt darum, felbjt in der Unmausgeglichenheit, werthvoller als 
dag fertigere, ſehr geichmadvolle, etwas feminine Damenbildnig von Lepfius, 
als das von einer ewig gleich Schrulligen Tüchtigfeit zeugende Werk Habermanns 
oder Kalckreuths mühſame, verftändige Portraitfunft. Temperament fpürt 
man wieder bei Zorn, dem europäifch kultiviggen Ruſſen Somoff und in dem 
himmliſch füren Frauenbildnig von Zargent. Das ift verliebte Malerei. 

Mit diefem Bild im Auge wird es leichter, die äfthetiiche Anfchauung, 
die in der Ausſtellung wahre Strapazen ertragen hat, auf der Strafe, der 
geihmücten Weiblichkeit gegenüber, harmlos fortzufegen; und fo fommt man 
mit guter Manier über die peinvollen Widerfprüche hinweg, die ſich innerhalb 
der Sezefltoniftenkunft und tim Verhältniß diefer idealen Bethätigung zu den 
geltenden Lebensformen zeigen und unerbittlich zur Parteinahme drängen. 


Friedenau. Karl Scheffler. 


» 


Geigenfpieler und Flötenbläfer. 431 


Beigenfpieler und Slötenbläfer. 


5; Schickſal ift dumm und blind und brutal. 
Was fümmert es, ob wir in £uft oder Qual 
uns beraufchen oder rajen? 

Eine fingende Geige gabs mir in die Hand 

und warf mich hinab, wo im ganzen Sand 

die Leute nur Flöte blafen. 


Und ich geigte im ganzen Lande herumt, 

doch Alles blieb Fühl und dumm und ftumm: 

fie verftanden ſich nur auf Flöte. h 
Und doch hatt! ich ihnen mein Beſtes gezeigt, 

nein Allereigenftes vorgegeigt, 

daß ich vor Scham jett erröthe. 


Da jperrt’ ih mich ein in mein Kämmerlein 
und Fratte und geigte für mich allein 

auf meiner Dioline. 

Daß fie bald Preifchte und fchmerzlich fchrie, 
bald jchluchzend weinte in Melancholie 

unter dämpfender Sordine. 


So geig’ ich mich tot ohne Zweck und Siel, 
denn es rührt mein einfames Geigenfpiel ° 
weder Menſchen noch Thier noch Gräfer. 
Das Schiefal ift dumm und brutal und blind. 
Warum fchict es ein geigendes Mlenfchenfind 
unter die Slötenbläfer ? 


Belfingfors. Johannes Oehquiſt. 


Kinderarbeit. 


as Kind iſt eine Vergegenwärtigung des Ideals, nicht zwar des erfüllten, 

aber des aufgegebenen. Es iſt die Vorſtellung ſeiner reinen und freien 
Kraft, feiner Integrität, feiner Unendlichlkeit, was uns rührt. So ſchrieb 
Schiller zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts. 





432 Die Zuknnft. 


Es war die Zeit, in der die aufblühende mechanische Produftion jich 
der Kinderhände bemächtigte; aus den gelöjten Felleln der früher behördlich 
überwachten Gewerbe jchmiedete fie Sklavenketten. Seit 1815 zeigen jtaat= 
liche Erhebungen, wie es um die reine und freie Sraft, die Jntegrität, die 
Unendlichkeit einer wachienden Anzahl Kinder ftand: von vier und fünf Jahren 
an wurden jie bis zu vierzehn Stunden in dumpfe Werkjtätten eingepfercht, 
zum Theil in der Nacht; nicht felten mit roher Mißhandlung zur Arbeit 
getrieben, mit Peitfche und Waflerfprige „Frifch“ erhalten. Es kam vor, 
dak ihre Erholung in Spiel, Tabak, Branntwein, Unzucht, Rauferei, ihre 
einzige Unterhaltung während der Arbeit in fchmugigen Reden und Liedern 
beftand. Das Kinderelend jchlug die erſte Brejche in das Lehrgebäude von 
der Selbjtverantwortlichleit der Arbeiter in dem neuzeitlichen Wirthichaftleben, 
ſchuf die Antithefe der Gewerbefreiheit: den ftaatlichen Arbeiterſchutz. 

Doch die Geſetzgebung eines Jahrhunderts vermochte nicht, daS Uebel 
an der Wurzel zu treffen. Im der Fabrif freilich ward e8 eingedänmt. 
„sn der Hausinduftrie, in Handel und Berfehr, ja, in fait fünmtlichen 
Berufsarten wuchert es üppiger al3 zuvor.“ „Tauſende, Zehntaufende von 
Kindern arbeiten im Schweiße ihres Angefichtes von morgens halb vier ab 
bis zu Anfang des Umnterrichtes Stunden lang oder jchaffen die Nächte hin— 
durch bis zwei, drei Uhr.“ Das zwanzigite Jahrhundert brach an, ehe Deutfch- 
land eine Reform aud nur in Angriff nahm. Erſt jetzt haben die Ver: 
bündeten Negirungen einen Gejegentwurf vorgelegt, der die Sinderarbeit 
außerhalb der Fabriken regeln fol. Er macht Halt — leider — vor ber 
Zandwirthichaft und dem Gelindedienft. Nicht aber vor der Schwelle des 
häuslichen Heiligthumes, das in zu vielen Fällen eine Höhle der Armuth 
und der Verfommenheit iſt. Darin liegt feine Bedeutung. 

Die Geſchichte diefer Neform zeigt deutlich, was ein Einzelner vermag, 
der mit tapferer Hingabe fein Ziel verfolgt. Gewiß darf das von Soziologen, 
Aerzten, Gemwerbeinfpeftoren und einzelnen Ortsbehörden gelieferte Material 
nicht unterfchägt werden, nicht der Einfluß der ſozialdemokratiſchen Agitation 
und der Arbeiterfchutfongreife. Aber die lebendige That brachte doch erſt das 
Auftreten des Bolksfchullehrers Agahd. 

Konrad Agahd, im Fahre 1867 als Sohn eines Lehrers in dem 
ponmerfchen Flecken Neumark geboren, empfing im Elternhaus die Eindrüde, 
die jein Leben bejtimmten: „Mit der Muttermilch eingefogen habe ich den 
Grundfat: den Schwachen beiftehen im jeder Weife. Unfer Haus war felten 
oyne Jemand, dem der Vater helfen mußte, und die Mutter gab Alles hin 
für Kranke im Ort, — leife, leiſe.“ Schon im Seminar regte lich der 
fritifch veformatoriiche Geiſt und in feiner erſten Kehreritelle in Virchow, 
Kreis Dramburg, begann der Zmwanzigjährige, „den Urjachen nachzuſpüren, 


Kinderarbeit. 433 


auf denen die Verſchiedenheit der fozialen Lage, der Bildung und die Rück— 
ftändigfeit der Bewohner dieſes Ortes umd feiner Heimath beruhen könne.“ 
1890 fommt er nad Rirdorf. Hier beginnt feine jozialpolitifche Tätigkeit 
unter dem Motto: „Durch eigene Kraft vorwärts, unbefümmert um rechts 
und links. Der Menfc glaube an feine dee.“ Sein Glaube ftählt ihn: 
fein Ruhen noch Raften, fein Erlahmen an den Widrigkeiten des Kampfes, 
an der Enge und Gebundenheit feiner Stellung. Er nimmt fie groß. Mit 
feinen Berftehen forfcht er in der Kinderſeele, fucht die Löfung mancher 
Näthfel in ihrer Ummelt. „Bon je her bemüht, jeden Schüler individuell 
zu behandeln“, macht er fich mit den Verhältniffer der Eltern vertraut. 
1894 erregt feine erjte grundlegende- Schrift über die Lohnarbeit der Kinder 
in Nixdorf Auffehen. Zahlreiche Auffäge, Vortrag auf Vortrag bald hier 
bald dort, folgen. Ihm vor Allen ift es zu danken, daß die deutfche Lehrer: 
ſchaft sich in den Dienft des Kinderfchuges ftellt und den Staat zum Handeln 
treibt. Nach feinem Vorgehen, dauernd von ihm angeipornt, ergänzen und 
fommentiren die Lehrer die unzulänglihen Angaben amtlicher Erhebungen, 
hauchen den toten Zahlen graufam beredtes Leben ein. 

Agahds jüngft erfchienenes Buch „Kinderarbeit und Gefeg gegen die 
Ausnugung findlicher Arbeitkraft in Deutjchland“*) unterrichtet über den Gang 
der Ereigniffe. Genauer Sachkunde paart fih naiv bewegliche Klage und 
apojtolische Mahnung zur Abhilfe. Der Menfchheit ganzer Sammer, der 
dem Berfaffer in jeiner Schule vor Augen trat, durchzittert wie leifes 
Schluchzen die fchlichte Darftellung. 

Nach den als folden erwiejenen Mindeftzahlen der amtlichen Erhebung 
von 1898 waren außerhalb der Fabrifen 544283 Kinder gewerblich thätig. 
Ihre wirkliche Zahl wird auf das Doppelte veranſchlagt. Man jpridt von 
der erzieherifhen Wirkung der Arbeit. Geſundheit-, Schul: und Kriminal— 
ftatiftif laffen über diefe erzieherifche Wirkung feinen Zweifel. Sie befteht, 
fagte Graf Pofadowsly in der Reichstagsfigung vom dreiundzwanzigften April 
1902, unter Umjtänden darin, „daß ein folches Kind zum Krüppel oder 
Idioten“ — und, füge ich hinzu, zum Verbrecher — erzogen wird. Der 
Aufenthalt in verdorbener Luft, Näſſe und Kälte, endlojes raſches Treppen- 
laufen, Bier: und Schnapsgenuß find die Segnungen des kleinen Haus: 
industriellen, Straßenverkäufers, Zeitung: und Badwaarenträgers, Ausläuferg, 
der Kegeljungen und Kellmerlehrlinge. infeitige Körperbeanfpruchung in 
der Tertilinduftrie bewirkt Mifbildungen, nächtige8 Porzellanmalen zerftört 
die Sehkraft. An fi ungefunde Arbeiten, wie in der Tabak-, Cigarren: 
und Gummifabrifation, treten Hinzu. Kinder, Mädchen und Knaben, find 


*) Unter Berüdfichtigung der Gejeßgebung des Auslandes und der Be- 
Ichäftigung der Kinder in der Yandwirthichaft. G. Fiſcher, Nena 1902. 


4314 Die Zutunft. 


als Steinmegen, in Mühlen, Brauereien, Branntweinbrennereien, als Mefler- 
ſchmiede, Stubenmaler, Zimmerer thätig. Auch „Schlachten ift feine Be— 
fhäftigung für Kinder. SonderfabinetS zu bewachen noch viel weniger.“ 
Die Hege des Ermwerbes macht die Schule zum „Nebenberuf“, der das 
Kind ſtumpf findet und ihm Prügel einbringt, wenn es ihn zum Ausſchlafen 
nugen will. „Die Kinder fehen vielfach bleich und kränkli aus, find 
engbrüftig, befommen krumme Rüden, leiden an den Augen.“ „Es kommt 
vor, daß fait die Hälfte der Erwerbsſchüler einer Klaſſe unternormal ift. 
Und e8 kann nit Zufall fein, daß die bemooften Häupter der Fibeliften, 
fo weit nicht Fdioten in Betracht kommen, fait immer noch erwerbend thätig 
find oder doch waren.“ Möge niemals vergefien werden, unter welchen Ver— 
hältniffen Lehrer arbeiten, wenn 44 von 69 bi8 87 Prozent einer Klaſſe 
(Ergebnit aus Chemnig) im Erwerbsleben thätig find. „Die verbreitetiten 
fittlihen Schädigungen liegen aber in der Untergrabung der Ehrlichkeit, des 
MWahrheitgefühls und des Gefühls für Sitte und Anftand.“ „Es gehört 
durchaus nicht zu den Seltenheiten, dag Knaben am frühen Morgen von 
Dirnen verjchleppt werden.“ In England waren 67 Prozent der zur Zwangs— 
erziehung abgegebenen Kinder Strafenverläufer. Hören wir auch den Ge— 
fängniflehrer. Bon je 100 jugendlichen Gefangenen in Plögenfee waren 54 
bis 70 während der Schulzeit Stalljungen, Laufburſchen, Kegelaufjeger u. f. w. 
„Unfere Bengel, die wir da haben, die Mörder, jind, wie ich feitgeftellt habe, 
alle Jungen gewefen, die in den Deftillen gefeflen und Segel aufgeftellt Haben.“ 
Viele Jungen, die wegen Diebſtahls beftraft wurden, waren früher Semmel- 
träger. Mit Heinen Diebftählen fangen fie an, eine Stufenreihe reiht fich 
an die andere und endlich kommen die Jungen zu und.“ Was für die ge- 
werbfiche Arbeit gilt, trifft auch die Landwirthſchaft und den Geſindedienſt. 
Wie die Beilerunganftalten und Gefängniffe, jo füllt jede Art der 
Kinderarbeit auch die Kranken- und Armenhäufer. Die übermäßige An— 
ftrengung in der Jugend führt zu vorzeitiger Erjchlaffung und Erwerb3- 
unfähigfeit. Und die Heinen Kinderhände drüden bleifchwer auf die Löhne 
der Erwachfenen, mehren Noth und Arbeitlofigkeit. So ift ihr Erwerb ein 
Krebsichade, der den Staat belaftet, das Volk entnervt. Unmöglich, ihn in 
unferem heutigen Wirthfchaftfyiten erziehlich wertvoll zu geftalten. Er hängt 
zu eng mit defjen trübjten Auswüchſen, Wohnungnoth, Hungerlöhne, Armuth, 
Smeaterinduftrien, zufammen. Immerhin: das neue Gejeg weilt vorwärts. 
Agahds Buch zeigt den Werth und die Rüdjtändigfeit des Entwurfes, fordert 
zur Mitarbeit an feiner Verbefferung auf, will mit Recht die ganze Gefell- 
haft zu ntereffenten feiner Durchführung machen. Es iſt „allen Kinder— 
freunden gewidmet“, eine flammende Mahnung, ein erichütternder Wedruf. 


Helene Simon. 
* 


— — — — F Zu ne 
B ? ar — u. “ — — — — — u. 
= F nee um WETR, ’ n — — 


Selbſtanzeigen. 435 


Selbſtanzeigen. 


Die Fabrikarbeit verheiratheter Frauen. (Schriften des Sozialwiſſen— 
ſchaftlichen Vereins in Berlin. Herausgegeben von Oskar Stillich. Verlag 
von Dr. Eduard Schnapper, Frankfurt a./M. 1902. 


Das Jahr 1899 hat uns eine höchſt werthvolle Aufnahme gebradt. Man 
hatte die Beamten der Gewerbeaufjicht beauftragt, eine Unterſuchung über die 
Trabrifarbeit verheiratheter Frauen und alle ihre Folgeerfcheinungen anzuftellen. 
Meine Schrift bezwedt, die Ergebnifje diefer Aufnahme in völlig ſachlicher Faſſung, 
aber trotzdem kritiſch verarbeitet, einer größeren Oeffentlichkeit zu unterbreiten. 
Selbjtverftändlich konnte man fich nicht darauf bejchränfen, die Wirkungen der 
tabrifarbeit auf die Frauen ſelbſt zu kennzeichnen. Es galt vielmehr, in ben 
Brennpunkt der Erörterungen die Frage zu rüden, welden Einfluß die induftrielle 
Thätigleit der rau und Mutter auf die Familie, namentlich auf die Kinder, 
ausübt. Daran fnüpft fi die Erwägung, ob die verheirathete Frau von der 
Fabrikarbeit auszujchließen ſei. Endlich mußten verjchiedene Reformvorſchläge 
betrachtet werden. Auch die heute ſo vielumſtrittene Frage einer Neugeſtaltung 
des Arbeiterhaushalts auf wirthſchaftgenoſſenſchaftlicher Grundlage wird eingehend 
erörtert. Sch hoffe, mit dem Buch Allen, die ſich für die wichtige Frage der 
eheweiblichen Fabrikarbeit interejjiren, ein Hilfsmittel in die Hand gegeben zu 
haben, das ihnen die nöthigen Daten in überfichtliher Weife zur Verfügung 
ftellt. Schließlich wird wohl Jeder zu der Forderung gelangen, daß die aus 
vielen Gründen unentbehrliche Erwerbsarbeit verheiratheter Frauen jo geihügt 
und ausgebaut werden muß, daß jie aus einem Verderben bringenden zu einem 
heilfamen Faktor der nationalen Wirthichaft werde. 

Frankfurt a./M. a Henriette Fürth. 


Geftern und Heute. Gedichte. M. Lilienthal, Berlin. Preis 1,50 Marf. 
Eine Probe: 
Gebet. 
Bu Dir bet’ ich, großer Geift der Welten! 
Laß mic immer treu jein meinem Schwur: 
Eud allein ſoll nur mein Ringen gelten, 
Wahrheit, Schönheit, Eurer Spur. 


Wenn erjterben will das ftarfe Sehnen 

Und zu niederm Biel der Geift einft lenkt, 
Wenn mit lieblid, lodend ſüßen Tönen 
Leichter Ausweg aus dem Kampf fi ſchenkt, 


Dann — gewaltger Geift, erhör mein leben — 
Tritt zu Boden jedes andre Glüd, 
Lab erbarmunglos mich untergehen, 
Dod bereite mir fein feig Zurüd. 
Halenſee. Hellmuth-Hell. 
* 


436 Die Zutunft. 


Die Slaven in Deutjchland. Mit 215 Abbildungen, Karten und Plänen, 
Sprachproben und 15 Melodien. Braunfhweig, Drud und Verlag von 
Friedrich Vieweg & Sohn 1902. (15 ME.) 

‚sch Habe die Politif aus dem Spiel zu laſſen geſucht, um die Tages: 
frage „Die Slaven in Deutichland* zu würdigen. Ich glaube aud, da bei 
gegenjeitigem Eingehen auf das Volksthum der Stämme eine Grundlage der 
Berftändigung geichaffen wird. Jedenfalls jollte dem Bolitifiren das Studium 
der Volkskunde der jlaviichen und baltiihen Bewohner des Deutjchen Reiches 
vorangehen. Meine Darftellungen, die erjten ausführlichen des großen Geſammt— 
jtoffes, fügen fich auf wiederholte längere und kürzere Neifen und auf den 
Verkehr mit den jlaviihen Stämmen an Ort und Stelle. Dabei ijt nicht ver« 
geften worden, auf Alles einzugehen, was in der deutichen und ſlaviſchen Literatur 
alter und neuer Zeit meinen Gegenitand beleuchtet. 

Leipzig. a Franz Tegner. 

Sprecdyendes Leuchten. Für denkende Menichen ein Büchlein Gedanfen. 
Berlin 1902, Schufter & Koeffler. 


Der Autor diefes Buches? Das Leben. Nicht ich. Aber in mir hat das Leben 
Muße gefunden, Manderlei zu offenbaren von Dem, was in ihm bejchlofjen 
liegt. Und aus diefem Mancherlei habe ich mich Das zu wählen bemüht, was 
entweder, wie das Sprichwort, ewig wahr und prägnant oder in der Form jo 
neu it, daß auch alter Inhalt gern mit in den Kauf genommen wird. Sollte 
mander Spruch diefes Buches im Sprichwort aufgehen, dann will das Bud) 
mit Freuden wieder. untergehen. 
Münden. . Hugo Oswald. 
v 
Der Spiegel. Gedichte, Szenen, Königsmärchen. Hermann Seeman Nach— 
folger in Leipzig, 1902. 
Seite 1: 
Und wieder faß ichs fo: das Spiegelglas, 
das Du in Deines Lebens Mittagshöhe 
anſiehſt ohn' Unterlaß 
in jener augentiefen Nähe, 
wo es jchon faſt vor Deinem Hauſe naß, 
zeigt Dir, wenn Du beharrit 
und wartend bis zum Grund der Spiegelbilder jtarrft, 
erfüllt, was unerfüllt in Dich geſunken 
und aus der Gluth, 
aus Deinem Blut 
ein traumhaft Yeben ſich getrunken. 
Und Du erwadjit, wenn ich Dich) jo den Pfad 
zur klaren Fluth ewiger Bilder führe 
und aus dem eich des Spiegels, nicht der That, 
Dich leis mit meiner Hand berühre. 
Meimar. Wilhelm von Scol;. 
v 


2 — III 
EEE u [ * 


Sanden und Genoſſen. 437 


Sanden und Genoſſen. 


volle Wochen waren am neunten Juni ſeit dem Tage verſtrichen, wo 
draußen in Moabit die Hauptverhandlung gegen Herrn Eduard Sanden 
und jeine Mitfchuldigen begonnen hatte. Wenn jie im bisherigen Tempo weiter- 
geht, wird am Ende in Leipzig über Herrn Erner das Urtheil gejprochen fein, 
bevor hier die Anwälte zu den Blaidoyers fommen. Bor dem Bräfidenten häufen 
fih Berge von Akten und neben dem Großen Schwurgerichtsjaal lagern centner- 
ſchwere Geſchäftsbücher. Fünf Richter, ein Erjagridhter, drei Staatsanwälte, 
zehn Bertheidiger, fünf Sadjverjtändige und ein Heer von Berichterftattern find 
zu der feierlihen Amtshandlung mobil gemacht worden. Diejer große Apparat 
entjpricht der Größe der Schuld, die die Öffentlihe Meinung den Angeklagten 
aufbürdet. Sie haben Hunderte von Familien um den Reſt ihrer Eleinen, durch 
mühſame Arbeit aufgejpeicherten Erjparnifie und Abertaujende um wejentliche 
Theile ihres Vermögens gebradt. Noch jchlimmer beinahe ift, daß fie dem 
Großkapital Gelegenheit gaben, feine Uebermacht auszunügen und Denen, die 
Alles zu verlieren fürdteten, die Bedingungen der Rettung zu diktiren. Un— 
zweifelhaft haben die Santirungen der Banken in den Augen der Mitwelt bie 
Schuld der Sandengenofjen erhöht. Trotz diefer Schuldfülle muß man heute 
jagen: Tant de bruit pour une omelette! Denn ganz anders als der Spruch 
der Zeitgenoſſen ſchätzt das gelehrte uriftenrecht die Schuld der Angeklagten. 
Ob durd eine Handlung ein Einzelner oder viele Berjonen geſchädigt find: Das 
fann für das Strafmaß in Betracht fommen, wird von dem Paragraphen des 
Strafgejeges aber nicht verjchieden beurtheilt. Wenn das Gefeß die That nad) 
ihrer größeren oder geringeren Gemeingefährlichfeit jtrafte, müßten die Ver— 
gehen gegen das Aktiengeſetz viel jtrenger geahndet werden, als es heute nad 
den Normen des Handelsgeſetzbuches gejchieht. Und wenn man bedenkt, wie 
verhältnigmäßig gering, ſelbſt im fchlimmften Fall, die über Sanden und Ge- 
nojjen zu verhängende Strafe ausfallen mühte, dann erjcheint der in Bewegung 
gejegte Apparat dem nüchternen Auge wirklich fait allzu groß. 

Eher jhon ſtimmt die Länge der Dauptverhandlung mit der Dauer de3 
Borverfahrens überein. Die Leute, die ji jet auf der Anklagebank einer 
neugierigen Hörerjchaar zeigen müfjen, fiten rund anderthalb Jahre in Unter: 
juhunghaft. Sicher ift bei jo fomplizirten Vergehen eine längere Borunter- 
juchung nöthig als bei Alltagsdeliften. Etwas jchneller aber könnte und müßte 
auch in jolhen Fällen die Juſtiz arbeiten. Leider fehlt unferen Richtern in 
Dandelsjachen jede Vorfenntnig. Die Geheimniffe der Buchführung, alle Uſancen 
des Gejchäftslebens find ihnen völlig fremd; und viel Zeit geht jchon verloren, 
bis jie auch nur im Stande find, die Gutachten der herangezogenen Sachver— 
ftändigen zu verjtehen. Mit Recht hat man deshalb gefordert, daß in jolchen 
Prozeilen der Anklagebehörde und dem Unterfuchungrichter handelsrechtlich ges 
ſchulte Hilfskräfte beigeordnet werden; auch in der Hauptverhandlung follte die 
Staatsanwaltjchaft von einem Dandelsrichter unterjtügt werden. Die über- 
mäßige Ausdehnung der Vorunterfuhung ſchädigt den Angeklagten, aber aud) 
das Anjehen der Juſtiz. Den Sanden und Genoffen wird man ja einen großen 
Theil der Unterfuhunghaft — wenn nicht die ganze — auf die Strafe an- 


33 


u A 


438 Die Zukunft. 


rehnen müſſen. Das aber war nicht die Abficht des Geſetzgebers, der für be 
ftimmte Bergehen eine beftimmte Gefängnißjtrafzeit vorjchrieb und nicht wollte, 
daß ein Theil diefer Strafe im Unterfuhungsgefängniß verbüßt wird, mo der 
Angeklagte jeine eigenen Kleider tragen, fich felbit beföftigen und in gewiſſem 
Umfang frei bewegen darf. Der Piychologe aber kann ſich über die jchlimmen 
Folgen einer jo langen Unterfuhunghbaft nicht täufchen. Die fchredlichfte Ge— 
wißheit ijt leichter zu ertragen als die jeeliiche Dual banger Erwartung. Auch 
dieſe modernijirte Folter wollte der Gejeggeber nit einführen. Nach, jeder 
Richtung bedarf aljo das Verfahren in Handelsprozeſſen einer gründlichen Reform. 

Nützlich wäre es ſchon, wenn Affefforen, ehe fie zur Staatsanwaltichaft 
fommen, eine Weile bei Großhändlern lernten. Jedenfalls zeigt gerade der 
Prozeß Sanden, wie nöthig der Anklagebehörde die genaue Kenntni der Dandelsge- 
bräuche iſt. Der Staatsanwalt, der die Anklage gegen die Hypothetenbanferot- 
teure gebaut hat, verfügt über alle Gaben, die man von einem Staatsanwalt 
billiger Weife verlangen kann; er hat eine ftattlihe, an jchöne Studententage 
erinnernde Yeibesfülle, ein ungewöhnliches Maß geduldiger Ruhe, iſt Elug, jchlag- 
fertig und kennt feinen Prozeßjtoff gut. Die preußijche Bureaufratic mahlt, 

- mit Gottes Mühlen, laugſam; wenn fie aber eine Sache erjt einmal erfaßt hat, dann 
weiß fie auch Beſcheid. Doch was joll jelbjt ein Mufterftaatsanwalt gegen zehn 
in alle Sättel gerechte Bertheidiger ausrihten? Der NReditsanwalt muß in 
jolden Fällen dem Staatsanwalt überlegen jein. Die Praris bringt ihn oft 
in Verkehr mit Kaufleuten und in feinem Bureau gehen allerlei Leute ein und 
aus, die ein königlich preußiſcher Staatsanwaltichaftrath mie ſieht, — metit auch 
nicht jehen oder ‘gar hören will. Und für den Hall Sanden find die Triarier 
der Bertheidigung aufgeboten. Neben den Herren Kleinholz, Sello, Wronfer 
fit der Juſtizrath Munckel, der mit Bandelsgefchäften im Allgemeinen und — 
durch feine Aufjichtrathsthätigkeit — ſpeziell auch mit den Schleichtwegen der Preußen- 
bank vertraut ijt, fit Wilhelm Bernftein, der Kommentator des Wechſelrechtes, 
und Fedor Stern; diefe Derren kennen alle Dintergründe des Gejchäftslebens 
genau und nicht jeit geitern. Sie Alle, Ankläger und Bertheidiger, ſuchen natür— 
li die berühmte „objettive Wahrheit‘ und find ohne Ausnahme Anwälte des 
Rechtes. Vielleicht aber find zehn jo geübte Pfadpfinder im Suden glüdlicher 
ald die auf joldem Terrain unerfahrenen Nobenträger neben dem Ridtertijch, 
denen ein Dandelsrichter als Helfer nur nüßen könnte. 

Die Hauptverhandlung zeigte bisher ungefähr die jelben Züge, die in 
ähnlichen Prozefjen und neuerdings wieder in dem Verfahren gegen den Treber- 
Schmidt fichtbar waren. Die zuerjt jehr lebhafte Hoffnung auf Senfationen 
ſchwindet da jedesmal, wenn in ausführlicher Breite die Korrektheit der Buchung 
und die Schiebungen erörtert werden; aud jet wurde der moabiter Schwur- 
gerichtsjaal von Tag zu Tag leerer. Allgemein war erwartet worden, die „vor— 
nehmen Beziehungen“ des Dauptangeflagten, befonders fein reger Verfehr mit 
dem berhofmeijter Freiherrn von Mirbach, würden erörtert werden, und die 
Neugier hatte ſich auf die Verlefung der Bolizeiaften gefreut, von der fie manche 
Ueberrajchung hoffte. AU diefe Doffnungen find unerfüllt geblieben. In die 
Anklagejcrift it von Sandens höfiſchen Verbindungen fein Wort gefidert; nicht 
einmal die Thatjache wurde erwähnt, da Herr Eduard Schmidt den Titel eines 





Sanden und Genoffen. 439 


Hofbankiers der Kaijerin trug. Auch die Alten der Auffichtbehörbe zeigten nur, 
was man längit wußte: daß es Sandens biederer Beredſamkeit immer wieder 
gelungen war, Polizei und Minijterium an der Nafe herumzuführen. Im Hinter: 
grunde läßt die BVertheidigung vorläufig den früheren Landwirthſchaftminiſter 
Freiherrn Lucius von Ballhaufen über die Bühne führen,. Vielleicht wird er 
noch vernommen. Dann follte man ihn fragen, weshalb die mit genauen Daten 
belegten Angaben der Grundbejigervereine und des Dr. Paul Voigt, weiland 
Privatdozenten in Berlin, denn gar nicht beachtet worden jeien. 

Einjtweilen fönnen die monotonen Verhandlungen nicht einmal den Fach— 
mann bejonders interejjiren; das „Finanzſyſtem“ des Klüngels war ja ſchon 
vorher befannt. Die eriten Tage hatten wenigſtens dadurch nocd einigen Reiz, 
dab man die Taktik der Bertheidigung erfennen lernte. Doc war ihr der Weg 
eigentlich ja vorgejchrieben. Sandens Hauptwaffe ift fein ſchwaches Gedächtniß. 
Er hat in der erften feeliihen Deprejjion nad) der Verhaftung ſich ſelbſt ſchuldig 
bekannt. Jetzt Teugnet er und wei im Grunde nur noch beitimmt, daß er 
nichts weiß. Er, dem in der Zeit feines Ruhmes ein ganz auferordentliches 
Gedächtniß und die Fähigkeit nachgejagt wurde, . fi in dein wirrjten Gejträhn 
bes Niejenbetriebes zurechtzufinden, fennt jegt nicht einmal mehr die Namen 
der Mitglieder des Konfortiums für die jungen Grundſchuldbankaktien und weiß 
nicht von Herkunft und Beitimmung einzelner Konten. Wo aber der Sad): 
verjtändigen Spürfinn jeine Winkelzüge aufgededt Hat, da verſchanzt er ſich Hinter 
feinen guten Glauben. Gr vertheidigt fi ruhig und ficher, beinahe behaglich. 
Dian fieht ihm an, daß er froh iſt, endlich jo weit zu fein. Wie viele Jahre 
mag der Mann ruhelos gelebt haben! Allmählich findet er fih nun aud in 
die Rolle des Sündenbodes. Seine Kollegen laſſen nahdrüdlicd betonen, daß 
fie in ihm ihren Deren und Meifter geliehen und nie jelbjtändig disponirt haben. 
Nur Heinrih Schmidt hat gegen ihn gekämpft und ſchon 1885 gelagt, wenn man 
es jo weiter treibe, werde der Weg nad) Moabit führen. Das joll aber nur 
eine der bei ihm üblichen Redensarten gewejen jein. Auch Otto Sanden, Eduards 
Bruder, wollte längit nicht mehr mitmachen. Er jagts und man darf ihm jo- 
gar glauben, denn er galt in der Gejchäftswelt jtets als der folidere Bruder. 
Auch den Verfiherungen Buhmüllers, der, wohl auf Wronfers Rath, geltändig 
tft, darf man Glauben jchenken. Er ilt der Typus eines getreuen Commis, 
der in dem einen Geſchäft groß geworden und deshalb unfähig war, Vergleiche 
zu ziehen, die ihn zu vorfichtiger Sfepfis mahnen fonnten. UWeberhaupt hat 
man e3 meijt mit Leuten zu thun, denen Sanden nicht nur Brotherr, jondern 
auch Lehrherr war. Dieſe Thatſache ift noch nach anderer Richtung wichtig. Die 
Angeklagten können den anderen Hypothekenbanken nicht gefährlich werden. Sie 
willen nicht, was extra muros vorging. Diejes idylliiche Bild wird der Prozeß 
gegen die Direktoren der Pommerſchen Onpothefenbanf nicht bieten. Herr Schulz 
foll fi, wie man erzählt, über alle norddeutichen Hypothekenbanken Akten an— 
gelegt haben, die er gewiß für jeine Bertheidigung nugbar machen wird; am 
Ende läßt er auch die Sanitäträthe, die jeine Bfandbriefgläubiger gekürzt haben, 
nicht ganz ungejchoren. Die norddeutichen Hypothekenbanken follten im Bommern- 
prozeh bei der Berufung von Sachpverjtändigen mehr Eifer ald diesmal zeigen. 


Plutus. 


93° 


440 Die Zukunft. 


Notizbuch. 


or neun Jahren, als Bismard in Friedrichsruh vierhundert Bewohner des 

Fürſtenthumes Lippe empfing, ſagte er, er habe gehofft, „daß die Landtage 
der einzelnen Staaten ſich lebhafter, als es bisher gejchehen ijt, an der Reichspolitik 
betheiligen würden, daß die Reichspolitik auch der Kritif der partifulariftifchen Yand- 
tage unterzogen werden würde. Ich hatte mir ein reicheres Orchefter zur Mitwirkung 
in den nationalen Dingen gedacht, als es fich bisher bethätigt hat, weil die Neigung 
zur Mitwirkung in den einzelnen Staaten nicht in dem vorausgejegten Maß vor: 
handen war. Wenn Sie nad) Haufe fommen, jollten Sie dafür wirken, daß die Be- 
theiligung an der Reichspolitif auch in der Diafpora der Yandtage lebhafter wird. 
Es ijt ein Irrthum, wenn Staatsrechtslehrer behaupten, die Yandtage jeien dazu nicht 
berechtigt; fie find immer befugt, das Auftreten ihrer Minifterien in Bezug auf die 
Reichspolitif vor ihr Forum zu ziehen und ihre Wünſche den Miniftern kund zu thun.“ 
DerWunfch, die Landtage möchten fich mit der Reichspolitik und mit der Anftruftion 
derzum Bundesrath Bevollmächtigten eifriger als bisher bejchäftigen, entiprang nicht 
etwa einer Zufallslaune des Fürſten; er hat ihn im Privatgeipräd) oft wiederholt. Der 
vierte anzler, dendieBernhardinermeute unermüdlich als neuen Bismarck ausbellt, ift 
anderer Meinung. Er verjagt den Preußen das Recht, deſſen Wahrung im Sadjen- 
walde den Lippern zur Pflicht gemadjt ward. Als die fonjervative Partei neulich 
im Landtag fragte, ob die preußiiche Regirung im Bundesrath für einen wirkſamen 
Schuß der landwirthichaftlichen Produkte eintreten wolle, las der Minifterpräfident 
eine Erklärung vor, die dem Landtag das Necht zu dieſer Frage beitritt, und verlich 
dann mit den Kollegen den Situngjaal. Die Erklärung trug ihm „Ziſchen und 
Ladıen rechts’, der Erodus „lebhaften Beifall links“ ein und vielleicht ift derimmer 
heitere Herr mit dieſer Wirkung des eifenfarbigen Anjtriches zufrieden. Unſere Libe— 
ralen find jobligdumm geworden, daß fie jedesmal jubeln, wenn derpolitijche Gegner 
einen; zußtritt befommt, und in ſolchem Schuljungenbehagen alle Grundſätze und echte 
gern opfern. Und die Konjervativen braucht fein Miniſter zu fürchten. Zwar hat Herrvon 
Heydebrand Zornworte geſprochen und der Freiherr von Wangenheim hat mit danfens- 
werther Offenheit gejagt: „Wirmwollen uns darüber garfeinen Illuſionen hingeben : das 
Bertranen, das durch Jahrhunderte lange Fürforge des Hohenzollernhaujes und 
eine weife Staatsregirung im Yande aufgehäuft worden ilt, das Vertrauen, auf dem 
die Stärfe und Macht unjeres Yandes beruht, ift im legten Jahrzehnt in der be: 
denklichſten Weiſe vergeudet worden; und wenn e8 fo weiter geht, dann ſehe ich ganz 
außerordentlich pejfimiftiich im die Zukunft.‘ Doch den Worten wird wieder feine 
That folgen. Zu dem Entihlug, mit dem Mlinijter, der ſie ex cathedra her— 
unterpugt und ihnen, wie ungezogenen, muthwillig lärmenden Sclingeln, den 
Rüden zeigt, jeden Verkehr brüst abzubrechen, können die ſchwachen, durd) taujend 
höfiſche und gejellichaftliche Rückſichten gelähmten Seelen ſich nit aufſchwingen. 
Das weis Graf Bülow und riskirt deshalb Grobheiten, die er Stärferen nicht zu— 
muthen dürfte. Leber die Sache ſelbſt ijt eigentlich nichts zu jagen. Auch der 
hitzigſte Freihändler müßte zugeben, daß die an :Jahl jtärkite Yandtagsfraftion das 
Recht hat, jo oft esihr nöthig Icheint, Nechenichaft und Auskunft zu fordern, — da be» 
ſonders, wo es fih um eine Yebensfrage der von diejer ‚Fraktion vertretenen Klaſſe 
handelt. Der Minijterpräfident aber plaudert über folche Dinge lieber mit Zeitung: 


TFT N — SIT : Fr TEE ER er a Ba 3 Pr "dr ee Fr DRST a 8 De es 


Notizbuch. 441 


machern, denen er jich wahlverwandt fühlt und die vor jeinem Gebieterblid in Ehr- 
furdt erjterben. Einem franzöfiichen Interviewer hat er des Bufens Tiefe enthüllt 
und die abgelagerten Feuilletonſpäßchen mitgegeben, die er im Parlament nicht 
mehr an die Männer zu bringen wagt. Bon Sant und Fichte hat er, nad) übler Er: 
fahrung, diesmal nicht geredet, aberdie Deutjchen den Haſen, die Polen den Kaninchen 
verglichen, die fichallzu jchnell vermehren. Ueber den Geſchmack läßt fich nicht ftreiten. 
Sic; jelbft fieht der Minijter des Schönen Aeußeren in der Rolle des Paris, der be- 
rufen ift, der Schönsten Göttin den Apfel zu reichen; die Göttinnen diefes Dirten find 
Landwirthichaft, Handel und Induſtrie. Kaum war ihm das Wort entfahren, dagab er 
auch jchon den Gedankengang auf und erklärte, erwolle — „Kalchas, Du weißt wohl, 
warum! — die „Politik der Diagonale“ treiben, aljo feiner der Holden den Apfel 
geben. Das ganze, höchſt unpreußijche, aber auch höchſt undiplomatifche Gerede führtein 
Niederungen, die ein Kanzler des Deutjchen Reiches meiden follte. Noch ſchlimmer, zum 
Erichreden ſchlimm wirktendie Säße, biedem geſprächigen Herrn einpaar Tage jpäter 
in offiziöfen Blättern nachgedrudtwurden. Da rügte er den „Dang zur Schwarzjehe- 
rei‘‘,der in Deutichland fihtbar werde und völlig grundlos fei. „Gerade die nüchterne 
Beurtheilung des allgemeinen Zuftandes der einzelnen Großmächte müſſe doc) feft- 
ftellen, daß feine mit dem Gang ihrer öffentlichen Angelegenheiten, im Innern wie 
nad) außen, jo zufrieden fein fönne wie Deutjchland. Der vortheilhafte Abjtand gegen 
die Berhältnifje in anderen Staaten jei doch jo bedeutend, daß ein Vergleich ernftlich 
faum in Frage fomme. Rußland mit feinen inneren Zudungen, England mit den 
Nachwehen des jüdafrifanifchen Strieges, Frankreich, defjen innere Entwidelung nad 
dem Rücktritt Walded-Rouffeaus wieder vor einem Fragezeichen ftehe, Defterreich- 
Ungarn in feiner ethnographiſchen und politischen Zerriffenheit böten feine Bilder, 
die in uns das Gefühl weden könnten, al3 Nation oder als politiihe Macht hinter 
ben anderen Großmächten zurüdzuftehen. Ich muB es als geradezu grotesf bezeich- 
nen, wenn ein Deutjcher die Zuftände feines Baterlandes troftlos nennen will.“ 
Alſo jprad Graf Bülow. Andere werden geradezu grotesf finden, daß ein Politiker 
zu behaupten wagt, England leide an den Nachwehen des jüdafrifanijchen Krieges, 
und nicht jehen will, welche Bortheile Rußland, Frankreich, England während des 
legten Jahrzehntes der deutſchen Berjumpfung eingeheimft haben. „Troſtlos“ 
brauchen jie deshalb die Zuftände im Vaterland nicht zu nennen. Sogar in der be— 
trübenden Erfenntniß der Thatjache, daß der erfte Beamte des Reiches in Holz 
papiervoritellungen Lebt, ohne Grund und Zweck grobe Worte über die Grenze ruft und 
immer wieder beweift, wie gut er zum Chefredakteur des Berliner Tageblattes ge: 
eignet wäre, können fie Trojt finden, wenn fie die Rolle des Kanzlers richtig ſchätzen 
lernen und fi), ohne noch Länger das Heil vondes Staates Höhe zu hoffen, muthig ent= 
ſchließen, jelbjt ihres Schickſals Geftalter, ihres politischen Beſitzes Hüter zu werden. 
* * 


Einen am ſiebenzehnten Mai — dem Titel „Die Welt als Zeit“ — 
hier veröffentlichten Artikel des Herrn Landauer gloſſirt und bekämpft Herr 
Paul Mongrö in dem folgenden Brief: 

„Sehr geehrter Herr Landauer, Sie jehen das Heil darin, da der Raum 
zur Zeit werde; ich möchte dieje Mtetapher auf den Kopf jtellen und den Auf- 
jtieg der Erfenntnig von dem Wunder abhängig machen, das dem jtaunenden 
Parfifal des Gral Nähe ankündigt: Du fiehjt, mein Sohn, zum Raum wird 


442 Die Zuhmft. 


bier die Zeit! Ich verjpreche mir gar nichts davon, daß die Leere zwijchen mir 
und dem ‚Dinge da hinten‘, die gähnende Kluft zwiſchen Ich und Nichtich aus» 
gefüllt werde; ich halte es für eine mächtige Entlaftung der Senfibilität, daß 
diefe Kluft aufgerijfen und die Intenſitätſchwankungen meines Binnenlcbens zu 
fremden Objekten exteriorifirt wurden. Es muß noch immer mehr Raum aus 
der Zeit auskriftallifirt werden, aus den diffus ſchwimmenden Seelenbegeben- 
heiten fich ein feſter Niederjchlag abicheiden. Wir müjjen immer mehr noch von 
ung ins Außerweltliche verfejtigen und aus den inneren Säften ein jchönes 
Stiejelfkelet bilden, wie die neuerdings jo berühmten Nadiolarien; nicht, wie dem 
Manfred Byrons, jollen uns Berge ein Gefühl fein, ſondern lieber wollen wir 
Gefühle aufeinanderthürmen wie Berge, um wirklich in die Höhe zu kommen 
und tajtbaren Grund unter uns zu haben. Leiden wir nicht Alle heute an der 
BVerinnerlihung oder, wie Sie jagen, an der Berzeitlihung? Und nachträgliche 
Propheten wie Maeterlind verheigen ein ‚Erwachen der Seele‘: ich finde, wir 
haben entjchieden Meberproduftion an Seele und follten trachten, dieje an freier 
Luft leicht verderblihe Waare jchleunigit loszumerden. Die Zeitkünfte, Muſik 
und Lyrik, paden fo viel Seele aus, wie gar nicht beifammen bleiben will; Das 
verbreitet fih dann überall im ‚Raum‘ und macht die Fleinen Objekte, die 
Tiffanygläfer und japanischen Bronzen, aufrühreriſch, daß fie auch fchon Seele 
auszudunften anfangen. Ach, dieje Orgien der freien (im chemiſchen Sinne), 
freigewordenen Seele! Ganze fünfaktige Dramen werden als Wafjerjtoffballons 
um fo einen Seelenhauch herumgeichrieben; langwierige Nomane juchen mit 
Millimeterfchärfe den Punkt zwiſchen zwei Seelen zu beftimmen, wo jede auf 
die andere gleich jtarf reagirt. Sie wollen noch mehr Seele, noch mehr Form 
der inneren Anichauung, noch mehr ‚Zeit‘? Aber die Beitfünftler ſchmachten 
nad) einer Raumkunſt in Klingers Art. Was ift Straufens Zarathujtra und 
Heldenleben anderes als ein Verſuch, dreidimenfionale Mufif zu maden, bie 
Tongeitalten aus der einfach ausgedehnten Zeitlinie herauszufchrauben und ihnen 
plaftiiche Ansladung zu geben? Die Zeit, das überfüllte Gefäß der Seele, 
plagt an allen Eden und jpeit ihr Inneres aus: und Sie wollen nit nur 
das Bisherige, jondern noch viel mehr in den engen Schlaud zurüdjtopfen? 
Was entzüdt uns denn am Raumkunſtwerk, was giebt unjeren Nerven die wohl» 
thätige Ruhe, gegenüber den zudringlidhen Boa =: Konjtriktor- Umwindungen der 
jeelenhaften Ton» und Redelunft? Das Gentrifugale, die Richtung von der 
Seele weg ins Sichtbare, die anftändige Entfernung. Endlich ein Stüd Seele 
unwiderruflich abgetrennt und als feites Symbol uns gegenübergeitellt! Wir 
athmen auf. Und Ste wollen das Nebhautbild uns wieder als Albdrud ‚menjche 
lich näher bringen‘ ? Nicht ohne romantische Sehnfucht malen Sie eine Taftwelt 
ohne Gefichtsempfindungen aus, die raumlos nur als Gucceffion von hart, ſcharf, 
glatt, geichweift, nad, kalt, als Meolsharfenipiel wechjelnder Ichgefühle verliefe. 
Der blinde Seher, die introjpektive Myſtik hat es Ahnen angethan. Aber wir 
halten es mit Gottfried Seller: Augen, meine lieben Fenſterlein! 

Ich glaube, wir find nicht mehr jung genug, um uns über ſolche Säße 
aufzjuregen wie: alle Handlungen entipringen aus Egoismus, alles Gejchehen 
ift nothwendig, alle Wirklichkeit ift Bewußtjeinsphänomen. Solche univerjellen 
Ausjagen gehen uns eigentlich nicht mehr an, als wir den alljeitigen Luftdruck 





Notizbuch). 443 


ſpüren, worauf e8 ankommt, find die Abjtufungen innerhalb des jo oder jo be= 
zeichneten Sefammtbegriffes. Es ift jo wahr wie eine Tautologie, daß Niemand 
- Etwas thut, das ihm nicht Vergnügen madt; aber, Dies einmal fonftatirt, 
erweiit es fich doch als zweckmäßig, zu unterjcheiden, ob Einer an Ehrlichkeit 
oder Diebftahl, am Geben oder Nehmen Vergnügen findet. Der menſchliche 
Wille ift determinirt und eine metaphyſiſche Verantwortlichkeit giebt es nicht; 
ader die Gejammtheit aller ‚unfreien* Handlungen wird doch plaufibler Weiſe 
‘in Gruppen voller, verminderter und aufgeobener Zurechnungfähigkeit einge 
tbeilt. Alle Dinge beeinflujfen einander und fein Sperling fällt zur Erde, ohne 
den Sirius aus feiner Bahn abzulenken; aber für mande Paare von Dingen, 
wie Sirius und Sperling oder Mond und Wetter, ilt ed doch vortheilhafter, 
zu jagen: fie beeinfluffen einander nit. Jedes Zeichen ijt inkongruent mit 
dem Bezeichneten; aber ein Zeichen, das eindeutig orientirt, bleibt darum doch 
werthvoller als ein irreführendes, mifjweijendes. Die ganze Außenwelt ift meine 
Bewußtjeinserfcheinung; aber innerhalb diefer allumfaffenden Sceinbarfeit iſt 
es doc) rationell, gewiſſe Dinge als wirklich, andere als eingebildet oder halluzinirt 
onzujehen. Der Naum ift eine Projektion aus inneren Erlebnifjen oder, wie 
Sie jagen,‘ eine Eigenſchaft der Zeit; aber es ift immerhin merfwürdig, daß 
aus dem quallenhaft fließenden Chaos ſeeliſcher Zuftände ſich jo ein Knochen— 
gerüft mit permanenten Bejtimmtheiten herausfchälen läßt, und dieje Thatjache 
ipricht eigentlich dafür, das Skelet nicht wieder in Gallert aufzulöjen. Auch 
die ‚Dinge‘, dieje ontologiichen Ungeheuer und Duidditäten, über die der jpätere 
Niegiche fo pyrrhoniſch jpottet und denen auch Ahr Freund Mauthner in jeiner 
bewundernswerthen Sprachkritik zu Leibe geht, auch dieje erfenntnißtheoretiichen 
Subftantiva, fo wenig fie eriftiren, Taffen ſich doch nachträglich dadurch retten, 
daß die Defonomie des Denkens zwedmäßiger Weile jo thut, als ob fie erijtirten. 
Freilich Habe ich, ftreng genommen, nichts Anderes als zeitliche Modififationen 
meiner Seele, zum Beijpiel Gefihtsempfindungen von grün, zitternd, herzförmig, 
Gehörsempfindungen von wilpern, raufchen, Gerucdsempfindungen von Ozon 
und aromatischen Delen, Hantempfindungen von Schattenfühle und vorbeijtreichen- 
dem Luftjtrom; dazu Erinnerungsgefühle, daß alle diefe Empfindungen im ähn— 
lihem Zuſammenſpiel ſchon einmal da waren, ferner ein gewiſſes Gefühl der 
Abhängigkeit, da; nämlich diefe Empfindungen nicht verſchwinden würden, jelbjt 
wenn id ‚wollte‘, e3 jei denn, daß ich gewilje andere Empfindungen, die Mustel- 
gefühle des Augenſchließens oder Kopfdrehens, in mir zu erzeugen vermödhte 
u. ſ. w. Sa, Das ift das Einzige, was ic) eigentlich habe; aber wenn ich diejes 
fomplizirte Befisthum wirklich ergreifen, handhaben, in Tajchenformat bei mir 
tragen will, fo bleibt mir doch nichts übrig, als ein ‚Ding‘ zu hypoſtaſiren 
und zu jagen: Das iſt die Linde, die vor meinem Fenſter jteht! Ueber diejes 
Ding und Baumjubftantivum zu lachen, ift philofophiicher Laune nicht unwürdig, 
zumal wenn ontologiich angelegte Köpfe ſich an diejer ſymboliſchen Chiffre wie 
an einer jtarren Wejenheit Beulen ftogen und Schopenhauer die platonijche 
Idee der Linde über den Wäſſern jchweben fieht. Aber für den Dand- und 
Hausgebrauch werden Sie doch das Symbol nicht wieder ausführlicd; umjchreiben, 
das Ding nicht wieder in feine zahllofen Einzelfajern zeripinnen wollen! Dazu 
hätten Sie Grund, wenn die Dinge Das nicht leifteten, wozu wir fie erfunden 


444 Die Zuhmft. 


haben, wenn die Symbole fih nicht jo wählen ließen, daß fie zu allen Zeiten 
und für alle Subjefte das Selbe bedeuten, wenn Sie heute einen Komplex 
innerer Erlebnifje bei fich fänden, der in neunmmdneunzig Beziehungen ‚Linde‘, 
in einer einzigen Beziehung aber ‚Buche‘ ausjagt. Solde Fälle fommen ja 
freilid) vor, haben jich aber bisher immer noch unter die Pathologie der betreffenden 
Objekte jubjumiren laſſen und unfere leichtfinnige Marime: ‚Ausnahmen be- 
ftätigen die Regel‘ nicht umzuftogen vermodt. Und gerade Das unterſchätzen 
Sie, wie mir jcheinen will; Sie find nicht dankbar genug für den Glüdsfall, daß die 
Natur fich wirklich, im Großen und Ganzen, in unjere armjäligen Symbole ein- 
fangen läßt. Es fünnte ja aud) anders jein. Wie viel leijtet allein der Rauın, wie 
viel Wirklichkeit umjpannt er, während von vorn herein Niemand dafür bürgen konnte, 
daß ein Fiſch in diejes Neg gehen würde. Er ift dreidimenfional; wie viel ift 
es aber von einer fompakten Außenwelt verlangt, daß fie überhaupt eine zeit- 
weilig bejtimmte Dimenfionenzahl habe und nicht (in der Art, wie ſichs bie 
Spiritiften vorjtellen) durch gelegentlichen Hofuspofus eine Ertradimenjion ver- 
rathe, die fie wie ein Pſeudopodium bald ausjtredit, bald einzieht? Ferner, daß 
dieje beſtimmte Dimenfionenzahl, in die ſich Alles widerjpruchfrei einfügt, mit 
der Zeit unveränderlich jei? Weiter: die freie Beweglichkeit, die man jo geneigt 
ijt, als ein denfnothwendiges Attribut vorauszujegen, bedeutet doch aud nur 
eine freiwillige Selbjtbeichränfung der Natur, an die wir num durd Verjährung 
ein Recht zu Haben glauben. Wir drehen und verſchieben unjere Leiber und 
jchleudern unſere Kegelfugeln jo unbedenklich, als wäre der Raum verpflichtet, 
an jedem Ort gleiche Aufnahmebedingungen zu gewähren und unjere Coof-Tidets 
überall unterjchiedlos zu honoriren. Uber es find Räume veränderlicher Krümmung 
denkbar, worin eine Figur als jtarrer Körper nur in einziger Lage möglich iſt 
und aljo die Wahl hat, entiweder auf ftarre Form oder auf Bewegung zu ver- 
zichten; in einem ſolchen Raume wandernd, müßten wir uns deformiren, wie die 
Bilder in einem Hohlipiegel oder wie Quedjilber, das durd) Röhren getrieben 
wird. Nun könnte zwar, da doch irgend ein Bergleichsobjeft und ‚Normal: 
meter‘ gewählt werden muß, jedes Individuum immer noch jeinen eigenen Leib 
für unveränderlich erflären oder ſich ein Stüd Eijen anfertigen, an deffen Starrheit 
es ariomatijch glauben will; aber dann würden die Räume verfchiedener Indi— 
viduen nicht zufammenjtimmen oder der Naum, der für dies eine Stüd Eijen 
freie Beweglichkeit gejtattet, würde fie einem anderen, phyſikaliſch gleichberedhtigten 
Eiſenſtück verjagen. Auf alle dieje Heimtücden und Störungen unjerer Wijjen- 
ſchaft verzichtet die Natur, jo wenig fie fonft unfere bereit gehaltenen Schemata 
auszufüllen und die menjchlich-allzumenfchlichen Kategorien des Schönen, Wahren, 
Guten zu rejpeltiren pflegt: aber den Naum, diejes doch gar nit bequeme 
Panzerhemd, haben wir ihr glücklich umgehängt und fie duldet es ohne Wider- 
ſpruch. Finden Sie daran gar nichts zu erftaunen?... Ich habe mich hier, der 
Kürze halber, mythologiich ausgedrüdt und von der Natur gefprochen, die fich 
Dies und Jenes gefallen liege; jeßen wir ftatt Natur wieder Bewußtſein, 
fo bleibt es nicht minder eine Extragefälligfeit diefes Bemwußtjeins, aus jeinem 
fluthenden Bilderwechſel eine annähernd ſtabile Außenwelt, mit ‚Dingen‘, 
Atomen, chemijchen Elementen, abzulagern, die jich, ohne Ausrenfung und Ver— 
fürzung, glatt und ungezwungen in das Profruftesbett des euflidijchen Raumes 


EEE LEERE RE EEE ET OT WET TEE TRERWT 


Motizbuch. 445 


hineinjchmiegt. Und darum dürfte es weder Willkür und zufälliger visual language 
jein, daß wir einen Theil des Beiterfüllenden zum Raum erteriorifirt haben, 
noch dürfte es im unjerer Macht liegen, dieje erftarrte Abſcheidung im Schmelz- 
tiegel wieder zu verflüjjigen, noch endlid) würden wir, wenn es jelbjt in unjerer 


Macht läge, zur Bereicherung unferes heiligen Innern irgend Etwas gewonnen | 


haben. Was hilft es, den Objekten ewig ihren Uriprung aus menſchlichem Be- 
wußtjein nachzutragen? Damit, daß wir in jedes Goldjtüd unferen Namenszug 
eingradiren, vermehren wir unjeren Befigitand nit. Auch der jchranfenlojeite 
Subjektivismus fann den ganzen Wein nicht auf einmal austrinfen; er muß 
Flaſchen und Fäffer füllen und einen Seller zur Aufbewahrung haben. Wenn 
ihon unfere Geliebte nichts ijt als die Summe unferer Begegnungen mit ihr, 
unferer Borjtellungen von ihr, jo würde e8 doch diefen ‚chgefühlen‘ ihren beften 
Neiz nehmen, nicht an ein Subjtrat dahinter zu glauben. Freilich fann der 
Wein im Seller jauer werden und die Geliebte hat, als ‚Ding‘ im Raum, drei 
Dimenfionen zur Verfügung, um uns durchzubrennen; aber in jolden Fällen 
ift die Zeit, ihrer Nichtumkehrbarkeit wegen, eine noch viel fatalere Einrichtung. 
Der Raum ift wenigjtens Etwas, das überwunden werben kann. Und im Raum 
fan man einen Umweg machen, während man in der Zeit durch den jchwärzeften 
Sdlamm mitten durdh muß. Wäre ih Phantajt wie Sie, fo würde ich aus 
al diejen Gründen eher für Verwandlung der Zeit in Raum ftimmen; man 
würde fein Leben vernünftiger jtilifiren können, wenn man die zeitlichen Er- 
lebniife im iüberfichtlichen Nebeneinander jtatt im verdedenden Nacheinander an— 
ordnen, aljo gewiſſermaßen um die Ede jehen und außer der Reihe marjdiren 
dürfte und nicht, der dummen Eindimenfionalität wegen, nad) dem A jedesinal B 
jagen müßte. So weit wage id; meine Bifion einer Ummenjhung des Menfchen 
aber nicht zu treiben, jondern glaube einftweilen nur, daß jich noch mancherlei 
Beit (nicht alle!) in Raum verwandeln, mancherlei Seelifches zu Dinglichkeit 
friftallifiren läßt und daß wir nad) den ewigen Innerlichkeiten und mollusten- 
haften ‚Stimmungen‘ der legten Jahrzehnte gut thun, zur Abwechſelung wieder 
einmal ung nad der Objeftjeite, in Haren Gejtalten und ſcharf gezeichneten 
Bildern, recht räumlich und ſuhanuien MMpnIEDen. e 


Herr Wladimir Raffalovich, der Tance im XTransvaal lebte, jchreibt mir: 

„Beitatten Sie mir, zu der Kontroverje Henkel-Gentz eine kleine Epiſode, die 
für jich jelbjt ſpricht, nachzutragen. Jameſon war bei Pitani-Rooigrond auf Trans» 
vaalgebiet eingedrungen und die damalige Regirung rief, als fie von dem Einfall er- 
fuhr, jofort zuden Waffen. Ausländer, die bereit waren, mit der Waffe inder Hand den 
Freibeutern entgegenzutreten, wurden aufgefordert, fi) ein Gewehr und Munition zu 
holen. Als Belohnung wurde Jedem neben anderen Entjchädigungen aud) die jo- 
fortige Berleihung des Bürgerrechtes verfproden, jenes Bürgerrechtes, auf das man 
ſonſt jieben Jahre warten mußte und das man auc dann nur unter gewijlen Be: 
dingungen erlangen konnte. Die Meiften freuten fi), auf billige Weife ein Gewehr 
zu erhalten, und es entjtand ein run auf das Bureau des Veld-Kornet, wo die Ver: 
theilung jtattfand. Zu einem Kampf famen diefe Ausländerjchaaren nicht ; höchitens 
haben Einzelne auf einjamen Kopje um Pretoria Wache gejtanden. Jameſon war 
gefangen und das Bürgerrecht wurde verliehen. Zu Denen, die e8 — die dabei ein- 


Li Sr 


446 Die Zukunft. 


geichlagenen Wege kenne ich nicht — erhielten, gehörten auch Yeute, die noch nie ein 
Gewehr in der Hand gehabt hatten; Andere, die nach dem Wortlaut der Proflamation 
für die von ihnen geleiſteten Kriegsdienſte‘ Anſpruch auf das Bürgerrecht zu haben 
glaubten, wurden ſchnöde abgewiejen. Die Bevorzugten aber mußten zuerft auf die 
Farben Roth: Weih-Blau-Grün den Treueid leisten. Sie ſchieden in aller Form 
aus ihrem bisherigen Staatsverband und wurden Transvaaler. Da beſchloß am 
achtzehnten Mai 1899 plöglich der Roltsraad, die Jameſon-Proklamation für null 
und nichtig zu erflären, weil einzelne ‚Unmwürdige‘ das Bürgerrecht erhalten hätten. 
Die zwei bejonnenen Mitglieder des Raads nannten einen foldhen Beſchluß zwar 
illoyal, aber die anderen fünfundzwanzig waren nicht zu beijerer Einficht zu befehren 
und die Willlür wurde Gejeg. Das war jelbit dem alten Krüger zu ftarf und er 
milderte den ‚besluit‘ in der aın einundzwanzigjten Mai 1899 im Staatscourant 
veröffentlihten Proflamation; der Anſpruch auf das Bürgerrecht müſſe, hieß es da, 
erjt nachgewiejen werden. Inzwiſchen waren die ‚Jameson-burgers‘ vaterlandlos. 
Das war der Dank für ihre Bereitwilligfeit, ihr Leben für die neue Heimath einzu- 
jegen. Sogar der ‚Standard and Diggers News‘ und die ‚Volksstem‘ proteitirten 
damals gegen das Unrecht ... Die ‚Deutjche Buren: Gentrale‘ jammelt feit einiger 
Seit Geld, um das Burenelement in Südafrika zu ftärfen und die Buren, die nad) 
Deutid-Südweitafrifa auswandern wollen, zu unterftügen. Am dritten März 1900 
ſchon wics ich in der „Zukunft“ auf die Deutichland aus joldem Plan drohende Ge: 
fahr bin. Daß dem deutichen Dandel die ‚Stärkung des Burenelementes‘ nur jchaden, 
nicht nützen kann, ift klar. Werden die Buren aber auf fremde Ktoften nad; Südweit- 
afrika befördert, dann wird Niemand jich mehr darüber freuen als die Engländer. 
Niel verrfünftiger wäre es, fleigige deutiche Handwerker und Bauern, denen die 
nöthigen Mittel zur Ueberfahrt und zur Begründung der neuen Erijtenz fehlen, zu 
unterjtügen. Dann erbielte man in Deutid-Südweftafrifanicht, wiedie Bortugiejen 
in Angola, einen indolenten, bedürfnißlojen Volksſtamm, jondern deutiche Anfiedler, 
deren Bedürfniffe mit dem Wohlſtand wachſen und zum Bortheil des Mutterlandes, 
der Hauptbezugsquelle folder Ausgewanderten, befriedigt werden.“ 
“x * 


* 

Herr Dr. Paul Julius Möbtus, der befannte Neurologe, der in Leipzig 
(Rofenthalgafje 3) wohnt, wünjcht die Veröffentlichung des folgenden Aufrufes, 
deſſen Ziel jedenfall® Beachtung heiſcht: 

„Seit 1896 habe id von der Noth der Nervenkranken und von dem 
Plan, Nervenheilftätten zu bauen, erzählt. Seitdem ift auf meine Anregung 
die Schöne Anftalt „Haus Schönomw‘ in Zehlendorf bei Berlin errichtet worden. 
Andere Heiljtätten werden da und dort vorbereitet: in Frankfurt a. M., in der 
Nheinprovinz, in Baden, in Holland. Neuerdings jind in Zürich einige Männer 
zufammengetreten*), um eine fchweizeriiche Nervenheilftätte zu gründen, die ohne 
Anfehen der Nation und des Belenntniffes Nervenkranten aller Stände und 
beider Geſchlechter Zufluht und Hilfe bieten fol. Der Verein und die neue 
Anſtalt felbft werden ‚Kolonie Friedau‘ heißen. In einer gefunden und ſchönen 
Gegend der Schweiz wird ein großes Gut gekauft und dort werden für etwa 


— — 





*) An der Spitze des Komitees ſteht Profeſſor Bleuler, Direktor der 
Anjtalt Burghölzli bei Zürid). 


Notizbuch. 447 


hundert Patienten und Kurgäfte die nöthigen Einrihtungen geſchaffen werden. 
Etwa folgende Gedanken leiten die Begründer bei ihrem Unternehmen. 

Daß ınehr und anders als bisher für die Nervenkranken *) geforgt werden 
muß, darüber find alle Sadhverftändigen einig. Zwar beſtehen ſchon jegt Nerven— 
heiljtätten, Wafjerheilanftalten, Kurorte aller Art für Nervenfranfe, aber fie 
find nur Wohlhabenden zugänglich und vielfach nicht jo beichaffen, wie jie jein 
jollten. Wenn jetzt ein Menſch, der der Üübergroßen Mehrzahl der jchlecht Bes 
mittelten angehört, geiſteskrank wird, jo ift für ihn geſorgt. Staaten, Provinzen, 
Gemeinden haben vortrefflich eingerichtete Heilanftalten für ihn. Wird er aber 
nervenfranf, jo muß er in vielen Fällen den Geijtesfranfen beneiden, denn für 
ihn hat Niemand gejorgt. In rrenanftalten und öffentliche Krankenhäuſer 
paßt er nicht, für Anderes aber reicht das Geld erft recht nicht. Das gilt nicht 
nur von den Armen im eigentlihen Sinn des Wortes. Auch die dem Mittel : 
ſtand Angehörigen find fait eben jo jchlecht daran. Nervenkrankheiten find oft 
ſehr langwierig; nur durd). lange Behandlung außerhalb der häuslichen Verhält- 
nifje ijt Heilung oder Befjerung zu erreichen. Na, für ein paar Wochen in der 
Kuranftalt reihen die Sparpfennige. Aber fo rajc geht es nicht; gerade weil, 
der angitvolle Wunſch, nur ja raſch gefund zu werden, den Patienten plagt 
fommt er nicht recht vorwärts. Am Ende der Zeit muß er, oberflächlich oder 
gar nicht gebeflert, nach Haufe zurüd; und jeines mühſam erworbenen Geldes 
und feiner Hoffnungen ledig, ſteht er jchlechter da als vorher. Aber aud) die 
wohlhabenden Nervenkranfen finden unter den jeßigen Verhältniſſen in der Hegel 
Das nicht, was fie brauchen. Die jeßt bejtehenden Privatanftalten find meijt 
nicht alkoholfrei und gewähren nicht die Möglichkeit eines richtigen Lebens mit 
natürlicher Thätigkeit. Mit wenigen Ausnahmen find fie halb Kleine Kranken— 
häuſer, halb Hotels, mitten hineingeftellt in ein lärmendes, hohles Weltwejen. 
Sie jind räumlich beſchränkt und aus beſchränkten Borausjegungen hervor: 
gegangen. Auch bei gutem Willen der Leiter fünnen fie den Anforderungen, 
die wir ſtellen müffen, nicht genügen. 

Durch das jelbe Mittel joll die Hilfe billiger und beffer werden: durch 
Schaffung einfacher, natürlicher Lebensverhältniſſe. 

Alles, was der Nervenkranke wirklich braudt, iſt an ſich nicht theuer: 
Ruhe, Reinlichfeit, Ordnung, reine Luft, einfache, wohlſchmeckende Nahrung 
und, wenn der Gejumdheitzuftand es erlaubt, nüßliche Arbeit. Trotzdem kann 
er dieje Dinge jet nicht oder nur mit großen Koſten erlangen. Gin darauf 
eingerichtete Gemeinwejen aber kann die guten Dinge billig geben und dem 
arbeitfähigen Patienten die Möglichkeit gewähren, durch den Ertrag feiner dem 
Gemeinweſen gewidineten Arbeit die Yebenskoften zum Theil aufzubringen. 

*) Eine genauere Beitimmung des Begriffes ‚nervenkrank‘ braucht hier 
nicht gegeben zu werden. Das Wort wird im Sinn des täglichen Lebens ge- 
nommen; es handelt jih um Menſchen, die, ohne geiſteskrank oder im gewöhn— 
lien Sinn körperlich krank zu fein, zu ſchwach oder zu empfindlich find, um 
den an fie gejtellten Anforderungen genügen zu fünnen. Welche Nervenkranfe 
für die Kolonie geeignet find: Das iſt eine rein ärztliche Frage und ſie kann 
nur im einzelnen Fall richtig beantwortet werden. 


448 Die Zutunft. 


Das billigfte und das gejündefte Leben ift das Landleben; aber es iit, 
wie der wirkliche Landmann es lebt, für den Nervenkranken nit brauchbar. 
Die Kolonie bietet gewiffermaßen ein verflärtes Landleben. Das Ganze ijt aus 
dein ärztlichen Geift hervorgegangen und feinen Zwecken angepaßt. Er jchaltet 
die Noheiten und Unzuträglichfeiten aus und mildert die Anforderungen jo weit, 
daß auch der Schwache an der Thätigfeit theilnehmen und an ihr eritarfen kann, 

Es giebt Kranke, die eine Zeit lang volljtändig ruhen müſſen; auf die 
Dauer aber kann fein Menjch die Thätigkeit entbehren. Jetzt jteht der Schwache 
eingeflemmt zwijchen zu viel Arbeit in ber Welt draußen und öder Langeweile 
in der Kuranſtalt. Die Einen finden nur harte oder unpafjende Arbeit und 
werden immer fränfer, die Anderen füllen ihr Leben mit fogenannten Ber» 
gnügungen aus, wie ein Menſch, der ausichlieglih von Zuckerzeug lebt, und 
auch fie werden immer kränker. Aus der rechten Arbeit aber wächſt Kraft, Heiter- 
feit, Genejung. In der Kolonie kann auch der Schwache fi) an den vielen 
verjchiedenen Arbeiten betheiligen; unter ärztlicher Aufſicht findet er die ihm 
wohlthuende Beichäftigung in dem für ihn geeigneten Maß. Zugleich aber mit 
dem Zuwachs an Kraft und Gejundheit gewinnt er materiellen Wortheil, denn 
feine Arbeit wird nad ihrem Werth entlohnt, jo weit es angeht. 

Ein modernes Krankenhaus ift eine jehr theure Sache. Der Nerven- 
franfe aber braucht fein Krankenhaus; im Gegentheil: die Nervenheilitätte ſoll 
einem Krankenhauſe möglichſt unähnlich fein. Die ärztliche Fürſorge beſteht hier 
in der Regelung des Lebens, in perjönlicher Zuſprache auf Grund genauer Unter- 
juhung, in wenigen und einfachen Arzeneimitteln, in Bädern u. ſ. w.; und für 
das Alles braucht man feine künstliche Einrihtung. Zur Wohnung für die 
Patienten eignen fi ganz einfahe Häuschen am Meiſten, denn fie bieten Ruhe 
und heitere Eindrüde. Je verichiedenartiger die Wohngelegenheiten find, um 
fo bejjer, denn der Kranke möge Das wiederfinden, was ihm durch die Gewohn- 
heit lieb ift, nur ohne die Störungen, die fih draußen an feine Wohnung 
hefteten. In einem Stranfenhaus weift Alles auf Krankheit Hin, hier aber ſoll 
der Sinn vom Krankhaften weg auf ein gejundes Leben hingelenft werden. Und 
wie die Wohnung, jo ſoll auch die menjchliche Umgebung den Nervenkranten 
möglichit wenig an die Krankheit erinnern. Es ijt daher nicht wünjchenswert&, 
dab Kranke nur mit Kranken verkehren. Die gejunden Mitglieder der Kolonie 
jind auch im Intereſſe der Kranken nöthig. Aber fie werden anders wirken als 
die Geſunden draußen, die allzu oft den Schwachen durch Handlungen und Worte 
verlegen; denn auch fie jtreben nach dem rechten Leben und der die Kolonie 
beherrijchende Geiſt führt Alle auf den ſelben Weg. 

An Gefunden wird es in der Kolonte nicht fehlen, denn es giebt allzu 
viele der Erholung und Ruhe bedürftige Menjchen, die, ohne eigentlid Frank 
zu fein, nad) einer Zuflucht verlangen. Jetzt fönnen nur ganz Reiche fich wirkliche 
Ruhe verichaffen; die Meiften müſſen mit Dem vorlieb nehmen, was die Gajt: 
bäujer bieten, wo zwar oft Yurus und jchwelgeriiches Leben, Ruhe aber jelten 
zu finden ift. Wer vollends jparen muß, wird fajt nie finden, was er will. 

Alle Mitglieder der Kolonie find verpflichtet, fi des Genuſſes und der 
Einführung alkoholhaltiger Getränke zu enthalten. Daß die Hilfe für Nerven- 
franfe mit der für die vom Alkoholismus Bedrohten verbunden werde, empfiehlt 





EEE IE TE TERN EEE U 
» Fi € .“ * J J 


Notizbuch. 449 


fh aus verſchiedenen Gründen. Die Sachverſtändigen find darüber einig, daß 
für fajt alle Nervenkranfe die Enthaltung von alkoholiſchen Getränken nöthig 
jei, daß alfo in einer Nervenpeiljtätte die Abftinenz herrſchen müſſe. Die Nerven- 
heilftätte bietet, was der genejende oder angehende Alkoholfranke braucht: eine 
alfoholfreie Umgebung. a, er findet gerade an dem Nervenfranten eine Stüße, 
weil nad alter Erfahrung die meiften von ihnen gern fich des von ihnen als 
Ihädlich empfundenen Altoholes enthalten. 

Dod die Kolonie ſoll feine Trinkerheilftätte fein. Wirklih Trunkſüchtige 
oder dem Alkoholismus ganz Verfallene werden nicht aufgenommen. Die Ktolonie 
fann nur Die aufnehmen, die entweder noch nicht oder nicht mehr der Trinter- 
heiljtätte bedürfen. Insbeſondere iſt an die Genejenden gedacht; ihnen wird 
die Trinferheilftätte zu eng, fie find wieder der Arbeit und freier Bewegung 
fähig, — und doch fann man fie nidht in die alte Umgebung zurückkehren Lafien, 
wo ihnen von allen Seiten die Verſuchung droht. Ahnen öffnet ji in der 
Kolonie ein ungefährliches Gebiet, wo fie, unter Umftänden mit ihren Familien 
zufammen, leben und gedeihen fünnen. Ungefähr das Selbe gilt von den an- 
gehenden Trinfern, die den guten Willen haben, fich retten zu lafjen, die aber 
der Unverjtand der Umgebung immer wieder dem Alfoholteufel zuführt. Viele 
Alkoholkranke find, jobald jie abjtinent leben, tüchtige Arbeiter und fünnen da— 
durd) der Kolonie werthvoll werden. 

Die Gründung der Kolonie durd Zeichnung von Antheilicheinen *) wird 
durch gewichtige Erwägungen gerechtfertigt. Auf Hilfe des Staates oder der 
Gemeinden ijt bei der Neuheit der Sade nicht zu rechnen. Die reine Wohl- 
thätigfeit aber joll nicht angerufen werden, weil es fid) um eine Sache handelt, die 
auf eigenen Füßen ſtehen kann. Natürlich kann durd) eine einzige Kolonie das vor— 
bandene Bedürfniß nicht befriedigt werden. Gelingt e8 aber einmal, zu beweijen, 
daß der Gedanke lebensfähig ijt, jo wird man auch andersivo Muth faſſen und 
durch Gründung ähnlicher Kolonien das Gute fördern. Es wird nicht ſchwer 
fein, bei verftändiger Leitung nad einigen Jahren das Kapital mit etwa vier 
Prozent zu verzinfen. Beim erjten Verſuch find wir freilich auf den guten 
Willen der Unterzeichneten injofern angewiejen, als erjtens die Möglichkeit des 
Gelingens noch nicht bewiejen ijt und zweitens der zu erwartende Gewinn nur 
gering fein kann. Die Zeichner von Antheiljcheinen müſſen ein Opfer bringen, 
weil jie nicht fofort BZinjen zu hoffen haben. Es handelt jich aljo, wenn man 
jo jagen darf, um beſchränkte Wohlthätigkeit. Am Bejten wäre e3, wenn ein 
paar freigiebige Kapitaliften fich entichlöffen, durdy größere Summen einen feften 
Grund zu legen. Um Wohlthätigfeit handelt es ſich aud) injofern, als die Gründer 
des Vereins nicht um Gewinnes willen thätig find. ihre Uneigennügigkett Fan 
den Zeichnern der Antheilicheine dafür bürgen, daß bedenkliche oder gewagte Hand— 
lungen nicht zu erwarten jind. Endlich wird die Wohlthätigkeit der außerordent— 
liden Mitglieder angerufen, um Freiſtellen für wirflid Arme zu jchaffen. 

Dies Unternehmen ift wahrlich eine gute und hoffnungvolle Sadıe. Ich 
*) Man wird Ordentliches Mitglied des Vereins durd; Erwerbung wenigſtens 
eines Antheilfheines zu 100, Außerordentliches Mitalied durch einen jährlichen 
Beitrag von wenigitens 5 Franes. 


Ö— 7 


450 Die Zukunft. 


bitte herzlich Alle, die Intereſſe dafür haben, mir ihre Adreſſe mitzutheilen. 
Ich werde dafür forgen, daß fie die nöthigen Schriftftüde erhalten.“ 
* * 


* 

Auf der Marienburg wurde am fünften Juni ein Prunffeft gefeiert. Der 
Kaiſer hielt zwei Neden, von denen in den Zeitungen gejagt wurde, fie jeien „jehr 
eindiudsvoll‘‘ geweien. Die eine jpracdh den verfammelten Brüdern vom Yohanniter- 
orden die Anfgabe zu, „das Werk der Erlöfung derMenjchheit, dem Borbilde unjeres 
Heilands folgend, weiter zu fördern‘. Die andere brachte nach Ausbliden ins Heilige 
Land plößlic) die Säge: „Polniſcher Uebermuth will dem Deutſchthum zu nah treten 
und id bin gezwungen, mein Bolt aufzurufen zur Wahrung feiner nationalen 
Güter. Und hier in der Marienburg jpreche id) die Erwartung aus, daß alle Brüder 
des Ordens Sanft Johann immer zu Dienjten ſtehen werden, wenn ich rufe, 
deutjche Art und Sitte zu wahren‘. Daß diejer Fehderuf bei den öfterreichiichen 
Polen, den Herren Eisleithaniens, Aergerniß erregt hat, ijt fein Unglüd; das. 
Echo, das aus Galizien herüberjchallt, kann den Werth des noch immer als Frie— 
densbürgichaft geprieienen Dreibundes erkennen lehren. Nicht ſo leicht find andere 
Bedenken zu verſcheuchen. Der Johanniterorden ift international und weder alle in 
gremio religionis aufgenommenen Ritter noch die ausländijchen chevaliersdegräce 
werden „immer zu Dienjten ftehen‘, wenn ber Kaijer zum Kampf für deutiche Art 
und Sitte ruft. Die Briten, Oejterreicher und Ungarn, die als Gäjte der Ballei 
Brandenburg auf der Marienburg waren, werden zu ſolchem Dienjt wenig Luſt 
jpüren. Und ift der Oſtmarkenkrieg, für den die preußiiche Regirung ſich jet beſſer 
rüsten will, wirklich durch) das Bordrängen polnischen Uebermuthes entfejjelt werden ? 
Gar jo übermüthig find die Bolen doch nicht, mag ihre Preſſe auch manchmal gegen 
die böjen Preußen toben. Es handelt fi um einen wirthichaftlihen Kampf, der 
nur durch geräufchloje Arbeit gewonnen werden fann und in deilen Berlauf man 
jedes harte Wort, jo lange es irgend geht, zurüdhalten jollte. Will der König von 
Preußen die Berantwortlichkeit für den Ausgang diejfes Kampfes, ftatt fie jeinen 
Miniftern zu überlaffen, jelbjt auf jid) nehmen, jo kann fein Menſch ihn daran hin«- 
dern. DerMinifter Pflicht aber ift, ihren König darüber aufzuflären, daß der Kampf 
gegen jlavische Sejchielichkeit auch dann unvermeidlich geworden wäre, wenn die Bolen 
nie ein übermüthig Elingendes Wort gegen Preußen gejprochen hätten. 

* * 


— 

In München-Gladbach hatten Bürger ihrem loyalen Gefühl in einer an den 
Kaiſer gerichteten Depeſche Ausdruck gegeben. Sie erhielten die Antwort: „Seine 
Majeſtät der Kaiſer und König haben die Meldung von der Grundſteinlegung der 
dem Andenken Allerhöchſtihres Höchitjeligen Vaters gewidmeten Kaiſer-Friedrich— 
Halle huldvollſt entgegenzunehmen geruht und laſſen der dortigen Bürgerjchaft für 
den Ausdrucd treuer Ergebenheit bejtens danken. Auf Allergöchiten Befehl: Der 
Geheime Kabinetsrath von Lucanus.“ Der Stildiejes Telegrammes wedt manderlei 
Zweifel. Dat die Halle den Grundſtein gelegt? Und warum ift der tote Kaijer 
Friedrich nicht des lebenden Allerhöchſten Herrn Allerhöchitjeliger Herr Vater? Es ift 
allerhöchſte Zeit, dieje Kurialien nach byzantiniichem oder — moderner — dine- 
ſiſchem Mujter zu ordnen, Auf daß fie hinfüro perjönlichem Belichen entzogen feien. 











Herausgeber und verantwortuich.r Nedatteur: M. Harden in Berlin. — Berlag der Zukunft in Berlin, 
Diud von Albert Damde in Berlin.Echöneberg. " 


1%. Iuni 1902. — Die Iukunft. jan Ar. 37. 


Dampfpflüge [Ein Hofratlı 


bauen wir in den bewährtesten und fünr Aerzte begutachteten eldiloh 
Constructionen | vor Gericht meine überraschende Er- 


Strassenlocomotiven nn du 
Dampistrassenwalzen 


Broschüre mit diesen Gutachten und 
DEE” Gerichtsurtheil Au 
"ao ıir BO Pig. Marken 
Paul Gassen, 
bauen wir gleichfalls als Spe- Kom a Kh. No: 79. 
cialitäten in allen praktischen ES — 
Grössen und zu den mässigsten Gut ü icht Y 
Preisen. Ulen Umateur:-Photographen, 
| die ſich auf dem Laufenden halten uud ſich fort- 
bilden wollen, fei das Blatt 
John Fowler & Co. „Apollo“, Centralorgan f.Amat,-Photogr., 
jährl, 24 illuftr. Nummern zu AM 6.—, beftens 
empfohlen. Frobe-Aummer gratis. 


in Magdeburg. Verlag des „Apollo“, Dresden-A, 16. 














I 



































Geschichte der Nationalökonomie 


Dr. August Oncken, 


o. ö. Professor an der Universität Bern. 
Erster Teil: Die Zeit vor Adam Smith. 
Mit 2 Tafeln. 

Preis #. 16.50, in Halbfranz gebunden M 13.50. 


Verlag von C. L. Hirschfeld in Leipzig. 














Sanatorium für Hautkranke. Breslau 


Dr. Martin Chotzen. Prospekte auf Verlangen. N 





Sue Zur gefl. Beachtung! BE 


Bur bevorjtehenden en Feſtſpielſaiſon liegt unjerer 
heutigen Nummer ein Heiner Proſpect über die verjchiedenen Ausgaben 
von Houjton Stewart Chamberlain's „NRichard Wagner“ bei, 
auf den wir unfere Leſer befonders aufmerkſam madyen. Das aus: 
gezeichnete Werk ijt durch alle guten Buchhandlungen und, wo cine 
jolche nicht erreichbar, aud) direct von der Verlagsanſtalt F. Brud- 
mann in München zu beziehen. 








Der heutigen Nummer ist ein Dass kt der 
Verlagsbuchhandlung Georg Wigand in Leipzig 
beigeheftet über das soeben erschienene und von der massgebenden Kritik durch- 

wog sehr beifällig aufgenommene Werk: 


Aus Krim und Kaukasus. 


Reiseskizzen von W. von Massow. 
Gr. #. Mit 1 Titelbild u. B7 Abbildungen im Text, sowie 1 Uebersichtskarte. 
Geheftet M. 3,60. Geschmackvoll gebunden M. 4,80. 








Ur. 37. be Die 3ukunft. R 14. Iuni 1902, 








(genannt ” grüne Infel). 
. ®aifon: 1. Junl bis 1. October. 
or BR- al —— — ge von DEREN. 

queme Landung. Großartige Warmbade 
anftalt. Bebrutenbe Milchwirthſchaft. 


Schönſter Strand, ſtarker Wellenſchlag; nur 
reine, —— Seeluft. Alen hogeniſchen 
Anforderungen (2; —— — 


enügt. 
Waſſerleitung mit obligatoriſchem Anſchluß. ————— auch am Strande. 
—— 189* —8346. 1808=13 639, 101=16 640 unter allen Bäbern 
deutendfte unabıne). - Proſpeete, Fahrpläne rati® bei Haasenstein & Vogler 
A.-0., Earl Stangen’s Reifebureaug, Berlin, bon ber Bade-Direktion. 


Im Mittelpunkt — Enypfehlenznerthe Hotels 


Hotel Wellburger Hof, 
politischen Interesses Bad EMS, oranepr 11.8 ee aufa. 
steht : 23ad si ngen gg. Seaner. Haus 


Was ist national? ruhiger Lage, electr. sm: gift, lee 


‚yon Kreuznach, Hof. I. RD. Rift, eleckt. Eich 
Prof. Dr. Kirchhoff, Hallea. $. | Mände Continental-Hotel, allererfi. Rang. 
— Serdof 1. %h.. Grand.Mötel, Kurhaus 1. We. 
Preis 80 Pig. KH 


i riderg (Bad Schwarzwald), Schwarzwald- 
Kein Gebildeter darf das Heftchen 


Hotel, I. Ranges. 
ungelesen lassen! 28iesbaden Ku, ei 1000 ib 
Gebauer-Schwetschke Druckerei und 


eröffnet. Hotel 4 genüber den Suranlagen. 
Verlag m. b. H., Halle a. $. | Eigene Thermalque 









Ein neuer Inhalt in alter Form! 





e. 100 Zimmer u, Salons, 
Maßige Preife. 2. Gaertner, 
Warnemünde, Höt. Berringer u. Pavilion. 








Soeben erſchien 


Georg Brandes 
Gesammelte Schriften 


Deutjche Oriainal-Ausqabe 
Erfter Band: Deutsche Persönlichkeiten 
Geheftet 7 Marf, elegant gebunden 8 Marf 50 Pf. 


Inhalt: Seldmarfhall Moltfe — Benrif Ibſen und 

feine Schule in Deutfchland — Martin £uther — 
Arthur Schopenhauer — Berthold Auerbach — Serdi- 
nand Laſalle — Wilhelm Scherer — Arthur Kitger 
— Fanny Lewald — Bebel und v. Dollmar 










M. 6. Conrad fchreibt in der „Geſellſchaft“: 
Die geſammelten Schriften werden in einer Reihe 
von felbftändigen Bänden die große däniſche Brandes: 
Ausgabe in guter Derdeutfchung bringen. Das 
deutiche Publifum erhält fo zum erften Mal eine 
fortefte Ausgabe, die des berühmten Scriftitellers 
würdig tft und feinen geiftigen wie wirtjchaftlichen 
Intereſſen gerecht wird. €s ift eine nationale Auf 
merfjamfeit, daß der erfte Band uns die „deutichen- 
Perfönlichfeiten“ vorfegt, eine Reibe forafältiger 
Charafterjchilderungen von Männern, die in der 
Entwidlung Aanferer Politif, Kitteratur und Staats» 

verwaltung eine Rolle aejpielt haben, teilweife noch 
ipielen. 












Derlag von Albert Langen in München: Zt. 








I H a — — = 
BR 2 + — ne I» de - — x N IH WE — Ne nu Kor “E 5) 
—57 „a er’ Ar > > * hen — N) ar & Er 


> 4; 2 


4 * ER 4 (a > 


2 Die — AR 


$ # 2 Ni 
ER ir —— IF 25 N 


Au Kar. iR * 





Berlin, den 21. Juni 1902. 
Ex. ae — 


Vieux Saxe. 


IJ guten Häuſern, deren Ecbauer ſchön wohlhabend war und die ein 
Hörtlein vererbter Kultur bergen, kommt um die Veſperzeit manch— 
mal noch eine alte Sachſenkanne auf den Tiſch. In Parvenupolis ſtellt man 
fie als Prunfftüd in den Glasſchrank, wo die ſeltenen Taſſen um die Wette 
progen: Japan, Henri Deur, Delft, Sevres, Nymphenburg, Wegdmwood, 
Capo di Monte. Da jteht fie, das zerbredhliche Denkmal einer Epoche, an 
die den Befiter feine Ahnentafel erinnert. Er, deſſen Vater vielleicht noch 
an der Meichbildgrenze der alten Königsſtadt haufte, hat die Sächſin um 
ichweres Geld bei irgend einem Bernheimer eingehandelt und hütet jie nun 
ängjtlich vor den Fährlichkeiten des Gebrauches. In den alten Häuſern, die 
ihre Gejchichte, ihren Familienftolz haben und ihren Wohlitand nicht dem 
Spielernüd einer Stunde danken, fteht fie vor würdigen Gäften auf der 
Damajtdede des Kaffeetiiches. Die Mutter gab fie der Tochter, der Braut 
des Sohnes oder aud) jpät erjt der Enfelin in die junge Wirthichaft mit und 
die Köchin hat das Alter ehren gelernt. Kein Sprung, kein abgeftoßener Rand 
ärgert das Auge umd jelbjt der jchlanfe Henkel ift unverjehrt. Ein artig ge- 
bogener Henfel, den der Wohlerzogene rejpektvoll, mit höflichem Finger, 
anfafjen wird. Und der pusige Truthahnichnabel jcheint krähen zu wollen: 
Mehr giebts nicht; und Loft gerade damit zu immer reihlicherem Genuß. 
Das ganze Ding fieht patriziſch aus, behazlich und allerliebft unzeitgemäß. 
Es ijt entweder aus Böttgerporzellan, voth, mit japaniſch jtilijirten Blüm— 
34 


452 Die Zukunft 


lein oder echtes Meißener, weiß, mit bunten Guirlanden, oben und unten 
ein Bischen Nothbraun, das ſich in Tupfen bis unter den Schnabel zieht, 
dahin, wo er fich zu einem Porzellankröpfchen baucht; und nie fehlt der 
Dedel, die Kannenmüte mit dem dien Knopf. Rokoko; aber deutjches, das 
dem Blick nicht dieBilder galanter Tändelei und erotiſcher Schäferjpiele her— 
aufbejhwört. An Alchemiſtenſpuk mag man denfen, an die Polafenherrlich- 
feit Auguſts des Zweiten und an die wüjten Tyrannentage, wo Auroras 
ftarfer Freund feinen meißener Herenmeifter auf der Albrechtsburg als 
Strafgefangenen zu höherem Ruhm des Polenkönigs erfinden und Kaolin 
machen ließ. Augufts legitimer Erbe fand kein weiches Bett ; und Auroravon 
Königsmark iftipäter Pröpftin geworden und hat Kantaten fomponirt. Eine 
traurige Gejchichte. Die alte Sachſenkanne hats vielleicht ſchon erlebt. Dod) 
ihre behäbige Nundgejftalt läßt Wehmuth nicht auffommen. Seit Auguft 
Kronrechte und Landfetzen verſchacherte, iſts ja bejjer geworden ; die Sachſen— 
rante ijt grün, ringsum jchnurren Näder, rauchen Schlote und über den 
Kaffeekonſum kann man nicht Hagen. Providentiae memor: fo heißt der 
Spruch auf dem Hausordensband, das zwei Yeun bewachen. Die Borjehung 
wirdzurrechten Stunde Alles zum Guten wenden. In die Zeit mußt Du Dich 
freilich ſchicken, auch wenn es böſe Zeit ift, und niemals darfjt Du, unter 
feinen Umftänden, den Kopf hängen laſſen. Das lehrt die alte Sächſin. 
Kein bejonders koſtbares Schauftüd; aber der Kenner jchägt ihren Werth. 

Ungefähr jo, als ein chrwürdiges, das ruhloje Auge tröftendes Erb: 
ftüd, das an entjchtwundene Tage wechjelnden Glüdes mahnt, jahen die 
nad) 43 geborenen Deutjchen den Sachſenkönig Albert. Seit erin Sibyllenort, 
dem Tudorjchloß, das der braunſchweiger Wilhelm ihm hinterlieh, ſich aufs 
Kranfenbett ſtrecken und die leifefte Bewegung mit heftigem Schmerz büßen 
mußte, la8 man, Alldeutichland blicke in banger Sorge auf diejes Yager und 
flehe den Himmel an, Alberts Yebenstag zu verlängern. Das ift Neporter: 
geſchwätz, das nicht zu fcheiden, zu unterjcheiden weiß und jedes Menſchen— 
gefühls innigen Ausdrud zur läppiichen Phrase fäljcht. Zu den ragenden 
Männern, an deren Lebensdauer ein VBolfsichiejal hängt, kann kaum ein 
Dienjtbotengemüth den wettiner Albert zählen. Die Sachſen felbft haben 
nie mit überjchwingender Begeifterung von ihm geſprochen; nur mit ruhiger 
Achtung, wievoneinem redlichen Herrn, mit dem ſich leben läßt. Undhinterden 
grün-weißen Grenzpfählen wußte man wenig vonihm. Er jolleinguter Sol- 
dat gewejen jein und Moltke hat ihn als Kronprinzen den einzigen Feldherrn 
des deutichen Heeres genannt. Aber Moltke konnte, wenn ſichs um Fürften 


Vieux Saxe. 453 


handelte, recht nad) der Diplomatenfunft reden und wir find, ſeit auch der 
Kronprinz Friedrich Wilhelm zum reifigen Helden aufgeputt ward, gegen 
den Kriegsruhm hoher Herren mißtrauiſch geworden. Gravelotte, Nouart 
und der Mont Apron waren längft vergejjen und als Heerführer wurde 
Albert nur nod) in raſch verhalfenden Tafelreden gepriejen. Einen tüchtigen 
Haushalter hieß man ihn und an den Stammtiſchen jchlugen die Herzen 
höher, wenn erzählt wurde, der König fei ein jeßhafter Skatjpieler, der wie 
ein Fuchs im erften Semefter vergnügt fein fünne, wenn er einen Grand 
mit Vieren gemacht habe. Skat: Das klingt nicht nach achtzehntem Jahr⸗ 
hundert. Sonft aber jchien Albert uns Jüngeren deutſches Rokoko. Er 
pafte nad) Pillnitz, in die nicht allzu üppige Anmuth einer Gegend, die eine 
Hede vor allen Modernifirungverfuchen gejchütt haben könnte. Man ſah 
ihn überall gern, — vielleicht, weil man ihn jelten jah. Nur, wo es ihn 
nöthig dünkte, zeigteer fi; dann aber ftand er feinen Mann. Ein Monarchen: 
typus, den wir nicht mehr jchauen werden, entſchwindet mit ihm unjerem 
Blick. Neue Formen find in die Mode gelommen. Auch neue feramifche 
Künfte, deren Leiſtung mehr ins Auge fällt als die der Vöttgerzeit. Dennoch 
behalten die alten Sachjenfannen ihren Werth. Sie find aus gutem, dauer— 
baren Material, wollen nicht feiner jcheinen, als jie jind, und brauchen, wo 
eine Tradition fie vor rauhen Griffen bewahrt, den Alltag nicht zu Scheuer. 

Ganz leicht war e8 1873 nicht, König von Sachſen zu fein. Johann 
Philalethes hatte mit feinem Beuſt und feiner Triasidee fo ziemlic) Alles 
verdorben, was an Sachſens deuticher Machtſtellung noch zu verderben war. 
Die größte Sünde war freilich lange vorher begangen worden: als Friedrich 
August, um feine Eitelkeit mit dem Königsreif Sobiestts zu Frönen, der res 
formirten Kirche den Nüden kehrte. Nur als Perſon, als ein Einzelner 
wollte er fatholifch werden; doc umgab er feinen Sohn mit klugen Bätern 
Jeſu, die dafür jorgten, daß aud) der Kurprinz der Papſtkirche gewonnen 
wurde. Damit war die albertinifche Linie dem evangelischen Glauben ent: 
fremdet, das Kurfürftengejchlecht vom Weg der Reformation gewichen, der es 
zum Ruhm geführt hatte, aufdieHöhedynaftischerMacht führen konnte. Wäre 
die Entjcheidung Friedrichs des Weifen und Johanns des Beftändigen gead)- 
tet, nicht der Yaunceinesgewilfenlojen Yuftfuchers geopfertworden, dann var 
Sachſen als lutheriſcher Vormacht in Deutſchland die Bahırgeebniet, während 
es unter fatholiichen Herrichern die Stonfurrenz Defterreichs und Bayerns auf 
der einen, Preußensaufder anderen Seite zu fürchten hatte. Immerhin war es 
nicht nöthig, 1866 fo blind Partei zu ergreifen. Albert, der Kronprinz, hätte 

34* 


454 Die Zuhmft 


vielleicht anders gehandelt; als Einundzmwanzigjähriger ſchon hatte er gejagt, 
nur das Zufammenmwirfen aller deutfchen Stämme lönne die Einigung 
bringen, die er erſehne. Siebenzehn Jahre danach mußte er feine Sachjen 
dem Corps Clam-Gallas zuführen und mit einem gejchlagenen Heer aus 
Böhmen heimfehren. Als erden Thron beftieg, war die Einheit erftritten, das 
Reich gegründet; aber er herrjchte über ein Land, wo von je Hundert Ein: 
wohnern fünfundneunzig dem Lutherthum angehören. Solcher Glaubens» 
zwiefpalt, der fich zwischen Volkund Fürft aufthut, iftimmer gefährlich; und 
das Mißtrauen der (utherifchen Sadjeniftnievölligerlofchen. Ein als Kron— 
prinz geborener Albertiner müßte, jo grolfen fie, nach alter Verheißung den 
reformirten Glauben befennen; doch die römischen Herren haben ganz 
heimlich und ſchlau dafür geforgt, daß ſeit dem Lebertritt Auguſts des Starken 
fein Erbe der Wettinerfrone mehr dem Mutterfchoß als Kronprinz ent- 
bunden ward. Nur Albert altmodifch ficherer Takt konnte Konflikte ver» 
meiden und es nad) und nad) dahin bringen, daß der fonfeffionelle Gegen 
fat faum noch empfunden wurde. An feinem Hof herrichten die Pfaffen 
nicht — wenigſtens war ihre Herrichaft nicht fichtbar — und die Afatho= 
lifchen fingen erft wieder zu bangen an, als die fchlechten Nachrichten aus 
Sibyllenort famen... Es war nicht die einzige Schwierigkeit, die Johanns 
Sohn als König zu überwinden hatte. Erwar im Gefühl feften Zuſammen— 
hanges mit Defterreich, angeborener Antipathie gegen Preußen erwachien 
und follte nun Bundesfürft in einem Deutjchland fein, aus dem Defterreich 
verdrängt war. Im Juni 1566 hatte fein Armeebefehl den Defterreichern 
versprochen, fie würden ihn in guten wie in böfen Tagen an ihrer Seite 
finden; und nun fonnte er, der dem Kaifer Franz Joſeph perſönlich be: 
freundet war, in die Yage fommen, fein Kontingent gegen die Truppen 
des Habsburg: Yothringers führen zu müſſen. Doch als Kronprinz jchon 
hatte er ſich tapfer in die neue Zeit geſchickt. Fürdiezuverläffige Treue, dieihn 
ans Reich band, und für die Bejcheidenheit feines Wejens zeugt lautder Brief, 
den er zwanzig Tage nach feiner Thronbefteigung an Bismarck fchrieb. Da 
lieft man die Säge: „An wen fönnte ich mich wohl beffer wenden als an den 
Kanzler des Deutichen Neiches, der fo oft erflärt, er gehöre allen Bundes: 
fürften gleichmäßig an? Mit vollem Vertrauen wende ich mich daher an Sie, 
wenn ic) der Dilfe gebrauchen Jollte, wenn ich weiſen Rathes bedürfte. Seien 
Siedagegenverfichert: aud) ich werde Alles, was Sie zum Heil des Reichs und 
deutſchen Volks unternehmen, jo Fräftig unterftügen, al$ e8 meine geringen 
Kräfte erlauben, und hoffe, ein werfthätiges Mitglied, eine fefte Stüge des 


es “ — , 





Vienx Saxe. 455 


Gebäudes zu jein, das mir mit dem Schwert aufrichten zu helfen vergönnt 
war. Jedem ich bitte, diefe Zeilen nicht übel zu deuten, die Sie vielleicht in 
Ihrem Tuskulum ftören, verbleibeich Ihr ergebener Albert.” Kein Schwulſt, 
feine Phrafe ; der, jchlichteAusdrud eines Gefühles der Unzulänglichkeit und 
zugleich der Haren Erfenntniß, wo in Nöthen der ftarfe, bereite Helfer zu 
juchen wäre. So ſchrieb der Königvon Gottes Gnaden an den „Handlanger 
Wilhelms des Großen“, der Sache an den Erponenten der großpreußifchen 
Politik, deſſen Siegerjchritt ihm manche feimende Hoffnung zerftampft hatte, 
der Katholif an den Ketzer, dem taufend Priefterzungen in Nom fluchten. 
Wir find an die Tonart jolchen Fürſtenbriefes gar nicht mehr gewöhnt ; wie 
aus weiter Ferne Klingt fie zu uns, wie das letzte Echo einer verſunkenen 
Welt, von der nur die Alten noch in den Ausgedingftuben raunen. 

Und der König, der ſich jo beicheiden, jo frei von dem Haß bleiben 
fonnte, mitdem legitime Herren faft immer das Genie verfolgt haben, diefer 
Monarch des Altväterftils hat die modernste Entwicdelungerlebt. Sein Land 
wurde der Hauptfig der Großinduſtrie, die dicht bevölferte Stätte des neuen 
Mafchinenproletariates, das Manöverfeldder Sozialdemofratie. Das Alles 
war ihm ganz fremd und er hat ſich oft darüber gewundert, daß Städte, wo 
die Bürger ihn ſo ehrerbietig grüßten, rothe Revolutionäre in den Reichstag 
ſchickten. Aber er hielt ſich ſtill. Nicht etwa, weil erein feiner politifcher Kopf 
war und jic) jagte, da esnuneinmal ſtets eine radikaljte Partei geben müjje, 
fei die noch am Yeichteften zu ertragen, die an die Allmacht einer Evolution 
glaube, jede Gewalt verſchmähe und ihres Sieges fo ficher fer, daß fie nicht 
daran denke, ihn zu erftreiten. So hoch hinauf flogen jeine Gedanken nicht. 
Nein: er hielt ſich Still, weil Ruhe ihn erfte Königspflicht dünfte. Ein Wort 
fonnte erfchnappt, ein Seufzer weitergetragen werden. Deffentlic hat man 
ihn nie Hagen, nie drohen gehört. Er verftand die nene Zeit nicht, Fonnte fie 
nicht veritehen; doch er Schwieg und wandte das Auge von dem Speftafel, 
wenn es ihn allzu tief fränkte. Im Grumd ihres Herzens, mechte er denken, 
ſind auch dieRothen recht brave Yeute und gute Sadhjjen ; und ich muß trach— 
ten, mir und meinem Haus fie nicht ganz zu entfremden. Sächſiſche Negir- 
ungen haben, feit die Geſchwindigkeit der proletarischen Bewegung wuchs 
und die Fabriffendalherren in Schreden jagte, oft recht unklug gehandelt; 
der König aber hat jich feiner von ihnen engagirt. Er wurde, als Katholik, 
von den Lutheriſchen geliebt; er ftand treu zum Neid) und die Bartikulariften 
ſahen ihm nicht fcheel an; er ernannte Miniſter, deren ſoziales Verſtändniß 
aus der Eiszeit zu ſtammen jchien, und die Schaar der Bedrüdten ſprach mit 


456 Die Zukunft. 


Achtung, mit zärtlicher manchmal, von ihm und jelbft in Stunden leiden 
Ihaftlicher Erregung las man kaum irgendwo einWort, das den König ver: 
leten konnte. Dem Knaben war wohl von den dresdener und leipziger Tu- 
multen erzählt worden, die denverhakten Grafen Einfiedel geftürzt und dem 
Prinzen Marimiltanden Weg zum Thron gejperrt hatten, und der Jüngling 
hatte den leipziger Paradeputjch, die Folge prinzlicher Politik, und die bis 
hart ans Schloß reichende Wirkung der FFebruarrevolution erlebt. Solche 
Anjchauunglehre schlug er nicht in den Wind. Für die Fürſten, fühlte er, 
ift8 am Beften, wenn fie hinter dem goldenen Gitter bleiben, das fie von der 
Raſerei Hungernder, von den Kämpfen um Macht und Beute trennt, wenn ſie 
der Möglichkeit, Unheil zu ftiften, fich entziehen und nur ihr Necht wahren, 
Gutes zu thun. Er lieh die Negirung regiren, das Bolt am Wahltag die 
Nichtung feiner Wünjche andeuten und freute ſich jeder Gelegenheit, ein Un— 
recht tilgen, einem Bittjteller Gnade gewähren zu können. Jagd und Karten 
fürzten ihm die Mußezeit; Speife und Tranf mundeten noch, als ihn längft 
das jchmerzhafte Blajenleiden heimgefucht hatte, das aud) den alten Wilhelm 
plagte; und er vertrug die jchwerften Birginiacigarren. Die Wirthichaft- 
interejien feiner Sadjjen lagen ihm am Herzen und er hat, in Gemeinschaft 
mit Franz Joſeph, den Saifer für den Gedanken der Handelsverträge ge- 
wonnen, die der ſächſiſchen Tertilinduftrie Vortheile brachten. Nie aber 
empfand er das Bedürfniß, zu reden, über politiiche Vorgänge feine Meinung 
zu jagen. Er jchwieg. Er konnte fchweigen; denn er war der König. 

Noch eine Schwere Probe yatte der Greis zu beftchen. Bismard, zu 
dem er in unbeirrter Zuverficht aufgeblickt hatte, wurde entlaſſen; und der 
perlönliche Wille des Kaiſers trat mit jo jtarfen Jmpuljen hervor, daß man 
draußen vom Empereur d’Allemagne zu jprechen begann und kaum noch 
der Bundesfürften gedachte, deren erftem mit dem Bundesprälidium der 
Titel des Deutichen Kaifers, aber nicht das Necht eines Reichsmonarchen 
zuerkannt worden war. Vom Kaiſer, nur vom Kaifer war Tag vor Tag jegt 
die Rede. Die Geburt des Reiches war 187 I nur durch den Kaiferfchnitt mög- 
lid) geworden, der dem Sorgenkind ans belebende Licht half. Die beiden 
Männer aber, denen damals dieSectio Caesarea gelungen war, hatten noch 
Preußens Schwarze Tage gefehen; fie fannten die Gegenfäge der deutjchen 
Stämme, die in den Yandsmannichaften der Hochichulen fortlebten, und 
wurten, welches Opfer dem Selbjtgefühlder fonverainen Fürjtenzugemuthet 
wurde, die wichtige Theile ihrer ererbten Nechte dem Sohn eines aus unjchein- 
baren Anfängen emporgelommenen Junkergeſchlechtes ausliefern follten. 


Vienx Saxe. 457 


Wilhelm und Bismardwaren und blieben einig indem Bemühen, den Kaijer- 
gedanfen für bejonders ernfte oder beionders feitliche Stunden aufzu— 
jparen. In diefe Vorftellung hatten die Bundesfürften fid) gewöhnt — 
Andere werden jagen: die freiwillige Zurückhaltung des alten Kaifers hatte 
jie verwöhnt — und ein unbehagliches Gefühl mußte ſich einftellen, als es 
anders wurde und fie von dem plöglich, bald da, bald dort, aufblinfenden 
Leuchtfeuer der Kaijergloriole ihr weniger glanzvolles Mühen verdunfelt 
jahen. Niemand fprad) nod) von ihnen, Niemand traute ihnen auf das Ge- 
ſchick des Reiches, dem fie doch gemeinjam die Einheit ſchufen, entfcheidenden 
oder auch nur mitbeſtimmenden Einfluß zu; ſie ſchienen nur noch vorhanden 
zu ſein, um an Feiertagen ſich um den Thron des Einen zu ſchaaren, der 
mit ſeinen Worten und Willensregungen die Welt erfüllte und in einem 
Lande, deſſen Fürſtengeſchlechter faſt alle einmal mit einander in Fehde ge— 
legen hatten, ſeinem Hohenzollernhaus mit raſcher Hand die Schätze geſchicht- 
lichen Ruhmes häufte. Eine ſchwere Probe, die ſogar den alten Großherzog 
vonBaden aus bequemer Ruhegeſcheucht und zum eifernden Redner gewandelt 
hat. König Albert hat ſie beſtanden. Manches gefiel ihm nicht, die Treuſten 
ſahen ihn den weißen Kopf ſchütteln und an leiſen Friltionen hat es ſeit 1890 
niemals gefehlt, — nicht nur in der Zeit des lippiſchen Erbfolgeſtreites, den 
der Sachſe gegen den Wunſch Wilhelms des Zweiten entſchied. Stets aber 
blieb er forreft. Er freute ſich, 1892 zu ſehen, wie feſt gerade die Sachſen 
an Bismard hingen; doch er jelbft hielt fich zurüd. Er wollte weder die 
neue Mode mitmachen noch mit perfönlichem Widerſpruch die Kritik her: 
ausfordern: der unangreifbare König für Alle wollte er fein und vor des 
Neides langenden Blicken „die Sache halten”, jo lange e8 irgend ging. Ob 
man ihn für einflußreic) oder ohnmächtig, für einen Nenner oder eine Null 
im Deich) hielt, galt ihm gleich; nur um die Erhaltung der ftarfen Kraft— 
wurzeln im heimischen Boden wars ihm zu thun. Da konnte er ftill wirken, 
fonnte er, ohne die Zukunft der Dynaftie zu gefährden, in weijer Selbjt: 
beihränfung Nüsliches Schaffen. Nie vernahm man von feinen Neigungen, 
jeinen Liebhabereien. Providentiae memor! Aud) die Hand, die aus dem 
Purpur hervorwintt,hältdieunhemmbarnothwendigeEntwidelung nicht auf. 
Nicht einmal auf der ſchmalen Höhe, wo die deutjche Muſe mühſam ihr Xeben 
friftet. Alberts Refidenzftadt wurde der germanische Borort modernſterKunſt; 
dort lernten wir Meunier und Rodin, Ban de Belde und Zuloaga kennen. Und 
der König jchalt nicht, Lie lächelnd Alles geſchehen. Warum nicht? Diegute alte 
Sachſenkunſt, deren Brodufte jo patrizijch ausjehen, jo behaglich und aller- 
liebt unzeitgemäß, behielt auch neben dem Allerneujten nod) ihren Werth. 


v 


458 Die Zukunft. 


Eine Renaiflance? 


Sy" van de Belde hat ein intereffantes Buch über die Renaiffance im 
9) Kunftgewerbe . geichrieben; er verteidigt darin mit oft bewunderns— 
werther Sicherheit fi und feinen Stil und giebt eine Schilderung der in- 
dujtriellen Künfte feit Morris. Ich weiß nicht recht, was den Weiz giebt, 
gegen diefes Buch zu jchreiben, fogar aus dem eigenen Lager heraus. Ob 
es die fühle Selbitverftändlichfeit ift, mit der diefe Heine Gefchichte Lediglich 
sub specie van de Beldes aufgefaht wird, die Dialeftif, mit der er gegen 
die Angriffe auf feine Kunſt antwortet, oder die jehr perfönliche Form des 
Ganzen. Ich glaube nicht, daß das Bud) für van de Beld: Profelyten machen 
wird. Dumme Leute werden es nicht verftehen, Fuge werden ſich darüber 
ärgern. GSelbitverjtändlichkeiten und Thorheiten werden darin mit folder 
Gelaſſenheit, ja, mit fo viel Pathos behandelt, daR ſich die Oppofition felbit 
dann regen würde, wenn der Hauptinhalt des Buches Einem willkommen 
wäre. Das Pathos ift das Peinlichite daran. | 

Um mas handelt es ſich eigentlih? Der naive Lejer wird, wenn er 
das Buch Hinter ſich hat, daS mehr oder weniger unklare Gefühl haben, von 
einer Erfcheinung in Kenntniß geſetzt zu fein, die vollkommen unbegreiflicher 
Weiſe ihm bisher entgangen war; eine Eulturelle Thatfache von ungeheurer 
Wichtigkeit, eine Formel der Modernität, die geeignet ift, die Welt umzu— 
ftürzen. In Wirklichkeit handelt es jich, wie der Titel lautet — und man 
muß dem Ausländer das ominöfe Wort nachſehen —, um Kunſtgewerbe. 
Das ift zu wenig für daS große Pathos. 

Kunftgewerbe ift heute jehr beliebt; und die Leute, die es betreiben, 
jtehen in dem Anſehen, mit dem man fort nur mit Pathos zu behandelnde hohe 
Kunft bedachte. Im Grunde ift e8 ein um nichts mehr oder weniger legitimes 
Mittel, Geld zu verdienen, als irgend Etwas. Man macht hübſche Saden, 
um fie zu verfaufen; daß man jie gediegen, beſſer als Andere macht, erleichtert 
ihre Verkäuflichkeit. Das iſt der einzige moralifche und vernünftige Stand 
punkt; nur wenn man Dinge maht, die dem Syſtem von Angebot und 
Nachfrage entiprehen fünnen, kann man nügen. Wozu alfo dad Pathos? 
Was würde man von dem betriebjamen Schufter jagen, der mit ſolchem 
Pathos feine gewerblichen Anſichten affihirte? Auch fo was giebt ed. In 
London auf der Bondjtreet hat mih mal ein Schufter drei Stunden lang 
gefeffelt mit einem Vortrag über feine einzig naturgerechten Stiefel, die er 
im Gegenfage zu feinen Kollegen vorn breit und Hinten chief machte; und 
da8 Pathos, mit dem der junge Worth oder Madame Paquin in Paris 
über ihre Koſtüme veden, ift nicht weniger feierlich al3 das van de Veldes ... 
Nur laffen diefe Leute nicht al ihre Meinungen druden; und wenn fie e3 


u ae a —— 


Eine Renaiſſance? 459 


thun, erreichen ſie nicht dieſe literariſch ganz pojfirliche Aufinerffamfeit. Yan 
de Belde glaubt aber, Kultur zu machen und daher zu mehr berechtigt zu 
fein als ein Schuiter oder Schneider gleicher Bildung; und darin irrt er. 


Wie ein einfchneidendes hiſtoriſches Ereigniß wird das Auftreten der 


Belgier in den neunziger Jahren geichildert und mit der Bedeutung der 
englifchen Bervegung verglichen. Auch diefe it recht überfchägt worden, aber 
fie bedeutet denn doch etwas mehr als die brüffeler Heldenthat. Man färgt 
wohl überhaupt nachgerade an, über das künſtleriſche Heldenthum fkeptijcher 
zu denfen, zumal wenn ſich damit der Begriff des Märtyrertfumes verbindet; 
in den meiften Fällen it das Märtyrerthum des Künſtlers vielmehr eine 
Folge der Vernahläfigung gewilfer unentbehrliher Qualitäten rein fozialer 
Art als Fünftleriicher Fragen; Künstler, die, ganz abgejehen von ihren 
Talent, in den Kampf ums Dafein das Bischen Rebensweisheit mitbringen, 
das jeder Schufter oder Schneider eben jo braucht, gehen jelten zu Grunde. 
Gerade in dem weniger heldenhaften Auftreten der englischen Künftler der 
vorangehenden Bewegung Liegt ihr Uebergewicht. Es war normaler. Es 
folgerte aus dem englifchen Empire mit der Sicherheit, mit der in Frankreich 
ein Louisſtil aus dem anderen hervorwuchs, und hatte jene latente Popularität, 
die nur der Jahre bedarf, um zur wirklichen zu werden. 


Co groß in Brüffel das Verdienit des Einzelnen war, jo groß die 


Kühnheit, deren es bedurfte, um fo geringer war die kulturelle Bedeutung 
diefes Verfuches, weil es ihm an diefer fatenten Popularität fehlte. Ich hoffe, 
erflären zu fönnen, wie ich es meine. . 


Man kann ſich mit einiger Phantaſie einen Menschen vorftellen, dem 


es durch ein äußerſt verjönliches, ganz an feine Exiſtenz gebundenes Mittel 
gelingt, die Menfchheit im einer nie gefehenen Weife zu beglüden. Man 
denfe an einen Wunderthäter, wie ihn die Neligionfagen hervorgebracht haben, 
mit Abitraftion der jittlichen Wirkung, an einen großen Hypnotifeur, der 
ich im den Kopf gelegt hat, fein Talent nur zum Guten zu benugen. Mag 
ein ſolcher Menfch noc jo viel thun: er bleibt ein Phänomen und feine 
Wirfung verfhwindet, praftifch geiprocdhen, wie eine Seifenblafe im Meer 
der Allgemeinheit, während der gar nicht phänomenale Dichter, Denfer oder 
Künitler, der nichts Anderes thut, als feiner Zeit eine jener latenten Quali— 
täten zu offenbaren, die unmittelbar aus ihr folgen und ummittelbar auf fe 
weiterwirfen, der Arzt, der innerhalb der Mikrobentheorte etwas enticheidend 
Neues entdeckt, der Induſtrielle, der innerhalb unferer industriellen Mittel 
ein neues Gebiet aufichlieit, Fulturell unendlich mehr bedeuten. Es kommit 
nicht lediglich auf das Geben an; man muß mit der Gabe Etwas anfangen 
fönnen; der Befchentte muß das latente Bedürfniß haben, das durch die 
Gabe befriedigt wird. In unſerem Falle find es nicht zu überſehende, ſehr 


39 


— — 


460 Die Zukunft. 


fomplere Verhältniffe, die diefen latenten Zuftand bedingen. Die meiſten 
PBatrioten laſſen ihn von lediglich nationalen Fragen abhängen; ſolche Fragen 
fpielen Sicher überall, wo es jih um Stil handelt, mit, aber fie find hier, 
in unferem heutigen Yeben, bei der Gemeinfamfeit der Mittel und der Be— 
dürfniſſe nicht mehr enticheidend. Es wäre thöricht, van de Velde aus feiner 
hiſtoriſchen Zufammenhangloiigleit — er verfucht vergeblid, sie in feinem 
Buche durch feine Beziehung zum Rokoko zu überbrüden — einen Vorwurf 
zu machen. Man wird die größte Mühe haben, den Jufammenhang des 
Bunfen-Brenner3 oder eines Motorwagens von Dion Bouton mit der Ver: 
gangenheit nachzuweiſen; und trogdem find es recht nügliche Gaben. Ein 
ernithafter Vorwurf kann nur im der Frage des reinen Nutzens liegen. 
Ban de Belde hat ſich im feinem Buch zu viel, namentlich aber zu 
wenig gethan. Seine Rolle in der belgischen Bewegung iſt eine ganz andere 
als die Williams Morris in der engliichen, mit der ein Vergleich nahe Liegt. 
Morris ſchloß vorhandene Elemente mehr oder weniger geſchickt zuſammen; 
van de Velde jchuf neue Elemente. Er nur allein hat wejentlich neue Ge: 
danfen in die Sache hineingebracht. Die Namen der von ihm mit jchägens: 
werther Pietät citirten Künftler bedeuten Dem gegenüber gar nichts, Es 
wäre nicht fchwer, nachzuweiſen, daß van de Velde eine der größten künſt— 
leriſchen Energien dieſes Jahrhunderts it. ES hat felten einen Menichen 
gegeben, der jo konjequent jeine Art durchzudrüden verjtanden hat; man findet 
dieien Fanatismus des Jndividualitätbewußtfeins ſonſt nur in der Kriegs— 
geichichte. Der Schatten, den er in einem darüber zu jchreibenden Buche 
werfen würde, iſt gigantifcher, als es jich ſelbſt die treufte Verehrerin des 
Künitlers heute träumen läßt. Nur dürfte man ein foldes Bud nicht 
aukerhalb einer rein biographiſchen Bedeutung jtelen. Man kann von ihm 
in eben fo hohen Tönen reden wie von Millet oder Manet, aber man darf 
fich nie einfallen lafjen, zu glauben, dar er für jeinen Kreis eben jo viel 
bedeutet wie jene Künstler für ihren. Millet rettete eine große zeichnerifche, 
Manet eine grandioje malerifche Tradition. Wohl ift der Wirkungskreis 
diefer Leute Klein; er ift das winzige Spezialintereffe eines Spezialfaches, das 
leider mit dem Heute unendlich wenig zu thun hat. Ban de Veldes Kreis 
iſt viel größer; er liegt — oder foll liegen — zwiſchen den Polen der Noth— 
wendigfeit unjeres Daſeins; aber die Holle, die er ſelbſt darin bis heute 
geipielt hat, iſt gering, nicht nur praftiich und für den Augenblid — Das wäre 
gleichgiltig —, Tondern auch im jeder theoretischen Zukunft; fie ift juft die, 
von der er himvegdrängte, die Wolle, die etwa ein genialer Maler im heu- 
tigen Leben ſpielt. Und der Fall liegt jo unglüdlich, dar man dem heutigen 
van de Velde im Intereſſe der Allgemeinheit wünfchen muß, feinen anderen 
Einfluß zu gewinnen. Den Grund findet man in allen Aeußerungen diejes 


u - 
— — — 
in 





J Ar — 


Eine Renaiſſance? 461 


thatſächlich vorhandenen Einfluſſes, von dem zu reden ſich nicht lohnt, und 
in der Unzulänglichkeit der Mittel des Künſtlers, ſobald man ſich einmal 
ihn ſelbſt wegdenkt. Er iſt eine höchſt intereſſante äſthetiſche Studie; zur 
kulturellen Bedeutung aber für die Allgemeinheit gehört gerade das Gegen— 
theil Deſſen, auf das van de Velde ſtolz iſt. Kulturell bedeutet vielleicht 
der Einfall des jungen bremer Dichters, dem es in den Sinn kam, ſich in 
Münden, ohne Nimbus, aber mit jehr viel Geſchmack eine Wohnung ein- 
zurichten, die in idealer Form dem Bedürfnig entjpricht, ohne im Mindejten 
originell zu fein, mehr als die verblüffende Originalität des belgiichen 
Meiſters; und das Verdienft unferes Peter Behrens, dem es allein gelungen 
ift, die großherzogliche Austellung von modernen Häufern in Darmſtadt vor 
der Yächerlichkeit zu retten, it größer als der Werth der ungleich tieferen 
Erfindung van de Veldes. Der viel umftrittene Sag von den Gefahren 
des Genies auf den Thronen der Völker jcheint in diefem kleineren Reich 
eine bejtimmtere Beitätigung zu erhalten. Wenn man dies Gebiet nicht mit 
der Lupe des Fachpatriotismus betrachtet, fcheint hier das ſtarke Genie nur 
in geringen Dofen genießbar. Die Emanzipation vom Genie, eine unjerer 
größten Kulturaufgaben, viel wichtiger al3 die Emanzipation von dem Geld 
und anderen mit Schlagwörtern unſeres Sozialismus bezeichneten Mächten, 
it hier die Grundlage jeder vernünftigen Entwidelung. 

Der ganze Sozialismus van de Beldes, auf den er zumeilen anfpielt, 
icheint Spielerei; er iſt ſicher der ftärkfte der vielen Widerfprücje in diefem 
Menſchen; und es ift faſt unbegreiflih, daß sich feine ſcharfe Logik diejer 
Thatfache nicht bewurt wird. Kein monarchiicher Abjolutift ift im Inſtinkt 
jo antifozial wie der Sozialift van de Velde. Es giebt nichts, was jo 
treffend die Symptome ariltofratifcher Einzelerfcheinung trägt wie diefe Kunſt. 
Nicht genug damit, daR ſchon umjere ganze gute, moderne Malerei und 
Skulptur reiner Kaviar ift: jet wird auch, wenn es nad) van de Velde 
ginge, das Gewerbe zum Amateurſport. Nur für Amateure ift Alles, was 
er macht, beftimmt, wegen des verwendeten Mittel8 nicht minder al® wegen 
der ganzen, äußerſt fpezialiiirten Eigenart. Denn man wird mir, um van 
de Veldes Kommunismus zu bemweifen, hoffentlich nicht den berühmten Ein: 
fluß entgegenhalten, den van de Belde in Deutjchlaud, Defterreih und in 
vielen anderen, ja, den meilten Ländern übt. Wenn e8 irgend etwas noch 
Niedrigeres giebt al8 das Niveau, auf dem wir vor van de Velde waren, 
fo iſt es das der üblen Kohorte von Fabrifanten, die & la van de Velde 
arbeiten und umfere Häufer innen und außen mit den felben Efel erregenden 
MWurmlinien überziehen. Unbegreiflich, daß ſich der Meifter, der dieje üblen 
Geiſter rief, dagegen nicht wehrt, daß er diefe Banaufen nicht brandmarft, 
die zu beweifen verfuchen, dar feine ganze Sache nur Manier it, die aus 


35* 


462 Die Zutunft. 


ſeinen perſönlichen Zeichen die billige Baſis einer Mode zu machen verſuchen; 
daß er nicht konſequent genug iſt, zu ſagen: Ich bin allein und muß allein 
bleiben. Bei feiner Charafteranlage wäre diefer Wunſch gewiß aufrichtig. 
Das iſt die faulite Seite de8 Buches van de Veldes, gegen die jich bei mir 
die heftigite Oppofition regt. Mit großer Gefte weift er auf den unfäglichen 
Einfluß feiner Ornamentik hin; und da er ihm nicht hindern kann, jagt er 
ftrahlend: Dies iſt mein Werk! 

Ich hätte Michelangelo jehen mögen, der im einer größeren Sade in 
ähnlicher Lage war, wenn man ihn auf den großen Einfluß aufmerfjam ges 
macht hätte, der von ihm ausging; etwa auf die heiteren Engeldhen über 
den Thüren, die fich bis heute erhalten haben und jegt von den belgifchen 
Linien verdrängt werden. ch glaube, er hätte, bei feinem Qemperament, 
den umberufenen Kritiker die Treppe hinunterbefördert. Und diefer italienijche 
Unfug war denn doch noch etwas Anderes als die brüſſeler Renaiffance. 

Ban de Belde konnte jchweigen; oder — Das war fchwieriger —: 
abihmwören! Gerade das Gegentheil thun! Nicht beweifen, wie er e8 in un— 
begreiflicher Ausführlichkeit verjucht, daß die belgiiche Linie beſſer ift als die 
der Blumen oder Gemüſe, fondern zeigen, daß diefe ganze berühmte belgiiche 
Linie an ſich fo gleichgiltig it wie der fühne Schwung eines wohlgepflegten 
Fingernageld. Ich müßte fürchten, mich auf die allerbanalften Gemeinplätze 
zu verirren, wollte ich nachweiſen, daß ein Ornament an fich überhaupt nicht 
eriitirt, eben jo wenig wie e8 eine Liebe an ſich giebt; immer gehört ein 
Dbjeft dazu. Die Frage, wie dies Objekt fchön herzuftellen ſei, iſt nicht 
von der Detailfrage des Ornamentes abhängig; es giebt fehr viele jchöne 
Dinge, die gar fein Ornament tragen, und bei folchen, die damit verjehen 
find, fommt nicht in Frage, ob das Ornament an eine Blume oder an nıeine 
Großmutter erinnert oder überhaupt abftraft (?) ift. Ban de Velde wirft allen 
Gewerben, die vor ihm da waren, vor, daß fie die Unwahrheit und Unlogik 
in die Gemüther fäten, weil fie uns zwangen, auf Teppichen zu gehen, die 
Blumenbeeten glichen, und unfere Wände in Perfpeftiven verwandelten. Das 
ift billige Weisheit. Ein Teppich, der feine andere Qualität hat als die, 
einem Blumenteppich zu gleichen, oder eine Wanddeforation, die lediglich den 
Zweck hat, unſer Auge zu täufchen, kommt hier überhaupt nicht in Frage. 
Es iſt denn doch arg naiv, in dem Gewerbe der Vergangenheit nur folche 
naturaliſtiſchen Mätzchen zu jehen. Was uns an den guten uns überlieferten 
Sachen freut, iſt juft der Stil und das prachtvolle Metier. Die bringen 
in den Genuß Elemente mit, die das Sujet diefer Dinge ganz in den Hinter: 
grund drängen. Ach muß fagen, dar mir ein guter Gobelin von Watteau 
immer noch lieber iſt als ein Schlechtes perſiſches Mufter der felben Zeit. 

Es wäre bedauerlich, wenn die endlich errungene Freiheit von alten 





Eine Renaijiance? 4653 


BVorurtheilen nur dazu dienen follte, uns in neue umd nur noch engere 
Theorien zu ftürzen. Wenn e8 aber etwas Umantaftbares auf diefem Gebiet 
giebt, jo iſt es das Geſetz der Logik und Konftruftion. Hier, in der fcharfen und 
zeitgemähen Erfafjung diejes Geſetzes, iegt die Kultur; nicht in den Schlangen= 
(inien. Gerade von diefen Gefegen aber hat jich van de Velde jo weit wie 
möglich entfernt. Es giebt nichts Unkonftruftiveres als feine Möbel, die 
am Deutlichiten feine Eigenart zeigen. Man jindet eine Unmenge Details 
bei ihn, die aller vernünftigen Verwendung von Materialien widerfprechen. 

Aber meine Kritik ift Feine Klippſchule. Diefer fcharf umriffenen 
Perfönlichkeit, deren fünftlerischer Wille fich elementar aufdrängt, war erlaubt, 
wa3 bei Eleineren Verbrechen wäre; und unfer fchöner Perjönlichkeitfultus 
jorgte dafür, daß man ihr auch da folgte, wo tie hart an Unmöglicfeiten 
grenzte. Sie gab uns dafür, jtatt logischer Befriedigung, ſtarke Impulſe 
und [ehrte und auf einem neuen Felde das Wirken der Perfönlichkeit ſchätzen. 
Die Anerfennung dafür it nicht ausgeblicben; es wird jelten einen Künftler 
gegeben haben, der im fremden Land jo fchnell zur Berühmtheit gelangt ift. 
Aber gerade deshalb erwächſt Denen, die an diefer Anerfennung betheiligt 
waren, das Recht zur Oppofition da, wo die Wirkung des Erfolges den 
Künftler auf Abwege treibt. Groß wäre, wenn van de Velde heute, wo er 
ſichs leiſten kann, auf die Fehler feiner Vorzüge verzichtete; denn gerade in 
diefen Fehlern hat die banale Welt am Meiſten feine Größe gejehen; wenn 
er aufhörte, im Sinne diefer Welt originell zu fein, um im höchſten Sinne 
werthvoll zu werden. Das wäre eine befjere Antwort al3 der fünmerliche 
Verſuch, ich zum Haupt feiner traurigen Epigonen zu maden. Uebrigens 
geht er in der Auffaſſung diefes Epigonenthumes etwas zu weit. Die dresdener 
Ausstellung, in der zum erjten Male in Deutichland Werke van de Beldes 
zu jehen waren, gab nicht, wie er behauptet, den Anfang zur deutjchen Be— 
wegung. Ich zum Beispiel hatte ſchon vorher manche Zeile über deutiche 
Gewerbefünftler geichrieben, folglich mußte es ſolche Künstler geben. In 
Münden und an anderen Orten regten ſich ſchon manche verfprechende Ver— 
ſuche, die nicht3 von van de Velde wußten, und thatfächlich iſt auch heute 
der ernfthafte Theil der deutjchen Künftlerichaft von ihm unberührt. Beein— 
flußt wurden nur die Leute, die nichts Beſſeres zu thun hatten, die Maife, 
die immer einen Beeinfluffer braucht. Auf die Beſſeren war fein Wirken 
mehr moralifcher Art; er gab ihnen Muth, e8 in ihrer Art chen jo zu machen. 
Auch rein praftifch wird Manches in die mehr oder weniger dauernde Formen— 
welt der Gegenwart übergehen. Der rüdblidenden Gefchichte werden dieſe 
Details, die der heutigen Fachjchriftftellerei als unendlich wichtig erfcheinen 
mögen, als nebenjählih verihwinden. Sie wird unfere Verfehrömittel, 
unjere Maſchinen, unfer Handelsgetriebe regiftriren und die künſtleriſchen 


’ — Wr —ñ ⸗ 


464 Die Zukunft. 


BVerjuche zur Hebung des Gewerbes als Künſteleien betrachten. Sie wird 
erſtaunt fein, dar eine fo fonfequent vorgehende Zeit im häuslichen Gewerbe 
nicht eben jo bewußt Fortichritt und des fünitlerifchen Nimbus bedurfte, um 
etwas höchſt Selbftverftändliches zu thun. Man wird fi wundern, wie 
man über jo einfahe Dinge fo viele Worte machen fonnte, während ich 
unfere induftriellen und wiſſenſchaftlichen Erfolge fo klanglos vollzogen, und 
man wird fchlienlih im diefer ganzen Aeithetif der vielen Worte nur das 
ataviſtiſche Zeichen einer Kafte jehen, die fo thöricht war, von dem Maler, 
Bildhauer, Dichter eine Kultur zu erwarten, die auf natürlicherem Wege 
längſt entitanden war. | 


Paris. Julius Meier-Graefe 


nn 


Elfte Rangklaſſe. 


Sg)" junge Fritz Murmann jah endlid jein langjähriaes Zehnen erfüllt: 
er war einem nen gebildeten Departement als feit angejtellter Beamter 
zugetheilt worden, mit einem Gehalt von... na, an die Höhe des Gehaltes 
wollte er vorläufig lieber noch nicht denken; erſt die Freude der feiten Anjtellung 
ausfojten. Es iſt doch ein erhebendes Gefühl, mit ruhiger Zuverſicht in die 
Zukunft jehen zu Können, des Worrüdens und der PBenfionberechtigung jicher, 
wenn diejer Ausblid jelbjt nur von der Niederung einer elften Rangklaſſe ge: 
nofjen wird. Zumal, wenn ınan eine Frau hat. Bei diefen Derrlichkeiten fonnte 
er es ſchon in den Kauf nehmen, von den neuen Kollegen wicht jehr freundlich 
angejehen zu werden. j 

Das thaten fie dern auch gründlid. Ginen „Neuen“, den Niemand kennt, 
von weil Gott wo hereinbefommen, ift eben eine böje Sache. Kann man willen, 
welcher Protektor hinter ihm fteht? 

Fritz Murmann drüdte ſich in die Ede und juchte durch das allerzuvor— 
fommendite Weſen die Herren mit feinem Dajein zu verjöhnen. Ihm war 
diejes jtreng geregelte Beamtenleben — in jeinem inmerjten Innern magte cr, 
es „Kaſtengeiſt“ zu nennen — ganz fremd umd er fühlte jich recht unbehaglich. 
Ein Glüd war für ihn, dal; er einen früheren guten Bekannten im Departement 
fand, der ihm mit großer ‚sreundlichteit empfing. Sie waren zwar nicht in 
einem Zimmer zulammen, da der Freund ſchon ein höheres Arbeitgebiet hatte, 
aber es kam doch zuweilen zu einem wohlthuenden Meinungaustauich zwiſchen 
ihnen. Auch hatte Fritz Murmann dem Anderen jchon eine Gefälligkeit erweijen 
fönnen. Vor dem Schreibtiicd des Anderen ftand ein Sefjel, der an entſprechender 
Höhe mehr zu wünjcen übria ließ als an jtilgerechter Unbequemlichkeit, ein 
wahres Marterinſtrument fir eine ſtarke Figur unter Mittelgröße, wie jie der 


® 


Elite Ranaftaiie. i 465 


Unglückliche zufällig hatte. Fritz Murmann war groß und, als gqavandter Turner 
und Schüchterner Neuling im Amte, minder empfindlich. Gr erbot id), zu tauichen, 
und überließ dem Freunde jeinen höheren Seilel. 

Eine Weile hatte es Fritz Murmann gefchtenen, als wäre das Benehmen 
jeiner Kollegen minder jchroff geworden; doch merkte er bald, daß er jich ge— 
täujcht hatte. Geradezu Eiſesluft umwehte ibn. Ueberall begegnete er miß: 
trauiſchen Blicken, mehr denn je jah er ſich gemieden. Anzügliche Bemerkungen 
wurden hörbar über „Veute, die ſich was Beſſeres dünfen und lieber draußen 
bleiben jollten.” Sprachen Zwei und er trat dazu, jo wurde das Geſpräch raſch 
abgebrodyen. Am Freundlichſten war noch der Tiener, aber auch nur, wenn ev 
ihn allein jah; dann nahte er ihm jogar mit unterthäniger Höflichkeit. Sobald 
aber Andere in der Nähe waren, nrachte er einen weiten Bogen um Fritz Murmann 
berum und hörte nicht, werin Der ibm Etwas zu jagen hatte. 

Der Arme junge Mann war verzweifelt. Womit hatte er dieſe Daltung 
verdient? Gr fonnte fich mit gutem Gewiſſen jagen, daß er fleißin, gefällia, 
pünktlich und gewilfenhaft war wie Wenige. eine Frau jah ibren Gatten mit 
banger Sorge immer verſtimmter und dillterer werden. Das erfte Gehalt empfing 
fie mit Thränen, die ihr nicht nur deſſen Stleinheit erpreite. Die mit Freude 
begrüßte Stellung war eine U. nelle des Kummers geworden. Yeider war auch 
Fritzens einziger Freund, weil er erfranft war, auf Urlaub gegangen. So hatte 
der Arme feinen Menſchen mehr, der ihm rathen, ihn aufrichten konnte. Das Ziſcheln 
und die mißbilligenden Blicke der Anderen wurden immer unerträglicher. 

Eines Tages hörte er den Chef mit Tonneritimme nad Baſtian, dem 
Diener, rufen. „Aha, jcehlagendes Wetter heute”, murmelten die Herren. 

Bildete ſich Fritz Murmann nur ein, dal fie wieder Alle mach ihm 
jaben? Gr jah der Thür am Nächten, jo hörte er auch, wie der Chef den 
Tiener anichnaugte: 

„Nufen Zie mir den Lümmel vom Tepartement VI.“ 

Er konnte ji, trog Wochen langer burcaufratiicher Zucht, eines inmerlichen 
Yachens nicht erwehren. Alſo beſaß der gute Baſtian ſolche Verſonalkenntniß, 
daß er genau willen mußte, wer dev „Lümmel vom Departement VI“ ſei. Welche 
Empfindungen hatte er aber, als Bajtian, ohne zu zögern, aeraden Weges auf 
ihn zugimg und ihn zum „Geſtrengen“ befahl. 

„Was erlauben Zie ſich“, wollte Fritz Murmann rufen; doch zu rechter 
Zeit fiel ihm noch ein, daß es „gefräntte Ehre“ in der elften Rangklaſſe noch 
nicht aeben dürfe. Alſo binumterichluden. Er hatte doch jchon viel gelernt. 

Der Chef empfing ihn äußerſt ungnädig: Fritz Murmann hatte einen 
Akt nicht amtsſtilgemäß abaefaßt ;er hatte jich erlaubt, eine eigenmächtige ſtiliſtiſche 
Wendung zu gebrauchen. 

„Weberhaupt“, fuhr der Ghef ihn an, „nehmen Zie ſich zu viel ‚Kreis 
heiten heraus und llebergriffe, ich habs ſchon gehört. Zie jind ein Streber!“ 

„Ich, ich... weil; wirklich nicht . . .“ Ätotterte Fritz Murmann beſtürzt. 

„Natürlich, Tas babe ich ja gleich gewußt, daß Sie nicht „willen“ werden! 
Aber wir willen! Wir haben Augen und Thren und Menſchenkenntniß, wir 
jehen Ihre geheimen ESchleichwege, den Mangel an Subordination, auch wenn 
wir lange dazır Schweigen. Zie jind ein Ztreber: und ſolche Pete können wir 


466 Die Zukunft. 


hier nicht brauchen! Bier herricht Gerechtigkeit und Ordnung! Merken Ste lid 
Das, junger Dann!“ 

Eine Frau zu Hauſe und Benjtonberechtigung find ein treffliches Beugung— 
mittel für Mannesſtolz. Widerfprechen darf man ja nicht, in feiner Rangklaſſe. 
Fritz Murmann wankte ſchweigend an feinen Pla zurüd. Aber innerlih war 
er verziveifelt, gebrochen. Was jollte er thun? Mußte er nicht doch ſchließlich 
jeine Entlajjung einreichen? 

Endlich kam jein Freund wieder ins Amt. Auch er war kühler in feinen 
Benehmen. Natürlich. Fritz Murmann wunderte ſich über nichts mehr. Gr 
faßte aber doc den Muth, ibn um feine Meinung zu fragen; was er begangen 
baben könne und was er thun jolle. Der Freund war etwas verlegen. „Ja, 
ſehen Sie, da ift Berjchiedenes. Zie find noch nicht von dem richtigen Burean— 
geiſt beſeelt. Zum Beiſpiel haben Sie bier eine Dede...“ 

„Ein Geſchenk meiner rau; was iſt damit?“ 

„Ja, recht ſchön; aber die Dede iit rorth und in dem Zimmer hat Alles 
grün zu jein. Und vor Allem: für die elfte Rangklaſſe giebt es überhaupt nod) 
feine Tiſchdecken. Doch Das mir nebenbei. In der Dauptjade ... ich habe 
05 bheransgebradht und wollte mich jchen entichuldigen, denn ich kanns nicht 
leugnen: da bin ich ſchuld an ‚ihrer ſchwierigen Stellung.“ 

„Was, Die, Doktor?” unterbrad ihn Fritz Murmann bejtürit; „ja, 
ichadet es mir vielleicht, dal; ich mit Ihnen verfehre oder vielmehr Ste mit mir“ 

„Ich glaube nicht, dat; Ihnen Das gerade jchadet,“ entgegnete der Andere 
ernſt, „obgleich es vielleicht, mit Rückſicht auf Ihre Nollegen, beſſer wäre, unjeren 
Berfehr etwas fürmlicher zu geitalten. Es ift nod etwas Anderes; eigentlich 
überrajcht mich die Sache nicht. Ich bin länger im Amt und hätte es willen 
julfen, was für Folgen . . .“ 

„Nun, was?“ forſchte Fritz Murmann ungeduldig. 

„Ja, ſehen Sie, Herr Murmann, Ste hatten die Freundlichkeit, meinen 
Seſſel mit Ihrem zu vertauſchen. Mun it Das aber ein Seſſel der neunten 
Nangklajie! Zie haben ſich da aljo vor den Anderen, fozujagen, Etwas ange: 
maßt, das nicht zu Ihrem NMange paßt. Das iſt Ueberhebung, Rebellion.“ 

„Um des Dimmels willen,“ jchrie Fritz Murmann, „in meinem Yeben 
werde ich bier feinem Menichen mehr aefällig fein! Da, nehmen Sie Ihren 
Unglücksſeſſel, ebe ich verrüdt werde! Ich laſſe Ahnen meinetwegen noch ein 
Polſter darauf machen, — aus der Tede meiner Frau.“ 

„Verzeihen Zie, dab ich Ihnen ſolche Ungelegenbeiten bereitet babe“, 
entgegnete der Andere janft. „Es thut mir Sehr leid! Das Kolfter nehme ich 
mit Tant am; ich kann es Ichon riskiren, ein Bolfter zu haben, und für Sie 
its bejler, wenn keine Dede daliegt. Bei uns iſt es einmal nicht anders.“ 

Arie Murmaunn war gerettet. Einmal wurde er zwar bei einer Vor— 
rückung noch übergangen, wahrscheinlich, um fein Streberthum volljtändig zu 
unterdrücken, doc allmählich verlor Jich das Mißtrauen. Er gewöhnte jih an 
den Dana im Gleiſe der Amtsregeln, der Seſſel des Anſtoßes war aus dem 
Wege geräumt. Und aus dem Schwarzen Zchaf wurde ein weißes. 

Wien. Helene Migerka. 


r 


S 


—mn VR—úßâú—i— ——— 


Ehryianders Hãndel⸗Einrichtungen. 467 


Chryſanders Händel-Einrichtungen. 


8 war vorauszuſehen, daß nad) dem Tode des großen Händelforſchers 

> Friedrih Chryfander feine Gegner jede Gelegenheit benügen würden, 
um sein Werk zu vernichten. Da ich zu Denen gehöre, die durch längeren 
periönlichen Verkehr mit dem Verftorbenen als Eingewerhte gelten, und des— 
halb vielfach interpellirt werde, jo falle ich noch einmal furz zufammen, was 
zu beachten iſt. 

Die Art, wie Händel aufzuführen ift, mußte darum ftreitig fein, weil 
ſich innerhalb der legten anderthalb Jahrhunderte in ter Muſik die größten 
Ummälzungen vollzogen haben und weil die Tradition der händelichen Praxis 
verloren gegangen war. Bei der Benugung der OriginalsPartituren 
Händels jtellte ſich heraus, dan fie der Ergänzung bedurften. Dieſe 
Ergänzung war zu Händels Zeiten etwas ganz Selbftverftändliches und jedem 
Muſiker Geläufiges. Ta die Gegenwart nichts Genaue darüber wußte, 
begann fie, auf ihre Art zu ergänzen. Nach verfchiedenen Vorgängern, zu 
denen jchon Mozart gehörte, war der verdienftvollite Arbeiter auf dem Gebiete 
Robert Franz. Sein Fünftleriiches Feingefühl und das inteniive Studium 
der alten Kunſt erlaubten ihm, in der Ausfüllung des muſikaliſchen Satzes 
im Stil jener alten Meifter, vornehmlich Händels und Bachs, zu verfahren. 
Er fand darum die Anerkennung von Männern wie Lilzt und wirkte für 
die Wiederaufnahme der alten Werke viel Gutes. 

Kun gelang es aber den langjährigen Forſchungen Chryfanders, genau 
feitzujtellen, in welcher Weiſe zu Händels Zeit die Werke aufgeführt worden 
waren und wie man verfahren müſſe, um fie im feinem Geiſt wieder zum 
Leben zu erweden. Und dabei ergab ji, dar die Einrichtungen von Robert 
Franz, fo tüchtig fie an jih waren, zu der alten Praxis in größten Wider: 
ſpruch ftanden. Sie gönnten nicht nur dem alten Fundament, Orgel und 
Cembalo, nicht den Antheil, den fie jchledhterdings haben mußten, jondern 
führten auch Inſtrumente wie die Klarinetten cin, deren Klang der Muſik 
Händels völlig fremd ift. Dagegen beachteten ſie nicht das Verhältniß, in 
dem die Bläferbefegung zur Streicherbefegung ftehen mußte, wußten nichts 
davon, dar die Sologefänge der Dratorien nach den Vorfchriften jener Zeit 
unbedingt folorirt werden mußten, und verwilchten jo Händels Abiichten in 
vielen Fällen bis zur Unfenntlichkiit. Daraus ift jenen Herausgebern fein 
Vorwurf zu machen, denn damals eriitirten die Einrichtungen Chryſanders 
noch nicht für die Deffentlichfeit. Aber jegt ijt die Reaktion gegen ihn 
unkunſtleriſch und unwiſſenſchaftlich zugleich. 

Selbitveritändlich it Händel auch in den alten —— nicht 
tot gemacht und die „verſchleierte Technik“ iſt kein Unglück, das unerträglich 


468 Die Zuhmft. 


wäre, wenn man fich ihrer bewuht bleibt. Wo in einer Heinen Stadt das 
theure Notenmaterial der alten Bearbeitung da iſt und das nöthige Geld 
fehlt, fol man natürlich, ehe man die Aufführung ganz unterläkt, fich mit 
der ungenauen Reproduktion begnügen und hoffen, daß man jpäter oder 
anderdwo mal eine gute in der Originaltechnit haben fann. Aber unfere 
führenden Konzertinftitute und die ernite künitlerifche Kritik follten doch 
wiffen, was jie zu thun haben. Und Das wiffen jie eben leider nicht überall. 
Wo die Möglichkeit vorhanden ift, Händel in der hryfanderfchen Form auf: 
zuführen, und wo man troßdem im alten Echlendrian bleibt, ift einfach eine 
Derfündigung am Geifte Händels zu fonitatiren. Das follte ſtets mit 
nadten, energiſchen Worten gefagt werden. Was würden wohl die Leute, 
die jegt bei Händel ohne Cembalo und mit zwei Oboen wirthichaften, jagen, 
wenn ihnen Jemand das Heldenleben von Strauß mit vier erſten Geigen, 
drei Hörnern, ohne Harfe und Tuba vorfpielte? Ich denke, man würde e8 
einen Sfandal und eine künſtleriſche Berirrung nennen. der wenn Jemand 
aus Wagners Bartituren alle erescendi herausitriche oder in Beethovens 
Sonatenfägen bei der Wiederkehr der Themen die Melismen fortlieke und 
Alles jo fpielte wie beim eriten Auftreten des Ihemas? Man würde ihm 
jede fünitlerifche Würde abfprechen. its denn bei Händel anders? Es iſt 
mit wiljenjchaftlicher Unfehlbarfeit nachgewiejen, daß die Verzierungen bei 
der Wiederholung, die ſpätere Komponiſten ausjchrieben, von Händel unbe: 
dingt gefordert wurden, obwohl fie nicht da itanden. Das lernte damals 
jeder Sänger. Und da hilft fein Zetern: „Das ift geichmadlos.“ Lernts 
lieber erjt einmal ordentlich fingen und hören! 

Ich habe vor Fahren Chryjander einmal den Norfchlag gemacht, er 
möge drei händeliche Arien mit dem Titel herausgeben: Drei Arien von 
Händel mit Verzierungen herausgegeben von Chryfander. Er hats leider 
nicht gethan. Wie würde ſich die Kritik über ihm geftürzt, die Arien mit 
den vorhandenen Driginalausgaben verglichen und gefchrien haben: „Echt, 
jo geht diefer Menſch mit unferem Händel um. Nicht wiederzuerknnen. 
Dieje Verunftaltung! Mufikdireftoren Deutſchlands, wahrt Eure heiligiten 
Güter.“ Und ein paar Wochen danach hätte der Alte von Bergedorf lachend 
aus jeiner Druderei das Fakjimile des händelichen Autographs hinausgefandt; 
die drei Arien hatte Händel nämlich felbit in einer Mufeftunde oder auf 
Wunjd eines Sängers fo verziert, wie ers haben "wollte. Schade, daß 
Chryſander den deutichen Kritifern diefe Blamage eripart hat. 

Nun, fie beweifen ja ihre Ummifienheit fo jchon oft genug, wenus um 
Händel geht. Der neujte Sport, den fie treiben, ift die Konftruftion eincs 
Gegenſatzes zwifchen praftifchem Muſiker und Mufikgelehrten. Chryjander 
iſt ein Muſikgelehrter; die Auftührung großer Chorwerfe iſt aber eine eminent 


Ehryfanders Händel⸗Einrichtungen. 469 


praftiiche Aufgabe, von der der alte Stubenhoder nichts veritand, ergo, — 
laßt nur unfere Dirigenten machen! Was dabei herausfommt, will ich Tieber 
nicht befchreiben. Aber konftatiren will ich, dar Chryſander mehr von Muſik— 
praxis verftand al3 mancher Stapellmeifter; und wenn er feine ſymphoniſche 
Dichtung hätte aufführen können, jo war er in technifchen Fragen bei Händel 
un fo mehr zu Haufe. Das iſt doch hier das Ausichlaggebende Wenn 
freilih Einer, der muſikhiſtoriſche Bildung offenbar nicht hat, heutzutage 
Schreibt: „Wie Händel aufgeführt wurde, weiß man nicht; alſo laßt unjere 
Konzertpraftifer ihre Erfahrungen benugen und die Werke möglichit jo heraus: 
bringen, wie fie jet noch wirken“, jo iſt Das eine fehr unangebradhte Ver: 
allgemeinerung. Es ijt allerdings fehr bequem, aus einem bejchämenden: 
„Das weiß ich nicht“ ein entjchuldigendes: „Das wei man nicht“ zu machen. 
Aber: man wein es eben; Der nämlich, der jich drum befümmert und Etwas 
gelernt Hat. Und jo Fonnte mit Recht neulich ein Kritiker, der Chryfander 
al3 bloßen Murfifgelehrten bezeichnet umd ihm die fachfundigen praftifchen 
Muſiker gegenüber tellte, mit den prächtigen Worten abgefertigt werden: 
„Händel und der alten Mujif gegenüber hat man nicht zu unterfcheiden 
zwifchen Muſikgelehrten und Fachmuſikern, jondern zwiſchen gebildeten und 
ummwillenden Leuten.“ 

Zu den umwiffenden Leuten, die aber in allen Tingen, befonders aud) 
in der Kunft, mit bemeidenswerthem Freimuth Behauptungen aufjtellen und 
den apodiktifchen Kanzelton anjchlagen, gehören leider auch fehr viele Theo: 
logen. Nachdem e3 jegt ſelbſt bei einigen Univeriitätprofefioren Mode ge: 
worden ift, in einer unſachlichen Weiſe, die ſich die übrigen Falultäten ver: 
bitten würden, ohme jeden wiffenschaftlichen Ernſt Gegner abzuthun, fann 
man fich freilich nicht wundern, wenn die dem wiljenfchaftlichen Betriebe 
ferner ftehenden Geiftlichen im Amt ſich gemüßigt fühlen, von ihrer Bered— 
jamfeit auch bei Materien Gebrauch zu machen, über die ſie fein Urtheil 
haben. So hat jüngft in einer deutjchen Stadt, al3 ein wiſſenſchaftlich vor- 
wärts jtrebender Sritifer bei einer Händelaufführung darauf hinwies, daß 
man ftatt der benugten Einrichtung von Robert Franz doc die Chryfanders 
wählen möge, der dortige erfte Geiftliche in einer Flugfchrift eine Daritellung 
de3 Werthverhältnifies der beiden Einrichtungen gegeben, die von feinerlei 
Sachkenntniß getrübt war. Man muß gegen diefe Anmaßung theologiſcher 
Kreiſe, die von ihren geiftig durchgebildeten Fachgenoſſen felbit aufs Schärfite 
verurtheilt wird, einmal um fo energifcher Stellung nehmen, al3 bei dem 
großen Einfluß, den ſolche behördlich ſanktionirte Stimmen haben, viel Unheil 
aus der Verbreitung ihrer Anjchauungen entitehen fann. Was würden die 
Herren wohl jagen, wenn ich etwa über Ritfchls Theologie oder über Har— 
nacks Dogmengefchichte, ja, Telbit über einfachere Materien nicht etwa meine 


470 Die Zutunft. 


eigene Meinung haben, jondern jogar öffentlich gegen Fachgelehrte in einem 
Tone reden wollte, der jene Ignoranten befchren jolle? „Fa, Bauer, Das 
ift ganz was Andres!” Mein; aud zum fachliden Urtheil über die Händel: 
Frage gehört eine ganz umfaſſende allgemein muſilaliſche Borbildung und 
langes Spezialitudium; und es ift genau fo unverzeihlih, wenn hier ein 
Dilettanıt mit ſeiner Stammtifchweisheit öffentlich gegen die Männer von 
Fach auftreten will, wie wenn ein Yaie Pamphlete gegen die moderne Theologie 
von Stapel ließe. 

Es ift jelbitverjtändlich, dar auch die Flugichrift, die zu diefen An— 
merkungen Anlaß gegeben hat, den „Künſtler“ Franz gegen den „Hitorifer“ 
Chryſander ausfpielt und ſich fogar nicht ſcheut, Mozart, weil er Händel3 
Zeit näher gewejen ſei, als beiferen Ergänzer Händels hinzuftellen als Chry- 
fander. Als ob micht gerade hier der Grund allen Streites läge, weil die 
auferordentlihen Unterfchiede zwifchen der Muſikpraxis Händel und der, in 
die Mozart Hineingewachjen war, eben das Mißverſtehen der Intentionen 
Händels verfchuldet haben! ine gleich theologifche Beweisführung its, den 
gutgehakten Franz Lilzt plötzlich als Autorität zu citiren und fein Lob der 
Bearbeitungen Franzs gegen Chryjander auszunügen, der damals mit feinen 
Eirrichtungen noch gar nicht auf dem Plan erfchienen war. 

Welche Gründe führen nun eigentlich zu einer ſolchen Kampfesweiie ? 
In früherer Zeit mögen mancherlei Berlegerintereffen mitgeſpielt haben, per 
ſönliche Beziehungen, alte Liebe und ähnliches Menſchliche. Dazu ſchließlich 
der Haß gegen alles Neue, gegen alles Wiffenfchaftliche, gegen Alles, was 
feinen Schlendrian duldet. ES sind viele üble Elemente, mit denen zu 
fämpfen ift. Mögen die deutichen Sonzertinftitute, die auf ihre Würde 
halten, mag die deutsche Kritik, die beftrebt it, ſich allmählich zu der Höhe 
fachlicher, wifienichaftlih und künſtleriſch gleich durchgebildeter Gründlichkeit 
aufzufchtwingen, ſichs nicht verdrieren laffen, immer weiter zu fämpfen und 
einzutreten für eine der wichtigiten Errungenſchaften, die die deutfche Kunſt 
im legten \Jahrzent gemacht hat. Gegenüber der böswilligen Verdädhtigung 
aber, die auch in jener theologischen Flugichrijt fteht, dar wir reflamchafte 
Propaganda für Chrylander trieben, verdient fejtgeitellt zu werden, daß der 
alte Chryſander nicht mur unglaubliche Opfer an Zeit, Geld und Arbeit: 
kraft gebracht, Fondern ich auch jeder Verherrlichung ſtets entzogen hat und 
dak wir, die wir feine Schüler find, und dar alle feine Mitarbeiter, mit 
einem Manne wie Hermann Kretzſchmar an der Epige, nichts bezweden als 
eine möglichſt reine und ftarfe Wirkung des händelichen Univerſalgeiſtes auf 
unjere deutiche Kunſt. 


Leipzig. Dr. Georg Goehler. 


* 


Fermente und Altoboigährung. 471 


Sermente und Altoholgährung. 


SI‘ Lehre von den Fermenten ift eins der interefianteften Kapitel der 
allgemeinen Biologie. Der Schleier des Näthjelhaften, Geheimniß— 
vollen Liegt über diefen eigenartigen Stoffen, die, mit einer zauberhaften 
Kraft begabt, unter den ruhenden Molefularfompleren die größten Ver: 
wirrungen anrichten, die gewaltigiien chemifchen Umfegungen bewirken und 
ſich jelbit jcheinbar an dieſem Prozeß nicht. betheiligen. Es dünkt uns ein 
Wunder, wenn wir fehen, wie eine feite Schicht von Bluteiweiß (Fibrin) ſich 
binnen wenigen Stunden unter der Einwirkung eines fauren Ertraftes aus 
Magenſchleimhaut auflöſt und in feiner Natur energiich verändert; um fo 
wunderbarer, als jolche Eiweißkörper gegen chemische Eingriffe ſonſt ziemlich 
reſiſtent ſind. Diefes Ertraft enthält eins der fogenannten Fermente, das 
Pepſin; ein anderes finden wir in dem Speichel, ein ganz ähnliches in fet- 
menden Gerftenförnern, das Stärke fpaltet, und andere Fermente der ver— 
Ichiedenartigiteu Wirkung überall im Thier- und Pflanzenreich weit verbreitet. 

Die Gefchichte der Lehre von den Fermenten hat höchſt fonderbare 
Wandlungen durchgemacht. Das Wort fermentatio drüdte im Alterthum 
zunächſt nur die bildliche Vorjtellung von etwas Gährendem, Wallenden aus 
und wurde von den antiken Schriftftellern im Wefertlichen nur für die alfo- 
holifche Gährung und im weiterem Sinne auch für Fäulnißprozeſſe ange: 
wendet. ALS dann im Mittelalter die geiſtige Klarheit der Alten im einen 
Wuſt von myſtiſcher Schwärmeret und unklarer naturphilofophifcher Betrach— 
tung verſank, als Jatro-Chemifer und Alchemiften fich als einzige Vertreter 
der „Naturwiljenfchaft“ breit machten, da begann auch eine lächerliche Spielerei 
mit dem Wort Ferment. Nicht nur wurden alle Vorgänge, die mit Gas— 
entwidelung verlaufen, Fermentprozeffe genannt: fchlieplih wurden aud) 
allerlei miyftifche Dinge mit dem Wort Ferment bezeichnet. Nur fehr lang: 
ſam vermochte die neu beginnende wiſſenſchaftliche Erkenntniß ich durch diejen 
Wall von fpekulativem Unfinn Bahn zu breden. Man lernte allmählich 
erkennen, daß in der alfoholifchen Gährung, dem Prototyp der Ferment: 
prozefie, ein leicht fahbarer chemischer Vorgang, nämlich die Bildung von 
Alkohol und Kohlenfäure aus Zuder, zu fehen fei; und Stahl, einer der 
genialften Chemifer des achtzehnten Jahrhunderts, machte ich ſchon eine Vor: 
ftellung von den Weſen eines Fermentprozeſſes, die, wen auch, dem damaligen 
Stande der Kenntniſſe angemeffen, nur in ziemlich rohen Umriſſen präziſirt, 
doch unſeren modernen Anſchauungen in überrafchender Weife nah lommt. 
Stahl nahm an, daß durch die Fermente in dem zu verändernden Material 
Erfchittterungvorgänge eingeleitet würden, die durch ihre Fortleitung von 
Ihetlchen zu Theilchen die charakteriſtiſche Umſetzung bewirften. Die näd;jten 


472 Die Zukunft. 


achtzig Fahre brachten feinen wejentlichen Fortfchritt. Freilich wurden in 
diefer Zeit die chemischen Vorgänge bei der Alfoholgährung und einigen ver— 
wandten Erjcheinungen durch die klaſſiſchen Arbeiten von Laurent Lavoiſier, 
Gay:Luffac und Anderen mit den neu gewonnenen Methoden der exalten 
chemischen Meſſung in allen Einzelheiten aufgeklärt; doch lag gerade diefen 
Erperimentatoren das Feld der theoretifhen Spekulation fo fern, daß lie ſich 
um cine Theorie der Fermente faum Sorge machten. 

Ein plögliher Umfchwung trat gegen Ende der dreigiger Jahre ein. 
Waren bis dahin nur einzelne Fermentationen befannt: die Allohol-, Efiig-, 
Milhjäuregährung u. ſ. w., jo wurden jegt neue, überrafchende Entdedungen 
auf diefem Gebiet gemacht. In den bitteren Mandeln fand Robiquet einen 
Stoff, den er Amygdalin nennt, und ein darin enthaltenes „Ferment“, das 
diefes Amygdalin in eben jo charakteriftiicher Weife zu zerlegen im Stande 
ift wie das Hefeferment den Zuder. Unmittelbar darauf fand Schwann im 
Magenfaft, Corvifart in der Bauchipeicheldrüfe Fermente, die Eiweißkörper 
zerlegen, Leuchs im Mundfpeichel, Payen und Perfoz in Malzkörnern ein Stärke 
fpaltendes Ferment. Liebig jtellte zum eriten Mal feit Stahl eine Theorie der 
Fermentprozeſſe auf. Er acceptirte im Weſentlichen Stahls Anjicht und feste 
nur an die Stelle diefer etwas unklaren Vorftellung einen präziferen Begriff. 
Er nahın an, daß eine chemische Zerjegung des Fermentes, auf das Subftrat 
fortgeleitet, auch dort die Zerjegung bewirkt. Liebigs Theorie follte für. alle 
Fermentationen gelten; doc brachten zwei Umstände fie jehr bald zu Falle. 
Erjtens erwies jich Liebigs Vorausfegung einer chemiſchen Zerfegung des 
Fermentes ſelbſt als unhaltbar; die Fermente bleiben bei dieſen Umfegungen 
unverändert. Zweitens aber wurde durch die Entdedung von Schwann und 
Cagniard:Latour, daß die Hefepilze lebende Pflanzen find, Liebigs Theorie 
entwurzelt. Namentlih Paſteur und feine Schule haben diefe Anfhauung 
auf eine feſte Baſis geftellt und in unermübdlichem Kampf gegen die Schule 
Liebigs vertheidigt. Paſteur hält die Alkoholgährung und verwandte Erfcheinungen 
einfach für Lebensvorgänge der Hefepilze: Sauerjtoffmangel follte e8 fein, 
der die Pilze zwingt, den Zuder zu Alkohol und Kohlenfäure zu verarbeiten. 
Damit war eigentlic eine völlige Trennung zwifchen diefen „geformten Fer: 
menten“, den lebenden Pflanzen, und den nicht vitalen „unorganijirten“ Fer— 
menten gegeben. Bedauerlih it, daß durch Paſteurs Anfturm Liebigs 
Fermenttheorie auch für die ungeformten Fermente zu Fall gekommen ift; 
denn war auch ihre Grundlage falſch, jo hatte fie doch einen berechtigten 
Kern. Es handelt ſich unzweifelhaft bei den Yermentprogefjen um Aus: 
löfungen von latenter Energie; die Fermente wirken ausnahmelos jo, daß 
fie latente chemische Energie in Freiheit fegen, und meift fo, daß fie aus höheren 
Molefularfompleren niedere herjtellen. Niemals können jie Prozeffe bewirken, 


Ferniente und Alkoholgährung. 473 


bei denen Energie von außen her zugeführt werden muß. Die Wirkungen, 
die von Fermenten ausgelöſt werden können, werden im Weſentlichen Pro— 
zeſſe ſein, bei denen ſich Wärme entwidelt (exothermale Prozeſſe); dagegen 
werden ſie nur in ſeltenen, durch die theoretiſche Chemie genau beſtimmbaren 
Fällen endothermale Prozeſſe bewirken können, Prozeſſe, bei denen Wärme 
gebunden wird. Es wird ſich im Weſentlichen ſtets um Spaltung- oder Abbau— 
prozeſſe handeln, bei denen unter Umſtänden auch noch Einführung von 
Sauerſtoff, alſo oxydative Prozeſſe eine Rolle ſpielen können. Auf jeden 
Fall kann eine theoretiſche Betrachtung der Fermentprozeſſe nur vom ener— 
getiſchen Standpunkt aus geſchehen, vom Standpunkt der Beurtheilung und 
Meſſung von Energieumwandlungen, und inſofern iſt der Kern der Theorie 
Liebigs doch richtig. In neuſter Zeit iſt man auf der Bahn dieſer Erkennt— 
niß durch Oſtwald um ein beträchtliches Stück weiter gekommen. Oſtwald 
hat das große Berdienſt, dem alten Wort: „Katalyſe“ den ihm bis dahin 
fehlenden Begriff gegeben zu haben. Unter Katalyſe faßte man ſeit Berzelius 
eine Reihe von Prozeſſen zuſammen, bei denen die bloße Gegenwart eines 
dritten Stoffes zwei andere Stoffe zur Reaktion zwingt, ohne daß dieſes 
Wort irgend eine Erklärung einſchloß. Oſtwald hat uns gezeigt, daß Katalyſe 
weiter nichts iſt als die Beſchleunigung von chemiſchen Vorgängen, die auch 
ohne äußeren Anlaß, aber ungemein langſam verlaufen. Da man nun von 
Alters her die Fermentprozeffe zu den Satalyfen gezählt hatte, fo gilt diefe 
Erklärung aud für die Fermentprozefje mit. Diefe Erkenntniß reicht aber 
nicht aus, um den Fermentprozefjen ihre legten Räthjel zu nehmen. Schon 
ihrer Spezifität wegen können die Fermentprozefie ugter feinen Umftänden 
als rein fatalytijche bezeichnet werden. 

Die von Kühne Enzyme genannten ungeformten Fermente find ſchon 
an ſich höchit merkwürdige Körper. Sie jind im ganzen Thier- und Pflanzen: 
reich zu finden und treten als Produkte organifcher Zellen auf. Alle Fermente 
find thierifche oder pflanzliche Sefrete, Stoffe, die der Organismus produzirt, 
um ie phyliologijchen Zwecken nugbar zu machen. Man findet jie alfo in den 
Geweben und Körperſäften und kann jie daraus ſehr ſchwer, vielleicht gar nicht 
in reinem Zuftande gewinnen. Bis jegt wenigjtens ift diefes Problem noch 
nicht über die erften Anfänge hinaus. Zuerſt hielt man die Fermente für 
Eiweißkörper; mühfäliger Arbeiten hat e8 bedurft, um es wahrfcheinlich zu 
machen, daß jie Eiweihförper, wenigjtend im jtrengeren Sinn des Wortes, 
nicht find. Welcher Art aber ihre chemische Natur ift, darüber wiſſen wir jo gut 
wie nichts. Nur das Eine: e8 find Körper von auferordentlicher Empfind— 
lichkeit, Stoffe, die fchon bei geringfügigen phylitalifchen und chemiſchen Ein: 
flüflen ihre Natur jo verändern, daß fie wirfunglos werden. Und mit ihrer 
Wirkung verfchwindet jede Möglichkeit, fie zu erkennen und zu ifoliren. Luft 


474 Die Zutunft. 


und Licht, verſchiedene Gifte, ſchwache Säuren und Allalien, beſonders aber 
Erwärmen auf 80 Grad vernichtet ihre ſpezifiſche Wirkſamkeit in kurzer Zeit. 

Eins der hervorſtechendſten Phänomene der Fermentprozeſſe iſt die 
ſtrenge Spezifizität ihrer Wirkung. Wir kennen Eiweiß verdauende Fermente, 
das Pepſin des Magens und das Trypſin der Bauchipeicheldrüfen und ähn— 
liche des Pflanzenreiches; wir fennen eine Reihe von Enzymen, die Stärke 
und ähnliche Kohlehydrate angreifen und fchlieklih in Traubenzuder über: 
führen, jo die Diaftafe des Malzes, die Stärke löjenden Fermente thierifcher 
Säfte, die Invertaſe, die die Inverſion des Rohzuckers in Traubenzuder 
und Fruchtzuder bedingt, und andere. Wir kennen Fett fpaltende Enzyme 
und folche, die ganz beſtimmte Pflanzenftoffe, die fogenannten Glukoſide, im 
charakteriftifcher Weife fpalten. Und alle diefe einzelnen Enzyme jind aus: 
Ichlieglih auf das Subjtrat wirffam, dem fie angepaft find. 

Neben ihrem großen theoretifchen mtereffe find die Fermente aud 
deshalb von ungemeiner Wichtigkeit, weil fie eine gar nicht zu überjchägende 
biologische Bedeutung haben. ch erwähnte ſchon, daß die Fermente Selrete 
find, aljo Stoffe, die der Organisınus zu phyliologifhen Zweden erzeugt 
und in feine Säfte ausfcheidet. Die Bedeutung der Enzyme beruht darauf, 
daf fie hochmolefulare Nährftoffe, die der Organismus aufnimmt, vorbereitend 
verändern, fo dat fie zu nugbaren, aflimilirbaren Produften werden, Bei 
höheren Thieren beginnt diefe Thätigkeit Schon im Munde. Die eingeführte, 
an ſich unbrauchbare Stärfe wird dort bereit$ verzudert und diefer Prozeß 
jegte ji dann im Darm bis zur Vollendung fort. Die Eiweißkörper 
werden im Magen Md Darm energiic abgebaut; die Verdauung der Milch 
wird eingeleitet durch eine Gerinnung, die das im Magen vorhandene Lab— 
ferment bewirkt. Bei niederen Thieren find die Fermente natürlich nicht jo 
getrennt, fondern in Mifchungen vereint in den Störperfäften. Doch audı 
im Pflanzenreich finden wir Fermente. Zwar braucht die grüne Pflanze 
feine Fermente, da ſie ihren Nährftoffbedarf aus der Kohlenfäure, dem 
Waſſer der Luft und den anorganifhen Salzen des Bodens zu deden 
vermag; wohl aber brauchen die chlorophyllojen Pflanzen die Enzyme gerade 
fo gut zur Nugbarmahung ihrer Nährmedien wie die Thiere. So finden 
wir Enzyme aller Art in Pilzen, Algen und Bakterien; wir finden fie aber 
auch in dem feimenden Samen. Der junge pflanzliche Embryo ift in dem 
Samen reichlich mit Nährftoffen verfehen; er liegt eingebettet in eine beträcht- 
liche Menge von Stärke, Fett und Eiweißſtoffen. Aber fie alle kann er ſich 
zu feinem MWachsthum nur dann nutzbar machen, wenn er fie erft durch 
fermentative Prozeſſe vorzubereiten vermag. 

Gerade bei dem feimenden Samen ftoren wir auf eine fehr intereflante 
Thatſache, die fich bei gemauerer Beobachtung überall in der Organismen 





Fermente und Altoholgäbrung. 475 


welt fonjtatiren läßt; wir jehen nämlich, daß die Fermente als echte phyſio— 
logifche Sefrete nur dann in nennenswerther Menge produzirt werden, wenn 
jte gebraucht werden. So lange der Same ruht, enthält er feine Fermente; 
jobald aber das Wachsthum beginnt, treten Fermente aller Art auf. Dabei 
geht die Defonomie fo weit, daß fich im diefem Fall auch Fermente bilden, 
die felbit die Zellwände auflöfen und ihre Celluloſe durch Ueberführung iu 
Zuder nugbar machen. Ganz ähnlich finden wir, daß Schimmelpilze, jobald 
man fie auf reiner Zuckerlöſung züchtet, feine Fermente bilden, daß diefe 
dagegen fofort auftreten, wenn man die Pilze auf Stärke oder Eiweißlöfungen 
züchtet, oder au, wenn man ihnen jegliche Nahrung entzieht und fie auf 
deitillirtem Wafler wachen läßt. An deu letzten Fall jieht man fo recht, 
daß es der Hungerreiz ift, der zur Sekretion der Fermente führt. 
Fermentatio (von fervere, wallen, ſieden) nannten jchon die Römer 
den Gährungprozeß. Sie griffen alfo ein ganz äußerliches Moment heraus, 
nämlich die Gasentwidelung und die dadurch bedingte Unruhe in der gähren: 
den Flüſſigkeit. Was da eigentlich chemiſch vorging, davon hatten die Alten 
und auch das frühe Mittelalter feine Ahnung. Der Alkohol, deſſen wich- 
tigiter Beitandtheil durch einen Gährungprozer aus ftärfehaltigem Sanıen 
oder Wurzeln entjteht, wurde erit im neunten Jahrhundert dur den ara= 
bifchen Gelehrten Geber in annähernd reinem Zuftande dargeftellt. Aber 
aud nachher noch herrfchten über das Weſen der Gährung die Findlichiten 
Borftellungen. So glaubte man, in dem zu vergährenden Gemifch fei der 
Alkohol ſchon vorhanden; er mahe nur unter der geheimnifvollen Wirkung 
de8 Fermentes einen Läuterungprozeß durch und fei erft danach im reinerer 
Form nachzuweifen. Diefer Jrrtum wurde erjt durch Sylvius de la Bos 
und Lemery widerlegt, die fanden, daß der Alkohol erjt bei der Gährung 
entjtehe. Stahl und Becher fanden dann, dan Alkohol nur aus ſüßen 
Stoffen bei der Gährung fich bildet. Eine wirklich wiſſenſchaftliche Erfor— 
chung der alfoholifhen Gährung begann erſt mit Lavoiſier. Er wies nad), 
daß bei der alfoholifchen Gährung Zuder in Alkohol und Kohlenſäure zer- 
fält. Allerdings war feine Formel noch falfch; er glaubte außerdem, daß 
Effigfäure, die jich bei dem meiften Gährprozefien als unerwünfchtes Neben- 
produft bildet, ein normales Produkt der Gährung fei; als Erfter aber hat 
er den Verfuch einer eraften Formulirung der Zuderum wandlung in Alkohol 
und Kohlenſäure gemacht. Seine fehlerhafte Formel wurde etwa ein Dien- 
fchenalter -fpäter durch die Arbeiten von Gay-Luſſae, und Dumas forrigirt. 
Dumas wied auch die nebenfächliche Bedeutung der Eſſigſäurebildung nad). 
Zu der Zeit, wo Liebig feine Theorie der Fermentationen aufftellte, fiel 
auf das Problem der altoholifchen Gährung von ganz anderer Seite her 


36 


+76 Die Zukunft. 


ein helles Licht. Schon mehr al3 Hundert Fahre vorher hatte der berühmte 
bolländifche Naturforfcher Leeuwenhoek, der zuerft ſyſtematiſch mit dem Mi: 
froffop arbeitete, entdeckt, daß die Hefe aus runden, etwas abgeplatteten 
Kügelchen beteht, deren Natur er fich aber nicht erklären konnte. - Seine 
Unterfuchungen wurden wenig beachtet und noch gegen Ende des achtzehnten 
Fahrhunderts hielt man die Hefe für einen den pflanzlichen Eiweikförpern 
minbdeftens fehr nah ftehenden Stoff. Doch tauchte bald darauf die An— 
ficht auf, da man es hier mit winzigen Lebeweſen zu thun habe. Dieje 
Anfhauung konnte ſich nicht recht Bahn brechen, bi8 von Schwann und 
Cagniard:2atour 1837 der Beweis erbracht wurde, daß die Hefe thatjächlich 
aus mikroſkopiſch Heinen Pflängchen beſteht. Schwann konnte zeigen, daß 
Buderlöfungen abjolut nicht gähren, wenn man fie forgfältig von der Luft 
abjchliegt. Das hatte allerdings auch Gay-Luſſac beobachtet, der gerade dar— 
auf feine Theorie von der grundlegenden Bedeutung des Sauerftofjes für 
die alkoholifhe Gährung gegründet hat. Aber Schwann ging weiter. Er 
zeigte, dag man der Luft dabei fo viel Sauerjtoff zuleiten konnte, wie man 
wollte, wenn man nur die Luft vorher durch ein glühendes Rohr leitete und jo 
jeden Keim organifchen Lebens in ihr vernichtete. Dadurch war bewiefen, daß 
der Sauerftoff an fic für das Zuſtandekommen der Gährung belanglos iſt. 

Diefe vitaliftifche Fam nun mit Liebigs chemifcher Theorie der Hefegährung 
in Konflikt. Liebig verwahrte jich fehr energisch gegen diefen Zufammenhang von 
Pflanzenleben und Gährung. Doc) lief fich die Wahrheit der Befunde Schwanns 
nicht lange anzweifeln. Wieder war es Pafteur, der in einer Weihe von 
klaſſiſchen Arbeiten unwiderleglich nachwies, daß die Alkoholgährung und 
einige verwandte Erfcheinungen unzweifelhaft abhängig find von ber Anwe— 
fenheit lebender Keime. Er zeigte, dar überall in der Luft folche Keime 
zu finden find und daß e8 genügt, ein Gefäß mit einer gährfähigen Flüffig- 
keit offen ftehen zu laffen, um nach einigen Tagen die Gährung nachweisen 
zu fönnen. Er zeigte ferner, daß auf hohen Bergen, wo die Luft jehr arm 
an Keimen tft, die Gährung häufig ausbleibt; er bewies aber feine Anjicht 
vor Allem durch einen jehr jchlagenden Verſuch. Er erſetzte das glühende 
Rohr Schwanns einfach durch Feine Wattebäufche, duch die er die Luft 
hinducchftreichen Tief. Dann blieb das gährfähige Gemifch unverändert; ent: 
nahm er nun aber von diefem Wattebaufch Heine Partikelchen, fo löſten 
diefe die Gährung aus, Damit war feftgeftellt, daß es Förperliche lebende 
Keime fein müffen, die alfoholifche Gährung erzeugen. Daß folche Keime 
dabei vorhanden find, konnte nun auch Liebig nicht mehr leugnen, doch fchrieb 
er ihnen nach wie vor eine Bedeutung für dem Prozeh nicht zu. So tobte 
denn der Kampf noch faſt bis zum Tode Liebigs weiter, obgleich Liebig felbit 
in feiner legten großen Arbeit (1870) ſich nur noch ſchwach gegen die Keu— 


Fermente und Altoholgährung. 477 


Lenfchläge der Paftenr-Schule zu wehren vermag. Er hatte eine chemifch- 
energetifche Theorie aufgejtellt, deren Grundlage — die hemifche Zerfegung 
des Fermentes — falſch war. Paſteur verfocht zunächft wenigftens nicht 
eine Theorie, fondern einfach einen biologischen Zufammenhang zwifchen Gäh— 
rung umd Hefepilzen. Nun hatte allerdings auch Pajteur eine Theorie auf: 
geitellt, die jih bald als falfch erwies. Danach follte der Gährungprozeß 
eine Lebenserfcheinung der Hefe in dem Sinn fein, daß bei Abwefenheit von 
Sauerftoff der Hefepilz fich den veränderten Bedingungen anpaffen muß; er 
follte alfo eine vie sans air darjtellen. Diefe Theorie war falſch, denn die 
Hefe gährt auch, wenn Sauerftoff vorhanden iſt. Von der Theorie bleibt 
nur bie unzweifelhafte Thatfache des Zufammenhanges® von Gährung und 
Leben der Hefe übrig. Auf diefem Wege fam man nicht weiter. Das 
fühlten auch die eifrigjten Verfechter der Anfchauung Pafteurs fpäter jelbft. 
Die ftärkiten Köpfe gaben fich nicht zufrieden; befonder8 Traube, Berthelot 
und Hoppe-Seyler verfochten immer wieder nachdrüdlich die Anfchauung, daß 
mit dem Nachweis des biologijchen Zufammenhanges nichts zu erklären, fon: 
dern nöthig fei, auch in den lebenden Hefepilzen ein befonderes Ferment an— 
zunehmen, das in diefen Bellen, aber unabhängig vom Leben, feine fpezi- 
fiiche Wirkfamkeit entfaltet. Nur dadurch läßt jich die alfoholiiche Gährung 
im Zufammenhang mit den anderen Fermentationen erhalten und nur da= 
duch können wir zu einer einheitlichen Auffaffung diefer Prozeſſe gelangen. 
Dies Ferment nachzuweifen, gelang nicht; und fo blieb die Anjicht, die den 
richtigen Kern der Theorie Liebig zu vetten verfuchte, eine unbeweisbare 
Spekulation. Allmählich flahhte der Kampf ab; die chemifche Anfchanung 
ſchien volllommen bejiegt, die prinzipielle Trennung der „geformten Fermente“ 
von den ungeformten entichieden. 

Mit um fo größerer Wucht fchlug es darım in der wiſſenſchaftlichen 
Welt ein, al8 vor einigen Jahren Eduard Buchner das fo lange vermuthete, 
niemal3 gefundene Enzym der Hefe nachweifen konnte. 

Die Hefe bildet eine ganze Reihe von Fermenten. In ihren Waſſer— 
ertraften findet man allerdings nur in geringer Menge ein Stärke jpaltendes 
Ferment, die Hefendiaftafe; dagegen enthält ihr Zellleib noch andere Fer— 
mente, die er während des Lebens nicht abgiebt. Doc fonnte Emil Fifcher 
diefe Fermente dadurch nachweisbar machen, daß er die Hefezellen durch 
ſcharfes Trodnen und duch Toluol lähmte; und nun gab das geſchwächte 
Protoplasma der Zelle noch diefe anderen Fermente ab, nämlich die Inver— 
tafe, die Rohrzuder, und die Maltafe, die Malzzuder zu fpalten im Stande 
ift. Nach diefer Methode gelang es aber nicht, das Alkohol bildende Fer— 
ment der Hefe zu ifoliren. Doc war es eime geniale Konſequenz Ddiefer 
Idee, wenn Buchner dieje relativ wenig eingreifende Mafregelung des Pro: 


36° . 


478 Die Zufmft. 


toplasma8 durch eine viel gewaltigere erfegte, um das fupponirte Enzym zu 
gewinnen. Er zermalmte die Hefe mit Quarzjand, jchlug fie in ein Tuch 
und preßte fie bei 400 bis 500 Atmofphären Drud aus. Dadurd erhielt 
er einen zellfreien Preffaft, der num die Fähigkeit der Alkoholgährung auf: 
wies. Trog allen Einwänden jteht heute Buchners Entdedung felſenfeſt. Das 
Gerede, daß hier Protoplasmajfplitter und Aehnliches wirkſam fein jollten, 
iſt haltlos; denn Protoplasmafplitter, die durch ein Thonfilter gehen, die 
von Protoplasmagiften nicht in ihrer Wirkfamkeit tangirt werden, find unter 
allen Umftänden kein lebendes Protoplasma mehr, fondern höchitens noch jehr 
hoch molekulare, dem Protoplasma in der Struktur noch ähnliche Eimeir- 
fubltangen. Und Das ift prinzipiell gleichgiltig. Wir haben unzweifelhaft in 
Buchners Preßſaft das Enzym der Altoholgährung vor und. Und damit 
ift die alte Streitfrage im Sinn Traube und Hoppe-Seylers beantwortet. 
Die Altoholgährung ift nicht einfady ein Stoffwechjelvorgang der Hefepilze, 
fondern der Stoffwechjelvorgang hat nur die Bedeutung, daß er bei ihnen 
diefe8 Ferment produzirt: die Wirkung des Ferments ift unabhängig vom 
Leben zu denfen. Daher it auch die Alfoholgährung wieder in die Kate— 
gorie der Fermentprozeffe eingereiht und die von Liebig gefuchte Einheitlich- 
feit diefer Vorgänge hergeitellt. Noch haben wir Liebigs faliche Theorie 
nicht durch eine richtigere erfegt; aber wir willen, daß die neue Theorie der 
Fermente nur eine dynamifche fein kann und dar fie über biologische Zu— 
ſammenhänge nad) Art der Hefebetheiligung an der Gährung theoretiih hin— 
weggehen muß, um ein einheitliches Fundament zu gewinnen. 

Gay-Luſſac hatte, wie erwähnt, den Sauerftoff als Hauptfaltor für 
das Zuftandefommen der Gährung angejehen; im Gegenfag dazu fahte Paſteur 
die Gährung als eine vie sans air auf und behauptete, daß die Hefe nur durch 
den Mangel an Sanerftoff gezwungen würde, ihren Stoffwechſel jo zu ver— 
ändern, dar fie Alfohol und Kohlenfäure bildet. Diefe Frage it von 
Anhängern und Gegnern PBafteurs, befonder8 von Brefeld und Traube, be- 
arbeitet worden. Brefeld bejtätigte Paſteurs Befunde zwar, aber zog aus 
ihnen ganz emtgegengefeste Schlüffe. Er nahm an, daß die Hefe zwar 
wirflih bei Sauerftoffabichlun gährt, daß aber eben diefe Aenderung der 
vitalen Funftion eine Krankheit: und Abiterbeerfcheinung der Hefe jei, während 
junge und gefunde Hefe bei Sauerftoffanmwefenheit nicht gährt. Er fchrieb 
der Hefe ein auferordentlich großes Saunerftoffbedürfnig zu und meinte, daß 
bei gezwungenen Werzicht auf diefen Sauerſtoff die Hefe als krankhaftes 
Produkt Alfohol bildet. Diefer Anſchauung trat Traube fehr energijch ent: 
gegen; er zeigte, dar die Hefe zwar zu ihrer Vermehrung fehr viel Sauer: 
ftoff bracht, da dagegen erwachfene Hefeſtämme auch bei Abwefenheit von 
Sauerſtoff ihre vitale Kraft behalten. Heute ift auch diefe Frage ziemlich 
entfchieden. Wir willen, daß Hefe fowohl bei Anwefenheit wie bei Abwefen- 


TE u ar 0 7 ee zer . ** ———i— — En * 


Fermente und Alkoholgährung. 479 


heit von Sauerſtoff gährt, daß freilich ein Ueberſchuß von Sauerſtoff den 
Gährprozeß beeinträchtigt und daß in dieſem Fall ein relativ großer Prozent: 
fag de3 Zuckers direft von der Hefe verbraucht und zu Kohlenfäure und 
Waſſer verbrannt wird. 

Die ganze Gährfrage ift, vom biologifchen Standpunft aus betrachtet, 
ein ſehr intereſſantes Anpafjungphänomen. Außer den echten SHefepilzen 
haben nämlich aud einige Schimmelpilze die Fähigkeit, unter ganz beftimmten 
Umftänden eine geringfügige altoholifche Gährung hervorzubringen; nämlich, 
wenn man jie gewaltiam zum Leben ohne Sauerftoff zwingt. Dann können 
fie, allerdings nur eine bejchränfte Zeit lang, ohne Sauerftoff leben und 
gähren dabei; fobald man fie aber unter normale Bedingungen zurüdbringt, 
geben sie diefe Fähigkeit aud; wieder auf. Daraus fönnen wir jchließen, 
daß auch die Hefepilze urfprünglih an ein Leben in Sauerftoff gewöhnt 
waren; es giebt auch heute noch Raſſen von echten Hefepilzen, die abjolut 
feine alkoholifhe Gährung einleiten können, fondern ausfchlieflih aërob 
(eben und den Zuder verbrennen. Die echten Hefepilze find num feit Millionen 
von Generationen an dies anaörobe Leben affomodirt und vermögen auch, 
wenn man ihnen Sauerjtoff zuführt, ihre Gährfähigfeit nicht ganz abzu— 
legen: fie können den Zuder einfach verbrennen oder aber ihn vergähren. 

Damit kommen wir mun zu der legten wichtigen Frage: welche Be— 
deutung die Alkoholgährung für den Hefepilz hat. Die bei den anderen 
Fermenten in die Augen fpringende Bedeutung, die Auffchliefung nicht rejor- 
birbarer Nahrungftoffe duch Abbau, fällt hier fort; denn der Zuder ift ein 
viel werthvolleres, leicht affimilirbares Nährmedium als der Alkohol, der 
fogar ſchon bei geringer Konzentration als Gift auf die Hefezelle wirkt. 
Wir müflen hier alfo eine andere Erklärung fuchen; ich glaube, man kann 
fie in dem Umſtand finden, daß die Alkoholgährung bei Sauerſtoffabſchluß 
einen Erſatz für die verbrauchte Lebensenergie bietet. Im normalen Leben 
wird diefe Energie verschafft durch die Verbrennung im Sauerjtoff. Das 
iſt bei Sauerftoffmangel unmöglih und die Hefe müßte fchnell zu Grunde 
gehen, wenn jie nicht ihr Leben durch die Produktion dieſes Fermentes weiter 
friftete. Denn der Vorgang der altoholifchen Gährung ift ein folcher, bei 
dem Energie frei wird, umd diefe Energie fünnte e8 wohl jein, die der Hefe 
eine weitere Eriftenz ermöglicht. 

So kommen wir denn doch wieder zu einer der Paſteurs ähnlichen 
phyſiologiſchen Anſchauung; wir nehmen an, daß die Alfoholgährung für die 
Hefe ein Erſatz des normalen Lebens it, daR fie alfo die vie sans air er- 
möglicht, ohne aber die vie sans air zu fein. Man kann alfo den phyſio— 
logifchen Werth der Theorie Paſteurs vol anerkennen und doch jeine theoretischen 
Anfichten von einem Zufammenhang von Leben und Gährung zurüdweijen. 


Dr. Karl DOppenheimer. 
* 


480 | Die Zukunft. 


Selbitanzeigen. Br 


Eine für Viele. Aus dem Tagebuch eines Mädchens. Verlag von Hermann 
Seemann Nachfolger 1902. Bierte Auflage. 


Das Bud) iſt Fein anjpruchsvolles Kunſtwerk, das Bewunderung fordert. 
Es ijt feine joziologiihe Abhandlung, die ftatiftifche Daten, Syfteme und Pro- 
grammte durcheinander würfelt. Es ijt aber auch feine lüſterne Darjtellung 
ſeeliſcher Nadtheit, die Lockungen ausftreut. Nein. Nichts weiter als ein Bekenntniß 
ftürmifcher Ehrlichkeit, das fi, zu einem verzweifelten Nothichrei verdichtet, in 
die TCeffentlichkeit gedrängt hat und nun demüthig um einen Schimmer des Mit- 
empfindens, um einige Nugenblide verjtehender Ergriffenheit bettelt. Das fleine 
Bud will nichts Großes, Gewaltiges, Welterfchütterndes. Es ift eine piucho- 
logiſche Studie. Sonft nidts. Der Inhalt it einfach, ſchmucklos und all 
täglid. Er jcildert den Kampf in der Seele eines Mädchens, den uralten 
Kampf zwilchen der reinen Leidenschaft und dem erdrüdenden Bewußtſein, daß 
der Mann ihrer Wahl fi} in dem vorehelichen Gejchlechtsleben — dem die jugend 
der Großſtädte rettunglos verfallen iſt — durd) gekaufte Liebe und jeelenloje 
Genüſſe entwerthet hat. Sie fühlt, daß in diejer Liebeleeren Hingabe eine Ent» 
weihung liegt. An diefer Ganzheitforderung geht fie zu Grunde. Sie verſucht 
nicht, in geiltiger Siiyphusarbeit das große Menfchheitproblem zu löfen. Und 
troßdem jie in ihrem optimiftiichen Taumel an die Verwirklichung ihres Keuſch— 
heitideales glaubt, felfenfeit glaubt, weiß fie doch, daß zu diefem Ziel fittlicher 
Größe ein Weg führt, der von einem dichten Geſtrüpp jozialer Hemmniſſe und 
ökonomischer Schwierigkeiten überwuchert ift. Aber fie klagt die Gejellichaft- 
ordnung an, die die Unfittlichkeit nicht nur duldet, ſondern unterftügt. Die 
klagt die Erziehung ar, die die jungen Menjchenfeelen zu Krüppeln ſchlägt. 
Und fie wendet ſich auch heimlich gegen die jcheinheilige Heuchlermaske der Bhi- 
lifter, die- mit der zur Schau getragenen Tugendhaftigfeit ihre moralifche Fäulniß 
übertünden. Es ijt freilich eine große Kühnheit von einem jungen Mädchen, 
ein jo „ſündhaftes“ Buch zu jchreiben, — um jo mehr, als ja heutzutage Mäddhen- 
bücher nur in jeltenen Fällen nad) ihrem wahren Werth oder Unwerth beur- 
theilt werden, jondern meift nad dem Wuſt von Gejellichaftstratih, der das 
Bild der Werfafferin umrahmt. Vera. 


v 


Der Fall Rothe. Eine Friminalpfychologifche Unterfuhung. Mit Bildern. 
1901. Berlag von Schottländer. 2,50 Mark. 

Das Bud) ift gerade vor einem Jahr erſchienen. Durch die Verhaftung 
des Blumenmediums Rothe ift es erſt jet „aktuell“ geworden, ein Beweis, wie 
jehr der Erfolg eines Buches von der Gunſt des Inhalts abhängt. Es verfolgte 
einen doppelten Zweck; erjtens den, einen Frechen Schwindel aufzudecken, dem 
HBehntaufende zum Tpfer gefallen find und der geeignet ift, uns in den Augen 
des Auslandes wieder einmal gründlich lächerlich zu machen. Es forderte daher 
das Einichreiten der Staatsgewalt. Diefer Zweck ift erreicht. Bemerfenswerth 


Bu ae I Fe ur > ee iur - — m —— — — — — ». -.. — 4 


Selbſtanzeigen. 481 


bleibt allerdings, daß ein volles Jahr verſtreichen mußte, bis es dahin kam. 
Zweitens wird der Fall Rothe in feiner Stellung als Symptom gewijjer kultu— 
rellen Zuftände unterfudht. Cine Kritif des vulgären Spiritismus und jeiner 
Beweismethodif mußte vorangehen, die Piychologie der Zeugenausjage an Bei- 
ipielen erörtert werden. Die Eulturgejhichtlihen Bedingungen des Spiritismus, 
die friminalpfycologiiche Seite des Mediumismus werden analyjirt. Mein 
Buch foll alfo querdurch gehen durch den jpiritiftifchen und antifpiritiftiichen 
Unfug und zur wiſſenſchaftlichen Erkenntniß führen. 


Breslau. Dr. Erid Bohn. 
* 


Die Lage der weiblichen Dienſtboten in Berlin. Alademiſcher Verlag 
für ſoziale Wiſſenſchaften Dr. John Edelheim. Berlin 1902. 


Es war im Hochſommer 1890, als zum erſten Male in großen öffent— 
lichen Verſammlungen die Zuſtände, unter denen die berliner Hausangeſtellten 
lebten, blitzartig beleuchtet wurden. Dieſe Berſammlungen veranlaßten mid), 
die materiellen Lebensverhältniſſe dieſes Berufsſtandes zu ſtudiren. Das geſchah, 
von der Einſichtnahme in die wenig belangreiche Literatur abgeſehen, auf dem 
einzig möglichen Weg der Enquete. Ich habe deren Reſultate nad) zweijähriger 
Arbeit in meinem Buche niedergelegt. ES behandelt das Problem der Dienft: 
botenfrage als einen Theil der Arbeiterfrage, und zwar unter jozialpolitijchen 
Sefichtspuntten. Das infofern, als ich für eine Dienſtbotenſchutzgeſetzbung und 
für eine Bejeitigung der auf dem Prinzip der Rectsungleichheit aufgebauten 
Sefindeordnungen eintrete. Nun ift es heute mit jozialpolitiichen Arbeiten eine 
eigene Sache. Man dient und nüßt ohne Zweifel dem Stlafjenfortichritt einer 
großen Zahl von Arbeitern damit und in diejem Falle jolchen, die bis auf die 
neufte ‚Zeit niemals ihre Stimme erhoben, fondern ftumm die Geſchicke ertrugen, 
die das Dienftverhältnig über fie verhängte, Solden Arbeitern fonnten die 
herrſchenden Schichten Alles bieten, jogar Prügel. Sie konnten unter ein Aus— 
nahmegeſetz gejtellt werden, weil fie jelbjt ohmmädhtig waren. Sie mußtendes 
fich einfach ohne Proteft gefallen laffen. Wer es nun wagt, dieſen Stummen 
eine Sprache zu leihen, Der hat für ſich jelbjt davon am Wenigjten. Gr wird 
vielmehr angefeindet und angehaßt oder totgejchwiegen. „jedem, der die berliner 
rauen und Prefzuftände kennt, jage ich nichts Neues. Die Frauen haben ſich 
zu meinem Bud, öffentlid noch nicht geäußert, wenigftens Die nicht, auf deren 
Urteil id Etwas gebe. Kur eine Stimme hat es in einer hamburger Zeitung 
als „beinahe gemeingefährlid‘‘ bezeichnet. Die politiiche Tagespreſſe hat die 
Normen ihrer Beurtheilung dem Programm der Bartei entnommen, deren Intereſſen 
jie vertritt. Die Deutjche Tageszeitung hat jogar die Preſſe gewarnt, mein Bud) 
zu beſprechen. Cine Warnung, die von diefer Eeite kommt, dürfte für manche 
Leſer der „Zukunft“ eine Empfehlung fein. Aber faft wie Ironie Elingt cs, 
daß gerade die Zeitungen, die meine Enquete befümpften und das Sammeln 
des Materials auf jede Weije zu erjchweren ſuchten, jet den Vorwurf erheben, 
da die jtatiitiiche Bajıs zu jchmal jei. Nun ift zunächſt befannt, daß Bicle 
eine Enguete nicht von einer Statiſtik unterfcheiden können. Dem Vorwurf 


482 Die Zukunft. 


gegenüber aber möchte ich auf eine Bemerkung hinweiſen, die eine volfswirth- 
ichaftlich jo gebildete „jrau wie Wally Bepler in einer Kritik madt. Sie jagt: 
„Das Buch wird nun vielfach dadurch zu entiwerthen gejucht, daß man bie Zahl 
der Antworten für viel zu gering erklärt, um daraus allgemeine Schlüffe ziehen 
zu können. Aber der Werth und das Intereſſe der Enquete wie des Werkes 
felbjt beruhen gar nicht eigentlich oder doc nicht allein auf der Fyeititellung ganz 
beitiimmter Thatſachen, die ſich etwa Überall annähernd glei blieben und jo 
bejtimmte Durchſchnittswerthe für Arbeitzeit, Lohn, Beköftigung u. j. w. ergeben 
fönnten. Die Lage der häuslichen Angeitellten weit, der ganzen Natur diejes 
Urbeitverhältniffes entiprechend, in den einzelnen ‚Fällen nad) jeder Richtung hin jo 
graſſe Unterichiede auf, daß eine Darjtellung der Arbeitbedingungen auch auf breiterer 
Baſis doch niemals ein eigentlihes Durchſchnittsbild entrollen könnte, ganz einfach, 
weil ein ſolches Durchfchnittsbild aud in Wirklichkeit gar nicht exiftirt. Biel- 
uchr handelt es jid) darum, an einer großen Zahl typiicher Beijpiele aus allen 
Sphären de& Dienftbotenlebens das Dajein diefer noch völlig verjflanten Ar— 
beiterinnen mit allen feinen charafterijtiichen Zügen und Schattenfeiten vor uns 
zu entrollen; daneben allerdings aud) durch zahlenmäßige Feſtſtellung die Grenzen 
zu. bezeichnen, zwiſchen denen Lohn, Arbeitzeit, Beköftigungwerth u. |. w. ſchwanken. 
Dieje Aufgabe erfüllt Stillih3 Buch in vollften Maße: es bietet mehr als ge— 
nügendes Material.“ Ein Fortſchritt in der Erkenntniß der Materie befteht 
jedenfalls darin, dal; in meiner Arbeit nicht mehr die individuell beſchränkten 
Erfahrungen des Einzelnen an der Spike jtehen, jondern eine Summe von 
Erfahrungen aus beiden Ünterefjentenfreifen. Die alte Methode in der Be- 
handlung der Dienjtbotenfrage war rein individuel. Man fannte zehn, zwanzig 
oder auch dreißig Dienjtboten und Eonjtruirte ſich daraus ein Urtheil über deren 
Beichaffenheit. Will man ein klaſſiſches Beiſpiel für diefe Art der Behandlung 
baben, jo höre man einmal den Damen am Kaffeetiſch zu oder lefe die Frauen— 
zeitichriften zweiten und dritten Nanges oder die Anfichten, die der neufte Ver— 
fechter des Geſchwätzes der typiſchen Durchichnittsfvau hat, ih meine Hirſchberg 
in dem die Dienftboten behandelnden Kapitel feines Buches über die Tage der 
arbeitenden Klaſſen in Berlin. Es wird jchwer halten, etwas Unzureichenderes 
— von Yogif gar nicht zu reden in einem Buch zu finden, das fich ſelbſt 
für wiſſenſchaäftlich ausgiebt. Die Eutturgefchichtliche Seite meiner Darlegungen 
aber erblicke ich darin, dad fie die Träumereien zeritören, die bi3 heute auf „dem 
jendalen Felſen des Vorurtheiles“ ruhten. Mein Buch macht ein Ende mit der 
Vorſtellung, daß im häuslichen Dienft fein Elend eriftire, daß es den Dienenden 
ganz aut ache, beifer als den Fabrik- und anderen Arbeiterinnen, daß das 
patrtardaliiche Zeitalter umfponnen geweſen fei von den Silberfäden menjchlich 
ſchöner Beziehungen zwiichen Derrichaften und Dienjtboten, daß das bürgerliche 
Dans dem Dienſtmädchen einen beionderen Schutz ihrer höchſten perjönlichen 
(Hüter, ihrer Arbeittraft, ihrer Mädchenehre, ihrer Sittlichkeit biete, daß der Preis 
der häuslichen Arbeit ein bejonders hober ſei. Solche Legenden zu zerftören, 
achört zu den Anfgaben meines, Buches; und wer noch heute an ihnen feithätt, 
Der möge e8 lejen, und dann urtheilen. Dr. Osfar Stillid. 


4 


Borfe und Preife. 483 
Börfe und Preſſe. 


SR" neunten uni hat das Ghrengericht der berliner Börje im zweiter 
Inſtanz den Verweis beftätigt, der mir vor ein paar Wochen von der 
eriten Inſtanz ertheilt worden war. Ich fol nämlich über die Dresdener Bank 
unmwahre Thatjachen behauptet haben, die geeignet gewejen jeien, den Kredit diefer 
Bank zu jchädigen. In beiden Inſtanzen wurde nicht daran gezweifelt, daß 
mir eine ehrloje Dandlung nicht vorgeworfen werden fönne. Beide Inſtanzen aber 
erklärten fich fir zuftändig und gaben mit meiner Berurtheilung der Dresdener 
Bank eine Genugthuung. Der Ausgangspunkt des Verfahrens war eine Notiz, 
die ih in dem von mir redigirten Handelstheil der Berliner Morgenpoft im 
Januar diejes Jahres veröffentlichte. Da war behauptet, zur Zeit des ſächſiſchen 
Bankkraches jei die Dresdener Bank mit außergewöhnlichen Krediten unter 
erihwerenden Bedingungen von der Reichsbank und der Sächſiſchen Bant 
unterjtügt worden. Das ijt angeblich unmwahr; angeblich, ſage ich, denn zu 
meinem Bedauern ift mir der Wahrheitbeweis nicht geftattet worden. Wenigftens 
wurde mein Antrag abgelehnt, den Direktor der Sächſiſchen Bank unter feinem 
Eid zu vernehmen. Dieſer Beſchluß wurde in zweiter Inſtanz mit der Feſt— 
jtellung begründet: die Unwahrheit der von mir behaupteten Thatjache ſei durch 
ichriftliche Erklärungen enwiejen, die Neichsbant und Sächſiſche Bank zu den 
Alten eingereicht hätten. Nun will ich nicht etwa behaupten, daß die beeidete 
Ausjage der Bankdireftoren anders gelautet hätte als die mit ihrem Namen 
gezeichneten Erklärungen der Banken. Yag aber eine beichworene Ausjage — iu 
weldhem Sinn aud immer — vor, dann war mir die Zunge gelöjt; ich wäre 
von der Pflicht, das Nedaktiongeheimniß zu wahren, entbunden gewejen und 
hätte dem Ehrengericht den Sachverhalt genau jchildern können. Dann aber wäre 
ich ficher freigeiprochen worden. Ich werde mid; trogdem nun bemühen, die Wahr» 
heit an den Tag zu bringen; und cs wird jich zeigen, daß id) entweder von 
einem Berufsgenoffen mit einer im journaliftifchen Betrieb jeltenen Dreiftigkeit 
getäujcht oder zum Opfer eines geſchäftlichen Halunfenftreiches gemacht worden bin, 
den ſelbſt meine Skepſis nicht jofort durchichauen fonnte. Porläufig kann ich den 
Thatbejtand nicht bis ins Einzelne aufflären; nur einen Irrthum möchte ich 
bejeitigen, der auch in große Zeitungen Eingang gefunden bat. Ich ſoll fahr: 
läjlig aehandelt haben, weil ich eine mir von einem Anderen überbradjte Nachricht 
ohne Weiteres als glaubwürdig hinnahm. Die Sade liegt aber anders. Ich 
hatte einen Berichteritatter, dem der Verlag der von mir redigirten Zeitung 
Honorar und hohe Spejen bezahlte, mit dem Auftrag nad) Dresden gejchidt, die 
Wahrheit über mir zu Chren gekommene Gerüchte fejtzuftellen. In einem 
langen Brief theilte mir diefer Herr den Wortlaut eines Interviews mit, das 
er mit einer in diefer Sache als Autorität geltenden Perſönlichkeit gehabt hatte. 
Ich hatte jchon vorher Gründe gehabt, die Gerüchte über die Dresdener Banf 
für wahr zu halten; erit nad) dem Empfang diejes Briefes aber und nad) ge- 
willen Andeutungen, die der Reichsbankpräſident in einer Sitzung des Central— 
ausſchuſſes machte, veröffentlichte ich die inkriminirte Notiz. 

Auch mit dem geltenden Recht jcheint das Urtheil mir unvereinbar; 
wichtiger aber als die perjönliche dünkt mich die grumdjäßliche Bedeutung der 


484 Die Zukunft, 


Sade. Das Verhältnii zwiichen Börſe und Preſſe ift in den Berbandlungen 
jo grell beleuchtet worden, daß ein Wort darüber nöthig iſt. 

Jeder, der ſich in den Geift hineindenkt, aus dem das Börjengejeg hervor: 
ging, muß die Thatjache ungeheuerlich finden, da ein Baragraph dieſes Geſetzes 
benußt wird, um der Preſſe die freie Börſenkritik zu beſchränken und dad der Inhaber 
eines hohen Reichsamtes dieje Beſchränkung als Richter verlünden kann. Die deut⸗ 
ichen Börjen waren nie in dem Maß wie etwa die englifchen rein private Veran- 
jtaltungen; fie waren eigentlich immer öffentliche Märkte. Doch will ich zugeben, 
daß die öffentlich-rechtliche Stellung unſerer Börfe früher nicht ſcharf genug ab- 
gegrenzt war. Durd) das Börjengejeß aber ift fie zu einer Einrichtung geworden, 
an der nicht nur eine Clique ein Intereſſe hat, jondern die Öffentlich funktioniren ſoll. 
Auch hier, wie bei allen öffentlichen Tinftitutionen, muß aljo das Recht der 
Kritik unbejchränkt jein. Nun hat freilich der Staatsfommijjar, dem die Kon— 
ſequenzen des erſten Urtheiles wohl auch Bedenken erregten, gegen meine Ver— 
theidigung eingewandt, es handle ſich nicht um eine Bejchränfung der Kritik; 
mein Berjchulden fei darin zu jehen, daß ich unrichtige Thatſachen verbreitet 
und — Das falle bejonders ſchwer ins Gewicht — trog dem Dementi der 
Dresdener Bank aufrecht erhalten habe. Auch die Richter erſter Inſtanz ſchienen 
mein Kapitalverbrechen in der Nachichrift zur Berichtigung der Dresdener Banf 
zu finden. Nicht die Verbreitung der angeblich falichen Thatjadhe aljo, jondern 
die an die Berichtigung gefnüpfte Kritik hat mich ftrafbar gemadt. Es war 
aber mein autes Recht, der Beridtigung zu mißtrauen. Im Urtheil wird ge- 
jagt: „Daß der Beichuldigte glaubte, diefer Bank Unaufrichtigfeit in anderen 
Dingen vorwerfen zu dürfen, berechtigte ihn noch nicht, die Behauptung ihrer 
Berichtigung von vorn herein als unmwahr, dagegen die des Storrejpondenten als 
wahr anzuerkennen.“ Das ift nicht viel mehr als eine Hedensart. Ich Habe 
in meiner Berufungichrift genau begründet, weshalb ich alle Kundgebungen der 
Dresdener Bank als unwahr zu betrachten pflege, bis mir der Gegenbeweis er- 
bracht ift. Ich habe fejtgeitellt, daß ich mehr als einmal in der Preſſe mit 
vollem Namen der Dresdener Bank Bilanzverfcleierungen vorgeworfen habe, 
ohne daß fie auf die ſcharf prägifirten Vorwürfe jemals geantwortet hat; gegen 
ein Eeines Berjchen aber wurde der Dementirapparat in Bewegung gelegt. 
Auch habe ich auf die jeltiame Art hingewiejen, wie die Dresdener Bank in 
Zaden der Hannoverſchen Straßenbahn zu beriditigen pflegte. Gegen Ver— 
dächtigungen, die meinen Kritiken unfachliche Motive zujchreiben möchten, brauche 
ich mich nicht zu vertheidigen. Seit meinem Eintritt in die Journaliſtik habe 
ich die Bilanzen der Dresdener Bank jtets jcharf kritifirt; ich jagte bei der vor- 
legten Bilanz voraus, eine Krifis werde die Bank ungerüftet finden. Da alfo 
die Meldung des nad) Dresden geſchickten Berichterftatter8 meinen längjt ge 
hegten Berdadıt nur beitätigte, war ich zur Wiedergabe der angeblich falſchen 
Ihatjachen berechtigt; un dbei meiner Anficht von der Glaubwürdigkeit der Dres 
dener Bank konnte mir, wenn ich ihrer Berichtigung mißtraute, der „gute 
Glaube“ nicht abgeſprochen werden. 

Weniger als der Staatstommilfar waren die mid) richtenden Börjen: 
herren — unter ihnen war aud) der liberale Reichstagsabgeordnete Frefe — um 
die ‚freiheit der Aritif bejorat. Sie meinten, ein Journaliſt, der an der Börſe 


—— ii 0. ur ft m — — e — — B 
— er; 6 N * —— FR“ — — 


Borſe umd” Preſſe. 485 


verkehre, müſſe ſich hüten, ein an der Börſe vertretenes Inſtitut zu verun— 
glimpfen. Das kann doch nur heißen: Es iſt gleichgiltig, ob ſolche „Verun— 
glimpfung“ durch die Behauptung wahrer oder falſcher Thatſachen oder über— 
haupt durch ſcharfe Kritik bewirkt wird. Der Journaliſt hat eben Alles zu 
meiden, was den Börſenleuten unbequem ſein könnte; ſonſt wird er hinaus— 
geworfen. Wo iſt da die Grenze zu ziehen? Man ſtelle ſich vor, die Leipziger 
Bank oder die Herren Sanden, Schulz und Romeick hätten einige Wochen vor 
ihrem Zuſammenbruch einen Strafantrag gegen mich geſtellt: das Börſenehren— 
gericht hätte mich verurtheilt, denn ich habe mich ja nicht gehütet, ein an der 
Börje vertretenes Anftitut zu verunglimpfen. Zwei, drei Wocden nad dem 
Urtheilsiprud; wären dann die Zufammenbrüde gefommen. Die Frankfurter 
Beitung rühmt ſich mit Necht ihres Vorgehens gegen die Preußiſche Hypotheken— 
bank; Jahre lang aber haben ihre Angriffe diefem Inſtitut nicht das Anſehen 
zu rauben vermodt. Herr Sanden hatte nur nicht den Muth, der zur Un— 
redlichfeit gehört; jonjt hätte er die Frankfurter Zeitung angeklagt und vor dem 
Ehrengeriht wahriheinlid die Werurtheilung durchgefeßt. Die moralifchen 
Werthurtheile der Börjenleute richten fich ‚eben nad) dem Erfolg. Als id) die 
Treppe zum Börſenehrengericht binaufjtieg, Elopfte mid ein guter Freund auf 
die Schulter und prophezeite: „Du befommjt Unrecht, denn die Aktien der 
Dresdener Bank find inzwijchen um zwanzig Prozent gejtiegen.“ 

Mein Glaube, das Urtheil werde überall, aud) da, wo man meine An— 
fihten nicht billigt, getadelt werden, hat fich als Irrthum erwiejen. Die Preffe 
blieb recht jtill. Am Berliner Tageblatt und, wenn auch mit für mich wenig 
jchmeichelhaften Worten, in der Frankfurter Zeitung wurde gegen den Sprud) 
proteftirt. Einzelne jozialdemofratiiche Blätter — leider nicht der „Borwärts" — 
haben auf die prinzipielle Bedeutung der Sade hingewiefen. Sonft: tiefes 
Schweigen im Blätterwald; jelbjt in der Gentrumsprefje, die dod) Grund hätte, 
den Standpuntt meiner Richter zu bekämpfen. Vielleicht halten die meijten 
Nedakteure die Urtheilsbegründung für jo verfehlt, daß fie eine Wiederholung 
jolden Spruches nicht fürdten. Ich bin anderer Meinung. Der Weg ift jeßt 
frei und die Inſtitute, die fich in ihren geſchäftlichen Manipulationen geftört 
fehen, werden gegen unbequeme Sritifer fünftig öfter als bisher das Ehren» 
gericht anrufen. Die Leiter der Dresdener Bank haben ja offen gejagt, fie 
fönnten mich vor dem Strafrichter nicht fallen und möchten deshalb ein Forum 
baben, vor dem die Grundlofigfeit meiner Angriffe nachzuweiſen wäre. Das 
Ehrengericht ift allerdings das dazu geeignetite Forum. Ein journaliſtiſch Sad): 
verftändiger war nicht herangezogen; und wenn Kaufleute über Yeitungjchreiber, 
die Kritifirten über den Kritiker zu Gericht ſitzen, kann man fi das Urtheil 
vorausdenfen. Ein aus Journaliſten zulammengejeßtes Ehrengericht hätte mid) 
freigefprochen. Der Verweis, den ich für unberechtigt halte, ift mir gleichgiltig 
und ich hätte über den Prozeß gar nichts mehr gejagt, wenn mir nicht darum 
zu thun wäre, zu zeigen, mit welden Mitteln man der Preſſe das Net zur 
Börjenfritif weit über die vom Strajgejeß gezogene Grenze hinaus zu ſchmälern 
verſucht. Solcher Verſuch ift auf diefem Gebiet für das große Publikum doppelt 
gefährlih. Denn die allermeilten Tournalijten, die fih mit Börjenvorgängen 
befchäftigen, beten in tiefer E&rfurdht die Haute Finance an und die Wafchzettel 


486 Die Zukunft. 


der Banken jorgen dafür, da die Börjenberihte nad dem Wunſch der Mächtigen 
gefärbt werden. Das Ghrengeriht hat ausdrüdlid erflärt: Die Kournaliften 
find Gäſte der Börje, die ſich vor der Verlegung des Gajtrechtes zu hüten haben. 
Das Schlimmite an diefer Auffaffung ift, daß jie berechtigt jcheinen kann, zwar 
nicht nad) dem Börfengejeß, aber nad) der vom Reichstanzler genehmigten berliner 
Böeſenordnung, deren fünfzehnter Baragraph jagt: „Die Börfeneinlaßfarte darf 
nad dem Ermeſſen des Börjenvorjtandes ertheilt umd wieder entzogen werden: 
€. Berichterjtattern der Preſſe.“ Danach müßte ich mich eigentlich noch dafür 
bedanken, da man Etwas wie ein Gerichtsverfahren eingeleitet und mich nicht 
einfach, als einen gemeingefährlihen Störenfried, aus den Deiligen Ballen ge— 
wiejen hat. Soll aber eine Ordnung, die Solches geftattet, zum Schaden des 
Publikums auc ferner noch unangetajtet bleiben ? Georg Bernhard, 


rn | 
Notizbuch. 


ie Mona lang werden die Deutjchen nun ohne das weile Walten des Reichs— 
tages ausfommen müſſen. Zu ihrer Beluftigung bleibt nur die Zolltarif- 
kommiſſion in der Dauptitadt zurüd, das Häuflein der gut bezahlten Männer, die 
noch immer einen überflüjigen Mangel an Wig entblößen, um einen Tarif umzu— 
geitalten, der niemals Gejeß werden joll. Bor der Vertagung fam es zu einem Ge- 
plänkel zwifchen dem Neichsfanzler und dem Abgeordneten Fürſten Bismard. Die 
Brüffeler Zuderfonvention, die von den meiften deutfchen Landwirthen für unheilvoll 
gehalten wird, wurde in dritter Yejung berathen und Fürſt Bismard hatte einen 
Antrag unterjchrieben, der die Geltungdauer des durd) die Konvention gejchaffenen 
Zuftandes von der Zuſtimmung des Neichstages abhängig machen wollte. Einen 
Antrag alio, der gerade den Demofraten, den Anwälten verjtärfter Barlamentsmacht 
gefallen müßte. Der freifinnige Abgeordnete Barth) aber, der fich in der Zeit der Erd— 
ballinpolitif jadht ministrable werden fühlt und gern zeigen möchte, daß aud) er und 
ſeineFreunde zu „pofitiver Arbeit“ zu brauchen find, höhnte denKollegen Bismarck, weil 
ercinen Antrag unterjchrichen habe, den fein Bater ficher verworfen hätte. Der Ange: 
griffene eriderterubia,erfönneperen Barth, der den erſten Kanzler ſtets befehdet habe, 
nicht als legitimirten Dolmetich bismardiicher Gedanfen anertennen; dem Antrag 
habe er zugeftinmt, weil dietonvention ihm „ein Sprung ins Dunfel“ ſcheine; und 
wer den Namen feines Vaters hier nenne, dürfe nicht vergeffen, daß andere Zeiten 
waren, als Otto Bisinard die deutichen Intereſſen vertrat. Darob erbleihte am 
Bundesrathstiſch Graf Bernhard von Bülow. Andere Zeiten? Eben erft hatte 
er dod) ins Yand gerufen, von allen Großmächten fei nur Deutſchland in neidens- 
werth glüdlicher Yage. Vielleicht war ihm, der nicht mehr allzu feft jigt, die 
Gelegenheit willkanmen, mit dem mißliebigen Abgeordneten für Jerichow die 
Klinge zu kreuzen. Er habe, ſprach er und wie mühſam unterdrücktes Schluch— 
zen klang es durch ſeine Rede, er habe die Vorlage nicht zur Durchpeitſchung 
empfohlen, ſondern dem Reichstag Zeit gelaſſen, ihm ein ungeheures Material 


Notizbuch. 487 


zugänglich gemacht, und wer jetzt noch von einem Sprung ins Dunkel ſprechen 
wolle... „An Dem“, ſchrie von links her die Kanzlergarde, „iſt Hopfen und Malz 
verloren.“ Fürſt Bismard aber antwortete fühl, das „ungeheure Mtaterial“ 
liege dem Reichstag noch nicht lange genug vor, um ein jo ficheres Urtheil zu er- 
möglichen, wie der ſehr jachverftändige Herr Reichskanzler (‚Heiterkeit rechts’‘) es 
ſich wahrjcheinlich gebildet habe; für ihn falle ins Gewicht, daß ungefähr jiebenzig 
Zuderfabrifanten fid) gegen die Konvention erklärt haben, deren Geltungdauer er 
deshalb bejchränft jehen wolle. Das war das Stichwort für den Diagonalfanzler. 
Als erjier Beamter des Reiches, rief er, habe ich nicht die Intereſſen der Zucker— 
fabriken, jondern die der Allgemeinheit zu vertreten. Ein Jubelgebrüll aller Cob— 
deniten begrüßte die alte Phraje. Mit einer Gelaffenheit, die er früher oft vermifien 
ließ, fagte Fürſt Bismard, auch er jei an Zuderfabrifen nicht interefjirt, halte das 
Urtheil Sacverjtändiger aber für werthvoll und wundere ji, aus dem Munde des 
Stanzlers jo jelbitverftändliche Poitulate zu hören wie das von der Wahrung der 
allgemeinen Intereſſen. Jeder Abgeordnete hat das Recht, hat, wenn die Ueber: 
zeugung ihn drängt, jogar die Pflicht, in jedem Stadium der Berathungen zu ers 
flären: Ich kann diefer Vorlage nicht oder wenigitens nicht für längere Zeit zu— 
jtimmen, weil id) die Möglichkeiten ihrer Wirkung noch nicht zu beurtheilen vermag. 
Fürſt Bismard war aljo im Net; und es wäre zu wünjchen, daß er öfter mit jo 
ruhiger Entichiedenheit jeine Stimme erhöbe. Nur wird über fein Staunen Mancher 
geftaunt haben. Graf Bülow hat die berechtigte Eigenthümlichkeit, gern auf Gemein- 
plägen zu weilen. Das iſt befannt und deshalb jollte Niemand fich wundern, wenn 
er dein Kanzler auf dem Jahrmarkt begegnet, indeflen Buden die allgemeinen Inter— 
eſſen angepriejen werben. Die giebt e8 zwar nicht — kaum ein einziges Intereſſe, 
nicht einmal das der nationalen Vertheidigung, ift allen Söhnen eines Volkes ge- 
meinfam —, aber fie jpielen in der Prefje eine große Holle und ein jo eifriger Zei- 
tungleferund Zeitungpolititer wie Graf Bülow weiß, dad fie ihm jtets ein Appläuschen 
bringen. Item : wir jind den Reichstag bis zum Spätherbjt [os und können uns den 
Sommer hindurd an der Wonne weiden, einen Kanzler zu haben, der erftens „die 
Politik der Diagonale‘ treiben, zweitens, wie weiland Herr Paris, der ſchönſten 
Göttin denApfel reichen und drittens die „interejfen der Allgemeinheit‘ vertreten will. 
* * 


* 
Der kleine Artikel, den die Malerin Frau Sabine Lepfius im erſten Juni— 
heft veröffentlichte, hat eben ſo viel Widerſpruch wie Zuſtimmung gefunden. Aus 
einem Brief des Herrn Dr. Edmund Friedeberg ſeien hier einige Sätze abgedrudt: 
„rau Sabine Lepfins fragt, mit welchem Recht man dem Menichen, der 
gern helfen würde, den Anblid des Berhungernden fernhält, und fie giebt ſich ſelbſt 
die ‚offizielle‘ Antwort darauf, daß man Vereinen und nicht Bettlern geben folle. 
Ich will verjuchen, diefe offizielle Antwort zu ergänzen. Freilich habe id) nicht etwa 
Neues zu jagen. Man läuft immer Gefahr, bei einer Erwiderung auf geiftvolle Pa— 
radore in längit gefagte Banalitäten zu verfallen. Ich glaube aber, daß jene Worte 
auch hier nicht unwiderſprochen bleiben dürfen, damit man nicht nach einem alten 
Rechtsſpruch aus allgemeinem Schweigen auf allgemeine Zuftimmung ſchließe. 
Ich war neulich in Taorınina. Bis dorthin it die Deeadence-Wohlthätigkeit 
unjerer Zeit noch nicht gedrungen; die Stadt thut nichts für ihre Armen und läßt fie 
in maleriſchen Trachten vor dem Eingang des antifen Theaters liegen. Sie bilden 


488 Die Zukunft. 


gewiffermaßen die Theaterdeloration. Bier kann man fich noch die Perjönlichkeiten, 
denen man geben will, nah Luft und Sympathie auswählen, wie Frau Lepfius es 
winjcht. Bon diejer Freiheit machen auch die Fremden ausgiebigiten Gebraud. Eine 
bejonders ſympathiſch ausjehende alte Frau, die dem Vorübergchenden immer wieder 
erzählt, die Luft thue fo wohl und der Hunger jo weh, jteht fich etwa eben fo gut wie 
der Beſitzer des Hotels, auf deſſen Stufen fie fißt, vielleicht noch beifer, da fie geringere 
Geſchäftsunkoſten hat. Ein graubärtiger Alter mit famojem Charafterfopf und zer- 
lumptem Mantel — er foll ſchon von dreitaufend Kodaks verewigt fein — iſt Grund: 
bejiger in dem benachbarten Mola und dort einer der höchitbeiteuerten Bürger. Ein 
anderer Alter fit neben ihn; er hat feinen Schönen Kopf, feinen malerisch zerlumpten 
Mantel, nicht einmal ein Efel erregendes Gebrechen; er ift zwar in Folge eines Un— 
falles ganz arbeitunfäbig, aber die Konkurrenz mit der Sympathifchen und mit dem 
Kodakmann kann er nicht aufuchmen. Mildthätige Einwohner des Ortes, die die 
Verhältniſſe beifer kennen als die vorübereilenden Engländer, laſſen ihm manchmal 
Etwas zukommen; jonjt wäre er ficher längit verhungert. 

Ic glaube: hier fonnte man die Antwort auf die geftellte Frage finden. Ich 
neide nicht der Sympathiichen noch dem Charafterfopf ihre hohen Einnahmen. Sie 
verdienen ihr Glück mindeſtens eben jo jehr wie die forpulente Dame, die zwiſchen Ent- 
fettungmarſch und Hüftmafjage Frau Yepfius bei der Ausübung ihrer bewunderten 
Kunſt ftört. Ich bedaure auch nicht die Fremden, die mit dem ſchönen Gefühl ge 
leifteten Wohlthuns das Theater betreten und denen es ziemlich gleichgiltig ift, was 
aus dem hingeworfenen Kupfer wird. Sie find zwar jtet3 in der von Frau Lepfius 
erjehnten Gefahr, ihr Geld an Unwürdige zu verichwenden; aber dieſe Gefahr wird 
ſchwerlich den Reiz ihres Yebens erhöhen, weil fie nie erfahren, ob fie getäufcht worden 
find. Nicht fie jind die Hineingefallenen; der ungeſchickte Alte, der es nicht verjteht, 
fich richtig in Szene zu jeßen, und feine zahlreichen, zum Bettelhandwerf nicht ge- 
borenen Yeidensgenofjen: Das find die Betrogenen! Das heißt in vollswirthichaft- 
liher Sprade: das Wohlthätigkeitbudget des Einzelnen wie das der Geſammtheit 
ijt bejchränft und jteht nahezu fejt; deshalb wird das Almojen, das der Schwindler 
empfängt, dem Bedürftigen entzogen. Troß dem Bettelverbot, das übrigens fein 
jo defadent- modernes ijt, Jondern, zum Beifpiel, in England feit 1388 bejteht, haben 
wir in allen Großjtädten nod) ein ausreichend entwideltes Bettelwejen, an dem wir 
jehen können, weldhe Elemente dabei ausschließlich auf die often fommen. Werſich 
dafür interejfirt, wird in Baulians berühmten Bud: ‚Paris, qui mendie‘ amu- 
fante Belehrung finden. Paulian hat nicht nur die Verhältniffe Derer unterſucht, 
die ihn angebettelt haben; er hat jelbjt das Handwerkbetrieben, ift als Strüppel, als 
Yahmer, Blinder und Taubftummer vor die Thitren gepilgert und hat anjehnliche 
Summen eingeheimft. Und wir brauchen auf der Suche nicht bis nad) Paris zu 
gehen; aud) in Berlin entziehen täglich Hunderte von profejjionellen Bettlern den 
Würdigeren die für fie beſtimmten Mittel; ich erinnere nur an den angeblichen Epi- 
leptifer, der jeit vielen Jahren in Berlin W. allabendlich um die Dinerzeit juft vor 
ben Dänfern ohnmächtig zufammenbricht, deren erleuchtete Frenfter auf den Beginn 
eines reichen Mables deuten; oder an den genialen Spradjlehrer, der im legten 
Winter auf vielen hundert lithographirten Boftkarten mittheilte, daß er im Begriff 
jei, vor Hunger zu jterben, und umfommen müſſe, wenn ihm nicht unverzüglich eine 
Kleinigkeit gefandt werde. Die Technik des Bettelbriefjchreibens fteht in unferer 


Notizbuch. 489 


Zeit mindeftens auf der.Höhe modernen Mafchinenbaues und jelbft unter den armen 
Wittwen, für die in Zeitungen öffentlich gefammelt wird, giebt es manche gewiegte 
Zudthäuslerin. Sollte der Würdige, der nach Frau Lepfius vor lauter Würde in 
feiner Kammer verhungern muß, ſolcher Konkurrenz gewachſen jein? Ich glaube, 
wie bei jedem Kampf ums Dajein würde auch im Bettelmettbewerb der Schwächſte 
unterliegen. Das aber kann man nicht gerade als das Ziel einer Armenpflege bezeichnen. 

Dod ic fürchte, offene Thüren einzurennen. Das Bettelverbot, das längſt 
in allen civilifirten Ländern bejteht, bedarf meiner Bertheidigung nicht; auch zweifle 
ich, ob Frau Lepſius ernfthaft beabfichtigte, für eine allgemeine Freigabe des Straßen: 
und Hausbettelns einzutreten. Sie hat nur ein Problem aufgeftellt, das thatſächlich 
noch befriebigender Yöjung harrt: Wie kann die Sympathie, wörtlich überjeßt: das 
Mit-Leid, das ung der Unblid Darbender entloct, vernunftgemäß zu ihren Gunften 
ausgenüßt werden? Die Löjung wird in anderer Richtung zu fuchen fein; wirklich 
moderne Wohlthätigkeit hat fie angebahnt durch die Ausgeftaltung pflegerifcher 
Thätigfeit. Wer fi) das frohe Gefühl verichaffen will, Hunger zu ftillen, wer nicht 
nur jeinen Namen auf Lilten zeichnen, jondern jelbft theilhaben will an der Freude 
des Empfangenden, Der laffe fich von dem Armenvorjteher jeines Bezirkes oder von 
einem ‚Verein‘, der wahre Armenpflege treibt (wie die Ausfunftjtelle der Deutjchen 
Gejellichaft für ethiiche Kultur in Berlin, die Vereinigung der Wohlthätigfeitbe- 
jtrebungen von Charlottenburg, die Centrale für private Fürſorge in Frankfurt a/M. 
u. ſ. w.), eine bedürftige Familie überweijen, juche fie auf und verſuche an ihrem 
Emporfommen mitzuarbeiten. Nicht durch einfaches Geldgeben, jondern durch ver» 
ftändnißvolles Eingehen auf ihre Wünſche und ihre höheren Bedürfniffe. Wer Das 
nicht will, weil aud dann Vorſtand und Komitee ihm unüberfteigbare Hinderniſſe 
find, Der wird fi) der mühevollen Arbeit des Auffuchens würdiger Elemente jelbit 
unterziehen müffen, wird jelbft die ſchwierigen Erinittelungen anzujftellen haben, die 
zur Erfenntniß eines Nothitandes nun einmal unerläßlid) find und die ein Verein 
ihm gern abnähme. Das dem Straßenbettler geipendete Almoſen und fein ‚Gott 
lohns taufendmal!“ genügt nicht; jo billig, fcheint mir, foll heutzutage das Gefühl 
erfüllter Nächftenpflicht nicht mehr erfauft werden können.“ 

* * 


* 

Herr W. Fred erbittet den Abdruck des folgenden Briefes: 

„Verehrter Herr Harden, als ich vor einigen Monaten in der ‚Zukunft‘ das 
Wort vom ‚Krach des unftgewerbes‘ wagte, befam ich von ungebetenen Korrefpon: 
denten Allerlei zu hören. An die wenigen Briefe der Zuftimmmung fchloffen fich die 
vielen verärgerten Zufchriften Jener, deren Gejchäft bedroht ſchien. Mancher Künftler 
wußte ſchmerzliche Ergänzungen zu geben. Ein Architekt, deſſen Interieur jet in 
der Großen Kunftausftellung zu fehen ift, trug mir den Beweis an, daß er die Aus— 
führung jeiner Entwürfe durch allererte Fabrikanten erjt erreicht habe, als er auf 
jedes Honorar, jogar auf jede Betheiligung am Gewinn verzichtet hatte. Andere 
wiejen auf die verderbliche Wirkung der Preſſe hin, tadelten die Fachpreſſe, die um 
des Rechtes zu Abbildungen wegen, die dann als unbezahlte Vorlagen den Eopir- 
wüthigen Fabrikanten zu dienen haben, fic des Nechtes und oft der Möglichkeit zur 
gewiſſenhaften Kritik entfchlagen müfjen. Ein vielgelobter norddeuticher Künftler 
hatte den Muth, von mir zu verlangen, ich folle ihm meine Kritik vor dem Erjcheinen 
vorlegen. Der Herausgeber einer weitverbreiteten deutſchen Kunſtzeitſchrift trägt 


490 Die Zukunft. 


einem Künſtler an: wenn er das Reproduktionrecht für ſeine Arbeiten ertheile, dürfe 
er fich den Nezenjenten wählen. Das find Anmerkungen über die Einflüffe der Preſſe 
auf die Entwidelung des Kunfthandwerts. Die Kritik der Tagesprejje könnte ein 
beionderes Kapitel füllen. Immer wieder liejt und jchreibt man von der Erziehung 
des Volkes zur Kunft; die Blätter mit den Maffenauflagen aber thun ihr Beſtes, 
um jedes Kunſtgefühl des u zu erjtiden.“ 

Ort der Handlung: der ———— des berliner Landgerichtes. In 
dem für den Angeklagten beſtimmten Raum liegt auf einer Matratze, an die er ge— 
ſchnallt tft, unter einer Dede, die jeine Wunden verhüllt, ein Menſch. Nur der blaſſe 
Kopf und die unruhig zudenden Hände find fihtbar. Ohne dieje nervöje Bewegung 
der Hände, melden die Reporter, fönnte man glauben, daß ein Toter auf dem im: 
propifirten Pager ruht; und fie fügen hinzu, nur mit der Hilfe von Schugleuten und 
Serichtsdienern habe der Mann fich aufzurichten vermocdt. it das Tribunal zum 
Spital geworden? Nein: der leidende Menſch, der da liegt, ift der Ugent Thomaſchke, 
der im Unterfuhungsgefängniß gejtern einen Selbftmordverfuc gemacht hat und 
der heute in den Schwurgerichtsjaal geihleppt worden ift, um fic gegen die Anklage 
zu vertheidigen, einen Wucherergemordet zuhaben. Wäre die Schilderung einer jolchen 
Szene aus Rußland oder gar aus Pretoria gefommen, dann hätten die Zeitungen 
ihrem Entjegen beredten Ausdrud gegeben. Daß in Berlin ein fiecher, erichöpfter, 
der Herrſchaft über ſeinen Körper beraubter Menſch vor Staatsanwalt, Gerichtshof 
und Jury um ſein armes Leben zu kämpfen alte, ſchien nicht der Rede werth. 


Der Deutſche Kaiſer rügt in einer Feftrede mit weithin fchallender Stimme 
den „polniichen Uebermuth“, gegen den alle Deutichen ſich waffnen müßten, und 
wird im djterreichiichen Reichsrath von jlavifchen Politikern, die ſolche Generali: 
firung ungerecht dünkt, in der dort üblichen rohen Tonart geſcholten. Der Erbe der 
Bayernfrone kehrt, nachdem er in Mannheim eine landwirtbichaftlicde Ausstellung 
bejehen hat, in Ludwigshafen ein und jagt in einer Tifchrede: „Ich komme heute 
von einem jchönen Frledhen Erde, das man uns dor Hundert Jahren gewaltjam 
entriffen hat.” Dean: nämlid die zähringer oder hochberger Beherrſcher des Groß— 
herzogthums Baden. Uns: nämlid) den Wittelgbachern, denen die einft Eurpfälzifche 
Dauptjtadt von den einem Haren verſchwägerten badischen Herren genommen ward. 
Ein Dann, dermorgen Jonverainer deuticher Bundesfürjt fein fann, erinnert Öffentlich 
alfo an die Zeit des deutjchen Partikularhaders und an den Unglimpf, den feinem Ge 
Schlecht eines anderen deutſchen Bundesfürjten Ahn angethan hat. Der Kanzler des 
Deutſchen Neiches hält den europäischen Großmächten ein Negilter ihrer Sünden und 
Schwächen vor und wird darob in der ausländischen Preſſe geſchmäht und verjpottet. 
Fin Staatsjetretär ladet einen engliichen Journaliſten zu einem „Bierabend“. Ein 
anderer Staatsiefretär foramirt den Gaſt feines Kollegen beim Bier und befchuldigt 
ihn in harten Worten, das qute Verhältniß, das zwiſchen Deutjchland und Groß— 
britanien Jo lange beitand, durch jeine Berichte verdborben zu haben. Und biejer 
Staatsjefretär ift der im Auswärtigen Amt mwaltende, von dem man ſich bes feinften 
Diplomatentaftes verjehen zu dürfen glaubte. Die hier erwähnten Ereignifje haben 
ſich in den beiden erjten Juniwochen abgeſpielt. Für vier sehn T Tage iſts genug. 


Herausgeber u und verantwortlicher Ne atteı 11: M. Harden in Berlin. - _ — Verlag der Zufunft in Berlin, 
Drud von Abert Damde in Berlin-Schöneberg. 














= 77 
Ri 


* — / (% F N\ 
yE Die Zufunft. | eu 











Berlin, den 28. Juni 1902. 4 
Moris und Nina. 


Kreſſin, Achatius 1902. 
Viellieber Bruder und (nicht viel) Senior! 


Sy aud) immer Recht behältjt! Sogar mit dem Tretgöpel; worüber 

der Herr unjerer Fideilommißwirthſchaft Näheres melden wird, Und 
überhaupt. Auf die Dauer wirds eflig. Man traut ich ſchließlich ſelbſt nicht 

mehr; und was habe ic) verfchrumpelte Pommeranze noch vom Yeben, wenn 

ich mein Urtheil, wie eine ſchiefe Schulter, einem hohen Adel und verehrlichen 

Publiko verbergen muß? So oft ic) Deine faum nod) jtandesgemäßen pattes 

de mouche auf dem Couvert jehe (jehr oft iſts ja nicht), überläufts mid): 

wieder ein Triumphgejang; wieder der Beweis, daß Deine Ergebenjte be— 

rufen gewejen wäre, zur Rettung des Kapitol3 mitzuwirken. Ende Februar, | 
als id) Diarie bei Euch und anderen Möglichen tanzen lieh (das lange | 
Würmchen träumt noch von der partie fine bei Briftol), war id) jo ſieges— 

gewiß; und al3 wir, zum Abjchied, in der Nacht vor dem Bismardtag in 

Deinem Berliner Zimmer ſaßen, zwiſchen Büfte und Bild des letzten Märkers, 

und Deine frühe Probemobilmachung der Kiebitze reſpektvoll anſtaunten, da 

habt Ihr mich nicht untergekriegt. Du nicht und Adolf erſt recht nicht. We 

Euch damals wimmern hörte, mußte wirklich glauben, Preußen pfeife — 

auf dem letzten Loch und Alles, was man aus der Kinderſtube jo in ſeine 

grauen Jahre gerettet hat, werde übermorgen unter den Hanımer fonımen, 

Aber es jap nicht. Ich war in Form, wie unfere Gentauren ja wohl jagen, 





492 Die Zukunft. 


und am Ende mußteſt Du der ftörrigen Schweiter einen Knids machen und, 
nach einer wehmüthigen Chamade, den Degen einfteden. Hatteſt übrigens 
gut gepauft und brauchteft Dir feinen Vorwurf zu machen. Gegen Schwär- 
mer (bitte: Schwärmer!) fämpfen Götter jelbft vergebens. Das war mein 
Fall; und ic) ſchäme mich nicht mal. Wenn man das Bischen angenehmen 
Irrthum nicht mehr hätte, dann Lieber gleic) in die Klappe. Es war meine 
bejte Zeit. Ich lieh Adolf grienen, zudte nicht, wenn er hier den Nachbarn 
erzählte, mein wohlinformirter Herr Bruder fei anderer Meinung als ich; 
und hoffte. Der große Umſchwung mußte fommen. Und id) würde die Auf: 
erftehung der alten Preußenherrlichkeit nod) erleben. Zum erften Mal feit 
viertaufend Lenzen freute ich mich wieder auf die Frühjahrshüte. 

Sonne, wo biſt Du geblieben? Seit Wochen kann man fein anftän- 
diges Stüd anziehen; die neue Federboa hat jic von der Durchweichung 
noch nicht erholt. Ließe fich ertragen, wenn die innere Stimmung nicht jo 
troftlo8 wäre. Im wahrſten Sinn. Wen habe ich denn ? Dem Mädel kann 
ich die paar Illuſionen dohnicht aus dem Blondkopf plärren. Und der rothe 
Adolf? Nein, danke; je viens d’en prendre. Der gudt mich immer fo 
lauernd an, als müßte ich ihm in der nächſten Viertelftunde um den Hals 
fallen und rufen: „Du hatteft ja jo Recht, mein hoher Herr!“ Wird aber 
nichtS; weder um den Hals nod) Herr. Fehlte mir gerade noch. Er läuft 
jchon jetzt rum wie der Hahn auf dem nüglichen Haufen. Und als er vor- 
gejtern die Kampherſäckchen aus feinem Majorsrod nahm und auf meinen 
fragenden DBli mit liſtigen Aeuglein flötete: „Bülow ift Oberft ge- 
worden!” ... Ich fand fein Wort. Der zweite Fall in unjerer Armee, jagt 
er; den erften Sprung madıte Bismard in Böhmen. Das ging. Bülows 
Berdienfte um dieArmee find mir Thörin fchleierhaft. Und id) fann Deinem 
Schwager nicht verdenfen, daß er nicht weiter mitjpielen will. 

Warſt Du wenigftens in Bonn? Oder unentwegt Berlin NW, ? 
Muß jetst doc) zum Auswachſen fein. Selbjt die eremplarifch geduldige Lotte 
ſeufzt brieflic) und weiß nicht, was Did) eigentlich fo lange im Hanfaviertel 
fejthält. Die verfchtedenen Raifonnirbuden find ja geichloffen. Die ver- 
iprochene Herrenhausrede haft Du Dir aud) verfniffen. Willft am Ende 
was werden? Aber jett wirds bi8 Neval ja unpolitiih. Schonzeit für Er- 
cellenzen, Gott jei Dank! Denn was die letzte Zeit an Politiſchem brachte, 
fonnte Unfereinen auf die höchſten Afazien treiben. 

Du haft alfo Necht behalten. Mit den Buren. Mit Bülow. Mit 
Zoll, Zuder et le reste. Schließlich, wie ich via Möbelmaple höre, auch 





Morig und Nina, 493 


noch die Wette gewonnen, daß His Majesty nicht im Juni gekrönt werden 
wird. Wir Eriegen Feine anftändigen Handelsverträge und können jehen, wie 
wir uns aus der Batjche helfen. Wir find der „arme Adel”, mit dem nichts 
mehr anzufangen ift. Soldye Worte follen jegt jede Woche fallen. Glissons 
... Kuno (nit Tü-Tü natürlich, dem wohl, troß dem Generalmajor, die 
Scheidungsgeſchichte noch böjes Blut macht und der Anfichten überhaupt 
nicht risfirt) ſchwört Stein und Bein, diesmal fämen die Liberalen wirklich 
dran; der Herr Ballin und Konforten. Daun würden wir erft was erleben. 
Ich bin nicht neugierig, halte aber, feit der fanfte Bernhard im Landtag fo 
patzig geworden ift, Alles für möglich. Den jchlimmften Stoß hat mir der 
Burenfriede gegeben. Woran joll man noch glauben? Die Sache ftand gut, 
die engliiche Sippfchaft hätte e8 feine jehs Monate mehr ausgehalten: da 
lafjen die Leute fich mit ſchönen Redensarten fangen; oder mit Geld? Weiter 
hört man ja nichts mehr. Der gottverdammte Mammon regirt die Welt. 
Lächle nur und nenne mich wieder eine jentimentale Dame mit Runfelrüben- 
fultur. Ehe ich mich dazu hergäbe, am Tiſch Deiner Mafchinenfrigen und 
Geldjuden zu fiten, würde ic) mir als Scheuerfrau mein Brot verdienen. 
Wie man ift, muß man verbraucht werden. Englands „Sieg“ ift die tollite 
Schande. Und feiner von Eud) Helden hat den Finger gerührt. 

Du Schüttelft daS weiſe Haupt, weil ich Trübjal blafe. „Paßt nicht 
für Did) Boruſſenwoman.“ Gewiß nicht. Wäre auch gern mit dem Herzen 
dabei und habe mir Mühe genug gegeben, Lichtpunfte zu finden. Marien- 
burger Rede (Du weißt ja: auf die Polafen hatte id) immer einen Zahn). 
Auch Aachen, trogdem ich mit Karl dem Großen, von wegen der Bielweiberet 
und der fchlechten Töchtererziehung, nicht3 Rechtes im Sinn habe und mein 
gut Iutherijches Herz für den Statthalter Petri feinen Plat hat. Aber es 
Hang doch wie eine Abjage an die Waiferpolitif. Und Adolf mußte den Kan- 
didaten gleid) alarmiren, damit er das Schöne Glaubensbekenntniß unferes 
Herrn in die nächite Sonntagspredigt bringt. Daß der langitielige Thielen 
endlic) geht, hat mich auch einen halben Regentag lang vergnügt gemacht. 
(Sonft feine Aenderung in Sicht? Schade.) Biel iſts nicht. Ich rüfte ab. 
So ſehr Alles mich freut, was S. M. über die glorreiche Zufunftder Deutichen 
jagt: Schwarz-Weiß-Roth war nie meine Yieblingscouleur. Für mich muß 
es nicht das ganze Deutjchland fein. Und ſchwarz-weiße Hoffnungen bringt 
jelbjt meine Unvermüftlichkeit jeit der leiten Enttäufhung nicht mehr auf. 

Sieht mar jich auf diefer Erde noch mal? An Berlin habe id) mir 
vorläufig den Magen verdorben; theils dieferhalb, teils außerdem. Mit 

37° 


494 Die Zufumft. 


Eurer Oper könnt Ihr feinen Staat madjen und die übergefchnappte Ro— 
manpuppe, die der Herr Sudermann für eine oſtpreußiſche Gräfin ausgiebt, 
hat mir den Theaterappetit gründlid) vertrieben. WBielleicht im Oktober 
Paris, wenns langt. Jedenfalls wollen wir jparen. Höchſtens ein Bischen 
Ditiee, die dem Jungen immer anjchlug. Wäre id) Dir nicht die gleichgil- 
tigjte Kreatur, dann würde id) Did bitten, Did) geneigteft für ein Weilchen 
nach Bommerland zubemühen. Schon um Deinem allmädhtigen Inſpektor 
zu zeigen, daß Du nod) lebſt; und man könnte ſich Allerlei von der Scele 
ſchwatzen. Aber meine Epiftel wird Dich abſchrecken. Melandpolie ift nicht 
Dein genre. Na, im Berfehr mit meinem Kirchenpatronund Nevolutionär 
(der grüßt) würdeft Du über Mangel an Heiterkeit nicht zu lagen haben. 
Veberlege. Und wenn nicht, Schicke Yotte (mille choses!), die jid) bier 
wohler fühlen wird als in Gaftein zwischen Deinen diplomatischen Greifen. 
Wir wollen rechtichaffen hausfraulid) jein und die Politik in den Fliegen— 
Ichranf jchliegen, E8 wird Zeit. Hätte ichs nur früher gethan! Deine Schuld 
wars nicht, jondern die 
Deiner noch immer unflugen, 
doch nicht mehr vergnügten Schwejter 
Nina. 


Berlin, am Fohannistag. 

Dunfelfte aller Goldreinetten, 

Der lieder wars: Johannisnacht. 
Kun aber fan \Johannistag! 

Er kam wirflih. Und mit ihm der Wunſch, Dich, den Trojt meines 
Alters, wieder jo luftig, fo ruchlos optimiftisch zu jehen wie an manchem frü- 
heren midsummerday, wo die Welt auch nicht mit Nofen und Bonbons 
geprlaftertwar. Komm. Wir wollen unfere Gräber, die Ruheſtätten unferer 
Kinderträume, mit Blumen ſchmücken, einen Pferdelopf ins Kohannisfeuer 
werfen, ganz heidniſch, und dann ganz chriftlich dem Herrgott danken, day 
wir nicht fürs Heilige Römiſche Reich zu ſorgen brauchen. Im Ernit: wir 
brauchens nicht. Das vergifieft Du immer. Daher der jtete Wechjel zwischen 
himmelhoch jauchzend und zum Zode betrübt. Daher die grimmige Ver: 
achtung meiner „Frivolität“. Als obs einen Zweck hätte, ſich zu jchinden, 
wenn manohnmächtigiit. Mir iſts auch nicht leicht geworden ; und Xrinmphs 
gefühle, wie Dein Groll jie bet mir vermuthet: nicht die Spur. Nichts Efels 
hafteres als Recht behalten. Dazu gehört heutzutage gar nichts als ſchlechte 





Mori und Nina. 4495 


Verdauung und die übletaune, die hartnädig immer auf Zero jegt. Wenn 
ic) nicht bis Mitte Yuli durch Gejchäfte hier angefchmiedet wäre — Bauteret, 
Hypotheken und andere crux —, hätte id) jofort die Koffer gepadt. Weils 
aber nicht fann fein, muß ich den Gichtfnoten wieder mal den Federhalter 
zumuthen. Viel Hoffnung habe ich nicht. Denn an Dir fcheitern all meine 
Künfte. Konnte Dich nicht befehren, als Du dem Morgenroth zujubelteit 
(das ich Schon damals für Bengalfeuerwerf hielt), und werde Dich jett erſt 
recht nicht in meinen Kahn loden. Aber in magnis ... Zu Deutſch: jelbit 
die älteften Gecken wollen immer noch mehr, als fie fönnen. 

Ich gebe Dir Alles zu. Eigentlich unnöthig, denn ic) habe es, weil 
ich jo unbändig Hug bin, vorausgefagt. Du bift enttäujcht. Primo von den 
Buren, die Du jchon den letsten Tommy am Darın des letsten Minenkönigs 
auffnüpfen jaheft. Nun haben fie fapitulirt und Dewet, der Dir faftein kleiner 
Bismard geworden war, ermahnt die Dranjebürger, in Treue dem king 
unterthan zu fein (der num wohl nicht mehr lange Eduard heißen wird; die 
Krönung, an die bei Lloyds ſchon vor Monaten nicht geglaubt wurde, ift 
heute aud) offiziell abgefagt worden). Dein Pech, liebes Kind, daß jeder Pa- 
pierverderber Dir Jahre lang glaubwürdiger jchien als Dein frere pro- 
digue, den Du zu den Britenanbetern in die Wolfsichlucht warfſt. Dahin 
gehörte er nicht. Aber er hat die englische Zähigfeit in der Nähe gefehen und 
wußte vom erſten Augenblid an, wie die Gefchichte enden müſſe. Den Finger 
hater freilich nichtgerührt. Wozudenn? Wir haben das Kriegsfeuer angefacht, 
wir mußten undfonnten es löjchen und wären heuteeine hübſche Strede über 
70 weg, wenn wir über den Kanal gerufen hätten: Das Ganze Halt! Die 
Franzojen wären vor freude aus dem Häuschen gekommen und Väterchen 
hätte fich eine neue Friedenspfeife geftopft. Es ſollte nicht fein; und für 
hoffnungloje Sachen Stelle ich mich nicht heraus. Daß die armen Kerle, die 
von Brüjjel aus belogen wurden, daß die dickſten Balken ſich bogen, nad): 
gaben, jobald fie die Wahrheit erfuhren, war vernünftig, wenn es uns aud) 
um eineSenfation gebracht hat. Frage mal Deine Bauern, ob fie Luft haben, 
ſich für Ideale Schlachten zu lajjen. Ya, wenn man fie mit der Klinge ins 
Teuer treibt; et encore! Woran man nod) glauben joll? An Zeitungen 
jedenfalls nicht, hohe Frau; da werden die hehren Gefühle verhöfert, wird 
immer irgend ein TZugendjüppchen eingerührt, das auch nicht mehr im Min— 
dejten jtinft. In der Heimath ift Alles herrlich; aber draußen! General 
Mercier, Viscount Kitchener, Bobedonojzew! Das Entrüftungbedürfnif 
will Futter; und das wächſt nur fern von den Reichsgrenzen. Cinerlei: 


496 Die Zufunft. 


Dewet bleibt auch ohne Hintertreppenherois mus ein Prachtkerl. Halte Dir 
das Näschen zu, wenn Tu an den Lügenfabriken vorbeigehſt, und ſpare das 
Hochgefühl für Gegenftände, die Du fennft, nicht von fremden Leuten auf 
Treue und Glauben hinzunehmen braudjft. Und Eduard hat ja den Fohn. 

Chez nous hat nichts ſich geändert und Deine Halbmaftftimmung 
fommt um jehr viele Poſttage zu jpät. Habe ich Allen gefagt, die hier Trauer: 
randmienen (jchlechtefte Epelulation) umhertrugen. Was ift denn? Der 
„arme Adel“ doch nicht jeit vorgeftern ausder Eonne. Natürliche und noth— 
wendige Konjequenz. Deine — nicht meine — Rarteigenoffen langweilen 
SM. „Klagen, nichts als Klagen, Bittjehriften, nichts als Bittſchriften!“ 
Der fmarte Morgan, den er nach Kiel geladen hat, fann ihm intereffantere 
Dinge erzählen. Deshalb halte id) auch nichts von der großen Aftion, die 
jetst heimlich verjucht wird, um unjere Leute wieder palaisrein zu machen. 
Die befannten Granden an der Spike, von Udo bis zu Guido mit den zwei 
Tamiliengrüften. Toutelalyre. Berjöhnung. Diagonale. Los vom B. d. v. 
Kanal. Wird nicht zum erſten Mal angeſtrebert. Und zu mehr oder minder rein— 
licher Scheidung muß es ja kommen, wenn auch die Blindeſten ſehen, daß der 
Hochſchutzzoll vor die Hunde geht. Er iſt ſchon gegangen und würdenicht wieder— 
kehren, ſelbſt wenn Bülow nicht an der Spritze bliebe. Was haſt Du plötzlich 
gegen den Mann, daß Du ihm ſogar Echnürt od und Wadenſtiefel nicht gönnſt? 
Redet ſich heiſer, lieſt alle Zeitungen, reift Hals über Kopf, wenns verlangt wird, 
und leiſtet, was man von ihm erwarten konnte. Die Leute, die ſich im Hinter: 
grund vorbereiten, ihn zu beerben, würden Dir nicht beſſer gefallen. Pod— 
bielski hat mehr praktiſchen Menſchenverſtand, raſchere Auffaſſungfähigkeit 
und die ganze Großhändlerei hinter ſich, kann aber die Botſchafter doch nicht, 
wie die Kommerzienräthe, nedijch in die Rippen jtoßen oder beim Bierifat 
hochnehmen. Und Pofadowsty, der Ernithafteite, Gebildetjte (jeine düſſel— 
dorjer Rede war einzige Erquidung), hat feine Ausficht. Liberale Aera? 
Möglich, trotdem die Prophezeiung jchon etwas altbaden ift; vielleicht aud) 
nur ewige Vogelicheuce. Manche von ung wünschen diefe Probe; Andere 
halten, mit Mallet du Pan, jolches Nechnen auf gefteigerte Verwirrung für 
falſch. Natürlich krebſen auch die Verföhnlicyen mit dieſem Spuk. Seid 
hr nicht artig, jo fommt der Ballin! Hofuspofus. ALS Bülow in Hu- 
bertusftod mal, nur halb wohl im Scherz, hinwarf, der jüdiſche Herr der 
Hamburg: Amerika - Linie fönne eines Tages ganz gut Miniſter werden, 
klopfte S. M. ihn auf die Echulter und fragte: „Warum denn nicht Kanzler, 
lieber Bülow?” Seitdem ſitzts in den Knochen. Ach zweifle. Nicht daran, 


Mori und Nina. 497 


dag man jic) noch den einen oder anderen Möller holt, der ſich dann in Frei— 
heit drejjiren und blamiren mag. Aber an liberaler Firmirung. Die Ge— 
jellichaft hat nichts Reelles zu bieten, fo lange jie nur ein Häufchen in die 
Parlamente jchiet, und wäre mit dem Centrum nicht Leicht zufammenzus 
pannen. Das aber tft die Hauptjache. Der reine Blödjinn, immer zu thun, 
al3 gäbe es nur Rechts und Links. In der Mitte jigen die Mufifanten. 

In Bonn war id) nicht, aber im Herrenhaus, als der Sorquitter die 
Häupter der anwejenden Boruſſen, Bandalen pp. zählte. Mir wurde etwas 
flau. Dur kennſt mich lange genug, um zu wiſſen, daß ich fein Froſch bin und 
mit Wonne den Stürmer heute nod) auf die Platte jetste. Bebänderte Po- 
litik aber mag ich nicht und finde unflug, den Demofraten ausdrücklich zu 
jagen, wie Unjereiner von der Corps- zur Hofcharge den Weg gemacht hat. 
Die Couleur wird jet zu oft gezeigt. Wenn die ungen den hohen Prozent- 
fat der arrivistesjehen, geht die Inbefangenheit zum Deibel. Werden jchon 
frühgenugdas Scyufternlernen, Einftweilen brauchen jie noch nicht8 Streb- 
james zu denken, wenn der Kantus jteigt: Was fommt dort von der Höh’? 

So redet Einer, der nad) jeiner Schweiter wohlüberlegter Meinung 
„was werden will.“ Heiliger Fridolin! Was denn? Am Ende, wie Bis: 
mard nad) 90, Oberjter der Berjchnittenen. Deshalb blieb ich auch unter 
den Peers jtumm. Wollte mir nicht die Karriere verderben. Inniges Bei- 
leid zu diefer Kateridee. Nein: ich redete nicht, weil ic) nichts zu jagen hatte. 
Bon der Leber weg wäre es tant bien quemal gegangen. Aber manjchleppt 
die Tradition num ja mal mit ſich, geht nie über eine bejtimmte Grenze hin: 
aus, ift an allen Eden mit Zwirnsfäden fejtgebunden. Ziehe id) vom Yeder, 
dann jollens feine Lufthiebe fein; vor der Königlichen Staatsregirung in 
Ehrfurcht erfterben, ihr zwei Röslein mit drei Dörnlein überreichen: Mahl— 
zeit! Höchjt verlodend, das volle Herz vor verfammeltem Kriegsvolk auszu— 
fchütten; nachher aber käme man fich doc wie fahnenflüchtig vor. Das felbe 
Gefühl (im Kleinen), das den Mann im Sachſenwald zurüchielt und Cha- 
miſſos Wort citiren ließ: Die Situation hat für mich fein Schwert. 

Hier ift es ſtill und Fottes Ungeduld nur zu begreiflich. Aufgerifjenes 
Straßenpflafter, Schlechte Yuft, faum eine lohnende Whiftpartie zuſammen— 
zufriegen; und vor jeder Sandfiefer die Schnjucht nad) anftändigem Laub— 
wald. Es ift ein Kammer. Zähle die Tage, bis Nejerve Ruhe hat. Politik 
hätte mid) nicht gehalten. Nitshewo. Thielen find wir los. Der eine Tote, 
ohne den die Seffion nicht mehr fchliefen kann. Yange ſchon Blattſchuß 
(kein Glückwunſch zum Siebenzigften); und der Echee mit dem homburger 


498 Die Zukunft. 


Bahnhof. An Talentfülle ift er nicht geftorben ; der richtige Dukendbureant- 
frat, der jich enorm vorfommt, wenn er morgens in den Thiergarten reitet. 
Miquel, der ihn uns bejcherte, hatte ihn im Magen; „ich weiß“, jagte er 
nach der Entlaffung, „daß ich manchen Fehler gemacht habe: da geht mein 
ſchlimmſter“; und wies auf Thielen, der eben den Hut vor ihm z0g. Der 
Schwarze Adler fer ihm leicht. Seit Podbielski, ſehr ſchlau, abgelehnt Hat, 
war Budde der propidentielle Dann. Auf jeden Fall viel befjere Nummer. 
Herr Iſidor Loewe, beidem er mehr als das Doppelte eines Miniftergehaltes 
hat, ſcheint ihm beurlaubt zu haben. Wäre nicht übel. Iſt er nad) drei, vier 
Jahren verbraucht, dann kann er, mit Minifterpenfion, wieder Waffen fabri- 
ziren. „Beurlaubt zur Dienftleiftung als königlich preußifcher Staats- 
minifter.“ So muß es fommen, da Induſtrie und Bank ung die brauchbar: 
jten Zeute wegfchnappt. Mammon? Stimmt. Mußt es eben leiden. 

Deine anderen Lichtpunkte glänzen mir nicht allzu freundlich ins 
loyule Gemüth. Fromm war ich nie und Das war mein Berderben; für die 
Würdigung chriftlicher Krieger, Elektriker, Torpedojcdjleuderer fehlt mir das 
Organ. Polen tft noch nicht verloren, weil man ein paartaufend Koloniften 
hinlootſt; die Sache fordert eine andere Tate. Der marienburger Schladt- 
ruf hat die ganze Slavenwelt mobil gemacht und ich bin noch jo altfränfijch, 
daß ich den Monarchen nichtgern im Getümmel, nicht gern politijch aggreffiv 
jehe. Der Glaube an das germanifche Weltimperium ift beneidenswerth, 
das öffentliche Belenntnig aber nicht geeignet, uns Trreunde zu werben, zu« 
mal man ung fo wie jo ſchon ausfchweifende Pläne zutraut. Uebrigens wird 
der Erfahrene ſich hüten, aus Reden Scylüffe zu ziehen. Abwarten und ruhig 
Blut bewahren. Das wird der allerlettten Borujfin jchwer und daher die 
Thränen. Doc wir „Edelften“ find nicht mehr — verzeih, Neinette meines 
Herzens, das anftöhige Wort — der Nabel der Welt. Die Karre geht weiter, 
auch wenn wirunterdie Näder fommen. Ihr Schwarz: Weifendenkt: Preußen 
jind wir. Das ift vorbei. Die perfönliche Leiftung, nicht der ererbte Beſitz⸗ 
anſpruch wird heute gewogen. Unangenehme Wahrheit, die aber gejchluckt 
werden muß. Augen zu und runter damit! Paß malauf, wie Du Dich dann 
wieder des Yebens freuen wirft. Trotz Adolf, dem Philofophen. Uebrigens 
fannit Du Did) ja zu den frifirten Yömwen Schlagen. Sit und Stimmezwijchen 
Yos und dem nicht tot zu friegenden Alfred. Werde Dirs nicht nadhtragen. 
Denn Euer Liebden haben wirklich nod) einen waſſerdichten Vaſallen in 
dem um wohlaffeftionirte Geſinnung bittenden Bruder und Jammermann 


Morig. 





Aus der Zeit der Hörigkeit. 499 


Aus der Seit der Hörigkeit”). 


ielleicht an feiner Stelle Deutſchlands Tagen fo fchroffe foziale Gegen- 

fäge neben einander wie zwijchen Rhein und Wefer. In Kleve-Mark 
war die Randbevölferung jo gut wie ganz frei, in Minden: Ravensberg jowohl 
wie in Tedlenburg=Lingen zum größten Theil hörig und die Bedingungen 
diefer Abhängigkeit waren drüdend genug, mochten fie immerhin meiſtens 
fchriftlich firirt und auch infofern erträglicher fein, als der berechtigte Guts- 
here nicht noch obenein, wie im Often, ftaatliche Rechte beſaß. Im Ganzen 
betrachtet, ftand da3 mindenjche Kammer:Departement dem Dften näher als 
die beiden weſtlichen Nachbarprovinzen Kleve und Mark. Der Eigenbehörige, 
mie er genannt wurde, hatte dem Gutsherrn die herfömmlichen Diente zu 
leiften, unter denen das Geſetz beſonders die Fuhren zwei Meilen weit vom 
Hofe des Herrn namhaft machte. Beim Gutsherrn ftand e8, ob er bie 
Dienfte in Natura oder ein Aequivalent in Geld nehmen wollte; für die 
Dienite jelbit gab e8 feinen Lohn. Hatte demnach der Gutsherr feinen 
Bortheil von der vorhandenen Bevölkerung, fo forgte das Gefeg umgekehrt 
auch dafür, daß nicht etwa eine Uebervölferung auf dem Hofe entitand. 
„Hat ein Eigenbehöriger viel Söhne und Töchter, jo erwachlen und zu 
dienen tüchtig fein, fo erfordern nicht allein des Herren, ſondern auch ihr 
eigen Beſtes, daß jie die Eltern, ſofern fie derfelben nicht benöthigt find, 
von fih thun und bei Fremden innerhalb Landes dienen und zur Arbeit 
angewöhnen lafien: als worauf der Gutsherr mit zu fehen hat, damit nicht 
unnöthige Leute auf dem Hofe fein und derjelben Unterhalt jolhem zur Lait 
falle.“ Dem Gutsheren ſtand gegenüber allen Eigenbehörigen das Necht 
der „leichten Züchtigung“ zu. Wollte der Eigenbehörige Geld auf die Stätte 
feihen, fo hatte er die Eimwilligung de8 Herrn einzuholen. Die Eigen- 
behörige, die unehelich gebar, hatte dem Gutsherrn den fogenannten Bettmund 
mit vier, ſechs oder acht Thaler zu bezahlen: eine Abgabe, deren ſich der 
Geſetzgeber freilich ſchon einigermaken ſchämte; denn er fügte hinzu: „wo 
e3 gebräuchli und dur eine lange Obſervanz hergebracht.“ Wollte fich 
ein Eigenbehöriger verheirathen, To hatte er den Konſens de3 Herrn einzu: 
holen, ihm „die Perion, welche er heirathen wollte, vorzuftellen und, daß fie 
von gutem Leumund, Niemandem mit Eigenthum verwandt, auch die Stätte 
durch Fleiß und ein Stüd Geld zu verbeflern vermöge, darzuthun.“ Eben 


*) Ein Fragment aus dem Werk ‚Freiherr vom Stein“, in dem ber 
göttinger Diltorifer die erjte detaillirte Darftellung der für die Anfänge des 
modernen Vreußenjtaates wichtigiten Zeit giebt. Der erjte Band des Werkes, 
das im Verlag von S. Hirzel in Yeipzig erjcheint, trägt den Sondertitel „Bor 


mu- 


der Reform. 1757 bis 1807" und wird in den nächſten Tagen ausgegeben. 


500 Die Zufmft. 


fo war die Einwilligung des Herrn erforderlich, wenn der Eigenbehörige 
Sohn oder Tochter ausfteuern und ihnen den Brautfchag oder fonft Etwas 
aus den Mitteln der Stätte mitgeben wollte. Bei der Annahme des eigen- 
behörigen Erbes ftand dem Gutsherrn die Abgabe des Weinfaufs*) zu. 
Nur der Anerbe jelbit war von ihr befreit, Braut oder Bräutigam aber, 
die fremd auf die Stätte famen, hatten fie zu bezahlen; fie wurde um jo 
peinlicher empfunden, da ihre Höhe nicht gejeglich feftitand. Zu was für 
Ihändlichen Mißbräuchen gerade diefes Recht Anlaß gab, erhellt aus der Ein: 
ſchränkung, zu der ſich felbit der den Gutsherren wahrlich nicht abgeneigte 
Geſetzgeber veranlaft fah: der Gutsherr müffe ſich billig finden laffen und 
den Anerben nicht ohne Noth von der Heirath abhalten; für den Fall, dan 
"nah Ablauf von zwei Jahren die Che nody nicht zu Stande gefommen jet 
und der Gutsherr fonft wider die Braut nicht3 einzuwenden habe, wurde 
der Weinfauf normirt. Nur dem Gutsherrn ftand es zu, Freibriefe zur 
ertheilen.. Er nahm dafür eine willfürliche Gebühr, die ojt.jo groß war, 
daf fie die Mitgift der Freigelaflenen verichlang; es ift vorgefommen, day 
ein Gutsherr von einem hörigen Mädchen, das nichts als fünf Thaler 
Brauticeg hatte, für die Fretlaffung mehr als dos Doppelte forderte. Das 
graufamite aller Rechte aber war der Sterbfal. Starb ein Eigenbehöriger, 
fo fiel die Hälfte feiner fahrenden Habe dem Herrn zu, dem es wieder frei 
ftand, die Abgabe entweder in Natura zu beziehen oder ihren Werth ab: 
Ihägen zu laflen. Schulden, die etwa der Verſtorbene gemacht hatte, wurden 
nicht in Abzug gebradht: was zur Folge hatte, daß die Eigenbehörigen jo 
gut wie feinen Kredit befahen; denn welcher Gläubiger hatte Luft, ihnen zu 
leihen, wenn er Gefahr lief, mit feiner Forderung auszufallen? 

Auch hier, wie bei dem Stapelrecht, handelte es jih um ein Recht, 
das nur nod ein hohes Alter für ſich geltend machen fonnte und Tängit 
Unrecht geworden war. Die Rechte der Gutsherren hatten einen vernünftigen 
Sinn gehabt, fo lange fie dem Hörigen Gegenleiftungen gewährten, namentlid} 
ihn durch ihre Waffen beſchirmten. Cie wurden Unfinn und Plage, feit 
das Schwert des Ritters eingeroftet, aus dem Nitter ein Rittergutöbeiiger 
geworden war und der Schutz nicht mehr von ihm, fondern vom Kandesherrn 
gewährt wurde. Nicht lange nach dem letzten Aufgebot der Rittergefchwader, 
am Anfang des achtzehnten Jahrhunderts, begannen die agrarıfchen Reformen 
in den weitfälifchen Territorien der Krone Preußen. Es liegt in der Natur 
der Dinge begründet, daß neue politifche Ideen leichter bei einzelnen hoch 
Stehenden Eingang finden als bei Korporationen; der Mächtige erlangt für 


*) Sp genannt von dem Wein, der zur Beltätigung des Nertrages ge— 
trunken wurde. 


Aus der Zeit der Hörigfeit. 501 


den Verluſt, den ihm eine Reform auferlegt, bald anderswo einen Erſatz, 
den der Chnmädtige und Unbemittelte nur durch fremden Beiſtand geminir. 
In dem Etatsjahr 1722/, erfegte Friedrich Wilhelm I. auf feinen Domänen 
Weinfauf und Sterbfall durch eine jährliche Abgabe; an die Stelle dır 
ungemwiffen, unberechenbaren und deshalb doppelt empfindlichen greßen Leiftung 
trat, als eine Art BVerficherungprämie, die befcheidene regelmäßige Leiftung: 
höchſtens 22/3 Groſchen, wenigſtens 223 Pfennige von jedem Morgen. 
Moechte fie auch nicht ganz gerecht vertheilt worden fein: es war eine unleug— 
bare Berbeflerung. 

Echwieriger war die Lage bei den Eigenbehörigen der Nittergutsbejiger. 
Denn deren Achte, eine nicht unerheblice Einnahmequcle*), galten als un: 
antaftbares Privateigenthum**) und außerdem beftand ein fonftitutionelles 
Hindernif. Die Etände von Minden, übrigens nur noch aus Adeligen bes 
fichend, famen nicht, wie der Landtag von Kleve: Mark, alljährlich zur Prüfung 
des Budgets zufammen; immerhin war ihnen, wie wir ſchon ſahen, das 
Recht geblieben, neue Stenern zu bewilligen und bei neuen Gefegen mit— 
zumirfen: jo bejtimmte «8 der Homagialrezef von 1650, der beim licher: 
gang an Brandenburg zu Stande gefommen und feitden, wie alle dieſe 
Grundgefege, von jeden neuen Monarchen beftätigt war. So wirkten denn 
die Stände mit bei der Eigenthumsordnung, die 1741 für Minden und 
Ravensberg erging. Da fie im Wefentlichen das bisherige den Hörigen fo 
ungünftige Recht fodifizirte, fo regte ſich bald die Kritik. Dieſe hatte zu: 
nädhjft die Wirkung, daß die Gutsherren von ihren Nechten nicht mehr den 
äußerſten Gebrauch machten; es findet ſich das Mort, fie feien milder als 
das Geſetz. Weiter erflärten fie fich (zuerft die Domfapitularen, dann die 
Stände von Minden überhaupt) bereit, die ſchwerſten Laften ihrer Eigen: 
behörigen auch geieglich zu erleichtern, indem fie vorfchlugen, nad) dem Vor— 
bilde der Domänen die jogenannten unbeftimmten Gefälle zu firiven. Tod 
jollte Das nicht geichehen, ohre dar ihmen dabei neue Vortheile zufielen. 
An die Stelle des Eterbfalles und des Weinkaufes follte die Hälfte des 

*, Es ift jogar behauptet worden, daß die adeligen Herren „ihre Sub- 
jiftance faft allein aus den Gigenthumsgefällen zögen“. Spannagel ©. 176 

**) Bublilandum, Berlin, fünften September 1794 (Novum Corpus Con- 
stitutionum Prussico-Brandenburgensium 9, 2397): „So lünnen und werden 
auch ©. K. Viajeität den Gutsherrichaften die von ihren Unterthanen zu fordern 
babende Hofedienfte, die ihr Eigenthum find, die jie rechtmäßig erworben haben 
und deren fie zur Fortſetzung ihrer Wirthichaften nicht entbehren können, nun 
und nimmermehr durch einen Machtſpruch entziehen oder die Gutsherrfchaften 
nie nöthigen, auf diefen Dienft Verzicht zu thun oder diejelben wider ihren 
Willen in Dienjtgelder zu verwandeln.“ 


EL ne nn —— ⏑ 


502 Die Zuhmft. 


Neinertrages der eigenbehörigen Stätte treten; beim Freifauf follten 10 Pro- 
zent des Brautſchatzes, mindeſtens aber 5 Thaler bezahlt werden; um gegen 
Entwerthung geſichert zu fein, forderten die Petenten, daß das Firation- 
Duantum in Roggen entrichtet werde; endlich verlangten fie, der Staat möge 
den Gutsherren die Gerichtsbarkeit über ihre Hörigen, die er hier — anders 
als in den öftlichen Provinzen — felbft ausübte, überlaffen. Das waren 
Poſtulate, die in ihrer Gefammtheit das Maß der Billigkeit jo üherftiegen, 
dar man faft zweifeln follte, ob jie völlig ernft gemeint waren. Aber es 
waren die jelben Stände, die den wahrlich nicht übertriebenen Reformen des 
neuen Geſetzbuches, das den preußiſchen Staat vom Gemeinen Recht emanzis 
pirte, heftig oppontrten und fih auch fonft durch engherzige Gelinnung un— 
vortheilhaft auszeichneten. Weiter erſchwert wurde die Lage dadurch, daß 
innerhalb der königlichen Behörden ſelbſt Meinungverfchiedenheiten beftanden. 
Ein Theil behauptete übereinftimmend mit einer wiederholt geäuferten ftändifchen 
Marime, daß die Sache jich überhaupt nicht zu einer geſetzlichen Regelung 
eigne; da es jih um Rechte von Einzelnen handle, fo fönne bie Firirung 
nur durch eim gütliche8 Abkommen zwischen Herren und Hörigen erfolgen. 
Die „Negirung“ von Minden, wie die meilten Provinzial: Fuftizbehörden 
den ſtändiſchen Anfprüchen günftiger als die Kammern, erklärte gar, die 
Fixirung ſei überflüfiig. Darüber war nicht nur das neue Allgemeine Gefeg- 
bud; vollendet, c3 war auch das Provinzial: Gefegbuh für Minden und 
Navensberg in Angriff genommen, das die bejonderen Eigenthümlichkeiten 
diefer Provinzen Fodifiziren follte: eine neue Eigenthums- Ordnung wurde 
bearbeitet. Der Hörigen bemächtigte fich die Beſorgniß, daß hier ihre ungünftige 
Nechtslage verewigt werden möchte, und in der That erflärte der höchſte 
Juſtizbeamte de8 Staates, Großkanzler Carmer, es ſei nicht eigentlich die 
Abicht, ein neues Geſetz für den Bauernjtand zu machen, fondern nur, die 
Dunfelheit und Unvolljtändigfeit der bisherigen Eigenthumsordnung zu* 
erklären und zu ergänzen. Gleichzeitig aber rüdten von Weften her Ideen 
und Geſetze, die den Freiheitbejtrebungen der niederen Stände günftig waren, 
in fait greifbare Nähe und machten überall den tiefften Eindrud,*) Kein 
Wunder, dat die Zahl der Abhilfe heiichenden Petitionen, die aus diefen 
Kreifen an die Behörden gelangten, beftändig zunahm. Die adeligen Herren 
ihlugen felbjt vor, einige Deputirte des Bauernftandes zu hören, und der 


*) In der Mltmarf 3. B. verbreitete jich im Sommer 1794 die Nachricht, 
dal; der König die Natural-Hofdienfte der Unterthanen aufgehoben habe. Mehrere 
(Semeinden, namentlich auf den Gütern der Alvensleben und Schulenburg, 
traten zuſammen und beriethen über die Mittel, wie die Befreiung durchzuſetzen 
jei; eine Gemeinde fagte den Dienjt geradezu auf. S. die Dokumente im 
Novum Corpus Constitutionum 9, 2395 fr. 





Aus der Zeit der Hörigfeit. 503 


damalige Präfident der mindenfchen Kammer, Steins Vorgänger, pflichtete 
ihnen bei. Dem aber widerfegte ſich heftig die mindenjche Regirung, mit 
der Wirkung, daß nun auch der Kammerpräſident es bedenklich fand, bei dei 
gegenwärtigen Zeitläuften die Hörigen zufanımenzurufen und votiren zu 
laſſen. Eben jo wenig wollten die Minijter, Carmer und Heinig, Etwas 
von der Idee wiſſen. Carmer erörterte: der Bauernftand habe nun einmal 
in Minden feine ftändifchen Rechte; eine Aenderung diefer Verfaffung könne 
nur mit der äußerten Vorſicht und nicht ohne Befragung der übrigen Stände 
vorbereitet werden; dagegen müſſe man von dem königlichen Behörden voraus: 
ſetzen, dar jie eben deshalb, weil der Bauernftand nicht repräfentirt fei, deito 
mehr bemüht fein würden, Uebergriffe der anderen Stände abzuwehren. alt 
noch ftärker war die Abneigung von Heinig, der nicht einmal zulaſſen wollte, 
daß ein Mitglied der Kammer den Auftrag beläme, die Eigenbehörigen zu 
repräfentiren.*) Nac dem Grundfag: nichts durch das Volk, aber möglichſt 
viel für das Volk, entfchieden ſchließlich — es war die Epoche, da die Franzofen 
an den Rhein vordrangen — die beiden höchſten in Betracht kommenden 
Kollegien de3 Staates, daß die von den Eigenbehörigen der „Privatguts- 
herren“ nachgeſuchte Firirung ihrer ungewiſſen Eigenthumsabgaben erfolgen 
jolle. Ueber die Ausführung im Einzelnen feien die zum Korpus der Stände 
gehörenden Gutsbejiger zwar zu hören, aber nur im ihrer Eigenfchaft als 
Stände, nicht al3 Individuen. Damit fchien nun die Sache erledigt. Aber 
in der Konferenz, die auffallender Weife erjt Monate nach wiederhergejtelltem 
Frieden ftattfand, wiederholten die Stände ihre alten übermüthigen Forderungen 
und Niemand von den anwefenden Beamten des Staates beſaß den Muth, 
ihnen entgegenzutreten. Wer anders blieb für die Geplagten übrig als der 
Monarch? Als Friedrih Wilhelm II. im Sommer 1797 in Pyrmont weilte, 
um dort Heilung zu fuchen für fein in Wahrheit unheilbares Leiden, über: 
reichten ihm Deputirte der hörigen Privatbauern, mitten unter den raufchenden 
Feſten einer verfchwenderifchen Hofhaltung, eine Bittjchrift, die die Einführung 
einer jährlichen Abgabe für die aufzuhebende Leibeigenſchaft, bejonders für 
Sterbfall, Weinkauf und Freilauf begehrte. 
Göttingen. Profeffor Dr. Mar Lehmann. 


*) Er meinte, dab „diefe Art Leute der Erfahrung nad) wähnen würden, 
daß fie aufgefordert wären oder jet die Gelegenheit vorhanden jei, mehrere 
Rechte oder Nachgebungen, als ihnen zukommen und bewilligt werden fünnen, 
zu verlangen oder gar zu erzwingen“. 


ur 





504 Die Zukunft. 


Medizinifche Moden. 


SS Weifen finden ſich Heutzutage mit den fich zum Prophetenamt berufen 
Glaubenden in dem Gefühl zufammen, dag wir Aerzte in unferer 
Kunſt — in umferer Wiſſenſchaft noch nicht jo ganz — wieder einntal dicht 
vor einem der Wendepunfte ftehen, an denen unfere Berufsgejchichte fo reich 
ft. Da liegt denn Einem, der fo lange mitthut wie ich — ich bin feit 
dreißig Jahren Arzt — die Verſuchung nah, einen Rüdblid zu wagen und 
fich felbft und dem geringen Theil zuhörender Mitwelt einen Rechenſchaft— 
bericht zu eritatten. Aerztliche — oder, wie man heute lieber fagt: medi— 
zinifche — Geſchichte ift leider ja ein Liebhaberſtudium geblieben; das Bemühen, 
fie kreuz und quer zu durchforfchen, wird wie eine Gelehrtenfchrulle belächelt. 
Das ift zu bedauern. Denn wenige Disziplinen hätten jo nöthig wie gerade 
die Medizin, aus der Gejchichte zu lernen, ſei e8 auch nur, um mit Fauft, dem 
Sohn eines Modedoftors, zu fehen, „daß wir nichts wiſſen fönnen“, und zu 
erfahren, wie Huge Leute duch Schaden oft noch klüger geworben jind. 

Mer num nicht die Zeit oder die Fähigkeit zum Hijtoriographen hat 
— und ih befenne offen, dan Beides mir fehlt —, Der muß fich, wenn er 
überhaupt das Wort ergreift, begnügen, die Gefchichte in Geſchichten vor: 
zutragen, nicht ſyſtematiſch, jondern aphoriftifch, auf die Gefahr, nicht ohne 
eigene Schuld mifverftanden zu werden. Trog den üblen Erfahrungen, die 
ich gerade in fegter Zeit wieder einmal mit einer ſeltſamen Art wiſſenſchaft— 
liher Vorausfegunglofigfeit und mit einer Ethik machen mußte, die mir oft 
einen doppelten Boden zu haben jchien, möchte ich den Verſuch folder Dar: 
ftellung nicht fcheuen. Auch in Deutichland wird es noch immer ja Menfchen 
geben, die ihren Nächiten nicht nad) den über ihn herumgetragenen Legenden 
beurtheilen, jondern vorurtheillos auf Das hören, was er in guter Abjicht 
ihnen zu fagen trachtet. Meine gute Abſicht ift, wie die vieler Anderen vor 
mir, einft mit dem ftolzen Bewußtſein ausgezogen, das Ungeheuer Publikum 
ichnell überwinden zu fönnen. Wie e8 mir dabei erging, wie und wo die 
Abſicht ſchließlich landete: davon will id hier Einiges erzählen. 

In der Medizin — ich gebrauche das eingebürgerte Wort, ohne es 
als eine unfere Berufsthätigkeit dedfende Bezeichunng anzuerkennen — herrſchen 
Mode und Methode faſt noch unumſchränkter als auf anderen Gebieten. 
Ich bin fein Sprachforſcher, kann mic; weder mit Stumpf noch mit Mauthner 
meffen und will deshalb gar nicht erit verfuchen, dem Urfprung diefer beiden 
almächtigen Wörter, die mir nicht nur im Klang ähnlich fcheinen, kritiſch 
nachzufpären. Was ich darüber jagen fönnte, wird Jeder leicht bei Meyer 
oder bei Brodhaus finden. 

Wie Moden entitehen? Man follte die Inhaber großer Schneiders 


Medizinische Moden. 505 


geihäfte einmal darüber in einer Enquete vernehmen. Charalteriſtiſch ift, 
daß die Moden fcheinbar ganz unvermittelt und. ohme zureichenden Grund 
in die Erfcheinung treten, als wären fie ohne überfommene Entwidelung 
und auch nicht aus der ein Ziel fuchenden Erwägung des Einzelnen geboren, 
fondern mit einem Schlage der Zufallglaune willkürlich wechjelnden Tages: _ 
lärmens entfprungen. ch fage: Scheinbar, denn feine Wurzeln, weitabgelegene 
Zufammenhänge werden bei eifrigem Suchen immer zu finden fein. Im 
eriten Augenblid Klingt es beinahe wie ein Paradoron, wenn man von Moden 
in der Medizin fprechen hört. Man kann fih nur fchwer zu der Vor: 
jtellung zwingen, daß ein Lebensgebiet, in deſſen Boden fo uralte Wurzeln 
ruhen, Willkürlichfeiten ausgefegt fein fol, die aus Illogismen der äußeren 
Werdegänge, aus zufälliger Laune einer Epoche ftammen. Heilfunde, ärztliche 
Kunft und Wiſſenſchaft find höher differenzirte Aeußerungen altruiftifcher 
Triebe, die auf Feldern blühen, wo Schugbedürftigkeit neben Nächftenliebe, 
Vernunft neben Humanität, Toleranz bei primitivfter Sittlichfeit dem Boden 
vor Neonen urbar gemachten Mutterlandes eutjpriefen. Wenn die Aehren 
diefer Felder jedem leiſen Hauch fich neigen, der die atmosphärischen Schwankungen 
des Menfchheittages ausgleicht, fo muß man folche Unficherheit beflagen. Nicht 
an Reformationen oder Revolutionen denke ich dabei, fondern an die Einwirkung 
zufammenhanglojer Willfürlichkeiten ;nicht an Aenderungen der Aggregatzuftände, 
fondern an Wallungen, Mafjenverfchiebungen, die dadurch entjtehen, daß aus 
mehr oder minder tiefgelegenen Schichten Blafen an die Oberfläche geworfen 
werden, Phänomene, denen ein Augenblidsleben beftimmt ift. 

DBegeben wir, um im Bergleih zu lernen, ung auf ein Nachbargebiet. 
Der Kultus der Furt, die Domäne der religiöfen — jest beinahe auch 
fchon der „medizinifchen“ — Bedürfniffe kann uns manches Nügliche er: 
fennen lehren. An Naturereigniffen, wenn ich fie jo nennen darf, an Um: 
wälzungen aller Art hat e8 hier nicht gefehlt und Grundpfeiler, die man 
für unerfchütterlich hielt, find im Lauf der Zeiten geftürzt. Auch Gegen: 
fäge, die dem außen Stehenden geringfügig fcheinen, haben zu ernten Kon: 
fliften geführt. Die eine Religiongenoffenfchaft giebt ihrer Andacht dadurch 
Ausdrud, daß fie, nach ihrem Ritus, das Haupt entblöht, die andere dadurch, 
daß fie e8 verhält. Die Einen glauben ſich ihrem Gott näher, wenn fie im 
Freien, die Anderen, wenn fie in Paläften ihm opfern. Der braucht Blut, 
Diefer Wein, Jener Wein und Brot für den Altardienft. Hier wird der 
Sotteöbegriff in Hundert, dort in taufend, da nur im drei Kategorien ge: 
fpalten und von einer vierten Seite wird die Einheit gepredigt. Um ſolche 
Berfchiedenheiten find langwierige Kriege geführt, Länder verwüſtet wordei; 
ganze Epochen haben davon das Gepräge empfangen. Wer aber fieht heute 
noch eine zwingende Nothiwendigfeit, die den ‘Prieiter, das ausführende 


506 Die Zukunft. 


Organ, veranlaffen mürte, eine Monftranz heute mit der rechten, morgen 
mit der linfen Hand feiner Gemeinde darzubieten, heute ein langes, morgen 
ein kurzes, ein rothes, ein grünes Gewand anzulegen? 

Bor ähnlichen Räthfeln ftehen wir in der Medizin. Nochmals: ich 
rede nicht von Ummälzungen, auch nicht von Fleinen Korrekturen, die der 
Kampf um die Erfenntnif in fchütternden Wehen geboren oder in täglicher 
Erfahrung Pfennig vor Pfennig zufammengefpart hat. Nicht einmal der 
gewaltige Erbfolgekrieg zwifchen Klyſtier und Aderlaß auf der einen, Chemie 
und Sezirtifch auf der anderen Seite ſoll hier erwähnt werden; und von 
Mikroſkop, Röntgenitrahlen, Speftralanalyfe will ich jegt nicht reden. Sehen 
wollen wir nur, wie das Handeln des Arztes beftimmmt wird durch vermeint- 
liche Nöthigungen, die nicht aus logisch entwidelten Wechjelwirfungen er= 
ftehen, jondern aus heute geborenen, morgen verworfenen Forderungen. 

Betrachten wir die Mode zur’ :Zoziv, die aus taufend befannten und 
unbefannten Gründen in dem verjchiedenen Zeitabfchnitten mit verjchiedener 
Schnelligfeit wechjelnde Form unferer Kleidung. Es iſt nicht ſchwer, einzu— 
fehen, daß ein neu auftauchendes SMeidungftüd, daß oft ſchon der veräns 
derte Schnitt der Gewänder Folgen für das Gleichgewicht de8 Organismus 
haben und damit den Arzt zu veränderten Anordnungen drängen fann. Das 
befanntefte Beifpiel bietet uns das Korſet. Bevor dieſes merkwürdige, 
anfangs als ftügendes Gerüft für budlige Weiber erdachte Schönheitmittel 
in die Mode fam, war ein Theil jener Vorgänge am weiblichen Eingeweides 
traft und Nervenſyſtem unbekannt, die wir heute aus der Schnürleber folgern 
zu müſſen glauben, und die damaligen Aerzte mußten viele Erfcheinungen, 
die wir heute auf diefem bequemen Wege uns erflären, ihrem Verjtändnig 
auf ganz andere Art zugänglich zu machen fuchen. Denn wie gefährlid uns 
auch das leidige Mieder fcheint: wir hätten Scheuflappen vor den Augen, 
wenn wir glaubten, daß al die Frauenleiden, Blutarnuth, Nervenſchwäche, 
Berdauungftörung, die wir oft durch das bloße Korfetverbot befeitigen, vor 
der Korſetmode nicht ſchon aus anderen Urfachen beitanden hätten. Das 
iſt ein Beispiel für viele. Ale Sleidungftüde, die eine — wenn aud) noch 
jo Heine — Aenderung im Blutumlauf veranlaffen: der Gurt, der Hemd: 
fragen, der Hofenträger des Mannes, der enge, der jpige, der hochhadige 
Schuh, alle auch, die eine plögliche Aenderung im Kontaft der Haut mit den 
atmoſphäriſchen Einflüſſen herbeiführen: Hut, Haartracht (Chignon!), Taillen: 
ausichnitt, Krinoline, Handichuh, Größe des Sonnenfchirmes, Schleier, ferner 
die Größe und Beicaffenheit unferer Wohnräume und Möbel: das Alles 
und vieles Andere kann von einem zum anderen Tage den Arzt vor neue 
Aufgaben Stellen. Wenn id noch darauf hinweife, dar Moden des gejell: 
ſchaftlichen Zuſammenlebens, Zeitdauer und Schauplatz der Gefelligkeit, 


ei re urn. — 
2 .. — 


Mediziniſche Moden. 507 


Auſenthalt in geſchloſſenen, gut oder ſchlecht gelüfteten Räumen, Theatern 
Salons, Wirthshäuſern, Sportmoden mit Bewegung im Freien, Alpinismus, 
Moden im Eſſen und Trinken, Rauchen und Schnupfen, Alkohol, Thee, 
Kaffee, Coca, Aether, Morphium und taufend andere jofort ſich kundgebende 
oder erſt langſam ſichtbar werdende Beeinfluſſungen des Organismus heute 
oder morgen zu bis dahin unbefannten Phänomenen des geſtörten Gleich: 
gewichteS führen fönnen, jo habe id Einzelnes von dem Vielen erwähnt, 
das die Grenzen ärztlicher Berhätigung immer wieder verrüdt. 

Die Abhängigkeit des Arztes vom PBublifum, die im Verkehr mit dem 
Kranken des Arztes Stellung herunterdrüdt, hat aber nod andere Folgen 
gehabt. In den Tageszeitungen, in Aufſätzen über die Fortichritte der 
Hygiene, in ftatiftiichen und nationalöfonomifchen Betradhtungen über gewiffe 
Zurusanfprüce, in Gefchäftsberichten induftrieller Unternehmungen findet man 
Lobgelänge auf die ins Ungehenre wachfende Steigerung des Bäderbeſuches 
und der über die finiteriten Mächte jiegende Menfchengeift wird gepricfen, 
weil ganze Orte von Badereijenden leben und die Aktien chemifcher Fabrifen 
boh über Pari ftchen. Das mag, al3 eine Förderung des Wohlftandes und 
menſchlichen Selbitbewuntjeins, ja aud nicht ohme gewiſſen Nugen fein. 
Wer aber mit dem Lichtſtümpfchen Erkenntniß fuchender Vernunft diefe Dinge 
beleuchtet, Tieht doch auch mächtige Schatten von all dem Glanz ausgehen. 
Es ift damit wie mit den von Tag zu Tag in reicherer Fülle vom Briefträger 
Unfereinem ins Haus gebrachten, bald fettleibigen, bald ſchlanken, jtet3 aber 
elegant gekleideten Brochuren, den Korintherbriefen, mit denen die Chemifalien- 
fabrifen und Droguiſten den Arzt beehren: nicht auf Namen und Kleid, 
jondern auf den Inhalt kommt es an. Wie oft handelt es fih nur um die 
Mode diefes Jahres, vielleicht diejcs Quartals! Mag fein, daR eine „Heil 
quelle* — aud) jo ein blendendes, leeres Wort! — auf den menfchlichen 
Organismus einen — nod) nirgends befriedrigend erklärten — günftigen Ein= 
flug übt. Man mag auch im Fund einer glüdlichen Syntheſe, meinetwegen 
im Antipprin, ein weltgeichichtliches Ereigniß fehen. Wer aber ift jo blind 
im lauben, daß er annehmen könnte, diefe oder jene Heilquelle ſei wirklich 
in al den Millionen Fällen der unumgänglich nothwendige Faktor für die 
Wiederheritellung des Gleichgewichtes, all die geichrumpften Lebern, die ver— 
fetteten Nieren und Herzen, verfalkten Gefäße oder Gelenfe Echrten in den ges 
wünfchten Zuftand der Integrität zurüd unter dem Einfluß heißen oder ſalzigen 
Brunnenwafiers? Solde „Heilung“ follte nur in einem Modebad möglid) 
und nicht auch auf anderem Wege zu erreichen fen? Im einzelnen Fall 
wird der kluge Skeptiker antworten: ch weils es nicht. Wer aber generell 
fagt, gewifje Kranke feien nur au beſtimmten Orten mit Erfolg zu behandeln, 
Der danft als Arzt ab. Wir Alle haben in fehr vielen Fällen gefehen, dan 


a7“) 
38 


508 Die Zukunft. 


es auch ohne Modebad geht, und in noch häufigeren, daß aud das Modebad 
nicht die erhoffte Heilung bringt. Wenn ich an den von Babdedireftionen 
und Droguiften aufgeitellten Fetifch glaubte, würde ich lieber heute als morgen 
Sozialdemofrat werden; denn eine Geiellichaftordnung, die nur dem Reichen, 
der ind Bad reifen und theure „Mittel* bezahlen kann, die Möglichkeit der 
Sefundung gewährt, hätte feinen Anſpruch auf längeres Beitehen. Zum 
Glück ift aber der Pradtkerl, der in Wildenbruchs „Haubenlerche“ einer 
kranken alten Frau predigt, nur wenn fie das Geld zu einer Badereije hätte, 
könnte fie gefund werden, eine komiſche Figur. Und fomifch kommen mir 
Alle vor, die den Namen der „Krankheit“ fchnurftrads mit dem Namen des 
Bades beantworten, das unfehlbar helfen müſſe. So einfach wie im Auto- 
maten, der nach der Nideljpende jofort mit der Tafel Chofolade aufwartet, 
erledigt ſich die Pflege leidender Menſchen — natura sanat, medicus eurat — 
denn doc) felbit heute noch nicht. 

Jahrhunderte lang war die damals noch teleologiich geiinnte Menjch: 
heit dem Schöpfer des AUS dankbar dafür, daß er im fernen Amerifa einen 
Baum gepflanzt habe, deſſen Rinde das falte Fieber „heile“. Nach und nach 
aber lernte der Menſch auch diefe „Wohlthat der Natur“ entbehren. Seit 
Knorrs PVerfuchen waren wir auf die Geberlaune des lieben Gottes nicht 
mehr angewiefen: wir verfchafften uns die Vortheile feiner antipyretifchen 
Gaben aus eigener Kraft. Wir konnten jchlieglih fjogar Temperaturen 
herunterfegen. Damit aber war der Ehrgeiz de8 homo sapiens noch nicht 
befriedigt. Phenazetin, Kairin, Salipyrin, Antifebrin, Laktophenin, Pyra- 
midol, Analgefin, Migränin e tutti quanti wurden erfunden. Und als 
wir zwanzig Jahre lang Temperaturen herabgejegt hatten, kamen wir dahinter, 
daß wir auf dem Holzweg gewefen waren und daß e8 für den Kranken meift 
befjer ift, wenn wir feine gejteigerte Temperatur nicht herabjegen; denn wir 
haben in diefer Erhöhung der Temperaturgrade eine Steigerung der organischen 
Lebensvorgänge zu jehen, die eher zu unterftügen als zu unterdrüden ift. 

Nun kann man mir fagen: „Was fällt Ihnen ein, diefes Schwanten, 
diefes Hin und Zurüd in unferer Erfenntnig mit Launen vergleichen zu 
wollen, die heute Frackſchöße lang wachſen laffen, um fie morgen wieder 
zu ſtutzen? Das Beſſere iſt eben der Feind des Guten; und Irren it 
menſchlich.“ Ganz ſchön; aber ich frage, wie die Kriminaliſten: cui bono? 
Die Erfindung des Antipyrins hat das Chinin jo verbilligt, daß ſountags 
jeder Bauer fein Gramm Chinin im Topf haben kann. Jetzt habt Ihr 
erfannt, dag Eure Erfindung nicht von der fegenreichen Tragweite ift, die 
Ihr geträumt hattet. Habt Ihr nun die praftifchen und wiflenfchaftlichen 
Konjequenzen daraus gezogen? Mein: noch immer werden die Fradichöge 
heute lang umd morgen furz getragen, wird heute Phenazetin und morgen 


Medizinische Moden. 509 


Laftophenin verordnet. Kein vernünftiger Arzt kann in diefen Mitteln eine 
dauernde, unentbehrliche Bereicherung des Arzeneiſchahes jehen. Jeder aber 
bat mit jeinem Mittel „die beten Erfahrungen gemacht“. Und fo läuft 
der eine Theil der Aerzte nebft dem Sranfengefolge dem Eulaftol, Eudinin, 
Piperazin, Eozojodol, der andere dem Protargol, dem Itrol, dem Argentan 
nah. Der Frad wird weiter nad) der Made gejchnitten. Um diefe Be- 
hauptungen mit weiteren Beweifen zu belegen, brauchte man nur den Statalog 
einer beliebigen chemischen Fabrik vorzulefen. Soll aber die Heilkunde eine In: 
duftrie fein und nicht daS Wirken eines Nebenmenfchen für und auf den Anderen? 
Soll id) no mehr Moden nennen? ES war Mode, „Medizin zu 
ftudiren“ ; dann gehörte es zum guten Ton, „lid als Spezialiften niederzu- 
laſſen“; Mancher macht die Mode mit, die Sommermonate hindurd) in einem 
Bade zu praftiziren und während des Winters im Lande umberzuziehen, bei 
den Kollegen feine Aufwartung zu machen und fie um Lieferung von Patienten 
zu bitten. Soll ich von den Apothelermoden fprechen? Oder von der Mode, einem 
großen Arzt ein paar Aeußerlichkeiten abzuguden und diefe Errungenſchaft 
dann felbftbewurt und marftichreierifch al8 neues Heilverfahren zu verlunden? 
Alle Ehrfurcht und Bewunderung, die wir für die wirklich brauch— 
baren, wirklich bedeutenden Leiſtungen der Wiflenfchaft hegen, darf ung nicht 
abhalten, auf Mißſtände Hinzumweifen und frei von der Leber über Dinge 
zu reden, die unferen Stand fchänden, unfere Vertrauenswürdigfeit unter— 
graben und nur Denen Nugen bringen, die man — oft mit Recht, doch 
nicht immer mit genügender Selbitkritit — „Pfuſcher“ nennt. Nie ift mir 
der abermwigige Einjall gefommen, die Wiffenfchaft, der wir unſeres Denkens 
Baſis verdanken, herabzufegen. Ich habe felbft viel zu lange ftreng wiſſen— 
fchaftlic; gearbeitet — und mid; für folche Arbeit fchon vor einem Piertel- 
jahrhundert jogar, woran ich fachliche, nicht ſchimpfluſtige Gegner doch einmal 
erinnern möchte, des von Virchow geipendeten Urtheils zu erfreuen gehabt —, 
als dar ich daran denfen könnte, mein eigenes Neſt zu befhmugen. Erft 
der Flug aus dem Neſt aber lehrt den jungen Bogel die Welt feines Wirkens 
kennen. So macht auch die Praris, die täglich die Schulweisheit forrigirt 
und individuell anzuwenden zwingt, erft den Arzt. Das Gefchichtchen von 
dem Meifter unferes Wiffenfchaftfaches, der feinem Droſchkenkutſcher rieth, 
mit der verlegten Hand einen Arzt aufzufuchen, ijt mehr als ein Scherz; 
und der Ehrentitel des „praftiichen*“ Arztes will, wenn er auch vorher fchon 
auf dem Mefiingichild fteht, erit im Kampf des Lebens gewonnen fein. 
Die Medizin, heikt «8, fei eine erafte Wiſſenſchaft. Zum Begriff der 
Eraftheit gehört dod) vor Allen aber das vollfommene Aufgeben des Sub— 
jeftivismus, gehört die Möglichkeit, eine allgemeine, abjolut giltige Norm 
aufzuftellen. Das aber ift in unferer Kunſt nicht zu erreichen. Internationale 


38* 


510 Die Zukunft. 


Konventionen können Gewicht und Maß regeln, den Preis von Gold und 
Silber, die Bedingungen der Zuderproduftion fejtiegen, die Kalenderordnung 
ändern, die gemeinfame Verfolgung beftimmter Verbrechensarten beſchließen, 
neue Ideale aufftellen, alte neu herausitaffiren, Sittlichkeitwerthe prägen und 
ihrer Münze das Monopol fichern. Stein Kongreß aber, fein Vertrag und 
fein Ufas kann beftimmen, zu welchem präzifen Zeitpunkt eine Gleichgewichts: 
ftörung an irgend einem Organ ihre Merkmale jo wechſelt, daß fie aus der 
Kategorie der akuten in die der chronischen Affektionen übergeht. Wohl läßt 
der Tag fich beitimmen, an dem der Soldat aus Reihe und Glied in die 
Nejerve tritt, der Arbeiter Anfpruh auf Imvalidenlohn hat. Aber nicht 
einmal für den Eintritt von Sommer und Winter fünnen wir eine ſolche 
Verfügung erlaffen, trogdem wir über die fosmifchen Vorgänge doch recht 
gut unterrichtet find. Und noch weniger find VBorausbeftinmungen, methodijche 
Berechnungen da möglich, wo es fih um Menſchen Handelt, deren individuelle 
BVerhältniffe uns felbit bei genauer Bekanntſchaft oft genug noch Räthſel 
aufgeben. ch ſcheue mich nicht, offen zu jagen: Die Medizin ift feine 
exakte Wiffenichaft und ihre Methoden können nur jo lange auf Eraftheit 
Anſpruch machen, wie fie am toten Material ausgeprobt werden. Ja der 
Praris verjagen fie jehr häufig und nur fritiflofer Glaube wird auf ſie 
ſchwören. Ein Beifpiel. Die Wörter „akut“ und „chroniſch“ follen Zujtände 
im Ablauf von Störungen bezeichnen, deren Charafteriftif an ſich befannt 
it. Man ift übereingefommen, eine Affektion bis zur Dauer von ungefähr 
ſechs Wochen afut, darüber hinaus chronisch zu nennen. Wenn ein Schnupfen 
aber vier Wochen dauert, ift er doch wohl fchon chroniſch; und Typhus, 
Lungenentzündung, Scharlach find im der achten Woche ihrem Charakter nad) 
noch eben fo afıt wie in der erjten. Das zeigt die Unzulänglichkeit einer 
Terminologie, die in allen Methoden ja eine große Rolle jpielt. 

An dem bequemen Geländer der Methoden findet der praftiiche Arzt 
nur höchſt felten einen fejten Halt. Wer fie, für den Gebrauch im Kranken: 
zimmer, nicht im Laboratorium, erfinden will, jchöpft ins kede Faß der 
Danaiden und darf fich nicht wundern, wenn er in der Fieberhitze fchlieklich 
verihmacten muß. Und ſelbſt im reinen Aether der Theorie jahen wir, 
wenn ein Pieiler der Gefammtanfhauung ins Wanken gerieth, fo oft eine 
ganze, für felfenfeit gehaltene Methodologie zufammenftürzen, daß man beis 
nahe Schon von Methodennioden fprechen könnte. Nie aber, ſcheint mir, ift, 
feit den Tagen der „Dredapothefe* und der Harnbeichauer, der praktische 
Werih der Methoden fo maßlos überſchätzt worden wie heutzutage. Wir 
find fo weit gelommen, daß Aerzte, die den Kranken nie geſehen haben, dem 
behandelnden Stollegen vorwerfen, er habe gegen das Gefeg der Methode ge= 
fündigt. Sie wiſſen nicht, ob die bejfonderen Berhältniffe diefes Mannes, 


Medizinifche Moden 511 


Meibes, Kindes nicht einen chirurgifchen Eingriff, überhaupt jedes fchroffe 
Borgeben verboten; aber fie jagen mit dreifter Stirn: Der hat nicht ge= 
fhnitten! Ad bestias! Er ift ein Ketzer, denn er hat gegen die heilige 
Methode veritoßen. Der von folhem Bannfluch Getroffene kann ſich dann 
nur mit dem Bewußtſein tröften, dar er dem Kranken, jo weit ers ver: 
mochte, geholfen hat. Und darauf kommt es ſchließlich doch eher an als 
auf den Sadavergehorfam gegen die von der Mode gefrönten Methodologen, 

Wer von einer Methodologie redet, macht ſich feiner Uebertreibung 
Ihuldig. Die Zahl der Methoden ift Legion: Allo: und Homöopathie, Hydroz, 
Elektro:, Drgamotherapie, phyſikaliſche, hypnotiſche, diätetifche Methode, — 
wer nennt al die Namen! Hatte die Empirie zuerft, meinetwegen mit Hilfe 
der Inſtinkte und Deſſen, was man Zufall zu nennen gewöhnt ift, gelehrt, 
wie man Wunden reinigt, verbindet, einen eingedrungenen Fremdförper ent— 
fernt, jo gefellte jich bei auffteigender Denfentwidelung das Bedürfniß hinzu, 
die Kauſalität zu erfennen, aus der Wirkung auf die Urfahe zu fchließen 
und diefe Urjache zu befeitigen oder unfchädlih zu machen. Heute haben 
unjere Behandlungmethoden ſich taufendfach differenzirt und unfere Erkenntniß— 
methoden haben jchon ihre eigene Gefhihte. Sie fommmen und gehen mit 
dem Tage, leiften fait alle gleih Gutes und bleiben alle den an fie ges 
fnüpften Hoffnungen einen mehr minder großen Reſt fchuldig. Natürlich. 
Denn in jedem einzelnen Fal wäre das von der Methode Empfohlene je 
nach dem individuellen Befund zu modifiziren, — und daran fehltS manch— 
mal. Nicht die Methode aber, fondern das kliniſche Bild des einen be: 
ftimmten, in feinen perfönlichen Berhältniffen abgegrenzten Kranken lehrt 
erkennen, warum diefe Urſache hier diefe Wirkung haben konnte. Die Methode 
erleichtert den Eclaireurdienſt; doch jie ift vom Lebel, wenn der General: 
ſtabschef sie, wie ein für alle Fünftigen Kriege gejchriebenes ftrategifches Nezept, 
in die Manteltaſche ſtect. Er muß den Kriegsichauplag vor Augen haben, 
die Proviantirung, Munition und die piychiiche Beſchaffenheit des Feindes 
feunen, che er die Entscheidung trifft. Alle Methoden können ihn unter 
Umftänden zum Sieg führen. Alle Methoden fünnen die Hebung der Kräfte 
eines Kranken bewirken. Nicht auf die Methode, jondern auf die Berfön- 
lichkeit de8 Arztes kommt es an, der jie anwendet. Men, not measures: 
das Wort gilt hier fo gut wie in der Politil. Wenn wir tüchtige Aerzte 
heranziehen, die den Muth zur Verantwortung haben und nicht ängſtlich ſtets 
nad) dem Speztaliften oder Techniker jchielen, dann brauchen wir die wiſſen— 
ſchaftliche Bergfererei nicht, die raftlo8 zur Erflimmung neuer Gipfel treibt. 
Sehr oft ftellt fid) dann heraus, daß dieſe Höhen niedriger. find als bie 
vorher befannten oder dar man dom ihnen mindeſtens nicht mehr fieht, als 
man früher ſchon ſah. Dann wird fchnell wieder heruntergeflettert und im 


512 Die Zukunft. 


Eilmärfchen geht3 zurüd, — zu den alten Methoden, die man beffer nie 
verlafien hätte, weil jie cum grano salis noch immer ganz fchmadhaft find. 
Um des Kaifer8 Bart ftreitet, wer mit Feuereifer darüber disfutint, ob die 
den Stoffwechjel fördernde reichlichere Blutzufuhr nad einzelnen Korper⸗ 
theilen durch Veſikantien oder Beſtrahlung, durch einen Spiritusumſchlag 
oder ein heißes Lokalbad eher erreicht wird, ob in allen Fällen und in jedem 
Stadium diphtherifcher Erkrankung Serumeingefprigt, der Lupus mit chemiichen 
oder mechanischen Mitteln zerftört werden fol. Nur vor dem und für den 
befonderen Fall können folche Fragen ausreichend beantwortet werden. Alle 
Wege führen nah Rom. Bon dem Zwed der Reife, der Ausdauer, dem 
Temperament, Gepäd, Vermögen der Neifenden hängt die Wahl des Weges ab. 

Zur Vermehrung unferer Erfenntniß trägt viel weniger da8 Beobachten 
und Regiftriren der Thatfahen und Phänomene als deren Deutung und die 
Einfiht in ihre Zufammenhänge bei. Gerade aber die bloße Beobachtung, 
das Regiftriren, Syſtematiſiren, Katalogifiren ift im der legten Epoche der 
Medizin zu ſehr in den Vordergrund getreten. Jeder will etwas Neues 
fehen, Jeder etwas vor ihm noch nicht Beobachtete8 zum allgemeinen Beſten 
beifteuern. Zum Sichten und Afjimiliren bleibt unferer Zeit felten Zeit. 
Nur raſch vorwärts zu neuen Methoden! Diefer Drang fann der in den 
Laboratorien wirkenden Schaar wiſſenſchaftlich Arbeitender Nuten bringen, 
ihren Forfchereifer vor der Erjchlaffung bewahren; im der ärztlichen Praris 
aber ermeift er fih nur allzu oft als unheilvol. Er macht Moden und 
muß, wenn die Mode jich nach furzer Frift überlebt hat, nach neuen Methoden 
ausfpähen, deren Folge dann wieder eine andere Mode iſt. Die novarum 
rerum cupidi find nicht zu entbehren, vieleicht auch nicht die Werfmeifter 
und Vorarbeiter der kliniſchen Induſtrie, für die fchon ein eigene Handbuch 
nöthig wäre. Der Arzt aber fol nicht zum Modiſten werden, der jeine 
Kunden mit denn Schlagwort fängt: Das ift das Allerneujte! 

Da ift ein Landftrich. Der Eine geht achtlos, der Andere raſtlos darüber 
hin, ein Dritter jagt darauf, ein Vierter bearbeitet den Boden und erntet 
hundertfache Frucht, ein Fünfter gräbt in die Tiefe und findet werthvolles 
Geſtein. Das Land war das jelbe, aber die Verwerthung und bejonders die 
Menschen waren verfchieden: daher der verschiedene Ertrag. Auch die 
Methoden können jehr verfchieden verwerthet werden. Wichtig, für den ges 
gebenen Fal paſſend wird fie nur der Arzt anmenden, der dieſes Namens 
würdig ift. An folchen Aerzten fehlt es nicht; aber fie danken ihre Kunft 
nicht der Methode. Und wiederum ind die Methodifer, die Anatomen, 
Vhyüologen, Mikroffopiter wegen ihrer Wiffenfchaft nod) feine Aerzte. Viel— 
leicht ſind fie mehr, — einerlei: die Grenze kann nicht deutlich genug gezogen 
werden. Einen Arzt nenne ich Den nur, der, ohne abergläubig auf Methoden 


Selbftanzeigen. 513 


zu ſchwören und blind nachzubeten, was Andere vorgebetet haben, ohne nach 
dem Ruhm eines Diagnoftifers, Spezialiften, Modedoktors zu trachten, gelernt 
hat, dar Erkranfungen des Einzelorganismus nicht immer fo verlaufen, wie 
die „Krankheit“ im Lehrbuch befchrieben fteht, und der nach gründlicher Er- 
forjchung der Gefammtindividualität des Kranken ihr zu geben vermag, was 
ihr im Augenblid gerade fehlt. Ein ſolcher Arzt wird die Kranken behandeln, 
ih nicht von ihnen behandeln, den Namen des neuften Modebades, Mode— 
mitteld, der neuſten Modemethode abtrogen laffen und aufathmen, wenn 
nad all den Leuten, die mit einer fertigen Diagnofe, mit dem Namen ihrer 
„Serankheit* im der Tafche, in feine Sprechftunde fommen, fi ein natürlich 
empfindender Menſch einjtellt, der nach guter alter Weife nicht3 weiter fagt 
als: „Mir fehlt Etwas und ich möchte wieder gefund werden.“ Dazu ihm 
zu helfen, iſt des Arztes Pflicht. Nichts Anderes. Das jceint ein nicht 
ſchwer zu erreichendes Ziel. Aber ein Menfchenleben voll harter Arbeit ift 
oft nicht lang genug, um diefe Pflicht in den raſch auf einander folgenden 
Wechſelfällen des Tages erfüllen zu lehren. 


Sroflichterfelde W. Profeſſor Dr. Ernft Schweninger. 


"Ic 


Selbitanzeigen. 


Falſche Feuer, ein Roman aus dem deutſchen Sankt Petersburg, Hermann 
Gojtenoble, Berlin 1902. 


Es werden nädjtens zweihundert Jahre, jeit Peter der Große den Schwer— 
punkt der rujjiichen Entwidelung aus dem Binnenlande Mostaus an die fumpfige 
Küjte der Oſtſee verlegte; zu feinen Helfern berief er vor Anderen deutjche Männer 
und deutjhe Kultur. Es ijt deshalb nicht unbillig, daß auch fie ihre Jubel— 
bilanz ziehen; und jie werden eingejtehen müfjen, daß fie, aus taujendunddrei 
Gründen, heute eine Einbuße zu verzeichnen haben, eine Einbuße am Werth: 
volljten, was der Menſch bejigt, an fraftvoller Lebendigkeit und Entwidelung- 
fähigkeit. Im Ruſſenthum aufgehen konnten, wollten und follten fie nicht; fie find, 
wie faum jonjtwo eine deutiche Kolonie, durch und durch deutjch geblieben. Das 
heißt: fie reden deutſch, denken deutich und find jo gut wie ausſchließlich Proteſtanten; 
nur dürfen fie gegen nichts protejtiren, können feine neuen Gedanken jcaffen 
und haben nichts zu reden als Das, was längjt gejagt worden ift. Es iſt der 
ſtrengſte Konjervatismus, aber nicht der einer Weltanihauung, jondern einer 
Nothlage. Sie bilden eine ethnologiſche Inſel, an deren zerriffener Hüfte immer« 
fort die jlavijche Brandung nagt, und nicht in der Schöpfung neuer, höherer, 
lebendiger Werthe wiſſen fie fich zu wehren, ſondern nur durch die granitene 


514 Die Zukunft. 


Starre grumdjäglicher Selbſtbeſchränkung in allen eigentlich Menſchheit und Welt 
bewegenden Fragen: Wiſſenſchaft, Kunſt, Neligion. Dieje Verhältnifje meiner 
Naterjtadt, unter denen ich viel gelitten habe, wollte ich zu Nuß und Frommen 
aller Deutichen fchildern. Am Faden einer erfundenen Geſchichte reihen fich 
all die tupiichen Vorgänge, Menſchen und Kreiſe, die unvergänglich find, weil 
wejentlide Kräfte immer wieder fich in diejen Formen verwirklichen; die Per— 
jonen kommen und gehen, die Greianiffe braufen vorüber, aber immer wieder 
fräujelt jich die Überfläche des Stromes, wo jein Bett uneben ift. Schatten 
und Licht trifft daher nicht jo ſehr die einzelnen Geftalten wie eben die Zuftände, 
die ich jo mr jchildern konnte, weil id} fie durchlebt habe. Und weil fie eben 
der Vergangenheit angehören, fonnte ich dieje Erinnerung frei vom Allzuperjön: 
lihen gejtalten. Daß ich trogdem nur Urperſönliches geben fonnte, verjteht 
fid) ja eigentlid) von jelbit; woher man aud) die Farben auf jeine Palette nehmen 
mag: den WBinjel Führt dod die eigene Dand, der eigene Geift. 

Charlottenburg. Dr. Eduard von Mayer. 

* 

Alpine Majeftäten und ihr Gefolge. Vereinigte Kunſtanſtalten A.G. 

in München. 

Jeden Monat kommt cin Folioheft zur Ausgabe, das mindeſtens zwanzig 
Anſichten von der Gebirgswelt bringt, natürlich zum weitaus größten Theil aus 
den bayerischen, jchweizerischen, öfterreichiichen, italischen und franzöjiichen Alpen— 
gebieten; gewiſſermaßen zum Vergleich werden aber auch mitunter andere Ge— 
birgslandichaften gezeigt: Skandinavien, England, die Pyrenäen, Karpathen, 
der Kaukaſus und Ural, Himalaya und Kordilleren u.j.w. Für tadelloje photo 
grapbiiche Aufnahmen, feinfte Reproduktion, beftes Stunftdrudpapier und Haren 
Druck ift geforgt und die Bilder, die uns in alle Theile der alpinen Welt führen, 
ſind jo gut ausgeführt, daß man vicljad jogar die bejondere Art des Berg: 
geitins umterjcheiden kann, Jedes Heft fojter eine Mark, jeder Jahrgang (dem 
zwölf Deften wird cine kurze populäwiljenichaftliche Beſchreibung beigegeben) 
ijt in einem abasichlojfenen Bande käuflich. Wir glauben, in diefem Prachtwerk, 
das grüne Matten, Schneelawinen und Gleticher, haſtig zu Thal ſtürzende Bäche 
und von Felſen umſäumte Bergfeen zeigt, jeden berechtigten Wunſch erfüllt zu 
haben, und entnehmen diefem Bewußtſein den Muth, es den deutichen ai 
nicht nur, ſondern allen Naturfreunden zu empfehlen. 


München. Vereinigte Kunſtanſtalten A.«G. 


Variété des Geiſtes. Leipzig. Hermann Seemann Nachfolger 1902. 


Der Autor zeigt bier in Form philoſophiſcher Aphorismen die Wandlung 
und Zelbiterziehung — wenn man will: Genejung — einer im Neich myſtiſch— 
chriitlicher und pantheijtiicher Anichauungen fozufagen geborenen Seele zu ihrem 
Segenfage, dem Heiliges und Unheiliges mit gleicher Ehrfurchtlofigfeit angreifenden 
Steptizismus und der Vereinigung diefer beiden Weltanjchauungen in einer 
Hofinung: dem harmoniichen Menſchen. Der geiftige Menſch, der das „Geiſtige“ 
überwindet, ijt die höchſte und lebte Form des Geiſtigen. Nun wird er reif, 


wu... 


Selbſtanzeigen. 515 


den neuen Typus zu zeugen, der alles Gute und Schöne der Menſchheit ver— 
einigen ſoll, den harmoniſchen Menſchen. Ohne die herrliche Krankheit Geiſt 
wäre der Menſch Thier geblieben. Doch hat uns der Geiſt ſelbſt Mittel ge— 
geben, ſeine Schäden zu erkennen, ihrer Herr zu werden. Geiſt bekämpit den 
Geiſt, Gegengift tötet Gift. Der Autor will dazu beitragen, die Gefahren und 
furchtbaren Schäden unharmoniſcher Geiſtigkeit zu bannen, den Weg, den er 
jelbjt gefunden, Anderen weiſen und jie ſtark machen, auf ihm auszuharren. Daß 
jo viele geiftige Menjchen unferer Zeit tief leidend jind, weiß man. Woher der 
Schmerz? Welhe Mittel zur Gejundung? Der Autor gelangt zu feinen trojt- 
lojen MAgnoftizismus, indem er diejen ſchweren Fragen entgegenichaut. An die 
Stelle des von ihm Miedergerifjenen ijt er Neues zu ſetzen bejtrebt und zwei 
große Aerzte der Seele begleiten und jtügen ihn bei diefem Wagniß: Mar 
Stirner und Friedrich Nietzſche. 

Wien. Dr. Mar Mejier. 

N * 

Baldurs Tod. Ein Märchenſpiel in fünf Aufzügen von Paul Schmidt. 

Leipzig 1902. Heinrich J. Naumann, Preis 2 ME. 

Mein Drama fommt wie der märkiſche Siegfried aus dem reaftionärjten 
Lager: es ijt in Jamben gejchrieben und gereimt. Daß die wechjelnden Bilder 
des vierten Aftes mit unjerer rüdjtändigen Zwiſchenvorhangs-Maſchinerie nicht 
aufgefiihrt werden fönnen, ohne ihren Eindruc ganz zu verfehlen: Deffen bin ich 
mir bewußt. Armes Jahrhundert, deffen Maſchinen Wolle jpulen und Garn drehen, 
taujenpfündige Yaften heben und Eijenzüge fortbewegen können, aber nicht eines 
Dichters Traum zu geitalten vermögen! 

Leipzig. Paul Schmidt. 


Liebeslieder moderner Frauen. Hermann Coſtenoble, Berlin-Jena. 


An Anthologien, auch an ſolchen, die nur Frauenlyrik bringen, iſt kein 
Mangel. Was aber meine Gedichtſammlung von ihnen unterſcheidet, iſt der 
Geſichtspunkt, unter dem ſie angelegt iſt. In das Bändchen wurden nur ſolche 
Gedichte aufgenommen, in denen ſich das Liebesleben der Frau in charakteriſtiſcher 
Weiſe ſpiegelt. Es iſt alſo hier ein erſter Verſuch gemacht, einen kleinen Bei— 
trag zur Pſychologie des Liebenden Weibes zu liefern, der jedenfalls Anſpruch 
auf Authenzität erheben kann, denn man hat es mit Iyrifchen Selbjtbefennt- 
niffen aus Frauenmund zu thun. Und zwar moderner rauen, zeitgenöjfiicher 
Dichterinnen, die von der altgewohnten, vieltaujendjährigen Scheu des Weibes, 
auf den Schauplaß des öffentlichen Yebens redend und handelnd zu treten, frei 
geworden jind, ja, die zum Theil mit einer Unbedenklichkeit ihr innerites Ge 
fühlsichen bloslegen, die Manchen überrajchen mag. 

Dr. Paul Grabein. 
* 
Totentanz. Verlag von A. Harms, Hamburg. Titelbild von Joſef Sattler. 1902. 


Ich beabſichtige weder, mein Buch anzupreiſen, noch, irgend Etwas zu 
feiner Erklärung zu jagen. Beides iſt Sache des Buches. Entlaſſen aus der 


516 Die Zukunft. 


Werkjtatt, it es majorenn und mag für fich felbjt jorgen. Nur der Titel ver- 
anlaßt mid — um mit Fritz Reuter zu reden — „tau ne lütte Vörred’, damit 
mi fein Nahred dröppt.“ TIotentänze und ähnliche Weiſen find heute modern. 
Dies aber ijt fein Modebuch. Ueber die Entitehung der Erzählungen jpannt 
ji ein Zeitraum von vierzehn ‚jahren und jelbit die zweitjüngfte von ihnen, 
„Sefängnifauffeher Streuber“, haben die Lejer der „Zukunft ſchon vor zwei 
Jahren kennen gelernt. Auch hatte ic das Wort Hebdels, das dem Buch zum 
Seleit mitgegeben wurde, ſchon als Knabe in mein Notizbuch geichrieben: „Durch 
den Todesgedanfen den goldenen Faden des Lebens zu ziehen! ine höchſte 
Aufgabe der Poeſie“. Alſo dies (übrigens anjpruchsloje) Bud ijt nicht von 
der Mode diftirt, jondern von jener inneren Nothwendigkeit, die unerflärlicd in 
uns wirkt, die mandes Kommende vorausfühlt und halb unbewußt darauf hin— 
arbeitet. Seltjam genug, daß die meiften diejer Erzählungen unter der Regirung- 
zeit des Dejpoten Naturalismus entſtanden find, deffen Aufgaben bei den allgemein 
befannten Dingen unjerer Ameijenwelt zu Ende waren, der faum cinmal das 
Dajein bis an jeine Grenzen zu verfolgen unternahm und dem graujamen Tanz 
von Tod und Liebe auf diefer Erdfrufte nicht ınehr Aufmerkſamkeit ſchenkte als 
der gewürfelten Bettdede eines Armenhäuslers. Docd wir verdanken ihr viel, 
diejer Zeit der Froſchperſpektive, und wollen ihre Yeute nicht höhnen. (Uebrigens: 
De mortuis.... etcetera). Heute aber wird ınan fid) erlauben dürfen, einem 
fabulirten Werk der Feder, gleichviel, ob es ein Drama in fünf Alten oder 
eine Fleine Erzählung von wenigen Seiten ift, — frei nach Maeterlind — drei 
ragen zu ftellen, um es auf feinen Werth zu prüfen. Erſtens: Iſt es in der 
Form ſchön? Zweitens: Iſt es mit Leidenschaft und von einer Perjönlichfeit 
dargeftellt? Drittens: Fehlt ihm neben dem Untergrund auch nicht der rechte 
Dintergrund und Obergrund? Ich meine den Grund, der fih über und hinter 
allen Dingen wölbt; der hinaus über den Dunftfreis des roh Thatſächlichen 
ein Sinnen und Ahnen wedt von den geheimen Fäden, die das fleine Fragment 
eines Menjchenlebeng mit dem Unbekannten verknüpfen, das alle Dinge richtet 
und überragt. Joſef Sattler hat, meiner Meinung nad, diejen drei fragen 
in jenem Titelbilde Rede gejtanden. In der Form jchön, ift das Bild ſelbſt 
von fünftleriicher Yeidenichaft: diefer wilde Tanz Freund Heins auf der Erd» 
fugel! Seine Stappe mit der rothen Feder ift im tollen Reigen vom Schädel 
geflogen und der große graue Mantel Hinter ihm weht im Schwung ber fid) 
drehenden Erde und der Tanzbewegung des Gerippes in mächtigen Serpentin- 
linten, deren Ausläufer an die Randformen der ledermausflügel erinnern. 
Diefer grane Umhang, in dem fich die gejchwungenen Arme des Tanzenden zit 
‚raltenlinien verflüchten, ift unendlich größer als die Erdkugel. Wie ein ge: 
waltiger Vorhang, hinter dem die ewigen Näthjel und Zujammenhänge des Seins 
verborgen jind, reckt er jich flatternd empor. Das Titelbild, eigentlich zu an- 
Ipruchsvoll für das beſcheidene Buch, wird, hoffe ich, auch Die ein Wenig mit 
meinem „Totentanz'“ verjühnen, denen der Inhalt des Buches unverjöhnlich mißfällt. 


Karl Streder. 


Diftelfinten. 517 


Diftelfinfen. 


Dt umflattern mein Baus. Ein ganzer Schwarm. Den langen 
Winter waren fie da. Und wenn fie fi auf die jchwanfften Mejtchen 
der jungen Bäumchen jegen, jo neigen fich die Aeſtchen Leicht und ſchaukeln jacht 
mit ihrer graziöfen Lajt. Lauter niedlihe, bunte Schöpfungsgedanfen, dieje 
Kleinen Vögel. Ich jehe ihnen zu und horche auf ihr leiſes Gezwitjcher; denn 
noch fingen fie nicht ; erft wenn der Frühling kommt, der Frühling und die Sonne... 

Diitelfinfen umflattern mein Daus, zwitichern mir in Stopf und Derz. 
Und ein leijer, wäjlriger Frühſonnenſtrahl ftreicht über das bunte Scheunendach 
da drüben und läßt mich Frühling ahnen. 

Und eben, als ich das Frühſtück nahm, umfjchmeichelte mich mein drei- 
jähriger Blondkopf und that wichtig und geheimnißvoll, als wolle er mir Etwas 
verrathen. „Schag, erzähl’ mir was“, jagte ich erınunternd. Und er fing an: 

„Da fam die böje Stiefelfönigin zum Schneewittchen und fragte, ob es 
Uepfel kaufen wolle. Nein, jagte das Schneewittchen, ich faufe feine. Und da 
gab fie ihm doch einen, einen ganz giftigen. Und da hat das Schneewittchen 
ein Meſſer genommen und hat alles Giftige abgejchnitten und fortgeworfen und 
hats gar nicht gegejjen. Gar nicht! Und da hab’ ich ihm gejagt: Du bift Lieb, 
und weil Du jo brav warſt, brauchſt Du auch gar nicht im Eckchen zu ftchen. 
Und da famen die ‚Zwerge und haben furchtbar gelacht.“ 

Hoiho! Das it doch eine liebe Gejchichte, nicht wahr? Mein Blondkopf 
mag die Kataftrophen nicht, die durch Menfchendummheit und Menjchenbosheit 
herbeigeführt werden, und jo arbeitet er Tag vor Tag mit jeinen lieben Ge— 
danfen herum, bis er alle traurigen Ausgänge in liebe und freundliche ver- 
wandelt hat. Eher läßt ihm eine Gejchichte keine Nuhe. Wer von uns ganz 
gejcheiten Leuten dem Kinde Das doch nachmachen künnte und wollte! Wem 
Das doch noch jo innerjter Inſtinkt und heiligftes Herzensbedürfniß wäre! 

... Gen Grünwald gings, wo die Iſar raucht. Ein Sommermorgen wars 
von herrlicher Klarheit und Pfingitionntag obendrein. Noch lag ih in den 
Federn, als es an meiner Scelle raflelte. „Was heit denn Das? Eben erft 
halb jehs Uhr! Wer kann da jein?“ ch jprang auf und öffnete. 

„Borwärts, ‚sreundchen! Angezogen, raſch, und hinaus in die jchöne 
Welt!” lachte es mir entgegen. 

Meinen Augen traute ih faum, als ich die hohe Geftalt in langem, 
ſchwarzem Talar vor mir jah. 

„Was wollen denn Sie jo früh, Herr Doktor?“ 

„Werdens jchon jehen! Machens zu!” 

Bald war id jo weit und wir verließen fröhlich das Haus. Eine Morgens 
wanderung in wunderbarjter Friſche. Bor Harlading überkreuzten ıwir auf dem 
Stege den Fluß und jchlugen uns auf das rechte Ufer hinüber. Mein Freund, 
ein fatholijcher ‘Pfarrer, war in üppigiter Stimmung. Cinige Yeute begegneten 
uns mit Gebetbüchern. „Die denken aud, der Schwarze thät' geicheiter, er ginge 
heim und läje feine Meſſe in der Kirch’, brummte er. „Uber die ganze Woche, 
das ganze Jahr thut Umfereins nichts Anderes. Heute hab’ ich Urlaub, heut’ 
am Pfingſtſonntag. Da wird hier draußen Meſſ' gelejen.“ 


DIS | Die Zutunft, 


Ich lachte. Wars meinem teufliichen Gemüth doc) viel licher fo. 

„Und warum ich jo früh geh’? Einfah: wenn naher der Schwarm der 
Münchener mit Kind und Segel herauskommt, ifts nimmer ſchön. Ich mag den 
Wald nicht, wern überall Scherben und Papierfegen und Wurjtfelle herumliegen. 
Darıım fo früh, Noch war Keiner draußen, noch ift Alles friſch und ſchön, ein 
Herrgottsgarten, in dems Einen wohl werden fann.“ 

An der Menterſchwaige machte er Halt. „Sollen wir? Eine erjte friſche 
Mai? Eine halbe?" Er befann jih. Dann eneraiich: „Nein; jonjt bleiben 
wir da boden womöglich und gar früh ifts auch mod.“ 

Alſo vorwärts, dem Ufer entlang, an der großhejelloher Eiſenbahubrücke 
vorbei, gen Grünwald. Herrlich, wie fid das Thal verengte, der Fluß in der 
Felſentiefe rumorte, herrlich der leife raufchende Wald an Ufer entlang. Mein 
Herz war offen und alle meine antifathoiiihen Grobheiten warf ich dem heiligen 
Manne neben mir in trauter Gemüthsruhe an den Hopf. „Wenn die Kirche 
noch jo handelte, wie Chriſtus lehrte“ ... fing ich an. 

„ch, was: laſſen Sie mich aus mit Ihrem Chrijtus!* kam die Antwort. 
„Das bejte Nennpfe.d kann man zu Tod jehinden; und was ilts nachher? Was 
denn? Gin dürrer Klepper ifts, reif für den Wafenmeijter. Und jo macht Ihrs 
nit Eurem Chriſtus; daran joll dann Umnfereiner jeine Freud’ haben, was? Zu— 
ftimmen joll er gar? Gehens mir! Sie find doc ſonſt Schon ein Biljel ge- 
icheiter und paden das Leben nicht gerad’ bei feiner dürrjten Seite an. Chriſtus 
ift and manchmal jpaziren gegangen, und wenns ſchön war draußen, am Yiebjten. 
Und das Dümmſte hat er gerad nicht geredt, wenns jo um ihm gebligt und 
geleuchtet hat, wie um uns Zwei bier. Das Herz tft ihm voll worden und um 
die weijen Hucelmänner drin in den Synagogen hat er ſich den Teufel geſchert.“ 

„Sie, wenn Sie noc) lange jo fort reden“, fiel ich ein, „Dürfen Sie Ihren 
jhwarzen Rock bald an den Nagel hängen.“ 

„Zofort, wenns fein muß! Aber feine Minute cher, als bis Sie Ihr 
Sejellichafttoftüm an den jelben Nagel hängen und die ganze Sippjdaft da drin 
das ihre auch. Nachher, wenn eder fo ericheint, wie er ift, thu ich ſchon 
mit; umd ich werd’ nicht zu Denen gehören, die fid) am Meiften dabei zu ſchämen 
haben. Grad gewachſen bin ich ſchon noch und innerlich iſt auch noch wicht 
Alles verhugelt. Aber jo lang mir die Wahrheitmenjchen jo in ihren Wämmſern 
vor den Angen herumflunfern wie jett, bebalt’ ich das meinige aud) an und jchaff’ 
darin, was mir am Bejten fcheint. Dummes Zeug Friegen meine Bfarrkinder 
feins von mir zu hören und Bolitif ſchon gar nicht. Aber für quten Humor jorg’ 
ich und für einen guten Willen, damit was Rechtes geſchafft wird in der Welt.” 

„Doktor, was id Ihnen erzählen wollte! Am Mittwoch war der Hooperator 
von Sankt Ludwig bei mir. Es drüde ihn ſchon Wochen lang, er müſſe endlich 
Klarheit Schaffen, fing er an. Er könne ſich gar nicht anders denfen, als da 
ich einmal tief gekränkt worden jei.“ 

„Der Gjel!“ brummte der Doktor dazwiſchen. 

„Und fo folle ich ihm mein Herz einmal eröffnen. Er hoffe ſicher, daß 
ich in den Schoß der Kirche zurückkehren werde, wenn erjt diejfe Wolfe aus 
meiner Erinnerung vericheucht jet.“ 

„Haha — ba ha!“ ftand da Einer und lachte. „So cin Wolkenfdhicher! 


Diitelfinten, 519 


Gekränkt muß Einer jein! Anders kann Ter fi) nichts vorstellen. Na und? 
Sie haben ihn doch 'nausgeſchmiſſen hoffentlich.“ 

„Ich? Nein!‘ 

„Was? Nicht? Na, was habens denn gethan? Etwa gar mit ihm dis— 
kurirt? DO, Sie. . .* 

„Na, zuerſt hab’ ich einmal gerade herausgeladht, wie Sie eben.“ 

„Schr gut. Der wird Augen gemacdt haben!“ 

„Milde Augen, wehmüthige Augen, wie der Heilige Aloyjius.“ 

„Ste — redens nicht von Dem! Bon Dem wiljens jo wie jo nichts. 
Alfo ohne Aloyfius weiter mit den Schafsaugen!” 

„a, na! Er ijt doch immer Ihr Kollege, Ihr Konfrater jo zu jagen.“ 

„sa, ja, ich weiß: in Chrifto. Berjtanden? Nur in Ehrijto! Aber eben 
darum ... Na, was hat er dem gejagt?“ 

„Nicht viel! Aber ich Hab’ ihm gejagt, er jolle ſich weiter feine Mühe 
geben, ich hätte meinen Seelforger ſchon und Der jeien Sie!“ 

„Wa—a—a—as?! Nein, da hört fi) ſchon Alles auf. Doc jest muß 
ic) erſt recht wijjen, was er da gejagt hat.“ 

„um, nicht gerade was Schlechtes. Er meinte, Sie hätten leider viel 
zu viel Philoſophie jtudirt. Er habe ji alle Mühe gegeben, ſich in Ihre An— 
ihauungen bineinzufinden. Aber bis jetzt ſei er damit noch nicht durchgedrungen. 
Dod wolle er fi) gern beruhigen, da er vorausjege, Sie feien immerhin ein 
wahrer Bertreter Ehrijti . . .“ 

„OD, dieje wahren Bertreter Ehrifti! Sie wiljen doch, was es heißt in 
unserer jüddeutichen Sprade. Vertreten ijt jo viel wie Zertreten; umd Das 
heißts hier bei ihm.“ 

„Und jo könne er das weitere Werf meiner Rettung Ahnen überlaſſen.“ 

Wie vom Blitz getroffen, jtand mein Begleiter. „Ich, Brojelyten machen? 
Und Sie glaubens womöglid gar, daß ich jo ſchmutzige Geſchäfte treibe, einen 
ehrlichen Kerl von jeiner ehrlidyen Meinung abzubringen? Soldye Yumperei traut 
Der mir zu, diefer Herr Konfrater? Wiflens was: Das iſt ſchon zu dumm, 
jaudumm. Aber Ejel find wir auch, wir Zwei, daß wir ſolches Zeug mit 
daherausichleppen in die pfingitionnige Herrlichkeit. Iſt Das etwa bejier als 
Stäjepapier und Wurjtfelle? Gchens zu und jhämen wir uns bis in die tiefjte 
Seel’ hinein!“ 

Schweigend jchritt der Doktor neben mir. Dann ftand er. Ein Fink 
jchmetterte jein Lied vom nahen Buchenaſt. „Du weit beſſer, was ſich hier 
draußen paßt“, jante der Doktor. „Und von Dir, Du dummes Bich, wie Did) 
die Menfchen nennen, können jie Alle mit einander noch lernen. Aud Sie, Sie 
Wahrheitmann! Lernens von Dem da!“ 

Wieder fchritten wir weiter. Die Sonne leuchtete. Der Fink jang hinter 
uns her. Die Buchenwipfel raujchten leife. Und vor uns winfte das Yiel —: 
Grünwald. 

„Wiſſens was?“ ſagte der Doktor. „Ehe ich mit Ihnen da hineingehe, 
ſag' ich Ihnen was. Jetzt wollen wir Gottesdienſt feiern. Pfingſtgottesdienſt, 
wir Zwei. Wir werden uns eine friſche Maß geben laſſen und ſie mit allem 
Wohlbehagen trinken. Weiter nichts! Verſtehen Sie Das?“ 


520 Die Zukunft. 
„Ich ſchon!“ 


„Alſo weiter! Wenn Sie es nur verſtehen. Die Anderen verſtehens ſo 
wie ſo nicht. Saufen nennen ſies. Schlemmen, ſchlampampen in aller Früh 
ſchon. Aber wir nennens anders: für cin fröhliches Herz ſorgen! Und ich ſag' 
Ihnen, was Ihnen aud Einer daherreden mag, und wenns das Geſcheiteſte 
wär’: e8 giebt feinen ſchöneren Gottesdienst, es giebt überhaupt nichts Klügeres 
auf der ganzen Welt, als dafür zu ſorgen, daß der Menſch ein fröhliches Herz hat. 
Ein fröhliches Herz ift zu allem Guten aufgelegt. Alſo jehe der Menſch, wie 
er daran fomme und ſichs bewahre!“ 

Co jagte mein treuer Seelforger und ich folgte ihn. 

Wenige Schritte nur that er in den Wirthsgarten hinein. Dann jtußte 
er. Und von einem der nod) einfamen Tiſche her erſcholl es freudig: 

‚Wer fommt? Was jeh ih? DO, Ihr guten Geijter! 
Mein Roderich!“ 

„Mein Carlos!" Mein Seeljorger breitete die Arme aus, 

Und berüber jchlugs gar prädtig: 

„Iſt e8 möglich? 
Iſts wahr? Tits wirflid? Bit Dus? O, Du bijts! 
Ich drück' an meine Seele Did, ich fühle 
Die Deinige allmädtig an mir jchlagen. 
O, jegt iſt Alles wieder gut!“ 

Und ein Gelächter, ein Begrühen, ein Erklären ging los, als hätten wir 
uns eine Ewigkeit her nicht gejehen. Und doch: erft den vorigen Dienjtag abend 
hatten der Hofſchauſpieler und ich mit unjerem Sceeljorger verphilojophirt. Schelling 
war das Thema geweſen; und großartig wars, wie unfer Pfarrer uns nach und 
nad; mit diefem Weiſen befannt gemacht hatte. j 

„Daß Sie nur auch da find!“ kicherte er nun fröhlid und jchlug dem 
Hofſchauſpieler auf die Schulter. „Der da hat fich wieder an meinem jchwarzen 
Kittel gerieben. Aber abgefahren ift er. Werd’ mir meinen feinften Rod gleich 
fahl ſcheuern laſſen!“ 

Nun, was jetzt kam, weiß man ja. Wo ſich Drei ſo treffen in München 
oder in ſeiner Nähe, da ſchäumts. Und es ſchäumte aus fröhlichen Herzen. 
„Mathieu, Du biſt wieder einmal recht ausgelaſſen“, hätte unſer pädagogiſches 
Marterfräulein geſagt, wenn fie dabei gewejen wäre. „Geh hinein und fchreibe 
fünfundawanzigmal auf Deine Tafel: Alles mit Maß.“ Sie war nämlid 
überall jehr mäßig; nur das Spruchichreibenlafien und Knuffen und Beten betrich 
fie ftets ohne Mad. Und wenn meine Mutter nicht gewefen wäre, id) glaube, 
ich ſäße heute noch vor meiner Tafel und fchriebe, ſchriebe, ſchriebe ... 

Diſtelfinken! ch hörte ihr Gezwitſcher und ſah ihr buntbeflügeltes, reizendes 
Seflatter. Und alte, bunte Stunden flatterten auf in mir und erzählen von Freuden 
und Leiden und hellen Sonnenjtrahlen. 

Diftelfinfen! Mein Vater batte in feinem Garten einen jungen Kirſch— 
baum gepflanzt, eine Edelkirſche, deren Frucht jo groß fein follte wie eine Kleine 
Pflaume. Im nächſten Frühjahr ſchon blüpte das Bäumden; und ſiehe da: 
ein Diſtelfinkenpaar ſiedelte ſich in der Krone an und baute fein Neſtchen hin: 
ein. Von Weitem ſahen wir den emſigen Vöglein zu und erlebten ihre Freude 


Diftelfinten. 521 


mit, bis eines Tages eine fünflöpfige junge Gejellichaft die beiden Alten ums 
tänzelte auf den ſchwanken Aeſten unferes Kirſchbäumchens. Liebe Kerlchen waren 
es alle und fie piepten jo nett und jchlugen jo unbeholfen noch mit den Flügeln, 
flogen die Alten mit Futter herbei. Neulich ging ich vorüber und jah den Baum. 
Groß und ſtark war er geworden, aber er jtand auf fremdem Boden nun. Und 
weiter ging ih; da jtand auch unjer Haus. Dede, grau, verlajien, die Päden 
geichloffen, die Wege im Garten mit Gras bewachſen, die Roſen verwildert, mit 
braunen, erfrorenen Knoſpen an den jtruppigen Zweigen. Sein Leben mehr, 
feine Sonne, feine Farbe. Nichts rührte fih noh. Dody..da.. um das Rojen- 
beet ſpitzten Tauſende von Scneeglödcden aus der aufthauenden Erde. Ich 
hatte fie einjt gepflanzt, ich jelbjt, direkt unter dem Fenſter, an dem meine Mutter 
immer ja. Da jtand ic nun und jchaute über die Mauer in einen Garten, 
der nicht mehr mir war und wo doc) jo Vieles mein Eigenthum gemwejen. Ein 
Anderer ijt nun Herr unjeres Hauſes und unferes Gartens. Alle Sonnenftrahlen 
gönne ich ihm. Und wenn erjt wieder im Garten Blumen blühen und Dijtel- 
finfen zwitichern und liebe Kinderjtimmen erjchallen und wenn ein Bube fi 
findet mit glänzenden Augen, der meinen felbjtgezimmerten Taubenjchlag wieder 
aufbaut und fich an meinen Veilchen erfreut, jo will ich in die Hände klatſchen und 
jubeln, da Leben, jonniges Leben da wieder einzog, wo jegt Erinnerung nur mit 
grauem FFlügelichlage flattert. 

Diſtelfinken: jchnell! Kommt rajch zurüd! Laßt Euch nicht fchreden! 
Nur eine kleine Wolfe wars, die eben vorüberzog. Seht: dort treibt fie jchon 
bin vor dem Winde, ein flatterndes Segel, — und hinter ihr her ſchießt es aus der 
Höhe mit goldenen ‘Pfeilen, 

„Mama, bringit Du uns was mit?“ |prudelt mein Blondlopf. 

„Nein, heute nicht! Ich hab’ fein Geld.“ 

„DO, dann komm’ jchnell zum Papa! Der giebt Dir Geld. Der hat 
immer furchtbar viel Geld.“ 

Diejes unerfhütterlihe Vertrauen des Kindes in jeinen Papa! Das 
muß doch wirflid ein reiher Mann fein, dem ein Kind jo vertraut! Nicht 
wahr? md wie hilft mie der Kleine jchon, wie tröjtet er! Neulich entfuhr es 
mir: „Deute nid! Ich hab’ fein Geld!“ 

„oO, jei nur ruhig! Morgen geh’ ich auf die Poſt und fauf! Dir Geld. 
Und dann bring’ ichs Dir, eine ganze Hand voll.“ 

Morgen! Eine ganze Hand voll! Bei jolden jchönen Ausfichten läßt 
jih$ doc) ruhig leben. Und jo überlegen wir heute, was wir morgen mit all 
dem Gelde thun. Drüben winken die Taunusberge in wunderbarer Bläue und 
rechts davon liegt Frankfurt. Alſo morgen gehts nad Frankfurt zum Onfel 
Doktor und dann holen wir den Baul und laufen Alle in den Zoologiſchen Garten. 
Morgen! Gelt? Und dann jchen wir Yöwen und Bären und Affen und... 

„Die ganz, ganz Kleinen — jo Klein — Aeffchen jehen wir dann“, fällt 
mir mein Schatz ins Wort. 

Aljo morgen! Und Das wird fein dann! 

Diitelfinten! Da fliegt mein bunter Schwarm auf und davon! Laßt fie! 
Sie werden ſchon wiederfommen. Und wenn fie fommen, wirds neue Freude geben. 


Laubenheim. Mathieu Schwann. 
v 


522 Die Zuhmtft. 


Erner und Genoſſen. 


F genau ein Jahr nach dem Zuſammenbruch der Leipziger Bank vollzieht 
> ſich an der Pleiße das Strafgericht über die Aufſichträthe und Direktoren 
des verfrachten Inſtitutes. Heute wirds Einem beinahe jchon ſchwer, ſich auf 
die Einzelheiten diejes Falles zu bejinnen; die ungewohnte Fülle der in zwei 
Jahren gehäuften Finanzkataſtrophen verwirrt das Gedächtniß. Und doch war 
gerade der leipziger Krach nicht nur das unerwartetejte, jondern wohl aud) das 
am Weiteften fortwirfende von allen Ereigniſſen der letzten Kriſis. Daß große 
Attienfapitalien nicht vor dem Zuſammenbruch ſchützen, daß die allerjchönften 
bilanzmäßigen Nejervefonds wie die Spreu vor dem Winde zerflattern: dieje 
alte Erfahrung hat noch jede Schwindelaera erneut. In Yeipzig aber brad) mit 
der einzelnen Bank aud) eine ehrwürdige Tradition zujammen und ein Graujen 
ging durd die Bureaux. „Weld Haupt jteht feſt, wenn diejes heilge fiel?“ 
Nach dem Krach habe ich hier Einiges aus der Geſchichte der Yeipziger Bank 
erzählt und daran erinnert, daß vor bald jiebenzig Jahren nicht das jpefulative 
Bedürfniß des Augenblides, fondern die gebieterifche Forderung der wirthichaft- 
lihen Zuſtände zur Gründung diejes Inſtitutes trieb. Seit es ein Deutiches 
Reich gab, ſank die alte Leipzigerin jacht zum Rang einer Provinzbant herab. 
Immerhin blieb ihr ein Theil des früheren Nimbus und der überlieferte Huhm 
wirkte noch jo ſtark, daß die Leipziger Gejchäftsariftofratie jich in den Aufjicht- 
rath drängte und viele Groffaufleute der alten Meßſtadt es gewiſſenmaßen 
für eine Ehrenpflicht hielten, wenigjtens einen Theil ihrer Geichäfte durd; die 
Leipziger Bank zu machen. Das muß man bedenken, um zu verjtchen, welche Ee- 
deutung der Sturz diejer Bank für Yeipzig hatte, Die Vaterſtadt wurde pekuniär 
von der Statajtrophe natürlich härter als irgend ein anderer Ort getroffen; noch 
ihmerzhafter aber war die pſychiſche Wirkung des Stoßes. Die alten Leipziger 
fühlten ihre lokale Ehre getroffen; ihr partikulariſtiſches Gemüth war im tiefiten 
Grunde verlegt. Das merkt man noch jeßt, wern man mit Leipzigern über 
den Prozeß ſpricht. Sogar die Dotelportiers, denen die vielen Säfte, Zeugen 
und Sadjverjtändige, die der Prozeß heibeigeführt hat, doc, recht anjehnlichen 
Berdienjt bringen, fluchen Deren Exner. Freilich iſt Exner fein Sadıle, für 
Klein: Paris aljo, was den Hellenen jeder eyremde war: ein Barbar. Da kann 
der Zorn ſich zügellos austoben. Der frühere Direktor Dr. Fiebiger und Exners 
Mitdireltor Dr. Gentzſch, deren Vergehen viel milder beurtheilt werden,’ jtammen 
aus Sachſen; mit einem Schein von Recht kann deshalb der ſächſiſche Spieß— 
bürger ausrufen, er habe ja ftets gejagt, das Gute, Echte, Solide wachſe eben 
dod nur im Yande der Wettiner. Die Menge ift zu Eurzfihtig, ur einfehen 
zu können, daß Exner jo gefährlich nur werden fonnte, weil jein Tr.iben vom 
ſächſiſchen Geſchäftspartikularismus fajt völlig der Kontrole entzogen t.ar; man 
konnte ihm von außen ber nicht in die Karten ſehen und jo fand er die Mög— 
lichfeit, feine Betrügereien Jahre lang zu verjchleiern. 

Intereſſant war in der Serichtsverhandlung zunächſt die Enthöllung der 
Gründe, die zum Engagement Exners geführt hatten. Die Bank war greijen- 
haft geworden und man bramdıte Friihes Blut. Was aber greijenyaft und 
marajtiich Ichien, war zum Theil einfach nur ſächſiſch. Man kann ſich, wenn 


Erner und Genoijen. 523 


man nicht lange in Sachſen gelebt hat, kaum vorjtellen, daß es außer Mecklen— 
burg nod einen deutjchen Bundesitaat giebt, in dem BZuftände, die uns faſt 
mittelalterlich jcheinen, ſich im wirthichaftlichen Leben jo lange und jo gut Fon: 
jervirt haben. Der gebildete, modern empfindende Sadje klagt und jeufzt jelbit 
darüber: aljo muß es wohl wahr jein. Einen fleinen VBorgeihmad befommt 
jhon der Fremde, der in einem der beiden erjten Hotels in der Roßſtraße ab» 
jteigt. Preiſe, Eifen, Bedienung entipreden wirklid dem Rang eines eriten 
Hotels. Die innere Ausjtattung aber ift, werm man von einem Bishen Stud 
und weichen Teppichen abjieht, fait noch genau jo, wie man fie vor fünfzehn 
Jahren zu jehen gewohnt war. Daneben jind pradhtvolle, modern ausgejtattete 
Hotelpaläjte entjtanden; aber die beiden alten Hotels gelten den meiften Leip— 
zigern heute noch als die feinjten. Bon dem Segen der freien Stonfurrenz till 
der Durchſchnittsſachſe nichts hören. Die Regungen eines allen Fortſchrittswünſchen 
mißtranenden Geiſtes jpürte man auch in der Geſchäftsführung der Leipziger 
Bank. Als Exner, der in der Deutſchen Bank gelernt hatte, das Gelernte in 
jeiner neuen Stellung verwerthen wollte, gefiel den verehrlichen Aufjichträthen 
an der neuen Manier jehr Bieles nicht. Bejonders fanden fie, es jet unter der 
MWürde ihres Tinititutes, mit allzu vielen Offerten jpefulativer Art an das 
Publikum heranzutreten. Ein Aufjihtrathsmitglied jagte in der Hauptverband: 
lung aus, die etwas wilde Betriebiamteit Erners jei an dem geſunden Sinn 
der Leipziger Bevölkerung jchließlich gejcheitert. 

Nicht nur um eine wirthichaftliche, Tondern auch um eine lofalpatriotijche 
Angelegenheit handelt es ji alſo in Leipzig. Deshalb ift der Andrang zur 
Dauptverhandlung auch viel jtärfer als etwa in Berlin beim Prozeß Sanden. 
Man mul auc zugeben, daß die leipziger Angeklagten interejlanter find. zijn 
Berlin ift eigentlich nur Eduard Sanden, vielleicht auch noch Eduard Schmidt 
pſychologiſcher Beachtung werth; die meilten anderen Angeklagten find geijtig 
unbedeutende Dugendinenjchen. Exners Nachbarn auf der Anklagebanf erregen 
ſchon deshalb Intereſſe, weil fie den feiniten Nreijen angehören. Unter den 
Auffihträrhen finden wir zwei Mittmeilter der Landwehr, einen Nitter des Ei: 
jernen Kreuzes zweiter Klaſſe, drei Ritter des Albrechtordens; und die ſchönen 
Titel eines füniglichen Kommerzien- oder Stammerrathes ſchwirren an andäch— 
tigen Ohren vorbei. Schon jet möchte ich, nadı dem perjönlichen Eindrud, 
behaupten, daß diefe Männer wirklich dupirt worden find. Welches Intereſſe 
jollte jie zum Beirug treiben? Sie waren reiche, angejehene Leute, find zum 
Theil noch jest Inhaber erjter Leipziger Firmen und hätten, um ihren geidhäft- 
lichen Ruf zu wahren, ſicher ohne Zaudern ihr ganzes Vermögen geopfert. Sie 
wußten vielleicht nicht, in welchem-Umfang ihre Bank jich bei der Trebertrodnung 
engagiert bitte. Exner kann jie hintergangen haben. Trotzdem find fie nicht unfchuldig. 
Nach den Weſetz iſt „jeder jtrafbar, der in der Wahrnehmung der Aufjichtraths: 
geſchäfte die Zorgfalt eines ordentlihen Kaufmanns vermijjen läßt. Gegen 
dieje Borichrift Haben die Herren gejündigt. Es iſt lohnend, darauf zu adien, 
wie oft die jelben Menſchen, die im ihren eigenen Geſchäften ſich gewiß peits 
lichiter Sorafalt befleißen, als Aufjichträthe ihre Pflicht nicht erfüllen. Einen 
großen Theil der Schuld trägt die Mißbildung uujeres Aufſichtrathsweſens. 
Auch bei der Leipziger Bank gab es eine „Obligokommiſſion“, der allein das 

39 


524 Die Zufimft. 


Recht zuitand, die einzelnen Debetjalden zu prüfen. Wer dieſer Kommiſſion nicht 
angehörte, kümmerte fich nicht jelbitändig um diefe Dinge; ja, er durfte und 
konnte fich eigentlich gar nicht darum kümmern: denn nicht jedes Auffichtraths- 
mitglied ijt ohne Weiteres befugt, die Bücher und Skripturen der GSefellichaft 
einzujehen. In Leipzig jcheinen die Uuffichtrathsfigungen oft, jchon che fie be- 
gannen, protofolirt worden zu jein. Die Herren ſahen in ihrer Thätigfeit aljo 
jelbjt nicht viel mehr als eine Komoedie. Der Auffihtrath hat bei ung ja über- 
haupt eine Zwitterftellung; er jol nicht nur für eigene Thaten, jondern auch 
für die Anderer haften, deren Geſchäftsführung er doch nicht bis ind Einzelne 
zu prüfen vermag. Und je länger Aufjichtrath und Direktion zufammen arbeiten, 
vielleicht auch gejelichaftlich mit einander verfehren, um jo jchwächer wird natür« 
ih das Gefühl der Kontroleurpflidt. Ein gebeihliches Arbeiten wäre ja nicht 
möglich, wenn der Auffichtrath die Direktoren von vorn herein als Schwindler 
betrachtete; ein gewijjes Maß von Vertrauen muß er ihnen entgegenbringen. 
Thut er Das aber, dann darf man ſich auch nicht wundern, wenn er nicht ohne 
Beweisgrund annimmt, die Direktoren könnten ohne die geringite thatjächliche 
Unterlage Bojten in die Bilanz einftellen. 

In dem leipziger Fall könnte der Auffichtrath übrigens die Perjönlichkeit 
Erners als Entlaftungmoment anführen. Man muß Erner vor Gericht gejehen 
haben, um zu begreifen, wie er auf feine Leite wirkte. Er hat jtahlharte blaue 
Augen und einen prächtigen blonden Vollbart, konnte alfo bei jähfiihen Anti- 
jemiten fein Mißtrauen erregen. Er ift ein jchöner, eleganter Mann, weiß mit 
den Worten trefflih zu jongliren und bat für die Fnifflichjten Dinge die ein- 
fachſten Aufflärungen. Wer je im Gefühl feiner Unſchuld vor Gericht jtand, 
bat unter dem Bewußtſein gelitten, daß der auf der Sünderbank Sitende von 
vorn herein als jchuldig gilt; der jelbe Menſch würde, wenn ihn die Nobe des 
Staatsanwaltes zierte und er in lauten Brufttönen gegen einen Verbrecher 
mwetterte, ein tadellojer Ehrenmann jcheinen. So wird denn jegt auch Exner 
überall für einen Schwindler gehalten. Aber man denke ſich den vornehmen, 
liebenswürdigen Herrn nicht als Angeklagten, denke ihm fich der muffigen Luft 
des Gerichtsjanles entrüdt und man wird jofort verjtehen, daß er dem Aufjicht- 
rath über jeden Verdacht erhaben ſcheinen mußte. Natürlich können auch diefe 
mildernden Umjtände den Auffichtrath nicht völlig entlaften; er hat fi denn 
dody allzu lau und nachgiebig gezeigt. Als die Konkurrenz erbittert gegen die 
Trebergejellichaft fämpfte, meinten die leipziger Derren, gerade in dieſer Er» 
bitterung den Anlaß zu gejtärftem Bertrauen finden zu follen. ‚Denn‘, jagt 
einer der Mitangeklagten, der Inhaber der vornehmen Bankfirma Frege & Co., 
„denn es mit der Trebergejelljchaft wirklich jo faul jtand, dann konnte die Kon— 
kurrenz doch gar nichts Beſſeres thun als: ruhig zujehen, wie die Trebergejell- 
ſchaft ſich jelbjt zu Grunde richtete.” Die Konkurrenten der Kafjeler hatten aber 
allen Grund, nicht ruhig zu bleiben. Die Direktoren der Trebergejellichaft hatten, 
weniger in betritgerijcher Abficht als unter dem Einfluß wachſenden Größen- 
wahres, weit unter dem Marktpreis große Abſchlüſſe gemacht, deren Erfüllung 
ihnen nicht möglich war, da fie ſolche Mengen gar nicht produziren Eonnten. 
Nicht nur machten fie damit jel"jt kein Geſchäft, jondern fie ruinirten auch nod) den 
anderen Firmen den Markt. Die anaeklagten Auffichtrathsmitglieder führen zu ihrer 


Notizbuch. 525 


Entlajtung aud an: der hohe Kursſtand der Bankaktien habe doch bewiejen, daß 
Niemand Mißtrauen gegen die leipziger Bank hatte; weshalb jollten gerade jie da 
mißtrauisch werden? Merkwürdig; die Herren gehörten jelbit einem Hauſſe— 
tonjortium für Treberaftien an, wußten aljo, wie mans anftellen muß, um den 
Aktienkurs und den Schein jtrenger Solidität bis kurz vor dem Zufammenbrud) 
aufrecht zu erhalten; und da genügte ihren vertrauenden Herzen ein Blid auf 
den hohen Kursſtand der Leipziger Bank? Feitgeftellt ijt ja auch, daß ein Kon— 
jortium die Aufgabe hatte, alles Material an Leipziger Bank-Aktien aufzufaufen, 
das an die Börje fam. Trotz Alledem wird die civilrehtliche Klage auf Schadens- 
erja vielleicht dem Aufjichtrath gefährlicher werden als das Strafgericht, das 
ihn wahrjcheinlih nur der Fahrläſſigkeit jchuldig finden wird. 

Biel jchlechter fteht Erners Sade. Er wußte, welche Unjummen jeine 
Bank den Kafjelern geliefert hatte, und hat — mag er lange auch vom Treber- 
ſchmidt getäufcht worden jein — ſchließlich bewußt gelogen und gefälſcht. Auch 
des Betruges und des betrügerifchen Bankerottes ift er bezichtigt und man kann 
ihm den Groll gegen die großen berliner Banken nachfühlen, die ihn nicht janiren 
wollten; fommt er ins Zuchthaus, jo wird er ihrer Weigerung die mittelbare 
Schuld zuichreiben. Der Paragraph, der den betrügeriichen Bankerott mit Zucht— 
hausjtrafe bedroht, macht die Strafbarfeit von der in gewiſſem Umfang will 
fürlich zu jchaffenden oder zu meidenden Thatjache abhängig, da der Konkurs 
eröffnet ift oder die Zahlungen eingejtellt jind. In dem leipziger Fall aber 
kommt man über dieje Konftruftion leicht hinweg; denn da Erner, wie fejtge- 
jtellt ift, da$ Vermögen jeiner Frau und feiner Kinder bei Seite geichafft hat, 
muß er fi der Gefahr jeines Treibens bewußt geweien fein. 

Man hat für Herren Erner den ſchärfſten Staatsanwalt ausgeſucht. Auch 
der Schwurgerichtspräfident gilt als ein jcharfer Herr und guter Juriſt, der, 
wie man in Leipzig erzählt, nächitens ins Reichsgericht berufen werden wird. 
Entjheiden wird natürlich der Spruch der Geſchworenen. Die Verteidigung 
hat ihr Ablehnungrecht benußt, um die Zahl der Leipziger unter den Gejchworenen 
möglichit zu bejchränfen. Namentlich die Sejchäftsleute waren ihr unwillkommen. 
Wie bei Brandſtiftungprozeſſen die ländlichen, jo werden bei Konkursvergehen 
gern die faufmänniichen Geſchworenen von den VBertheidigern ausgemerzt. Das 
Scidjal der Leipziger Bank aber hat jedes Sachſenherz bewegt, den Sachſenſtolz 
gedemüthigt und idy glaube nicht, daß es jelbit dein jchlauften Kriminalanwalt 
gelingen könnte, für diefen Prozeß Geſchworene zu finden, deren Seele von jedem 
vorurtheilenden Haßgefühl gegen Erner und Genoſſen frei ijt. Plutus. 


Notizbuch. 


I N ief erjchüttert, riefen die lärmenden Nekrologe, die dem König Albert von 
SIND Sadjjen ins Grab nachhallten, jtehe das ganze deutſche Volk an der Bahre eines 
unerſetzlichen Monarchen. Das iſt neudeutjcher Stil. Immer muß es das ganze 
deutſche Volk fein; und ohne tiefe Bewegung, tiefe Erfchütterung jcheinen Feierreden 


39* 





526 | Die Zulunſt. 


und Leitartifel nicht mehr zu leiſten. An dieje leere Phraſeologie hat Jeder ſich Längft 
gewöhnt und der tragirende Schwäßer, der feine zujammengelejenen Broden mit 
großen Grimaſſen unermüdlich vorträgt, wird faum nod) ausgeladht. Die jchönen 
Tage, da wir über die Schwagichweifigkeit der Franzoſen jpotten durften, kehren jo 
bald wohl nicht zurüd. Natürlich war auch diesmal von einer Erſchütterung nichts 
zuipüren. Ein dreiundjichenzigjähriger Derr, der feit Jahren frank war, ift geftorben 
und ein anderer alter Derr heißt jet König von Sachſen. Jenſeits von den grün— 
weißen Grenzpfählen iſt der Wechſel nicht als ein Greignif empfunden worden und 
für unerjeglid haben jelbft die Sachſen ihren alten Albert nicht gehalten. Er 
war tüchtig, gewiſſenhaft, hatte Menſchenverſtand, wußte fi, als Greis wie als 
ssüngling, weiſe zu bejcheiden und wollte nie als der Protagonift auf dem 
Bordergrund der Bühne bewundert werden. Vielleicht ift auf die Verſöhnlichkeit 
jeines Gemüthes, auf die raſche Energie nicht genug hingewiejen worden, die ihn 
aud mit jchmerzender Erfahrung ſich ſchnell abfinden hieß. Dieje Eigenſchaft wurde 
gerade in der Epoche der deutſchen Einheittänpfe wichtig. Die ſächſiſchen Partikula— 
rilten hätten den Kronprinzen, der auf Böhmens Schlachtfeldern gegen die Preußen 
gefochten hatte, gern zum ‚Führer erforen. Die Stimmungwar damals aud) ineinem 
großen Theil der Oberſchicht noch entſchieden antipreußiſch und murrender Groll 
empfing jeden Eleinjten Verſuch, VBoruffenfitte nach Zadjjen zu tragen. Als den 
ſächſiſchen Seneralen der jchöne Treſſenhut genommen, Artilleriften und Infante— 
riſten die Pickelhaube aufgeftülpt wurde, ging ein Stlageruf durch das Rautenreich 
und in „Sachſens Nilitärvereinstalender“ las man harte Worte überdenneuenSchritt 
zur Uniformirung des deutſchen Heeres; Sachſens erzwungener Eintritt in den Nord- 
deutſchen Bund, hieß es da, dürfe doch nurdienächite,nicht diefernere Zufunft des König— 
reiches binden. „Gott, der Sachſen durch den Jammer des Siebenjährigen Krieges 
und des ruſſiſch-preußiſchenCßHouvernements geführt und zu neuer Blüthe emporgebracht 
hat, wird auch diesmal nach finſterer Nacht den ſchönſten hellen Tag anbrechen laſſen.“ 
Der Abgeordnete Wölfel las am neunten Dezember 1867 dieſe Sätze im Reichstag 
vor und fügte hinzu, die Tonart müſſe um ſo mehr auffallen, als der Kronprinz 
Albert der Protektor des fächſiſchen Militärvereins ſei. Bismarck konnte anworten, 
der Kalender ſei „eine Privatſpekulation“ und es ſei „ganz undenkbar, daß ange— 
ſichts der nationalen, patriotiſchen und vertragtreuen Haltung der königlich ſächſi— 
ſchen Regirung irgendeine höhere amtliche Stelle im ſächſiſchen Land ſolche Ausdrücke, 
wie ſie dieſer Kalender über das Bundesverhältniß enthält, ſanktioniren ſollte.“ Ein 
paar Tane danach ſchrieb ihm der Kronprinz von Sachſen: „Verehrter Herr, Graf, 
ich kaun mir nicht verſagen, Ihnen meinen wärmſten Danf für die Art auszu« 
ſprechen, wie Zie fi) meiner auläßlich des unglücklichen Militärkalenders ange— 
nonmmen haben. Ich bramde wohl nicht erft zu verjichern, daß mir die Sache ganz 
fremd ift, ja, daß ich die Exiſtenz dieſes Machwertes kaum ahnte. Es tft übrigens 
nichts dahinter zu ſuchen als Reminiſzeuzen einer vergangenen Periode. Sie 
wiſſen, daß; Dergleiden in den unteren Schichten des Volkes noch zu haften pflegt, 
wenn die oberen längit eines Befjeren belehrt jind. Die unteren auf unjeren Stands 
puntt zu bringen, iſt jetzt unjere ettrigite Sorge... . Judem ich um die Fortdauer 
Ihrer loyalen Geſiunnug gegen mein Baterland und Ihres Wohlwollens gegen mich 
bitte, verbleibe ich Ihr ergebener Albert.“ Aus Bismards Antwort find die Sätze 
hervorzuheben: „Ich ſehe es als die nächſte Auſgabe der Bundespolitik an, dahin zu 


Notizbuch. 527 


ſtreben, daß alle Bundesgenojjen Preußens, namentlich aber der hervorragendite 
unter ihnen, das Königreich Sachſen, es nicht blos als eine Vertragspflicht, jon- 
dern als ein werthvolles Recht anfehen, dem Bunde anzugehören. Dieje Bedeutung 
kann der Bund für feine hohen Genojjen nur dann haben, wenn den Souverainen 
die Ueberzeugung bleibt, daß fie durch die Gentralifirung eines Theiles ihrer Nechte 
in der Hand Eines unter ihnen eine nach menſchlichen Begriffen fihere Bürgichaft 
für die Gejammtheit ihrer fonftigen Nechte erworben haben und daß dieſe Rechte 
gegen den Drud innerer Bewegung eben jo gewiß geſchützt find wie gegen äußere 
Gefahren. In diefem Sinn der Gegenjeitigkeit und Solidarität unter den hohen Ge- 
noflen des Bundes jehe ich e8 für eine Pflicht des Bundesfanzlers an, das Anjchen 
und die Rechte der fürftlichen Häufer innerhalb des Bundes mit eben jo gewiljen« 
haftem Eifer zu wahren wie das des eigenen Landesherrn.“ Statt Albert3 derb 
menjchliche Sejtalt greinend ins Weſenloſe zu reden, jollte man folche Erinnerungen 
auffriihen. Sie zeigen, welche Stellung der Kaiſer, welche der Kanzler im neuen 
Reich haben follte, und liegen uns näher, können uns nüßlicher werden als die 
Vhantafieflüge in die verichollene Herrlichkeit der Karlingertage. 
* * 


* 

In dieſe Zeit zieht den Deutſchen Kaiſer des Herzens Sehnſucht. Er möchte, 
wie ſein Vater, den Guſtav Freytag darum faſt zornig ſchalt, das neue Kaiſerthum 
an das alte kitten. „Aachen“, ſagte der Kaiſer in einer der vielen Reden, die in rheiniſch— 
weſtfäliſchen Städten Beifall gefunden haben ſollen, „Aachen iſt dieWiege des deutſchen 
Kaiſerthums; denn hier hat der große Karl ſeinen Stuhl aufgerichtet“. Den Stuhl 
der alten Kaiſer hatte, als in Berlin der erſte Reichstag eröffnet werden ſollte, der 
Kronprinz ‚Friedrich Wilhelm feinem Vater hingejchoben. Freytag wünſchte das aus 
dem Urwald deuticher Geſchichte ſtammende Schaugeräth zum ehrwürdigen Trödel 
und rief: „Wir haben eine entichiedene Ubneigung, Erinnerungen an das alte Kaiſer— 
thum des Heiligen Römiſchen Neiches im Daufe der Hohenzollern wieder aufgefrijcht 
zu ſehen. Wir im Norden haben den Kaijertitel uns — ohne große Begeifterung — 
gefallen lajjen, jo weit er ein politiſches Machtmittel ift, unferem Volk zur Einigung 
Helfen mag und unjeren Fürſten ihre ſchwere Arbeit erleichtert. Aber den Kaijer- 
mantel jollen unjere Hohenzollern nur tragen wie einen Offiziersüberrod, den 
fie im Dienft einmal anziehen und wieder von fich thun; ſich damit aufpugen 
und nad altem Kaijerbrauc unter der Krone dahinjchreiten follen fie uns um 
Alles nit. Ihr Kaiſerthum und die alte Kaiferwirthichaft follen nichts gemein 
haben als den — leider — römijchen Caeſarnamen. Denn um die alte Staiferei 
ſchwebte jo viel Ungefundes, jo viel Fluch und Verhängniß, zulegt Ohnmacht und 
elender Formenkram, daß fie uns nod) jet ganz von Herzen zuwider ift. Von Pfaffen 
eingerichtet, durch Pfaffen geweiht und verpfuſcht, war fie ein Gebilde des faljcheften und 
und verhängnihvolliten Idealismus, der je Fürſten und Völkern den Sinn verftört, 
das Leben verborben hat... Heute ijt der Nation das Geremoniell und die äußerliche 
Darjtellung jeinesstaijerthumes nur jo weit erträglich, wie das Umwejentliche nicht die 
Zeit und den thätigen Ernft jeines Yebens beengt.“ Für das Büchlein, in das diefe 
Säge aufgenommen find, hat der Staijer einjt dem Bildner deutjcher Bergangen- 
heit gedankt; jegt würde er ihn wohl hart tadeln. Der Glanz der alten Theokra— 
tie hat es Wilhelm dem Zweiten angethan. Und der Kaiſer bewundert das blendende 
Buch des Herrn Chamberlain, dejfen germanocentriiche Auffaffung der Weltgefchichte 


528 Tie Zuhunit. 


ihm gefallen mußte. So ift aus jehr verjchiedenen Eindrüden eine Anſchauung ent» 
ftanden, deren befremdende Spur in den legten Reden wieder bejonders ſichtbar 
ward. Auch die Energie Karls des Großen, hat Yampredt gejagt, vermochte nicht 
eine neue germanijch-Hriftliche Kultur aus dem Boden zu jtampfen; „jo ungeheuer 
jein Wagniß und jo unbegrenzt jeine Kraft erjcheint: bier fämpfte er gegen den 
Genius der nationalen Geſchichte ſelbſt.“ Der Kaiſer blidt zu dem Manne, dervom 
Gottesſtaat träumte und dejien Liebling deshalb Auguftinus war, wie zu einer fled- 
loſen Idealgeſtalt auf und jcheint zu hoffen, noch heute könne der theofratijche Traum 
Wirklichkeit werden. Die Germanen find nad feiner Meinung zur Weltherrichaft prä: 
dejtinirt. Noch find nicht zwei Jahre vergangen, jeit er das römiſche Weltimperium pries 
und den Wunjch ausſprach: ‚Dem Vaterland möge beſchieden jein, jo feit ge 
fügt und jo maßgebend zu werden, wie es einft das römische Weltreich war.‘ est 
heit es: „Zerbröckelt und morſch wankte der römische Bau und erjt das Erſcheinen 
der fiegesfrohen Germanen mit ihrem reinen Semüth war im Stande, der Welt« 
geichichte den neuen Yauf zu weijen, den fie bisher genommen hat.“ Die Deutſchen 
jind das einzige Wolf, das noch Ideale hat, das einzige, „wo nod Zucht, Ordnung 
und Disziplin herricht, Reſpekt vor der Chrigfeit, Achtung vor der Kirche“; „kein 
Werk aus dem Gebiet neuerer Forſchung, das nicht in unferer Sprade abgefaßt 
würde, und fein Gedanke entipringt der Wiſſenſchaft, der nicht von uns zuerſt ver— 
werthet wirde, um nachher von anderen Nationen angenommen zu werden.‘ Dieje 
Behauptung wäre recht ſchwer zu beweijen; und der Politiker könnte, auch wern 
fie bewiejen wäre, nicht empfehlen, jie öffentlich auszufprechen. Erfreulider ang 
nüchternen Deutjchen, was der Kaiſer über die Aufgaben des neuen Kaiſerthums 
jagte: cs joll nicht, wie das alte, „unter der Sorge um das Weltimperium das 
germanijche Wolf und Yand aus dein Auge verlieren‘, jondern, „nach außen be 
ſchränkt auf die Grenzen unferes Landes“, nad) innerer Kräftigung feines Beſitzes 
jtreben. Das tft ein ftarfes Argument gegen den exrpanfiven Imperialismus und 
völlig unvereinbar mit dem Wort: „Unfere Zukunft Liegt auf dem Wafjer” ; für den 
Kaiſer liegt fie jet im Grenzbereich unjeres Landes, auf den wir „nad außen be— 
Ichränft“ find. Und: „die Wurzeln der Kaiſerkrone ruhen im märkiſchen Sand“. Man 
muß abwarten, ob dieje Worte wieder verhallen werden oder eine Umkehr anfünden 
jollten. Das hohe Ziel ihres nationalen Yebens werden nad) des Staijerd Meinung 
die Deutjchen nur erreichen, wenn fie fromme Ghrijten jind. „Ob wir moderne 
Menſchen find, ob wir auf diefem oder jenem Gebiet wirken: Das ijt einerlei. Wer 
jein Yeben nicht auf die Bajis der Religion jtellt, Der ift verloren.“ Armer Alter 
Fritz, armer Goethe, arme Moderne, die Ihr nad) der jchmerzlich vermißten Einheit 
in Denten und Dandeln drängt, unter Qualen um eine neue Weltanfhauung ringt: 
Ihr feid unrettbar verloren. Wie ein alter Kaiſer, „stellt“ Wilhelm der Zweite 
„das ganze Reich, das ganze Wolf unter das Kreuz." Und Niemand erinnert 
den frommen Volfsrepräjentanten ehrerbietig daran, daß heute Abermillionen von 
der Wurzel jeines Glaubens gelöft find, der fie lange genug in lähmende Wibder- 
Iprüche zwischen Belennen und Thun gebannt hielt, und daß feit den wittenberger 
Tagen das Berhältnig zu Gott die perjönlichite Sache des Einzelnen geworben ift. 
Niemand. Der Statjer, der summus episcopus des preußiichen Proteftantismus, 
ipricht von der „großen Zeit der Neformation“ und nennt dennod) den Papſt, wie 
der aläubigite Katholif, den „Deiligen Vater” und freut fi) der Anerkennung, die 


| Notizbuch. | 529 
Leo der Dreizehnte in einem Privatgejpräd dem Zuftand des Deutichen Reiches ge- 
Ipendet haben joll. Welche Kraft, muß man, nicht zum erjten Mal, fragen, bleibt 
einem Proteftantismus, der gegen Rom nichtmehr protejtirt? Was hindert ihn noch, 
die Kluft endlich zu jchließen und den ‚‚Deiligen Vater” von dem ärgernden Anblid 
eines Ketzervolkes zu befreien? ..... Wenn der Regirungzeit Wilhelms des Zweiten 
einjt ein Angilbert entjteht, wird er melden müſſen: von Jahr zu Jahr jei es den 
Aufrechten jchwerer geworden, fi in den Gedankengängen des Kaiſers zurechtzu- 
finden; dod) jo ungeheuer jei dazumal im Lande der „Germanen mit deu reinen 
Gemüth“ die Macht der Deuchelei und Lüge geweſen, daß der Kaiſer die Wirkung 
jeiner Reden beim beiten Willen nicht zu ahnen vermochte und, da ungehemmt fein 
Ruf zu ihm drang, mit unerjchütterter Zuverficht an die Auswählung des Voltes 
glauben konnte, das ihm die wichtigste Pflichtleiftung, Wahrhaftigkeit, jchuldig blich. 

* * 


Herr Karl Jentſch ſchreibt mir: 

‚Meinem Artilel Induſtrieſtaat oder Agrarjtaar?‘ eine kleine Ergänzung 
nachzuſchicken, veranlaßt nid) ein Buch, das ic) erjt jegt gelejen habe: ‚Deutihland 
am Sceidewege‘ vom Dr. Ludwig Pohle. Es ift ein vortreffliches Buch und ich bin 
namentlich mit Dem einverjtanden, was darin über die Tendenz des Weltverfehres 
gejagt wird: daß wir nicht der ungefunden Scheidung der Yänder in Induſtrieländer 
und Agrarländer entgegengehen, jondern einem Zujtande, wo alle Staaten Mgrar- 
Induſtrie-Handelsſtaaten jein und nicht Agrarprodufte gegen Anduftrieerzeugnifie, 
jondern Induſtriewaaren gegen Induſtriewaaren und Bodenerzeugniffegegen Boden- 
erzeugnijje austauschen werden, — mit den Ausnahmen natürlich, deren Bejeitigung 
die Klimaunterjchiede verwehren. Daß die deutjche Pandwirthichaft im Mugenblid 
hohe Getreidezölle braucht, weit Pohle beinahe überzeugend nad); über Das aber, 
‚ was in Zukunft, jagen wir nad) dreißig Jahren, werden joll, jet er jich zu leicht- 
fertig hinweg, mit Dilfe eines Mittels, das alle Nationalölonomen von Yadı, 
ſowohl die agrarierfreundlichen wie ihre Gegner, jede Partei für ihren bejonde- 
ren Zwed, anzuwenden pflegen: er umgeht vorfichtig die Bodenfrage. Und Das 
veranlaft nun einige Trugichlüffe, die zu intereffant jind, als daß ich mid) nicht 
verjucht fühlen follte, wenigftens zwei davon anzumerken. Pohle beweilt, daß es 
nicht der Unterjchied der Bodenpreife, ſondern die Verfchiedenheit des Betriebes 
ift, was die amerifanijche Produktion wohlfeil und die deutjche theuer macht; in 
Amerifa wird die Pandwirthichaft extenfiv, bei uns intenfiv betrieben; ‚hohe 
Bodenpreije oder, anders ausgedrückt, ein hoher Stand der Grundrente find meines 
Erachtens nicht die Urſache, ſondern umgekehrt die Folge und ein Symptom hoher 
Produftionfoften.“ Ja, warum erniedrigen dann nicht unſere Landwirte ihre 
Produktionkoſten dadurd), daß auch jie extenfiv wirthichaften? Doch wohl deshalb 
nicht, weil zum extendere, zum Ausdehnen und Nusbreiten der Wirthichaft, viel 
Raum gehört und wir den nicht haben. Extenfiv wird ſelbſtverſtändlich überall ge- 
wirthichaftet, wo man viel Yand hat und fi) ausbreiten kann, und intenjiv würde 
nie und nirgends in der Welt gewirthichaftet worden fein, wenn nicht die Boden- 
nappheit dazu gezwungen hätte, Deshalb bleibts dabei, daß nur auf ‚reiland‘ 
wohlfeil gewirthichaftet werden kann. Und da die Steigerung der Öetreidepreije eben 
jo wie die Steigerung der ntenfität des Anbaues ihre natürliche Grenze findet, 
jo folgt daraus, dai auf immer Enapper werdendem Boden der Zollihuß nur vor- 


530 Die Zukunft. 


übergehend, aber nicht dauernd helfen kann. Die Bodenpreije können hoch bleiben, 
auch wenn die Grundrente fällt oder ganz jchwindet; fie müſſen es bei einem gemiljen 
Grade der Volfsdichtigfeit. Denn der Boden ift fo unentbehrlich wie die Yuft, und da 
unentbehrliche Süter unbedingt gekauft werden müſſen, jo unterliegt er dein Geſetz von 
Angebot und Nachfrage in deilen ſchärfſter Faſſung. Wo in Gegenden mit vorwiegen- 
den Klein-und Zwergbetrieb Acker in Parzellen verpadhtet wird, da treiben einander die 
Eleinen Befiger zu unſinniger Höhe. Damitijt einzweiter Trugichluß aufgebedt. Weil 
die Güterpreiſe in diefen Jahrzehnten der niedrigen Getreidepreiſe nicht erheblich her- 
untergegangen find und fein lebhafterBeſitzwechſel ſtattgefunden hat, hält Pohle das Ar— 
gument der Gegner fürfalich, daß die Erhöhung der Getreidepreiſe durch Zollerhöhung 
der Landwirthſchaft nicht nützen werde, weil fie zugleich den Güterpreis erhöhe. Die 
Aufwärtsbewegung der Preiſe wirkt aber ganz anders als der Preisfall. Steigt die 
Rentabilität, ſo reißt man ſich (in einem Lande mit einer intelligenten, ſtrebſamen 
und ſich raſch vermehrenden Bevölkerung) um Landgüter und auf dem Markterſcheinen 
nicht allein die ſtrebſamen jungen Landwirthe, ſondern auch die Güterſpekulanten; 
die ſtürmiſche Nachfrage treibt den Preis der Güter über den reellen Werth hinaus. 
Ob denn jeder Käufer ſo dumm ſein müſſe, über den Werth zu bezahlen, fragt Pohle. 
Dummheit iſt hier gar nicht im Spiel. Man eskomptirt eben die vorausſichtliche 
Fortdauer der Steigerung, verrechnet jih dabei wie bei jeder anderen Spekulation 
und der muthige und thatkräftige junge Yandwirth muß um jeden Preis zugreifen, 
weil ihm die Bodenfnappheit feine andere Wahl läßt: theuer bezahlen oder aus— 
wandern. Beim Nüdgang der Nentabilität aber verfauft der Befiger nicht jofort 
— ein Yandautijt fein Börjenpapier —, fondern hofftauf beſſere Zeiten; und weilnicht 
viele Yandgüter zum Verkauf angeboten werden, können die Güterpreije nicht fallen.“ 
* 


Aus dem Brief einer Mutter, — den großen, Reformen verheißenden 
Worten, ſorgend auf die Schulerlebniſſe ihrer Kinder blidt: - 

„Der wichtigite Faktor warden Shulreformatoren bisher die Hygiene. Ihrem 
Gebot unterwarfen fie ih. Sie durfte befondere Anforderungen jtellen. Sie verlangte 
für jeden Shüler ein gewiljes Minimum von Duadratflähe, um ausreihenden 
Platz zu bieten, fie jorgte für genügende Ventilation, um den fleinen Lungen aud) 
im Klaſſenraum gute Luft zuzuführen, Sie verwarf alte Schultifche und Bänke und 
forderte beifere Konſtruktionen, die die Zahl der Verfrümmungen und Kurzſichtig— 
keiten mindern jollten. Sie empfahl bejferen Drud der Schulbücher und verbannte 
die alte Schiefertafel. Sie jchrieb Yänge, Breite und Höhe der Shulräume vor. 
Dre Länge darf neun Meter nicht überichreiten, damit jedes Kind mit normalem 
Auge von der le&ten Bank aus an die Tafel Sejchriebenes lefen kann. Die Breite 
ſoll nicht mehr als fieben Meter betragen, damit bei jeitlich gelegenem Fenſter auch 
die an der Gegenwand ſitzenden Stinder genügendes Yicht befommen. Der Raum 
map vier Meter hod) jein. Während man jo den Anjprüchen der Hygiene Rechnung 
trug, durch Geſetz und Verordnung fie anerkannte, harrt man da, wo das Eingreifen 
der. Hygiene aufhört, wo es fich um geiftige Intereſſen handelt, noch heute einer gründ: 
lichen Reform. Man dachte nur an das förperliche Wohlbefinden des Kindes. Das 
Züchtigungrecht allein, die unmnichränfte Benußung des ‚gelben Onkels‘ wurde ben 
Vehrern genommen, denn die moderne Bädagogif will von förperlichen Strafen nichts 
willen. Das iſt aber auch Alles; jonjt gingesimalten Tempowsiter. Nunift abernicht 


Notizbuch. 531 


Jeder, der ſeine Seminarzeit hinter ſich hat, ſchon ein guter Lehrer. Zum Lehren gehört 
das Donum docendi, die Lehrgabe, das Geiſtesgeſchenk, eine beſondere Anlage. Bon 
der Lehrgabe hängt der Erfolg deslinterrichtes ab. Wehe demLehrer, der nur nach willen: 
ichaftlichen Regeln lehrt, der nur die Natur des Gegenjtandes und nicht Die individuelle 
Eigenthümlichkeit des Zöglings berüdjichtigt ! DerLehrer, der zum Methodiker wird, hat 
ſeinen Berufverfehlt. Im Allgemeinen holt der Lehrer ſeine Bildung aus dem Seminar. 
Seminarium heißt Pflanzenſchule. Kinder find gleich Pflanzen, die auch im Einzelnen 
beobachtet werden müſſen und nicht, nad) botanischen Lehrſätzen, alle nach einem 
Shema. Da gilt es auch, je nad) Bedarf den Boden zu lodfern, die Pflanzen mit 
Stäbhen zu ſtützen, die Raupen abzulejen, zu gießen und andere Arbeit diejer Urt 
zu thun. Man hört jo oft: Die beiden Brüder hatten die gleiche Erziehung und doch 
ift der eine tüchtig und der andere ein Taugenichts geworden. Woher kommt Das? 
Ganz einfach: weil die Erziehung für den einen paßte und für den andern nicht. 
Alter frenis eget, alter calcaribus. Der Eine bedarf der Zügel, der Andere der 
Sporen. Die Lehrer wollen die Kinder bilden. Ya, ijt denn ein Unhäufen von Kennt— 
niſſen, von allerhand Material Bildung? it es nicht fürs ſpätere Leben gleich 
giltig, ob ein Kind weiß, daß 1645 die Schlacht bei Nafeby geichlagen wurde, daß 
die mittlere Höhe des Thian-Schan 3900 Meter beträgt, dab der Amur aus zwei 
Quellflüſſen, dem jüdlichen Kerlun, jpäter Argun genannt, und dem nördlichen 
Onon, jpäter Schilfa genannt, zufammenfliegt? Und welche Unmanieren jieht man 
mitunter an Qehrern! ‚Das Beiſpiel erzieht‘: diefes Wort jtellt Peſtalozzi als erſten 
pädagogiichen Grundfa hin. Die Kinder find fcharfe Beobachter und ihre Erziehung 
fordert von dem Erzieher eine ſtete Bervolllommnung der eigenen Perfönlichkeit. 
Man jollte mit den Lehrkräften öfter wechleln, die Lehrer zeitiger penfioniren 
und jungen Stindern junge Yehrer geben, die fie aud außerhalb des Syntarbereiches 
verjtehen können. Lehrer, die nach Prinzipien die Hände falten laffen, wie es nod) 
heute in einer höheren Töchterjchule des berliner Weftens vorkommt, müßten ent: 
laffen werden. Die Kinder müſſen dort in den eriten zwanzig Minuten der Stunde 
die Hände jo auf den Tijch legen, daß nur Zeige: und Mittelfinger der Hand auf dem 
Tiſch fihtbarfind. In den nächſten zwanzig Minuten halten jiedie Händegefaltet und 
inden legten zwanzig Minuten, auf eingegebenes Zeichen, aufdem Rüden verſchränkt. 
Ein anderes Beijpiel, diesmal aus einem Gymnafium der Friedrichſtadt. Die Ober- 
ſekunda ijt verfammelt, der Mathematiklehrer wird erwartet. Der Brofefjor kommt, 
bejteigt die Katheder und ruft, während er fich entjeßt in die Haare fährt: ‚Körner! 
Wer hat Sie denn in die Oberſekunda verjegt, obgleich Sie nicht reif waren?" 
‚Wegner! Wer nimmt denn immer Rüdjicht auf Sie, wenn Sie nichts wiſſen? 
Und da wagen Sie, die Kreide wieder links von mir zu legen, jtatt, wie ic) jo oft 
geſagt habe, rechts! Die Kreide muß auf der Katheder immer rechts liegen, merken 
Sie ſichs! Das ift wichtig!" Ein dritter Fall, aus einem anderen Gymnaſium 
Berlins. Ein wegen Krankheit zurüdgebliebener Duartaner befommt vom Klaſſen— 
lehrer Nachhilfeſtunde. Der Erfolg bleibt nicht aus, läßt aber bald jichtlic) nach. Der 
Grund? Der Herr Lehrer benußte die Stunde, um dem Jungen feine Gedichte vor: 
zulefen. Der Kleine Bengel konnte fie zum Theil ſchon auswendig und citirte mit 
Borliebe ein Gedicht, das den fchönen Titel trug: ‚Weiberhaß‘. Natürlich be- 
handelte er Alles, was an weiblihen Wejen im Haufe war, von der Mutter bis zur 
Küchenfee, jeitdem mit Nichtachtung. Bierter Fall aus einer Mädchenichule. Die 


90 


— — — — — — — — 


532 Die Zukunft. 


Glocke hatte zur Andacht geläutet, aber von Ruhe war no) nichts in ber erſten Klaſſe 
zu jpüren. Der Lärm dringt bis in den Vorſaal und die Direktorin jtürzt ins 
Zimmer. ‚hr Verwegenen, was jeid hr?‘ Keine Antwort. ‚Sagt: Wir find 
Simder.‘ ‚Wo jteht Ahr?‘ Allgemeines Schweigen. ‚Sagt: Auf der unterjten 
Stufe der Dimmelsleiter!* Und jo weiter. Warum der apofalyptijche Ton? Weil 
heitere Badfifche gelacht hatten. Alfo pajfiret anno Domini 1902. Und mun werfe 
man zum Schluß nod einen Blidindas Aufjagheft eines fünfzehnjährigen Mädchens. 
Ich fand zwei Themata. Erjtens: Die Großſtadt bei Nacht. Zweitens: Betracht- 
ungen über am Schulhaus jtehende Studenten im Klaſſen- und im Yehrerinnen- 
zimmer... Meine Beifpiele find nicht erfunden. Viele Eltern und Kinder werben 
Aehnliches zu berichten wiffen. Will man nicht endlich daran denken, daß nicht nur 
hygieniſche Gefeße zu einer Reform des Schulwejens drängen?” 
* 4* 


* 

In Bonn hat der Kaiſer den Parademarſch des Huſarenregimentes König 
Wilhelm J. angeſehen und mit dem Boruſſencorps gekneipt. Auf dem Paradefeld 
ſagte der Kommandeur der Königshuſaren: „Unter der Regirung unſeres jetzigen 
Kaiſers hat das Deutſche Reich eine nie geahnte Machtſtellung erlangt.” Kurz vor» 
her hatte Herr Ballin in Hamburg gejagt: „Unſer Eaijerlicher Herr hat den Stempel 
jeiner gewaltigen Perſönlichkeit unferem Zeitalter aufgedrüdt.‘ Während des Bo— 
ruſſenkommerſes, dem erpräfidirte, rief der Kaiſer: „Noch nie, jo lange die Geſchichte 
der deutjchen Univerjitäten gejchrieben ift, iſt einer Umiverfität eine jolche Ehre zu 
Iheil geworden wie am heutigen Tage. Im reife der Schönen Bonns, umgeben 
von fürftlichen Damen, ijt Ihre Majeftät die Staijerin erfchienen, die erjte Yandes- 
fürftin, um dem Kommers der Studenten beizuwohnen. Dieje beijpielloje Ehre 
wird der Stadt Bonn zu Theil und in diejer Stadt Bonn dem Corps der Borufien. 
Ich hoffe und erwarte, daß alle jungen Boruffen, auf denen heute das Auge Ihrer 
Majeftät geruht hat, eine Weihe für ihr ganzes Leben empfangen haben.‘ 

* * 


x 

Graf Bülow hat, wie weiland Bismard, auf der Chrenleiter des Offiziers 
eine Rangjtufe überjprungen. Der Major von Bismard wurde auf dent Schladjt- 
feld von Königgrätz Generalmajor; der Nittmeifter Graf Bülow ift in Bonn Hujaren- 
oberjt geworden. Leber ein Kleines wird er General jein und kann, wenn dann nicht 
icon ein anderer Huſar ſich in der erjehnten Holle des Kanzlers verfucht, mit Kol— 
paf und Fangſchnüren in den Neichstag fommen und die Abgeordneten den Unter: 
ſchied zwiſchen ſchwerer und leichter Stavallerie fennen lehren. Zwei Yejer fordern 
übrigens beinahe ungejtüm, ich jolle dem Nanzler zärtliche Worte jagen, weil er die 
von den Bahnhöfen verbannte „JZukunft“ offenbar nicht a limine weije. Denn am 
einunddreißigſten Mat jtand in der „Zukunft“: „Daß die Provinzen Weſtpreußen 
und Poſen mit einer Viertelmilliarde gedüngt werden, ijt fiher gut; nun joll man 
jie verwalten, als gehörten jie einer großen, joliden Bant.“ Und am zwölften Juni 
jagte Graf Bülow im Herrenhaus: „Ich werde mir ganz befonders angelegen jein 
laſſen, darauf hinzuwirken, daß die Anſiedlungskommiſſion praktiſch und geſchickt 
vorgeht, nicht vom Standpunkt der Oberrechnungskammer, ſondern vom Stand» 
pimft einer qut geleiteten, Eugen und foliden Bank. Dann wird es fidh and lohnen, 
daß wir W sejtpreußen und Poſen mit einer Viertelmilliarde befruchten.“ 


Herausgeber und verantwortlicher Redatteur: an, Harden in Berlin, — Berlag ber Zukunft ü in ı Berlin, 
Trud von Albert Damce in Berlin Schöneberg. 


ee EHER TERTEFE TEE 





.— — 


Princeton University Library 


IN III 
UND MLLLLLBLLIU ALL NULL LDN 
32101 065348995 


Ih 
11 


Il 
IN 


| 
I 
IN | 


hi 


IN 


N 


| 
In 


Ill 


Hl 


| 


i 
jun! 


| 


f 
INEITHIIEEERF 


1 


| 


I 


— 
- 

— — 

— 
— nn 
— 

— 

— 

— 


| 


| 


I 


L 


| I 


I 

u 
dam 
Ir 



















































































FERNE EN EL ANNE TENREN 
“ ‘ BERN. ER